DER VERRÜCKTE GOTT
Fantasy-Roman
Ins Deutsche übertragen von Winfried Czech
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 20245
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DER VERRÜCKTE GOTT
Fantasy-Roman
Ins Deutsche übertragen von Winfried Czech
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 20245
Erste Auflage: Dezember 1994 © Copyright 1992 by Angus Wells All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1994 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach
Originaltitel: Dark Magic
Lektorat: Stefan Bauer Titelbild: Kevin Tweddell Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosat/ Schell, Hagen a. T. VV. Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20245-7 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
KAPITEL 1 In der Sprache Kandahars bedeutete Nhurjabal ›Großer Wachturm‹, und diesen Eindruck erweckte die Stadt auch. Sie erhob sich dort, wo die Berge tief in das Kern land hineinstießen, auf breiten Felsterrassen vor dem älteren Gestein des Kharmrhanna-Gebirges. Von den Gipfeln strömten die drei großen Flüsse – der Shemme, der Tannyth und der Yst – herab und umflossen die Stadt, die wie ein steinerner Wächter über ihnen thronte. Wie eine Stufenpyramide mit steilen Hängen wuchs Nhurjabal in die Höhe, die Gebäude wirkten wie Fes tungsmauern, die von Straßen durchbrochen wurden und mit Brücken und weitgeschwungenen Treppen ver bunden waren, und auf der obersten Stufe erhob sich ein einzelnes massives Gebäude, das den Rest der Stadt mit seinen Mauern, Wehrtürmen und Zugbrücken überragte. Über den Zinnen flatterten die Flaggen des Tyrannen in Purpur und Gold. Das Gebäude ragte so hoch in den Himmel, daß man den Eindruck gewann, ein Beobachter könnte von den höchsten Türmen aus das gesamte Reich des Tyrannen überblicken, bis nach Kharasul im Westen, Vishat'yi im Süden und Mherut'yi im Osten, am Rand des Engen Meeres, und es war die letzte Himmelsrich tung, in die der Mann mit dem sorgenvollen Gesicht blickte. Ganz Nhurjabal bildete eine einzige Festungs
mauer um die Zitadelle des Tyrannen, jene große Fes tung, das Zentrum und die letzte Bastion der Herrscher Kandahars seit ihrer Erbauung durch Cederus bis zum heutigen Tag, da Xenomenus herrschte. Und die Herr schaft Xenomenus' war bedroht. Die Flammen der Rebellion breiteten sich nach Westen aus, entfacht von Sathoman ek'Hennem, dem Lord der Fayne, der sich als gerissenerer Feind herausstellte, als es der Tyrann oder irgendeiner seiner Berater geahnt hatte. Er kontrollierte bereits die östlichen Gebiete Kandahars, die Küste von Mherut'yi bis Mhazomul und das Hinter land bis Kesham-vaj und Bhalusteen, er hatte bereits eine Armee besiegt, bezeichnete Xenomenus in aller Öffent lichkeit als Emporkömmling und Usurpator, und schon jubelte ihm die Bevölkerung im Osten zu und feierte ihn als den nächsten Tyrannen. Daß sie sich genauso schnell wieder von ihm abwenden würde, war für den derzeiti gen Herrscher, der den Titel rechtmäßig geerbt hatte, nur ein schwacher Trost, denn erst einmal mußte Sathoman ek'Hennem besiegt werden. Nicht nur in seine einsame Festung zurückgetrieben, sondern gründlich und voll ständig – und vor allen Dingen für alle sichtbar – besiegt werden. Xenomenus wollte, daß der Kopf des Fayne fürsten auf der Spitze einer Pike von Stadt zu Stadt ge tragen wurde, bis ganz Kandahar wußte, daß er geschla gen und tot war. Aber noch – die Leichen in der Gegend um Kesham-vaj, die die Krähen satt und fett werden ließen, bewiesen das zur Genüge –, noch lebte und tri umphierte Sathoman ek'Hennem, drohte den Tyrannen
zu stürzen, und weder den Legionen noch den Zaube rern, die Xenomenus befehligte, war es gelungen, den Rebellen seiner gerechten Strafe zuzuführen. Es war ein Dilemma, das durch den kalten Wind, der vom Kharmrhanna her wehte, durch den Atem des Win ters noch betont zu werden schien, und Xenomenus fröstelte, während er nach Osten spähte. Das Schaudern rief augenblicklich einen Lakai auf den Plan, der vortrat und seinem Herrn einen purpurfarbe nen Brokatmantel um die schmalen Schultern legte. Xe nomenus ließ es geschehen, ohne es überhaupt zu regist rieren, und ihm wurde auch nicht wärmer, denn die Kälte, die ihn durchdrang, rührte nicht so sehr vom Wind als vielmehr von den Zweifeln her, die an ihm nagten. Er wandte sich von der Fensterbrüstung ab und drehte sich zu seinem Gefolge um. Die Ringe an seinen Fingern funkelten hell im Sonnenlicht, als er die Diener und Speichellecker mit einer knappen Handbewegung fortschickte. Er wartete, bis sie im Turm verschwunden waren und sich die Glastüren hinter ihnen geschlossen hatten, dann berührte er den juwelenbesetzten Silberrei fen, der seine glatte Stirn umschloß, als könnte er eine Inspiration aus diesem Zeichen seines Amtes ziehen, und musterte die Verbliebenen. Es waren sieben Männer, alle älter als er. Wenigstens drei von ihnen hatten schon seinem Vater gedient, drei hatten seinen Großvater gekannt. Sie waren von unter schiedlicher Gestalt und Größe, die meisten schlank,
zwei beleibt. Ihre Haarfarbe variierte von glänzendem Schwarz bis zu dem stumpfen Gelb des Alters. Einige wirkten patrizierhaft, andere hätten ebensogut Kaufleute sein können. Nur ihre Kleidung war identisch, alle tru gen sie schwarze Roben, in die Silberfäden zu kabbalisti schen Zeichen eingewoben waren. Xenomenus runzelte die Stirn, und der nörgelnde Tonfall seiner Stimme paßte zu seinem verdrießlichen Gesichtsausdruck, ohne daß er sich dessen bewußt wurde. »Nun, meine Herren«, sagte er, wobei er die höfliche Anrede mit Absicht verächtlich betonte, »wie es aussieht, haben eure Kollegen gegen diesen Pöbel von Strauchdie ben und Halsabschneidern bisher nichts ausrichten kön nen.« »Mein Fürst, sie haben nicht mit den Schutzzaubern gerechnet, die Anomius zurückgelassen hat«, erwiderte einer der Männer. Er schwieg einen Augenblick, und als Xenomenus nicht antwortete, fuhr der Zauberer fort: »Und der Lord der Fayne hat mit unerwarteter Ge schwindigkeit zugeschlagen.« »So schnell, daß er jetzt die Ostküste beherrscht.« Der Tyrann zog den Mantel enger um sich. Obwohl diese Männer ihm loyal ergeben waren, machten sie ihn ner vös, und er kämpfte gegen dieses Gefühl an. »So schnell, daß er ein Drittel meines Reiches besetzt hält. Zu schnell für euch, wie es scheint.« »Unsere Prophezeiungen haben vor dieser Situation gewarnt«, sagte der älteste der Männer. Seine Stimme
klang so trocken, wie seine runzlige Haut aussah, wie das Rascheln von verdorrtem Laub in einem abgestorbe nen Baum. »Und sie haben…« Xenomenus schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. Ein jüngerer Mann warf dem furchtlosen Alten besorgt einen verstohlenen Blick zu und räusperte sich warnend. »Lord Xenomenus«, wagte er einen Einwurf, »was Rassuman sagt, ist – zumindest teilweise – wahr. Wir haben einen Aufruhr in den okkulten Bereichen vorher gesehen, aber undeutlich … nicht von diesen Ausma ßen.« »Aber ihr seid die Zauberer des Tyrannen!« Diesmal räusperte sich Xenomenus und schwieg einen Moment lang, als er erkannte, daß er sich wie ein trotziges Kind anhörte. »Wenn unter allen Magiern auf dieser Welt nicht einmal ihr erkennen könnt, was diese Unruhe zu besagen hat«, fuhr er mit tieferer Stimme fort, »wer soll es dann können?« »Genau, wer?« murmelte Rassuman mit einem ver steckten säuerlichen Lächeln. »Schon die Verschwommenheit der Prophezeiung an sich ist ein böses Omen«, sagte der jüngere Zauberer. »Wir haben ausführlich darüber diskutiert.« »Und hättet ihr vielleicht auch die Güte, mir gnädi gerweise eure Schlußfolgerungen mitzuteilen?« fauchte der Tyrann. Der Zauberer neigte den Kopf, nicht ganz eine Ver
beugung. »Zum Teil ist Anomius dafür verantwortlich«, erklärte er ruhig und blickte Xenomenus dabei unver wandt an, »aber diese Vernebelung ist von einer anderen Macht verursacht worden, von irgend etwas, das so tief im okkulten Hintergrund verborgen ist, daß selbst unsere Kräfte sie nicht durchdringen können.« Die Verärgerung auf dem Gesicht des Tyrannen mach te Verblüffung Platz. »Was sagst du da?« fragte er. »Ich … wir sind uns nicht sicher, mein Fürst. Der Ein blick in diese Dinge war und ist uns verwehrt. Es könnte sein, daß die Götter selbst diese Ereignisse verschleiern.« »Wollt ihr damit etwa behaupten, Burash hätte sich gegen mich gewandt?« Xenomenus' dunkles Gesicht wurde blaß, seine Augen wurden schmal. Unwillkürlich tastete er nach seiner Adelskrone. Die sieben Hexer schüttelten eilig die Köpfe und versicherten ihm, daß das nicht der Fall wäre. »Was dann?« fragte Xenomenus. »Oder wer ist dafür verantwortlich? Rede, Cenobar.« Der Zauberer nickte. Seinem Gesicht war keinerlei Re gung anzumerken. »Ich will es erklären, so gut ich kann, Lord Tyrann, aber selbst wir sind fehlbar.« Er ignorierte das verkniffene Lächeln, mit dem Xenomenus die Be merkung quittierte, und fuhr fort: »Es steht ohne jeden Zweifel fest, daß Anomius einige Zauber hinterlassen hat, die eine große Hilfe für Sathoman ek'Hennem wa ren, aber darüber hinaus existiert immer noch eine Ver schleierung, die mächtiger ist, als daß sie selbst von ei
nem Hexer wie ihm hätte erzeugt werden können. Es ist, als wären Kräfte in Bewegung geraten, die sogar noch über die von Burash hinausgehen, und als hätte diese Bewegung einen Nebel aufsteigen lassen, der uns die magische Sicht genommen hat.« »Eine größere Macht als die von Burash?« keuchte der Tyrann. »Welche Macht ist größer als die unseres Mee resgottes?« »Es gab Götter vor Burash«, sagte Rassuman. »Die Ersten Götter sind verschwunden«, widersprach Xenomenus. »Sie haben sich aus eigenem Entschluß in die Verbotenen Länder zurückgezogen. Und ihre Kinder sind von ihren Eltern ins Zwischenreich verbannt wor den und werden dort mit magischen Fesseln festgehal ten. Tharn und Balatur spielen in unserer Welt keine Rolle mehr.« »Aye, das ist uns allen bekannt«, bestätigte Cenobar. »Aber trotzdem konnten wir nichts erkennen, trotzdem hat irgend etwas diese Ereignisse verschleiert.« Xenomenus seufzte. Seine Schultern sackten unter sei nem Brokatmantel herab, und als er sprach, klang seine Stimme wehmütig. »Und deshalb kann mir dieser Strauchdieb von einem Lord mein Land stehlen? Deshalb kann er meiner Autori tät trotzen und damit drohen, mein Reich in einen Bür gerkrieg zu stürzen?« »Dabei haben wir noch ein Wörtchen mitzureden, Lord Tyrann.«
Xenomenus wandte sich dem Zauberer zu, der sich zu Wort gemeldet hatte, einem äußerst dicken Mann, in dessen Bart und Robe noch die Spuren seiner letzten Mahlzeit klebten. »Erklär es mir, Lykander.« »Wir sind der Meinung, Herr, daß Burash in dieser Angelegenheit auf unserer Seite steht und wir diesen Aufstand ersticken können, auch wenn es uns nicht ge lungen ist, ihn vorauszusehen.« Diese Ankündigung munterte Xenomenus sofort wie der auf, und seine Miene erhellte sich. »Das ist es, was ich hören möchte!« rief er begeistert. »Wie soll das ge schehen?« »Anomius ist der Schlüssel«, sagte Lykander. »Ein gefährlicher Schlüssel«, fiel ihm Cenobar ins Wort und verstummte, als Xenomenus eine Hand hob. »Gefährlich, aye«, stimmte der fette Hexer zu, »aber nicht so mächtig, als daß er sich gegen uns alle durchset zen könnte.« »Er hat Zytharan getötet«, warf ein anderer ein, »und mich verkrüppelt.« Lykander warf einen kurzen Blick auf die verdrehte Hand, die ihm als Beweis entgegengehalten wurde, und sagte: »Aber du wirst schnell wieder gesund, Andrycus, und deine Hand wird bald schon wieder geheilt sein. Ich sage, wir sollten Anomius benutzen.« Xenomenus fand sich plötzlich in den Hintergrund gedrängt, als bloßer Zuschauer eines Streitgesprächs
unter Zauberern, und klatschte in die Hände. »Du trägst die Narben der Schlacht, Andrycus«, stellte er fest, »und ich trauere um den Verlust Zytharans. Aber ich möchte trotzdem hören, wie uns dieser widerliche Verräter zum Sieg über die Rebellen verhelfen könnte, denen er einst gedient hat.« Lykander strich sich über den Bart, wobei Essenskrü mel zu Boden fielen, und sagte: »Es herrscht eine gewisse Uneinigkeit unter uns in dieser Angelegenheit, Lord Tyrann. Einige schließen sich meiner Ansicht an, daß wir Anomius benutzen sollten, um ek'Hennems Macht zu brechen, andere betrachten ihn als zu gefährlich.« »Aber davon abgesehen dient ihr mir alle«, sagte Xe nomenus leise. »Ist das richtig?« »Ohne Zweifel«, versicherte Lykander. »Unsere Loyalität steht außer Frage«, bestätigte Ceno bar, »aber trotzdem … Anomius freilassen? Wir hätten ihn besser gleich töten sollen, als wir ihn am Shemme gefangengenommen haben.« »Dann würden wir die Fayne-Festung vielleicht nie mals einnehmen«, gab Lykander zu bedenken, »denn Anomius ist mit Sicherheit der einzige, der uns den Weg dorthin freimachen könnte.« Xenomenus klatschte erneut in die Hände. »Ich möch te von diesem Plan hören«, verlangte er. »Die Rebellen werden von Tag zu Tag stärker, und ich will nicht einen einzigen damit verschwenden, mir eure Diskussionen anzuhören. Wenn Anomius uns helfen kann, dann wer
det ihr sieben doch bestimmt in der Lage sein, ihn so mit Zaubersprüchen zu belegen, daß er keine Gefahr dar stellt. Zumindest nicht für mich … für uns!« »Ich glaube, daß das möglich wäre«, sagte Lykander. »Dürfte ich etwas dazu sagen, mein Fürst?« fragte Ce nobar, und als ihm der Tyrann die Erlaubnis erteilte, fuhr er fort: »Ich bin ebenfalls der Meinung, daß die Erobe rung der Fayne-Festung ohne Anomius zu einer langen und blutigen Angelegenheit werden wird, und ich stim me auch zu, daß seine Hilfe die Niederschlagung der Rebellion beschleunigen würde. Aber ich bin mir nicht sicher, ob dieser Weg wirklich der klügere ist. Ich fürch te, daß wir ein noch größeres Unheil entfesseln, wenn wir Anomius freilassen.« »Vernebelte Prophezeiungen«, grollte Lykander. »Vernebelt, aye«, bestätigte Cenobar, »aber trotzdem bedrohlich.« »Dann bring etwas Licht in diese Prophezeiungen, damit Wir erkennen können, was es damit auf sich hat«, forderte Ihn Xenomenus auf. »Das kann ich nicht, mein Fürst«, gestand Cenobar und zog ein finsteres Gesicht, als Lykander hinter vorge haltener Hand unterdrückt kicherte. »Ich kann nur eines sagen: ich befürchte, daß wir ein sehr viel schlimmeres Unheil als diese Rebellion entfesseln, wenn wir Anomius freilassen.« »Welches Unheil könnte schlimmer als diese Bedro hung meiner Macht sein?« Die Augen Xenomenus' blitz
ten ungehalten auf. Cenobar erwiderte nichts darauf und neigte lediglich den Kopf, als der Tyrann Lykander mit einer Handbewegung aufforderte, weiterzusprechen. »Mein Fürst«, sagte der dicke Mann und trat einen Schritt vor, wie um sich von seinen Kollegen zu distan zieren, »wir wissen, daß Anomius die Fayne-Festung mit Schutzzaubern versehen hat, die sie geradezu unangreif bar machen, und wir wissen auch, daß die Rebellen die Eroberung von Kesham-vaj seinen Fähigkeiten zu ver danken haben. Die Stadt zurückzuerobern und die Schutzzauber der Festung zu brechen, würde uns eine Menge an Zeit und Menschenleben kosten, und je länger es dauert, desto stärker wird Sathoman werden. Schon jetzt eilen ihm Westentaschenzauberer zu Hilfe.« »Harmlose Scharlatane«, knurrte Cenobar, »unbedeu tende Magier, die keine wirkliche Gefahr darstellen.« »Solange es nicht zu viele werden«, erwiderte Lykan der, »und ihre Zahl wächst, je mehr Zeit vergeht.« »Zeit!« bellte Xenomenus. »Immer wieder kommen wir darauf zurück, daß wir keine Zeit haben, daß sie uns wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt! Ich möchte Lykander zu Ende anhören. Cenobar und ihr anderen seid still.« Lykanders schmieriger Bart teilte sich zu einem Lä cheln. Er strich seine schmuddelige Robe über seinem Schmerbauch glatt und sagte: »Ihr habt genau den we sentlichen Punkt getroffen, Herr: Zeit ist der ausschlag gebende Faktor. Wir müssen Sathoman angreifen, bevor
seine Kräfte weiter wachsen, und unsere beste Waffe ist Anomius. Er kennt Sathoman, er weiß, wie der Rebell vorgeht und denkt. Und was noch wichtiger ist, er kennt die Zauber, die noch immer wirken. Er hat sie erzeugt und kann sie deshalb auch wieder aufheben. Ich sage, wir müssen ihn benutzen.« Xenomenus hakte die Daumen unter seinen silberbe schlagenen Gürtel und fragte: »Warum habt ihr es dann noch nicht getan? Er ist unser Gefangener, und ihr seid die Zauberer des Tyrannen. Wieso seid ihr noch nicht in seinen Geist eingedrungen, um nach diesen Geheimnis sen zu forschen?« Lykanders selbstgefälliges Lächeln erlosch. »Er ist un gewöhnlich mächtig, mein Fürst. Keiner von uns könnte allein gegen ihn bestehen. Selbst wenn wir uns zusam mentun, könnte es sein, daß wir die gewünschten Infor mationen nicht aus ihm herausbekommen. Es ist ihm gelungen, seinen Verstand mit Schutzzaubern zu umge ben, und würden wir versuchen, diese zu entfernen, würden wir damit höchstwahrscheinlich auch seinen Geist und alles, was er enthält, zerstören. Aber«, kam er einem Einwand Xenomenus' zuvor, »es gibt eine Mög lichkeit. Davon bin ich überzeugt. Anomius ist äußerst ehrgeizig. Er hat sich schon einmal von Sathoman abge wandt und ihn bei Kesham-vaj noch in der Stunde des Triumphs im Stich gelassen.« »Aye.« Xenomenus kniff die Augen zusammen, und seine Stirn legte sich in Falten. »Wieso hat er das getan?
Und waren da nicht noch zwei andere Leute bei ihm? Was ist aus ihnen geworden?« »Das wissen wir nicht«, sagte Lykander. »Wir wissen nur, daß sie keine Zauberer waren und wahrscheinlich auf dem Shemme entkommen sind. Ich glaube nicht, daß sie von Bedeutung sind, Herr, und Anomius wollte nicht über sie sprechen.« »Schön«, murmelte Xenomenus. »Also sprich weiter. Erklär mir, wie Anomius gefahrlos benutzt werden kann.« »Seine Loyalität gilt nur ihm selbst«, fuhr Lykander fort, »womit ich sagen will, daß er demjenigen dienen wird, der ihm das beste Angebot machen kann. Im Au genblick, Lord Tyrann, seid Ihr das. Bietet ihm die Frei heit, und ich glaube, daß man ihn überreden kann, für uns zu arbeiten. Wir sieben können ihm einen Bann auf erlegen, der ihn töten würde, falls er versuchen sollte, uns in den Rücken zu fallen. So könnte er keine Gefahr für Euch darstellen, aber Euch dabei helfen, Sathoman ek'Hennem zur Strecke zu bringen. Die Alternative für ihn, sollte er ablehnen, wäre seine Hinrichtung.« »Ist das möglich?« fragte Xenomenus. »Könnt ihr ihn so an euch binden, daß er nicht gefährlich werden kann?« »Wir sieben gemeinsam, aye«, versprach Lykander. Der Tyrann sah von einem zum anderen, und nach einander nickten alle Zauberer. »Und was soll ich ihm als Gegenleistung versprechen?
Freiheit allein ist wohl kaum genug, denn was ich ihm an Freiheit bieten kann, muß zwangsläufig begrenzt sein.« »Das stimmt«, räumte Lykander ein. »Vielleicht einen Platz unter uns?« Xenomenus legte den Kopf schief. Eingeölte Haarlo cken fielen über seine Schultern. Der Zweifel in seinem Blick war nicht zu übersehen. »Ihm anbieten, mein Ge folgsmann zu werden? Obwohl ich weiß, daß man ihm nicht trauen kann?« »Er wird durch unsere Zaubersprüche gebunden und dadurch ungefährlich sein«, erinnerte ihn Lykander. »Und sobald Sathoman besiegt und die Fayne-Festung erobert ist, nun, dann wird er nicht mehr gebraucht…« Jetzt lächelte Xenomenus. »Und ihr könntet ihn end gültig vernichten?« »Aye, mein Fürst. Sobald er uns nicht mehr von Nut zen ist.« Wieder ließ der Tyrann seinen Blick über die restlichen Zauberer streichen, und wieder neigten alle die Köpfe und murmelten zustimmend. Xenomenus nickte seiner seits, drehte sich herum, trat auf den Balkon hinaus und blickte nach Osten. Die Sonne sank dem Horizont entge gen, über dem breiten Band des Yst stieg Nebel auf und legte sich wie ein Schleier über die Steilwände des Fluß tals. In der Ferne verschwamm der Wald im aufkom menden Zwielicht. Nach einer Weile drehte sich Xeno menus wieder um und verkündete seine Entscheidung.
»Bietet ihm die Freiheit an. Sagt ihm, daß ich ihn für seine Dienste belohnen werde. Wenn er Wein will, dann gebt ihm Wein. Wenn er Juwelen, Frauen oder Knaben will, besorgt sie ihm. Im Gegenzug will ich seine Unter stützung haben, was auch immer diese Wert sein mag. Er soll mit euch zusammenarbeiten, um diesen burashver dammten Rebellen zur Strecke zu bringen. Aber seid vorsichtig. Legt einen Zauberbann über ihn, der ihn dar an hindert, für mich und die Meinen zur Gefahr zu wer den. Ich will mir keine Schlange in meinen Palast holen! Und wenn er seine Aufgabe erfüllt hat, dann tötet ihn.« »Eine weise Entscheidung, mein Fürst.« Lykander verbeugte sich so tief, wie es sein dicker Bauch zuließ. »So soll es geschehen.« »Es wäre besser, wir würden ihn gleich töten«, murrte Cenobar. »Ihr solltet lieber Sathoman ek'Hennem töten«, erwi derte der Tyrann kalt. »Beendet lieber diese Bedrohung Kandahars.« Ein Schatten legte sich über Cenobars Augen, als Xe nomenus seine Entscheidung mit einem Nicken bekräf tigte, den Balkon überquerte und zu der Glastür ging, die ihm ein Diener öffnete. Der Tyrann verschwand im Turm und hörte weder, wie die Zauberer leise miteinander redeten, noch wie Cenobar zu Rassuman sagte: »Ich glaube, daß wir Kandahar und den Rest der Welt einer größeren Bedrohung preisgeben werden, als sie Satho man ek'Hennem darstellt.«
Lykander, dem das nicht entgangen war, fragte: »Wie das? Wenn wir uns mit unserer Magie absichern, stellt Anomius keine Gefahr mehr dar, und wenn wir ihn dazu benutzen, um Sathoman ek'Hennem zur Strecke zu brin gen, werden wir alle das Wohlwollen des Tyrannen ge winnen.« Cenobars einzige Erwiderung bestand in einem dün nen und zweifelnden Grinsen. Der dicke Zauberer strahl te und sagte: »Der Lord Tyrann hat uns einen Befehl gegeben, meine Freunde. Laßt uns also unsere Schutz zauber vorbereiten und unseren Gefangenen aufsuchen.« So prächtig, wie sich die Zitadelle des Tyrannen golden, purpurrot und silbern über Nhurjabal erhob, so düster und trostlos lagen die Verliese in den Tiefen der Stadt verborgen, Katakomben des Elends. Und ganz unten, wo die Masse des Felsgesteins jedes Geräusch verschluckte, den Geist lähmte und mit ihrer absoluten Undurchdring lichkeit jegliche Hoffnung abtötete, gab es eine metallver stärkte Tür aus uraltem Holz, die verriegelt und ver schlossen und mit magischen Zeichen von furchtbarer Macht beschriftet war. Hinter dieser Tür führte eine enge gewundene Treppe in völliger Dunkelheit in eine kreis runde Kammer, in deren Mittelpunkt sich ein runder Deckel aus massivem Stahl auf dem Boden befand, der wie die Tür und die Wände des Raumes mit magischen Symbolen beschriftet war. Unter dem Metalldeckel war ein senkrechter Schacht in den gewachsenen Fels getrie
ben worden. Er war etwa so tief wie sechs große Männer, die Wände waren glatt und glitschig wie Eis, unmöglich zu erklimmen, und am Boden dieses Schachtes lag Ano mius. Kein Lichtschimmer drang in dieses Verlies, abgese hen von den kurzen Augenblicken, wenn einmal täglich verschimmeltes Brot und abgestandenes Wasser zu dem Gefangenen heruntergelassen wurde. Die Felswände waren feucht, auf dem unebenen Boden hatten sich Was serpfützen gesammelt. Nichts lebte hier unten, keine Spinnen, Ratten oder die Insekten, die sich normalerwei se in solchen feuchten und verlassenen Löchern einniste ten. Sie hätten zumindest für ein wenig Abwechslung in dieser unerträglichen Eintönigkeit gesorgt, die für einen Zauberer, dem man seine Kräfte genommen hatte, viel schlimmer als die eigentliche Gefangenschaft war. Ano mius hatte gewußt, daß die Verliese mit Zauberbannen versehen waren, aber er hatte nicht geahnt, wie stark sie waren, so stark, daß er nicht nur körperlich, sondern auch in magischer Beziehung blind und taub war. Er konnte hier keine Magie anwenden, kein Licht erzeugen, um die Finsternis zu erhellen, konnte seinen Geist nicht ausschicken, um Menschen in der Nähe zu hören – oder sogar zu beeinflussen! Man hatte ihm den Beutel mit seinen magischen Hilfsmitteln weggenommen, und mit seinen Zauberfähigkeiten hatte er auch seinen Quyvhal verloren. Er war sich nicht sicher, wie lange er schon in dieser Finsternis lag, aber wahrscheinlich war der Som mer bereits vergangen. Daß er noch immer lebte, war nur
ein schwacher Trost, auch wenn er argwöhnte, daß mehr als nur bloße Rachegelüste dafür verantwortlich waren, und er grübelte ständig über den Grund dafür nach, wenn er sich nicht gerade vorstellte, wie er sich an denen rächte, die seiner Meinung nach für diesen würdelosen Zustand verantwortlich waren. Diese Überlegungen waren es, die ihn davon abhiel ten, endgültig den Verstand zu verlieren, und auf denen der verhutzelte Magier so unsicher über dem Abgrund des Wahnsinns balancierte wie ein betrunkener Tänzer oder Akrobat auf einem dünnen Seil. Während er wie ein Blinder in der Finsternis hockte, dachte er an Calandryll und an Bracht und stellte sich vor, wie er sie töten würde, verfluchte sie leise in einer endlosen Litanei aus reinem Haß. Jetzt erkannte er, wie sie ihn hereingelegt und mit ihren verlockenden Verspre chen dazu überredet hatten, sie freizulassen und aus Kesham-vaj herauszubringen. Wie der Kerner ihn mit List dazu gebracht hatte, seine Magie so gefährlich nahe bei Nhurjabal einzusetzen, wo die loyalen Zauberer des Tyrannen sie spüren mußten und einen Hinterhalt legen konnten. Der Kerner war schlauer gewesen, als Anomius geglaubt hatte, und der junge lyssianische Bursche war von dieser unbegreiflichen Magie geschützt worden, die Anomius in ihm gespürt hatte. Und dabei hatte dieser verfluchte Junge nicht einmal gewußt, wie mächtig er war! Oh, er hatte diesen Stein um den Hals getragen, der ihm einen gewissen Schutz geboten hatte, aber das allein
hätte nicht ausgereicht, den Nachforschungen eines so begabten Thaumaturgen wie Anomius zu widerstehen. Nein, da war noch mehr gewesen – dahinter hatte ir gendeine größere Macht gestanden –, und irgendwann wollte Anomius herausfinden, was für eine Macht das war. Er fragte sich, ob ihre Suche erfolgreich verlaufen war. Vielleicht war es ihnen gelungen, den Fluß hinab nach Kharasul zu fliehen und von dort Gessyth und das sa genhafte Tezin-dar zu erreichen. Vielleicht hatten sie bereits das Zauberbrevier an sich gebracht, mit dem Calandryll ihn geködert hatte. Anomius glaubte nicht – er konnte es nicht glauben –, daß das Buch eine Erfin dung war. Es mußte einfach existieren, sonst wäre er nicht mehr als ein Trottel, und das war schlichtweg un denkbar. Er war Anomius! Der größte Hexer, den Kan dahar gekannt hatte und jemals kennen würde! Er knirschte in hilflosem Zorn mit seinen vergilbten Zähnen, während er sich schwor, furchtbare Rache zu üben, und diese Vorstellung gab ihm Hoffnung. Man hatte ihn nicht getötet, er wurde ernährt, wenn auch mehr schlecht als recht, also mußte man einen Grund haben, ihn am Leben zu lassen. Aber welchen? Als ihm die Erkenntnis kam, war es, als würde ein hel ler Sonnenstrahl in die Dunkelheit seines Verlieses fallen, und Gelächter mischte sich in seine Fluchtiraden. Natür lich, Sathoman war weiter auf dem Vormarsch! Die Pläne und Strategien, die Anomius entwickelt hatte, die
Schutzzauber und magischen Banne, die er gewirkt hatte, alles erwies sich als erfolgreich. Mittlerweile kontrollierte Sathoman nicht nur die Fayne, sondern alle Gebiete, die Anomius ihm versprochen hatte. Jetzt war er nicht mehr ein bloßer abtrünniger Fürst, sondern der Anführer einer Partei in einem richtigen Bürgerkrieg, eine ernste Bedro hung für den Tyrannen. Und alles, was Anomius zu rückgelassen hatte, konnte nur von ihm selbst wieder beseitigt werden. Das war seine Lebensversicherung. Immer, wenn derartige logische Überlegungen die Oberhand über seine Rachephantasien gewannen, hörte er auf zu fluchen und stieß ein schrilles Gelächter aus. Dann blickten sich die Wächter und Schließer in den beleuchteten Regionen über seinem finsteren Loch ein ander an und dachten, daß ihr Gefangener endgültig und vollständig dem Wahnsinn verfallen sei, hielten sich die Ohren zu und hofften, daß der Tyrann bald den Tod des Verrückten anordnen würde. Deshalb waren sie überrascht, als die sieben Hexer des Inneren Kreises persönlich erschienen, die Schutzzauber lösten, die die letzte Tür versiegelten, und in die düstere Gruft hinabstiegen. Dort bauten sie sich im Kreis um den Metalldeckel auf und intonierten in einem Sprechgesang Worte von solch geheimnisvoller Macht, daß die Luft selbst zu summen schien und von dem süßen Mandelge ruch entfesselter Magie erfüllt wurde. Ein nervöser Wächter erhielt den Befehl, die Bolzen zu entfernen, die den Deckel festhielten, und diesen zusammen mit zwei
kräftigen Kameraden zu öffnen. Die Metallplatte wurde langsam in ihren Angeln angehoben und kippte mit einem dumpfen Scheppern zu Boden. Fackellicht fiel auf den Rand des runden Schachtes, und aus seinen dunklen Tiefen drang ein leises verächtliches Lachen empor. Trotz der Kälte, die in diesem Felsgewölbe herrschte, begannen die Kerkermeister zu schwitzen, als sie auf Geheiß der Zauberer ein Seil in den Schacht hinabließen, um den Gefangenen hinaufzuziehen. Anomius tauchte wie eine fahle Made im Licht auf. Er war schon klein und blaß gewesen, als man ihn in das Loch gesteckt hatte, aber jetzt schien er in sich zusam mengefallen zu sein. Seine Haut war so bleich wie unge kochter Nudelteig und streckte sich straff über seine Knochen. Das Haar war ihm ausgefallen, seine Kopfhaut glänzte entzündet im Schein der Fackeln, und sein ver drecktes Gewand war zerrissen und von den Ausschei dungen seines halbverhungerten Körpers besudelt. Er bedeckte seine Augen, die über den eingefallenen Wan gen riesig wirkten, mit seinen schmutzstarrenden Hän den und musterte die ihn umgebenden Zauberer unter fast geschlossenen Lidern zwischen den Fingern hin durch. Als er lächelte, zogen sich die Kerkermeister so fort ängstlich hinter die sieben Hexer zurück, deren Sing sang jetzt lauter wurde. Sieben Hände waren wie ankla gend auf den am Boden hockenden gefangenen Magier gerichtet. Der Mandelgeruch wurde intensiver. Anomius kicherte, strich sich über seine Knollennase und sagte mit heiserer Stimme: »Also seid ihr endlich gekommen. Be
vor wir uns unterhalten, möchte ich Wein und etwas zu essen haben.« Selbst die Zauberer staunten über seine Zuversicht, denn obwohl er schmutzig und abgemagert vor ihnen stand, strahlte er eine Selbstsicherheit aus, die seiner jämmerlichen Erscheinung Hohn sprach. Es war Lykander, der schließlich etwas darauf erwi derte. »Zuerst werden wir Sicherheitsvorkehrungen treffen.« Anomius hob die knochigen Schultern, verzichtete a ber auf einen Protest oder eine Bemerkung und lachte nur leise und verächtlich, als der dicke Magier seine Kollegen Cenobar und Andrycus mit einer Geste auffor derte, dem Gefangenen breite Bänder aus schwarzem Metall um die dünnen Handgelenke zu legen. Sie berühr ten die Verbindungsstellen der Armreifen, und weißes Feuer flammte kurz auf und versiegelte die verzauberten Handfesseln. Anomius zuckte zusammen, als seine Haut angesengt wurde. Dann kehrte die beiden zu den ande ren fünf Magiern zurück, und zusammen sprachen sie weiter ihre Zaubersprüche. Der Mandelgeruch wurde noch stärker und betäubender, bevor er sich schließlich auflöste. »Das ist also getan«, sagte Lykander, »und jetzt bist du zum Gehorsam verpflichtet. Solltest du versuchen, gegen uns, den Tyrannen oder irgend jemanden, der ihm dient, Zauber zu wirken oder Dämonen zu beschwören, verur teilst du dich selbst zu einem unangenehmen Tod.«
Anomius nickte ruhig und fragte: »Und meine Kräfte? Wann werdet ihr sie wiederherstellen?« Lykanders rundes Gesicht wirkte unbewegt. »Glaubst du, daß wir es tun werden?« Der verdreckte Hexer stieß ein rasselndes Lachen aus. »Ihr habt mich aus der Dunkelheit herausgeholt, und dafür muß es einen Grund geben…« »Vielleicht wollen wir dich zu deinem Henker brin gen«, unterbrach ihn Cenobar, verstummte aber sofort wieder und schluckte eingeschüchtert, als Anomius ihm einen verächtlichen Blick zuwarf. »Das glaube ich nicht. Ich denke, daß ihr endlich er kannt habt, was ich schon lange gesehen habe, und mir deshalb zurückgeben müßt, was ihr mir genommen habt.« »Und das wäre?« erkundigte sich Cenobar, während er versuchte, seine Haltung wiederzugewinnen. »Daß ich Sathoman ek'Hennem zu dem gemacht habe, was er ist«, erklärte Anomius scharf, »und daß nur ich das, wieder rückgängig machen kann. Daß der Tyrann – und, damit ihr! – ohne meine Hilfe wahrscheinlich ganz Kandahar an den Lord der Fayne verlieren wird. Deshalb müßt ihr meine Kräfte wiederherstellen.« Cenobar öffnete den Mund, um etwas darauf zu erwi dern, aber Lykander kam ihm zuvor. »Und wirst du uns helfen?« »Habe ich die Wahl?« Anomius betrachtete den
mondgesichtigen Magier mit versteinertem Gesicht. Lykander neigte den Kopf und sagte leise: »Aye, du kannst dich weigern und sterben.« »Ich bin kein so großer Idiot.« Anomius bedachte Ly kander mit der gleichen Verachtung, mit der er Cenobar zum Schweigen gebracht hatte. »Ich habe dich nie für einen Schwachkopf gehalten«, sagte der dicke Magier. »Für einen Abtrünnigen, ja, für eine giftige Schlange, die von einem wahnsinnigen Ehr geiz gepackt ist, ja. Aber nicht für einen Idioten.« »Dann kennst du meine Antwort bereits.« Anomius lächelte. »Und jetzt bringt mich aus diesem stinkenden Loch heraus, gebt mir Wein und etwas zu essen, und dann können wir uns über Bürgerkrieg und Sieg unter halten.« Es schien fast, als würde er die Befehle geben und die Zauberer des Tyrannen ihm gehorchen, denn sie traten zur Seite und deuteten auf die Treppe, wo die Kerker meister das Geschehen voller Ehrfurcht verfolgten. Die Fackeln in ihren Händen zitterten, als sich die blassen blauen Augen Anomius' auf sie richteten. »Ich bin geschwächt«, murmelte er, »und ich bezweif le, daß ich diese Stufen ohne Hilfe hochsteigen könnte. Reichst du mir deinen Arm?« Seine Hand schoß vor und klammerte sich um Ceno bars Handgelenk. Der jüngere Magier zuckte zurück, als sei die Hand eine Schlange, und seine Lippen verzogen sich vor Abscheu. Anomius lächelte befriedigt.
»Hilf ihm, Cenobar«, sagte Lykander und ging schwerfällig an ihm vorbei zur Treppe. Cenobar folgte ihm auf den Fersen und zwang sich zu einem unbeweg ten Gesichtsausdruck, aber seine dunklen Augen glühten vor Wut. Die restlichen Zauberer schlossen sich ihnen an, und in einer beinahe feierlich wirkenden Prozession verließen sie die Gruft. Sie brachten Anomius in den Teil der Zitadelle, der ihnen vorbehalten war, einen Privatbereich, in dem ihre Zauber auf Schritt und Tritt spürbar waren, und führten ihn dort in einen Saal. Hinter großen Bleiglasfenstern leuchteten hell die Sterne. Die silberne Mondsichel war wie ein Schlitz in einer Samtdecke, hinter der weißes Feuer strahlte. In einem Steinkamin loderte ein großes Feuer, dicke Teppiche bedeckten die Steinfliesen. Mit Glas eingefaßte Lampen warfen warmes Licht über die holzvertäfelten Wände und einen runden Tisch, der mit kabbalistischen Zeichen versehen und groß genug war, um der dreifachen Menge der Anwesenden Platz zu bieten. Cenobar drückte Anomius in einen Polstersessel und wischte sich demonstrativ den Hemdsärmel ab. Anomius lehnte sich mit betonter Lässigkeit zurück und wartete. Lykander schlug einen Bronzegong an, und noch bevor der Ton verklungen war, erschien auch schon ein Diener. »Hast du besondere Wünsche?« fragte der fette Zau berer Anomius in sarkastischem Tonfall.
Anomius bohrte sich einen Moment lang in der Nase und sagte: »Erst einmal einen guten Rotwein, sofort. Dann gebratenes Fleisch, am besten Wild oder Rind. Dazu vielleicht ein Ragout und frisches Brot. Zum Abschluß ein Kompott.« Lykander nickte dem Diener zu und bedeutete seinen Kollegen, sich zu setzen. Alle suchten sich Plätze, die möglichst weit von Anomius entfernt waren und muster ten ihn über den großen Tisch hinweg. Ihre Gesichter verrieten ihre gemischten Gefühle. Anomius erwiderte ihre Blicke. Er hatte nichts von seiner Selbstsicherheit verloren, im Gegenteil, sie schien mit jedem verstrei chenden Augenblick zuzunehmen. »Du hast also vorausgesehen, daß wir dich freilassen würden?« fragte Lykander schließlich. »Wenn auch mit bestimmten Einschränkungen?« »Ich habe kaum damit gerechnet, daß ihr mich unbe aufsichtigt in Kandahar herumlaufen lassen würdet.« Anomius schwieg einen Moment lang, als der Diener mit einer Kristallkaraffe und einem einzigen Glas zurück kehrte. »Ihr trinkt nicht mit mir?« Lykander schüttelte den Kopf, und Anomius füllte sein Glas. »Egal. Aye, ich habe vorausgesehen, daß ihr irgendwann kommen und um meine Hilfe bitten wür det.« »Bitten?« zischte Cenobar. »Dann meinetwegen fragen, wenn das deinen Stolz weniger verletzt.« Anomius nahm einen großen Schluck
und machte ein schmatzendes Geräusch mit den Lippen. »Aye, ich habe es vorhergesehen. Ihr braucht mich, um die Zauber zu eliminieren, die ich zurückgelassen habe und die Sathoman mit Sicherheit dem Sieg näher brin gen. Um das zu erreichen, müßt ihr meine Kräfte wie derherstellen. Ich schlage vor, ihr macht es gleich jetzt.« »Iß zuerst«, erwiderte Lykander, »und rede. Du wirst unsere Vorsicht in dieser Angelegenheit verstehen.« »O ja«, sagte Anomius. Durch den Wein kehrte ein wenig Farbe in seine Haut zurück. »Aber worüber sollen wir uns unterhalten? Darüber, Sathoman zu besiegen? Ich werde euch dabei helfen.« »So bereitwillig?« erkundigte sich Lykander. Anomius hob eine Hand und drehte sie so, daß ab wechselnd das Sternenlicht und der Feuerschein auf das schwarze Metall fielen. »Ich bin dazu verurteilt, euch zu helfen«, sagte er. »Entweder das, oder – wie du so fein fühlig dargelegt hast – sterben. Ich ziehe es vor zu leben, ich habe nämlich noch eigene Angelegenheiten zu re geln.« Für einen Augenblick verschwand seine Selbstsicher heit, sein häßliches Gesicht verzerrte sich zu einer Gri masse ungezügelter Wut. »Und worum handelt es sich bei diesen Angelegenhei ten?« wollte Lykander wissen. »Man hat mich betrogen.« Die Wut wich genauso schnell aus Anomius' Gesicht, wie sie gekommen war. »Und dafür möchte ich mich rächen. Das braucht euch
nicht zu kümmern, es hat überhaupt nichts mit dem Wunsch des Tyrannen zu tun, sich Sathoman vom Hals zu schaffen. Was das angeht, werde ich euch all meine Fähigkeiten zur Verfügung stellen, aber als Gegenleis tung brauche ich eure Hilfe.« »Das wäre unklug«, sagte Cenobar, und Rassuman und Andrycus stimmten ihm zu. »Wenn ihr ablehnt, werde ich den Tod wählen«, er widerte Anomius. Er streckte beide Arme aus, um die Fesseln um seine Handgelenke zu zeigen. »Burash! Seid ihr euch derart unsicher, daß ihr mich auch noch fürch tet, wenn ich diese Dinger trage?« »Du wirst diesen Ort nur verlassen können, wenn zwei von uns dich begleiten«, erklärte Lykander. »Du wirst tun, was wir von dir verlangen. Die Konsequenzen eines Verrates sind dir bewußt. Akzeptierst du diese Einschränkungen?« »Ich habe nichts anderes erwartet.« Anomius strahlte, als Diener auf einem Tablett gebra tenes Wildfleisch und die anderen Speisen brachten, die er bestellt hatte. Er begann zu essen, und der Schmutz in seinem Gesicht und auf seiner Kleidung vermischte sich mit Fleischsaft und Fett. Die Zauberer sahen ihm schwei gend zu und überließen die Rolle des Wortführers auch weiterhin Lykander. »Dann werden wir dir deine Kräfte zurückgeben«, versprach der fette Magier. »Nachdem du gegessen hast. Willst du vielleicht vorher baden?«
»Zuerst die Wiederherstellung meiner Kräfte«, sagte Anomius mit vollem Mund und spuckte dabei Essens krümel über den Tisch. »Danach ein Bad. Mit duftenden Ölen und Frauen, die sich um meine Bedürfnisse küm mern. Ein bequemes Bett und Kleidung, die meiner Stel lung angemessen ist. Schließlich werde ich ja zu einer einflußreichen Persönlichkeit in Kandahar, nicht wahr? Zu einem von euch.« Der Widerwille über diese Vorstellung war auf den Gesichtern der anderen nicht zu übersehen, aber keiner widersprach ihm. »Du wirst das alles bekommen«, versicherte Lykander. »Aber erzähl mir jetzt von dieser anderen Sache, von der Rache, die du nehmen willst.«. Anomius brach ein Stückchen Brot ab, wischte damit die Bratensoße auf, rülpste laut und trank noch ein paar Schlucke Wein. »Ich suche zwei Männer«, sagte er, und seine Stimme wurde kalt. »Einen freien Söldner aus Cuan na'For na mens Bracht und einen jungen Burschen aus Lysse na mens Calandryll den Karynth. Sie waren in meiner Be gleitung, als ihr mich gefangengenommen habt. Ich ver mute, das sie den Shemme flußabwärts geflohen sind. Sie haben eine Überfahrt nach Gessyth gesucht, also war ihr Ziel vermutlich Kharasul.« »Waren diese beiden Schüler von dir?« wollte Lykan der wissen. »Nein!« Anomius schüttelte mit Nachdruck den Kopf.
»Es waren verräterische Hunde, und ich möchte, daß sie sterben. Durch ihre List bin ich euch in die Hände gefal len.« »Übertölpelt von ganz normalen Menschen?« murmel te Cenobar. Ein befriedigtes Lächeln glitt über sein Ge sicht, als Anomius einen giftigen Blick auf ihn abschoß. »Wenn es unser … Bündnis in irgendeiner Form gefähr det, wirst du dich nicht um sie kümmern können«, sagte Lykander. »Sie haben nichts mit den Problemen von Kandahar zu tun«, versicherte Anomius. »Das ist eine persönliche Angelegenheit, aber wenn ihr euch weigert, mir zu hel fen, wird es kein Bündnis zwischen uns geben, und Sathoman kann weiter sein Unwesen treiben.« »Wir brauchen Absicherungen«, sagte Lykander. »Dazu bin ich bereit«, erklärte sich Anomius einver standen. »Ich werde euch meinen Geist öffnen, und dann werdet ihr sehen, daß diese Sache keinerlei Bedrohung für euren kostbaren Tyrannen darstellt.« Lykander neigte den Kopf und drückte sein Doppel kinn auf seiner Brust platt. »Und welche Hilfe brauchst du von uns?« fragte er. »Eine frische Leiche«, erwiderte Anomius, schob den leeren Teller mit dem Wildbraten beiseite und griff nach dem Ragout. »Nach Möglichkeit ohne größere Verlet zungen, ein Mann oder eine Frau im besten Alter. Ein starker Körper, der mein Jagdhund wird.« »Ein Wiedererweckter?« Cenobars dunkles Gesicht
wurde blaß. Neben ihm keuchte Andrycus, und Rassu man vollführte eine Schutzgeste. Selbst Lykander schürz te die dicken Lippen voller Abscheu. »Es wäre am besten, wenn ich bei der Tötung dabei sein oder es selbst tun könnte«, fuhr Anomius ungerührt fort. »Die Leiche muß auf jeden Fall frisch sein.« »Wenn sich diese beiden Männer immer noch in Kan dahar aufhalten, kann man sie aufspüren«, protestierte Cenobar. »Alle Liktoren und Legionen könnten ihre Beschreibung bekommen. Und dann können sie zu dir gebracht werden.« »Paktieren eure Liktoren denn mit Sathoman?« wollte Anomius wissen. »Haben eure Legionen Augen in Mherut'yi, in Mhazomul und in Kesham-vaj?« Er erhielt keine Antwort, schüttelte den Kopf und wandte sich so beiläufig dem Kompott zu, als erörterten sie lediglich nebensächliche Fragen über Umgangsfor men. »Nein, was ich brauche, ist meine eigene Schöp fung.« »Du verlangst von uns, dir bei einer der lästerlichsten Blasphemien zu helfen!« schrie Cenobar. »Lykander, das dürfen wir nicht tun!« Der beleibte Lykander antwortete nicht, sondern mus terte Anomius mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination, als betrachte er etwas Fürchterliches, das gerade deshalb so interessant war. »Nekromantik ist die verdorbenste Form der Thauma turgie«, beharrte Cenobar. »Sollen wir uns mit Schwarzer
Magie einlassen, nur um dieser … Kreatur einen Gefallen zu tun?« »Wollt ihr meine Hilfe oder nicht?« fragte Anomius und starrte Lykander mit unbewegtem Gesicht an. »Oh ne diese Gegenleistung werdet ihr nichts von mir be kommen.« »Xenomenus hat uns aufgetragen, ihm alles zu besor gen, was er verlangt«, sagte Lykander langsam, löste den Blick von der unheimlichen Gestalt und richtete ihn auf seine Kollegen. »Und ich nehme Anomius' Worte ernst – wenn wir uns weigern, ihm zu helfen, wird er das gleiche tun.« »Xenomenus hat Wein und Reichtümer gemeint!« rief Cenobar. »Frauen oder Knaben, aber nichts in dieser Richtung!« »Aber darüber hinaus möchte Xenomenus, daß Sathoman besiegt wird«, stellte Lykander fest. »Und ohne Anomius…« »Er wird unser aller Seelen in Gefahr bringen«, be hauptete Cenobar. »Nur meine eigene«, murmelte Anomius und leckte sich die letzten Reste des Kompotts von den Lippen. »Und das Risiko nehme ich in Kauf.« »Laßt uns darüber abstimmen«, schlug Rassuman vor. »Aye«, meinte Lykander, »und sollte die Abstimmung negativ ausfallen und Anomius sich weigern, uns zu helfen, dann sollen diejenigen, die gegen ihn gestimmt
haben, den Tyrannen informieren.« Darauf wurden etliche Gesichter blaß. Die Zauberer schlugen die Augen nieder und schienen sich plötzlich brennend für ihre Hände und die Tischplatte zu interes sieren. Anomius wischte sich den Mund ab, grinste und schenkte sich das Glas wieder voll. Lykander trommelte mit seinen dicken Fingern auf den Tisch, um die Auf merksamkeit der anderen zu erregen. Die sieben Hexer hoben die Köpfe, und während sie lautlos abstimmten, lag kurz Mandelgeruch in der warmen Luft. Wenig spä ter war die Wahl entschieden. Lykander nickte und wandte sich wieder Anomius zu. »Wir wollen deine Hilfe, Gesetzloser, also wirst du deine Leiche bekommen. Aber sei gewarnt, du trägst die Verantwortung für alle Taten deines Werkzeugs! Sollten sie unseren Interessen zuwiderlaufen, werdet ihr beide verbrennen« »Mehr habe ich auch nicht erwartet«, stellte Anomius fest. »Dann wirst du bekommen, was du verlangst«, sagte Lykander, und auf einmal klang seine Stimme nicht mehr so selbstsicher, »und deine magischen Kräfte werden wiederhergestellt.« »Hervorragend.« Anomius lehnte sich in seinem Sessel zurück, rülpste erneut und lächelte zufrieden. »Du hast die richtige Entscheidung getroffen, mein Freund.« »Ich bin nicht dein Freund«, entgegnete Lykander lei se.
Gebadet, parfümiert und in ein silberbesticktes schwar zes Gewand gekleidet, bot Anomius einen ansehnliche ren Anblick als die jämmerliche Gestalt, die man aus dem Verlies gezogen hatte. Er war immer noch klein und häßlich, aber nach der Wiederherstellung seiner Kräfte umgab ihn eine Aura der Stärke und etwas ähnliches wie Würde. So kam es, daß es den Anschein hatte, als wäre die Macht der Zauberer des Tyrannen gewachsen, als die acht ähnlich gekleideten Männer in die Verliese hinab stiegen. Sie wurden von dem obersten Kerkermeister geführt, der in seinem Kilt und Küraß aus karmesinroter Drachenhaut ein imposantes Bild abgab. Als sie in einem großen Gewölbe mit zahlreichen ver riegelten Eichentüren angekommen waren, blieb der Bedienstete des Tyrannen nervös stehen. In der Mitte der Halle stand ein Gestell, daneben ein Rad und dahinter eine von spitzen Stacheln starrende Eiserne Jungfrau. Bedrohlich aussehende Instrumente hingen von den Wänden, und Kohlenpfannen verströmten Hitze, aber es war die Gegenwart der Hexer, die dem Kerkermeister den Schweiß auf die Stirn treten ließ. »Hier sind die gewöhnlichen Verbrecher eingesperrt.« Er deutete auf eine Tür und ließ die Hand wieder sin ken, als Anomius sagte: »Ich will keinen gewöhnlichen Verbrecher. Wo verwahrst du die schlimmsten?« »Dort.« Der Kerkermeister deutete auf eine zweite Tür. »Unter dieser Ebene sind die Mörder, Kinderschän
der und die Feinde des Tyrannen.« »Dann führ uns dorthin.« Die Stimme des kleinwüchsigen Mannes klang so be geistert, daß der Kerkermeister einen kurzen Blick in seine Richtung warf und sofort wieder wegsah, als er Anomius' Vorfreude bemerkte. Er fragte sich, was hier vor sich ging, warum die sieben anderen Zauberer so unruhig waren und sich auf einigen Gesichtern Abscheu widerspiegelte. Anomius war ihm unbekannt, und er wagte es nicht, eine entsprechende Frage zu stellen. Nach dem Tyrann waren die Hofzauberer die einflußreichsten Männer des Landes. Also nickte er nur pflichtschuldig und zog den Riegel zurück. Fackeln warfen trübes Licht über die vom öligen Rauch rußgeschwärzten Wände einer schmalen Treppe, die durch den Fels in die Tiefe führte. Sie endete in einem Gang mit einer Reihe schwerer Türen zu beiden Seiten, in die kleine vergitterte Öffnungen eingelassen waren. Der Rauch der Fackeln mischte sich mit dem Gestank von ungewaschenen Körpern und Kot. Der Kerkermeister deutete auf die erste Tür. »Dahinter sitzt ein gewisser Kassium, der Vater und Mutter umgebracht hat, um ihnen ihre wenigen Habse ligkeiten zu stehlen. Er soll demnächst gefoltert werden.« »Ein geeigneter Kandidat, denke ich«, meinte Lykan der. Er hatte es unübersehbar eilig, diesen schaurigen Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen. »Aber vielleicht nicht der beste«, erwiderte Anomius.
»Erzähl mir von den anderen.« Der Kerkermeister runzelte verwirrt die Stirn, zuckte die Achseln und deutete nacheinander auf die restlichen Türen. Hinter der einen saß ein Meuchelmörder, hinter der nächsten ein Kinderschänder, danach eine Giftmör derin, gefolgt von einem Straßenräuber, dann ein Mäd chenhändler, ein Aufrührer, ein Brudermörder, ein gut aussehender Mann, der wohlhabende Frauen geheiratet hatte, um sie kurz darauf umzubringen. Es gab eine Menge Zellen und einen Katalog der abscheulichsten Verbrechen, die sich Anomius alle aufmerksam anhörte. Er wartete, bis der Kerkermeister geendet hatte, und sagte dann: »Diese Frau, Cennaire, erzähl mir noch ein mal von ihr.« »Eine Kurtisane«, erwiderte der Mann. »Sie hat einem Ihrer Bewunderer den Geldbeutel gestohlen und ihm ein Messer in den Bauch gerammt, als er gedroht hat, sie bloßzustellen.« »Ist sie hübsch?« Anomius' blaßblaue Augen vereng ten sich interessiert. »Und sie ist nicht krank?« »Aye und nein«, gab der Kerkermeister zurück. »Sie ist von der Syphilis verschont geblieben und war wun derschön, bevor sie hierher gebracht worden ist. Sie hat sogar mehr als nur einmal versucht, meine Männer zu verführen.« »Und ist ihr Angebot angenommen worden?« erkun digte sich Anomius trocken. »Wir erfüllen hier gewissenhaft unsere Pflicht«, versi
cherte der Kerkermeister, aber seine Augen verrieten, daß er gelogen hatte. »Das ist auch egal«, stellte Anomius fest, »solange sie unversehrt geblieben ist. Hol sie heraus.« Der Aufseher warf den anderen einen fragenden Blick zu, und als Lykander nickte, ging er zu der Tür, auf die Anomius deutete, und zog zwei dicke Riegel zurück. Er öffnete die schwere Tür und machte eine auffordernde Geste. Aus der Zelle ertönte eine melodische Stimme. »Sieh an, mein guter Gurnal. Hast du wieder Lust auf mich?« »Sei still!« brauste der Kerkermeister auf und warf seinen Begleitern einen schuldbewußten Blick zu. »Hier sind ein paar Besucher, die dich sehen wollen. Komm ins Licht.« »Was? Keine Versprechen diesmal, um mich zu lo cken? Keine Schmeicheleien oder Geschenke?« Der Aufseher trat einen Schritt vor und hob die Hand. »Laß sie in Ruhe!« bellte Anomius. »Hol sie nur her aus, damit ich sie sehen kann.« Gurnal ließ die Hand sinken, und die Frau fragte: »Wer sind diese Besucher? Werde ich jetzt auch zur Ge spielin deiner Freunde?« »Es sind die Hexer des Tyrannen«, erwiderte der Ker kermeister, »und sie wollen einen Blick auf dich werfen. Kommst du jetzt freiwillig, oder muß ich Gewalt anwen den?«
»Ich fürchte, ich bin nicht gerade in der besten Verfas sung«, sagte die Frau, »aber wenn du darauf bestehst, meinetwegen.« Gurnal machte einen Schritt zurück, als sie in das Fa ckellicht hinaustrat, sich das verfilzte Haar aus dem ova len Gesicht strich und die acht Männer unerschrocken anstarrte. Aus dem schmutzverkrusteten Gesicht blitzen den Besuchern riesige braune Augen trotzig entgegen, und ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln und entblößten weiße ebenmäßige Zähne. Unter einer Schicht aus Dreck war ihr Haar glänzend schwarz und umspielte ihre Schultern, von denen sie eine kunstvoll entblößt hatte. Ihr Kleid war zerschlissen und konnte ihren schlanken Körper kaum verhüllen, besonders nicht dort, wo sich der Stoff über Ihren Brüsten und der Hüfte spannte und ein wohlgeformtes Bein aus einem langen Schlitz hervorschaute. »Meine Herren, vergebt mir meine Erscheinung.« Sie vollführte einen spöttischen Knicks. »Aber gestattet mir nur, ein Bad zu nehmen, und ich bin sicher, daß ich Euer aller Wünsche befriedigen kann.« »Halt den Mund!« bellte Gurnal erneut. »Verhalte dich respektvoll, oder du wirst bestraft werden.« Die Frau bedachte ihn mit einem Lächeln, das genauso spöttisch wie ihr Knicks war, und sagte: »Früher hast du nettere Worte für mich gefunden, Gurnal.« »Sie lügt«, behauptete der Kerkermeister. »Sie hat die Zunge einer Schlange.«
Anomius hob eine Hand und brachte ihn zum Schweigen. »Das spielt keine Rolle«, sagte er und starrte die Frau nachdenklich an. »Du heißt Cennaire?« fragte er. »Aye«, bestätigte sie und erwiderte seinen Blick. »Und Ihr?« »Anomius«, gab er geistesabwesend zurück. »Wegen welchem Verbrechen hat man dich hier eingesperrt?« Einen kurzen Moment lang senkte sie die Lider, dann zuckte sie die Achseln. »Ihr kennt zweifellos die Anklage und würdet mich eine Lügnerin nennen, wenn ich Euch sagen würde, daß ich unschuldig bin, ein Opfer meiner Feinde. Also, man hat mich für schuldig befunden, einen Liebhaber getötet zu haben.« Anomius nickte gedankenverloren, ging langsam um sie herum und betrachtete sie wie ein Bauer, der auf dem Markt eine Färse begutachtet. Er brummte zufrieden und sagte: »Sie ist geeignet.« »Wofür?« Unter seinen kalten Augen begann Cennai res Selbstsicherheit zu bröckeln. »Wollt Ihr Euch mit mir vergnügen?« »Nicht so, wie du dir das denkst«, entgegnete Ano mius, und auch sein Lächeln war nicht dazu angetan, sie zu beruhigen. »Aber ich biete dir an, dich aus diesem elenden Gefängnis herauszuholen. Bist du damit einver standen?« »Was wollt Ihr von mir?« Sein prüfender Blick ließ sie einen Schritt näher zu Gurnal zurückweichen, als zöge sie die Form von Gewalt vor, die sie bereits kannte. »Was
könnte ein Hexer mit mir anfangen?« »Eine Menge, hoffe ich«, erwiderte der kahlköpfige Magier. »Aber das werde ich dir später erklären. Also, willst du mit mir kommen? Ich biete dir ein Bad, Parfüm, Kleider, die deiner Schönheit angemessener sind als diese Lumpen, gutes Essen und Wein. Ich biete dir Erholung von deiner Zelle und den Qualen dieses Ortes. Bist du damit einverstanden?« Cennaire nickte langsam, die Stirn neugierig gerun zelt. Anomius bot ihr seinen Arm an. Er wirkte fast wie ein zwergenhafter Höfling, und sie griff nervös zu. »Hohe Herren, wie soll ich das vermerken?« fragte Gurnal. »Sie steht jetzt unter unserer Obhut, Kerkermeister«, erwiderte Lykander. »Sollte irgend jemand nach ihr fra gen, dann sag ihm, daß sie von dem Magier Anomius in die Dienste des Tyrannen gestellt worden ist.« Gurnal murmelte etwas vor sich hin, die Hexer und Anomius nahmen Cennaire in ihre Mitte und verließen das Kellergewölbe. Sie kehrten in den Teil der Zitadelle zurück, in dem die Hexer residierten. Die schwarzgekleideten Männer bildeten einen lebenden Schild um die Frau, als wollten sie sie und das Schicksal, das Anomius für sie vorgese hen hatte, vor allen anderen Augen verbergen. Vor dem Quartier, das für Anomius vorbereitete wor den war, blieben sie stehen. »Schickt mir Diener mit heißem Wasser und allen anderen Dingen, die eine Frau
benötigt«, verlangte der kleinwüchsige Magier. »Klei dung, wie sie die Adligen Kandahars tragen, Schmuck und etwas zu essen.« »Und natürlich auch unsere besten Weine«, fügte Ce nobar eher verbittert als spöttisch hinzu. »Aye, auch das«, bestätigte Anomius ruhig. »Und jetzt laßt uns allein. Um den Rest werde ich mich selbst küm mern.« Lykander nickte, und die anderen schlossen sich ihm an. Niemand wollte etwas mit dieser Sache zu tun haben. Anomius stieß die Tür auf und forderte Cennaire mit einer fast galanten Handbewegung auf einzutreten. Sie warf den sieben anderen Zauberern einen kurzen Blick zu, leckte sich über die Lippen, zögerte einen Moment lang und ging schließlich in das Zimmer. Anomius folgte ihr und schloß die Tür hinter sich. Etwas von ihrem trotzigen Auftreten kehrte zurück, aber das war eher der Versuch, ihre Unsicherheit zu überspielen, als sie sagte: »Ich soll also ein Bad nehmen, mich mit Parfüm bestäuben und Kleidung bekommen, ›wie sie die Adligen Kandahars tragen‹. Wozu, wenn Ihr nicht vorhabt, mit mir zu schlafen?« »Du hast meine Worte genau wiederholt«, schmunzel te Anomius anerkennend. »Du hast also ein gutes Ge dächtnis?« »Ich war eine Kurtisane«, erwiderte sie mit einem An flug von Stolz in der Stimme, »und zwar eine äußerst erfolgreiche Kurtisane. Als solche war es sehr wichtig für
mich, mich richtig zu erinnern. Die Namen meiner Lieb haber durcheinanderzubringen wäre schlecht fürs Ge schäft gewesen. Aye, ich habe ein hervorragendes Ge dächtnis.« »Um so besser.« Anomius rieb sich begeistert die Hände. »Du stammst von hier, aus Nhurjabal?« »Ich wurde in Kharasul geboren und habe dort eine Zeitlang gearbeitet«, sagte sie, »größtenteils aber hier. Aber noch einmal: Soll ich Eure Gefährtin werden?« Er lächelte listig und deutete auf das Zimmer. »Reicht es dir nicht, daß du nicht mehr im Verlies schmoren mußt? Daß du diese Annehmlichkeiten genießen kannst?« Cennaire drehte sich langsam um und betrach tete den Raum. Er wäre ihr auch dann luxuriös erschie nen, wenn sie nicht gerade aus einer stinkenden Zelle gekommen wäre. Die Wände waren mit hellem Marmor vertäfelt, von den hohen Fenstern, die einen Blick über die Stadt boten, waren die Seidenvorhänge zurückgezo gen worden, in einem Kamin, vor dem dick gepolsterte Sitzbänke standen, brannte ein Feuer. Der Fußboden wurde von einem großen gemusterten Wollteppich be deckt. In der Mitte des Raumes standen ein Tisch und zwei Sessel, und auf dem Tisch stand eine Silberschale mit kandierten Früchten. Anomius öffnete zwei Türen, die ins Schlafzimmer und ins Badezimmer führten. Cen naire nickte. »Ich gebe zu, daß es eine angenehme Alternative ist. Aber für wie lange? Bin ich immer noch zum Tode verur
teilt?« »Du stehst jetzt unter meinem Schutz«, umging Ano mius ihre Frage geschickt, »und du wirst dem Henker des Tyrannen entgehen, wenn du tust, was ich will.« Cennaire musterte ihn zweifelnd. Sie war immer noch argwöhnisch, doch allmählich erwachte auch ihre Neu gier. »Ihr habt gesagt, daß ich nicht hier wäre, um Euer Bett zu wärmen. Wozu dann?« Das Klopfen eines Dieners an der Tür ersparte Ano mius weitere Ausflüchte. Er rief die Frauen und Männer, die heißes Wasser, Seife, Parfüm und eine Auswahl an Kleidung und kostbarem Schmuck brachten, herein. Sie stellten die Sachen ab und warteten auf weitere Anwei sungen. Anomius schickte sie fort und deutete zum Ba dezimmer. »Deine Badewanne wartet, meine Dame. Möchtest du dir nicht den Kerkerschmutz abwaschen? Danach kön nen wir uns über alles weitere unterhalten.« Cennaire nickte und betrat das dampferfüllte Bade zimmer. Anomius folgte ihr und sah zu, wie sie unge niert ihr schmutziges Kleid ablegte. Ihm fiel auf, daß sie es mit lasziver Lässigkeit auszog, wahrscheinlich in dem instinktiven Versuch, ihn mit ihren körperlichen Reizen zu betören. Und ihr Körper, stellte Anomius befriedigt fest, war genau so, wie er gehofft hatte, schlank und langgliedrig, mit festen Brüsten und sanft gerundeten Hüften. Soweit er es sehen konnte, wurde sie von keinem Makel verunstaltet, und hätte er nicht eine andere Ver
wendung für Cennaire vorgesehen, wäre jetzt sein Ver langen für sie erwacht. Sie wird mit Sicherheit das Verlan gen eines jeden Mannes wecken, dachte er. Er triumphierte innerlich, alles lief zufriedenstellend. Sie war schön und schien einen wachen Verstand zu besitzen; ihr Gedächt nis war gut, und sie trotzte den Unbilden ihres Schick sals. Aye, entschied er, er hatte mit ihr die richtige Wahl getroffen. Er sah ihr weiter zu, als sie sich in die Wanne gleiten ließ und sich wohlig seufzend ausstreckte. Ihr langes Haar breitete sich wie ein Teppich um sie herum aus. Sie schien seine Anwesenheit vergessen zu haben, genoß mit geschlossenen Augen das warme Wasser, aus dem duf tende Dampfschwaden aufstiegen. Nach einer Weile ergriff sie ein Stück Seife und begann, sich von Kopf bis Fuß damit einzureiben und abzuschrubben. Sie setzte sich in der Wanne auf, ohne auf den Hexer zu achten, und unter dem Schmutz kam ihre dunkel gebräunte Haut zum Vorschein. Schließlich war sie fertig, stieg aus dem Wasser, mas sierte sich duftendes Öl in die Haut und trocknete ihr Haar mit einem flauschigen Handtuch. Als sie ihre Kör perpflege zu ihrer Zufriedenheit beendet hatte, wandte sie sich wieder Anomius zu und fragte: »Gibt es hier Bürsten oder kämme?« »Im Schlafzimmer«, erwiderte er, und sie lächelte, als würde sie endlich erkennen, was er von ihr wollte. Lang sam und mit wiegenden Hüften ging sie nackt an ihm
vorbei zur Ankleidekommode, wo Kämme und Bürsten bereitlagen. Sie setzte sich vor den Frisierspiegel und betrachtete Anomius' Spiegelbild, der in der Tür stehen geblieben war, lächelte ein wenig, ergriff eine Bürste und zog sie mit langen und langsamen Bewegungen durch ihr volles Haar. »Du bist wunderschön«, murmelte Anomius und trat näher an sie heran. »Ein Mann könnte sein Herz an dich verlieren.« »Das haben auch schon viele Männer getan«, sagte sie, immer noch lächelnd. »Werdet Ihr es auch tun?« »Ich bin ein Hexer«, gab er zurück, als sei das Antwort genug. »Haben Hexer denn keine Herzen?« fragte sie. »Sind sie unter diesen schwarzen Roben nicht auch Männer?« »Männer, die ein höheres Ziel verfolgen«, erwiderte er. Cennaire zog kokett einen Schmollmund und warf ihr Haar mit beiden Händen zurück. Die Bewegung betonte die Rundungen ihrer festen Brüste. Ihre Augen waren immer noch auf das Spiegelbild des Hexers gerichtet. »Welches höhere Ziel als die Freuden der Liebe könnte es denn zwischen Männern und Frauen geben?« wollte sie wissen. Anomius zuckte die Achseln, wich einer direkten Antwort aus und fragte statt dessen: »Würdest du gerne Macht besitzen?« Bei seinen Worten veränderte sich Cennaires Ge
sichtsausdruck, wurde einen Moment lang lauernd. Ihre langen Wimpern senkten sich über ihre großen braunen Augen. Dann schüttelte sie ihr Haar aus, so daß es in Kaskaden um ihre Schultern und ihr Gesicht fiel. »Ich habe Macht besessen«, murmelte sie, »Macht über Männer. Es war eine angenehme Erfahrung.« Ein heraus fordernder Tonfall schlich sich in ihre melodische Stim me. »Du könntest eine noch größere Macht benutzen«, sag te Anomius. »Ich könnte sie dir geben.« Interesse funkelte in ihren Augen auf. Sie drehte sich zu ihm um. »Ihr verurteilt mich nicht für das, was ich getan habe?« wollte sie wissen. Anomius schüttelte den Kopf. »Nein. Gerade das – und deine Schönheit – hat mich davon überzeugt, daß du genau diejenige bist, die ich brauche.« Er berührte ihre Wange, fuhr mit seinen Fingern leicht über ihre samtwei che Haut. »Aber dafür müßtest du einen Preis bezahlen.« »Nennt ihn mir«, verlangte sie, »und ich werde ihn zahlen, wenn es in meiner Macht steht.« »Oh, das tut es«, versicherte er und ging an ihr vorbei zum Bett. Sie folgte ihm mit den Blicken, lächelte erneut und wollte aufstehen, aber er winkte sie zurück. »Nein, nicht das.« Er schenkte Wein in einen Pokal ein. »Ein anderer Preis, aber ein großer.« »Nennt ihn mir«, wiederholte sie.
»Mach dich zuerst fertig«, schlug er vor und deutete auf die Schminkutensilien, die auf dem Ankleidetisch lagen. »Ich möchte dich in deiner ganzen Schönheit se hen.« Cennaire strich mit den Händen über die Rundungen ihres Körpers. »Bin ich nicht bereits schön genug?« fragte sie. »Aber wenn Ihr Schminke verlangt…« Sie drehte sich auf dem Stuhl wieder zum Spiegel herum, doch diesmal hielt sie den Blick gesenkt, während sie mit verschiede nen Dosen und Pinseln hantierte. Anomius sah ihr dabei zu und wartete, bis sie ihre Kosmetik beendet hatte. Dann lächelte er ihr anerken nend zu und reichte ihr einen bis an den Rand mit Rot wein gefüllten Silberpokal. »Einen Toast auf die Macht, die ich dir anbiete«, sagte er leise. Cennaire nahm den Pokal entgegen, nippte geziert daran und hob fragend die Brauen, als sie sah, daß der Zauberer kein Glas hatte. »Trinkt Ihr nicht?« Anomius schüttelte wortlos den Kopf und wartete. Cennaire leerte den Kelch und fragte sich, warum er sich so schwer in ihrer Hand anfühlte. Die Gestalt des häßli chen kleinen Mannes verschwamm vor ihren Augen. Cennaire lächelte träge und kicherte, als ihr der Becher aus den Fingern glitt und über den Teppich rollte. Dann schlossen sich ihre Augen, und sie kippte mit einem letzten gurgelnden Kichern von ihrem Stuhl. Anomius fing sie auf und trug sie mit einer Kraft, die seine zwergenhafte Gestalt Lügen strafte, zum Bett. Er
legte sie vorsichtig auf die Seidenlaken und ging zu ei nem Schrank, dem er zwei Schatullen entnahm. Die eine war ein kleines, mit Inschriften verziertes Kästchen, das er zur Seite stellte. Die andere war größer und schmuck los. Als er sie öffnete, glitzerten scharfe Instrumente, wie sie Chirurgen benutzten, im Licht der Lampen. Anomius holte einige Messer und Skalpelle hervor, während er ununterbrochen vor sich hinmurmelte. Seine Worte erfüllten das Zimmer mit Mandelduft. Er legte die Werkzeuge zurecht, berührte Cennaire an Lippen, Augen und der Brust über dem Herzen, dann zog er einen schwarzen Wachsstift unter seiner Robe hervor und malte ein magisches Zeichen auf ihren Körper, das einen Moment lang in einem dunklen unheiligen Licht auf glühte. Als es erloschen war, ergriff er die chirurgischen Instrumente und schnitt ihr den Brustkorb bis zum Her zen auf. Cennaire schrie einmal kurz auf, aber ihre Stimme klang benommen. Sie befand sich völlig in der Gewalt von Anomius' magischen Kräften, als er ihr das lebendi ge Organ aus dem Körper entfernte und es mit blutigen, fleckigen Händen hochhielt. Mit unendlicher Vorsicht und unter einem ständigen Singsang legte er es in das verzierte Kästchen, sprach einen Versieglungszauber spruch, und der blutige Fleischklumpen schlug weiter in der mit magischen Zeichen beschrifteten Schatulle. Anomius kehrte zu dem Körper der Frau zurück und holte einen Lehmklumpen unter seiner Robe hervor. Er
spuckte auf den Lehm und die klaffende Wunde in Cen naires Brust und schob ihr den Klumpen unter die Rip pen. Dann sprach er einen weiteren Zauberspruch und sah zu, wie der Lehmklumpen zu pulsieren begann und tentakelähnliche Auswüchse bildete, die sich mit den Adern im Brustkorb der Frau verbanden. Die Wunde schloß sich, das Fleisch wuchs zusammen und verheilte. Nicht die geringste Narbe blieb zurück, und es schien, als wäre die Brust nie aufgeschnitten worden. Der Hexer kniete sich über Cennaire, blies ihr seinen Atem in den Mund und trat zurück. Sie erschauderte und keuchte. Als sich ihre Augen flatternd öffneten, voller Panik und der Erinnerung an die Schmerzen, intonierte er ei nen weiteren Zauberspruch und starrte sie durchdrin gend an. Ein Zittern lief durch Cennaires Körper und schüttelte ihn, als tobte in ihrem Inneren ein Kampf zwischen Le ben und Tod. Anomius' Singsang verklang, mit ihm verflog der Mandelduft, und langsam hob und senkte sich Cennaires Brust, begannen sich ihre verheilten Rip pen auszudehnen, als würde der Lehmklumpen, der jetzt ihr Herz war, zu schlagen anfangen. Anomius hockte sich neben sie, streichelte ihr sanft über die Wange und lächelte triumphierend. »Du bist von den Toten aufer standen, um meine Wünsche zu erfüllen«, sagte er. »Jetzt bist du mein Geschöpf, meine Wiedererweckte. Ich wer de dir sagen, was du tun sollst. Hör mir genau zu.«
KAPITEL 2 Das vanuische Kriegsboot schlich sich wie ein wachsa mes Tier an den Klippen vorbei und in die Mündung des Yst hinein. Das schwarze Segel war eingeholt worden, und das leise Geräusch der eintauchenden Ruder ging im Rauschen der Wellen unter, wo die Meeresbrandung und das ausströmende Flußwasser um die Vorherrschaft in der Bucht kämpften. Der zähnefletschende Drachenkopf am Bug war von einer weißen Salzschicht überzogen, genau wie die von der Witterung zernagten Planken der Bordwände und die dort hängenden Schilde. Das Boot schien angeschlagen zu sein, und seine Besatzung war kaum in einem viel besseren Zustand. Die Fahrt von Gessyth nach Süden, bei der sie ständig gegen den Wind hatten anrudern müssen, die Winterstürme, die Umschif fung des Kaps, das alles hatte seinen Zoll von der Besat zung gefordert, die von den Bewohnern des Sumpflan des und den Kannibalen von Gash dezimiert worden war. Calandryll und Bracht hatten wie alle anderen Ruder schichten übernommen, und während die Arbeit ihre Muskeln gestärkt hatte, hatte sie ihnen auch genug Zeit gelassen, über das nachzudenken, was ihnen noch bevor stand, über die Hindernisse, die sie überwinden mußten,
und darüber, daß sie gezwungen waren, sich mit norma len Mitteln fortzubewegen, während derjenige, den sie verfolgten, den Vorteil der Magie auf seiner Seite hatte. Es schien unmöglich, daß sie trotzdem Erfolg haben könnten, aber sie hatten nie daran gedacht, ihrem Gegner kampflos den Sieg zu überlassen. Höchstwahrscheinlich war Rhythamun – oder Varent, oder wie immer er sich zur Zeit gerade nannte – nach Aldarin zurückgekehrt, um neue Kräfte zu sammeln, bevor er seine Suche nach dem Ruheort des Verrückten Gottes fortsetzte. Deshalb mußten sie Lysse anlaufen, um seine Spur aufzunehmen und zu verfolgen, wohin sie auch führen mochte. Der magische Stein, den Katya trug, deutete in diese Rich tung, aber bevor sie es wagen konnten, das Enge Meer zu überqueren, mußten sie das Boot überholen und frische Vorräte an Bord nehmen. Darauf hatte Tekkan bestan den, und Tekkan war der Kapitän und Steuermann. Also mußten sich die drei Sucher – Calandryll, Katya und Bracht – gedulden und hoffen, daß sie nicht zu spät ka men und Varent noch nicht verschwunden war. Es war nur eine schwache Hoffnung, dachte Ca landryll, während er die Klippen im Auge behielt, die die Bucht zu beiden Seiten säumten, aber es war die einzige, die ihnen blieb. Varent den Tarl – Rhythamun, verbesser te er sich bitter in Gedanken – hatte geglaubt, das magi sche Tor würde sich schließen und seine unfreiwilligen Helfer für immer in den Ruinen von Tezin-dar festhalten, nachdem er das Arcanum an sich gebracht hatte und die uralten Wächter gestorben waren. Und er hätte damit
recht haben können, hätte Bracht nicht so schnell reagiert und sie nicht durch das Portal gestoßen. Sie waren bei den Steinsäulen in der Nähe des Dorfes der Syfalheen wieder herausgekommen, von wo aus sie zum Kriegs boot zurückgekehrt und erneut ins Unbekannte auf gebrochen waren. Calandryll fuhr sich mit einer Hand durch das Haar, das lang und durch die Sonne und den Seewind fast so hell wie Katyas flachsblonde Mähne geworden war. Er fragte sich, wie groß ihre Erfolgsaus sichten waren. Im Körper Varent den Tarls verfügte Rhythamun über Macht und Einfluß in Aldarin, und er hatte Calandryll erzählt, daß er sich mit seinen magischen Fähigkeiten nur an Orte versetzen konnte, die er bereits kannte. Folglich – Calandryll zwang sich, logisch zu denken, wie der Ge lehrte, der er einst hatte werden wollen – mußte er in seinen Palast in Aldarin zurückgekehrt sein. Vielleicht würden sie dort Spuren finden, die sie zu dem Hexer führten. Darauf beruhte ihre gesamte Hoffnung, aber bevor sie Aldarin erreichten, würden sie noch etliche Hindernisse überwinden müssen, die in Zeiten wie die sen unüberwindlich schienen. Calandrylls Augen wurden schmal, als er die Signal flaggen auf den Klippen entdeckte. Sathoman ek'Hennem hatte eine Revolte in Kandahar angezettelt, und vermutlich würden die Legionen des Tyrannen Fremden wie ihnen eine Menge Fragen stellen und wahrscheinlich auch Verwendung für ihr Kriegsboot haben. Calandryll
hob eine gebräunte und wettergegerbte Hand und deute te auf die Signalgeber. »Ich sehe sie«, bestätigte Bracht. Sein schwarzer Pfer deschwanz wippte, als er den Kopf hob und die rechte Hand leicht auf das Krummschwert an seiner Hüfte legte. »Wahrscheinlich wird bereits jemand auf uns war ten.« »Hoffentlich keine Feinde.« Katyas graue Augen um wölkten sich und verrieten die Unsicherheit hinter ihrem zur Schau gestellten Optimismus. »Ich glaube, wir haben nicht gerade viele Freunde in Kandahar«, erwiderte Bracht. Seine Zähne schimmerten weiß in seinem dunkel gebräunten Gesicht. »Doch mehr als genug Feinde.« »Aber wir haben immerhin eine Ladung Drachenhäu te«, gab die Kriegerin zurück, »und damit müßten wir uns einige Gefälligkeiten erkaufen können.« Ihre Entschlossenheit war im Vergleich zu der ihrer beiden Gefährten wahrscheinlich die größte, denn das Ziel ihrer Mission war es von Anfang gewesen, Rhytha mun zu besiegen. Sie hatte keinen Verrat erlebt, ihr Ver trauen war nicht erschüttert worden, als sich eine schein bare Freundschaft als gemeiner Betrug herausgestellt hatte. Sie war aus dem fernen Vanu aufgebrochen, aus geschickt von den Heiligen Männern des Nordens, um das Arcanum zu finden, damit es vollständig zerstört werden könnte und Männer wie Rhythamun, die die Welt wieder in das Chaos der Götterkriege stürzen woll
ten, nie die Ruhestätte des Verrückten Gottes würden finden können. Dieser Vorsatz brannte wie eine helle reine Flamme in ihr. Die Flamme brannte genauso heiß in Calandryll, aber bei ihm hatte sie durch den gemeinen Verrat einen dunk len Schatten erhalten, durch das Wissen, daß Rhythamun ihn in der Gestalt Varents und unter einer Maske der Freundschaft hereingelegt und sein Vertrauen, seine Hoffnungen und jugendlichen Träume von Ruhm und Ehre mißbraucht hatte, um ihn zu einem nützlichen Idio ten zu machen. Zu wissen, daß er es gewesen war, durch den der Magier das Verbotene Buch in die Hände be kommen hatte, erfüllte ihn mit beißender Bitterkeit und hatte den Mantel der Unschuld von ihm gerissen, der ihn auf seiner Flucht aus Secca noch umgeben hatte. Bei diesem Gedanken verzogen sich seine Lippen zu einem grimmigen Lächeln. Für ihn bedeutete diese Mission mehr als die Rettung der Welt; jetzt spielte auch der Wunsch nach Rache eine Rolle. »Was belustigt dich?« hörte er Bracht fragen und ant wortete: »Ich habe über die Vergangenheit und darüber nachgedacht, wie ich einmal gewesen bin.« »Du solltest dich besser auf die Zukunft konzentrie ren«, riet der Söldner. »Das ist jetzt wichtiger.« Calandryll sah in die Richtung, in die sein Gefährte deutete, und erblickte zwei Galeeren, die sich ihnen im Morgennebel wie geisterhafte Schemen näherten. Auf den Vorderdecks waren kleine Armbrüste montiert, und
entlang der Reling standen Bogenschützen. Auf der ih nen näher gelegenen Klippe versammelte sich ein Trupp von Soldaten. Sonnenlicht schimmerte auf Katyas Ket tenhemd, als sie sich umdrehte und Tekkan etwas in der trällernden vanuischen Sprache zurief. Der Steuermann erteilte daraufhin einen Befehl, worauf die Ruderer das Tempo drosselten. Das Kriegsboot schaukelte auf den Wellen, und die Galeeren teilten sich vor ihm. Eine blieb etwas im Hintergrund, die Armbrust dro hend auf sie gerichtet, während die andere längsseits ging. Calandryll entdeckte den scharlachroten Hals- und Nackenschutz an den konischen, aus Drachenhaut gefer tigten Helmen der Bogenschützen, der sie als Männer des Tyrannen auswies. »Sagt uns, wer Ihr seid, oder wir versenken Euch!« rief ein Offizier auf dem Vorderdeck. »Ich bin Tekkan aus Vanu«, erklärte der Steuermann. »Ich komme mit einer Ladung Drachenhäute, um den Tyrannen zu unterstützen.« »Vanu?« Die Stimme des Offiziers klang ungläubig. »Was machen Vanuer in Kandahar?« »Geschäfte, hoffe ich«, erwiderte Tekkan. »Und Passa giere sicher heim nach Lysse bringen.« Trotz der Entfernung zwischen den beiden Booten konnte Calandryll die Verwirrung auf dem dunkelhäuti gen Gesicht des Kanders erkennen und rief: »Ich bin Calandryll den Karynth, der zweitgeborene Sohn von Bylath, dem Domm von Secca. Gestattet Ihr uns, den
Hafen anzulaufen?« Die Falten in der Stirn des Offiziers vertieften sich un ter dem schnabelförmigen Helmvisier. Er strich sich über seinen eingeölten Bart, dann nickte er und bellte: »Ihr könnt weiterfahren. Aber ich warne Euch, keine Tricks, sonst schicken wir Euch zu Burash.« Tekkan gab den Befehl an seine Ruderer weiter, und das Kriegsboot setzte sich wieder in Bewegung, flankiert von den beiden Galeeren. Die kandischen Bogenschützen starrten die flachsblonden Vanuer mit unverhohlener Neugier an. »Soweit scheinen uns die Götter gewogen zu sein«, murmelte Bracht. »Oder aber sie spielen mit uns«, meinte Calandryll. »Du wirst allmählich zum Skeptiker.« Bracht schlug Calandryll kräftig auf die Schulter. »Bei Ahrd, vielleicht hat mir der unschuldige Jüngling besser gefallen.« Calandryll brummte und zwang sich zu einem Lä cheln; Bracht hatte recht. »Der unschuldige Jüngling ist gestorben«, sagte er. »In Kandahar oder in Gessyth, wo, weiß ich auch nicht, nur, daß er nicht mehr da ist.« »Wir werden ihn aufspüren.« Bracht brauchte den Namen des Hexers nicht zu nennen, um klarzumachen, daß er damit Rhythamun meinte. »Irgendwann werden wir ihn finden.« »Wirklich?« Calandryll warf dem Kerner einen kurzen Blick zu.
Bracht nickte grinsend. »Er schuldet mir noch zwei tausendfünfhundert Varre. Aye, wir werden ihn finden.« Früher einmal hätte sich Calandryll von einer solchen Begründung, bei der es nur um Geld ging, abgestoßen gefühlt. Jetzt grinste er trotz seiner brennenden Unge duld zurück und sagte: »Die sollten erst bei meiner Rückkehr nach Secca fällig werden.« »Das wird auch geschehen«, versprach Bracht. »Mein Wort darauf.« »Hat dein Wort in Kandahar etwas zu bedeuten?« Wieder schlich sich ein Anflug von Pessimismus in Ca landrylls Stimme ein. »Meinst du, die Soldaten des Ty rannen werden dir zuhören?« Bracht hob die Schultern unter seinem Lederhemd und sagte beschwichtigend: »Das wird sich zeigen. So Ahrd will, werden wir hier nicht übermäßig viel Zeit verlieren.« »Hier herrscht der Meeresgott«, entgegnete Ca landryll. »Dies ist das Reich von Burash, nicht das deiner Baumgottheit.« »Trotzdem.« Brachts Stimme wurde leiser und verlor ihren spöttischen Unterton. »Ich glaube, daß Ahrd eine Rolle in dieser Angelegenheit spielt. Wieso hätte er uns sonst den Byah schicken sollen?« Er hatte Calandryll beruhigen wollen, aber die Erwäh nung des Baumgeistes, der gekommen war, um sie vor Betrug zu warnen, erinnerte Calandryll nur von neuem daran, wie gründlich Rhythamun ihn getäuscht hatte.
Seine Stimmung verdüsterte sich wieder. Er wandte sich ab und betrachtete die sie eskortierenden Galeeren. Bracht warf Katya einen Blick zu und entdeckte Be sorgnis in ihren Augen. »Ich habe den Eindruck, daß sich Tharn bereits in sei nen Träumen regt und Zweifel aussendet, um uns in unserem Vorhaben zu schwächen«, sagte sie sanft. »Wir müssen standhaft bleiben.« Calandryll wußte, daß sie es, genau wie Bracht, nur gut mit ihm meinte, aber trotzdem konnte er sich einfach nicht überwinden, ihr zu antworten oder sich zu ihr umzudrehen. Also brummte er lediglich unverbindlich und konzentrierte sich auf die vor ihnen liegende Stadt. Sie näherten sich jetzt Vishat'yi. Die Klippen wurden noch steiler und öffneten sich im Westen zu einem gro ßen Meerarm, um den herum sich die Siedlung erstreck te. Eine improvisierte Barriere versperrte den Hafen, bestehend aus schweren Ketten, die zwischen den an kernden Booten gespannt waren. Auf den Molen, die von Norden und Süden in den Meerarm hineinragten, stan den gewaltige Katapulte bereit, jedem herankommenden Schiff Geschosse entgegenzuschleudern. Hinter den Molen erhoben sich zwei Wachtürme. Vom Hafen aus erstreckten sich Schutzmauern zur eigentlichen Stadt hin, die zu einer Festung umgewandelt worden war. Barrika den blockierten die Straßen, und auf den Hügeln standen weitere Katapulte. Nur eine Handvoll Boote schaukelten auf den Wellen, hauptsächlich Fischerboote und ein paar
Galeeren, von denen drei das verwegene Aussehen von Piratenschiffen hatten. Auf den Molen hatten Soldaten in Drachenhautrüstungen Aufstellung genommen, deren Helme und Kürasse die Farben des Tyrannen trugen. Die Barriere wurde weit genug zurückgezogen, damit das vanuische Boot in den Hafen fahren konnte, eine Galeere vor seinem Bug, die andere hinter seinem Heck. Tekkan steuerte es an einen Pier, wo sich Bogenschützen und Pikenträger drängten, die es mißtrauisch und un freundlich beäugten. Der Befehlshaber ihrer Eskorte – ein Nauarch, wie Ca landryll bemerkte, als der Kander an Land sprang – salu tierte vor einem hochgewachsenen Mann, dessen Brust panzer und Helm mit goldenen Plättchen bedeckt war. Um seine Schultern lag ein scharchlachroter Mantel, und an seiner Hüfte trug er einen Krummsäbel. Er erwiderte den militärischen Gruß des Nauarchs mit einem nachläs sigen Nicken und wandte sein strenges Gesicht den Neu ankömmlingen zu. Die beiden Männer sprachen kurz miteinander, dann winkte der höhere Offizier die Frem den zu sich. Er musterte sie ausgiebig, und seine scharfe gebogene Nase und die kalten grünen Augen erinnerten an einen Falken, der seine Jagdbeute begutachtete. Als er sprach, klang seine Stimme unfreundlich und rauh. »Ich bin Quindar ek'Nyle, der Befehlshaber der Legion dieser Stadt. Ihr sagt, Ihr kommt aus Vanu? Ihr habt Drachenhäute und Passagiere an Bord?« Tekkan schob sich vor und begegnete dem Blick der
kalten grünen Augen ohne jedes Anzeichen von Unter würfigkeit, als er sich formell verbeugte. »Meine Mann schaft und ich stammen aus Vanu«, sagte er ruhig. »Mein Name ist Tekkan, und, ja, ich habe eine Ladung Dra chenhäute und zwei Passagiere an Bord.« »Wer ist das?« wollte ek'Nyle wissen. »Calandryll den Karynth aus Secca in Lysse«, antwor tete Tekkan, »der Sohn des Domms dieser Stadt, und sein Leibwächter, Bracht ni Errhyn, ein freier Söldner aus Cuan na'For.« »Eine merkwürdige Fracht«, stellte ek'Nyle argwöh nisch fest. »Ich möchte wissen, wie es dazu gekommen ist. Folgt mir, Ihr drei, und berichtet mir, was Euch hierhergeführt hat.« Er machte mit der Selbstsicherheit eines Mannes kehrt, der es gewöhnt war, daß seine Befehle auf der Stelle befolgt wurden, und ging zu einem der Wachtürme. Katya machte Anstalten, ihm zu folgen, aber Tekkan bedeutete ihr mit einer Geste, daß sie zurückbleiben sollte, und forderte Calandryll und Bracht auf, ihn zu begleiten. Die Soldaten wichen vor ihnen zurück und bildeten ein Spalier mißtrauischer Gesichter, die Piken zum Stoß bereit erhoben, als witterten sie einen Verrat. Der Befehlshaber der Truppe schritt zügig aus und war bereits in der Befestigungsanlage verschwunden, bevor Calandryll und seine Begleiter die Tür erreicht hatten. Als sie eintraten, nahm er hinter einem zerkratz ten Tisch Platz. Vor dem Gebäude standen Wachen, und
noch mehr hatten sich entlang der Wände im Inneren aufgebaut. Sie trugen Drachenhautrüstungen, die im Licht, das durch drei hohe Fenster fiel, die matte rötliche Farbe eingetrockneten Blutes hatten. Es herrschte eine fast greifbare Spannung, die durch das Fehlen von Stüh len noch verstärkt wurde. Calandryll, Bracht und Tekkan waren gezwungen, vor ek'Nyle zu stehen, der sich in seinem Sessel zurücklehnte und sie musterte, während seine Hände mit einem gekrümmten Dolch herumspiel ten. Das Gebäude erinnerte Calandryll an das kleine Fort in Mherut'yi. Er vertraute darauf, daß durch die Wirren des Bürgerkrieges hier nichts von Brachts und seiner Flucht bekannt geworden war. »Also«, brach ek'Nyle schließlich das Schweigen. »Er klärt mir, wer Ihr seid und was Ihr wollt.« Sie hatten sich bereits vorher auf eine Geschichte fest gelegt und sich darauf geeinigt, daß Tekkan ihr Wortfüh rer sein sollte. »Ich bin ein Seefahrer aus Vanu und wollte wissen, was in der Welt vor sich geht – eine Erkundungsreise, wenn Ihr so wollt. Als ich in Secca vor Anker gelegen habe, habe ich Lord Calandryll kennengelernt, der auf Forschungsreise gehen wollte und unser Boot gemietet hat. Wir sind an Eurer Küste entlang bis nach Gessyth gesegelt, wo, wie wir erfahren haben, keine Schiffe er schienen sind. Deshalb konnten wir eine Ladung Dra chenhäute an Bord nehmen, die ich jetzt verkaufen möch te.«
Die grünen Augen des Militärbefehlshabers blieben unergründlich, als er fragte: »Verkaufen?« »Aye«, bestätigte Tekkan. »Wir müssen Reparaturen an unserem Boot vornehmen und Proviant und Ausrüs tung kaufen. Soweit ich weiß, befindet sich der Tyrann im Krieg. Wir müßten einen guten Preis für unsere Häute erzie len können.« »Ihr möchtet von unseren Problemen profitieren?« Der Kommandant hatte die Frage mit ausdrucksloser Stimme gestellt, aber die Drohung, die darin mitschwang, war unverkennbar. Tekkan schüttelte den Kopf und versuchte ein Lä cheln. »Ich werde dem Tyrannen helfen«, sagte er, »und hoffe im Gegenzug auf eine angemessene Entschädi gung, nicht mehr.« Ek'Nyle brummte vor sich hin und richtete den Blick auf Calandryll. »Ihr seid also der Sohn des Domms von Secca, richtig?« »Ich habe die Ehre«, erwiderte Calandryll. »Ich glaube, ihr Lyssianer habt keine allzu hohe Mei nung von Kandahar«, stellte der Offizier fest. »Ich habe sogar Gerüchte gehört, nach denen ihr eine Flotte auf baut, die gegen uns ziehen soll.« Calandryll schwante Böses, und er bemühte sich, sei nem Gesicht nichts anmerken zu lassen, obwohl er das Gefühl hatte, als würde eine eiskalte Hand über seinen
Rücken streichen. »Es war die Rede davon, Schiffe zu bauen, bevor ich abgereist bin«, bestätigte er ruhig. »A ber die sollten nur als Schutz gegen die Piraten dienen, die den Handel zwischen unseren Ländern beeinträchti gen.« »Es findet zur Zeit kaum noch Handel statt«, erklärte ek'Nyle, und seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln. »Die Handelsstädte an der Ostküs te sind gesperrt.« »Wirklich?« Calandryll hob die Augenbrauen und setzte einen gelangweilten Gesichtsausdruck auf, der, wie er hoffte, der Gleichgültigkeit eines Aristokraten gegenüber solchen profanen Problemen angemessen war. »Wirklich.« Ek'Nyle nickte und fügte hinzu: »Und Ihr seht nicht gerade wie der Sohn eines Domms aus.« Das war unbestreitbar. Die letzten Monate, seit er aus Secca geflohen war, hatten den jungen Mann deutlich geprägt. Er hielt sich gerader, war sehniger und kräftiger geworden, und vermutlich spiegelte sich die Ungeduld und die Desillusionierung in seinen Augen wider. Seine Lederkleidung war von Wind und Sonne gezeichnet, die Haut gebräunt, und er war sich nicht bewußt, daß er die sprungbereite Haltung eines Kämpfers zur Schau trug, denn die war ihm mittlerweile zur Gewohnheit gewor den. »Ich bin weit gereist, Kommandant«, sagte er lächelnd, »und ich habe an den täglichen Arbeiten an Bord teilge nommen. So etwas hinterläßt seine Spuren, aber ich gebe
Euch mein Wort, daß ich Calandryll den Karynth, der Sohn Bylaths von Secca bin.« »Könnt Ihr das beweisen?« Calandrylls Lächeln wurde dünner. Er bemühte sich, einen ungehaltenen Gesichtsausdruck aufzusetzen, wie ihn ein Adliger zeigen würde, der sich beleidigt fühlte. »Ich bin es nicht gewöhnt, daß mein Wort in Frage ge stellt wird«, sagte er kalt. Ek'Nyle stieß ein leises schnaubendes Lachen aus. »Ihr zeigt tatsächlich das Benehmen eines aristokratischen Lyssianers, das muß ich Euch lassen. Aber Ihr seht eher wie ein Krieger aus.« »Ist es nicht auch bei Euch üblich, daß sich der Adel im Schwertkampf übt?« erkundigte sich Calandryll und versuchte, seine hochnäsige Art aufrechtzuerhalten. »Es ist bei uns üblich, sich vorsichtig gegenüber Leu ten zu Verhalten, die unsere Feinde sein könnten«, gab der Kander zurück. »Wie könnt Ihr uns so nennen?« fiel ihm Tekkan ins Wort. »Gibt es irgendwelche Spannungen zwischen Vanu und Kandahar? Sind wir nicht mit einer Ladung Häute gekommen?« »So, wie es von Sathoman ek'Hennem ausgeschickte Spione tun würden, die den Auftrag haben, unsere Ver teidigungsmaßnahmen auszukundschaften«, erwiderte ek'Nyle und wandte sich unvermittelt Bracht zu. »Ihr seid der Leibwächter des jungen Mannes?«
Bracht nickte.
»Und wie heißt Ihr?«
»Bracht ni Errhyn vom Clan der Asyther aus Cuan
na'For.« »Ihr seid weit fort von Eurer Heimat.« Bracht zuckte die Achseln. »Ich bin auf Wanderschaft gegangen und in Lysse gelandet. Dort bin ich in Lord Calandrylls Dienste getreten.« »Ein Reiter auf See?« Erneut zuckte Bracht die Achseln. »Ich glaube Euch, daß Ihr ein freier Söldner seid«, sag te ek'Nyle. Seine Stimme klang zweifelnd. »Aber ein Kriegsboot aus Vanu? Ein Aristokrat, der sich in der Welt herumtreibt? Das ist … ungewöhnlich.« »Aber trotzdem wahr«, behauptete Tekkan. »Möglich«, räumte der Kander ein. »Also, Kapitän, sagt mir, wohin Ihr von hier aus fahren wollt. Falls ich Euch ziehen lasse.« Calandryll versteifte sich angesichts einer drohenden Verzögerung der Weiterreise. »Natürlich zurück nach Lysse«, sagte Tekkan. »Um Lord Calandryll nach Hause zu bringen. Und dann zu rück in meine Heimat.« »Die Küstenstädte sind gesperrt«, gab ek'Nyle zu be denken. »Deshalb will ich meine Ladung Drachenhäute hier lö schen und genug Vorräte kaufen, um das Enge Meer
ohne Schwierigkeiten überqueren zu können«, erwiderte Tekkan ruhig. »Ohne noch einmal Eure Küste anlaufen zu müssen.« »Seid Ihr sicher, daß Ihr Euch nicht noch einmal heim lich an die Küste heranschleichen und die Rebellen in formieren wollt?« Ek'Nyles Hand schloß sich um den Dolchgriff und zog die Klinge halb aus der prächtig ge arbeiteten Scheide. Der Stahl schimmerte im Sonnenlicht. »Ihr stellt mich vor ein Problem, Kapitän. Ihr und Eure Passagiere.« Calandryll sah sich schon hier festsitzen und Rhytha muns Vorsprung größer werden. Er runzelte die Stirn und versuchte, das typische Benehmen seines Vaters an den Tag zu legen, mit dem dieser jeden Widerspruch schon im Keim zu ersticken pflegte. »Ich wiederhole, ich bin Calandryll den Karynth aus Secca«, sagte er schnei dend, »und ich möchte so schnell wie möglich nach Hau se zurückkehren. Wollt Ihr mich aufhalten? Ein solches Verhalten steht im Widerspruch zu den Vereinbarungen zwischen unseren Ländern, und ich glaube, Euer Tyrann würde es mißbilligen.« Ek'Nyle zeigte sich unbeeindruckt. »Der Tyrann sitzt in Nhurjabal«, stellte er unbekümmert fest. »In Vishat'yi führe ich das Kommando, und ich wiederhole, Ihr seht kaum wie ein Angehöriger des lyssianischen Adels aus. Auch habt Ihr keinen Beweis, der Eure Behauptung stützt. Ihr erinnert vielmehr an einen Söldner, vielleicht an einen, der in Sathoman ek'Hennems Diensten steht.«
»Dagegen verwehre ich mich!« fauchte Calandryll, nach wie vor bemüht, seinen Vater nachzuahmen und die Mischung aus autoritärem und einschüchterndem Auftreten an den Tag zu legen, das so typisch für Bylath war. »Beweist mir, daß ich mich täusche, und ich werde mich gern bei Euch Entschuldigen«, schlug ihm der Mili tärbefehlshaber gelassen vor. »Aber bis dieser Beweis erbracht ist, werdet Ihr in Vishat'yi bleiben. Natürlich als meine Gäste.« Er verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er den Dolch mit einem Ruck in die Scheide zu rückstieß. »Womit könnte ich meine Behauptung beweisen?« wollte Calandryll wissen. »Zuerst werde ich Eure Fracht inspizieren«, erklärte ek'Nyle. »Solltet Ihr wirklich Drachenhäute geladen haben, dann bin ich bereit, Euch zu glauben, daß ihr von Gessyth aus nach Süden gesegelt seid. Was den Rest betrifft…« hinter seinem breiten Lächeln verbarg sich eine Andeutung von Schadenfreude »… vielleicht muß ich mir Rat aus Nhurjabal holen.« »Damit könnten wir unsere Aufrichtigkeit beweisen«, sagte Calandryll und zwang sich, nicht die Geduld zu verlieren, »aber wir würden sehr viel mehr Zeit verlieren, als ich zu warten bereit bin. Unsere Fracht wird doch bestimmt unsere restlichen Angaben bestätigen. Wenn wir auf der Lohnliste der Rebellen stünden, würden wir wohl kaum eine derart wertvolle Landung den Legionen
des Tyrannen übergeben.« Für einen kurzen Moment wurde ek'Nyles Lächeln freundlicher, als bereite es ihm Spaß, solche Debatten zu führen oder die Fremden hinzuhalten. Er hob demonstra tiv die Schultern. »Es sei denn, dies alles wäre eine List, eine Strategie, um mein Vertrauen zu gewinnen. Wenn Ihr von Gessyth aus nach Süden gesegelt seid, dann muß ich mich doch fragen, warum Ihr Eure Fracht nicht in Kharasul gelöscht habt.« »Wir haben von Eurem Krieg gehört«, warf Tekkan ein, »und uns gedacht, daß Eurer Bedarf an Drachenhäu ten in der Nähe der Front größer sein würde.« »Das klingt jetzt wieder sehr nach Kriegsgewinnlerei«, stellte ek'Nyle fest. »Wir bitten Euch lediglich darum, unser Boot überho len zu dürfen und unsere Vorräte für die Fahrt über das Enge Meer aufzustocken«, sagte Tekkan. »Klingt das nach Kriegsgewinnlerei?« »Nein«, gab ek'Nyle zu. Er lächelte, und Calandryll spürte erneut Hoffnung in sich aufsteigen, die aber gleich wieder verflog, als der Offizier hinzufügte: »Aber auch nicht nach dem üblichen Profitstreben gewöhnlicher Händler.« »Wir sind ja auch keine gewöhnlichen Händler«, er klärte Tekkan, »sondern Forscher. Alles, was wir hier und jetzt wollen, ist, ohne Behinderung nach Hause zu rückzukehren.« »Das werdet Ihr auch«, versprach der Kander. »Sobald
Ihr mich überzeugt habt.« »Das scheint mir unmöglich sein«, sagte Calandryll. »Wie können wir Euch die Beweise liefern, die Ihr ver langt?« »Zuerst durch die Ladung.« Ek'Nyles Gesicht wurde wieder verschlossen und mißtrauisch. »Alles weitere entscheide ich später.« »Und wenn Ihr nicht zufrieden seid?« »Nun, dann habe ich zwei Möglichkeiten.« Das Lä cheln kehrte in ek'Nyles Gesicht zurück, als mache es ihm Spaß, seine Autorität und die Macht, die sie ihm verlieh, genüßlich auszukosten. »Ich könnte Euch entwe der hinrichten lassen oder Euch nach Nhurjabal schicken, damit Euch die Hexer des Tyrannen verhören können.« Calandryll spürte, wie sich seine Hände gegen seinen Willen zu Fäusten ballten, und im gleichen Moment wurde ihm bewußt, daß ek'Nyle diese Bewegung nicht entgangen war. Er verfluchte sich für seine verräterische Unbeherrschtheit, aber dann entdeckte er in den Worten des Offiziers eine Möglichkeit, dem Gespräch eine güns tigere Wendung zu geben. Die Erfolgsaussichten waren mäßig, der Vorstoß mehr als nur ein bißchen riskant, aber seine Geduld neigte sich dem Ende entgegen, und so fragte er kühn: »Gibt es keinen Hexer hier in Vishat'yi? Oder zumindest eine Wahrsagerin? Einer von beiden könnte doch bestimmt unsere Aufrichtigkeit bestätigen.« Er hörte, wie Tekkan zu seiner Rechten scharf die Luft einsog, und sah Bracht ihm einen warnenden Blick zu
werfen. Es war ein riskantes Spiel. Ob Hexer oder Wahr sagerin, beide könnten den wahren Grund ihrer Reise herausfinden, und damit bestand die Gefahr, daß es zu weiteren Verzögerungen kam, sollten sich auch noch die Hexer des Tyrannen einschalten. Doch auf der anderen Seite stand Calandrylls Überzeugung, daß dieser übereif rige Offizier sie hier endlos festhalten würde, aus Mißtrauen oder einfach nur aus Gehässigkeit, und jeder Tag, den sie warten mußten – jede Stunde! –, war ein Gewinn für Rhythamun. »Euer Vorschlag scheint Eure Gefährten zu erschre cken«, bemerkte ek'Nyle. »Aus welchem Grund?« »Ich habe nichts für Magie und die Leute übrig, die sie praktizieren«, knurrte Bracht wahrheitsgemäß. »Und Ihr?« erkundigte sich der Kander bei Tekkan. »Habt Ihr Einwände?« Der Vanuer zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Seinem Gesicht war keine Regung anzumerken. »Dann wäre das vielleicht wirklich eine Möglichkeit«, murmelte ek'Nyle und musterte aufmerksam die Gesich ter der drei Männer. Er lauerte auf eine weitere Reaktion, konnte aber keine entdecken, denn trotz ihrer Zweifel hatten sich Bracht und Tekkan diesmal gut im Griff. »Ein Hexer und eine Wahrsagerin, wir haben hier beides … Aber zuerst die Fracht…« Er sprang auf, ging um den Tisch herum und bellte Be fehle. Dann verließ er die Wachstube, gefolgt von Ca landryll, Bracht und Tekkan, denen sich ein Trupp von
Wachsoldaten mit Piken anschloß. Sie kehrten zum Kai zurück, wo Katya und die anderen Vanuer warteten, umringt von wachsamen Soldaten. Calandryll warf sei nen Gefährten einen unauffälligen Seitenblick zu, als man sie zu ihrem Kriegsboot geleitete. In Brachts blauen Augen lag ein zweifelnder Ausdruck, Tekkans graue Augen waren unlesbar. Möwen stiegen kreischend in die Luft, als sie näher kamen. Über der glatten Wasserfläche des Hafens löste sich der Nebel auf, und eine blasse Sonne lugte durch die Wolkendecke. Die Luft war kühl. Über der Stadt war Wind aufgekommen, der die Flaggen auf den Wachtür men und den Schiffsmasten flattern ließ. Tekkan rief etwas in seiner Muttersprache. Ein paar flachsblonde Vanuer sprangen an Bord, der Rest bildete eine Kette, und die Drachenhautbündel wanderten aus dem Boot von Hand zu Hand auf den Kai. Quindar ek'Nyle sah geduldig zu, wie die Häute aufgestapelt wurden, rümpf te die Nase, als ihn der scharfe Geruch erreichte, und untersuchte den höchsten Stapel. »In diesem Punkt habt Ihr die Wahrheit gesagt«, stellte er fest, nachdem die Überprüfung zu seiner Zufrieden heit ausgefallen war. »Und als Gegenleistung bittet Ihr um Vorräte und die Erlaubnis, hier ankern zu dürfen?« Die Häute stellten einen weitaus größeren Wert dar. Sie ließen sich zu Rüstungen verarbeiten, die genauso wiederstandsfähig waren wie Rüstungen aus irgendei nem Metall, das aus Eyl kam, und da zur Zeit keine an
deren Händler Häute lieferten, mußte der Preis noch höher als sonst sein. Trotzdem nickte Tekkan und sagte: »Das und die Materialien, die wir für die Reparaturen brauchen.« Der Befehlshaber der Streitkräfte von Vishat'yi strich sich über den geölten Bart, dachte kurz nach und zuckte dann die Achseln. »Ihr könnt mit den Reparaturarbeiten anfangen. Denn sollten sich Eure anderen Behauptungen als unwahr erweisen, wird dieses Boot in die Flotte des Tyrannen eingegliedert.« »Wann werden wir unsere Angaben beweisen kön nen?« erkundigte sich Calandryll, dem es schwerfiel, seinen Ärger zu unterdrücken. Ek'Nyle betrachtete ihn prüfend und erwiderte: »So bald Menelian bereit ist. Bis dahin bleibt Ihr hier.« Er deutete mit dem Kinn in Richtung des Wachturms, und Calandryll begriff, daß sie bis zur Ankunft des He xers eingesperrt werden würden. Er seufzte und knirsch te vor Hilflosigkeit und Enttäuschung mit den Zähnen. Über die aufgestapelten Drachenhäute hinweg sah er, wie Katya das Geschehen unbemerkt von ek'Nyle aus der Mitte der Frauen heraus beobachtete. Ihre grauen Augen blickten besorgt, aber sie zwang sich zu einem schwachen ermutigenden Lächeln, und er tröstete sich damit, daß wenigstens sie in Freiheit blieb. Sollte der schlimmste Fall eintreten, würde sie vielleicht mit dem Kriegsboot fliehen können. Aber dann wanderte sein Blick an ihr vorbei über den Hafen und die Barriere, und
seine Ängste kehrten zurück. Solange die Ketten vor der Ausfahrt hingen, würde ein Flucht unmöglich sein. Er zuckte zusammen, als eine Pike seinen Rücken berührte und ihn vorwärts schob. Ek'Nyle war bereits auf dem Rückweg zum Wachturm. Widerstrebend setzte sich Calandryll in Bewegung und folgte dem Offizier in das Innere des Gebäudes, wo eine metallverstärkte Holztür geöffnet wurde. Ek'Nyle vollführte eine kurze Verbeugung und forderte sie auf, den kalten und kahlen Raum zu betreten. »Ich werde Menelian auftragen, sich mit Euch zu be fassen«, erklärte er. »Bis dahin werdet Ihr hier warten.« Bevor Calandryll protestieren konnte, daß eine solche Unterkunft dem Sohn des Domms von Secca nicht ange messen war, wurde die Tür auch schon wieder geschlos sen, und das Geräusch, mit dem die geölten Bolzen in ihre Verrieglungen glitten, klang furchtbar endgültig. Er sah sich um und erblickte eine kleine Kammer aus grau en Steinblöcken mit einem einzigen Fenster, durch das ein rechteckiges Stück aufklarenden Himmels sichtbar wurde, über das dicke senkrechte Gitterstäbe aus Metall liefen. Aus dem unteren Teil der Wand ragten die Stein blöcke in den Raum hinein und bildeten eine durchge hende Bank, und in der Mitte des Fußbodens gähnte ein dunkles Loch, aus dem ein scharfer Geruch aufstieg und verriet, wozu es diente. Bracht knurrte und benutzte die Vorrichtung, was einen passenden Kommentar zu ihrer mißlichen Lage darstellte.
Tekkan ließ sich auf der Bank nieder und fragte leise: »War es klug, auch noch einen Magier in diese Sache einzubeziehen?« »Ek'Nyle wäre bestimmt bald von selbst darauf ge kommen«, erwiderte Calandryll. Er war so gereizt, daß seine Antwort unfreundlich ausfiel. »Und wenn nicht, wäre es dir lieber, man würde uns in Ketten nach Nhur jabal schleppen?« Tekkan bedachte ihn mit einem vorwurfsfreien Blick und schüttelte den Kopf, und sofort spürte Calandryll Schuldbewußtsein in sich aufsteigen. »Verzeih mir«, bat er. »Dieser Zwangsaufenthalt macht mir schwer zu schaffen.« »Das geht uns allen so«, murmelte Tekkan. »Jetzt würde uns deine Magie helfen«, sagte Bracht, streckte sich auf der Steinbank aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Meine Magie?« Calandryll stieß ein bitteres Lachen aus. »Welche Magie ich auch immer einmal gewirkt habe, sie war ein Geschenk Rhythamuns. Sie ist durch den Stein kanalisiert worden, den er mir geben hat, und mit ihm wieder verschwunden. Außerdem habe ich ge dacht, du hättest nichts für derartige Zauberkünste üb rig.« »Stimmt. Ein ehrlicher Schwertkampf wäre mir lie ber«, erwiderte Bracht ruhig. »Aber ich bin zu der Über zeugung gelangt, daß man Feuer vielleicht mit Feuer bekämpfen sollte. Wenn du diese Tür zerschmettern
könntest, so wie du die Kanus vor der Küste von Gash herumgewirbelt hast, dann würde ich diesen Einsatz von Magie akzeptieren. Und in Mherut'yi hat mich deine Magie aus einem ähnlichen Gefängnis befreit. Ich hätte keine Einwände gegen eine weitere Demonstration dieser Art.« »Ich fürchte, ich muß dich enttäuschen.« Die Hilflo sigkeit verlieh Calandrylls Stimme einen scharfen Unter ton. »Es ist keine Magie in mir, und diesem verdammten Aufenthalt habe ich außer Geduld nichts entgegenzuset zen.« »Und auch die fehlt dir in letzter Zeit«, gab Bracht zu rück. Calandryll starrte den Söldner aus schmalen Augen an. Daß der Kerner recht hatte, milderte seinen Zorn nicht, im Gegenteil, es stachelte ihn noch weiter an. Er ballte die Hände zu Fäusten, schlug sie heftig auf seine Oberschenkel und fixierte Bracht mit einem Blick, der so kalt war, daß er dem von ek'Nyle in nichts nachstand. »Ich möchte Rhythamun aufhalten«, fauchte er. »Ich möchte ihn zu Strecke bringen und töten, bevor er Tharns Grab finden und den Verrückten Gott wiederauf erwecken kann. Ich habe bisher geglaubt, du würdest das gleiche Ziel verfolgen.« »Ruhig, ganz ruhig«, sagte Tekkan besorgt. »Wir alle haben das gleiche Ziel. Laß uns nicht über etwas streiten, worüber wir uns einig sind.« Calandryll ignorierte den Kapitän und hielt die Augen
weiter unverwandt auf Brachts Gesicht gerichtet. Der Söldner setzte sich auf und legte das Krummschwert über seine Knie. »Ich verfolge das gleiche Ziel«, sagte er langsam, »und das weißt du.« »Ich weiß, daß du deinen versprochenen Lohn kassie ren möchtest!« Eine ruhigere innere Stimme machte Ca landryll klar, daß er schrie, daß seine Vorwürfe unbe gründet waren und Bracht sich als wahrer Kamerad erwiesen hatte, aber er konnte trotzdem einfach nicht den Mund halten. Er schien von einem Wahnsinn gepackt zu sein, der ihn zwang, unkontrolliert zu toben. »Ich weiß, daß du scharf auf Katya bist und deshalb diese Mission erfüllen mußt, bis das Arcanum zerstört und Rhythamun geschlagen ist, damit du dich wieder an sie heranmachen kannst. Ansonsten…« Er zuckte die Achseln, hob die Fäuste, schlug sie wie der heftig auf seine Oberschenkel und schüttelte den Kopf, als betrachte er den Kerner voller Geringschätzung. Bracht musterte ihn einen Moment lang. Seine dunkle Stirn legte sich in Falten. »Als wir in diesen Hafen einge laufen sind, hat Katya behauptet, Tharn würde sich be reits regen«, sagte er, immer noch ruhig und beherrscht. »Sie meinte, daß der Gott in seinen Träumen Zwietracht säen würde. Ich glaube, sie hatte recht.« Auf einmal wurde seine Stimme schärfer, und er fügte hinzu: »Wenn es nicht so wäre, würden wir jetzt schon die Klingen kreuzen, und ich würde dich töten.«
Calandrylls Hand fiel auf seinen Schwertgriff, und unwillkürlich nahm er eine Kampfhaltung ein. Dann erstarrte er plötzlich und stierte Bracht mit offenem Mund an. In seinen Augen lag Erstaunen und fast so etwas wie Angst. Er erschauderte, richtete sich wieder gerade auf und riß die Hand vom Griff seines Schwertes zurück, als hätte er gerade bemerkt, daß er eine Schlange umklammert hatte. »Bei allen Göttern!« Seine Stimme klang rauh, voller Entsetzen über sein Verhalten. »Ich glaube, du hast recht. Vergib mir, mein Freund.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, die trotz der Kälte in der Zelle schweißbedeckt war, verschränkte die Arme vor der Brust und leckte sich die trockenen Lippen. »Ich glaube, Katya hat recht. Oder aber Rhythamun hat irgend etwas Übles zurückgelassen. Oder es sind einfach nur diese Verzögerungen, die mir den Verstand rauben.« Bracht erhob sich, ging zu Calandryll und legte ihm eine Hand auf die Schultern. »Es ist schon gut«, sagte er versöhnlich und deutete auf ihr Gefängnis. »Es fällt auch mir nicht leicht, eingesperrt zu sein. Und ich möchte hier ebensowenig Zeit verlieren wie du. Das alles führt dazu, daß man die Beherrschung verliert.« »Trotzdem.« Calandryll schüttelte den Kopf und blick te dem Kerner in die Augen. »Wie auch immer«, entgegnete der Kerner, »wir wer den nicht aufgeben. Ob es Tharn ist, der uns aus seinen
Träumen heraus beeinflußt, oder Rhythamun, der uns mit magischen Mitteln behindert, wir werden ihnen widerstehen. Wir müssen ihnen widerstehen!« »Aye!« Calandryll nickte eifrig. Seine Wut war voll ständig verraucht. Er fühlte sich erschöpft, als er Brachts Hand ergriff. »Und wenn ich noch einmal einen solchen Unsinn von mir geben sollte, dann bringst du mich wie der zu Verstand, ja?« »Aye, das werde ich tun«, versprach Bracht. »Und du wirst das gleiche für mich tun.« Er führte Calandryll zur Bank und drückte ihn auf den Stein, einen Arm kameradschaftlich über seine Schultern gelegt. »Aber du kommst mit dieser Situation gut klar«, murmelte Calandryll. »Der Gedanke, eingesperrt zu sein, macht dich verrückt, das weiß ich, und trotzdem verlierst du nicht die Nerven.« Bracht warf einen flüchtigen Blick auf das vergitterte Fenster und grinste verkniffen. »Mir gefällt das nicht besser als dir«, stimmte er zu, »aber ich habe gelernt, daß sich ein Jäger manchmal in Geduld üben muß. Und…« Er verstummte. Calandryll sah ihn an und entdeckte Unsicherheit in den blauen Augen des Söldners. »Und?« forderte er ihn auf, weiterzusprechen. »Anomius hat behauptet, eine Kraft in dir zu spüren«, sagte Bracht langsam und suchte offensichtlich nach den richtigen Worten. »Das gleiche gilt für die Wahrsagerin, und du hast Rhythamuns Stein ein halbes Jahr lang ge
tragen. Vielleicht … macht dich das für Magie empfäng lich.« Seine Worte trafen Calandryll wie ein kalter Wasser schwall und ließen neue Ängste in ihm erwachen. »Ich besitze keine magischen Kräfte«, murmelte er hilflos. »Wenn es anders wäre, würde ich diese Tür zerschmet tern und uns befreien. Aber ich kann es nicht! Die Kraft, die sie in mir gespürt haben, stammte aus diesem Stein.« »Vielleicht«, gab Bracht zu. »Vielleicht hat der Stein aber auch bloß dazu gedient, dich empfänglich für magi sche Beeinflussung zu machen.« »Dann wäre ich eine Gefahr für unsere Mission.« Ca landryll fühlte sein Gesicht feucht werden und wußte nicht, ob es sich um Schweiß oder Tränen handelte. »Eine Gefahr für euch alle.« »Nein!« Brachts Stimme war ernst. Er drückte Ca landrylls Schulter. »Erinnere dich daran, was ich dir über den Schwertkampf beigebracht habe. Auch die besten Kämpfer haben ihre Schwachpunkte, aber wenn sie sie kennen, können sie sie auch kompensieren. Diese Sache – wenn sie denn wahr ist! – unterscheidet sich nicht da von.« Tekkan setzte sich auf Calandrylls andere Seite und sagte sanft mit seiner melodischen Stimme: »Und wenn das stimmt, dann besitzt du wahrscheinlich immer noch die Kraft, deren Auswirkungen wir alle gesehen haben. In diesem Fall verfügst du über eine hervorragende Waf fe, die du mit einem Augenzwinkern einsetzen kannst.«
»Wohl kaum mit einem Augenzwinkern.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich sage es noch einmal, die Quelle diese Kraft war der Stein.« »Hast du mir nicht erzählt, Rhythamun hätte dir er klärt, daß es sehr schwierig ist, die magischen Künste zu erlernen?« wollte Bracht wissen. »Also mußt du vielleicht noch den Umgang damit lernen. So wie du auch den Schwertkampf lernen mußtest.« »Was uns hier allerdings auch nicht weiterhilft«, erwi derte Calandryll. »Hier nicht«, sagte der Söldner. »Aber wollen wir nicht nach Aldarin fahren, sobald wir wieder frei sind? Und diesen Palast aufsuchen, den Rhythamun in Varents Gestalt bewohnt hat? Da gibt es ein ganzes Zimmer vol ler Bücher. Wahrscheinlich werden wir dort auch Bücher finden, die sich mit Magie beschäftigen. Du könntest sie mitnehmen und während der Reise lesen und lernen, wie man diese Kunst anwendet.« »Glaubst du denn, wir hätten die Zeit dafür und ich das Talent?« fragte Calandryll zweifelnd. Er lachte schnaubend und bitter. »Und dann wäre ich ein Magier, nicht wahr? Und du kannst Magier nicht ausstehen.« Brachts leises Lachen war echt. »Bei dir mache ich eine Ausnahme«, erklärte er. »Vielleicht bist du die Flamme, die Rhythamuns Feuer bekämpfen wird. Und gegen ihn akzeptiere ich jeden Verbündeten.« »Trotzdem müssen wir erst einmal aus diesem Ge fängnis herauskommen.« Die Loyalität seiner Gefährten
munterte Calandryll wieder auf, aber die steinernen Wände standen diesem Optimismus noch immer im Weg. »Und Quindar ek'Nyle scheint es nicht eilig zu haben, uns freizulassen.« Bracht zuckte die Achseln. »Ich glaube nicht, daß un sere Mission hier endet«, sagte er bestimmt. »Wir werden schon bald wieder frei sein.« Tekkan bekräftigte Brachts Worte mit einem feierli chen Nicken und fügte hinzu: »Wenn sich Tharn rührt, dann werden die Jüngeren Götter das bestimmt spüren, und wenn Rhythamun seine magischen Kräfte einsetzt, um den Verrückten Gott wiederauferstehen zu lassen, dann werden seine Nachfolger das garantiert ebenfalls fühlen. Und sie werden sich Tharn mit Sicherheit nicht einfach beugen. Vielleicht werden sie uns sogar helfen. Nur Mut, Calandryll! Noch leben wir, und solange wir leben, besteht Hoffnung auf Erfolg!« Calandryll seufzte und nickte, auch wenn er nicht völ lig überzeugt war. Trotz der Versicherungen der anderen hielt er es für übertrieben, darauf zu hoffen, sie könnten göttlichen Beistand erhalten. Bisher hatte Rhythamun in Varents Gestalt alle seine Ziele erreicht. Er hatte die Karte bekommen, die den Weg nach Tezin-dar zeigte, hatte das Arcanum in seinen Besitz gebracht und war vermutlich jetzt schon auf dem Weg zum Ruheort Tharns, der in dem Buch verzeichnet war. Und bisher hatten die Götter noch nie eingegriffen, um den Wahnsinnigen aufzuhal ten, weder Dera, die Göttin seines Heimatlandes, noch
Burash, der Gott Kandahars. Nur Ahrd hatte ihnen eine kleine Hilfe gegeben, und auch das war nicht viel mehr als eine verschlüsselte Warnung vor einer Täuschung gewesen. Es erschien Calandryll hoffnungslos, auf die Jüngeren Gottheiten zu vertrauen. Dies schien eine Ange legenheit der Menschen zu sein, die nur er, Bracht und Katya erledigen konnten und niemand sonst. »Was wird Katya tun, während wir hier schmoren?« fragte er kläglich. »Ich habe sie angewiesen, sich um die Reparatur des Kriegsbootes zu kümmern«, erklärte Tekkan. »Sie soll es so schnell ausbessern und abdichten, wie sie kann. Au ßerdem soll sie die Vorräte an Bord nehmen, die wir brauchen, um das Enge Meer zu überqueren. Davon abgesehen … nun, wenn der Magier bestätigt, daß wir nicht gelogen haben, und wir freikommen, segeln wir nach Lysse. Wenn nicht, dann soll sie allein weiterfah ren.« »Aber in jeder Weissagung, die wir gehört haben, war von drei Personen die Rede«, protestierte Calandryll. »In Secca hat mir Reba zwei Gefährten vorausgesagt, und in Kharasul hat Ellhyn das gleiche gesehen. Der Wächter im Dorf der Syfalheen hat auf drei Leute gewartet. Wie soll Katya allein erfolgreich sein?« »Das braucht sie nicht«, sagte Bracht bestimmt. »Ich bin wirklich kein Freund von Magie, aber ich glaube den Weissagungen. Es waren drei Gefährten prophezeit, und es werden auch drei sein. Wir werden diesen Ort schon
bald wieder verlassen haben.« Seine Stimme klang zuversichtlich, und Calandryll zwang sich zu einem Lächeln, obwohl er den Optimis mus des Kerners nicht teilen konnte. Er wurde von einer düsteren melancholischen Stimmung erfaßt, die durch seinen völlig untypischen – und überraschenden – Wut ausbruch noch verstärkt wurde, und er vermutete, daß Bracht nicht wirklich von seinen eigenen Worten über zeugt war, sondern ihn in erster Linie hatte aufmuntern wollen. Er hatte den Eindruck, daß zahllose Hindernisse und Gefahren ihr Vorankommen verzögerten, als ver suchte das Schicksal selbst, sie aufzuhalten, als lachte es den Göttern ins Gesicht. Zeit war der ausschlaggebende Faktor, und doch wurden sie immer wieder gezwungen, sich in Geduld zu üben. Vielleicht regte sich Tharn tat sächlich und zog irgendwie an den Schicksalsfäden, um sie zu stören, und wenn das stimmte, welche Erfolgsaus sichten blieben ihnen dann noch? Aber trotzdem mußten sie ganz einfach Erfolg haben, sonst würde der Verrückte Gott wiederauferstehen und die Welt der Vernichtung preisgeben. Calandryll erschauderte bei diesem Gedan ken und spürte, wie ein Gefühl der Verzweiflung in ihm aufzukeimen drohte. Doch dann knirschte er mit den Zähnen, als erneut die Wut über ihn hinwegspülte, aber diesmal richtete sie sich nicht auf seine Gefährten, sondern auf ihn selbst, auf Rhythamun und auf Tharn. Falls es der Gott oder der Zauberer waren, die ihn mit ihren Kräften in diese düste
re Stimmung versetzten, dann würde er dagegen an kämpfen. Er würde nicht aufgeben! Diesen Triumph würde er ihnen nicht gestatten! Er biß die Zähne aufein ander, und sein Lächeln wurde grimmig, als er Bracht zunickte. »Aye.« Die Wut ließ seine Stimme hart klingen. »Wir werden dieses Loch verlassen und nach Aldarin segeln. Bis zum Ende der Welt, sollte es nötig werden.« »Aye!« Brachts Hand schloß sich fest um seine Schul ter. Die Berührung war tröstlich. »Kein eingebildeter Kander wird uns aufhalten, kein Zauberer und auch sonst nichts, sei es Menschenwerk oder Magie.« »Dem kann ich mich nur anschließen«, murmelte Tek kan. Ihre Entschlossenheit schwand etwas, während der Tag voranschritt. Draußen erwachte die Stadt zum Le ben, aber das einzige Fenster der Zelle war viel zu hoch angebracht, um ihnen etwas anderes außer einem Stück chen des winterlich grauen Himmels zu zeigen, und die Tür wurde erst wieder gegen Mittag geöffnet, als man ihnen einen aus gewürztem Fleisch und Gemüse beste henden Eintopf brachte. Der Soldat, der die Schale auf den Boden stellte, wurde von drei Kameraden begleitet. Bevor die Tür wieder geschlossen wurde, konnten die Gefangenen noch mehr Soldaten im Raum dahinter se hen, die dort vorsichtshalber Posten bezogen hatten. Sie aßen und setzten sich wieder auf die Steinbank.
Der Mittag ging in den Nachmittag über, und schließlich brach die Dämmerung herein. Man brachte ihnen weder Kerzen noch Fackeln, und bald war es dunkel in der Zelle. Es wurde wieder kälter, ihre Gespräche wurden immer oberflächlicher. Sie versuchten, ihren Optimismus aufrechtzuerhalten, aber Calandrylls Stimmung sank mit jeder verstreichenden Stunde, bis er fürchtete, für immer in Vishat'yi festsitzen zu müssen. Er kämpfte gegen seine Niedergeschlagenheit an, doch sie war genauso unerbitt lich wie die zunehmende Kälte, und seine Hoffnung sank. Da sie nichts anderes tun konnten, streckten sie sich irgendwann auf den Bänken aus und versuchten zu schlafen, so gut es die harten Steine und die Kälte zulie ßen. Sie erwachten, als Lärm und Licht in ihre Zelle dran gen, und instinktiv griffen Calandryll und Bracht zu ihren Schwertern. »Das würde ich Euch nicht raten.« Quindar ek'Nyles Stimme klang aus dem Hintergrund auf. Piken wurden auf die Gefangenen gerichtet und unterstrichen seine Warnung. Stahlklingen schimmerten im Fackellicht. Der Militärkommandant von Vishat'yi stand hinter fünf seiner Männer. Diesmal trug er einen pelzbesetzten scharlachroten Mantel. Er blickte sie mit einem unbewegten Gesichtsausdruck an und lächelte kalt, als Calandryll und Bracht ihre Schwerter in die Scheiden zurückgleiten ließen. »Kommt mit. Menelian wird Euch überprüfen.«
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und verließ die Zelle. Die Soldaten gaben vorsichtig den Weg frei, als rechneten sie mit Gegenwehr. Calandryll konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, als hätte man sie bereits für schuldig befunden, und er bemühte sich, die Situati on mit etwas mehr Zuversicht zu betrachten, als er auf stand, sich streckte und versuchte, seine verkrampften Muskeln zu lockern. »Beeilt Euch!« klang ek'Nyles Stimme ungeduldig aus dem Vorraum auf. »Ich möchte Menelian nicht warten lassen. Und Ihr wohl auch nicht, denke ich, es sei denn, Ihr hättet Angst, ihm gegenüberzutreten.« »Wir haben nichts zu befürchten«, sagte Calandryll und hoffte, daß das der Wahrheit entsprach. »Geht vor aus.« Er trat aus der Zelle. In dem Vorraum war es warm. An den Wänden standen Kohleöfen, und es roch nach Wein und dem schweren Duft des berauschenden Ta baks, den die Kander so sehr schätzten. Ek'Nyle wartete an der Eingangstür und winkte sie ins Freie. Ein Trupp bewaffneter Männer in Rüstungen nahm sie in seine Mitte. Im Westen sank der Vollmond den Steilklippen entgegen, was darauf hindeutete, daß es etwa eine Stunde nach Mitternacht sein mußte, und tauchte die Stadt in bleiches Licht, in dem die Katapulte auf den Klippen wie Galgen aussahen. Im Hafen schwankten gemächlich die Schiffsmasten, und die Wel len plätscherten leise. Calandryll entdeckte den einzelnen
Mast des vanuischen Kriegsbootes, aber keine Spur von Katya oder dem Rest der Besatzung. »Da entlang.« Ek'Nyle klang gereizt, verärgert über die Störung sei ner Nachtruhe, und Calandryll kam der Gedanke, daß die Wünsche des Hexers Menelian Vorrang vor denen des Militärkommandanten zu haben schienen. Das erfüll te ihn mit ein wenig Genugtuung, als man sie vom Wach turm in die verdunkelten Straßen von Vishat'yi trieb. Vor der Barrikade, die die Straße von der Mole ins Stadtinne re versperrte, standen Soldaten Wache. Sie salutierten, als ek'Nyle und seine Eskorte herankamen, und verschlossen den vorsorglich geöffneten Durchgang sofort wieder, nachdem der Trupp ihn passiert hatte. In der Stadt war es dunkler als am Hafen. Die Häuser standen eng anei nandergedrängt auf den terrassenförmig ansteigenden Hängen. ihre Fensterläden waren geschlossen, kein Licht fiel auf die Straßen, und es gab auch keine Straßenlater nen wie in den Städten Lysses. Die einzige Lichtquelle waren der Mond und die Fackeln, die die beiden voraus gehenden Soldaten in die Höhe hielten. Das Trommeln ihrer Stiefel auf dem Straßenpflaster hallte durch die Nacht. Calandryll kam es wie ein Klagelied vor. Die Dunkelheit paßte zu seiner Stimmung, und er begann sich zu fragen, ob sein Vorschlag wirklich so klug gewe sen war. Sinnlos, sich jetzt noch darüber den Kopf zu zerbre chen, dachte er, als sie einer ansteigenden Straße folgten. Er hatte es getan, und jetzt gab es kein Zurück mehr. Wie
er selbst gesagt hatte, wäre ek'Nyle mit Sicherheit früher oder später von selbst darauf gekommen, sie zu dem Zauberer zu bringen, und je früher sie es hinter sich brachten, desto besser. Was auch immer dabei heraus kam, wenigstens würden sie hinterher Gewißheit über ihre Situation haben, und das war auf jeden Fall besser, als weiter in der Zelle zu schmoren. Er kämpfte gegen seine Zweifel an und versuchte, innerlich ruhig zu wer den, was ihm schwerfiel. Die Straße beschrieb eine Kurve, und sie stiegen eine breite Treppe hinauf. Die Stadt blieb unter ihnen zurück, der Hafen war ein schwarze Fläche, die das Mondlicht mit silbernen Flecken sprenkelte. Schließlich endete die Treppe auf einem kleinen Platz, der von hohen schmalen Häusern gesäumt wurde. Jedes Haus war von einer Mauer umgeben. Ek'Nyle hielt vor einem Tor. Er zog an einer Schnur, und eine unsichtbare Glocke läutete. Der Klang war so rein und klar wie das Mondlicht. Das Tor wurde geöffnet. Der Offizier führte seine Männer auf einen gepflasterten Vorhof. Ein Nachtwächter in Mantel und Kapuze huschte lautlos zum Haus und bat sie hin ein. Sie betraten eine Vorhalle, die von sieben Lampen er hellt wurde. Die Flammen in den Glasfassungen ver strömten einen schwachen harzigen Geruch. Der geflieste Fußboden war, wie in Kandahar üblich, mit einem bun ten Mosaikmuster ausgelegt, während die Wände kalk weiß waren. In einer Wandnische stand eine Burashsta
tue. Der Türsteher kehrte auf den Hof zurück und schloß leise die Tür hinter sich, während die innere Tür auf schwang. Ein Mann mit einem schmalen Gesicht betrat den Flur. Er trug eine silberverzierte schwarze Robe, die ihn als Hexer auswies. Calandryll stellte leicht überrascht fest, daß der Mann noch jung war, noch nicht einmal die mittleren Jahre erreicht hatte. Er war glattrasiert, sein Haar war hell für einen Kander, eher braun als schwarz. Seine dunklen Augen wanderten selbstbewußt über die nächtlichen Besucher. Sie verrieten Intelligenz und – wie Calandryll meinte – Belustigung. Er ließ sich Zeit für seine Musterung, was ek'Nyle sichtlich ärgerte, dann nickte er und sagte: »So, das sind sie also.« »Wer denn sonst?« fragte der Offizier unwirsch. »Tut mit ihnen, was Ihr tun müßt. Ich möchte keine unnötige Zeit verschwenden.« »Ihr könnt jetzt gleich wieder gehen«, erwiderte der Magier unbeeindruckt. »Ich möchte Euch nicht von Eu ren Pflichten fernhalten … oder von Eurem Bett.« Ek'Nyles Stirn legte sich in Falten. Er war einen Mo ment lang verunsichert, seine Selbstsicherheit geriet ins Wanken. »Und nehmt Eure Männer auch mit«, fügte der Zaube rer hinzu. »Was?« Vor Verblüffung blieb ek'Nyle fast die Sprache weg. »Ich bin gut genug geschützt.« Die feingeschwunge nen Lippen des Hexers verzogen sich zu einem Lächeln.
»Oder zweifelt Ihr an meinen Fähigkeiten?« »Nein, aber…« Der Offizier schüttelte den Kopf. Seine Verwirrung wuchs, und sein Unbehagen ließ das Lächeln des Magiers noch breiter werden. »Ist das klug?« »Meiner Meinung nach schon. Und Ihr habt ohne Zweifel eine Menge anderer Aufgaben für Eure Männer.« Ek'Nyle nickte knapp, bemüht, seine Autorität wie derzugewinnen. »Wenn Ihr es so wünscht«, murmelte er. »So ist es«, erwiderte der Magier. »Ihr braucht Euch keine Sorgen wegen meiner Sicherheit zu machen.« »Meinetwegen.« Ek'Nyle warf den Gefangenen einen ärgerlichen Blick zu. »Wie Ihr wollt. Ich überlasse sie Eurer Obhut.« »Und ich wünsche Euch noch eine gute Nacht.« Der schwarzgekleidete Mann sah schweigend zu, wie der Militärkommandant auf dem Absatz herumfuhr und einen Befehl bellte, worauf ihm seine Männer eilig folg ten. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Einen Augenblick lang war noch das Klappern ihrer Absätze auf dem Pflas ter im Hof zu hören, dann kehrte Stille ein. »Mein Name ist Menelian«, sagte der Hexer. »Bitte folgt mir, damit wir die Überprüfung Eurer Personen hinter uns bringen können.«
KAPITEL 3 So höflich, als handele es sich um willkommene Gäste, führte Menelian sie von der Vorhalle in ein gemütliches Zimmer, in dem es hell und warm war. Die Läden vor den farbigen Glasfenstern waren geschlossen, in den Scheiben spiegelte sich das Licht der Lampen, die in Nischen in der schmucklosen weißen Wand unterge bracht waren und einen ähnlichen Duft wie die in der Vorhalle verströmten. Ein großes Feuer brannte in einem Kamin, vor dem zwei einfache Holzbänke standen. An den Wänden standen genauso schlichte Holzstühle. Die Mitte des Zimmers wurde von einem Tisch eingenom men, der mit kaltem Fleisch, pikantem Gemüse, Brot, Käse und einer Schale mit Früchten sowie mit einem kleinen Fäßchen und vier Krügen gedeckt war. Die Schlichtheit des Raumes überraschte Calandryll. Der Hexer bemerkte sein Stirnrunzeln, schmunzelte und fragte: »Was hattet Ihr erwartet? Magisches Zubehör, schwarze Kerzen und Totenschädel? Oder verschwende rischen Luxus?« »Ich war mir nicht sicher, was ich erwartet habe.« Ca landryll schüttelte den Kopf, verblüfft über die Gelassen heit des Zauberers. Er wußte nicht, wie er darauf reagie ren sollte. Der Hexer machte einen freundlichen Ein
druck, seine Belustigung schien echt und ohne Spott zu sein, und seine Augen wirkten ehrlich. Aber genauso hatte Rhythamun gewirkt, als er sich freundschaftlich gegeben hatte, und Calandryll beschloß, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Er bemerkte, wie Bracht sich neben ihm argwöhnisch umblickte. »Ich kann es Euch nicht verübeln, daß Ihr mir mißtraut, denn ich kenne Quindar ek'Nyle nur zu gut«, sagte Menelian und lächelte entschuldigend. »Ich nehme an, er hat Euch in diesem stinkenden Loch festgehalten, das er als Zelle benutzt, und Euch das gleiche Essen vorgesetzt, das seine Männer bekommen. Wärmt Euch auf, greift zu und trinkt etwas von diesem guten Bier. Oder bevorzugt Ihr Wein?« Sein Benehmen blieb weiterhin eher das eines auf merksamen Gastgebers als das eines Inquisitors, und Calandrylls Verwirrung wuchs. Dies war ein Magier, der geschworen hatte, dem Tyrannen zu dienen. Machte ihn diese Treuepflicht zu einem Freund oder Feind? »Bier ist mir recht«, sagte er. »Aber…« »Ihr habt zweifellos mit einem etwas anderen Emp fang gerechnet.« Menelian lachte leise in sich hinein, stellte einen Krug unter den Zapfhahn des Fäßchens, füllte ihn und dann die drei anderen. Er reichte sie wei ter, lächelte wieder, als er das offene Mißtrauen in Brachts Gesicht und Tekkans zweifelnde Miene sah, hob seinen Krug, nahm einen großen Schluck und wischte
sich den Schaum von den Lippen. Das alles geschah so beiläufig, als säßen sie in einer Taverne. »Nach ek'Nyles Benehmen kann ich Euch das nicht verdenken.« Er nahm einen weiteren Schluck und beobachtete sie über den Rand seines Kruges hinweg. Intelligenz schim merte in seinen Augen. »Ich versichere Euch, meine Her ren, das Bier ist nicht vergiftet, verhext oder mit Drogen versetzt. Ich habe mir nur gedacht, daß Ihr einen guten Schluck und etwas zu essen schätzen würdet.« Calandryll warf Bracht einen kurzen Blick zu und sah den Argwohn in den Augen des Kerners. Weder Bracht noch Tekkan machten Anstalten, ihr Bier zu probieren. Calandryll sah Menelian an, zuckte die Achseln und trank. Der Mann war ein Hexer, er benötigte keine Dro gen, um seine Arbeit zu tun. Das Bier war gut, wie der Magier versprochen hatte. Es spülte den pelzigen Nachgeschmack von ek'Nyles Eintopf fort und weckte Calandrylls Appetit. Er trank einen weiteren, tieferen Zug. »Eure Gefährten scheinen weniger Vertrauen zu ha ben«, stellte Menelian fest. »Also sollte ich meine Karten am besten offen auf den Tisch legen, denn ich glaube, daß Vertrauen in dieser Angelegenheit äußerst wichtig ist und wir keine Zeit vergeuden dürfen.« Er deutete auf die Sitzbänke, wartete nicht, bis sie Platz genommen hatten, krümmte einen Finger und murmelte leise kehlige Worte. Einer der Stühle an der Wand schwebte in die Höhe und glitt auf ihn zu, wäh
rend sich Mandelgeruch in den Duft mischte, den die Lampen verströmten. »Also«, sagte er, nachdem er sich gesetzt hatte, »ich werde den Anfang machen. Vielleicht kann ich Euch damit überzeugen, daß meine Absichten ehrenhaft sind und ich nicht Euer Feind bin. Schon eher Euer Freund.« Brachts zusammengekniffene Augen verrieten, was er von dieser Behauptung hielt, aber er nahm trotzdem neben Tekkan Platz. Calandryll setzte sich auf die gege nüberliegende Bank. Trotz seiner Zweifel war er neugie rig geworden. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Bracht vorsichtig an seinem Bier nippte und Tekkan sich ihm anschloß. Calandrylls Kopf fühlte sich klar an, und er sagte sich, daß Menelian möglicherweise wirklich nicht log. Rhythamuns Doppelspiel hatte nicht unbedingt zu bedeuten, daß alle Hexer feindselig waren. »Ich diene dem Tyrannen«, begann Menelian, »daran sollte nicht der geringste Zweifel bestehen. Ich habe Xenomenus Loyalität geschworen, aber daß ich ihm diene, macht uns nicht automatisch zu Feinden. Ich den ke, daß eher das Gegenteil der Fall ist. Bitte verwechselt mich nicht mit solchen Männern wie Quindar ek'Nyle.« Den letzten Satz sagte er in Brachts Richtung, dessen finsteres Gesicht nach wie vor sein Mißtrauen verriet. »Der Militärkommandant ist ein Soldat und neigt wie alle Soldaten dazu, nach einem einfachen Muster zu denken. Er betrachtet alles in Schwarz und Weiß, ohne Zwischentöne. Ek'Nyle organisiert die Verteidigung
einer Stadt, die vom Bürgerkrieg bedroht ist. Sathoman ek'Hennem hat den größten Teil der Ostküste einge nommen und wird Vishat'yi wahrscheinlich bald schon angreifen. Quindar entdeckt ein Kriegsboot in seinem Hafen und weiß nicht, wie er es einordnen soll. Also verdächtigt er Euch, daß Ihr irgendeinen geheimen Plan verfolgt. Irgendeine List ek'Hennems, die er noch nicht durchschauen kann.« »Und Ihr glaubt das nicht?« Calandryll bemerkte, daß sein Krug leer war. Meneli an erhob sich, nahm ihn mit und füllte ihn nach. Spontan folgte ihm Calandryll zum Tisch und bediente sich an den Speisen. »Nein«, sagte der Hexer. »Ich habe so eine Vermutung, wer – oder was – Ihr seid, und das ist der Grund, warum ich Euch zu dieser götterlosen Stunde habe kommen lassen.« Sie kehrten zu ihren Sitzplätzen zurück, als Tekkan aufstand und sich einen Teller mit Fleisch und Brot be lud. Nach kurzem Zögern gesellte sich Bracht zu ihm. »Ich diene dem Tyrannen«, wiederholte Menelian. »Ich bin ein unbedeutenderes Mitglied der auserwählten Gruppe, die sich geschworen hat, das Chaos zu verhin dern, das sich schon einmal erhoben hat, als jeder kleine Fürst eine Heerschar von Zauberern beschäftigte, um seine ehrgeizigen Pläne voranzutreiben. Habt Ihr vom Krieg der Hexer gehört?« Calandryll nickte, und der Magier fuhr fort: »Und Ihr
habt bereits Anomius kennengelernt, der Sathoman ge dient hat.« Er hob die Hand, als Bracht seinen Teller abstellte und nach seinem Krummschwert griff. »Laßt das Schwert stecken, Bracht ni Errhyn. Wie ich bereits sagte, bin ich nicht Euer Feind. Hört mich an!« Bracht runzelte mißtrauisch die Stirn, schob aber das Krummschwert in die Scheide zurück und ergriff wieder seinen Teller. »Anomius lebt«, sagte Menelian. »Er wurde gefangen genommen, nach Nhurjabal gebracht und in ein Verlies gesteckt, das magisch versiegelt worden ist. Aber trotz dem haben die Zauber, die er zurückgelassen hat, Sathoman ek'Hennem auch weiterhin bei seinen Unter nehmungen geholfen, und der Fürst der Fayne hat im Osten gesiegt. Der Tyrann ist noch jung, und wie die meisten jungen Männer denkt er in kurzen Zeiträumen. In der Hoffnung, Sathoman besiegen zu können, hat er Anomius freigelassen.« »Und der würde uns gerne umbringen«, knurrte Bracht. »Das ist richtig«, bestätigte Menelian. »Und in den nächsten Tagen wird Quindar ek'Nyle vom Tyrannen den Befehl bekommen, Euch festzunehmen und nach Nhurjabal bringen zu lassen. Anomius plant einen An schlag gegen Euch.« Er legte eine dramatische Pause ein und trank einen Schluck Bier.
»Warum erzählt Ihr uns das alles?« wollte Calandryll wissen. »Weil wir, die wir uns die Hexer des Tyrannen nen nen, gelobt haben, ganz Kandahar zu dienen«, erwiderte Menelian, »Anomius aber nur sich selbst dient. Ich habe von einigen meiner Kollegen erfahren, daß er es auf Euch abgesehen hat. Und darüber hinaus wurde mir berichtet, daß die Mitglieder des Inneren Zirkels, die viel mächtiger als ich sind, auf der magischen Ebene einen Aufruhr gesehen haben, der so stark ist, daß er Vorrang vor unse rer Loyalität gegenüber Xenomenus hat.« »Die typischen rätselhaften Worte eines Hexers«, sagte Bracht mißtrauisch. »Nein!« Menelian schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Eine Warnung und Hilfe. Der Tyrann sieht nur den kurzfristigen Vorteil, den Sieg über Sathoman, und um den zu erringen, ist er bereit, auf Anomius zu hören, der sich aus persönlichen Gründen an Euch rächen will.« »Warum?« fragte Calandryll. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht verstand, wollte er dem Hexer ver trauen, aber er war sich immer noch nicht sicher, ob er das sollte. »Weil er glaubt, daß Ihr irgendein Zauberbuch gefun den habt, das ihn übermächtig machen könnte«, erklärte Menelian. »Diese Geschichte war nur eine Erfindung, ein Schachzug, um Sathoman ek'Hennem zu entkommen«, sagte Calandryll vorsichtig. »Sonst nichts.«
»Ich denke, es steckt sehr viel mehr dahinter«, stellte Menelian fest. »Ich glaube, Ihr seid nach Tezin-dar ge reist, um das Arcanum zu suchen.« Calandrylls Teller landete auf dem Fußboden, und die Essensreste verstreuten sich auf den polierten Holzdie len. Menelian machte eine Geste, worauf die Krümel und Brocken in das Feuer flogen. Der Geruch des Kaminfeu ers vermischte sich mit Mandelduft. »Anomius weiß noch nichts davon«, sagte er ernst. »Aber was auch immer Ihr ihm erzählt habt, sein Ehrgeiz hat ihn dazu gebracht zu glauben, Ihr würdet ein Buch suchen, das uralte Zaubersprüche enthält, die ihn zum Herrscher über ganz Kandahar machen könnten. Er möchte es haben und seine Rache dazu. Er ist verrückt, aber gleichzeitig genauso listig und gefährlich wie ein menschenfressendes Raubtier.« »Und Ihr kennt die wahre Bedeutung des Buches?« Calandryll starrte den Hexer an. Menelian nickte. »Die Meister des Inneren Zirkels ha ben den wahren Grund Eurer Suche herausgefunden«, sagte er feierlich. »Gleich, nachdem sie Anomius' Geist überprüft und über Euer Verhalten nachgedacht haben.« Dabei sah er Tekkan neugierig an. »Haben die Heiligen Männer Vanus nicht erkannt, daß das, was sie gesehen haben, wahrscheinlich auch anderen bekannt werden würde?« Tekkan hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich gehöre nicht zu ihrem Kreis. Ich tue nur das, was sie
mir aufgetragen haben.« »Und das war, die Sucher des Arcanums aufzuspüren und das Buch nach Vanu zu bringen, damit es dort zer stört werden kann?« erkundigte sich Menelian. Tekkan nickte. »Woher wißt Ihr das?« fragte er. In Menelians Lächeln lag ein Anflug von Traurigkeit. »Vanuer, die es so weit in den Süden verschlägt? Es be durfte nur einer logischen Überlegung, um zu dieser Schlußfolgerung zu gelangen, aber hört mir weiter zu, denn wie ich bereits gesagt habe, uns bleibt nur wenig Zeit. Ich werde Euch alles erzählen, was ich weiß, und dann könnt Ihr entscheiden, ob Ihr mir vertrauen wollt oder nicht.« Er blickte ihnen nacheinander in die Augen, und in seinem Blick lag jetzt keine Belustigung mehr, nur noch ein tiefer Ernst, der Aufrichtigkeit und mehr als nur ein wenig Beunruhigung verriet. »Die Existenz des Arcanums war – und ist auch immer noch – ein wohlgehütetes Geheimnis. Hätten wir, die Zauberer des Tyrannen, geglaubt, wir könnten es finden und zerstören, wären wir schon vor langer Zeit nach Gessyth aufgebrochen, aber Tezin-dar war nur eine Le gende, und alle Prophezeiungen über diese sagenhafte Stadt haben bestätigt, daß nur diejenigen, die die Götter dazu auserwählt haben, die Reise dorthin überleben könnten. Vor einiger Zeit haben Mitglieder des Inneren Zirkels Kraftströme in den okkulten Bereichen gespürt, die darauf schließen ließen, daß irgend etwas in bezug
auf das Buch vor sich ging, aber sie konnten nicht fest stellen, woher sie kamen und was sie zu bedeuten hatten. Mit so wenig Wissen konnten wir nicht handeln, nur abwarten, was geschehen würde. Dann aber wurde A nomius gefangengenommen, und uns ist klargeworden, worauf sein Ehrgeiz zielt und woran er glaubt. Wir ha ben erfahren, daß er einen jungen Mann aus Lysse und einen Krieger aus Cuan na'For getroffen hat, die unter wegs nach Gessyth waren, um, wie er glaubte, ein Zau berbrevier von ungewöhnlicher Macht zu suchen. Im Gegensatz zu ihm haben die Meister des Inneren Zirkels vermutet, daß es sich um das Arcanum handeln müßte, aber nach dem, was Anomius erzählt hat, besaß keiner seiner Begleiter das erforderliche Wissen, um diese Mis sion aus eigenem Antrieb durchzuführen. Also lag die Vermutung nahe, daß irgendeine andere Macht diese Suche in die Wege geleitet hat. Dann kam Kunde von einem vanuischen Kriegsboot, das von Kharasul nach Gessyth fuhr, und nachdem Anomius freigelassen wor den war, hat er von Calandryll den Karynth und Bracht ni Errhyn erzählt. Der Rest ist einfache Logik. Die beiden Männer erscheinen in Vishat'yi an Bord eines Bootes aus Vanu, aber…« Er verstummte und musterte die Gesichter der drei Männer mit einem beängstigend intensiven Blick. »Ihr habt das Arcanum nicht bei Euch.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Nein.« »Dann«, sagte Menelian langsam, »habt Ihr entweder versagt, oder aber das Buch wurde Euch entwendet.
Nicht von Anomius, denn der giert immer noch danach. Also vielleicht von demjenigen, der Euch auf die Suche geschickt hat?« Diesmal nickte Calandryll. »Aye. Von Rhythamun.« »Rhythamun?« fragte Menelian. Calandryll hörte, wie Bracht scharf den Atem einsog, aber er ignorierte ihn. »Er ist ein Magier«, sagte er. »Er hat uns hereingelegt. Wir haben geglaubt, er meinte es ehrlich, als er uns erzählt hat, er wolle das Buch zerstö ren. Wir haben Tezin-dar erreicht, und die Wächter ha ben uns das Arcanum übergeben, doch dann ist Rhytha mun plötzlich erschienen und hat es uns abgenommen.« Er schwieg einen Moment lang, verzog das Gesicht, und als er fortfuhr, schwangen Wut und Abscheu in seiner Stimme mit. »Er hatte mir einen magischen Stein gege ben, den ich tragen sollte. Um mir zu helfen und mich zu führen, hatte er behauptet. Durch diesen Stein ist er in Tezin-dar erschienen! Jetzt machen wir Jagd auf ihn.« »Und er weiß, was das Arcanum ist?« Die Stimme des Hexers war leise und rauh vor Entsetzen. Calandryll deutete ein Nicken an. »Aye. Er möchte den Verrückten Gott wiedererwecken.« »Wahnsinn!« Menelians Selbstsicherheit war ver schwunden, plötzlich sah er sehr jung und ängstlich aus. »Hat er den Verstand verloren?« »Durch seine Gier nach einer Macht, von der er glaubt, er könne sie kontrollieren«, sagte Tekkan nüchtern. Er setzte seinen Krug ab. »Die Heiligen Männer meines
Landes hatten prophezeit, daß Rhythamun es auf das Buch abgesehen hatte, Tezin-dar aber nicht selbst würde erreichen können, nur über den Umweg durch andere. Einer davon war Calandryll, Bracht der andere und mei ne Tochter die dritte.« »Eure Tochter?« Menelian runzelte verständnislos die Stirn. »Katya«, erklärte Tekkan. »Sie wartet jetzt unten am Hafen auf uns.« Menelian nickte langsam. »Die drei«, murmelte er und fügte dann lauter hinzu: »Und wißt Ihr, wohin Rhytha mun gegangen ist?« »Er hatte die Gestalt Varent den Tarls aus Aldarin an genommen«, sagte Calandryll, »und ist wahrscheinlich dorthin zurückgekehrt. Darüber hinaus…« Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus. »Katya trägt einen Stein, den sie von den Heiligen Männern erhalten hat«, warf Tekkan ein. »Er deutet wie ein Kompaß auf den anderen Stein, den Rhythamun Calandryll gegeben hatte. Der Zauberer hat ihn wieder an sich genommen, als er sich das Buch geschnappt hat, und jetzt deutet Katyas Stein nach Aldarin.« »Dann müßt Ihr nach Aldarin gehen!« rief Menelian eindringlich. »So schnell Ihr könnt! Ich werde ek'Nyle informieren, daß Ihr jede mögliche Unterstützung be kommt und ungehindert abreisen könnt.« »Wieso?«
Brachts Frage zuckte wie ein Peitschenknall dazwi schen. Calandryll und Tekkan drehten sich zu ihm um und erblickten ein Gesicht, in dem sich unverhohlenes Mißtrauen abzeichnete. Menelians Stirn legte sich in Falten. »Ihr wollt wissen, warum ich das tue?« fragte er leise. »Ich habe nicht viel übrig für Magie«, erwiderte Bracht kalt, »und das gleiche gilt für diejenigen, die sie ausüben. Ihr und diese anderen Hexer, gelüstet es Euch nicht nach der Macht, die Ihr mit Hilfe des Arcanums erringen könntet?« »Burash, nein!« Menelian hob abwehrend die Hände. »Den Verrückten Gott wiederzuerwecken ist der reine Wahnsinn!« »Rhythamun ist da anderer Meinung«, stellte Bracht fest. »Und wenn Anomius gewußt hätte, daß wir nicht nach einem Zauberbrevier, sondern nach dem Arcanum suchen, dann hätte ihn die gleiche verrückte Gier danach gepackt, davon bin ich überzeugt.« »Ich denke, daß Rhythamun geisteskrank ist«, erwi derte Menelian, »und Anomius … Anomius ist ein elen der Wurm.« »Ein Wurm, den Euer Tyrann aus dem Kerker befreit hat«, ließ Bracht nicht locker. »Weil er der Schlüssel zu Sathoman ek'Hennems Nie derlage ist«, seufzte Menelian. »Ohne seine Hilfe würde
Kandahar unter den Verheerungen des Bürgerkrieges leiden. Nur Anomius kann die Zauber aufheben, die er zum Schutz des Lords der Fayne zurückgelassen hat. Ohne ihn müßte der Tyrann einen langen Kampf führen, einen blutigen Kampf, der Kandahar mit Sicherheit sehr teuer zu stehen kommen würde. Hört mir zu, Krieger! Wenn ich Euer Feind wäre, wenn ich es auf das Arcanum abgesehen hätte, glaubt Ihr, ich würde Euch befreien? Nein! Ich würde meine Kräfte anwenden, um Euch mei nem Willen zu unterwerfen, anstatt Euch zu helfen und Euch zu warnen.« »Bisher habe ich noch keine Warnungen gehört«, sagte Bracht. Der Hexer lächelte grimmig. »Nein, deshalb hört mir jetzt zu. Anomius hat Gegenleistungen für seine Hilfe verlangt. Und es gab einige Zauberer, die sich gegen den Einspruch klügerer Männer damit einverstanden erklärt haben. Meine Vorgesetzen sind sich in dieser Sache nicht einig, und sollten diejenigen, die sich für Anomius' Frei lassung ausgesprochen haben, erfahren, was ich Euch erzähle oder hier tue, dann wäre mein Leben verwirkt. Mehr als nur mein Leben! Also hört mich an und vertraut mir zum Wohl der ganzen Welt!« Sein Blick hielt den Brachts fest, und nach einer Weile nickte der Söldner. »Eine von Anomius' Bedingungen war, daß alle Mili tärkommandanten und Liktoren von Kandahar angewie sen werden sollten, nach Euch Ausschau zu halten. Ihr
sollt festgenommen und unter Bewachung nach Nhurja bal gebracht werden. Die andere Bedingung war, ihm einen zum Tode verurteilten Verbrecher zu überlassen.« Sein Blick wanderte von Brachts verschlossenem Ge sicht zu Calandryll und Tekkan, und sein Gesichtsaus druck ließ Calandryll frösteln. »Seine Forderungen wurden erfüllt, und er hat sich ei ne Frau geholt und sie zu seiner Kreatur gemacht. Er hat eine Wiedererweckte aus ihr gemacht. Begreift Ihr, was das bedeutet?« Tekkan schüttelte verständnislos den Kopf. Bracht zuckte die Achseln und sagte leise: »Eine untote Kreatur, nicht wahr? Getötet und wieder zum Leben erweckt, um ihrem Herrn zu dienen.« Calandryll hatte den Eindruck, als würde das Bier in seinem Magen gerinnen. In Secca hatte er etwas über Wiedererweckte gelesen, in den alten Büchern und wis senschaftlichen Manuskripten, die so viel von seiner Zeit in Anspruch genommen hatten, bevor das Schicksal ihn zu einem Abenteurer gemacht hatte, und die Erinnerung erfüllte ihn mit Angst. Die Mehrzahl der zeitgenössi schen Forscher bestritt die Existenz derartiger Kreaturen, und selbst in den alten Texten war nur gelegentlich von ihnen die Rede, und dann immer voller Abscheu. Ihre Erschaffung wurde als Garant dafür angesehen, daß ihre Schöpfer höllische Qualen zu erleiden hatten, die Tat wurde als eine abscheuliche Verfehlung betracht, die in jedem Fall ewige Verdammnis nach sich zog. Die Ge
schöpfe, die auf diese Weise entstanden, besaßen angeb lich übermenschliche Kräfte. Calandryll spürte, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief. Die Furcht vor den Chaipaku war schon schlimm genug gewesen, aber jetzt auch noch das Ziel der Suche einer Wiedererweckten zu sein, war das nackte Grauen. »Ihr wißt Bescheid«, hörte er Menelian sagen und nickte nur. Sein Mund war plötzlich viel zu trocken ge worden, als daß er ein Wort hätte hervorbringen können. »Vertraut Ihr auf Euer Schwert, um Euch zu schüt zen?« fragte der Zauberer mit Blick auf Bracht. Er wartete die Antwort nicht ab, und als er fortfuhr, klang seine Stimme tonlos. »Ich weiß nicht, wie die Magier in Eurem Land so etwas machen oder ob sie überhaupt zu solch einer Infamie fähig sind, aber ein Wiedererweckter ist ein Geschöpf schwärzester Nekromantie, und das wiederum ist eine Kunst, die von allen zivilisierten Hexern verab scheut wird. Das Herz einer solchen Kreatur wird ihr bei lebendigem Leib aus der Brust geschnitten, verzaubert und von ihrem Schöpfer aufbewahrt. Sie gehorcht nur ihrem Schöpfer und muß seine Befehle ausführen. Im Gegensatz zu einem normalen Menschen verspürt sie weder Hunger noch Durst und verfolgt nur noch ihre Aufgabe, die darin besteht, den Willen ihres Schöpfers zu erfüllen. Eine Klinge stellt keine Gefahr für sie dar, denn sie ist bereits tot! Ihr könnt ihr mit Eurem Krumm schwert den Kopf abhacken, Bracht, und trotzdem wür den ihre Arme immer noch versuchen, Euch zu packen,
ihre Zähne würden nach Euch schnappen. Fesselt sie, und sie wird die Stricke wie dünne Fäden zerreißen, das gleich gilt für Ketten. Sie besitzt kein Leben, daß Ihr ihr nehmen könntet! Man kann sie nur dadurch ausschalten, indem man ihr Herz findet und es zerstört. Und das Herz wird vom Schöpfer des Wiedererweckten gut versteckt. Es ist eine Obszönität!« Er verstummte. Die Tragweite dessen, was er be schrieb, schien ihm die Worte zu rauben. Bracht starrte ihn grimmig an. Dann grinste er verknif fen und sagte: »Mir ist bis jetzt noch nichts begegnet, das nicht irgendwie getötet werden konnte. Ihr behauptet, uns warnen zu wollen, und erzählt uns, daß wir von einer untoten Kreatur gejagt werden, die Anomius ge macht hat. Ihr sagt, sie könnte nicht erschlagen werden. Das ist keine Warnung, sondern eine Drohung.« »Eine furchtbare Drohung«, stimmte ihm Menelian zu, »aber sie stammt nicht von mir. Und ich bleibe dabei, daß es eine Warnung ist.« Das Gesicht des Kerners verzog sich zu einer Grimasse des Unglaubens. Die eisigen Finger, die Calandryll über den Rücken gestrichen waren, schienen nun seine Brust zu umklammern und ihm die Kehle zuzudrücken. »Wieso?« brachte er mühsam hervor. »Aye«, wiederholte Bracht. »Wieso?« »Weil die Kreatur Euch erst noch finden muß!« sagte Menelian beschwörend. »Anomius hat sie – es! – in Nhurjabal erschaffen. Er wußte lediglich, daß Ihr nach
Gessyth gesegelt seid, nicht, wo Ihr wieder auftauchen oder – ich bete darum! – wohin Ihr danach gehen würdet. Erst wenn er das in Erfahrung gebracht hat, kann er sein Geschöpf losschicken, denn es braucht eine Spur, der es folgen kann, irgendeinen Hinweis auf Euren Aufent haltsort.« »Dann beweist uns Eure Aufrichtigkeit dadurch, daß Ihr ihn im Ungewissen laßt«, verlangte Bracht unver blümt. »Soll dieses untote Ding ruhig nach uns suchen. Laßt uns frei, damit wir nach Lysse segeln und es abhän gen können.« »Wir müssen erst das Kriegsboot reparieren«, gab Tekkan zu bedenken, »und das wird einige Zeit in An spruch nehmen.« »Und schon bald werden Boten aus Nhurjabal eintref fen und uns die Anweisungen des Tyrannen überbrin gen«, sagte Menelian. »Meine Autorität ist nicht so groß, daß ich mich über die Befehle hinwegsetzen könnte, die Quindar ek'Nyle erhalten wird.« »Ihr gebt uns also zu verstehen, daß wir verloren sind«, faßte Bracht zusammen. »Ist das die Warnung, mit der Ihr uns Eure Freundschaft beweisen wollt?« Der Hexer nickte. »Falls Ihr nicht auslaufen könnt, be vor die Anweisungen aus Nhurjabal eintreffen, dann könnte ich vielleicht Quindars Antwort verzögern. Viel leicht lange genug, damit Ihr ungehindert abreisen könnt.« »Und wenn nicht?« Brachts Hand berührte den Griff
seines Dolches. Ein dünnes Lächeln umspielte Menelians Lippen. »Und Ihr behauptet, ich würde Euch bedrohen?« Der Kerner gab das Lächeln kalt zurück. »In dieser Angelegenheit würde ich sagen, daß jeder, der mir nicht hilft, mein Feind ist.« »Burash, ich hatte ja schon gehört, daß die Leute in Cuan na'For sehr halsstarrig sind!« schnaubte Menelian. »Aber doch nicht so halsstarrig! Hört zu, die Jahreszeit erschwert Reisen durch Kandahar, und die Botschaft wird sich verzögern. Ich werde so viel Zeit für Euch herausholen, wie ich kann, aber wenn die Anordnungen des Tyrannen erst einmal Vishat'yi erreicht haben, wird Euch der Militärkommandant festhalten und eine Nach richt zurückschicken. Sobald sie in Nhurjabal ankommt, wird Anomius seine Kreatur freilassen, und sie wird Euch suchen.« »Zerstört sie mit Eurer Magie«, verlangte Bracht. »Da durch könnt Ihr beweisen, daß Ihr unser Freund seid.« »Das würde ich tun, wenn ich es könnte«, erwiderte Menelian, »aber ich bezweifle, daß ich diese Macht besit ze. Ein Wiedererweckter ist ein mächtiger Feind, mein Freund, und dieses Ding ist von einem Magier erschaffen worden, dessen Fähigkeiten den meinen weit überlegen sind. Magie wirkt auf die Lebenden besser als auf die Toten. Ich glaube nicht, daß ich Erfolg haben würde.« »Es gibt doch bestimmt irgendein Mittel gegen einen Wiedererweckten.« Calandryll schüttelte die kalte Furcht
ab, die ihn umklammert hielt, und forderte Bracht mit einer Geste auf zu schweigen. »Ich habe von diesen Krea turen gelesen. Es ist nicht unmöglich, sie zu besiegen, nicht wahr?« Die Frage klang wie ein kläglicher Hilferuf, und als er sie stellte, wurde ihm bewußt, daß er dem Hexer vertrau te. »Würde man sein Herz finden, dann könnte man das Geschöpf beherrschen«, räumte Menelian ein. »Aber das hält Anomius versteckt, und solange er die Gunst des Tyrannen genießt, kann niemand etwas gegen ihn unter nehmen. Ich glaube, in diesem Spiel hat er die besseren Karten, bis Sathoman ek'Hennem geschlagen ist und der Tyrann keine Verwendung mehr für Anomius hat. Der Wiedererweckte muß die Befehle seines Herrn ausfüh ren, solange dieser sein Herz hat; er hat gar keine andere Wahl, außer der Beendigung seiner Existenz. Wahr scheinlich haßt er ihn sogar, aber er muß ihm trotzdem gehorchen.« »Aber wenn ich mich richtig erinnere, besitzt ein sol ches Geschöpf keine Zauberkräfte«, sagte Calandryll. »Es muß nicht essen, trinken oder schlafen, es sei denn, es will es, und es verfügt über gewaltige Körperkräfte, aber davon abgesehen beherrscht es keine Magie.« Menelian nickte bestätigend. Bracht stieß ein zynisches Lachen aus und knurrte: »Was brauchte es auch mehr?« »Habt Ihr nicht gesagt, es wäre eine Frau?« fragte Ca
landryll. »Wißt Ihr, wie sie aussieht?« »Nein, nur daß Anomius sie zu dem gemacht hat, was sie jetzt ist.« »Aber er weiß nicht, wo wir sind.« Calandryll zwang sich, das nackte Grauen zu ignorieren, das der Gedanke an die Wiedererweckte in ihm hervorrief, und ruhig zu überlegen. »Und wenn wir Vishat'yi verlassen, bevor sie hier eintrifft, haben wir das Enge Meer zwischen ihr und uns.« »Richtig«, bestätigte der Magier. »Dann verzögert die Weiterleitung der Botschaften so lange, wie Ihr könnt«, sagte Bracht. Ein Grinsen erschien auf seinem Gesicht. »Laßt uns ungehindert nach Lysse segeln, und wir werden versuchen, unseren Vorsprung vor diesem Ungeheuer zu halten.« »Habt Ihr Euch also entschieden, mir zu vertrauen?« erkundigte sich Menelian. Bracht zuckte die Achseln. »Was bleibt mir denn sonst anderes übrig?« fragte er zurück. »Nichts, glaube ich«, erwiderte der Hexer. »Aber um Euch noch weiter zu überzeugen…« Er stand auf, ging zur Tür, rief einen Diener herbei, sprach kurz mit ihm und kehrte zum Kamin zurück. »Ich habe ihn mit der Botschaft zum Hafen geschickt«, erklär te er, »daß Ihr meiner Überzeugung nach keine Feinde seid und Quindar ek'Nyle Euch jede Unterstützung bei den Reparaturarbeiten an Eurem Kriegsboot gewähren
soll. Ich schlage vor, daß Ihr heute nacht hier bleibt. Mor gen bringe ich Euch dann wieder zum Hafen.« »Katya ist noch auf dem Boot«, murmelte Bracht be sorgt. »Ist sie dort in Sicherheit?« »Meiner Meinung nach schon«, sagte Menelian. »So weit ich weiß, sucht Anomius nur nach Euch und Ca landryll, und wie ich bereits gesagt habe, es wird eine Weile dauern, bevor die Anordnungen des Tyrannen hier eintreffen, und noch länger, bis die Rückantwort Nhurja bal erreicht.« »Wenn wir ohne Unterbrechung Tag und Nacht arbei ten, könnten wir in zwei Tagen Segel setzen«, meinte Tekkan. »Ist das schnell genug?« Der Hexer nickte. »Das dürfte reichen. Einige meiner Kollegen in Nhurjabal werden ihr Möglichstes tun, um Anomius so lange wie möglich aufzuhalten, aber ir gendwann wird er seine Kreatur trotzdem auf Euch het zen. Kurz darauf wird sie hier auftauchen, um Euch umzubringen.« »Und wenn sie feststellt, daß wir bereits verschwun den sind?« wollte Bracht wissen. »Wahrscheinlich wird sie genug Anhaltspunkte fin den, um Euch zu folgen«, sagte Menelian. »Aber dazu muß sie erst einmal das Enge Meer überqueren. Eure beste Möglichkeit besteht darin, den Vorsprung zu wah ren. Im Inneren Zirkel gibt es einige Magier, die bei einer sich bietenden Gelegenheit ihr Herz zerstören würden.« Der Kerner nickte und grinste säuerlich.
»Was ist mit Euch?« erkundigte sich Calandryll. »Werdet Ihr nicht selbst in Gefahr geraten?« »Möglich.« Menelian zuckte die Achseln. »Aber laßt das meine Sorge sein. Viel wichtiger ist, daß Ihr ent kommen könnt, um Rhythamun zur Strecke zu bringen.« Calandryll musterte den Magier. Es erstaunte ihn im mer noch, aus dieser unerwarteten Richtung Hilfe zu finden, aber jetzt war er eher bereit, ihm zu glauben. »Da ist noch etwas«, sagte er. »Die Wiedererweckte ist nicht unsere einzige Verfolgerin. Auch die Chaipaku sind hinter uns her.« »Burash!« Menelian schüttelte den Kopf und hob die Brauen. »Ihr habt Euch eine Menge Feinde gemacht. Welche Rolle spielt die Bruderschaft in diesem Spiel?« Calandryll schilderte in knappen Worten den An schlag in Mherut'yi und den Hinterhalt in Kharasul. Als er geendet hatte, seufzte Menelian und sagte: »Euer Bru der möchte Euch also tot sehen. Und nachdem so viele Chaipaku gestorben sind, werden sie Euch Blutrache schwören. Solange Ihr bei mir seid, befindet Ihr Euch allerdings in Sicherheit.« »Katya aber nicht«, gab Bracht zu bedenken. »Können wir sie holen? Oder laßt Ihr mich zu ihr gehen?« »Es ist am besten, wenn sie zu uns kommt«, erwiderte Menelian. »Wartet bittet einen Moment.« Er stand nochmals auf, rief einen Diener herbei und trug ihm auf, Katya abzuholen. Sein Gesicht war längst
nicht mehr vergnügt, sondern von Sorge gezeichnet. Falten hatten sich in seine Mundwinkel gegraben, als er wieder Platz nahm. »Ich glaube«, murmelte er düster, »daß Rhythamuns Absicht, Tharn wiederaufzuerwecken, schon jetzt Wir kung zeigt. Der Verrückte Gott beeinflußt unsere Welt selbst aus seiner Verbannung heraus.« »Wenn das stimmt, muß Balatur es dann nicht auch fühlen?« fragte Calandryll. »Oder Yl und Kyta? Wenn Tharn die Welt sogar im Traum beeinflussen kann, dann muß sein Bruder es doch auch können, und das gilt; erst recht für ihre Eltern.« »Ich glaube, daß sich Yl und Kyta nicht mehr um diese Welt kümmern«, erwiderte Menelian traurig. »Ich ver mute, daß sie überhaupt nicht mehr an die Menschen denken, seit sie in die Verbotenen Länder gegangen sind. Und Balatur? Vielleicht ist allein Eure Mission ein Beweis für seinen Einfluß.« »Das scheint mir nicht gerade sehr viel zu sein«, brummte Bracht. Menelian lächelte schwach. »Bringt Ihr den Göttern das gleiche Mißtrauen wie Hexern entgegnen?« erkun digte er sich. »Ich vertraue Ahrd, nicht Euren südlichen Gotthei ten«, entgegnete der Kerner, »und seit wir unterwegs sind, hat nur er uns Hilfe gesandt.« Menelian kniff fragend die Augen zusammen. Ca landryll erzählte, wie der Byah erschienen war, um sie
vor Varents betrügerischen Machenschaften zu warnen, und der Hexer nickte. »Ich vermute, die Jüngeren Gott heiten sind durch die Gleichgültigkeit der Menschen geschwächt worden«, sagte er. »Sie waren schon immer schwächer als ihre Vorgänger, und seit ihrer Entstehung haben wir uns immer mehr unseren eigenen Angelegen heiten zugewandt, haben vor ihren Heiligtümern nur noch Lippenbekenntnisse abgelegt. Aber trotzdem … wenn Ahrd einen Byah geschickt hat, um Euch zu war nen, dann wird Euch jetzt vielleicht auch Burash helfen, und wenn Ihr Lysse erreicht, vielleicht auch noch Dera.« »Falls wir Lysse erreichen«, murmelte Bracht mür risch. Menelian wandte sich dem Kerner zu. Sein Gesicht war ernst. »Ihr müßt!« beschwor er ihn. »Und ich werde meine ganze Kraft einsetzen, um Euch dabei zu unter stützen. Wir dürfen nicht zulassen, daß Rhythamun den Verrückten Gott wiederauferstehen läßt.« »Wir haben gelobt, ihn aufzuhalten«, sagte Bracht verdrossen, »und wenn es uns möglich ist, werden wir das auch tun. Aber wie es scheint, erhalten wir kaum Hilfe von den Göttern, obwohl Tharn sie mit Sicherheit vernichten würde.« »Oder Hilfe, die so subtil ist, daß Ihr sie nicht er kennt«, entgegnete Menelian, was den Söldner zu einem Achselzucken veranlaßte. »Wir tun, was wir müssen«, versprach Tekkan. »Was in unserer Macht steht.«
Calandryll nickte, erhob sich, ergriff seinen und Brachts Krug, ging damit zu dem Bierfäßchen und füllte sie nach. »Was bleibt uns sonst noch?« fragte er. »Aye.« Bracht nahm den Zinnkrug entgegen und trank in tiefen Zügen. »Was sonst?« »Hoffnung«, sagte Calandryll und wurde sich bewußt, daß ihn die düstere Schwermut verlassen hatte. Statt ihrer verspürte er jetzt wieder grimmige Entschlossen heit. Er fragte sich, ob Menelian das mit einem Zauber bewirkt hatte, verneinte die Frage aber gleich wieder. Der typische Geruch der Magie fehlte, und der Hexer wirkte genauso bekümmert – und aufmerksam! – wie sie alle. Vielleicht lag sein Stimmungsumschwung an der Er kenntnis, daß Menschen, die er vorher für Feinde gehal ten hatte, ihm jetzt zu Hilfe kamen, daß es selbst unter den Hexern des Tyrannen Verbündete gab. Er war sich nicht sicher, woran es lag, aber er wußte, daß er sich jetzt allen Gefahren und Risiken zum Trotz zuversichtlicher fühlte. »Ich trinke auf die Hoffnung«, sagte er und hob seinen Krug. »Auf die Hoffnung«, stimmte Tekkan ein. »Aye«, sagte Menelian. »Auf die Hoffnung und den Sieg.« Bracht schloß sich ihnen etwas langsamer an, hob sei nen Krug und murmelte: »Auf die Hoffnung und den Sieg.« In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und
Calandryll erkannte den Grund für Brachts Zögern. Ka tya trat ein. Sie trug einen vom nächtlichen Nebel feuch ten Mantel und hatte die Kapuze zurückgeschlagen, so daß ihre flachsblonde Haarpracht zu sehen war. Ihre grauen Augen wirkten ernst, aber dann hellte sich ihre Miene auf, als sie lächelte und sagte: »Sieh an. Während ich mich nützlich mache, sitzt ihr drei gemütlich hier und trinkt Bier.« Menelian erhob sich und verbeugte sich galant. Bracht war bereits aufgesprungen. Sein mürrischer Gesichtsaus druck war verschwunden, von ihrem Lächeln fortge spült. »Wir haben uns über die Chaipaku unterhalten«, sagte er, »und ich habe Angst bekommen, sie könnten…« »… mich erwischen?« unterbrach ihn die Kriegerin. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nicht so schnell. Nicht inmitten all meiner Leute. Und dann auch noch in Ge genwart all der Soldaten dieses hochnäsigen Militär kommandanten? Setz dich wieder, Bracht. Nein, warte! Wenn du schon stehst, kannst du mir auch gleich einen Krug Bier und einen Teller mit etwas von diesem Fleisch bringen.« »Meine Tochter, Katya«, stellte Tekkan vor. »Katya, das ist Menelian, ein Hexer in den Diensten des Tyran nen.« Sie lächelte den Magier an und murmelte eine Begrü ßung. Als sie ihren Mantel nachlässig über einen Stuhl legte und neben ihrem Vater Platz nahm, hatte Ca
landryll den Eindruck, daß sie die Beflissenheit des Ker ners genoß, der gehorsam einen Teller mit Fleisch belud, einen Krug mit Bier füllte und ihr beides brachte, als wäre er ein Kellner oder ein verliebter Bauerntölpel. Auch der Hexer musterte sie mit offener Bewunderung. »Ich danke dir«, sagte sie, nahm ihm Krug und Teller aus den Händen und streckte die Beine in ihren ledernen Hosen dem Feuer entgegen. Das Licht schimmerte hell auf den feinen Metallringen ihrer Halsberge. »Das ist bedeutend besser als das, was Quindar zu bieten hat.« »Quindar?« fragte Bracht in einem Tonfall, der sein Befremden darüber verriet, mit welcher Beiläufigkeit sie den Vornamen des Militärkommandanten benutzte. »Aye, Quindar ek'Nyle.« Katya lächelte. »Und er ist äußerst hilfsbereit, seit er die Nachricht von Menelian bekommen hat.« Der Zauberer brachte selbst im Sitzen noch eine voll endete Verbeugung fertig und sagte: »Ich biete Euch jede mögliche Hilfe an, meine Dame.« »Und das ist eine ganze Menge, nehme ich an.« Katyas Lächeln war strahlend, und Calandryll sah, wie sich Brachts Gesicht vor Ärger und Eifersucht rötete, als Me nelian zurückstrahlte. Undeutlich, als müßte er es aus längst vergessenen Tiefen seines Geistes ausgraben, erin nerte er sich, daß er einmal die gleiche Eifersucht ver spürt hatte, als eine vermeintlich große Liebe Nadama den Ecvin seinen Bruder Tobias derart angelächelt hatte. Jetzt war Nadamas Gesicht nur noch ein verschwomme
ner Schemen vor seinem inneren Auge, und er verspürte eine schwache Besorgnis, Brachts Gefühle für Katya könnten ihre Mission gefährden, als sie sagte: »Seit Euer Diener Eure Botschaft überbracht hat, hat Quindar uns volle Bewegungsfreiheit im Hafen bewilligt. Er hat seine Leute sogar angewiesen, uns zu helfen, und jetzt werden überall Laternen aufgehängt, und die Reparaturarbeiten haben bereits begonnen.« »Das sind gute Neuigkeiten«, sagte Tekkan. »Aye.« Katya nickte, warf Bracht einen kurzen Seiten blick zu und fügte hinzu: »Obwohl ich lieber auf dem Kriegsboot geblieben wäre, als mit Quindar zu Abend zu essen.« Calandryll sah, wie die Röte in Brachts Gesicht noch tiefer wurde und seine Kiefermuskeln hervortraten, als er die Zähne zusammenbiß. Unter anderen Umständen hätte ihn eine solch theatralische Reaktion von einem Mann, der gewöhnlich beherrscht und verschlossen war, belustigt, jetzt aber verspürte er nur Enttäuschung über den Söldner und über das Spiel, das Katya zu spielen schien. »Wir haben neue Informationen«, sagte er in einem so unheilverkündenden Tonfall, daß Katyas Gesicht sofort wieder ernst wurde. Menelian schilderte ihr knapp und bündig, worüber sie gesprochen hatten, und seine Worte ließen das Lä cheln auf ihren Lippen gefrieren. Ihre grauen Augen umwölkten sich. Als er geendet hatte, nickte sie und
sagte ernst: »Wenn alles gutgeht, können wir in knapp zwei Tagen wieder in See stechen.« »Das sollte ausreichen«, erwiderte der Hexer. »Wenn uns die Götter gewogen sind, werdet Ihr abgereist sein, bevor Quindar den Befehl erhält, Euch festzunehmen.« Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Und was das andere Problem betrifft, werde ich tun, was ich kann, um die Verfolgung zu verzögern.« Die furchtbare Bedrohung durch die Wiedererweckte hatte Katyas kokette Fröhlichkeit weggewischt. Ihr Lä cheln war nicht mehr strahlend, sondern grimmig, und Calandryll bemerkte, daß sie ein Schaudern unterdrück te. Trotzdem überraschte es ihn, daß sie Bracht und nicht Menelian ansah, als sie murmelte: »Ich hätte nicht ge dacht, daß es solche Kreaturen tatsächlich gibt. In Vanu sind das lediglich Geschichten, mit denen man Kinder ängstigt.« Der Kerner und der Kander begannen, gleichzeitig zu sprechen. »Wenn Ahrd will, werden wir sie abhängen…«, sagte Bracht. »Sie sind äußerst selten«, sagte Menelian. »Sie werden nur von den verkommensten Wahnsinnigen erschaf fen…« »… und dann wahrscheinlich den Vorsprung vor ihr halten können«, fuhr Bracht fort. »… und ich werde meine magischen Kräfte einsetzen, um sie zu verwirren«, fuhr Menelian fort.
»Und sollte sie uns doch einholen, werde ich sie ir gendwie erschlagen«, versprach Bracht. »Obwohl ich sie wahrscheinlich von Eurer Spur fern halten kann«, versicherte Menelian. »Könnte ich Euch doch nur begleiten, um Euch zu beschützen!« Calandrylls Blick wanderte von dem Söldner zum He xer und wieder zurück. Er war hin- und hergerissen zwischen Belustigung und Verstimmung. Hatte auch er einst mit seinem Bruder so um die Gunst einer Frau ge wetteifert? Begriffen sie denn nicht, daß die Bedeutung ihrer Mission Katyas Lächeln in den Schatten stellte? Oder würden sie beide solange weiter balzen, bis die Wiedererweckte hier auftauchte oder Xenomenus' Befehl eintraf, die Fremden gefangenzunehmen und nach Nhur jabal zu schicken? Würde Katya das zulassen? Sie beantwortete seine unausgesprochenen Fragen mit einem herzhaften Gähnen. »Entschuldigt, bitte«, sagte sie, »aber ich habe hart gearbeitet, während ihr euch unterhalten habt, und jetzt bin ich todmüde.« Menelian sprang sofort auf. »Ich habe Zimmer für Euch, obwohl ich Euch bitten möchte, noch einen Au genblick zu bleiben. Euer Vater hat von einem magischen Stein gesprochen…« Katya sah Tekkan fragend an, und als er nickte, zog sie das mattrote Bruchstück unter ihrem Hemd hervor. »Ist er das?« Der Zauberer trat näher an sie heran, und seine Augen glitten von dem Stein über ihren Hemdkra gen zu ihrem gebräunten Hals. »Darf ich?« fragte er und
streckte eine Hand aus, worauf sich Brachts Gesicht ver finsterte. Katya neigte den Kopf, und Menelian berührte den Stein. Er schloß kurz die Augen. Zwischen seinen Fin gern schimmerte ein schwaches rotes Licht auf und er losch wieder, als der Zauberer die Hand zurückzog. »Ein wirklich seltenes Stück«, sagte Menelian leise, »und es dient nur einem einzigen Zweck. Die Heiligen Männer Vanus müssen über große Kräfte verfügen. Wie Ihr gesagt habt, das ist ein Magnetstein, der auf Magie reagiert. Niemand in Kandahar könnte einen solchen Gegenstand herstellen.« »Zeigt er uns den richtigen Weg?« fragte Bracht rauh und sah den Magier dabei mit mühsam unterdrückter Wut an. »Er steht mit einem anderen in Verbindung«, erwider te Menelian in Brachts Richtung, ohne den Blick von Katya zu nehmen, die den Stein unter ihr Hemd zurück schob. »Und zwar so, daß er Euch mit Sicherheit als zu verlässiger Wegweiser dient.« »Also nach Lysse«, sagte Bracht. »Fort von hier.« »Es scheint so«, stimmte Menelian zu. In seiner Stim me klang eine Spur von Bedauern auf, während er Katya ansah. Dann lächelte er und ließ den Blick über die drei Männer wandern. »Gestattet mir, Euch Eure Zimmer zu zeigen. Es ist wirklich schon sehr spät.« »Aye.« Tekkan stand auf. Sein wettergegerbtes Gesicht war ernst. »Und wir sollten am besten so früh wie mög
lich aufbrechen.« »Dann folgt mir, bitte.« Menelian bot Katya seinen Arm an. »Ich habe genügend Zimmer für Euch alle. Vier?« Die Kriegerin warf Bracht einen flüchtigen Blick zu und sagte leichthin: »Aye, vier.« Bracht sah mit düsterer Miene zu, wie sie den angebo tenen Arm des Hexers ergriff. Menelian führte sie in den ersten Stock, wo die Zim mer nebeneinander auf der Rückseite des Hauses lagen. Sie hatten hohe Fenstertüren, durch die man auf Balkone gelangen konnte, die auf einen Garten hinausgingen. Das verblassende Mondlicht schien auf Nebelschwaden, die über prächtige Büsche und geflieste Gehwege krochen. Calandryll war todmüde und wollte nur noch in das breite Bett fallen und schlafen. Mittlerweile zweifelte er nicht länger an Menelians Aufrichtigkeit. Die Morgen dämmerung war nicht mehr fern, der Nachthimmel wurde bereits milchig, und Calandryll wußte, daß er bei Sonnenaufgang schon wieder auf den Beinen sein mußte. Bei den Instandsetzungsarbeiten des Kriegsbootes wurde jede Hand benötigt, und je eher sie damit fertig waren, desto schneller konnten sie Vishat'yi den Rücken kehren, Kandahar verlassen und die Verfolgung Rhythamuns wieder aufnehmen. Calandryll schnallte seinen Schwertgürtel ab und warf die Waffe auf das Bett, neben dem ein Tisch mit einer Wasserschüssel stand. Er spritzte sich etwas Wasser ins
Gesicht und seufzte. Seine Augenlider waren schwer, seine Glieder fühlten sich bleiern an, und er wünschte sich nur noch zu schlafen. Zumindest würde er ein oder zwei Tage lang diesen Luxus genießen können, ohne sich fürchten zu müssen, dachte er. Danach würde er sich Gedanken über Anomius' Kreatur machen müssen, dar über, wie weit sie noch entfernt war und welche Gestalt sie haben mochte. Er trocknete sich das Gesicht ab und versuchte, sich zu erinnern, was er über die Wiederer weckten wußte, über ihre Stärken und die Schwachpunk te, mit denen man sie ausschalten konnte. Die Texte, die ihm einst so wichtig gewesen waren, schienen ihm jetzt, nach allem, was sich seit seiner Flucht aus Secca ereignet hatte, verschwommen, als wären sie wie der Garten un ter ihm in Nebel getaucht. Er gähnte ausgiebig und beschloß, seine Sorgen vorerst beiseite zu schieben und Zuflucht im Schlaf zu suchen. Als die Zimmertür sich öffnete, fuhr er hoch und stell te verblüfft fest, daß er das gezogene Schwert in der Hand hielt, dessen Spitze genau auf Brachts Bauch ge richtet war. »Dera!« knurrte er, alles andere als erfreut über diese Störung. »Fast hätte ich dich durchbohrt.« Bracht zuckte die Achseln. »Möglich. Ich habe dich gut ausgebildet.« Er schob die Klinge zur Seite, trat an das Fenster, stützte sich auf den Rahmen und starrte trübsin nig hinaus. Er wirkte merkwürdig in sich zusammenge sunken, als laste ein großes Gewicht auf seinen Schultern.
Calandryll seufzte und schob sein Schwert zurück in die Scheide. »Bist du nicht müde?« fragte er. »Aye.« Der Kerner wandte sich von seiner Betrach tung des Gartens ab und setzte sich neben Calandryll auf das Bett. »Aber ich möchte mich noch eine Weile mit dir unterhalten, bevor ich schlafen gehe.« Calandryll begriff, daß Bracht sich etwas von der Seele reden mußte, und er fand sich damit ab, in dieser Nacht nur wenig oder überhaupt keinen Schlaf mehr zu finden. »Und worüber?« »Über unsere Mission«, erwiderte der Kerner. »Und über Menelian.« Calandryll unterdrückte das Gähnen, das in ihm hoch stieg, und forderte Bracht mit einer Handbewegung auf, sich präziser auszudrücken. Der Söldner lehnte sich zurück, hakte eine Ferse in die Bettkante und verschränkte die sehnigen Hände um das Knie. »Vertraust du ihm?« wollte er wissen. Calandryll nickte. »Aye. Ich sehe keinen Grund, wa rum wir ihm nicht trauen sollten. Ich habe gedacht, du hättest dich mittlerweile zu der gleichen Ansicht durch gerungen.« »Er ist ein Magier«, murmelte Bracht, als wäre das Antwort genug. »Aber einer, der uns vor Gefahr warnt. Einer, der uns dabei hilft, das Kriegsboot zu überholen. Einer, der an scheinend bereit ist, sein Leben zu riskieren, um uns zu
unterstützen.« Bracht nickte widerstrebend, aber nach wie vor stan den Zweifel in sein dunkles Gesicht geschrieben. »Wieso tut er das?« fragte er. »Alle Zauberer, denen wir bisher begegnet sind, haben versucht, uns für ihre eigenen Zwe cke einzuspannen. Zuerst Rhythamun, dann Anomius. Warum sollte dieser anders sein?« »Vielleicht genau aus dem Grund, den er uns genannt hat«, meinte Calandryll. »Weil er genausowenig wie du oder ich will, daß der Verrückte Gott zurückkehrt. Weil er dem Tyrannen dient, und wenn Rhythamun Erfolg hat, dann würden wahrscheinlich alle Tyrannen, Domms, Khans und Könige gestürzt werden. Es liegt in seinem eigenen Interesse, das zu verhindern.« »Mag sein«, räumte Bracht ein, »aber…« »Dera!« Calandryll schüttelte den Kopf, fassungslos über eine derartige Uneinsichtigkeit. »Wenn er versuchen würde, selbst in den Besitz des Arcanums zu gelangen, warum sollte er dann ek'Nyle anweisen, uns bei den Reparaturarbeiten an unserem Boot zu helfen? Würde er nicht seine Magie benutzen, um uns hier festzuhalten und alles Wissen aus unseren Köpfen herauszuholen? Ich bin sicher, daß er das mit Leichtigkeit tun könnte, aber er hat es nicht getan. Im Gegenteil, er versucht, unseren Aufbruch zu beschleunigen.« Bracht brummte unwillig. »Das wird sich noch erwei sen«, sagte er mürrisch. Calandryll musterte das finstere Gesicht seines Ge
fährten und spürte, daß es noch einen anderen Grund für die Zweifel des Kerners gab. »Das wird es«, stimmte er zu. »Wenn Menelian uns bei den Instandsetzungsarbei ten hilft, werden wir Vishat'yi schon bald verlassen. Sobald der Tag angebrochen ist, gehen wir zum Hafen hinunter und überzeugen uns selbst von den Fortschrit ten.« »Und in der Zwischenzeit?« fragte Bracht. »Sollen wir weiter hier bleiben? Als seine Gäste?« Die Erkenntnis dämmerte Calandryll langsam, als er sich daran erinnerte, was er beim Anblick von Nadama und Tobias empfunden hatte. Er spürte einen Augenblick lang Ärger in sich aufsteigen, der sofort in Belustigung überging. Bracht fühlte sich durch die Aufmerksamkeit, die Menelian Katya entgegengebracht hatte, und durch ihre Reaktion darauf verunsichert. Calandryll kam sich plötzlich auf eine seltsame Art gereift vor und legte dem Kerner eine Hand auf die Schulter. Zwischen ihnen hatte ein merkwürdiger Rollentausch stattgefunden. »Du glaubst nicht wirklich, daß Menelian uns betrü gen wird«, sagte er sanft. »Nein«, gab Bracht zu, »nicht wirklich. Aber…« »Und kannst du dir vorstellen, daß Katya unsere Mis sion verraten könnte?« Der Kerner schüttelte den Kopf und starrte verkniffen auf die gegenüberliegende Wand. »Sie hat gelobt, das Arcanum nach Vanu zu bringen, damit die Heiligen Männer es zerstören können«, sagte
Calandryll. »Aye.« Bracht nickte. »Aber…« »Aber was?« wollte Calandryll wissen. »Sie kennt dei ne Gefühle und hat sie nicht zurückgewiesen, hat dich nur gebeten, sie nicht zu bedrängen, bis wir unsere Auf gabe beendet haben.« Wieder gab Bracht ihm mit einem Nicken recht, aber diesmal drehte er sich zu ihm um, und Calandryll ent deckte ernsthafte Besorgnis in den Augen des anderen. »Dieser Menelian ist ein gutaussehender Mann«, stell te der Kerner betrübt fest. »Aye.« Calandryll unterdrückte ein Lachen und ließ seine Stimme ernsthaft klingen. »Und reich, darauf wür de ich wetten. Außerdem noch kultiviert.« »Er bewundert sie«, sagte Bracht. »Ist dir aufgefallen, wie er sie angesehen hat?« »Allerdings«, bestätigte Calandryll, »und ich glaube, sie hat diese Aufmerksamkeit genossen. Bestimmt ist auch Quindar ek'Nyle von ihr beeindruckt gewesen.« »Wer wäre das nicht?« fragte Bracht verdrossen. »Sie ist schön.« »Das ist sie«, stimmte ihm Calandryll zu, immer noch ernst. »Ich liebe sie«, bekannte Bracht. »Das weiß sie«, erwiderte Calandryll. »Warum hat sie dann…?« wollte der Kerner wissen, aber Calandryll brachte ihn mit einer Handbewegung
zum Schweigen. »Warum sie solche kleinen Aufmerksamkeiten nicht zurückweist? Warum sie ek'Nyle nicht verärgert, indem sie es ablehnt, mit ihm zu essen? Warum sie auf Meneli ans Lächeln nicht mit einem finsteren Blick antwortet oder den Arm verschmäht, den er ihr anbietet?« »Aye«, bekräftigte Bracht mit Inbrunst. »Weil sie es genießt«, sagte Calandryll. Er konnte das Lachen nicht länger zurückhalten. »Dera, Mann! Sie hat mehr als ein Jahr auf diesem Kriegsboot zugebracht. Glaubst du etwa, sie hätte keinen Liebhaber unter der Besatzung finden können, wenn sie das gewollt hätte?« Bracht sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Doch.« »Aber das hat sie nicht getan«, fuhr Calandryll fort. »Und obwohl es für jeden, der Augen ihm Kopf hat, offensichtlich ist, daß sie deinen Antrag angenommen hat, hat sie dir das Versprechen abgerungen, dich bis zum Ende unserer Mission zurückzuhalten. Glaubst du denn wirklich, daß sie jetzt abtrünnig wird, nur weil Menelian ihr das eine oder andere Kompliment gemacht hat?« »Ich…«, begann Bracht und hob dann hilflos die Schultern. »… bin eben manchmal ein Trottel«, beendete Ca landryll den Satz für ihn. »Ich glaube nicht, daß sich Katya von Reichtum oder Macht verführen läßt. Ich glaube, sie ist eine Frau, die ihre Entscheidungen selbst trifft, und die hat sie in diesen Dingen bereits getroffen.«
»Ehrlich?« fragte Bracht. »Ehrlich«, erwiderte Calandryll. »Und zwar zu deinen Gunsten.« Die Andeutung eines zaghaften Lächelns umspielte die Lippen des Kerners. »Ich fühle mich in den Steppen von Cuan na'For mehr zu Hause als in dieser Umge bung«, sagte er langsam und machte eine ausholende Geste, die das Zimmer und das ganze restliche Haus einschloß. »Ich vermute, daß es Katya genauso gehen würde«, sagte Calandryll. »Dann glaubst du also, daß ich nichts zu befürchten habe?« Calandryll starrte den Söldner an und schüttelte sich vor Lachen. »Abgesehen von den Soldaten des Tyrannen, den Chaipaku, Rhythamun, Anomius und seiner Wie dererweckten«, kicherte er, »nein. Überhaupt nichts.« Bracht starrte mit todernstem Gesicht zurück, aber dann begann auch er zu lachen. »Dann ist ja alles in Ord nung«, sagte er. »Gut.« Calandryll schüttelte den Kopf, gleichermaßen erstaunt wie belustigt, daß Bracht bei allen Gefahren, denen sie ausgesetzt waren, gerade dieses Problem so beunruhigend finden konnte. War es ihm früher auch einmal so wichtig gewesen, was eine Frau für ihn emp fand? »Also, können wir jetzt endlich schlafen?« Der Söldner nickte vergnügt, stand auf und warf einen
Blick aus dem Fenster. Draußen trieben noch immer Nebelschwaden, der Himmel hatte einen stumpfen grau en Farbton angenommen. »Es hat allerdings nicht mehr viel Sinn«, sagte. »Es dauert nicht mehr lange, bis die Sonne aufgeht.« Calandryll stöhnte und streckte sich auf dem Bett aus, ohne sich vorher auszuziehen. Er war entschlossen, noch so viel Schlaf wie möglich abzubekommen.
KAPITEL 4 Der Nebel, der in den frühen Morgenstunden aufge kommen war, trieb bei Sonnenaufgang in dicken Schwa den durch Vishat'yi und lag wie ein feuchtes grauweißes Tuch über der Felsschlucht, an deren Hänge sich die Stadt schmiegte. Es bedeckte sowohl die Erhebungen mit ihren Katapulten wie auch den Hafen in der Mündung des Yst. Die Straßen sahen wie düstere gespenstische Schluchten aus, als Calandryll und seine Gefährten Me nelians Haus verließen, hier und da vom schwachen roten Widerschein der Herdfeuer und Lampen erhellt, wo ein wenig Licht durch die geschlossenen Fensterläden oder Ritzen in den Türen fiel. Die spärlichen Laternen konnten den Dunst kaum durchdringen, der die Schritte der Gefährten verschluckte, als sie zum Hafen hinunter stiegen. Calandrylls Augen waren durch den Schlafman gel gerötet. Er zog den Mantel, den Menelian ihm gege ben hatte, enger um sich und dankte ihm in Gedanken noch einmal für das reichhaltige Frühstück, das ihn nach seinem Erwachen erwartet hatte. Das warme Essen und der bittere Kräutertee, den die Kander zu dieser Tages zeit bevorzugten, hatten dazu beigetragen, seine Müdig keit zu vertreiben, so daß er schließlich in der Lage gewe sen war, eine vernünftige Unterhaltung zu führen, auch
wenn er es nicht mit der Fröhlichkeit der anderen hatte aufnehmen können. Bracht, durch ihr Gespräch anschei nend aufgemuntert, zeigte wieder sein unerschütterliches Selbstbewußtsein, Tekkan und Katya waren in den Ge nuß von mehreren Stunden Schlaf gekommen, und Me nelian strahlte eine Energie aus, die er, wie Calandryll vermutete, aus magischen Quellen bezog. Der Zauberer verzichtete auf eine Eskorte, bat sie, einen Moment lang vor dem Tor seines Hauses zu warten und murmelte leise vor sich hin, während er mit den Händen ein Mus ter in die Luft zeichnete, worauf ein heller Strahlenkranz aus silbrigem und gelblichem Licht erschien, das die Dunkelheit besser als jede Laterne durchdrang. Mit Hilfe dieser Lichtquelle, die ihnen vorauseilte, führte er sie zielstrebig und sicher durch den Nebel, über schmale Treppenfluchten hinab und durch gewundene Gassen zum Hafen, wo mattes Fackellicht schimmerte und ge dämpfte Geräusche vom Kai her aufklangen. Er ging voraus, Katya auf der einen, Tekkan auf der anderen Seite. Calandryll und Bracht bildeten die Nachhut, die Hände auf die Griffe ihrer Schwerter gelegt. Ihre Köpfe wanderten ständig hin und her. Auch wenn sie unter dem Schutz eines Hexers standen, erschien es ihnen bei diesen schlechten Sichtverhältnissen doch ratsam, auf einen möglichen Angriff vorbereitet zu sein. Der Anblick von Quindar ek'Nyle, der an der Spitze eines Trupps von Soldaten in Rüstungen wartete, wirkte beruhigend. Er begrüßte Katya mit einer tiefen Verbeu gung; die Begrüßung der anderen fiel flüchtiger aus.
»Eure Landsleute arbeiten hart«, sagte er an Katya gewandt, warf aber Menelian dabei einen Seitenblick zu. »Seit die entsprechende Anweisung hier unten ange kommen ist, haben sie keine Pause eingelegt.« Katya lächelte huldvoll. »Ich möchte nicht, daß potentielle Verbündete länger als unbedingt nötig aufgehalten werden, Kommandant«, erklärte Menelian. »Verbündete?« Ek'Nyle verzog fragend das melancho lisch wirkende Gesicht. »Allerdings«, behauptete der Hexer. »Wie ich Euch habe ausrichten lassen, ist Lord Calandryll ein lyssiani scher Prinz und könnte durchaus seinen Vater – den Domm von Secca! – überreden, uns Schiffe gegen die Rebellen zur Verfügung zu stellen.« Der Blick des Militärkommandanten wanderte zu Ca landryll, der nickte und dachte, daß diese Erklärung, die sie sich beim Frühstück hatten einfallen lassen, genauso gut wie jede andere war, um diese Eile bei den Arbeiten zu rechtfertigen. »Genau. Wie Ihr wißt … Quindar, bauen Secca und Aldarin eine Flotte auf, um unsere Handelsseewege zu sichern. Diese Schiffe könnten sehr wohl eingesetzt wer den, um Euch im Kampf gegen diesen lästigen Rebellen lord zu unterstützen.« Es fiel Calandryll nicht schwer, den etwas gelangweil ten und schleppenden Tonfall eines eingebildeten kleinen Prinzen anzunehmen, da in seinem Kopf noch der glei
che Nebel wie in der Luft um ihn herum herrschte, und sein gekünsteltes Lächeln war nicht nur gespielt. »Aye.« Ek'Nyle neigte den Kopf. Von dem Feder kamm, der seinen Helm zierte, sprühten Tautröpfchen. »Ich hoffe, Ihr vergebt mir mein früheres Mißtrauen, Lord Calandryll. Ich konnte nicht wissen…« Calandryll machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das spielt keine Rolle mehr, nachdem wir uns jetzt richtig verstehen.« Ek'Nyle rang sich ein Lächeln ab. »Dürfte ich Euch ei nen wärmeren Aufenthaltsort anbieten?« »Ich bleibe bei meinem Boot«, sagte Tekkan. »Ich auch«, schloß sich Katya ihrem Vater an. »Ich denke, ich werde auch hierbleiben«, sagte Ca landryll. Dann fiel ihm ein, daß es ratsamer wäre, seine Rolle weiterzuspielen, und er fügte hinzu: »Zumindest vorerst. Die Arbeit könnte sich als recht interessant er weisen.« »Wie Ihr wünscht.« Ek'Nyle verbeugte sich, aber auf seinem Gesicht spiegelte sich Neugier wider. »Ich über lasse Euch alles weitere – ich muß meinen Pflichten nachkommen.« »Dann tut das, Quindar«, sagte Menelian. »Ich werde dafür sorgen, daß unsere Gäste alles bekommen, was sie benötigen.« Nach einem kurzen Zögern, als wäre er sich immer noch unschlüssig, nickte der Offizier und winkte seinen
Männern, ihm zu folgen. Kurz darauf hatte der Nebel sie verschluckt, und das Trommeln ihrer Stiefel auf dem Steinpflaster wurde schnell leiser, wie Schritte, die in einem Tunnel ver schwanden. Menelian lächelte und deutete auf die Laternen. »Jetzt könnt Ihr Euch also frei im Hafen bewegen. Wollen wir uns ansehen, wie die Arbeit voranschreitet?« Wieder bot er Katya seinen Arm an, und Calandryll registrierte erleichtert, daß Bracht die Geste ohne Verär gerung akzeptierte. Er folgte dem Hexer den Pier ent lang. Kohlenpfannen markierten den Rand mit ihrem schwachen Schein, Wellen schwappten leise gegen die Kaimauer. Einige Schritte weiter durchdrang helleres Licht den alles bedeckenden Nebel. Es kam von größeren Kohleöfen, die an drei Seiten einer Aussparung im Kai standen, und von Lampen, die über diesem Schacht hin gen. Calandryll erkannte, daß es sich um ein Trocken dock handelte, dessen Schmalseite zum Wasser hin mit einer massiven Holzwand versperrt war, und in ihm stand das Kriegsboot auf seinem Kiel, gestützt durch ein Gerüst dicker Stangen. Die Vanuer huschten wie emsige Ameisen um den Rumpf herum, und ihre Geschäftigkeit rief ein Schuldgefühl in Calandryll hervor, obwohl er selbst kaum geschlafen hatte. Der Geruch von erhitztem Teer vermischte sich mit dem der glühenden Kohlen, der salzigen Hafenluft und dem aromatischeren Geruch frisch geschnittenen Holzes, das von den Zimmermän
nern zersägt wurde. Zum Summen der Sägeblätter gesell te sich das dumpfe Pochen von Hämmern und die träl lernden Stimmen der Vanuer. »Anscheinend gibt es keine Probleme«, stellte Meneli an fest. Tekkan brummte eine Antwort. Seine Aufmerksam keit galt mehr seinem Boot als der Bemerkung des Ma giers. Er stieg die Stufen hinab, die in das Trockendeck hinunterführten. Nach einer Weile kehrte er mit einem zufriedenen Ausdruck auf seinem wettergegerbten Gesicht zurück. »Der Militärkommandant hat Euch beim Wort genom men«, sagte er. »Wenn keine unvorhersehbaren Schwie rigkeiten auftreten, können wir morgen früh in See ste chen.« »Ausgezeichnet.« Menelian lächelte erfreut und wand te sich Katya zu. »Obwohl ich zugeben muß, daß ich eine so angenehme Gesellschaft nur ungern wieder verliere.« »So ist nun mal der Lauf der Dinge.« Katya bedachte ihn mit einem zurückhaltenden Lächeln und schlang den Mantel enger um ihre Schultern, so daß sie seinen ihr dargebotenen Arm nicht ergreifen konnte. Calandryll sah Bracht grinsen. »Was können wir tun?« fragte er. »Nicht viel«, sagte Tekkan. »Hier wird Erfahrung im Bootsbau benötigt, und ungeschickte Hände wären eher hinderlich als hilfreich.«
»Dann könnte ich Euch vielleicht einen Vorschlag ma chen«, erbot sich Menelian. »Dieser Nebel wird sich noch eine Weile halten, und in meinem Haus ist es bedeutend gemütlicher als in diesem kalten Hafen. Außerdem habe ich eine kleine Bibliothek, in der wir vielleicht Hinweise darauf finden können, wie Anomius' Kreatur besiegt werden kann. Sollen wir dorthin zurückkehren?« »Ich bleibe lieber hier«, sagte Tekkan. »Es ist besser, wenn wir drei zusammenbleiben«, meinte Bracht. Seine Stimme klang beiläufig, aber seine Augen suchten Katya. »Ist das sicher?« erkundigte sich Calandryll zweifelnd. »Sollten wir nicht lieber alle in der Nähe des Hafens bleiben?« Menelian zuckte die Achseln. »Ich glaube, Ihr seid in meiner Gegenwart sicher genug, und auf meinem Grundstück kann ich Euch noch besser schützen.« »Wir haben Bogenschützen hier«, pflichtete ihm Tek kan bei. »Das müßte ausreichen, um das Kriegsboot ge gen einen möglichen Angriff zu verteidigen. Ich glaube, unser Freund hat recht, und ich habe genügend Leute zur Verfügung, so daß es keinen Unterschied macht, ob ihr bleibt oder nicht.« »Ihr seid hier anscheinend überflüssig.« Menelian lä chelte die drei Gefährten an, aber seine Bemerkung war eindeutig an Katya gerichtet. »Ich wiederhole mein An gebot.« Die Kriegerin blickte ihren Vater fragend an. Die bei
den unterhielten sich kurz in ihrer Muttersprache, dann wandte sich Katya dem Hexer zu und sagte: »In Ord nung. Gehen wir zurück, und sehen wir uns Eure Biblio thek an.« Menelian verbeugte sich und drehte sich zu Tekkan um. »Quindar ek'Nyle wird Euch alles besorgen, was Ihr verlangt«, sagte er, »und solltet Ihr mir irgend etwas ausrichten wollen, braucht Ihr ihm nur Bescheid zu sa gen.« »Ich glaube, wir haben alles, was wir brauchen.« Der Kapitän deutete auf das Material und die Geräte, die um das Dock herum lagen. »Dann laßt uns gehen«, schlug der Zauberer vor und drehte sich mit wehendem Mantel um. Die dichte Nebeldecke hielt sich bis in den späten Vormittag über der Stadt, und zu diesem Zeitpunkt war Calandryll bereits zu der Überzeugung gelangt, daß Menelians Bibliothek kaum Informationen über Nekro mantie und ihre Geschöpfe enthielt. Er und der Hexer hatten stundenlang die Regale nach entsprechenden Schriften durchsucht, bisher aber nur ein paar ver schwommene Hinweise gefunden, die eher Sagen und Legenden entstammten, als daß sie verläßliche Tatsachen wiedergaben. Bracht, der nicht lesen und schreiben konn te, und Katya, die die kandische Schrift nicht beherrschte, übten im Garten mit den Schwertern. Das Klirren der aufeinanderprallenden Klingen war nur gedämpft zu
hören, bis sich die Wintersonne endlich einen Weg durch den Nebel gebahnt hatte und Diener die Fensterläden öffneten. Menelian rollte das Pergament zusammen, in dem er gelesen hatte, schob es zur Seite und blickte aus dem Fenster. Durch das dicke Glas wirkten die Gestalten im Garten merkwürdig verzerrt wie Traumbilder. Die kräf tiger werdende Sonne funkelte auf Katyas Kettenhemd und ihrer tanzenden Klinge. Im Vergleich mit dem schwarzgekleideten Kerner schien sie völlig aus Gold und Silber zu bestehen, und ihr Lachen klang hell und klar, als sie eine Attacke parierte. »Für eine solche Frau wäre ein Mann bereit zu ster ben«, murmelte der Hexer. »Ich bin noch nie einer wie ihr begegnet.« »Bracht auch nicht.« Calandryll legte ein kunstvoll ge trocknetes Blatt zwischen die elfenbeinfarbenen Seiten eines in rissiges Leder gebundenen Buches und folgte dem Blick des Zauberers. »Ist sie schon versprochen?« Menelians Stimme klang wehmütig. Calandryll nickte. »In gewisser Weise. Bracht bean sprucht sie für sich, aber bis wir unsere Mission erfüllt haben, wird Katya keinen Antrag von irgendeinem Mann annehmen. Nicht, bevor das Arcanum zerstört und die Bedrohung durch Rhythamun beseitigt ist.« Der Hexer lächelte. »Dann besteht also noch Hoff nung.«
»Ihr würdet es mit Brachts Schwert zu tun bekom men«, warnte Calandryll, »und ich glaube, daß Katya sich bereits entschieden hat.« »Schwertklingen können mir nicht viel anhaben«, er widerte Menelian gedankenverloren, doch sein Lächeln war nicht mehr ganz so zuversichtlich. »Aber wenn sie ihre Wahl bereits getroffen hat…« Calandryll zuckte die Achseln. Es war ihm kaum in den Sinn gekommen, daß Zauberer die gleichen alltägli chen Gefühle wie ganz normale Menschen haben könn ten, aber so wie dieser Hexer sehnsüchtig die Kriegerin betrachtete, zeigte er die gleichen Gefühle, die Calandryll bei Bracht beobachtet hatte. Wahrscheinlich die gleichen Gefühle, dachte Calandryll, die ich gezeigt habe, als ich in Nadama verliebt war. Menelians Stimme klang nachdenklich, während er die beiden Kämpfenden beobachtete. »Die Leute glauben immer, wir stünden über solchen Dingen. Sie glauben, wir hätten unsere normalen Gefühle verloren, weil wir die okkulten Künste studieren. Aber das haben wir nicht! Manchmal ist dieses Leben sehr einsam, mein Freund. Die gewöhnlichen Menschen fürchten uns, andere be gegnen uns mit Mißtrauen. Man trifft nur sehr selten eine Frau wie Katya.« Das Lächeln, das immer noch seine Lippen umspielte, wirkte jetzt wehmütig, und fast schien es, als hätte er Calandrylls Gedanken gelesen. Doch dann stieß er ein schnaubendes Lachen aus, und seine gute Laune kehrte zurück. »Egal, wir müssen alle unser
Schicksal akzeptieren, und wenn ich sie auch gerne hier behalten würde, werde ich doch zu meinem Versprechen stehen und Euch jede mögliche Hilfe für Eure Aufgabe gewähren.« »Dafür möchte ich Euch danken«, erwiderte Ca landryll. »Ich hätte nicht damit gerechnet, von einem Magier Hilfe zu erhalten.« »Warum nicht?« Menelian riß den Blick widerstrebend vom Fenster los und richtete ihn auf Calandryll. »Weil Ihr früher betrogen worden seid?« »Die Hexer, denen ich bisher begegnet bin, haben sich als…«, Calandryll zögerte kurz und suchte nach einer passenden Formulierung, um seinen Gastgeber nicht zu beleidigen, »… unfreundlich erwiesen.« Menelian lachte herzhaft. »Unfreundlich?« Er schüttel te belustigt den Kopf. »Ihr versteht es zu untertreiben, Calandryll. Aber Ihr vertraut mir doch, oder?« Sofort wurde er wieder ernst, und seinem Gesichtsausdruck und Tonfall nach zu urteilen, war ihm die Bestätigung sehr wichtig. »Aye«, versicherte ihm Calandryll. »Ich spüre da eine gewisse Einschränkung.« Menelian stützte die Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in seine Hände und sah Calandryll mit festem Blick an. »Erklärt Ihr mir den Grund?« Calandryll dachte einen Moment lang nach und er klärte dann: »Ich vertraue Euch. Aber Ihr habt von ver schiedenen Parteien unter Euren Hexerkollegen gespro
chen, und die beiden, mit denen ich den engsten Kontakt hatte, waren alles andere als freundlich.« »Über Anomius und Rhythamun haben wir uns be reits unterhalten«, sagte Menelian. »Was die Hexer des Tyrannen betrifft … aye, da gibt es unterschiedliche Par teien, unterschiedliche Ansichten. Wenn das nicht so wäre, würdet Ihr jetzt keine Hilfe von mir erhalten. Aber ist das nicht ganz normal? Gäbe es nicht verschiedene Meinungen, würden wir alle wie die Schafe immer dem folgen, der am lautesten schreit. Würden wir nicht auf unser Gewissen hören, dann würden die Starken immer den Schwachen ihren Willen aufzwingen. Diejenigen aus dem Inneren Zirkel, die vorbehaltlos Anomius' Forde rungen unterstützen, ignorieren die wichtigere Aufgabe: die Wiederauferstehung Tharns zu verhindern.« »Wie können sie so etwas tun?« fragte Calandryll ver ständnislos. Menelian zuckte die Achseln und seufzte. Seine Augen umwölkten sich. »Sie sehen nur die unmittelbare Zu kunft«, erklärte er langsam, »nicht die größeren Zusam menhänge. Es sind keine schlechten Menschen, sie nei gen nur zu schnellen Lösungen. Sathoman ek'Hennem bedroht die Stabilität Kandahars und muß aufgehalten werden. Anomius bietet ihnen die schnellste Lösung, deshalb gehen sie auf seine Bedingungen ein.« »Und sie würden uns ihm zuliebe opfern.« Calandryll machte eine Handbewegung, die die beiden Kämpfenden im Garten miteinschloß. »Ist das keine schlechte Tat?«
»Sie sind nicht dieser Meinung«, erwiderte Menelian traurig. »Für sie heiligt der Zweck die Mittel. Und wenn sie diesen Bürgerkrieg beenden können, was bedeuten dann die Leben eines Lyssianers und eines Kerners?« »Uns bedeuten sie eine ganze Menge«, stellte Ca landryll fest. »Aber würdet Ihr sie nicht hingeben, um Rhythamun aufzuhalten?« Mittlerweile hatten sich auch die letzten Nebelreste aufgelöst. Aus dem Himmel, der eine eisblaue Farbe angenommen hatte, schien die Sonne kalt und hell durch die Fensterscheiben. Das dicke Glas brach das Licht und ließ funkelnde Strahlen auf das Gesicht des Hexers fallen und helle Punkte in seinen wachen Augen aufleuchten. Calandryll nickte. »Zu diesem Zweck, aye«, räumte er ein. »Aber nicht wegen Anomius' Ehrgeiz.« »Ihr seht den Gesamtzusammenhang.« Menelians Au gen wurden im hellen Licht schmal. »Genau wie ich und die Hexer, deren Anweisungen ich befolge. Die anderen tun es nicht, und wir müssen uns gegen sie durchsetzen.« »Auch wenn Ihr dadurch, daß Ihr uns helft, vielleicht Kandahar schadet?« Der Hexer schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, indem ich Euch helfe, helfe ich auch Kandahar und dem Rest der Welt.« »Und wenn man Eure Hilfe entdeckt?« Calandryll starrte den Zauberer neugierig an. »Ihr habt von Vergel
tung gesprochen.« Menelians Miene wurde wieder ernst, und er sagte: »Aye. Solltet Ihr nicht abreisen können, bevor der Befehl eintrifft, Euch festzuhalten, wird mein Leben verwirkt sein. Wenn Xenomenus anordnet, Euch nach Nhurjabal bringen zu lassen, werde ich bloßgestellt sein – als Verrä ter an dem Tyrannen. Und dafür gibt es nur eine Konse quenz.« »Euer Tyrann scheint ein harter Herr zu sein«, meinte Calandryll. Menelian lächelte dünn. »Das ist er«, bestätigte er, »a ber er ist der einzige Herr, den Kandahar kennt. Ohne ihn gäbe es nur Anarchie, ohne die Herrschaft des Ty rannen würde dieses Land mit Sicherheit im Chaos ver sinken. Burash! Würden die Hexer nicht unter seiner Regentschaft halbwegs in Eintracht arbeiten, dann würde Sathoman ek'Hennem wahrscheinlich Nhurjabal erobern. Und dann? Nun, es würde irgendein neuer Sathoman kommen, um ihn zu stürzen, und dann noch einer und wieder einer, bis ganz Kandahar zerrissen wäre.« »Trotzdem scheint es mir eine schlechte Lösung zu sein«, murmelte Calandryll. »Aus der Notwendigkeit geboren.« »Solange die Götter nicht einschreiten, um unsere An gelegenheiten für uns zu regeln, ist es die beste, die wir haben«, entgegnete Menelian. »Wir sind nur Menschen – auch wir, die wir die okkulte Begabung besitzen –, und Menschen sind nun einmal fehlbar.«
Darauf wußte Calandryll keine Antwort, und die Be merkung des Magiers hatte ihn auf einen anderen Ge danken gebracht, den er nicht unbedingt begrüßte. Er runzelte die Stirn, als sich dieser Gedanke in seinem Kopf festsetzte, und führte unbewußt die Hand an den Mund. Auch Menelian, dem Calandrylls Gesichtsausdruck nicht entgangen war, runzelte die Stirn. »Was beunruhigt Euch?« wollte er wissen. Calandryll zögerte. Die Erinnerung an das, was Bracht und Katya gesagt hatten, als sie in den Hafen von Vishat'yi eingelaufen waren, blitzte in seinem Kopf auf. Menelian wartete geduldig, und schließlich sagte Ca landryll langsam: »Ihr sprecht von einer okkulten Bega bung, und ich habe Euch von dem Stein erzählt, den Rhythamun mir gegeben hat … Damals hat er behauptet, er würde diese Gabe in mir erkennen. Und die Wahrsa gerin in Kharasul hat ebenfalls behauptet, die Fähigkeit in mir zu spüren…« Er verstummte, als er das Interesse in den Augen des Hexers aufblitzen sah, und war sich nicht sicher, was er von ihm hören wollte, eine Bestätigung oder das Gegen teil. »Und besitzt Ihr sie?« fragte Menelian. Calandryll grinste humorlos und richtete den Blick in die Ferne, während er die Ereignisse vor seinem inneren Auge Revue passieren ließ. »Als sich mir das vanuische Kriegsboot zum ersten Mal genähert hat, ist plötzlich ein Sturm losgebrochen«, sagte er. Seine Stimme war nicht
viel lauter als ein Flüstern. »Und als uns die Wilden in Gash angegriffen haben, sind ihre Kanus von einem heftigen Windstoß davongewirbelt worden. In Mherut'yi habe ich mich unsichtbar gemacht, und als uns die Chai paku angegriffen haben, sind die, die sich auf mich stür zen wollten, zurückgeschleudert worden. Ich habe ge glaubt, es wäre der Stein gewesen, der das alles bewirkt hat.« »Solche Steine können diese Fähigkeit bündeln«, sagte Menelian, »aber mehr auch nicht. Wenn ihr Träger die Gabe nicht besitzt, sind sie lediglich Schmuckstücke.« »Dann behauptet Ihr also, ich wäre ein Hexer?« fragte Calandryll. Der Kander schürzte die Lippen, während er nach dachte. Schließlich sagte er vorsichtig: »Es gibt Men schen, die die Gabe besitzen und es nie erfahren, und noch mehr, die nur die untersten Schichten wahrnehmen. Wahrsagerinnen, Seher, unbedeutende Westentaschen zauberer, sie alle besitzen die Gabe in größerem oder kleinerem Ausmaß. Aber ein Hexer … ein Hexer ist je mand, der die okkulten Wissenschaften studiert und das volle Ausmaß seines – oder ihres – Talents herausgefun den hat sowie die mannigfaltigen Methoden, wie es ge weckt und angewendet werden kann. Es ist ein langer Weg bis dorthin. Ein jahrelanges Studium der richtigen Anwendung von Zaubersprüchen und Beschwörungen ist erforderlich, bevor man ein Hexer werden kann.« »Ich habe nichts in dieser Richtung gelernt«, erwiderte
Calandryll, »abgesehen von dem Zauberspruch, den mir Rhythamun beigebracht hat, um mich unsichtbar zu machen.« Menelians Blick war Frage genug. Calandryll schüttel te den Kopf und sagte: »Ich habe ihn nicht mehr benutzt, seit er mir den Stein weggenommen hat.« »Dann versucht es jetzt«, schlug der Magier vor. Calandryll öffnete den Mund, um zu widersprechen. Was er mit Rhythamun erlebt – dieser niederträchtige Betrug – und dann über Anomius erfahren hatte, bewog ihn, die Finger von einem solchen Experiment zu lassen. Auch wenn er Menelian als einen Freund akzeptierte, hatte er sich doch Brachts Einstellung angeschlossen, daß er sich lieber auf seine Klinge und seinen Verstand als auf Zauberei verlassen sollte, daß der Magie nicht zu trauen war. Obwohl er es nicht genau hätte formulieren können, erkannte er auf eine unbestimmte Art, daß seine Abneigung auf der Desillusionierung beruhte, auf der Erkenntnis, daß Magie bisher immer dazu benutzt wor den war, um ihn hereinzulegen, und das war es, was ihn daran hinderte zu akzeptieren, daß er selbst diese Bega bung besaß. Ihm war, als würde dieses Eingeständnis ihn auf eine Stufe mit denen stellen, die er verabscheute. Und doch saß er hier und unterhielt sich mit einem solchen Okkultisten, der sich mit Wort und Tat als ein Verbünde ter erwiesen hatte, und wenn er, Calandryll, diese Kräfte besaß, würden sie sich auf jeden Fall als vorteilhaft für ihre Mission erweisen. Er kämpfte gegen seine Abnei
gung an und zwang seine rebellierenden Gedanken in pragmatischere Bahnen. Wieder schien Menelian seine Gedanken gelesen zu haben. Vielleicht hatte er aber auch nur den Gesichtsaus druck seines Gegenübers richtig gedeutet. »Die Begabung an sich ist weder gut noch schlecht«, sagte der Zauberer sanft, »sie ist einfach da. Wozu sie eingesetzt wird, das entscheidet, ob sie sich als segens reich oder unheilvoll erweist.« Calandryll nickte und sagte den Zauberspruch lang sam auf. Kein Mandelduft stieg ihm in die Nase, kein Schim mern erschien in der Luft. An Menelians Gesicht konnte er erkennen, daß der Zauberspruch keine Wirkung zeig te, und er verspürte Erleichterung. Er war davon über zeugt, daß in dem Augenblick, in dem der Spruch ge wirkt hätte, der Beweis erbracht worden wäre, daß er nicht der war, für den er sich selbst hielt. »Ich glaube«, hörte er Menelian sagen, »daß Rhytha mun den Stein so verzaubert hat, daß er Euch nur auf Eurem Weg zum Arcanum geholfen hat.« »Und damit hat er sich selbst geholfen«, brummte Ca landryll verbittert. »Das ist zweifellos richtig«, stimmte ihm der Zauberer zu, »aber trotzdem…« »Was?« Calandryll starrte Menelian an. Er war sich nicht sicher, ob er Hoffung oder Furcht in sich aufsteigen
fühlte. »Wenn Ihr nicht irgendeine Kraft besitzen würdet, hät te der Zauber gar nicht wirken können«, erklärte der Kander behutsam. »Dann wäre der Stein nicht mehr als eben nur ein Stein gewesen.« »Ich kenne die Worte«, erwiderte Calandryll und hörte Ärger – oder Angst – in seiner Stimme mitschwingen. »Ich habe sie gut genug gelernt, aber jetzt zeigen sie keine Wirkung. Was wollt Ihr mir sagen?« »Daß irgendeine Kraft in Euch schlummert«, sagte Menelian. »Latent, es sei denn, sie wird durch einen magischen Gegenstand in die richtige Richtung gelenkt« Calandryll stieß heftig die Luft aus. Sie entwich mit einem pfeifenden Geräusch zwischen seinen zusammen gebissenen Zähnen, das wie ein Protestschrei klang. »Wie Bracht sagen würde, das sind die unverständlichen Wor te eines Hexers.« »Nein«, widersprach Menelian, »nur eine Schlußfolge rung aufgrund dessen, was Ihr mir erzählt habt. Wenn Ihr einverstanden seid, es gibt vielleicht eine Möglichkeit, wie ich mir größere Klarheit verschaffen könnte.« »Wie?« wollte Calandryll wissen. »Ich muß meine eigene Begabung anwenden«, ant wortete der Hexer. »Wenn Ihr mir das gestattet, wenn Ihr Euch mir öffnet, könnte ich vielleicht herausfinden, wie Eure Begabung beschaffen ist.« Calandryll preßte die Lippen zusammen, um die ins
tinktiv in ihm aufsteigende Ablehnung zu unterdrücken. Trotz des Widerwillens, den er empfand, wußte er, daß er eine fast unlösbare Aufgabe vor sich hatte. Er hatte geschworen, Rhythamun zur Strecke zu bringen – einen jahrhundertealten, machthungrigen Magier, dessen ge waltige okkulte Kräfte außer Frage standen –, und sein einziges Hilfsmittel war zur Zeit Katyas Stein, nicht mehr als ein Wegweiser, der nach Aldarin deutete. Würde er sie von dort aus auch weiterführen? Wohin? Und sollte es ihnen gelingen, eine Konfrontation zu erzwingen, was dann? Ihre Klingen hatten sich schon einmal als nutzlos gegen den Schwarzmagier erwiesen. Nein, wie immer ihm auch dabei zumute sein mochte, hatte er überhaupt das Recht, irgendein Mittel zu ignorieren, das ihm einen Vorteil verschaffen konnte? Er seufzte und sagte: »Nun gut, einverstanden.« Menelian lächelte ihm beruhigend zu und erhob sich. Seine dunkle Robe verschluckte das Sonnenlicht, aber dort, wo die Symbole seines Standes in den Stoff einge stickt waren, leuchteten die kabbalistischen Zeichen um so heller. Calandryll starrte sie an, unsicher, ob er die Prozedur wirklich über sich ergehen lassen wollte. Er riß sich zusammen, als der Magier ihn zu sich heranwinkte und ihm auf halbem Weg begegnete, so daß sie einander vor dem Kamin gegenüberstanden. Das Knistern und Knacken der brennenden Holzscheite schien zu ver stummen. »Gebt mir Eure Hände«, verlangte Menelian.
Schweigend gehorchte Calandryll. Der Griff des He xers war fest, seine Haut kühl und weich. »Was muß ich tun?« fragte Calandryll. »Nichts«, erwiderte Menelian. »Blickt mir nur in die Augen.« Calandryll kam seiner Aufforderung nach und starrte in die Augen des Magiers. Erst jetzt, da das helle Sonnen licht direkt in sie fiel, erkannte er, daß sie dunkelviolett waren. Je länger er sie betrachtete, desto mehr schienen sie zu wachsen und sich auszudehnen, bis das attraktive Gesicht des Zauberers verschwunden war und Ca landryll das Gefühl hatte, in einen tiefen Brunnen zu blicken. Er fühlte sich in diesen Brunnen hineingezogen und wehrte sich einen Moment lang, erinnerte sich dann aber an die Worte des Hexers, gab dem unheimlichen Sog nach und ließ sich hineinfallen. Calandryll fühlte sich an die absolute Dunkelheit erinnert, durch die ihn die Tore in Gessyth geschleudert hatten. Seine Sinne suchten vergeblich nach irgendeinem Anhaltspunkt, das Gefühl zu fallen wurde intensiver. Undeutlich nahm er Mandel geruch wahr, aber nur wie aus weiter Ferne, nicht mehr als ein Hauch, der schnell wieder verflog, als ob nur noch der Tunnel in den Augen des Hexers existierte und alles andere auslöschte, und er wußte nicht mehr, ob er fiel oder emporstieg, denn die Richtungen waren genauso bedeutungslos wie die reale Umgebung geworden. Sein Geist hatte sich von ihm gelöst und trieb körperlos auf einem dunklen Strom dahin, der wahllos die Richtung
änderte, ohne daß er den geringsten Einfluß darauf hatte. Er konnte nicht hören, ob Menelian einen Zauberspruch intonierte, ebensowenig wie er die Hände des Magiers oder die Hitze des Feuers spürte. Sein Körper schien verschwunden zu sein, alles hatte aufgehört zu existie ren, abgesehen von seinem substanzlosen Ich und dem seltsamen Strom, auf dem es dahintrieb. Er war wie ein Staubkorn im Wind, ein Fötus, der friedlich in seiner Gebärmutter schlummerte. Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren. Einen Moment lang verspürte er Angst, dann Ruhe und dann gar nichts mehr. Mit einmal wurde er in die Wirklichkeit zurückgesto ßen. Seine Knie gaben nach, in seinem Kopf drehte sich alles, und er stolperte gegen Menelian, der seine Hände losließ, ihn an den Schultern festhielt, ihn langsam her umdrehte und behutsam in einen Stuhl drückte. Vor Calandrylls innerem Augen erschien das Bild eines neu geborenen Babys, das seinen Protest über den Verlust des schützenden Mutterleibes hinausschrie, und er vermute te, daß er ebenfalls ein unartikuliertes Jammern ausge stoßen hatte. Eine unbestimmbare Zeitspanne lang war seine Sicht verschwommen, seine Nase mit intensivem Mandelduft erfüllt. Er zitterte unkontrolliert und ver spürte ein undefinierbares Gefühl des Verlustes. Ca landryll kämpfte gegen das Beben an, fuhr sich mit zit ternden Händen über die Augen und fühlte die Nässe vergossener Tränen. Allmählich klärte sich sein Blick wieder.
Das Feuer brannte noch immer fröhlich im Kamin, noch immer fiel helles Sonnenlicht auf glattgeschliffenes Holz, verstreut herumliegende Schriftrollen und in altes Leder gebundene Bücher. Draußen hörte er das Klirren von Stahl auf Stahl. Er spürte keine Veränderung in sich, keine Macht, nur dieses seltsame Gefühl des Verlustes. Calandryll erschauderte und blickte den Magier an, sah in die violetten Augen, die ihn voller Ernst betrachteten. »Nun?« fragte er heiser und nervös. Menelian musterte ihn noch etwas länger schweigend, dann legte sich seine Stirn in Falten. In seinen Augen glomm Unsicherheit auf. »Es ist Macht in Euch, daran gibt es nicht den gerings ten Zweifel…«, sagte der Hexer leise und verwundert und brach mitten im Satz ab, als wäre er sich unschlüssig, verunsichert über das, was er erfahren hatte. »Nicht die Art von Macht, wie ich sie besitze, oder die irgendeines anderen Magiers, den ich kenne.« »Dann bin ich also kein Hexer und kann auch keiner werden?« Calandryll glaubte, Erleichterung aus seiner eigenen Stimme herauszuhören. Irgendwie erschien es ihm besser, ein ganz normaler Mensch zu sein, auch wenn diese Normalität seine Erfolgsaussichten erheblich verschlechterte. Doch die Erleichterung verschwand sofort wieder, als Menelian den Kopf schüttelte, nicht so sehr als Antwort auf seine Frage, als vielmehr aus Unsi cherheit und Verwunderung. »Wenn Ihr diese Macht aus eigener Kraft anwenden
wolltet, würde ich Euch vielleicht zustimmen.« Jetzt klang Bestürzung in der Stimme des Magiers mit, als hätte er irgend etwas gesehen, das ihm – was? – angst machte. Calandryll war sich nicht sicher, aber die Verun sicherung in Menelians Gesicht und das Zögern in seiner Stimme legten diese Vermutung nahe. »Was? Was habt Ihr in mir gesehen?« Die Falten auf Menelians glatter Stirn vertieften sich. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und zögerte, als müßte er sich die Worte sorgfältig zurechtlegen. »Ich habe eine Kraft in Euch gesehen, die ich nicht de finieren kann«, sagte er schließlich. »Es schien, als würde ich auf den Grund der Welt sehen. Oder auf den Stoff, aus dem die Götter Welten erschaffen. Es nicht die Art von Macht, wie wir Hexer sie besitzen, sondern eine stärkere Form … ursprünglicher … grundlegender … eine Energie, für die es keine Bezeichnung gibt…« Wieder verstummte er. Calandryll fühlte seinen Mund trocken werden und verspürte das dringende Bedürfnis, Wein zu trinken. Jetzt nahm das Gefühl des Verlustes Gestalt an: Er war auf eine gewisse Art und Weise, die er nicht verstand oder in Worte kleiden konnte, nicht mehr er selbst. Nicht mehr einfach nur Calandryll den Ka rynth. Ein abgehackter Atemzug brach zwischen seinen zusammengepreßten Lippen hervor, fast ein Klageschrei. »Könnt Ihr es nicht genauer definieren?« zwang er sich zu fragen. Menelian schüttelte den Kopf.
»Oder mir sagen, wie ich diese Kraft benutzen könn te?« Erneut ein Kopfschütteln. Calandryll spürte, daß sich seine Hände wie von selbst zu Fäusten ballten. Bracht hatte recht: Sich mit Hexerei abzugeben, bedeutete, durch ein Labyrinth von unbekannten Ausmaßen zu irren, über verschlungene Irrpfade zu stolpern, die nur dem Zweck dienten, die Menschen zu täuschen und zu verwirren. »Ich weiß nur, daß sie da ist«, hörte er Menelian sagen, »eine Kraft, die über mein Vorstellungsvermögen hi nausgeht. Ob sie schon immer da gewesen ist, oder ob es sich um ein Geschenk an Euch handelt…« »Ein Geschenk?« Calandryll hob die Fäuste und schlug sie so heftig auf den Tisch, daß die Schriftrollen und Pergamente hüpften. Menelian zuckte in seinem Stuhl zurück, erschreckt durch die Wut in Calandrylls Stimme. »Wieso ein Geschenk? Irgendeine Kraft … ir gendeine ursprüngliche Energie … die über Euer Vorstel lungsvermögen hinausgeht? Die ich nicht anwenden kann? Ist das etwa ein Geschenk? Ihr sagt mir, daß ich nicht mehr der bin, für den ich mich gehalten habe, und Ihr behauptet, es wäre ein Geschenk?« »Ihr seid immer noch Ihr selbst«, erwiderte Menelian leise. »Und ich glaube, daß es ein Geschenk ist.« »Bracht hat mich gelehrt, das hier zu benutzen.« Ca landryll schlug wütend auf den Griff seines Schwertes. »Das war ein Geschenk. Ihr gebt nur Rätsel von Euch.«
»Ich sage Euch nur, was ich gesehen habe und was ich Euch erzählen kann.« Die Stimme des Hexers klang ent schuldigend. »Und Ihr habt Euch nicht verändert.« »Nein?« Calandryll schüttelte hilflos den Kopf. »Aber ich bin nicht mehr derselbe wie vorher!« »Ist das denn irgend jemand?« fragte Menelian. »Ver ändern wir uns nicht alle? Werden wir nicht alle zu et was anderem, als wir es vorher waren, und bleiben wir nicht trotzdem irgendwie wir selbst? Warum erfüllt Euch das mit so viel…«, er hatte ›Angst‹ sagen wollen, verbes serte sich aber im letzten Augenblick, »… Wut?« Menelians Stimme klang besänftigend, und in seinem Gesicht spiegelte sich ehrliche Verwirrung wider. Calandryll seufzte, er war genauso verunsichert wie der Hexer. Seine Lippen verzogen sich zu einem säuerli chen Grinsen. Er zuckte die Achseln und entgegnete aufrichtig: »Ich weiß es nicht. Verzeiht mir meinen Wut ausbruch. Ich habe mich für einen gewöhnlichen Men schen gehalten, und jetzt muß ich erfahren, daß ich ir gendwelche geheimnisvollen Kräfte besitze, die weder Ihr noch ich verstehen. Das scheint mich zu … etwas anderem zu machen.« »Das seid Ihr«, sagte Menelian langsam und ernst. »Ihr, Bracht, Katya, Tekkan … Ihr alle unterscheidet Euch von der breiten Masse. Macht Euch nicht allein schon diese Mission zu etwas anderem? Ich denke, daß es viel leicht die Götter selbst waren, die Euch diese Macht ge geben haben.«
»Und werden sie mir auch erklären, worin sie besteht? Werden sie mir zeigen, wie ich sie benutzen kann?« »Vielleicht werden sie das. Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß es eine Kraft von beinahe göttlichen Ausmaßen ist.« Calandryll kippte fast mit seinem Stuhl um. Er starrte den Zauberer ungläubig an. Dann stieß er ein kurzes zynisches Lachen aus. »Bin ich jetzt ein Gott geworden?« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Menelian, »aber viel leicht das Werkzeug göttlicher Kräfte.« »Ich wäre lieber ein normaler Mensch.« »Die meisten wären lieber mehr.« »Ich nicht.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur ich selbst sein, niemand sonst und nicht mehr.« Menelian beugte sich vor und blickte Calandryll ein dringlich an. »Ich habe Eure Geschichte gehört«, sagte er sanft. »Bevor Ihr diese Suche begonnen habt, wart Ihr ein Prinz aus Secca, dessen Bestimmung es war, ein Priester Deras zu werden. Ihr seid diesem Schicksal entflohen und habt auf Eurer Flucht gelernt, ein Schwert zu führen. Das, so sagt Ihr, ist ein Geschenk. Als Ihr Rhythamuns Stein getragen habt, habt Ihr Stürme herbeigerufen und Wellen gegen Eure Feinde geschickt. Auch das habt Ihr als ein Geschenk akzeptiert. Ihr seid nicht mehr der ju gendliche Gelehrte, der die Bücherei seines Vaters durch
stöbert hat, und doch seid Ihr immer noch Calandryll den Karynth. Vielleicht seid Ihr jetzt sogar mehr Ihr selbst als zuvor, nicht der, zu dem Euer Vater Euch ma chen wollte, sondern Euer eigener Herr. Und obwohl ich nicht verstehe, was es ist, das ich in Euch gesehen habe, bleibe ich dabei: es ist ein Geschenk!« Calandryll betrachtete das ernste Gesicht seines Ge genübers aus zusammengekniffenen Augen. Er zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit des Hexers, er wollte ihm glauben und seine Worte akzeptieren. Und doch verspür te er immer noch die allmählich schwindenden Nachwir kungen der Magie, dieses Gefühl eines Verlustes, als wäre ihm gleichzeitig mit dem Gewinn einer neuen Er kenntnis etwas geraubt worden. Er konnte es nicht in Worte kleiden, es war genauso undefinierbar wie die Liebe. Vielleicht würde es mit der Zeit verblassen. Viel leicht würde er es mit der Zeit akzeptieren und sogar verstehen, was Menelian in ihm gesehen hatte. »Mag sein«, räumte er widerstrebend ein. »Hört mir zu«, bat Menelian drängend, immer noch über den Tisch vorgebeugt. Ohne es zu bemerken, zer knitterte er mit den Ellbogen ein uraltes Pergament. »Ich bin in der Provinz Ryde als Kind von Bauern zur Welt gekommen. Wir waren weder reich noch arm. Ich war der Erstgeborene und hatte einen Bruder und zwei Schwestern. Als ich sieben Jahre alt war, kam ein Hexer auf unseren Hof und entdeckte meine Begabung. Ich wurde nach Nhurjabal gebracht, um die Magie zu erler
nen. Ich wurde meiner Familie und allem, was ich kann te, fortgenommen und in eine seltsame Stadt gebracht, wo merkwürdige Leute mir Dinge beibrachten, die ich kaum verstand. Ein Jahr lang habe ich jede Nacht ge weint, mich nach dem Leben gesehnt, das ich gekannt hatte, und die verflucht, die mich dort herausgerissen hatten. Man erklärte mir, warum es nötig gewesen wäre, aber ich verstand es nicht – konnte es zu diesem Zeit punkt noch nicht verstehen! Aber es war mein Schicksal, ich besaß das okkulte Talent, und diese Kraft hat mein Schicksal bestimmt. Später, nachdem ich ein besseres Verständnis für mei ne Begabung entwickelt hatte, stellten sie mich vor die Wahl: Sie würden mir entweder meine Fähigkeit nehmen und mich zu meinem früheren Leben zurückkehren lassen, oder aber ich müßte meinen Platz unter den He xern des Tyrannen einnehmen. Wie allen Adepten ließ man auch mir ein Jahr Bedenkzeit.« Er lächelte und zupf te an seiner Robe. »Ich habe mich für meine Begabung entschieden – so, wie Ihr es irgendwann ebenfalls tun werdet. Manchmal haben wir nicht die Wahl, die Götter entscheiden über unser Schicksal, und es ist schwer, ihre Wünsche zu ignorieren.« »Seid Ihr jetzt glücklich?« wollte Calandryll wissen. »Oder wärt Ihr lieber ein Bauernjunge geblieben.« »Ich bin glücklich«, versicherte Menelian. »Und meine Familie ebenfalls. Sie sind stolz darauf, ihren Sohn einen Magier nennen zu dürfen.«
»Vielleicht werde auch ich mit der Zeit das alles ak zeptieren«, meinte Calandryll. »Es ist in Euch«, sagte Menelian. »Ihr habt keine grö ßere Wahl, als ich sie hatte.« »Ein Spielzeug der Götter?« murmelte Calandryll, jetzt allerdings nicht mehr so wütend. »Eins ihrer – wie habt Ihr es genannt? – Werkzeuge?« »Vielleicht.« Der Hexer zuckte die Achseln. »Ich habe nichts Böses in Euch gesehen, deshalb glaube ich, daß Ihr die Kraft in Euch habt, Gutes zu tun.« »Vielleicht«, wiederholte Calandryll, »wenn mir die Götter nur zeigen würden, wie ich die Kraft benutzen soll.« »Wenn es die Götter waren, die sie Euch gegeben ha ben, dann werden sie auch das tun, sobald sie den richti gen Zeitpunkt für gekommen halten.« Der Kander lächel te jetzt wieder zuversichtlicher. »Aber Ihr seid trotzdem immer noch ein Mensch, und vielleicht würdet Ihr Euch als solcher gerne einem menschlichen Vergnügen hinge ben. Soll ich Wein kommen lassen?« Calandryll nickte eifrig. Der Zauberer ging zur Tür und trug dem Diener, der draußen wartete, auf, eine Flasche Wein zu bringen. Wenige Augenblicke später war sie auch schon da, ein guter roter Jahrgang. Ca landryll leerte den ersten Kelch in zwei tiefen Zügen. Menelian schenkte ihm nach und sah zum Fenster hin über. Calandryll folgte seinem Blick und sah Bracht und Katya hinter dem Rahmen. Sie wirkten wie zwei Figuren
in einem Bild. Sie lachten. »Werdet Ihr Euren Gefährten Bescheid sagen?« wollte der Hexer wissen. Calandryll trank einen weiteren Schluck Wein, be trachtete Katya und Bracht und spürte Zweifel in sich aufsteigen. Würde eine solche Offenbarung seine Freundschaft mit Bracht verändern? Der Söldner schien Menelian akzeptiert zu haben, aber er hatte nach wie vor wenig für Magie und diejenigen, die sie praktizierten, übrig. Es war nicht leicht gewesen, seine Achtung zu erringen, und Calandryll fand den Gedanken, sie wieder zu verlieren, unerträglich. Er schüttelte langsam und unsicher den Kopf. »Noch nicht, glaube ich. Und außerdem, was könnte ich ihnen denn schon erzählen? Daß ich irgendeine un bekannte Kraft in mir habe?« Menelian erkannte, in welche Richtung Calandrylls Gedanken gingen, und neigte zustimmend den Kopf. »Bracht hat eine schlechte Meinung über Hexerei«, mur melte er, »und Euch ist seine Freundschaft viel wert. Aber die habt Ihr bestimmt längst schon gewonnen. Würde dieses Wissen etwas daran ändern?« »Das könnte es«, sagte Calandryll, »und dieses Risiko möchte ich nicht eingehen.« »Dann soll es so sein«, erwiderte der Zauberer. »Die Entscheidung liegt bei Euch.« Calandryll lächelte ihm dankbar zu, leerte seinen Kelch und deutete auf den unaufgeräumten Tisch. »Sol
len wir jetzt also weitermachen? Oder uns damit abfin den, daß Eure Bibliothek kaum Informationen über Wie dererweckte enthält?« Bei der Erwähnung des unheimlichen Verfolgers ver düsterte sich Menelians Gesicht. Er seufzte. »Laßt uns etwas essen«, schlug er vor. »Es sind nur noch so wenige Bücher übrig, daß einer von uns sie bis zur Dämmerung allein durchsehen kann.« »Falls Ihr keine Einwände habt, würde ich diese Auf gabe gern Euch überlassen«, sagte Calandryll. Er stand auf und streckte sich. »Ich möchte heute nachmittag lieber ein paar bodenständigere Übungen durchführen.« »Sehr gerne«, erklärte sich der Hexer einverstanden. Er schob seinen Stuhl zurück. »Dann sollten wir jetzt Eure Gefährten rufen und sehen, was meine Küche uns zu bieten hat.« Sie bot ein außerordentlich schmackhaftes Mittages sen, bestehend aus einer dicken Wildsuppe, Rinderbraten mit frischen Gemüsen der Saison und zum Abschluß eine Auswahl verschiedener Käsesorten. Es wurde genug Wein getrunken, so daß alle guter Laune waren, trotz der enttäuschenden Nachricht, daß Menelians Bibliothek keine nützlichen Hinweise auf die von Anomius geschaf fene Kreatur enthielt. Der Hexer war weiterhin ein zu vorkommender Gastgeber, wenn Calandryll auch be merkte, daß er sorgfältig vermied, Katya mit übertriebe ner Aufmerksamkeit zu behandeln. Menelian respektier
te Brachts ältere Ansprüche, aber wenn er sich unbeo bachtet glaubte, wanderte sein Blick immer wieder voller Bewunderung zu der Kriegerin. Calandryll wurde be wußt, daß sie im Laufe ihrer weiteren Reise wahrschein lich bei jeder Landung in eine ähnliche Situation geraten würden, und vermutlich würde Brachts Eifersucht bei solchen Gelegenheiten von neuem aufflammen. Er beschloß, die Sache zu einem passenden Zeitpunkt mit seinem Freund zu besprechen, wenn Katya nicht in Hörweite war. Die Gelegenheit ergab sich während eines Übungs kampfes. Katya hatte eine Weile daran teilgenommen und eine Runde mit Calandryll ausgefochten, die Bracht als unent schieden wertete. Danach verkündete sie, sich frischma chen zu wollen. Sie benachrichtigte Menelian, der sofort seine Diener anwies, ihr ein Bad vorzubereiten. Kurz darauf verschwand sie im Haus und ließ Calandryll und den Söldner allein zurück. Sie kämpften eine Weile, vor sichtig und zurückhaltend, da sie keine Schutzkleidung trugen. Nach den langen Monaten auf See, in denen sie nur einen begrenzten Platz auf dem Vorderdeck zur Verfügung gehabt hatten, begrüßten sie die größere Be wegungsfreiheit. Calandryll bestritt den Übungskampf voller Eifer. Er wußte, daß er dem Kerner immer noch nicht gewachsen war, fühlte sich aber trotzdem durch Brachts lakonisches Lob geschmeichelt und erwies sich als geschickt genug, um gegen die meisten Schwert
kämpfer bestehen zu können. Obwohl die Sonne schien, war der Nachmittag kalt, und ihr Atem dampfte in der Luft, während sie abwech selnd angriffen und parierten und das Klirren der Klin gen durch den Garten hallte. Mit der Zeit lockerten sich Calandrylls Muskeln, und von dem anscheinend uner müdlichen Kerner angetrieben, kämpfte er weiter, bis sie allmählich vor Anstrengung zu schmerzen begannen. Schweiß lief ihm über die Brust und die Seiten, er keuch te heftig, als der Söldner den Druck erhöhte und ihn immer weiter zurücktrieb, bis Calandryll Büsche in sei nem Rücken spürte und Bracht ihm lächelnd eine Ruhe pause gewährte. »Du bist zwar etwas eingerostet«, stellte der Kerner grinsend fest, »aber ansonsten kämpfst du ganz ordent lich.« »Danke.« Calandryll ließ das Schwert sinken und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er überlegte, wie er sein Anliegen zur Sprache bringen sollte. Direkt und ohne Umwege, beschloß er und sagte: »Ich möchte gerne mit dir über Katya sprechen.« Bracht starrte ihn einen Moment lang mißtrauisch an und brummte dann zustimmend. »Während wir kämp fen«, erwiderte er knapp und griff erneut an. »Ich habe mich mit Menelian über dein Interesse an ihr unterhalten.« Calandryll lenkte die Attacke zur Seite, sein Gegenangriff wurde abgeblockt. »Er wird sein eige nes Interesse zügeln.«
»Gut.« Bracht täuschte an und berührte Calandrylls Brustkorb mit der Breitseite seiner Klinge. »Aber wie ich dir bereits gesagt habe, es ist schwer, seine Bewunderung zurückzuweisen.« Es gelang Ca landryll, einem zweiten Schlag auszuweichen und mit seinem Gegenangriff sogar selbst einen Treffer zu landen. »Aye. Und?« Stahl prallte auf Stahl. Sie standen sich dicht gegen über und versuchten, die Waffe des jeweils anderen zur Seite zu drücken. An Körperkraft waren sie einander ebenbürtig, aber Bracht war schneller und wich so plötz lich zurück, daß Calandryll ins Stolpern kam und Mühe hatte, die erneute Attacke des Freundes abzuwehren. »Diese Situation wird wahrscheinlich wieder eintre ten.« Er tänzelte zurück und versuchte, den Kerner zu einem Fehler zu provozieren, was ihm mißlang, und er fragte sich dabei, ob Brachts Schläge tatsächlich unge stümer wurden. »Kann sein.« »Es werden immer wieder Männer ein Auge auf sie werfen und versuchen, ihre Gunst zu erringen.« »Sie gehört mir. Oder sie wird mir jedenfalls gehören.« »Aye.« Funken stoben auf, als ihre Klingen aufeinan derprallten. »Niemand stellt das in Frage.« »Das ist auch besser so.« Eine Drohung schwang in Brachts Tonfall mit. Als er zustieß, sprang Calandryll zur Seite und schlug dem Kerner die Breitseite seines
Schwertes gegen die Rippen. »Und du solltest lieber dein Temperament in den Griff bekommen.« »Mein Temperament?« Überraschung leuchtete in Brachts dunklen Augen auf. »Aye, dein Temperament. Wenn du jedesmal in Wut gerätst, sobald ein Mann Katya eine kleine Aufmerksam keit erweist, werden wir uns mehr Feinde machen, als wir mit unseren Schwertern bewältigen können.« Er parierte einen Hieb und wurde tiefer in den Garten zurückgedrängt. Die Schläge des Söldners wurden kräf tiger. Calandryll fühlte sich zunehmend verunsichert und war nahe daran, den Kampf abzubrechen, bevor es zu ernsthaften Verletzungen kam. »Du meinst, ich hätte ein aufbrausendes Tempera ment?« Bracht wich mit einem Stirnrunzeln zurück. Calandrylls Besorgnis verflog bereits wieder, statt des sen verspürte er das Bedürfnis zu lachen. »Dera, Mann! Wenn es um Katya geht, aye!« »Vielleicht habe ich das«, gab der Söldner zu und sprang unvermittelt vor. »Und ich würde mit jedem Mann um sie kämpfen.« Calandryll wurde völlig überrascht. Bracht schlug ihm das Schwert mit einem Schlag aus der Hand und setzte ihm seine Klingenspitze an die Kehle. Calandryll starrte in die Augen des Kerners, die plötzlich hart und kalt
geworden waren. »Ich zweifle nicht daran«, keuchte er. Der Druck des kalten Stahls hielt nur so lange an, wie es gedauert hätte, ihm die Luftröhre zu durchtrennen. Bracht trat zurück und entbot Calandryll den Fechter gruß. »Aber du hast recht«, bekannte er. »Es fällt mir schwer, tatenlos zuzusehen, wie ein anderer ihr den Hof macht.« Der kurze Wutausbruch war vorbei. Calandryll seufz te erleichtert und sagte: »Obwohl du weißt, daß sie diese Aufmerksamkeiten ignoriert?« »Trotzdem«, erwiderte Bracht. »In Cuan na'For tut man so etwas nicht. Dort gibt es dafür … Regeln, Sitten.« »Wir sind aber nicht in Cuan na'For«, gab Calandryll zu bedenken, »sondern in Kandahar. Und bald, wenn Dera will, werden wir auf dem Weg nach Lysse sein. Dort ist eine Frau bis zu ihrer offiziellen Verlobung frei.« »Wie deine Nadama?« fragte Bracht. Calandryll war ein wenig überrascht, daß er bei dieser Frage kein Bedauern empfand. Nadama schien mittler weile unwichtig, eine undeutliche Erinnerung aus der Vergangenheit, und seine Gefühle ihr gegenüber, die einst so leidenschaftlich gewesen waren, erschienen ihm jetzt so ungreifbar wie ein fast vergessenes Erlebnis aus seiner Kindheit. Er nickte und sagte: »Aye, wie Nada ma.« »Und Katya wird nicht erlauben, daß die Verlobung
bekanntgegeben wird, bevor unsere Mission abgeschlos sen ist. Bevor Rhythamun besiegt ist und wir das Arca num nach Vanu gebracht haben.« Bracht senkte seufzend den Kopf. »So ist eure Abmachung«, bestätigte Calandryll und dachte bei sich, daß allein Brachts Wünsche und Gefühle für diese Interpretation der Sachlage verantwortlich waren. Genaugenommen lautete ihre Vereinbarung nur, daß Bracht sie bis dahin nicht weiter bedrängen sollte, aber Calandryll hielt es für klüger, dem anderen in die sem Punkt nicht zu widersprechen. »Ihr habt merkwürdige Gebräuche bei euch im Sü den«, brummte Bracht und grinste dann wehmütig. »A ber egal, meinetwegen. Ich werde versuchen, mein Tem perament zu zügeln.« »Unserer Mission zuliebe«, sagte Calandryll zaghaft. »Aye«, stimmte ihm Bracht zu, »unserer Mission zu liebe. Aber es wird nicht leicht sein. Einfach zusehen, wie affige Südländer sie begehren…?« Er schüttelte den Kopf. Calandryll, der nicht unbedingt mit dieser Charakteri sierung von Südländern einverstanden war, murmelte: »Vielleicht wird es nicht dazu kommen. Wenn aber doch, solltest du sie dir lieber nicht zu Feinden machen.« Da lachte Bracht leise in sich hinein und legte Ca landryll einen Arm um die Schultern. »Ich halte dich nicht für affig, mein Freund. Und du hast mein Wort darauf, daß ich meine Wutausbrüche zügeln werde.« »Gut«, erwiderte Calandryll. Seine Stimmung hob
sich. »Wollen wir jetzt weitermachen?« »Nein.« Bracht warf einen Blick in den Himmel, der allmählich dunkler wurde. Zwielicht senkte sich herab. Der Wind blies vom Meer her und trug Wolken mit sich, die sich über der Stadt zu einer schiefergrauen Schicht zusammenballten. Im Haus wurden bereits die ersten Lampen angezündet. »Bald bricht der Abend herein, und Katya möchte zum Hafen hinuntergehen.« Die Ereignisse des Tages hatten Calandryll kaum noch an das Kriegsboot denken lassen, und er stimmte Bracht bereitwillig zu. Sie suchten zuerst Menelian in seiner Bibliothek auf. Er saß immer noch zwischen seinen Bü chern, hatte aber, wie er ihnen mitteilte, kaum etwas herausfinden können. Dort stieß Katya zu ihnen. Sie duftete nach aromatischen Badeölen, und ihr frischgewa schenes Haar schimmerte im Licht der Lampen wie Weißgold. Als sie erschien, schlug der Zauberer das Buch zu, in dem er gelesen hatte, und verkündete seine Ab sicht, sie zu begleiten. »In Vishat'yi bin ich wahrschein lich Euer bester Schutz vor den Chaipaku«, erklärte er. »Selbst die Bruderschaft wird zögern, einen Hexer des Tyrannen zu überfallen.« Niemand widersprach ihm. Sie schlüpften in Mäntel und begaben sich einmal mehr in die Stadt. Die Sonne war bereits hinter die Klippen gesunken, und Straßen lampen wurden entzündet, aber der Himmel war immer noch hell genug, so daß sie einen besseren Eindruck von der Stadt erhielten. Sie war weitaus größer als Mherut'yi
und imposanter als Kharasul. Die terrassenförmigen Straßen waren mit geschäftigen Menschen bevölkert, die Menelian, dessen Mantel wie seine Robe mit den Symbo len seines Amtes bestickt war, ehrerbietig Platz machten. Einige riefen ihm Grüße zu, die er höflich erwiderte, und niemand schien sonderlich besorgt über den Krieg zu sein. Abgesehen von den bedrohlich aussehenden Kata pulten auf den höchsten Erhebungen, den Barrikaden am Hafen und vereinzelten Patrouillen, erweckte die Stadt nicht den Eindruck, daß ihr eine Belagerung oder ein Angriff drohen könnte, sondern bot eher das Bild eines wohlhabenden Ortes, der seine üblichen Geschäfte abwi ckelte. Händler priesen die Vorzüge ihrer Waren an, Tavernentüren standen offen und verrieten rege Kund schaft, aus Gasthäusern drangen Essensgerüche, ver mischt mit dem durchdringenden Aroma des berau schenden Tabaks, der das Markenzeichen aller Städte in Kandahar zu sein schien. »Als die ersten Nachrichten über den Ausbruch des Bürgerkrieges eintrafen, gab es eine große Unruhe«, erzählte Menelian, als Calandryll ihn auf die offensicht lich sorglose Atmosphäre ansprach. »Quindar ek'Nyle war in seinem Element, er hat die eine Hälfte der Bevöl kerung dazu eingeteilt, Katapulte und Steinschleudern zu bauen, die andere, Barrikaden zu errichten. Als das erledigt war, hat er Bürgerwehren organisiert, aber abge sehen vom Ausbleiben der Handelsschiffe haben wir bisher nichts von dem Krieg zu spüren bekommen und werden es vielleicht auch nie. Nach ein oder zwei Wo
chen voller Gerüchte sind die Leute wieder zu ihren normalen Tagesgeschäften übergegangen.« Calandryll, der die Geschichte der lyssianischen Krie ge studiert hatte, fand das zuerst seltsam. In seiner Hei mat würde keine Stadt, die einen Angriff zu befürchten hatte, die fröhliche Sorglosigkeit zeigen, die er überall um sich herum entdeckte. Aber das, so sagte er sich schließlich, lag daran, daß die Städte in Lysse von Schutzwällen umgeben waren, jede dieser Städte von einem Domm beherrscht wurde und gleichbedeutend mit der Festung ihres Herrschers war. In Kandahar war die einzige Autorität der Tyrann, und Calandryll vermu tete, daß die Bevölkerung von Vishat'yi ihre Sorgen sozu sagen an diesen Herrscher abtrat. Er fragte sich, welches System wohl das bessere sei. Unter anderen Umständen – in seinem früheren Leben – hätte er solche Überlegungen faszinierend gefunden und versucht, Menelian in ein Gespräch über die Vorund Nachteile von absoluter Alleinherrschaft und einer mehr republikanischen Regierungsform zu verwickeln, aber jetzt erschienen ihm derartige philosophische Erör terungen müßig. Es zeichneten sich sehr viel bedeutende re Umwälzungen ab, und noch unmittelbarer beschäftig te ihn zur Zeit die ständig drohende persönliche Gefähr dung. Selbst unter dem Schutz des Hexers war er nicht gänzlich davon überzeugt, daß die Chaipaku sich zu rückhalten würden, vorausgesetzt, die Bruderschaft hatte erfahren, wo er und seine Gefährten sich aufhielten.
Davon aber ging er aus. Seinen früheren Erlebnissen nach zu schließen, schienen die Meuchelmörder über eine ihm unbegreifliche Methode der Informationsüber mittlung zu verfügen, und er nahm an, daß sie mittler weile wußten, daß sich ihre Beute in Vishat'yi aufhielt. Er ertappte sich dabei, wie er die Menschenmenge wachsam beobachtete, sein Blick von Gesicht zu Gesicht wanderte, zu hohen Fenstern und Dächern emporglitt, über die Einmündungen der Gassen schweifte. An einem Ort wie diesem konnte man ihnen leicht einen Hinterhalt legen. Auf diesem überhängenden Balkon ließen sich Bogenschützen postieren, im Eingang zu dem Gäßchen dort Schwertkämpfer. Unter seinem Mantel hielt er den Griff seines Schwertes umklammert und wußte, daß Bracht und Katya das gleiche taten. Nur Menelian wirkte völlig entspannt. Calandryll vermutete, daß der Hexer einen Schutzzauber um sie gelegt hatte. Ob mit Hilfe dieses Zaubers oder durch Zufall, jeden falls erreichten sie ohne Zwischenfälle den Hafen und passierten die Sperren. Von Quindar ek'Nyle war nichts zu sehen, aber am Trockendeck stand ein Trupp Soldaten unter dem Kommando eines Serasks und sah den Va nuern bei der Arbeit zu. Im verdämmernden Tageslicht schimmerten ihre Drachenhautrüstungen rötlichgrau wie getrocknetes Blut. Der Serask salutierte, als er Menelian erblickte, und seine Männer nahmen so rasch Haltung an, daß ihre Piken schepperten. Die vanuischen Bogen schützen, die sich unter sie gemischt hatten, begrüßten
die Neuankömmlinge mit lauten Rufen, und kurz darauf erschien Tekkan, um sich nach dem Grund für den Lärm zu erkundigen. Trotz der Kälte klebte ihm das hellgraue Haar schweißnaß am Kopf und das Hemd feucht an der brei ten Brust. Seine ledernen Hosen waren voller Sägemehl und Teerflecken, aber beim Anblick der Besucher verzog sich sein wettergegerbtes Gesicht zu einem breiten Lä cheln. »Weniger Arbeit, als ich befürchtet hatte«, sagte er oh ne Einleitung, »und mit ek'Nyles Hilfe sind wir schneller vorangekommen, als ich es zu hoffen gewagt habe. Wir können mit der Morgenebbe auslaufen.« »Nicht früher?« fragte Menelian. Tekkan schüttelte den Kopf. Sägespäne flogen aus sei nem Haar und landeten auf seinen Schultern. »Die Strö mung steht jetzt gegen uns.« Er deutete auf die Fluß mündung, wo einströmendes Meer- und ausströmendes Flußwasser gegeneinander kämpften und sich Wellen schäumend brachen. »Und meine Leute sind müde. Ich möchte ihnen eine Nacht ungestörten Schlaf gönnen, bevor sie sich wieder in die Riemen legen.« »Der Wind wird um die Morgendämmerung günsti ger sein«, mischte sich der Serask ein. »Nachts weht er vom Meer her, mit dem Tagesanbruch schlägt er um, und sobald Ihr das Hafenbecken verlassen habt, könnt Ihr Segel setzen.« Calandryll lag die Frage auf der Zunge, ob bis dahin
nicht die befürchtete Nachricht aus Nhurjabal eintreffen könnte, aber da die Soldaten sie hätten hören können, sprach er die Frage nicht laut aus. Menelians Lächeln beruhigte ihn, es zeigte nicht das geringste Anzeichen von Besorgnis. »Wie früh?« fragte Tekkan den Serask. Der Mann schnupperte in der Luft und erwiderte: »Bevor die Sonne über dieser Klippe erscheint.« Er deutete mit dem Kinn nach Osten. »Gezeitenwechsel ist um die zweite Stunde, aber der Wind wird erst zum nächsten Wachwechsel drehen.« »Und die Absperrung?« Tekkan beäugte besorgt die dicke Kette, die vor die Hafeneinfahrt gespannt war. »Entsprechende Anweisungen sind bereits erteilt worden«, versicherte ihm Menelian. »Die Absperrung wird geöffnet werden, wann immer Ihr aufbrechen wollt.« »Wenn Ihr mir eine Bemerkung gestatten würdet…« Der Serask blickte den Hexer an, der ihn mit einer Geste aufforderte fortzufahren. »Um diese Tageszeit wird der Nebel so dick wie Watte sein, und da draußen gibt es messerscharfe Felsen. Ihr solltet lieber einen Lotsen mit nehmen, der Euch sicher aufs offene Meer hinausgelei tet.« Menelian nickte und fragte: »Kennt Ihr einen? Einen zuverlässigen Mann?« »Ich würde Kalim ek'Barre empfehlen«, erwiderte der Serask. »Falls Ihr ihn dazu überreden könnt, schon so
früh aufzustehen.« »Wo kann ich ihn finden?« Der Serask deutete auf eine Reihe von Kneipen. »In ei ner von denen. Wahrscheinlich im Tyrannenkopf.« »Ich werde nach ihm schicken lassen«, versprach der Hexer, als gäbe es nicht den geringsten Zweifel an der Bereitschaft des Lotsen. »Vielen Dank für Euren Rat.« Der Serask lächelte bescheiden, und Menelian wandte sich wieder Tekkan zu. »Überlaßt das mir. Ihr werdet Euren Lotsen bekommen.« »Dann laufen wir mit dem Morgengrauen aus«, erklär te der Kapitän entschlossen. Seine hellen Augen suchten die Katyas. »Ich bitte dich, zur dritten Stunde hier zu sein.« Seine Tochter nickte und erwiderte etwas in ihrer Mut tersprache, worauf Tekkan schmunzelte. »Nein, danke, ich finde einen Platz an Bord«, sagte er in der allgemein gebräuchlichen Sprache, damit auch die anderen ihn verstehen konnten. »Trotzdem halte ich es für klüger, daß ihr drei diese Nacht noch bei unserem Freund Mene lian bleibt.« Der Hexer nickte zustimmend. »Ich werde sie zur ver abredeten Zeit herbringen«, versprach er. »Wollt Ihr nicht mit uns essen?« Tekkan lehnte auch dieses Angebot ab, und Menelian verbeugte sich. »Ich werde mit dem Kommandanten sprechen«, sagte er. »Und wenn wir hier nicht mehr
gebraucht werden, würde ich vorschlagen, daß wir ge hen.« Sie erkundigten sich bei dem Serask nach ek'Nyles Aufenthaltsort, verabschiedeten sich und machten sich auf den Weg zu dem Offizier. Der Militärkommandant inspizierte die Armbrüste auf der anderen Seite der Mole. Er gab sich zurückhaltend, als er mit Menelian sprach, und musterte die anderen – mit Ausnahme von Katya – nur flüchtig. Calandryll beo bachtete Bracht und stellte erfreut fest, daß das dunkle Gesicht des Söldners unbewegt blieb; die einzige Reakti on bestand aus einem kaum merklichen Zusammenpres sen der Lippen. Menelian drehte sich lächelnd um, wink te seinen Begleitern zu, ihm zu folgen, und wartete, bis sie außer Hörweite waren. »Bisher sind noch keine Nachrichten aus Nhurjabal eingetroffen«, berichtete er, »und deshalb werden sie auch bis zu Eurer Abfahrt nicht mehr kommen. Zumin dest in dieser Beziehung brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Laßt uns also die Sache mit dem Lotsen klä ren.« Sie begaben sich in die Kneipe namens Tyrannenkopf, wo, wie der Serask vermutet hatte, Kalim ek'Barre saß und trank. Er war ein kleiner untersetzter Mann mit kleinen Augen unter buschigen Brauen. Die Pfeife, an der er ständig paffte, wenn er nicht gerade sein Bier trank, ließ seine Stimme rauh klingen. Menelians Anwesenheit half, seine Vorbehalte zu überwinden, und er versprach,
sich zur vereinbarten Zeit am Hafen einzufinden und die Fremden für zwei Varre sicher in die offene See vor Cape Vishat'yi zu bringen. »Ausgezeichnet«, stellte Menelian fest, als sie die Kneipe verlassen hatten. »Alles entwickelt sich zufrie denstellend. Ich schlage vor, daß wir jetzt in mein Haus zurückkehren, Eure Weiterreise feiern und auf Euren Erfolg trinken.« Fast hätte er Katya seinen Arm angeboten, überlegte es sich aber anders, winkte sie nur mit einer höflichen Ver beugung durch die Straßensperre vor dem Hafen und führte seine Schutzbefohlenen durch die labyrinthartigen Terrassen der Stadt zurück zu seinem Anwesen. Dort ordnete er an, daß ein festliches Abendessen und ein frühes Frühstück vorbereitet werden sollten. Ca landryll äußerte den Wunsch, vorher zu baden, und nach kurzem Zögern schloß sich ihm Bracht an. Der Kerner hatte es allerdings bedeutend eiliger, und als Calandryll das Badezimmer wieder verließ, fand er ihn besitzergrei fend neben Katya gegenüber Menelian vor dem Kamin sitzen. Das Gespräch drehte sich um das Arcanum, und der Hexer sagte gerade: »… keine leichte Reise. Wenn er Tharns Grabmal sucht, wird er es vermutlich in keinem bekannten Land finden.« Er blickte mit ernstem Gesicht auf, als Calandryll eintrat. »Ihr könnt Euch sicher den ken, worüber wir sprechen. Ich bin ebenfalls der Mei nung, daß in Rhythamuns Palast ein paar Hinweise auf sein Ziel zu finden sein könnten. Wenn nicht…«, seine
Stirn legte sich in Falten, und in seinen Augen erschien ein besorgter Ausdruck, »… möchte ich Euch dringend raten, Euch bei einem anderen Magier Hilfe zu holen.« Diese Möglichkeit war Calandryll noch gar nicht in den Sinn gekommen. »Es gibt in Lysse nur sehr wenige, die Eure Begabung besitzen«, sagte er und merkte, wie die freudige Erregung, die er über ihre baldige Abreise verspürt hatte, schon wieder etwas abflaute. »Dann sucht Euch Hilfe, wo immer Ihr sie finden könnt«, erwiderte der Zauberer. »Ruft die Jüngeren Gottheiten an, wenn die Menschen versagen. Ahrd hat Euch schon einmal einen Byah gesandt…« »Wenn wir nicht anders können«, meinte Bracht, »aber noch haben wir Katyas Stein als Wegweiser, und der zeigt nach Aldarin.« »Aye.« Menelian lächelte. »Und bisher seid Ihr erfolg reich gewesen.« Calandryll spürte die Gereiztheit zurückkehren, die seine Zuversicht früher schon gedämpft hatte. »Wollt Ihr damit sagen, Rhythamun zum Arcanum zu führen, wäre ein Erfolg gewesen?« erkundigte er sich. »Ich sage nur, daß Ihr das geschafft habt, was niemand sonst geschafft hätte«, erwiderte der Hexer unerschütter lich. Er hatte die violetten Augen fest auf Calandryll gerichtet, und ihr Ausdruck erinnerte den Jüngeren an das Geheimnis, das sie beide teilten. Menelians Worte waren direkt an ihn gerichtet, auch wenn er sich schein bar an alle wandte. »Und darüber hinaus behaupte ich,
daß die Götter mit Euch sind. Daß sie Euch ihre Kraft leihen. Diese Kraft wird Euch nicht verlassen.« Calandryll zuckte hilflos die Achseln. Bracht hob seinen Kelch zu einem Trinkspruch. »Wir haben es bis hierher geschafft«, verkündete er zuversicht lich, »und ich sage, daß dies nicht der geeignete Zeit punkt ist, um den Mut zu verlieren. Trinken wir auf den Erfolg! Trink, Calandryll, und laß diesen düsteren Ge sichtsausdruck sein.« Brachts Zuversicht machte es Calandryll schwer, zag haft in die Zukunft zu blicken. Er hob seinen Kelch, trank in tiefen Zügen, sah, daß Menelian ihn beobachtete, und nickte ihm zu. Der Zauberer würde die Geste sicher ver stehen. »Aye«, sagte er, »wir werden unsere Suche bis ans En de der Welt fortführen. Und noch darüber hinaus, wenn es sein muß.«
KAPITEL 5 Wie Gespenster erschienen sie im Hafen. Zum Schutz gegen die feuchte Kälte der Nacht und den Nebel hatten sie sich in ihre Mäntel gehüllt. In der Finsternis war der schwache Schein, den Menelians Schutzzauber warf, ihre einzige Lichtquelle, bis das Glühen der Kohleöfen ihnen anzeigte, wo die Soldaten gelangweilt und müde auf ihren Posten standen. Die Ankunft der kleinen Gruppe war ihnen eine willkommene Abwechslung in ihrem eintönigen Dienst. Der Nebel kondensierte zu feinen Tröpfchen, die zischend in die glühenden Kohlen fielen. Menelians Stellung sorgte dafür, daß niemand Fragen stellte oder Einwände erhob, als er seine Begleiter durch die Absperrungen führte. Die Feuchtigkeit ließ das Kopf steinpflaster im Hafen glitschig werden. Quindar ek'Nyle, in seinen pelzbesetzten Umhang gehüllt, schälte sich aus der Dunkelheit. Im Licht der Fackeln, die seine Es korte wie winzige rote Sterne in die Höhe hielt, glitzerten Tautropfen auf dem Federschmuck seines Helmes. Er begrüßte die Neuankömmlinge mit schwerer Stimme, die verriet, daß er gerade erst aus dem Schlaf gerissen wor den war, und führte sie ohne weitere Umstände zum Pier, wo Tekkan wartete, der in ein Gespräch mit dem Lotsen vertieft war.
Kalim ek'Barre trug einen Schafslederwams. Ca landryll fand, daß er wie einer dieser großen Affen aus sah, die angeblich im Landesinneren von Gash lebten. Sein Kopf und seine Arme waren unbedeckt. Seine schwellenden Muskeln, auf denen sich Tautropfen nie dergeschlagen hatten, glänzten wie eingeölt, und aus seinen buschigen Augenbrauen rannen dünne Wasserfä den über sein Gesicht und erweckten den Anschein, als würde er weinen. Das kleine Ruderboot, mit dem er nach Beendigung seines Lotsendienstes nach Vishat'yi zu rückkehren würde, war wie durch eine Nabelschnur mit dem Kriegsboot vertäut und dümpelte auf den Wellen. »Je eher wir aufbrechen, desto früher bin ich zurück«, sagte er statt einer Begrüßung und begab sich über die Laufplanke auf das Achterdeck des Kriegsbootes. Quindar ek'Nyles Abschiedsworte fielen nicht viel herzlicher aus, auch wenn er Katyas Hand ergriff und sich vor ihr verbeugte. An Calandryll gerichtet, sagte er: »Ich verlasse mich darauf, daß Ihr Euch nach Eurer Rückkehr für eine Unterstützung unsere Flotte einsetzen werdet.« »Das werde ich. Und ich danke Euch für Eure Hilfe.« Calandryll erinnerte sich daran, daß er die Rolle des Adligen spielte und befleißigte sich eines beiläufigen Tonfalls. Er war froh, als der Militärkommandant sich entschuldigte und mit seinen Leuten im Nebel ver schwand, um Anweisungen zu geben, die Absperrung des Hafens zu öffnen.
»So lebt denn wohl«, sagte Menelian. »Wäre die Lage in Kandahar nicht so unsicher, würde ich Euch begleiten. So aber werden Euch nur meine Gebete begleiten, und ich werde Burash Opfer darbringen, damit er Euch eine sichere Überfahrt gewährt.« »Wir danken Euch für alles, was Ihr für uns getan habt«, erwiderte Calandryll und schüttelte dem Hexer mit festem Griff die Hand. »Ich bete darum, daß Euch kein Schaden zustößt, weil Ihr uns geholfen habt.« »Wie sollte es?« Menelians ernste Miene machte einem Lächeln Platz. »Wenn die Anordungen aus Nhurjabal eintreffen, wird Quindar zwar schäumen, aber er kann nichts gegen mich unternehmen. Denn habe ich nicht meine Pflicht erfüllt? Meine Aufgabe war es, Euch zu überprüfen und festzustellen, ob Ihr eine Gefahr für Kandahar darstellt. Das habe ich getan, und Ihr wart keine Gefahr. Bruash weiß, daß Ihr es nicht seid! Mögen alle Götter Euch auf Eurem Weg begleiten, meine Freun de.« »Und Euch ebenfalls«, entgegenete Calandryll. Er hör te, wie ek'Barre vom Kriegsboot her mürrisch und unge duldig nach ihnen rief. »Wir sollten jetzt lieber aufbrechen«, drängte Tekkan. Er verbeugte sich feierlich. »Habt vielen Dank, Magier.« Calandryll folgte ihm zur Laufplanke. Bracht nickte Menelian zu und murmelte einen Abschiedsgruß, machte aber keine Anstalten zu gehen, bis der Hexer Katyas Hand losgelassen hatte und die Kriegerin zu ihm kam.
Das letzte, was sie von Menelian sahen, war seine dunkle Gestalt in den grauen Nebelschwaden. Er stand mit erhobenen Armen am Kai, bis ihn der Dunst ver schluckt hatte. »Bemannt die Ruderbänke, Kapitän«, verlangte ek'Barre. »Wir werden die Ruder brauchen, bis wir das Hafenbecken verlassen haben.« Tekkan gab den Befehl an die Vanuer weiter, und sie begannen zu singen. Ihre trällernden Stimmen gaben den Schlagrhythmus an. Das schwarze Schiff löste sich vom Kai und drehte den Drachenkopf in Richtung der Ab sperrung. Calandryll, Bracht und Katya begaben sich zum Vorderdeck, versuchten, den Nebel mit den Blicken zu durchdringen und erkannten plötzlich, daß sie sich vollständig in der Hand des Lotsen befanden. Die bevor stehende Dämmerung erzeugte einen schwachen Licht schimmer am Himmel, aber noch immer lag der Nebel in dichten Schwaden über dem Wasser, und abgesehen vom Schwanken der Planken unter ihren Füßen und dem regelmäßigen Klatschen der Ruderblätter auf das Wasser gab es keine Möglichkeit festzustellen, ob sie sich über haupt bewegten. Sie hätten genausogut auf der Stelle vor sich hin dümpeln können und mußten sich auf ek'Barres Kenntnisse des Hafens und seiner Umgebung verlassen. Irgendwo vor ihnen klang das Quietschen von Win den und das Knarren von Holz auf. Ein Ruf in der Spra che Kandahars verkündete, daß die Absperrung gesenkt worden war, und ek'Barre zog die Ruderpinne herum.
Undeutlich sah Calandryll Schemen rechts und links vorbeigleiten. Das Schaukeln des Bootes veränderte sich etwas, als sie das ruhige Wasser des Hafenbeckens ver ließen und aus dem Schutz der Felsklippen herausfuh ren. Hier wallte der Nebel, wurde vom zunehmenden Wind aufgewirbelt, je näher sie dem Ende der Fels schlucht kamen, aber noch war er so dick, daß man vom Bug aus nicht einmal das Heck des Bootes erkennen konnte. Die Wachfeuer entlang der Klippen waren ge nauso unsichtbar wie die Felswände selbst, obwohl Ca landryll sie wie ein Gewicht spüren konnte, das sich gerade außerhalb seines Sichtfeldes auf ihn zu senken drohte. »Nur gut, daß wir einen Lotsen haben«, murmelte Ka tya. »Ohne Führer hätten wir leicht stranden können.« Ein plötzliches Auffrischen des Windes unterstrich ih re Worte. Er zerriß den grauen Schleier, und das Zwie licht reichte gerade aus, um ihnen einen flüchtigen Blick auf die Landzunge, die sie umschifften, und die durch die Ebbe freigelegten scharfkantigen Felsbrocken zu gewähren. »Auch gut, daß du ein Mittel gegen meine Seekrankheit gefunden hast«, erwiderte Bracht. Er um klammerte ein Haltetau, als das Kriegsboot eine scharfe Kehre beschrieb und sich auf die Seite legte. Calandryll fand ebenfalls einen sicheren Halt. Wie in einer schnellen Abfolge undeutlicher Traumbilder sah er, daß sie aus der Felsschlucht, in die sich Vishat'yi schmiegte, in den Hauptstrom des Yst hinausstießen. Der
Wind nahm weiter zu, und die Ruderer erhöhten ihre Anstrengung, um den Kurs zu halten. Hier draußen ballte sich der Nebel an einigen Stellen zu dichten Fel dern zusammen, während er an anderen Stellen aufgeris sen war. Dicht auf der Steuerbordseite ragten steile Fels wände auf. Kleine Flecken des sich aufhellenden Him mels waren im Dunst zu erkennen. In Fahrtrichtung hörte Calandryll das dumpfe Rauschen der offenen See, verstärkt durch den Felskanal, als lauerte dort irgendein großes wildes Tier auf sie. Plötzlich glaubte er, einen geisterhaften Schemen backbord vor dem Bug zu sehen und einen zweiten in der Nähe. Er war sich unsicher. Bei diesen schlechten Lichtverhältnissen und dem Nebel, der immer noch zu Schwaden auseinanderlief und sich zu Feldern zusam menzog, war es schwer, Gewißheit zu haben. Calandryll wandte sich seinen Gefährten zu und deutete nach vorn. »Haben mir meine Augen einen Streich gespielt? Oder ist da wirklich etwas vor uns?« Katya und Bracht spähten in die angegebene Richtung. Der Kerner, der von allen vermutlich die schärfsten Au gen hatte, schüttelte den Kopf. »Ich sehe nichts…«, be gann er, doch dann riß der Wind den Nebelvorhang einen kurzen Moment lang auf. »Nein, warte! Ist das ein Boot?« »Wir sollten am besten dem Lotsen Bescheid sagen«, meinte Katya, sprang vom Vorderdeck auf das langge streckte Mitteldeck und lief leichtfüßig zum Heck.
»Fischer?« überlegte Calandryll laut, als sich der Nebel vor ihnen wieder verdichtete und die Schemen ver schluckte. »Oder kommen die Rebellen? Greift Sathoman Vishat'yi an?« »Das war kein Kriegsboot«, knurrte Bracht. Plötzlich drehte der Wind und erzeugte einen Wirbel, in dem die Dunstschwaden einen geisterhaften Tanz vollführten und eine Lücke aufrissen, und jetzt erkannte Calandryll sehr viel deutlicher als zuvor zwei schlanke, tief im Wasser liegende Boote auf der Backbordseite. »Da sind noch mehr!« stieß Bracht hervor. Calandryll folgte dem ausgestreckten Arm des Söld ners und entdeckte drei ähnliche Boote auf der Steuer bordseite. »Das sind auch keine Fischerboote«, sagte er leise. »Ob Sathoman einen Überfall vorhat?« fragte Bracht. »Versucht er, sich heimlich anzuschleichen?« »Mit der einbrechenden Morgendämmerung und ge gen die Strömung der Ebbe?« Calandryll schüttelte den Kopf. »Es scheint eher so, als würden sie dort warten.« Bracht stemmte sich gegen den Neigungswinkel des Decks. Seine rechte Hand schloß sich um den Griff seines Krummschwertes. »Es sind auch keine Piratenschiffe. Was dann? Warten die vielleicht auf uns?« Calandryll spürte seine Anspannung wachsen, als er abzuschätzen versuchte, wieviel Mann jedes Boot trug. Sie erweckten einen schnittigen Eindruck, hatten die
Masten eingeholt und lagen tief im Wasser. Das schwa che Licht erschwerte eine Schätzung der Besatzungsstär ke. Calandryll hatte den Eindruck, daß sechs bis acht Ruderer auf jeder Seite saßen, und zwischen den Ruder bänken schienen sich noch mehr Männer zu drängen. »Ich glaube, daß wir das einzige auslaufende Boot sind«, sagte Bracht grimmig. Calandryll lockerte das Schwert in seiner Scheide. »Der Lotse vermutet, daß es heimkommende Fischer sind.« Beim Klang von Katyas Stimme fuhren die beiden Männer herum. »Ahrd weiß, daß ich alles andere als ein Seemann bin«, knurrte Bracht, »aber ich bezweifle, daß Fischer solche Boote besitzen.« Vom Heck her rief Tekkan einen Befehl, worauf das Kriegsboot langsamer wurde. »Nein!« schrie Calandryll, der sich erst jetzt bewußt wurde, daß er wieder das Heck sehen konnte. »Schneller! Wir müssen sie abhängen!« Katya starrte die anderen Boote an und wiederholte dann Calandrylls Warnung in ihrer Muttersprache. Die Ruderer zögerten, gerieten durch die widersprüchlichen Befehle aus dem Takt. Es kam zu einer verzweifelten, hektischen Aktivität, als die vanuischen Frauen versuch ten, ihre Bögen hervorzukramen, die zum Schutz gegen die durchdringende Feuchtigkeit in Ölpapier eingewi
ckelt waren. Wären sie bereit gewesen, hätten die ande ren Boote wohl kaum eine Chance gehabt. Das Kriegs boot war größer und hätte mit seiner Masse jedes der anderen Boote rammen und versenken können, während die Bogenschützen die Angreifer schon beim Näher kommen dezimierten. Doch der Nebel und die Zeit waren gegen sie. Die schlanken Boote waren jetzt schon zu nahe und stießen wie ein Wolfsrudel, das sich auf seine Beute stürzt, von allen Seiten auf das unentschlossen schwankende Kriegsboot zu. »Sie greifen an!« brüllte Bracht. »Ahrd verfluche sie!« Calandryll sah graugekleidete Männer mit Tüchern vor den Gesichtern, die nur ihre Augen freiließen. Un zählige drängten sich in den Booten. Er warf einen kur zen Blick heckwärts, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Kalim ek'Barre einen Knüppel unter seinem Schaflederwams hervorzog und ihn auf Tekkans Kopf niederfahren ließ. Der Kapitän taumelte, das Ruder im mer noch mit einer Hand haltend, die andere abwehrend erhoben. Als ihn der zweite Schlag traf, stürzte er zu Boden, riß das Ruder mit seinem Körpergewicht herum, und das Kriegsboot legte sich auf die Seite. Dann waren die Angreifer längsseits gegangen, und die graugekleideten Männer kletterten mit katzenhafter Geschmeidigkeit über die Ruder an Bord, durch die Ü berraschung und ihre Anzahl eindeutig im Vorteil. Ca landryll bemerkte, daß er das Schwert bereits in der
Hand hielt, und hörte Bracht rufen: »Rücken an Rücken! Haltet sie euch vom Leib!« Das Krummschwert des Kerners zuckte wie eine Schlange auf den verhüllten Kopf zu, der über der Reling des Vorderdecks auftauchte, und der Angreifer keuchte erstickt auf. Der graue Stoff färbte sich rot, und der Mann stürzte über Bord. Calandryll hieb nach einem anderen, trieb ihn zurück und sah, wie Katya einem dritten eine blutige Kerbe in die Brust schlug. Er täuschte an, als sich ihm drei mas kierte Männer näherten, riß die Klinge mit einer verdeck ten Bewegung herum, ließ sie auf einen Arm niederfah ren und spürte, daß sein Gegner einen Kettenpanzer unter dem Hemd versteckt trug. Er trat nach dem Mann und schlug in einer kreisenden Bewegung nach dem Bauch eines anderen. Dieser trug keine Schutzkleidung unter seiner Tunika, und Calandryll verspürte wilde Befriedigung, als der Mann schrill aufschrie. Das Kriegsboot schien bereits überrannt zu sein. Die maskierten Männer ergossen sich so schnell über das Deck, daß nur wenige der friedlichen Vanuer überhaupt die Zeit fanden, ihre Waffen zu ergreifen. Sie fielen unter dem Ansturm, wurden Opfer von ek'Barres Verrat, und Calandryll stieß einen Fluch aus, entschlossen, sein Le ben so teuer wie möglich zu verkaufen, wenn er denn schon sterben mußte. Er war auf den Tod vorbereitet, nicht jedoch auf die Erkenntnis, daß keiner der Angreifer eine scharfe Waffe
trug. Sie hatten keine Schwerter, Dolche oder Entermes ser, sondern nur stumpfe Waffen, um ihre Opfer kampf unfähig oder bewußtlos zu schlagen, ohne sie zu töten, Knüppel, Keulen, metallverstärkte Kampfstäbe oder Metallhandschuhe. Und Netze, wie Calandryll in dem Moment erkannte, als ein feines Gespinst vor seinen erstaunten Augen in die Höhe stieg und sich über ihm entfaltete. Es gab nicht genug Platz, um ihm zu entgehen. Das Netz fiel ihm über Kopf und Schultern, legte sich um ihn und riß seinen Schwertarm herab. In seinem Rücken hörte er Bracht aufschreien und fühlte, wie der Kerner gegen ihn gepreßt wurde, als das Netz sie zusammen schnürte. Auch Katya wurde davon erfaßt; sie waren gefangen wie die Fische. Calandryll verlor das Gleichge wicht und stürzte zusammen mit seinen Gefährten auf die Deckplanken. Und dann fuhr ihm ein Schmerzblitz durch den Schä del, strahlend hell wie die aufgehende Sonne, und gleich darauf versank alles um ihn herum in undurchdringli cher Finsternis. Sein erster Reflex war es, über den pochenden Schmerz in seinem Schädel zu stöhnen, sein zweiter, sich zu übergeben. Der Drang war unwiderstehlich. Ca landryll fühlte bittere Gallenflüssigkeit in seiner Kehle aufsteigen, drehte den Kopf zur Seite und erbrach seinen Mageninhalt in eine Pfütze Brackwasser. Nachdem er seinen Magen geleert hatte, wollte er sich den Mund
abwischen und stellte fest, daß er es nicht konnte. Die Hände waren ihm auf dem Rücken verschnürt worden, ein Seil zog seine Ellbogen schmerzhaft fest zusammen, seine Handgelenke steckten in einer Schlaufe an seiner Hüfte. Auf die gleiche Weise waren seine Beine an Knien und Fußgelenken gefesselt worden und wurden durch ein kurzes Seil, das ebenfalls an seiner Hüfte verknotet war, festgehalten. Von seinem Kopf abgesehen, konnte er sich nicht bewegen. Dunkelheit umgab ihn, als er die Augen öffnete, und außer dem beißenden Gestank des Erbrochenen roch es nach öligem Segeltuch. Panik erfaß te ihn; er versuchte, sich aufzusetzen, und spürte Schmerzen wie Nadelstiche durch seinen Kopf zucken, als er gegen Holz stieß. Calandryll schrie auf und schmeckte Teer auf Lippen und Zunge. Er kämpfte gegen die Panik und das Entsetzen an, sagte sich, daß er noch am Leben war und noch Hoffnung bestand, und zwang sich dazu, halbwegs ruhig nachzudenken. Es war schwer, die Beherrschung wiederzufinden, und noch schwerer, sie nicht gleich wieder zu verlieren, aber schließlich gelang es ihm trotz des unkontrollierten Zit terns seiner gefesselten Gliedmaßen und der grauenhaf ten Kopfschmerzen, seine Lage einzuschätzen. Er lag gefesselt unter einer Segeltuchplane mit dem Rücken in einer Pfütze Salzwasser, auf allen Seiten von Holz umge ben, und schaukelte im Rhythmus eines fahrenden Boo tes. Als er sich konzentrierte, konnte er das gleichmäßige Klatschen ins Wasser tauchender Ruder und das Plät schern von Wellen gegen den Bug hören. Er rekapitulier
te das Geschehen: Die flachen Boote hatten einen Hinter halt im Nebel gelegt, Kalim ek'Barre hatte Tekkan nie dergeschlagen, grauvermummte Gestalten hatten sie angegriffen und hielten ihn jetzt in einem Boot gefangen. Calandrylls Hoffnung schmolz wie ein Eisklumpen im Feuer dahin, als ihm die Erkenntnis dämmerte: die An greifer waren Chaipaku! Wieder verkrampfte sich sein Magen, spülte eine Wo ge der Furcht über ihn hinweg. Es konnte sich nur um Chaipaku handeln. Wäre sein Magen nicht bereits leer gewesen, hätte er sich erneut übergeben, so aber zitterte er nur, und seine Zähne klapperten wie die Kastagnetten von Tänzerinnen aufeinander. Er war in der Gewalt der Chaipaku! Und was noch schlimmer war, er war ihnen lebendig in die Hände gefallen. Sie hatten ihn gar nicht töten wol len – wieso nicht? Die Antwort erfolgte so unerbittlich, wie der Donner dem Blitz folgt: weil sie nicht vorhatten, ihn mit einem schnellen Schwerthieb zu töten. Sie wür den ihm zweifellos einen langsamen und qualvollen Tod bescheren. Calandryll schmeckte Blut, als seine klappernden Zähne über seiner Zungenspitze zusammenschlugen, und zu seiner Angst gesellte sich eine betäubende Bitter keit. Wo war jetzt die Macht, die Menelian in ihm gese hen haben wollte? Wo war diese magische Gabe, mit der er Katya zurückgeschlagen und die Kanus an der Küste Gashs zum Kentern gebracht hatte? Jene Macht, die ihm
schon einmal gegen die Bruderschaft zu Hilfe gekommen war? Anscheinend war sie nur durch Rhythamuns Stein freigesetzt worden, denn jetzt ließ sie ihn hilflos im Stich. Er lachte, der Hysterie nahe, und die verrückte Heiterkeit in seiner Stimme paßte zu dem ekligen Geschmack in seinem Mund und dem Schmutz, in dem er lag. Macht? Er besaß keine Macht und auch kein Talent, abgesehen von dem, blindlings in jede Gefahr zu laufen. Er spuckte Blut und Gallenflüssigkeit aus; das Entsetzen und die Verbitterung schwanden zusammen mit der Hoffnung und machten einem lähmenden Schwächegefühl Platz. Nun stand das Ende also fest; er würde das furchtbare Schicksal erleiden, das die Chaipaku für ihn vorgesehen hatten, und Rhythamun würde ungestört seinem Ziel nachgehen können, den Verrückten Gott wiederzuerwe cken. Dank des blinden Ehrgeizes seines Bruders würde Tharn noch einmal über die Welt wandern, dank Tobias würden alle zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit im Chaos versinken, unter den Füßen eines irrsinnigen Gottes zertreten werden. Auf eine obszöne Weise war es fast schon erheiternd, daß es so enden soll te, daß das Schicksal der Welt durch die grundlose Angst seines Bruders besiegelt werden würde. Sein Gelächter brach ab. Hätten seine Fesseln es zuge lassen, hätte er sich wahrscheinlich in Embryonalhaltung zusammengekrümmt, so aber schloß er nur erschöpft die Augen und tauchte in Verzweiflung und eine Art von Schlaf ein.
Wie lange dieser Zustand angedauert hatte, konnte er nicht sagen. Als er die Augen wieder öffnete, schwankten die Holzplanken noch immer unter ihm, die Ruder klatschten noch immer ins Wasser, und die Wellen schlugen nach wie vor gegen den Bug, aber am Rande der Segeltuchplane entdeckte er jetzt einen schwachen Lichtschimmer, und ihm schien, als hätte sich die Was serströmung verändert. Er stöhnte, verspürte eine unbe stimmte Zeit lang das Bedürfnis, sich wieder in das Dun kel des Vergessens zu flüchten, aber als ihm das nicht gelang und ihm nichts anderes übrigblieb, als über sein Schicksal nachzudenken, versuchte er, seine unmittelbare Situation so genau wie möglich zu erfassen. Sein erster Gedanke galt Bracht und Katya, die ver mutlich in einer vergleichbaren Lage steckten, obwohl er nicht wußte, ob sie sich auf dem gleichen Boot wie er befanden; er wußte nur, daß sie ebenfalls in dem Netz gefangen worden waren. Und Tekkan, die vanuische Besatzung und das Kriegsboot selbst – was war wohl aus ihnen geworden? Der verräterische ek'Barre hatte den Steuermann niedergeschlagen, ihn aber nicht getötet, soweit Calandryll das beurteilen konnte. Auch waren die Boote der Angreifer nicht groß genug gewesen, um die gesamte vanuische Mannschaft zu fassen. Hatte man ihnen also die Freiheit geschenkt? Das schien ihm wahr scheinlich, denn die Bruderschaft der Meuchelmörder hatte weder den Auftrag, sie zu töten, noch hatte sie Streit mit ihnen. Sie hatte es nur auf ihn, Calandryll, abgesehen, weil sein Bruder sie dazu angeheuert hatte,
und auf seine Gefährten, weil sie Mehemmed, Xanthese und die anderen getötet hatten. Calandryll fragte sich, was die Vanuer tun würden. Vielleicht würden sie nach Vishat'yi zurückkehren, um Menelian um Hilfe zu bitten, vielleicht aber auch nicht, denn sie mußten befürchten, gefangengenommen zu werden, sobald die entsprechen den Anweisungen aus Nhurjabal eintrafen. Und wenn sie es doch taten, würde Menelian ihnen jetzt noch helfen können? Es erschien ihm unwahrscheinlich. Wahrschein lich war, daß Tekkan weitersegeln würde, entweder nach Aldarin oder zurück nach Vanu. Vielleicht würden die Heiligen Männer dieses unbekannten Landes andere Sucher ausschicken, aber würden sie schnell genug han deln können, um Rhythamuns Pläne zunichte zu ma chen? Wieviel Zeit blieb ihnen noch? Calandryll schob den Gedanken beiseite und konzent rierte sich auf die greifbareren Dinge. Die Segeltuchpla ne, unter der er lag, war nicht festgezurrt, und indem er sich wie ein Wurm wand, gelang es ihm, ein Ende weit genug anzuheben, daß Sonnenlicht und wohltuend fri sche Luft in sein Gefängnis gelangten. Dicht vor seinem Gesicht sah er Filzstiefel, wahrscheinlich die eines Rude rers, und aufgrund der veränderten Ruderschläge und Schaukelbewegungen des Bootes nahm er an, daß sie den Yst flußaufwärts fuhren. Also an Vishat'yi vorbei zu irgendeinem tiefer im Landesinneren gelegenen Ort. Das Sonnenlicht war hell genug, um die Vermutung nahezulegen, daß der Tag bereits weit fortgeschritten
war. Also hatten sie die Stadt wahrscheinlich im Schutz des Nebels passiert und mühten sich stromaufwärts nach … Mit großem Widerwillen zwang er sich dazu, alles zu rekapitulieren, was er über die Chaipaku gelesen hatte. Sie waren früher Verehrer Burashs gewesen, eine Sekte, die für ihre blutrünstigen Opfer berüchtigt gewesen und durch ihre Abspaltung von der orthodoxen Kirche iso liert worden war. Trotzdem unterhielten ihre Mitglieder auch weiterhin Tempel – Calandryll erinnerte sich, daß Sarnium oder Medith davon berichtet hatten, wußte aber nicht mehr, welcher von beiden Historikern der verläßli chere war –, und in diesen Tempeln – das wußte er mit entsetzlicher Sicherheit – führten sie immer noch Men schenopfer durch. Er biß die Zähne zusammen, als sie erneut aufeinanderzuschlagen drohten. Mit einem Tod durch das Schwert hätte er sich abfinden können, das hatte er bereits bewiesen, aber sich vorzustellen, daß er gefesselt und hilflos vor Dera treten sollte, war etwas ganz anderes. Außerdem, so ging es ihm durch den Sinn, konnte er gar nicht sicher sein, daß er überhaupt zu sei ner Göttin finden würde. Wenn die Chaipaku ihn Burash opferten, würde er dann von dem Gott angenommen werden? Oder würde er für alle Ewigkeit durch die Vor hölle wandern müssen und weder bei Burash noch bei Dera Zuflucht finden? Er schob die theologischen Erörte rungen beiseite; das Schicksals seines Körpers hatte im Augenblick Vorrang vor dem seiner Seele, und alles, was er tun konnte, um sich auf den Übergang von dieser Welt in die nächste vorzubereiten, beschränkte sich auf die
Hoffnung, daß seine eigene Göttin ihn zu sich holen würde. Er flüsterte ein fast vergessenes Gebet und ver suchte, die Segeltuchplane noch etwas höher anzuheben. Seine Bemühungen wurden mit einer Verwünschung und einem Fußtritt belohnt, der ihm wahrscheinlich die Zähne zerschmettert hätte, wäre der Eigentümer des Stiefels nicht so sehr mit dem Rudern beschäftigt gewe sen. So aber drückte der Stiefel nur die Plane nach unten und schickte Calandryll zurück in die stinkende Dunkel heit. Er gab die Verwünschung zurück, machte aber keinen weiteren Versuch mehr, die Plane anzuheben. Die Zeit schlich langsam dahin, bis er spürte, wie das Boot die Richtung änderte und die Wellen jetzt lauter gegen die Bordwand als gegen den Bug klatschten. Dann durchlief ein Zittern den Rumpf, und Calandryll hörte das Knirschen des Kiels über Geröll, vernahm Rufe und das Platschen von Füßen durch Wasser. Er wurde durch gerüttelt, als das Boot an Land gezogen wurden, dann wurde die Segeltuchplane zurückgeschlagen und er brutal hochgerissen. Man zerrte ihn grob auf einen schmalen dunkelgelben Sandstrand und ließ ihn dort fallen. Füße gingen dicht vor seinem Gesicht vorbei, sanken tief in den Sand ein, und die Löcher füllten sich sofort mit Wasser. Der Überschwemmungsstreifen ent lang des Ufers und die überall herumliegenden Mu scheln ließen auf eine von den Gezeiten beeinflußte Bucht schließen. Calandryll vermutete, daß sie nicht allzuweit vom Meer entfernt waren, hob den Kopf und
blickte sich um. Unmittelbar vor ihm erhob sich eine steile Felswand aus dunklem Basalt, die an einigen Stellen Löcher wie Narben aufwies, wo Felsbrocken aus ihr herausgebro chen waren und einen Geröllhaufen an ihrem Fuß bilde ten. Von beiden Seiten der Steilwand liefen abfallende Felsvorsprünge bogenförmig um das Ufer herum und verbargen den größten Teil des Strandes vor den Blicken. Die Chaipaku schleppten die Boote dort hinauf, wo sie vom Fluß her nicht mehr zu sehen waren. Zu seiner Rechten entdeckte Calandryll Katya, die wie er gefesselt war. Das flachsblonde Haar klebte ihr im Gesicht, ihr Schwertgürtel war verschwunden. Während er sie an starrte, öffnete sie die sturmgrauen Augen, und er sah sie zornig aufblitzen. Trotz ihrer mißlichen Lage verspürte er ein Gefühl großer Erleichterung darüber, daß sie noch lebte. Er brachte ein Lächeln zustande, das sie mit einem Verziehen der Lippen erwiderte. Auch sie bewegte jetzt den Kopf und versuchte herauszufinden, wohin man sie verschleppt hatte. Erst als er sich beinahe den Hals ver renkte, entdeckte Calandryll Bracht, der etwa einen Schritt hinter ihm auf der anderen Seite, näher am Was ser lag. Eine häßliche dunkelrote Beule verunzierte die Wange des Söldners. Sie war so dick angeschwollen, daß sein linkes Auge zu zwinkern schien, und seine Mund winkel hatten sich verzogen und erweckten den An schein, als würde er gleichzeitig lächeln und knurren. Es war eher ein bösartiges Knurren, entschied Ca
landryll, als er sah, wie der Kerner an seinen Fesseln zerrte. Ein Chaipaku, der die sinnlose Anstrengung be merkte, hielt einen Moment lang in seiner Arbeit inne und trat den kämpfenden Krieger in den Bauch. Bracht keuchte, preßte die Zähne zusammen, drehte dem Mann sein verzerrtes Gesicht zu und blickte zu ihm auf. »Gib mir ein Schwert, Fischliebhaber«, stieß er her vor, »und du wirst keine zweite Gelegenheit mehr zu so etwas bekommen!« Die einzige Antwort bestand aus einem höhnischen Lachen und einer Geste, worauf zwei andere Chaipaku den Söldner hochrissen. Sie schoben ihm eine Stange unter die Arme, jeder ergriff ein Ende, und so schleppten sie ihn zu der Felswand wie ein Tier zur Schlachtbank. Calandryll sah, wie das Gesicht seines Kameraden blaß wurde, als es ihm fast die Schultern auskugelte, aber Bracht gab keinen Laut von sich. Dann mußten Ca landryll und Katya die gleiche grobe Behandlung über sich ergehen lassen, und sie folgten Brachts Beispiel und unterdrückten einen Aufschrei, als ihr gesamtes Gewicht auf ihren Schultergelenken lastete und die Träger mit ihren Gefangenen schnell über den Strand zu einem niedrigen Höhleneingang liefen, der hinter dem Felsge röll verborgen lag. Die Sonne stand direkt über dem Klippenrand, und die Höhlenöffnung lag im Schatten. Sie erschien Ca landryll wie eine von der See ausgewaschene Einker bung, was seinen Eindruck bestätigte, daß sie sich immer
noch im Wirkungsbereich des Meeres befanden, und als Fackeln entzündet wurden, sah er, daß der Boden mit Seegras bedeckt war. Die Luft roch nach Salz und Tang. Es war jedoch mehr als nur eine Aushöhlung des Felsens, denn die graugekleideten Männer gingen zielstrebig weiter, und das Loch erwies sich als tiefer, als es auf den ersten Blick ausgesehen hatte. Am anderen Ende gab es einen Durchgang, der nur hüfthoch und so schmal war, daß die Chaipaku einzeln auf Händen und Knien hin durchkriechen mußten. Die Gefangenen wurden hin durchgezerrt und auf der anderen Seite, wo der Tunnel in eine weitaus größere Höhle mündete, wieder aufge richtet. Die Fackeln entrissen der Dunkelheit eine hohe gewölbte Decke und grob aus dem Fels gehauene Stufen, die auf einer Seite zu einem Sims hinaufführten, hinter dem sich ein weiterer Tunnel anschloß. Dieser war breit genug, daß ihn drei Männer nebeneinander durchqueren konnten, und mehrere Handspannen höher als der größ te von ihnen. Er beschrieb eine scharfe Linkskehre, was Calandryll vermuten ließ, daß er parallel zum Fluß wei terlief, und auf seiner gesamten Länge standen Fackeln, die nicht entzündet worden waren, in verrosteten Me tallhalterungen. Anscheinend wurde der Gang regelmä ßig benutzt. Er endete vor einer Metalltür. Der Chaipaku an der Spitze des Zuges zog einen Schlüssel hervor, steckte ihn in das Schloß, wo er sich mühelos umdrehen ließ, und die Tür schwang in gut geölten Angeln auf. Dahinter erhellten flackernde Fackeln ein riesiges Ge wölbe, in dem Licht und Schatten einen verwirrenden
Tanz aufführten. Der hintere Bereich und die Decke ver loren sich in der Dunkelheit. In der Tiefe unter sich er haschte Calandryll einen kurzen Blick auf eine sehr viel grellere Helligkeit. Die Tür schlug mit einem furchtbar endgültig klingenden Scheppern zu, und die Gefangenen wurden der Länge nach eine weitere Treppe zu der hel len Lichtquelle hinuntergeschleift. Man ließ sie in einem aus dicken Steintafeln bestehen den Kreis zu Boden fallen. Auf jeder dieser Tafeln war eine große Silberschale angebracht, in der scharf riechen des Öl brannte und das Innere des Kreises in unbarm herzig weißes Licht tauchte, das auf Fels fiel, der zu glatt war, um natürlichen Ursprungs zu sein. Die Chaipaku zogen die Stangen unter den Armen ihrer Gefangenen hervor und durchschnitten die Seile, die ihre Fußgelenke mit ihren Hüften verbanden, so daß sie ihre verkrampf ten Beine ausstrecken und ihre protestierenden Muskeln lockern konnten. Calandryll sah, daß Bracht und Katya rechts neben ihm lagen und sich die Chaipaku um sie herum versammelten. Die Männer betrachteten sie, wie Schlachter Fleischstücke begutachten mochten, bevor sie sie zerlegten. Sie sagten kein Wort, und ihr Schweigen wirkte furchteinflößender, als es Schläge hätten tun können. Bracht überschüttete sie mit Verwünschungen, erhielt jedoch keine Antwort. Katya lag still da, aber noch im mer funkelte Wut in ihren Augen. Calandryll, dem jetzt die Angst wie ein eiskalter Klumpen im Magen lag, starr
te um sich. Ihm wurde bewußt, daß er hier etwas sah, was keinem der Forscher, deren Berichte er gelesen hatte, jemals zu Augen gekommen war, etwas, das bisher nur die Bruderschaft der Meuchelmörder gesehen hatte. Aus den Steinen waren die Abbilder Burashs in all seinen Manifestationen gehauen worden, als Mensch und See ungeheuer und Chimäre aus beidem. Sie trugen Inschrif ten in einer antiken Sprache, und voller Bitterkeit erin nerte sich Calandryll an Rebas Prophezeiung: Ihr werdet weit reisen und Dinge sehen, die kein Mensch aus dem Süden jemals zuvor gesehen hat. Das hatte sich tatsächlich be wahrheitet, denn er erkannte, daß dies ein Heiligtum der Chaipaku war, einer ihrer geheimen Tempel, deren Zu tritt allen außer den geweihten Mitgliedern der Bruder schaft verboten war. Die Drohung, die von den tief in den Stein gehauenen Abbildern ausging, übte eine hypnotische Wirkung aus, und Calandryll fiel es schwer, den Blick von ihnen loszu reißen und ihn auf die Chaipaku zu richten, die ihre Gefangenen aus kalten Augen betrachteten. Sie wirkten erbarmungslos und entschlossen und vermittelten die gräßliche Gewißheit, daß es an ihrem baldigen Tod nicht mehr den geringsten Zweifel gab. Calandryll verspürte ein überwältigendes Bedürfnis aufzuschreien, gegen sein Schicksal zu protestieren, diesen unbarmherzigen stum men Zuschauern klarzumachen, auf welcher Mission er sich befand, welche furchtbaren Folgen die Opferzere monie nach sich ziehen würde, die sie so offensichtlich durchzuführen gedachten. Er preßte die Zähne zusam
men, um dagegen anzukämpfen. Hier würde er keine Gnade finden, in diesen Augen war nichts, was auch nur den geringsten Hoffnungsschimmer gerechtfertigt hatte. »Was, glaubt ihr, haben sie mit uns vor?« wandte er sich an seine Gefährten. Er war mehr als nur ein bißchen überrascht, daß seine Frage keine Reaktion bei den Chaipaku hervorrief. Sie blieben auch teilnahmslos, als Bracht ein grimmiges Lachen ausstieß und antwortete: »Uns umzubringen.« »Aye, das weiß ich auch.« Calandrylls Überraschung wuchs, als er feststellte, wie fest seine Stimme klang. Vielleicht schwang Bedauern in ihr mit, aber sie hörte sich weder schrill noch quäkend an. »Aber wie?« »Nicht so, wie es Krieger tun würden«, erwiderte der Kerner und bedachte die schweigenden Beobachter mit einem verächtlichen Blick. »Ich denke, daß solche Fisch anbeter Angst vor einem ehrenhaften Schwertkampf haben.« »Durften meine Leute in Frieden weitersegeln?« Katy as Frage war gleichermaßen an die Chaipaku wie an ihre Gefährten gerichtet, und sie erntete das gleiche steinerne Schweigen. »Ich habe gesehen, wie ek'Barre Tekkan niederge knüppelt hat«, sagte Calandryll schließlich. »Mögen ihm alle Götter die letzte Ruhe verweigern!« fauchte Katya. »Aber ich glaube, ihr Groll gilt nur uns«, fuhr Ca
landryll fort. »Nicht deinen Leuten. Vielleicht segelt das Boot weiter.« »Zumindest bleibt uns diese Hoffnung«, murmelte sie. »Und kaum eine andere«, sagte Bracht. Sein lädiertes Auge war mittlerweile fast völlig zugeschwollen, und sein Mund verzog sich zu einem wehmütigen Grinsen, als er das andere auf sie richtete. »Was für eine Schande das doch ist.« »Daß Rhythamun dank dieses Abschaums erfolgreich sein wird?« Katya nickte inbrünstig. »Aye.« »Das auch«, gab Bracht leise zurück, »obwohl ich ei gentlich an etwas anderes gedacht hatte.« Katya runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?« wollte sie wissen. »Daß wir jetzt nie in Vanu ankommen werden«, er klärte der Kerner. »Daß ich dich jetzt nie an dein Ver sprechen werde erinnern können.« Calandryll starrte den Söldner an. Es verblüffte ihn, daß der Kerner selbst in dieser Situation noch die Zeit fand, an seine Leidenschaft zu denken. Er sah, wie Brachts Grinsen breiter wurde, als aus Katyas Stirnrun zeln ein zögerndes Lächeln wurde und eine leichte Röte über ihr gebräuntes Gesicht huschte. »Nein«, sagte sie leise. »Wenn wir es geschafft hätten«, ließ Bracht nicht lo cker, »wie hätte deine Antwort gelautet?« Die Kriegerin sah dem Kerner eine lange Zeit in die
Augen, dann senkte sie den Blick und hauchte so leise, daß es kaum zu hören war: »Aye.« Und dann fiel Calandryll vor Schrecken und Überra schung die Kinnlade herab, und auch die Chaipaku starr ten ihren Gefangenen verwundert an, denn plötzlich brach brüllendes und freudiges Gelächter aus Bracht hervor. »Dann werde ich glücklich sterben«, stellte der Kerner fest und fügte grinsend hinzu: »Wenn auch nicht so glücklich, wie ich es hätte sein können.« Katya schüttelte den Kopf, aber auch sie lächelte jetzt, und Calandryll bemerkte, daß sich seine Mundwinkel ebenfalls verzogen. Er zog Kraft aus der Art, in der Bracht das Unvermeidliche ruhig hinnahm, und er war entschlossen, dem Tod, wie immer dieser auch aussehen mochte, mit der gleichen Tapferkeit wie seine Gefährten gegenüberzutreten. Seine Entschlossenheit geriet ein wenig ins Wanken, als Bewegung in die Chaipaku kam. Sie verneigten sich ehrfürchtig und traten auseinander, um einem Neuan kömmling den Weg in den Steinkreis freizumachen. Dieser war nicht in unauffälliges Grau gekleidet, sondern trug ein wallendes, in dunklem Seegrün gehaltenes Ge wand, das sich wie Wellen auf einer Wasseroberfläche kräuselte, über die der Wind strich. Saum und Ärmel waren mit Darstellungen von Raubfischen bestickt, und vor seiner Brust hing eine Reliefmedaille mit dem grim migen Antlitz Burashs an einer goldenen Kette. Das glei che Bild zierte die Goldmaske vor dem Gesicht des Man
nes, die vom Alter stumpf geworden war und einen grünlichen Schimmer angenommen hatte. Der Farbton betonte den Bezug zum Meer. Die Maske stellte einen zornigen Gott dar, mit heruntergezogenen Mundwinkeln und zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen, in denen die schwarzen Augäpfel drohend glitzerten. Der Mann streckte eine Hand von unbestimmbarem Alter aus, auf deren Rücken sich schwarze Haare kräu selten, und deutete mit dem Finger anklagend auf die Gefesselten. »Das sind sie!« Die Stimme schien durch die Maske verstärkt zu werden, dröhnte wie Wellen, die gegen Felsen schlugen. »Diejenigen, die unsere Brüder erschla gen haben!« »Die unsere Brüder erschlagen haben!« schrien die Umstehenden. »Die Erwählten Burashs!« »Die Mehemmed erschlagen haben!« rief der Mann mit der Maske, ein Priester, wie Calandryll erkannte. Oder zumindest einer, den die Chaipaku als Priester verehrten. »Und Xanthese!« antworteten die anderen. Nachein ander rezitierten sie, einem Ritual folgend, die Namen der in Kharasul getöteten Chaipaku, und als sie geendet hatten, rief der maskierte Priester: »Wie sollen sie dafür büßen?« »Burash soll sie richten!« ertönte die Antwort. »Aye. Sie haben gegen unseren Gott gefrevelt, und so soll unser Gott über ihr Schicksal entscheiden.« Der
Priester machte eine Geste. »Stellt sie auf!« Die Chaipaku zerrten die Gefangenen grob auf ihre Füße. Der Priester berührte sie nacheinander an der Brust. »Burash wird über sie richten«, verkündete er, »denn niemand darf seinen Auserwählten ein Leid zufügen, ohne seinen Zorn zu erleiden.« »Gib mir mein Schwert zurück«, keuchte Bracht mit rauher Stimme, »und ich werde eurem Fischgott zeigen, wie ein Krieger aus Cuan na'For über ihn richtet!« Der Priester ignorierte die Beleidigung, machte nur ei ne auffordernde Handbewegung und drehte sich um. Sein Gewand rauschte, als er zwischen zwei Steintafeln in die Dunkelheit ging. Grobe Hände packten Calandryll an den Armen und stießen ihn hinter dem Priester her. Die Chaipaku hatten mittlerweile einen leisen Singsang angestimmt, das Steigen und Fallen ihrer Stimmen imi tierte das Meeresrauschen. Die Worte waren zu leise, als daß er sie hätte verstehen können, aber der Tonfall war so kalt wie die winterliche See. Er wurde hinter dem Priester hergetrieben, zwischen den Felstafeln hindurch über einen von kleineren Steinen gesäumten Weg, der nicht beleuchtet war. Die einzige Lichtquelle, die immer schwächer wurde, war das brennende Öl in den Silber schalen. Der Weg führte so steil bergab, daß Calandryll glaubte, sie würden jeden Moment den Wasserspiegel des Flusses erreichen. Katya und Bracht gingen hinter ihm, die verbliebenen Meuchelmörder folgten ihnen in
einer Prozession. Der Pfad wurde noch abschüssiger, dann wieder eben und führte schnurgerade auf eine niedrige bogenförmige Öffnung zu, aus der ein bleicher Schimmer drang. Es war kein Fackellicht, sondern ein gleichmäßigeres Leuchten wie Mondschein auf unbewegtem Wasser, ein Wechselspiel aus grünem und silbernem Licht, das stän dig um die Vorherrschaft über den jeweils anderen Farb ton zu kämpfen schien. Der Geruch von brennendem Öl und rußenden Fackeln ließ nach und wurde von den Gerüchen des Meeres nach Seetang und Schalentieren abgelöst, wie man sie in felsigen Gezeitentümpeln an trifft. Sie stiegen Calandryll intensiv in die Nase, als man ihn unter der bogenförmigen Öffnung in eine Höhle zerrte, die so rund und glatt wie das Innere einer Aus ternschale war. Der Priester blieb stehen, und jetzt sah Calandryll genauer, wohin man ihn gebracht hatte, wo er sterben sollte. Das Licht kam von allen Seiten, eine natürliche Phos phoreszenz. Die Algen, die die Wände und Decke über zogen, glühten wie Elmsfeuer. Direkt hinter dem Torbo gen ragte ein Felssims in die schüsselförmige Höhle hin ein. Auf einer Seite waren breite Stufen in das Gestein geschlagen worden, die auf den Grund hinabführten, der mit Wasserpfützen, Muscheln und Seegras bedeckt wa ren. Dazwischen lag noch etwas anderes, ausgebleichte Gegenstände, einige gerade, andere gebogen … Es waren menschliche Gebeine, Arm- und Beinknochen, Rippen
und Schädel. Calandryll wappnete sich gegen das Zittern, das seine noch fleischbedeckten Gliedmaßen zu erfassen drohte, als er erkannte, wie er geopfert werden sollte. Er spürte, daß der Priester eine solche Reaktion erwartete, und diese Befriedigung wollte er ihm nicht gewähren. Auf der anderen Seite der Höhle, tiefer gelegen als der Felssims, wurde die Phosphoreszenz von einem dunklen Loch unterbrochen. Es schien ihn anzustarren oder sei nen Blick mit einer furchtbaren Faszination anzuziehen, denn jetzt erkannte er den Zweck der Öffnung. Seine Vermutung, daß der Weg nach der ersten Biegung paral lel zum Fluß verlaufen war, erwies sich als richtig. Der abschüssige Pfad hatte sich vom Höhlentempel aus wie der dem Fluß angenähert und war bis zum Wasserspie gel des Yst abgesunken, der sich hier noch mit den Gezei ten des Meeres hob und senkte. Dieser Ort gehörte zu Burashs Reich. Das vanuische Kriegsboot hatte Vishat'yi mit der auslaufenden Ebbe verlassen. Jetzt mußten die Gezeiten gewechselt haben. Die Flut würde zurückkom men und sich schon bald durch die schmale Öffnung in die Höhle ergießen. Sie würden einen langsamen Tod sterben. Während er diese entsetzlichen Überlegungen anstell te, hörte er undeutlich, wie der Priester Burash bat, sein Urteil zu fällen. Calandryll blickte sich um, kämpfte die gräßliche Angst nieder und sah, daß der Felsvorsprung kein Anzeichen einer Überflutung zeigte. Anscheinend
blieb er ständig über dem höchsten Wasserspiegel. Also würden die Opfer über diese Stufen hinuntergebracht und vermutlich am Boden angekettet werden, wo sie das Schicksal in Form der salzigen Umarmung des Meeres ereilen würde. Und wahrscheinlich würden die Chaipa ku auf dem Felssims warten und sich an diesem Anblick weiden. Calandryll biß die Zähne zusammen, richtete sich gerader auf und hoffte, daß es ihm gelingen würde, ihnen diese Genugtuung zu verwehren. Er fing Brachts Blick auf. Der Kerner grinste. Hinter ihm stand Katya mit grimmigem Gesicht. Der Zorn verlieh ihren grauen Au gen die düstere Farbe eines Sturmhimmels. Dann brach die dröhnende Stimme des Priesters ab, und man schleppte sie die glitschigen Stufen hinab. Die Chaipaku traten Knochen beiseite, legten Metallschellen frei, die an im Boden verankerten Ketten angebracht waren, und ließen sie um die Fußgelenke ihrer Gefange nen zuschnappen, bevor sie ihnen die Handfesseln durchschnitten. Katya stand zwischen den beiden Män nern, Calandryll zu ihrer Linken, Bracht zu ihrer Rech ten. Der Kerner bückte sich sofort und untersuchte die Ketten. Sie waren fest. Gelächter klang über ihnen auf. »Diese Fesseln sind zu stark!« dröhnte die Stimme des Priesters. »Wenn Burash euch nicht gnädig ist, werdet ihr für euren Frevel bezah len.« Bracht drehte sich so weit um, wie es die Ketten zulie ßen. »Ein Frevel, die Welt von euresgleichen zu säubern?
Ich glaube, daß die Götter uns für einen solchen Dienst viel eher belohnen werden.« Ein Lachen aus der Maske antwortete ihm. Er spuckte aus und drehte sich wieder um. »Ich fürchte, das wird ein unangenehmer Tod wer den«, sagte Katya leise. Ihre Stimme klang völlig be herrscht, und Calandryll konnte nicht feststellen, ob sie das gleiche Entsetzen wie er verspürte, es aber verbarg, oder ob sie wirklich keine Angst hatte. »Ich habe mir zwar kein so nasses Ende ausgemalt«, gestand Bracht, »aber wir alle müssen irgendwann ster ben, und wenigstens werde ich dem Tod mit wahren Freunden gegenübertreten.« Calandryll fiel keine passende Erwiderung ein. Er starrte die schmale Öffnung an und fragte sich, wann das Wasser aus ihr heraussprudeln und wie lange es dann noch dauern würde, bis die schüsselförmige Höhle voll gelaufen war. Zu seiner Angst gesellte sich hilflose Trau er darüber, daß ihre Mission auf eine derart sinnlose Weise enden sollte. Daß seine Mörder wahrscheinlich unter den Auswirkungen von Tharns Wahnsinn leiden würden, war nur ein schwacher Trost. »Möge Dera uns allen beistehen«, murmelte er. »Ich glaube, daß deine Göttin nicht viel mit diesem Ort zu tun hat«, sagte Bracht. »Weder sie noch Ahrd. Ich glaube, daß wir hier der Gnade Burashs ausgeliefert sind.« Calandryll schnaubte. »Burash ist nicht gerade ein
Gott, der für seine Gnade berühmt ist«, knurrte er. »Wenn du doch nur noch diese Macht besitzen wür dest«, meinte Katya. »Vielleicht könntest du die Flut damit zurückdrängen.« »Die ist zusammen mit Rhythamuns Stein ver schwunden«, erwiderte er und fügte gedankenlos hinzu: »Und was immer Menelian in mir gesehen hat, ist nutz los.« »Was hat er gesehen?« wollte Bracht wissen. Calandryll verspürte einen Anflug von Verlegenheit und Schuldbewußtsein, daß er dieses Wissen vor seinen Freunden verborgen hatte. Damals war es ihm klüger erschienen; jetzt gab es keinen Grund mehr, es länger zu verschweigen. Es war besser, ohne Geheimnisse zu ster ben, und so berichtete er ihnen von der Untersuchung des Hexers und der unerklärlichen Macht, die Menelian in ihm entdeckt haben wollte. »Warum hast du uns nichts davon erzählt?« fragte der Kerner, als Calandryll geendet hatte. »Ich hatte Angst«, erklärte der Jüngere. Er war sich nicht sicher, ob es Verärgerung oder Neugier war, die er aus Brachts Stimme heraushörte. »Du hast nicht gerade viel für Magie übrig, und ich habe befürchtet, dieses Wissen könnte deine Einstellung zu mir verändern.« Bracht starrte ihn eine Weile an, den Kopf auf die Seite gelegt. Sein unversehrtes Auge funkelte hell. Dann lachte er und schüttelte den Kopf, daß sein langer schwarzer Pferdeschwanz hin- und herflog.
»Bei Ahrd, Calandryll!« Er schmunzelte. »Wir haben einen viel zu weiten Weg gemeinsam zurückgelegt, als daß ich meine Meinung jetzt noch ändern würde. Sind wir denn keine Freunde? Sollte ich schlecht von dir den ken, nur weil du irgendeine Begabung besitzt, die du selbst nicht kennst? Ich bin im Gegenteil gerade dabei, meine Einstellung gegenüber Zauberern zu ändern.« Für den Kerner war das eine lange Ansprache gewe sen, und Calandrylls Schuldgefühle verflogen, wenn auch seine Verlegenheit darüber, Brachts Loyalität so falsch eingeschätzt zu haben, noch wuchs. »Verzeih mir«, bat er. »Es gibt nichts, was ich dir verzeihen müßte«, erwider te Bracht. »Aber wenn du willst, aye, ich verzeihe dir.« »Und du kannst diese Kraft wirklich nicht anwen den?« fragte Katya mit einer Mischung aus Hoffnung und Enttäuschung. »Ich begreife sie ja nicht einmal.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich spüre sie nicht. Ich weiß nur, daß Meneli an gesagt hat, ich hätte sie in mir – was auch immer das bedeuten mag.« »Dann probier sie an diesen Ketten aus«, schlug Bracht vor. »Und an diesen Fischliebhabern. Zerschmettere sie alle.« Calandryll zuckte die Achseln. Wieso eigentlich nicht? Er richtete den Blick nach unten auf die Fesseln und konzentrierte sich. Brich! beschwor er das Eisen, verbren ne, löse dich auf! Nichts passierte, und wieder zuckte er
die Achseln. Wozu war eine nutzlose Kraft gut? Im glei chen Moment hörte er, wie Katya scharf die Luft einsog, und da war auch noch ein anderes Geräusch. Er hob den Kopf und sah, daß das Loch in der Wand nicht mehr völlig dunkel war. Weißer Schaum erschien an seinem unteren Rand, als der erste Wasserschwall in die Höhle schwappte. Hinter sich hörte er den Priester sagen: »Bu rash kommt«, und gleich darauf wurde aus dem gur gelnden Träufeln ein Strahl, der mit großem Druck tief in die Höhle spritzte. Angst ergriff Calandryll, als das befürchtete Ereignis Wirklichkeit wurde. Salzwasser spritzte über seine Stie fel. Er sah die Pfützen auf dem Boden größer werden. Irgendein nüchtern gebliebener Teil seines Verstandes sagte ihm, daß der Durchmesser des Loches ziemlich klein war und die steigende Flut sich nicht mit einem Mal durch die Öffnung ergießen konnte. Ein plötzlicher Wassereinbruch wäre besser gewesen, ein schnellerer Tod. So aber würde es, wie Bracht gesagt hatte, lange dauern. Er starrte das Wasser an und versuchte sich vorzustellen, wie lange es dauern würde, bis es seinen Mund erreichte, seine Nase bedeckte. Wahrscheinlich würde er vorher noch eine Weile treiben. Die Ketten hatten genügend Spiel, so daß das Wasser ihn ein Stück chen würde anheben können, und das war vermutlich eine raffinierte Grausamkeit der Chaipaku. Jetzt war der Boden bereits bedeckt, das Wasser stieg an seinen Stie feln hoch. Ein Totenschädel geriet in Bewegung, wurde vom Wasserdruck zur Seite gerollt und starrte ihn aus
leeren Augenhöhlen blind an. Calandryll erschauderte und fragte sich, ob die Meeresbewohner – Krabben und kleine Fische, die zweifellos mit dem Wasserstrahl in die Höhle gespült wurden – bereits mit ihrem Mahl beginnen würden, bevor er aufgehört hatte, um sich zu schlagen, ob er sie an sich knabbern spüren würde, bevor sich seine Lungen geleert hatten. Aber die Frage war rein akade misch. Er würde schon sehr bald tot sein, und mit der Zeit würden seine Knochen zwischen den anderen ver streut liegen. Das Wasser stieg weiter, kroch an seinen Beinen hoch und überspielte die Stiefelschäfte. Es war furchtbar kalt. Jetzt hatte es seine Hüfte erreicht und stieg langsamer. Hoffnung keimte in ihm auf. »Hört es auf?« rief Bracht. »Nein.« Calandrylls Blick schweifte durch die Höhle. Das Loch in der Wand lag jetzt unter dem Wasserspiegel, und die Flut mußte gegen den Druck hier drinnen an kämpfen, eine weitere sadistische Verfeinerung dieser Prozedur. »Es wird nur langsamer. Diese Höhle liegt unterhalb des höchsten Wasserspiegels, und die Flut muß einen Gegendruck überwinden, aber sie wird weiter steigen. Nur langsamer.« Bracht knurrte. »Was sind das für Menschen, die sich so etwas aus denken?« fragte Katya. »Chaipaku«, erwiderte Calandryll. »Möge ihr eigener Gott ihnen den letzten Frieden
verwehren«, sagte die Kriegerin. »Mögen die Fische ihnen die Augen ausfressen.« Es schien Calandryll, daß dieses Schicksal eher ihnen als den Chaipaku drohte, die sich auf dem Sims drängten und voller Spannung ihre Opfer beobachteten, während sie schweigend zusahen, wie das Wasser zwar langsa mer, aber noch beständig weiterstieg. Trotzdem schloß er sich ihrem Fluch mit einem Nicken an und beschwor die Flut stehenzubleiben, beschwor Treibgut, den dünnen Tunnel zu verstopfen, beschwor irgendein verrücktes Naturereignis, die unerbittliche See zurückzudrängen. Aber es war sinnlos, denn dort, wo die Felsöffnung unter der Wasseroberfläche lag, ertönte ein unaufhörli ches Gurgeln, brodelte und spritzte das Wasser, das von dem stärkeren äußeren Druck in die Höhle gepreßt wur de, und stieg unaufhaltsam weiter. Jetzt hatte es bereits seinen Gürtel erreicht, und die Zeit schien langsamer zu vergehen, während Calandryll hilflos zusah, wie es immer höher kletterte und kalt seine Brust umspülte. Er wußte, daß es im gleichen Augenblick zum Stillstand kommen würde, wenn die Flut draußen ihren Höhepunkt erreicht hatte, aber dieser Wasserspie gel lag mit Sicherheit über seinem Kopf, und bis dahin würde er schon als festgekettete Leiche im Wasser schweben. Wut mischte sich in seine Angst, und er ver fluchte die Chaipaku, während er in dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, wankte und in der eiskalten unbarmherzigen Umarmung des Wassers zitterte.
Die ersten Wellen berührten sein Gesicht, und er spuckte Salzwasser aus, legte den Kopf in den Nacken, versuchte, Lippen und Nase aus dem Wasser herauszu halten. Das blanke Entsetzen drohte, seine Därme zu entleeren, und er kämpfte gegen diesen Reflex an, wollte diesen unwürdigen Beweis seiner Panik nicht zulassen. Er hörte, wie Bracht rief: »Mut!« und dann wurde der Schrei abrupt von einem furchtbaren Husten abgewürgt. Calandryll drehte sich zur Seite und sah den Söldner hinter Katya spucken und husten, das dunkle Gesicht zu einer wilden Grimasse verzerrt. Katya begegnete seinem Blick, warf ihm ein kurzes dünnes Lächeln zu und drehte sich wieder zu dem Kerner um. »Bracht«, hörte er sie ein letztes Wort sagen, bevor auch ihr die steigende Flut die Stimme nahm. Und dann verschwanden beide unter einer eiskalten silbrigen Wasserschicht, die sich wie ein beißender Vorhang über seine Augen legte. Er preßte die Lippen zusammen, versuchte instinktiv, sich auf der Flut treiben zu lassen, den Kopf so weit zurückzubeugen, daß seine Nase so lange wie möglich aus dem Wasser ragte. Der Aufschub war nur kurz. Wenige Augenblicke spä ter war das Wasser endgültig über seinen Kopf gestiegen, und mit seinem letzten abgehackten Atemzug sog er Wasser statt Luft ein. Es brannte ihm in der Nase und in der Kehle. Calandryll hatte das Gefühl, an kaltem Feuer zu würgen, öffnete unwillkürlich den Mund, und in seiner Brust explodierte ein stechender Schmerz. Er hielt das letzte bißchen Luft in der Lunge wie ein Geizhals, der sich an seine letzten armseligen Wertsachen klammert.
Seine Füße berührten jetzt nicht mehr den Boden, die Strömung drehte ihn hierhin und dorthin, und in blinder Panik begann er, um sich zu schlagen, und unternahm einen letzten hoffnungslosen Versuch, mit dem Kopf die Wasseroberfläche zu durchbrechen. Die Panik wuchs, als sein Kopf vor Sauerstoffmangel zu pochen begann, und gleichzeitig überkam ihn eine furchtbare Wut, ein un bändiger Zorn über diese Ungerechtigkeit, über dieses sinnlose Ende ihrer Mission. Rote Lichter tanzten vor seinen Augen, Dolche schienen sich tief in seine Nerven bahnen zu bohren. Er spürte, wie sich sein Mund gegen seinen Willen öffnete, war unfähig, sich dagegen zu weh ren, ebenso wie gegen das Wasser, das durch seine Kehle raste und seine zu bersten drohende Lunge füllte. Er spürte die Berührung des Todes. In diesem Augenblick verlor er sein Ich. Er war nicht mehr Calandryll den Karynth, sondern nur noch ein einzelner Lebensfunke, der gegen die Chaipaku wütete, gegen den Tod selbst, der in irrsinniger Raserei stumm aufschrie und zu leben verlangte. Und Hände, kalt und unermeßlich stark, legten sich um ihn und hoben ihn hoch. Er spürte, wie die Ketten zerrissen. Wasser spritzte aus seinem Mund und seiner Nase, und er sog mit abgehackten Atemzügen gierig die Luft ein. Als sich seine Sicht klärte, sah er, wie Bracht und Katya neben ihm von einem stämmigen Arm hoch gehoben wurden. Muskelstränge traten unter einer fisch schuppenartigen Haut hervor, grünblau wie das Wasser
der Tiefsee, und dort, wo der Arm in eine gewaltige Schulter überging, hing Seegras wie ein Bündel Seile. Calandryll blinzelte das stechende Salzwasser aus sei nen Augen, bemerkte, daß seine Gefährten ehrfürchtig das Wesen anstarrten, das sie gerettet hatte, und sein Blick wanderte an einem säulenartigen Hals empor, über Kiemen, die sich dort befanden, wo bei einem Menschen die Ohren gewesen wären, und jetzt erkannte er, daß das, was er für Seegras gehalten hatte, Haare waren, lang, naß und dunkel wie Seetang, der in den Tiefen des Meeres schwankte. Das Gesicht wandte sich ihm zu, menschlich und fischartig zugleich, mit runden aquamarinblauen Augen, die tief in ihren Höhlen saßen, kalten gelben Pupillen und einer flachen breiten Nase über einem lip penlosen schmalen Mund. Der Anblick erinnerte ihn an Yssym und die reptilienhaften Syfalheen aus Gessyth, aber er wußte, noch bevor die Stimme in seinem Kopf aufklang, daß dies niemand anderes als Burash war. Ungläubiges Staunen ergriff ihn, und er wurde von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt, der ihn wie ein kleines Kind schwach in den Armen des Gottes hängen ließ, voller Dankbarkeit, aber auch voller Angst, denn er wußte nicht, ob dies wirklich die Rettung oder nur eine Fortsetzung der Opferzeremonie war. Dir droht keine Gefahr von mir. Sollte ich nicht vielmehr denen helfen, die ihrerseits versuchen, mir zu helfen? Die Frage war lautlos, und doch dröhnte sie in Ca landrylls Schädel wie die Brandung, die gegen Felsen
schlug, erfüllt von der furchtbaren Macht des Meeresgot tes. Hilflos schüttelte er den Kopf, noch zu sehr betäubt von der Nähe des Todes, zu sehr verwirrt von diesem unerwarteten Eingreifen, um eine angemessene Antwort geben zu können. Kämpfst du etwa nicht gegen die Wiederauferstehung Tharns? Glaubst du denn, ich würde das nicht begrüßen, ich würde nicht wollen, daß du erfolgreich bist? Ich und all meine Göttergeschwister? Calandryll konnte nur nicken und ihn anstarren. Du hast mich gerufen, Mensch. Weißt du nicht, daß du mich gerufen hast? Wieder schüttelte Calandryll nur den Kopf. Es spielt keine Rolle. Du hast es getan, und ich habe deinen Ruf gehört und bin gekommen. Das ist genug. Der kalte fischartige Blick veränderte sich ein wenig, der riesige Kopf schwang zu den anderen herum, und in der lautlo sen Stimme klang eine Spur von Belustigung auf, als der Gott die nächste Frage an Bracht richtete. Und du, Krieger aus Cuan na'For, möchtest du immer noch dein Schwert gegen mich erheben? Bracht wischte sich nasse Haarsträhnen aus dem Ge sicht und sah dem Gott in die Augen. »Gegen einen Freund?« fragte er vorsichtig. »Nein.« Lautloses Gelächter klang anerkennend auf. Du hast Mut, Krieger! Das gilt für euch alle, und davon werdet ihr dort, wohin ihr gehen müßt, eine Menge brauchen.
Calandryll gewann die Kontrolle über seine verwirr ten Sinne zurück. Seine Aufmerksamkeit war völlig auf Burash gerichtet, aber aus den Augenwinkeln heraus registrierte er, daß das Wasser zurückwich und nun um die Hüften des Gottes schwappte. Unter der Wasserober fläche schien sich ein gewaltiger Fischschwanz zu bewe gen. Die Chaipaku auf dem Felssims waren erstarrt und verfolgten das Geschehen in ehrfürchtigem Schweigen. »Dann wirst Du uns also helfen?« fragte Calandryll heiser. Habe ich das nicht bereits getan? Sonst würden diese Dummköpfe – das flache kantige Kinn Burashs deutete auf die Meuchelmörder – ihre kleinlichen Rachegelüste befriedi gen, ohne zu wissen, was sie tun. Das aber werde ich nicht zulassen. »O Burash, Herr!« Die Stimme des Priesters klang längst nicht mehr dröhnend, sondern drang ängstlich unter der Maske hervor. Er fiel auf die Knie und breitete die Arme in einer demütigen Geste aus. Hinter ihm war fen sich die anderen voller Ehrfurcht zu Boden. »Diese drei haben Brüder erschlagen. Ihre Schwerter haben das Blut Deiner erwählten Jünger vergossen. Ihre Opferung war gewiß gerechtfertigt.« Burashs Gestalt veränderte sich. Plötzlich wurde Ca landryll nicht mehr vom Arm eines Wassermannes gehalten, sondern von einem riesigen Tentakel um schlungen, und die Augen des Gottes waren nicht mehr grünblau, sondern abgrundtief schwarz, riesige Scheiben
über einem furchtbar aussehenden Schnabel. Der größte Teil des Körpers war immer noch unter dem zurückwei chenden Wasser verborgen. Ein Tentakel schnellte vor und packte den Priester, ein anderer riß ihm die Maske vom Kopf. Dahinter kam ein vom Alter gezeichnetes Gesicht zum Vorschein. Graue Strähnen durchzogen Haar und Bart des Priesters, er starrte mit vor Entsetzen geweiteten Augen auf den furchterregenden Schnabel des Gottes. Du wagst es, mir zu widersprechen? »Nein Herr!« beteuerte der Mann wimmernd. »Nie mals!« Dann sprich nicht von Gerechtigkeit, wenn du Rache meinst. Habe ich sie gefordert? Nein! Diese drei dienen mir und all meinen Mitgöttern weitaus besser, als ihr es tut, die ihr euch meine Auserwählten nennt. Habe ich euch auserwählt? Nein, ihr habt euch selbst auserwählt, aus nichtigen Gründen, die es nicht wert sind, daß ich sie überhaupt beachte. Und ihr – nicht diese drei Menschen, die ihr umbringen wolltet – habt meinen Zorn erregt. Die Augen des Priesters quollen aus ihren Höhlen, als der Tentakel fester zudrückte. Sein Mund klaffte weit auf, seine Zunge drang heraus, und seine Hände schlu gen nutzlos auf das gummiartige Fleisch ein. Calandryll hörte das dumpfe Geräusch brechender Knochen und sah einen Blutstrahl aus den geöffneten Lippen hervor schießen. Dann schleuderte der Tentakel den schlaffen Körper wie ein Stück Treibgut auf den Felssims zurück.
Die Goldmaske folgte, prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, daß eine Beule in der Nachbildung des göttli chen Gesichts zurückblieb, und fiel scheppernd zwischen die sich auf dem Boden windenden Meuchelmörder. Ein Chaipaku heulte voller Angst auf und floh aus der Höh le. Soll ein anderer dieses wertlose Ding tragen. Burash ver wandelte sich erneut und nahm eine menschlichere Ges talt an. Jetzt stand Calandryll neben einem riesigen Mann mit einem löwenartigen Kopf, der beinahe gegen die Höhlendecke stieß. Der Gott hatte ihm den massigen, von Muskelsträngen durchzogenen Arm schützend über die Schultern gelegt. Und wählt den Nachfolger mit Klug heit. So hört denn meine Worte! Ich ernenne diese drei zu meinen Schützlingen, und jeder, der sich an ihnen vergeht, vergeht sich auch an mir und wird die ganze Gewalt meines Zornes zu spüren bekommen. Diejenigen unter den Chaipaku, die zu einer Antwort fähig waren, bestätigten die Worte ihres Gottes mit ner vösem Murmeln. Der tapferste von ihnen fragte: »Was sollen wir tun, o Burash, Herr?« Stellt die Jagd ein, befahl der Gott. Erhebt nicht die Hand gegen diese drei, und laßt nicht zu, soweit es in eurer Macht liegt, daß ein anderer ihnen ein Leid zufügt. »So soll es geschehen, o Herr.« Die graugekleideten Meuchelmörder wanden sich un terwürfig auf dem Felssims, ohne die Leiche des Priesters zu beachten. Der Gott betrachtete sie einen Moment lang,
dann wandte er den Kopf ab und nickte Katya, Bracht und Calandryll zu. Sein Gesicht sah aus wie das auf der Maske, aber es lächelte. Das wäre getan. Am besten bringe ich euch auf euer Boot zurück. Es segelt nach Lysse, und das ist auch euer Ziel, wenn ihr eure Mission erfolgreich beenden wollt. Sein Antlitz war gütig und vertrauenerweckend, und obwohl Calandryll den Anblick der tentakelbewehrten Inkarnation des zornigen Meeresgottes nicht vergessen konnte, verspürte er keine Angst mehr. »Werden wir Rhythamun in Lysse finden, o Gott Burash?« wagte er zu fragen. »Oder müssen wir noch weiter reisen?« Diese Frage kann ich euch nicht beantworten, erwiderte der Gott. Derjenige, den ihr sucht, hat mein Reich verlassen. Ich weiß nicht, wo er sich jetzt aufhält. »Du weißt, daß er Tharns Ruheort sucht«, riskierte Ca landryll eine weitere Frage. »Wenn Du uns sagst, wo dieser Ort liegt, könnten wir ihn aufsuchen und dort auf Rhythamun warten.« Auch dieses Wissen ist mir verwehrt, entgegnete Burash ernst. Seine Stimme klang feierlich. Nur die Ersten Götter wissen, wo ihre Söhne liegen. Tharn und Balatur waren schon vom Antlitz der Welt verschwunden, bevor ich und meine Geschwister erschaffen wurden. Nur Yl und Kyta kennen ihre Grabstätten. »Das Arcanum enthält dieses Wissen«, protestierte Ca landryll, ermutigt durch das offensichtliche Wohlwollen des Gottes, »und das Buch befindet sich in Rhythamuns
Besitz.« Es wäre besser, das Arcanum wäre nie gemacht worden, antwortete der Gott, und jetzt klang Bedauern in seiner Stimme mit, aber Yl und Kyta haben es zugelassen, oder aber sie haben sich einfach nicht mehr darum gekümmert. Ich weiß nicht, was zutrifft, noch steht es mir zu, die Taten der Ersten Götter in Frage zu stellen. Ich kann euch nicht sagen, wo dieser Ort liegt, ich kann euch nur meine Hilfe gewähren, und die besteht darin, euch zu eurem Boot zurückzubringen und die Fahrt nach Lysse zu beschleunigen. Mein Reich ist die See und alle Orte, die sie berührt. Auf dem Land, wohin kein Salzwasser mehr gelangt, besitze ich keine Macht. Ich werde euch nach Lysse bringen, aber dort solltet ihr am besten versu chen, euch der Hilfe meiner Schwester Dera oder meines Bru ders Ahrd zu versichern. »Wie?« fragte Calandryll.
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Wieder lachte Burash lautlos auf und es klang wie das fröhliche Plätschern kleiner Wellen an einem Strand. So wie du mich um Hilfe gebeten hast Mensch. Sie werden dich hören, wenn deine Stimme laut genug ist. Doch jetzt kommt. Die Zeit verrinnt, und wenn ich auch ein Gott bin, so muß doch selbst ich mich ihrem Lauf beugen. Calandryll hätte das Thema gerne weiterverfolgt, aber Burash gab ihm keine Gelegenheit mehr dazu. Anschei nend war der Gott der Meinung, daß schon genug gere det worden war und er nichts mehr dazu zu sagen hätte. Er schlang seine riesigen Arme um die drei Menschen, und einen Lidschlag später jagten sie unter dem Wasser
dahin. Fische schossen ihnen aus dem Weg, als der Gott sie durch die Tiefen seines Reiches trug. Sie glitten über Untiefen und gesunkene Schiffe hin weg, über Riffe und Seetangfelder. Manchmal wurden sie eine Weile von Haien oder anderen großen Fischen be gleitet, aber die gewaltige Geschwindigkeit des Gottes ließ sie stets hinter ihnen zurück. Calandryll starrte ver wundert aus großen Augen um sich, begriff kaum mehr, als daß sie dem sicheren Tod entronnen waren. Er sah, daß sich Katya und Bracht aneinander klammerten, daß die Schwellung im Gesicht des Kerners verheilt war, und Brachts Gesichtsausdruck verriet deutlich, daß er nicht weniger als Calandryll staunte. Keiner von ihnen hätte sagen können, ob sie Luft atmeten, oder ob der Gott ihnen seine eigenen amphibischen Fähigkeiten verliehen hatte; sie wußten nur, daß Burash sie schneller durch die Tiefen des Engen Meeres trug, als irgendein Schiff auf seiner Oberfläche hätte segeln können. Sie hatten keine Ahnung, wie lange diese wundersame Reise dauerte, aber es schien nicht viel Zeit vergangen zu sein, als sie die Wasseroberfläche durchbrachen und das vanuische Kriegsboot vor sich sahen. Tekkan stand mit offenem Mund an Deck und sah zu, wie sie aus dem Wasser gehoben und auf dem Achterdeck abgesetzt wurden. Einige Frauen hielten die Bögen schußbereit, und Calandryll rief ihnen zu, die Waffen zu senken. Katya wiederholte seinen Ruf sofort in der Sprache der Vanuer.
»Was…«, stammelte Tekkan, dessen normalerweise beherrschtes Gesicht sich vor Fassungslosigkeit verzogen hatte, »wer…?« »Der Meeresgott Burash hat uns gerettet«, erklärte Ca landryll. »Den Rest erzählen wir dir auf der Weiterfahrt.« Holt euer Segel ein, damit es nicht zerreißt, riet ihnen der Gott, und dann haltet euch gut fest, denn jetzt werde ich euch nach Lysse bringen. Immer noch fassungslos gab Tekkan den Befehl wei ter, und Burash sank unter die Wasseroberfläche. Dann erbebte das Kriegsboot und schoß wie ein ungeduldiges Pferd, das davongaloppiert, immer schneller über das Meer.
KAPITEL 6 Kälte hatte für Cennaire keine Bedeutung mehr. Es war nur noch ein abstraktes Gefühl. Das gleiche galt für Hunger oder Durst. Helligkeit und Dunkelheit waren für ihre Augen dasselbe. Dies und alle anderen Beschrän kungen des Fleisches hatte sie bei ihrer Wiedergeburt wie eine Schlangenhaut von sich abgetreift; jetzt waren es nur noch Erinnerungen an das, was sie einmal gewesen war. Obwohl sie immer noch die Vorzüge eines fleischlichen Leibes aufwies, und diese genauso verführerisch wie zuvor, war sie jetzt mehr als menschlich, und sie froh lockte über ihre neuerworbenen Kräfte. Hätte Anomius ihr nicht befohlen, ihr wahres Wesen vor den Normal sterblichen zu verbergen, wäre sie genauso bereitwillig nackt nach Vishat'yi gegangen, um den Anweisungen ihres Herrn nachzukommen, wie sie nun seinen Befehlen gemäß in unauffälliger Aufmachung erschien. Sie trug eine Tunika und eine Hose aus feiner grüner Seide, wie sie von den Damen des höheren Standes auf Reisen bevorzugt wurden, darüber einen in dunklerem Grün gehaltenen Mantel, der mit schwarzem Pelz besetzt war, eine dazu passende Mütze aus dem gleichen Mate rial und dunkelgrüne Stiefel. Nachdem sie aus der Win ternacht in einer Gasse in der Nähe des Hafens aufge
taucht war, ordnete sie ihre Kleidung mit weiblicher Sorgfalt und setzte einen Gesichtsausdruck auf, den sie der ihr zugewiesenen Rolle als angemessen erachtete. Anomius hatte ihr gesagt, daß der hiesige Militärkom mandant Quindar ek'Nyle hieße, und in seiner Position würde er wissen, ob diejenigen, die sie jagte, nach Vishat'yi gekommen waren. Vielleicht hatte er sie sogar festgenommen oder wußte zumindest, wohin sie gegan gen waren. Es war möglich, daß sie sich auch bei dem Hexer Menelian erkundigen mußte, obwohl es besser wäre, ihm aus dem Weg zu gehen, denn wenn er seine Fähigkeiten einsetzte, würde er vielleicht herausfinden, wer und was sie wirklich war, und sie zu töten versu chen. Falls er dazu überhaupt in der Lage war – ihr Herr war zuversichtlich gewesen, daß es einen großen Auf wand an magischen Mitteln erfordern würde, um sie auszuschalten, und sie selbst verspürte eine derart furchtbare Kraft in ihrem zerbrechlich erscheinenden Körper, daß sie glaubte, selbst gegen einen Hexer des Tyrannen bestehen zu können. Aber trotzdem, ihr Herr und Gebieter hatte es ihr befohlen, und sie war sein Ge schöpf. Also würde sie sich dem Militärkommandanten als eine Dame von hohem Stand vorstellen, als Gesandte aus Nhurjabal, mit einem Freibrief versehen, den Ano mius ihr besorgt hatte, und hoffen, die drei Gesuchten zu finden. Und wenn sie sie nicht fand, würde sie in Erfah rung bringen, wohin sie gegangen waren, und ihnen folgen. Mit geordneter Kleidung und ruhigem Gesichtsaus
druck wich sie vorsichtig dem überall herumliegenden Unrat aus und folgte der Gasse, die zu einem freien Platz führte. Eine Katze beobachtete sie und fauchte sie bösar tig an, als spürte sie die Falschheit in ihrer Erscheinung, die Zähne gefletscht, das Schwanzfell gesträubt. Cennaire blickte zu ihr hinüber und erwiderte die Drohgebärde, worauf die Katze zurückwich und in den Schutz der Dunkelheit flüchtete. Die Frau lächelte und setzte ihren Weg fort. Um den Platz herum brannten Lampen und vertrieben das trübe Zwielicht einer Jahreszeit, die nicht mehr rich tiger Winter aber auch noch nicht Frühling war. Schummriges Licht fiel durch die Türen der Kneipen und durch die Fenster von Gaststätten. Über den Dächern schlängelten sich dünne Nebelschwaden, Feuchtigkeit glänzte auf dem Kopfsteinpflaster. Cennaire schlang den Mantel enger um ihren vollen Busen und tat so, als frös telte sie in der Kälte, während sie sich einen Weg durch die Menschen bahnte, die den Platz bevölkerten. Hier, in unmittelbarer Nähe des Hafens, waren es hauptsächlich Seeleute und Hafenarbeiter, ein paar Soldaten und eben so viele Dirnen. Alle warfen ihr neugierige Blicke zu, als wären sie überrascht, wie eine Frau, die so gekleidet war, sich ohne Begleitung in ein solches Viertel wagen könnte. Cennaire dagegen fühlte sich hier völlig heimisch und ignorierte sowohl die lüsternen Blick wie die obszönen Angebote, die ihr folgten, während sie zum Kai hinun terging.
Am Ende der Straße stieß sie auf eine Barriere, die von Soldaten in Drachenhautrüstungen bewacht wurde, die sich um einen Kohleofen drängten. Der Serask, der sie befehligte, hob die Hand, forderte sie auf stehenzublei ben und erkundigte sich mit unwirscher Stimme, was sie hier zu suchen hätte. »Ich bin im Auftrag des Tyrannen unterwegs«, ant wortete sie lächelnd und zog den Freibrief unter ihrem Mantel hervor. »Könnt Ihr lesen?« »Aye«, knurrte der Serask. »Milady«, rang er sich eine höfliche Anrede ab, als ihre braunen Augen wütend aufblitzten. Cennaire sah, wie er über dem Dokument grübelte und mehr mit dem Siegel als mit den Wörtern anfangen konnte. Dann gab er ihr das Pergament zurück und fragte: »Was wollt Ihr hier, Lady?« »Ich habe etwas mit Quindar ek'Nyle zu besprechen«, erwiderte sie und genoß das Gefühl ihrer Autorität. »Bringt mich zu ihm.« Der Serask runzelte die Stirn, dann zuckte er die Ach seln und beauftragte einen seiner Leute damit, sie durch die Absperrung zum Wachturm zu begleiten, der die Hafenanlage überragte. Der Soldat brachte sie zum Ein gang, wo weitere Männer in Rüstungen Wache standen, und erklärte ihnen, was sie wollte. Die Wachen muster ten sie interessiert, während sie ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippte. Einer der Männer verschwand im Inneren des Gebäudes, kam kurz darauf zurück und verkündete ihr, daß der Kommandant sie sehen wollte.
Im Wachturm stieg ihr der beißende Geruch von kal tem Schweiß, Leder, eingeöltem Metall, Drachenhäuten, Essen, Bier und berauschendem Tabak in die Nase. Wenn das, was Anomius aus ihr gemacht hatte, einen Nachteil mit sich brachte, dann war es die animalische Schärfung ihrer Sinne. Sie setzte einen angewiderten Gesichtsaus druck auf – ganz die Dame von vornehmer Geburt, die eine solch rauhe Umgebung nicht gewöhnt war – und folgte einem Plutarch, der sie durch die Mannschafts räume zu den gemütlicheren Unterkünften führte, die dem Kommandanten vorbehalten waren. Quindar ek'Nyle erhob sich, als sie eintrat, ein hoch gewachsener schwarzhaariger Mann in den mittleren Jahren mit militärischem Gebaren. Er trug eine scharlach rote weite Baumwollhose über Uniformstiefeln und ein weißes Hemd, das von einem Ledergürtel zusammen gehalten wurde, an dem ein Dolch hing. Er betrachtete seine Besucherin mit offener Bewunderung und winkte dem Plutarch zu, sie allein zu lassen. Dann verbeugte er sich und sagte: »Ich grüße Euch, Lady. Soweit ich gehört habe, habt Ihr einen Brief dabei.« »So ist es.« Cennaire reichte ihm ihr Empfehlungs schreiben, nahm die Mütze ab und ließ ihr Haar mit einer lässigen Bewegung locker herabgleiten, während der Militärkommandant das Dokument aufmerksam durch las. Er faltete es sorgfältig wieder zusammen, gab es ihr zurück und deutete auf einen Stuhl. »Nehmt bitte Platz. Möchtet Ihr ein Glas Wein mit mir
trinken?« Das war Cennaire zwar völlig gleichgültig, aber sie nickte und lächelte ihm zu. Während er zu einem Tisch ging, auf dem eine Karaffe und mehrere Gläser standen, sah sie sich in dem Zimmer um. Es war nicht besser oder schlechter als viele andere, die sie kennengelernt hatte, als sie den Soldaten in Nhurjabal zu Diensten gewesen war. Es war auf eine maskuline Art einigermaßen gemüt lich. Der Stuhl, auf dem sie saß, stand vor einem Kamin, in dem Holzscheite brannten. Ihr gegenüber stand ein zweiter Stuhl. Über dem Tisch befand sich ein schmales Fenster, dessen Läden geschlossen waren. Der Fußboden bestand aus nacktem Stein. Im Hintergrund war eine zweite Tür, die vermutlich in ek'Nyles Schlafzimmer führte. Es roch nach Rauch und Metall, aber diese Gerü che wurden von der wachsenden Erregung des Militär kommandanten überlagert, der sich jetzt wieder seiner Besucherin zuwandte. Cennaire nahm das Glas entgegen, das er ihr anbot, und verbarg ihre Belustigung. Sie hatte früher schon die Reaktionen der Männer auf ihre körper lichen Reize genossen, aber nun wurde dieses Vergnügen durch das Gefühl der Überlegenheit, die ihre neue Exis tenz ihr bescherte, noch vergrößert. Es war äußerst amü sant, die Gedanken der Männer riechen zu können. Sie stellte ihr Glas ab, schlug ihren Mantel zurück und ließ ihn über ihre Schultern gleiten. Der Geruch, den ek'Nyle verströmte, wurde stärker. »Wie kann ich Euch also behilflich sein, Lady Cennai
re?« fragte er und hob galant sein Glas. »Ich suche Informationen.« Sie nippte an ihrem Wein und hielt die Augen fest auf ek'Nyles Gesicht gerichtet. Er war nicht unattraktiv auf seine etwas aufgeblasene kriegerische Art, und sein Verlangen nach ihr war offen sichtlich. Selbst ohne die Hilfe ihrer Nase würde es ihr nicht schwerfallen, ihn zu manipulieren. »Informationen über Reisende, deren Anwesenheit eine Bedrohung für den Tyrannen darstellen.« Der Geruch von ek'Nyles Erregung wurde etwas schwächer und vom Geruch der Anspannung und Beun ruhigung überlagert, als sie Calandryll und Bracht be schrieb. Augenblicklich war ihr Interesse geweckt; trotz dem beherrschte sie sich und nippte an ihrem Wein, während sie auf seine Antwort wartete. Ek'Nyle bemühte sich, seine Unruhe zu verbergen, strich sich über den eingeölten Bart und ordnete seine Gedanken. »Ich habe sie gesehen«, sagte er schließlich mit kaum wahrnehmbarem Zögern. »Sie sind mit einem schwarzen Kriegsboot voller Vanuer gekommen. Bei ihnen war eine Frau aus dem gleichen Volk.« Anomius hatte nichts von einer Frau, einem Kriegs boot oder von Vanuern erwähnt. Sie speicherte diese Informationen in ihrem Kopf ab und fragte: »Und wo sind sie jetzt?« Ek'Nyle hörte die Vorfreude aus ihrer Stimme heraus und brachte ein entschuldigendes Lächeln zustande. »Fort«, sagte er. »Vor fünf Tagen verschwunden.«
»Verschwunden?« Cennaire bemerkte, daß das Glas in ihrer Hand zu zersplittern drohte. Sie lockerte ihren Griff. »Und wohin?« »Nach Lysse, haben sie gesagt.« »In Lysse gibt es genügend Städte, in denen sie sich verstecken könnten«, erwiderte sie. Ihre riesigen brauen Augen funkelten bedrohlich. »Wohin in Lysse?« Auf einmal spürte ek'Nyle etwas von der Macht, die in dieser schönen Frau schlummerte, etwas, das er nicht bestimmen konnte. Er spürte es mit den Sinnen, die un terhalb der Schwelle des Bewußtseins funktionieren. Diese Macht ging über die Autorität hinaus, die der Frei brief seiner Besucherin einräumte, obwohl diese Befugnis allein schon ausreichen würde, seine Karriere zu been den, sollte man ihn für das Verschwinden der Fremden verantwortlich machen. Er schluckte schwer, verspürte ein unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut und ver suchte, sowohl die Verantwortung von sich zu schieben als auch gleichzeitig der unverkennbar steigenden Ver ärgerung dieser Frau zu entgehen. »Ich habe sie verdächtigt«, sagte er schnell. »Ich habe ihre Ladung Drachenhäute beschlagnahmt und sie ge fangengenommen, aber Menelian – der Hexer, der Vishat'yi schützen soll – hat sie überprüft und als unbedenk lich erklärt. Sie würden keine Gefahr für Kandahar dar stellen, hat er gesagt und mich angewiesen, sie freizulas sen. Mehr noch, er hat sie wie alte Freunde in sein Haus eingeladen, die Männer und die Frau.«
Der Geruch seiner Angst hing durchdringend in der Luft. Cennaire kostete ihn aus. Sie nickte kühl und fragte: »Wo hält sich dieser Menelian auf?« »Höchstwahrscheinlich in seiner Villa.« Ek'Nyle lä chelte nervös. Er war sich nicht sicher, warum ihm ein derart kalter Schauder über den Rücken lief, als er ihrem Blick begegnete. »In einem Haus in der Oberstadt.« »Bringt mich dorthin.« Es war ein Befehl, dem der Militärkommandant nur zu bereitwillig gehorchte. Diese Frau hatte zwar nicht das Recht, ihm einen solchen Befehl zu erteilen, und norma lerweise hätte er sich geweigert, ihn auszuführen, aber dieser Gedanke kam ihm nicht einen Augenblick lang in den Sinn. Trotz ihrer Schönheit dachte er nicht länger daran, sie zu verführen, sondern wollte sie aus Gründen, die er sich selbst nicht erklären konnte, nur noch so schnell wie möglich wieder loswerden. Er nickte und erhob sich. »Bitte entschuldigt mich für einen Moment.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, begab er sich in sein Schlafzimmer, schlüpfte hastig in ein Wams, schnallte sich den Schwertgürtel um und legte den scharlachroten Mantel über seine Schultern. Wie unwohl er sich fühlte, erkannte er daran, daß er beinahe seinen Helm vergessen hätte. Als er in das andere Zimmer zurückkehrte, stand Cennaire bereits und hatte den Mantel wieder angezo gen. Ihr hübsches Gesicht wirkte streng und hart. »Bitte«, sagte ek'Nyle, öffnete die Tür und verbeugte
sich. »Ich werde eine Eskorte kommen lassen. Es ist nicht allzu weit.« Er hörte, wie überhastet und unsicher seine Stimme klang, bemühte sich, seine Würde zurückzugewinnen, und erteilte einem Trupp Soldaten bellend den Befehl, sich zu sammeln. Cennaire lächelte immer noch, genoß seine Verwirrung und wartete, während sich die mur renden Soldaten widerwillig von ihrem Würfelspiel trennten und eilig ihre Mäntel und Waffen ergriffen. Am Eingang bot ek'Nyle ihr seinen Arm an – eine Geste der Gewohnheit –, zog ihn dann aber langsam wieder zu rück. Cennaire machte sich den Spaß, ihm zuvorzukom men, und legte ihre Hand fest auf seinen Unterarm, be vor er ihn unter dem Mantel verschwinden lassen konn te. »Beschreibt mir diese vanuische Frau«, verlangte sie, als der Kommandant sie voller Unbehagen zur Straßen sperre eskortierte. Ek'Nyle gehorchte und erzählte ihr von Katya und Tekkan, während sie durch die Straßen der Stadt gingen und den Hang zu Menelians Anwesen hinaufstiegen. Cennaire hörte ihm schweigend zu. Sie wußte, daß sie Anomius über die neuen Figuren in diesem Spiel infor mieren mußte, und gleichzeitig überlegte sie, wie sie bei der bevorstehenden Begegnung mit dem Hexer vorgehen sollte. Am besten, entschied sie, würde es sein, ihn ohne Zeugen zu treffen. Sollte der Magier entdecken, was sie jetzt war, würde er sie wahrscheinlich denunzieren, und
obwohl der Brief, den sie bei sich trug, ihr erhebliche Vollmachten einräumte, hatte Anomius sie davor ge warnt, ihr wahres Wesen zu offenbaren. Diese Form der Nekromantie, hatte er ihr erklärt, wurde voller Mißbilli gung betrachtet und würde mit Sicherheit alle Bürger Vishat'yis gegen sie aufbringen. Es war zwar unwahr scheinlich, daß diese schwachen Menschen ihr einen ernsthaften Schaden zufügen könnten, aber es war durchaus möglich, daß sie ihr Hindernisse in den Weg legten. Also würde sie versuchen, allein von dem Hexer empfangen zu werden. Sie nickte, als ek'Nyle auf die Mauern deutete, die Menelians Haus umgaben, und nahm ihre Hand von seinem Arm. Seine Erleichterung war unübersehbar. Er würde nur zu gern bereit sein, auf ihren Vorschlag ein zugehen. »Ihr braucht nicht bei mir zu bleiben, Kommandant. Ohne Zweifel habt Ihr andere Aufgaben zu erledigen, und dieser Besuch könnte eine Weile dauern.« Ek'Nyle verzichtete auf einen Einwand, nickte nur und läutete die Glocke. Ein Diener erschien am Tor. »Lady Cennaire würde gern mit Menelian sprechen«, erklärte er. »Bring sie zu ihm.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, salutierte er, machte auf dem Absatz kehrt und winkte seinen Leuten zu, ihm zu folgen. Cennaire beachtete ihn nicht weiter. Der Diener verbeugte sich und forderte sie mit einer respektvollen Geste auf einzu treten.
»Meine Dame.« Er schloß das Tor hinter ihr und führte sie zum Haus. »Bitte wartet hier einen Moment. Ich wer de meinem Herrn Bescheid sagen.« Cennaire schickte ihn mit einer Handbewegung fort, und er verließ die Vorhalle. Sie blickte sich um, betrach tete den Mosaikfußboden und die kleine Burashstatue in ihre Nische. Dann öffnete sich die Innentür, und sie wur de tiefer in die Villa hineingeführt, in ein Zimmer, dessen Wände mit Rosenholz vertäfelt waren, das in einem warmen Farbton schimmerte. Es reflektierte die Wärme des Kaminfeuers und das Licht des Kronleuchters, der über einem mit Schriftrollen und Pergamenten übersäten Tisch hing. Der Diener verbeugte sich und zog sich zu rück, als der Mann hinter dem Tisch aufstand. »Lady Cennaire? Ich bin Menelian.« Seine Stimme war hell, ein sanfter Tenor. Er war jün ger, als sie erwartet hatte, und recht attraktiv. Sein Kinn war glattrasiert, sein Haar hatte einen dunklen, rötlich braunen Farbton, und seine Augenfarbe war von einem erstaunlichen Violett. Er trug eine weite offene schwarze Robe, in die okkulte Symbole eingewoben waren, über einem weißen Hemd und einer dunklen Hose, deren Beine in kurzen weichen Stiefeln steckten. Sein Blick verriet Neugier, und als Cennaire prüfend die Luft ein sog, konnte sie keine Beunruhigung riechen, nur ruhiges Selbstvertrauen, das von Neugier überlagert wurde. Sie lächelte, vollführte einen Knicks und sagte: »Bitte ver zeiht mir diese späte Störung.«
»Es gibt nichts, was ich Euch verzeihen müßte«, erwi derte er und deutete auf einen Stuhl. »Möchtet Ihr Platz nehmen? Soll ich Wein bringen lassen?« »Vielen Dank.« Sie nahm ihre Mütze und den Mantel ab, setzte sich und nutzte die Gelegenheit, ihn weiter zu betrachten, als er zur Tür ging und einem Diener befahl, Wein zu brin gen. Cennaire überlegte, daß er möglicherweise seine Fähigkeiten benutzte, um sich zu verstellen, denn sie konnte bei ihm nicht den Geruch von Verlangen nach ihr entdecken, nur diese ruhige Neugier. Sie rückte ihre Tunika zurecht, zog sie so weit herunter, daß sie ihren schlanken Hals freiließ und straffer über ihren Brüsten lag. Wenn sie auch nicht mehr richtig menschlich war, hielt sie dennoch weiter an den Gewohnheiten ihres früheren Lebens fest. Menelian kehrte mit einem Silbertablett zurück, füllte zwei Kelche und nahm lächelnd ihr gegenüber Platz. Sie sah, wie sein Blick über ihren Halsausschnitt streifte, und verspürte Befriedigung, als sie kurz den Geruch von Verlangen wahrnahm. »Was führt Euch zu mir, meine Dame?« fragte er. »Bitte, nennt mich Cennaire«, erwiderte sie. »Ein hübscher Name … also, Cennaire.« Er nippte an seinem Wein und betrachtete ihr Gesicht über den Rand seines Kelches hinweg. »Und in welcher Angelegenheit haltet Ihr Euch in Vishat'yi auf, Cennaire?« »Ich komme im Auftrag des Tyrannen aus Nhurjabal«,
antwortete Cennaire. Menelian nickte, anscheinend nicht im mindesten ü berrascht. Sein Gesicht verriet nicht, was in ihm vorging. Cennaire verspürte ein kurzes Gefühl der Verwirrung. Sie war es gewohnt, daß Männer positiver auf ihre Reize reagierten, und seine Gleichgültigkeit beunruhigte und verärgerte sie sogar ein wenig. Abgesehen von diesem flüchtigen Hauch offener Begierde konnte sie kein Anzei chen dafür entdecken, daß er sich von ihr angezogen fühlte. Ihre langgeübte Geschicklichkeit in diesen Dingen veranlaßte sie, sich vorzubeugen und ihre Tunika etwas tiefer rutschen zu lassen, als sie unter den Seidenstoff griff und den Freibrief hervorholte. Sie reichte ihn ihrem Gastgeber. Ihr Argwohn, daß er seine Magie benutzte, um seine Begierde zu verschleiern, wuchs, und mit ihm keimte ein weiterer Verdacht auf: Wenn er seine wahren Gefühle ihr gegenüber verbarg, dann verbarg er viel leicht noch mehr. Vielleicht sein eigenes Mißtrauen. Sie sah, wie er einen nachlässigen Blick auf den Brief warf, nickte und ihn ihr zurückgab. »Ihr weist beeindruckende Referenzen vor, Cennaire.« Hörte sie da eine Doppeldeutigkeit aus seinen Worten heraus? Sie war sich nicht sicher, lächelte und sagte: »Man hat mich mit einer Aufgabe betraut, die von größ ter Bedeutung für den Tyrannen sein könnte.« »Sprecht Ihr von den Rebellen?« Menelian erwiderte das Lächeln. »Wir haben hier keine gesehen.« »Ich spreche von Verrätern«, gab sie zurück, »und von
ausländischen Spionen.« Menelians Brauen stiegen in die Höhe. »Es sind keine hier, soweit ich weiß«, murmelte er, »und ich würde es wissen, wenn es anders wäre.« Cennaire fragte sich, ob das eine Warnung war. Dieser Mann war viel schwerer zu durchschauen als Quindar ek'Nyle. Er verstellte sich, verbarg seine wahren Gefühle, und noch immer hatte sie keine Ahnung, ob er dazu seine Magie benutzte und ob er es instinktiv oder absicht lich tat. Sie lehnte sich entspannt zurück, legte einen Arm nachlässig über die Lehne des Stuhles, so daß die Run dung ihrer Brüste stärker betont wurde, stellte den Kelch ab und strich sich ein paar Strähnen ihres glänzenden schwarzen Haares aus dem blassen ovalen Gesicht. Noch immer erzielte sie keine wahrnehmbare Reakti on. Sie setzte einen ernsten Gesichtsausdruck auf und sagte: »Vielleicht sind sie jetzt nicht mehr hier.« »Ah!« Menelian nickte, als würde er endlich verstehen, als hätte sie sich bis jetzt unnötigerweise nebelhaft aus gedrückt. »Ihr meint Calandryll den Karynth und Bracht ni Errhyn.« Seine Offenheit verblüffte Cennaire. Ihre Augen weite ten sich vor Überraschung, und sie murmelte zustim mend. »Das ist allgemein bekannt«, erklärte Menelian ruhig. Sein Gesicht war nach wie vor unergründlich. »Quindar ek'Nyle und die meisten Soldaten der Garnison wissen darüber Bescheid, und zweifellos hat unser guter Kom
mandant Euch bereits über ihre Ankunft und Abfahrt informiert.« Es fiel Cennaire jetzt schwer, ihre Verwirrung zu ver bergen, und sie verspürte einen Anflug von Beunruhi gung. Daß Menelian von ihrem Gespräch mit ek'Nyle wußte, lag vermutlich nur daran, daß sein Türwächter sie zusammen mit dem Offizier gesehen und seinem Herrn davon berichtet hatte, aber sein unbekümmertes Einges tändnis widersprach der Reaktion, die er auf ihre Anwe senheit eigentlich hätte zeigen müssen. Wenn er nicht wußte, daß Anomius sie geschickt hatte – und woher sollte er das wissen? –, mußte er glauben, daß sie einzig und allein im Auftrag des Tyrannen gekommen war, und folglich hätten ihn die Fragen über Reisende und Verrä ter eigentlich auf eine mögliche Gefahr aufmerksam machen müssen. Sie hielt ihn nicht für einen solch großen Dummkopf, als daß er so sorglos Nhurjabals Interessen vernachlässigen würde, also mußte irgend etwas anderes hinter seiner Gelassenheit stecken. Argwöhnte er viel leicht, was sie war? Sie ließ ihrem Gesicht keine Regung anmerken und nickte. »Und ohne Zweifel hat er Euch ebenfalls erzählt, daß sie mit einem vanuischen Kriegsboot gekommen sind, das von Tekkan befehligt wurde, in Begleitung einer Frau namens Katya.« Wieder nickte Cennaire und bemerkte plötzlich eine schwache Veränderung im Benehmen des Hexers. Sein Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung waren gleich
geblieben, aber bei der Erwähnung der Frau hatte seine Beherrschung für einen Sekundenbruchteil nachgelassen. Sie erkannte, daß sein Verlangen nach ihr durch eine größere Anziehungskraft gedämpft wurde, durch eine überwältigende Sehnsucht nach dieser Katya. Es über raschte sie festzustellen, daß sie Eifersucht verspürte, Eifersucht und eine zunehmende Verärgerung. »… und daß ich sie geprüft und angeordnet habe, sie freizulassen«, hörte sie ihn fortfahren, »und ihnen jede Hilfe bei der Reparatur ihres Bootes zu gewähren, das Vishat'yi vor rund fünf Tagen verlassen hat.« Noch immer war sein Gesichtsausdruck unerschütter lich ruhig. Cennaires Gedanken überschlugen sich. Ihre Überzeugung, daß er mehr verbarg, als er ihr mitteilte, wuchs, und das beunruhigte sie. »Sie werden per Edikt des Tyrannen als Verbrecher gesucht«, sagte sie scharf und versuchte, einen Vorteil zu erringen, indem sie seine stoische Ruhe ins Wanken brachte. »Sie werden als Feinde Kandahars betrachtet.« »Wie Ihr wißt, habe ich sie kennengelernt«, erwiderte Menelian, »und ich habe nichts in ihnen entdeckt, was darauf hingedeutet hat, daß sie unsere Feinde sein könn ten. Im Gegenteil, eher unsere Freunde.« »Vielleicht«, sagte sie vorsichtig, »haben sie Hexerei angewandt, um ihre wahren Absichten zu verschleiern.« »Unmöglich.« Menelian schüttelte den Kopf, ohne da bei den Blick auch nur für einen Moment von ihrem Gesicht zu nehmen. »Wäre das der Fall gewesen, hätte
ich es bemerkt.« »Seid Ihr Euch da sicher?« »Absolut.« Er neigte zuversichtlich den Kopf. »Noch etwas Wein?« »Nein, danke.« Es gelang ihr nicht, ein Stirnrunzeln zu vermeiden, als Menelian einen Arm ausstreckte und die Finger krümm te. Durch diese einfache Geste erhob sich die Karaffe auf dem Tisch und schwebte zu ihm herüber. Welche Gerü che er auch immer verströmen mochte, jetzt wurden sie durch den plötzlich aufkommenden Mandelduft überla gert. War diese Demonstration eine Warnung? Spielte er mit ihr? Sie ließ ihr Stirnrunzeln in ein Lächeln überge hen, eine treue Dienerin des Tyrannen, die einem ande ren Diener desselben Herrn gegenübersaß. »Wohin sind sie gefahren?« Der Hexer schenkte sich Rotwein nach, schickte die Karaffe zu ihrem Tisch zurück und trank einen kleinen Schluck, bevor er antwortete. »Nach Lysse, wie Quindar ek'Nyle Euch zweifellos be reits gesagt hat. Genaugenommen nach Aldarin.« »Nach Aldarin.« Es war ein weiterer Puzzlestein auf ihrer Jagd. »Obwohl Calandryll den Karynth aus Secca stammt.« »Das ist richtig«, gab der Zauberer zu, »aber sie sind trotzdem nach Aldarin gesegelt.« »Wieso?«
»Sie haben dort etwas zu erledigen, jemanden aufzu suchen, der ihnen Geld schuldet.« Cennaire fragte sich, ob er sie mit seinem Lächeln ver höhnte. »Nhurjabal hätte es lieber gesehen, wenn sie hiergeblieben wären«, behauptete sie. »Als Gefangene.« »Auf Grund welcher Anklage?« wollte Menelian wis sen. »Sie haben gegen kein Gesetz verstoßen, und sie sind keine Feinde. Warum sollten sie also festgehalten wer den?« »Ich hinterfrage die Wünsche des Tyrannen nicht«, er klärte sie. »Ich gehorche nur den Befehlen, die mir erteilt worden sind.« »Ihr habt eine Vollmacht bei Euch«, stellte der Hexer fest, »aber Ihr habt mir kein Schreiben gezeigt, auf dem ihre Namen stehen.« Einen Moment lang war Cennaire überrumpelt. »Nein«, entgegnete sie dann. »Mein Anweisungen wur den mir mündlich gegeben.« »Seltsam«, sagte Menelian leise. »Ich denke, wenn sie wirklich Feinde Kandahars wären, dann wäre der Haft befehl gegen sie schriftlich ausgestellt worden und hätte durch das Siegel Nhurjabals Gültigkeit bekommen. Wer hat diese Anweisungen erteilt?« Jetzt erreichten schwache Duftspuren Cennaires ge schärfte Nase, aber es fiel ihr schwer, sie zu deuten. Da war weiterhin Neugier, aber auch eindeutiges Mißtrauen und – vielleicht – Feindseligkeit. Lag es daran, fragte sie sich, daß er diese Frau aus Vanu beschützen wollte? Oder
gab es dafür andere Gründe? Seine direkte Frage schien ihr ein Test zu sein. »Der Tyrann Xenomenus«, behaupte te sie kühl. »Xenomenus persönlich?« Menelian schob seinen Weinkelch zur Seite. Cennaire registrierte sein wachsen des Mißtrauen. »Der Tyrann kümmert sich selbst um diese Angelegenheit?« Sie nickte. »Solche Dinge fallen normalerweise eher in den Zu ständigkeitsbereich seiner Hexer«, sagte der Magier lang sam. »Oder in den von Attam ek'Talus.« Seine violetten Augen hefteten sich an ihr Gesicht, und er schien Ratlo sigkeit in ihrer Miene zu erkennen, denn er fügte erklä rend hinzu: »Der Oberbefehlshaber der Armee.« »Natürlich.« Sie zwang sich zu einem schwachen Lä cheln und versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen. »Attam ek'Talus.« »Der Name scheint Euch nicht geläufig zu sein.« Sein Tonfall veränderte sich und nahm eine gewisse Schärfe und Härte an. Cennaire behielt einen unbeweg ten Gesichtsausdruck bei, als sie die Achseln mit einer Gereiztheit zuckte, die nicht ausschließlich gespielt war. Die Selbstsicherheit des Hexers begann, sie aufzuregen. »Bezweifelt Ihr meine Autorität?« zischte sie. Menelian breitete die Arme aus, eine Geste, die gleich zeitig eine Entschuldigung oder Sorglosigkeit bedeuten konnte. »Kandahar wird von einem Bürgerkrieg zerris
sen, Cennaire, und Ihr seid auf der Jagd nach Leuten, die unsere Freunde sind – ohne eine entsprechende schriftli che Vollmacht vorzuweisen. Ich schlage vor, Ihr kehrt nach Nhurjabal zurück und berichtet Euren Auftragge bern, daß ich diese Menschen überprüft habe und mich für ihre Redlichkeit verbürge. Ich denke, Ihr werdet fest stellen, daß mein Wort sowohl bei den Hexern des Ty rannen als auch bei Attam ek'Talus etwas gilt.« Ihre Wut wuchs. Sie spürte, daß er ihr eine Falle stell te, und sie reagierte darauf. »Ihr nehmt Euch eine Menge heraus«, stellte sie fest. »Ich bin einer der Hexer des Tyrannen«, erwiderte Menelian. »Es ist meine erklärte Pflicht, diese Stadt zu schützen, und meine Fähigkeiten reichen mit Leichtigkeit aus, um Feindseligkeit aufzuspüren. Aus welcher Rich tung sie auch immer kommen mag.« Cennaires scharfe weiße Zähne gruben sich in ihre Un terlippe, als sie sein Gesicht musterte und über seine Worte nachdachte. Die letzten hatten wie eine direkte Herausforderung geklungen, und jeder Instinkt ihrer neuen Existenz als Untote drängte sie, sich auf ihn zu stürzen, ihn anzugreifen und in Stücke zu reißen, und sie war überzeugt, daß ihr das auch gelingen würde, ob er nun ein Hexer war oder nicht. Aber sie unterdrückte diesen Impuls und spielte vorläufig ihre Rolle als Agen tin Nhurjabals weiter, als Dame von vornehmer Geburt, die im Auftrag des Tyrannen unterwegs war. Ihre großen Augen wurden schmal.
»Widersetzt Ihr Euch den Befehlen des Tyrannen?« fragte sie. »Noch habe ich keine solchen Befehle gesehen«, gab er kalt zurück. »Bisher habe ich nur von Euch gehört, daß es sie gibt. Daraufhin habe ich Euch mitgeteilt, daß diese Leute, die Ihr sucht, keine Feinde Kandahars sind und sie auf meine Anordnung hin freigelassen wurden. Sollte man von mir verlangen, mich dafür in Nhurjabal zu rechtfertigen, dann werde ich dort erscheinen. Sobald – falls! – ich eine entsprechende schriftliche Aufforderung erhalte.« In diplomatischer Hinsicht waren sie an einem toten Punkt angelangt, und Cennaire hatte keine andere Mög lichkeit, als das zu akzeptieren. Vielleicht hatte sie bereits alles in Erfahrung gebracht, was es zu diesem Thema zu wissen gab, alles, was Anomius von ihr erwarten würde, aber dieser Mann reizte sie. Sie wollte mehr von ihm, ließ ihre Wut offen zutage treten und stand auf, als wäre es der Ärger über seine Weigerung, ihre Autorität anzuer kennen, der sie nicht länger auf ihrem Stuhl hielt. »Ihr sagt, sie wären vor fünf Tagen nach Aldarin gese gelt?« Menelian nickte. »Um diesen Mann aufzusuchen, der ihnen noch Geld schuldet … wie heißt er?« »Varent den Tarl.« Ein weiterer Stein in dem Puzzle, ein weiterer An haltspunkt. Wahrscheinlich hatte sie genügend Informa
tionen, um die Gesuchten aufzuspüren. Entweder würde sie sie in Aldarin finden, oder dort zumindest ihre Spur aufnehmen können. Anomius würde bestimmt damit zufrieden sein, und vielleicht wäre es besser gewesen, mit diesen Informationen zu ihm zu gehen, jetzt von hier zu verschwinden, aber sie konnte es einfach nicht. Ihr Zorn hielt sie hier fest. »Ihr scheint unentschlossen zu sein«, drang Menelians Stimme in ihre Gedanken, und sie starrte ihn mit unver hüllter Abneigung an. Seine nächsten Worte klangen schneidend wie eine scharfe Schwertklinge: »Vielleicht fragt Ihr Euch, was Ihr Eurem Herrn und Meister sagen sollt.« »Meinem Herrn und Meister?« Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Trotz ihrer Wut und Überraschung nahm sie einen neuen Geruch wahr. Sie wußte nicht, ob der Hexer seine magische Tar nung fallengelassen hatte oder seine Gefühle zu stark geworden waren, um die Tarnung länger aufrechtzuer halten, und es war ihr auch egal. Was sie roch, war offene Feindseligkeit, und ihre Vermutung wurde zur Gewiß heit. Gefahr drohte! »Ist Anomius etwa nicht dein Herr und Meister?« Me nelian erhob sich und baute sich vor ihr auf. »Oder sollte ich ihn lieber deinen Schöpfer nennen?« Cennaires zusammengekniffene Augen weiteten sich. »Was sagt Ihr da?« zischte sie. »Daß du ein Geschöpf widerlichster Nekromantie
bist«, erwiderte der Hexer. »Eine Wiedererweckte! Und ich werde nicht zulassen, daß du zu deinem Schöpfer zurückkehrst!« Cennaire versteifte sich. Menelian lachte, ein einzelner humorloser, bellender Laut. »Hast du tatsächlich geglaubt, mich täuschen zu kön nen? Ich bin ein Magier, Wiedererweckte!« Der moschusartige Geruch seines Abscheus lag in der Luft, zusammen mit dem seines Selbstbewußtseins. Er murmelte irgend etwas vor sich hin, zu leise, als daß sie die Worte hätte verstehen können, und wieder stieg ihr Mandelduft beißend in die Nase. Einen Augenblick lang spürte sie Zweifel in sich aufsteigen: Dieser Mann hatte die ganze Zeit über gewußt, daß er sie besiegen und vernichten konnte. »Und trotzdem hast du mich in dein Haus gelassen«, sagte sie. Jetzt klang ihr Stimme rauh. Menelians Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lä cheln. »Ich wollte herausfinden, wieviel du weißt«, er klärte er. »Und ich glaube nicht, daß du es mit mir auf nehmen kannst.« »Vielleicht nicht«, räumte sie ein, unsicher, Zauberkräfte er einsetzen konnte, um sich vor schützen. Sie wußte nur, daß sie jetzt versuchen ihn zu töten. »Woher kennst du den Namen Herrn?«
welche ihr zu mußte, meines
»Nicht alle in Nhurjabal sind mit seinen wahnsinnigen Plänen einverstanden«, entgegnete der Zauberer. Dieses
Eingeständnis war ein unmißverständlicher Beweis sei nes Selbstvertrauens. »Und es gibt einige, die ihn aufhal ten wollen.« »Tust du das für einen Grünschnabel aus Lysse und einen vagabundierenden Söldner aus Kern?« wollte sie wissen. »Oder geht es dir um diese Frau?« Und dann lachte sie gehässig auf, als sich Erschrecken im Gesicht des Magiers abzeichnete. »O Menelian, du magst zwar ein Hexer sein«, stellte sie fest, »aber du bist trotzdem immer noch ein Mann. So, wie du auf ihren Namen reagierst, begehrst du sie mit Leib und Seele. Deshalb sei dir dessen gewiß: sobald ich deine Freunde gefunden habe, werde ich auch die Frau abschlachten.« »Das wirst du nicht!« schrie er, und voller Befriedi gung roch Cennaire seine Angst. Ihr Lächeln war voller Hohn, als sie versicherte: »Ich werde es tun. Du kannst mich nicht vernichten, ich aber werde die Frau, die du beschützt, erwischen und ihr das Herz aus dem Leib reißen. Denk darüber nach, während du stirbst, Hexer!« Sie sprang ihn an, noch bevor sie ausgesprochen hatte, so schnell wie ein herabstoßender Falke, die Hände erho ben, die Finger wie Harpienkrallen gekrümmt. Jetzt war ihr Gesicht nicht mehr schön, sondern zu einer Grimasse bestialischer Wildheit verzerrt, ein Spiegelbild ihrer See le. Menelian rief ein einziges Wort, und im gleichen Mo ment war die Luft mit betäubendem Mandelduft erfüllt.
Cennaire spürte die Kraft seines Zauberspruches, der über sie hinwegfegte, und sie wußte, daß jedes lebendige Geschöpf von dieser magischen Gewalt ausgelöscht worden wäre. Wäre sie lebendig gewesen, wäre sie au genblicklich gestorben, aber sie lebte nicht mehr, sie war eine Untote. Anomius hatte ihr erklärt, daß der überwie gende Teil der Zauber, die die Hexer wirkten, für die Lebenden entwickelt worden war, denn für diese wur den sie in der Regel benötigt. Als Untote konnten ihr diese Zaubersprüche nichts anhaben. Sie stieß ein knur rendes Lachen aus, als sie über Menelian herfiel und dieselbe Erkenntnis in seinen Augen aufblitzen sah. Aber er war trotzdem nicht völlig hilflos. Die Zauber, die sie mit ihrem Scheinleben erfüllten, blieben nicht gänzlich unberührt von seiner magischen Attacke. Ihr wütender Angriff wurde verlangsamt, und obwohl sie seine Schultern mit Händen packte, denen genügend Kraft innewohnte, um Fleisch zu zerquetschen und Kno chen zu zermahlen, kämpfte er gegen sie an, widerstand ihrer schrecklichen Raserei. Er umklammerte ihre Hand gelenke, als sie ihre Finger in seinen Hals zu krallen ver suchte, und schleuderte ihr geheimnisvolle Silben ins Gesicht. Cennaire begriff, daß seine Hexerei zumindest teilwei se der Sprache bedurfte, und sie würgte die beginnende Beschwörungsformel mit einer einfachen Maßnahme ab: Sie stieß ihm das Knie in den Unterleib. Diese Methode hatte sie früher schon hin und wieder gegen allzu über
eifrige Freier angewandt, und sie wirkte bei dem Hexer genauso zuverlässig wie bei jedem normalen Mann. Menelians Beschwörung verwandelte sich in einen qual vollen Schrei. Sein Griff um ihre Handgelenke lockerte sich, und sie riß ihre Arme zurück, als er sich vor Schmerzen zusammenkrümmte. Cennaire kicherte – ein triumphierendes Fauchen – und krallte eine Hand in seine Kehle. Ihre Finger bohrten sich in sein Fleisch, drückten ihm die Luftröhre zusammen, und die Finger ihrer anderen Hand hinterließen tiefe rote Furchen in seinem Gesicht. Die violetten Augen des Hexers quollen aus ihren Höhlen, sein Gesicht wurde krebsrot, als kleine Äderchen unter seiner Haut platzten, und überzog sich gleich dar auf mit einem dunkleren Rot, als die Rißwunden in sei nem Gesicht heftig zu bluten begannen. Seine Schläge gegen ihre Arme und ihr Gesicht wurden schwächer, und sie hielt ihn auf Distanz, da sie nicht wußte, welche Verletzungen er ihr zufügen konnte. Sie würden sie zwar nicht beeinträchtigen, aber ihre Eitelkeit verbot ihr, das Risiko einzugehen, unansehnliche Beulen und Prellun gen davonzutragen. »Du warst dir zu sicher«, krächzte sie und lachte ein mal auf. »Männer sind sich immer zu sicher.« Sie drückte noch fester zu, und er hörte auf, auf sie einzuschlagen. Aus Angst, er könnte einen anderen Zau ber wirken, für den er keine Worte brauchte, ergriff sie mit ihrer freien Hand eins seiner Handgelenke und
zwang ihn, wie berauscht von ihrer Kraft, auf die Knie. Er krümmte sich und starrte sie mit vor Entsetzen gewei teten Augen an. Sie genoß den Geruch seiner Angst und wurde sich erst jetzt bewußt, daß während ihres Kamp fes ein paar Lampen zu Bruch gegangen waren. Bren nendes Öl breitete sich aus und erfüllte das Zimmer mit Rauch. Cennaire spürte, wie die durch seine Magie ge steigerte Kraft Menelian zu verlassen begann, wie der Hexer verzweifelt versuchte, Luft zu holen. Mit einer beinahe lässigen Bewegung brach sie das Handgelenk, das sie umklammert hielt. Er schien den Schmerz gar nicht zu bemerken, auch nicht, als sie das andere Hand gelenk ergriff und es ebenfalls brach, so daß seine beiden Hände schlaff und nutzlos herabbaumelten. »Was sind deine magischen Künste jetzt noch wert, Hexer?« fragte sie. Und mit einem einzigen Ruck riß sie ihm die Kehle auf. Ein grauenvoll seufzender Laut entwich aus Meneli ans zerfetzter Luftröhre, und er kippte vornüber gegen ihre Knie. Cennaire trat einen Schritt zurück. Sie atmete tief und heftig, nicht vor Anstrengung, davon spürte sie nicht die geringste Spur, sondern vor heißer Erregung über das, was sie vollbracht hatte. Sie hatte einen Magier besiegt! Einen der Hexer des Tyrannen! Gab es noch irgend etwas, das sie nicht würde erreichen können? Sie zuckte zusammen, als sie hörte, wie Fäuste gegen Holz trommelten und sie daran erinnerten, daß der
Rauch mittlerweile unter der Tür hindurchkriechen muß te. Jeden Moment konnten Menelians Diener kommen, um nachzusehen. »Herr? Ist alles in Ordnung, Herr?« hörte sie eine nervöse Stimme wie zur Bestätigung rufen. Sie blickte sich um. Das Zimmer war von dichten Rauch schwaden erfüllt, überall um sie herum loderten Flam men. Sie stand inmitten einer Feuersbrunst und spürte keine Hitze, war sich aber nicht sicher, ob die Flammen ihr nicht trotzdem schaden würden. Und es bestand die Gefahr, daß sie entlarvt wurde, denn zu ihren Füßen lag eine Leiche, und sie hatte keine glaubhafte Erklärung für diese Situation. Es wäre ihr leichtgefallen, die Tür zu öffnen und sich einen Weg durch die Diener zu bahnen – keiner von ihnen würde sie aufhalten können! –, aber das würde eine Menge Fragen aufwerfen, und die Antworten würden vielleicht zurück nach Nhurjabal und zu Ano mius zu verfolgen sein. Ihr Schöpfer hatte ihr freie Hand gelassen, ihr sogar gesagt, daß es vielleicht erforderlich werden würde, Menelian umzubringen, aber er hatte ihr ebenfalls erklärt, daß ein taktisches Vorgehen günstiger wäre. Und der Tote hatte von Hexern gesprochen, die eine Verschwörung gegen ihren Herrn und Meister plan ten, Männer, die sich zusammentun könnten, um sie zu vernichten, wenn sie erfuhren, was Cennaire getan hatte. Sie war überzeugt, jeden einzelnen von ihnen besiegen zu können, aber nicht alle gleichzeitig. Also war es am besten, wenn sie jetzt floh und ein Rätsel zurückließ, das mit etwas Glück Nhurjabal erst dann erreichte, wenn sie die Stadt wieder verlassen und erneut die Verfolgung
ihrer Beute aufgenommen hatte. Cennaire bedachte die Leiche des Zauberers mit einem letzten verächtlichen Blick und versprach: »Ich werde sie alle töten, du Trottel. Die Männer und die Frau.« Dann stieß sie ein Fenster auf und sprang hindurch ins Freie. Flammen erhellten die Nacht, als sie durch einen Gar ten rannte, am anderen Ende über die Mauer kletterte und in den Straßen untertauchte. Die Rufe von Menelians Dienern verklangen hinter ihr. Im günstigsten Fall, dach te sie, würde man annehmen, daß sie in der Feuersbrunst verbrannt war. Und wenn nicht … nun, dank ihres Herrn und Meisters würde sie Vishat'yi verlassen haben, bevor irgend jemand nach ihr suchen konnte. Auf einem stillen dunklen Platz blieb sie stehen und konzentrierte sich auf den Zauberspruch, den Anomius sie gelehrt hatte. Sie stellte sich seine Gemächer in Nhur jabal vor, sprach die geheimnisvollen Silben, die er ihr eingeschärft hatte, und roch den intensiven Mandelduft in der kühlen feuchten Nachtluft. Anomius rekelte sich auf einer Couch, ein ekelhafter Schmarotzer, der in seinen luxuriösen Gemächern in der Zitadelle etwa so fehl am Platz wirkte wie eine Made in einem makellosen, saftigen, gerade erst gepflückten Ap fel. Eine Karaffe aus Kristall und Silber stand neben ei nem gefüllten Pokal auf einem niedrigen Tischchen aus kunstvoll gearbeitetem Kupfer neben seinem Ellbogen. Er steckte eine fleckige Hand in eine Schale mit klebrigen
Süßigkeiten, die bereits schmierige Spuren auf seinem Kinn und seiner Kleidung hinterlassen hatten. Kerzen licht schimmerte auf verschüttetem Zucker und der blas sen elfenbeinfarbenen Haut seines haarlosen Schädels. Er schluckte einen Leckerbissen herunter, als Cennaire ma terialisierte. In seinen wäßrigen blauen Augen zeigte sich keine Spur von Überraschung, aber seine Brauen hoben sich leicht in einer stummen Frage. »Es hat alles ganz gut geklappt«, sagte Cennaire, schüttelte ihr volles Haar aus und strich sich die Tunika glatt. »Allerdings waren sie schon wieder weg.« Die Augen des Zauberers wurden schmal. Er fuhr sich mit einer Hand über den Mund, und Krümel von Gebäck und Zucker fielen auf die in sein Gewand eingestickten Symbole. Verärgert wischte er die Hand am Saum seiner Robe ab und forderte Cennaire mit einer Bewegung der anderen auf zu berichten. Sie setzte sich und schilderte ihm mit knappen Worten alles, was sie erfahren und getan hatte. Als sie ihren Be richt beendet hatte, nickte er nachdenklich. »Ich habe hier also Feinde.« Er zupfte an seiner rotge äderten Knollennase. »Daß mein Mut Anlaß zu Neid gibt, ist kaum verwunderlich. Sie haben Zauberfallen ausgelegt. Hast du das gewußt?« Cennaire schüttelte den Kopf. »O ja. Diese Gemächer hier…«, er verstreute weitere Krümel, als er mit einer ausholenden Handbewegung auf das Zimmer deutete, »… alle waren mit Zaubern belegt,
mit Beobachtungs- und Abhörzaubern. Sie haben sogar versucht, mich mit einem Quyvhal auszuspähen. Mich!« Er stieß ein vogelartiges zwitscherndes Lachen aus. Speichel sprühte über seine verschmutzte Robe. Cennaire wartete, betrachtete sein häßliches Gesicht und fragte sich nicht zum ersten Mal, seit er sie getötet und wieder erweckt hatte, ob er wahnsinnig war. Eigentlich spielte es keine große Rolle. Er hatte eine einflußreiche Position in Nhurjabal inne, und etwas davon fiel auch auf sie zu rück. Das genoß sie, und noch mehr genoß sie die Macht, die er ihr gegeben hatte. Und er besaß ihr Herz, und damit hielt er den Schlüssel zu ihrer Existenz in seinen Händen. »Idioten«, murmelte er, nachdem sein Gelächter abge klungen war. »Haben sie etwa geglaubt, ich würde es nicht merken? Mich nicht dagegen schützen? Ihre Zauber sind nichts, verglichen mit meinen, und deshalb, meine wunderschöne Jägerin, bin ich weder überrascht noch übermäßig beunruhigt darüber, daß sie etwas gegen mich aushecken. Irgendwann werde ich mich dafür an ihnen rächen. Bis es soweit ist, werden sie eine schwache Ahnung von dem bekommen, was ihnen bevorsteht, sobald die Nachricht von Menelians Tod aus Vishat'yi eintrifft.« Cennaire runzelte die Stirn und verschränkte die im mer noch vom Blut des Magiers besudelten Hände in ihrem Schoß. »Könnten sie dann nicht irgend etwas ge gen mich unternehmen?« wollte sie wissen. »Ich konnte
Menelian ziemlich leicht besiegen, aber mehrere auf einmal, wenn sie gemeinsam…« »Dann wirst du schon unterwegs nach Lysse sein.« Anomius machte eine wegwerfende Handbewegung und entblößte in einem Lächeln, das sie wahrscheinlich beru higen sollte, verfärbte Zähne. »In Sicherheit vor ihren Zauberkräften. Unsere Beute ist auf dem Weg nach Alda rin, sagst du? Und zwar mit einem Kriegsboot aus Va nu?« Cennaire nickte. »Das hat Menelian zumindest be hauptet.« Anomius schürzte nachdenklich die blassen gelblichen Lippen und bohrte sich mit einem schmutzigen Finger in der Nase. »Der Mann, den sie aufsuchen wollen, ist Va rent den Tarl«, sagte er schließlich und schnippte mit dem Finger. »Der Mann, der sie ursprünglich damit be auftragt hat, das Zauberbrevier zu finden. Soviel habe ich bereits gewußt, aber diese Sache mit den Vanuern ist interessant.« »Menelian hat nur gesagt, daß sie zusammen segeln«, meinte Cennaire. »Und er hat diese Frau begehrt«, fügte sie hinzu. Der Blick aus den wäßrigen blauen Augen des Zaube rers glitt wohlgefällig über ihr Gesicht und ihren Körper, und das Lächeln, das seiner Musterung folgte, war bei nahe spöttisch. »Aber dich nicht«, flüsterte er, »was dich, wie ich spüre, wütend gemacht hat.« Cennaire begegnete seinem Blick ohne erkennbare Re
gung. Anomius' Lächeln wurde noch breiter und erlosch dann. »Egal, mach mit ihr, was du willst. Aber finde Calandryll den Karynth und diesen Söldner aus Kern.« »Das werde ich«, versprach sie. »Aye«, murmelte er vor sich hin, »auch wenn sie bis zum Rand der Welt und darüber hinaus wandern, wirst du sie zur Strecke bringen, daran habe ich keinen Zwei fel. Aber trotzdem…« »Was?« fragte sie, und zum ersten Mal verspürte sie einen leisen Zweifel hinter seiner Zuversicht. »Die Vanuer«, erwiderte er. »Was für eine Rolle spie len sie? Diese Leute wagen sich selten weiter südlich vor als bis nach Forshold, und auch das nur äußerst selten. Nach dem, was du in Erfahrung gebracht hast, scheint es, als hätten sich diese Katya und dieser Tekkan – so hieß er doch? – in das Spiel eingeschaltet. Wenn Calandryll und Bracht Vishat'yi an Bord des vanuischen Bootes mit einer zum Verkauf bestimmten Ladung Drachenhäute erreicht haben, dann handelt es sich dabei wahrscheinlich um dasselbe Boot, das sie nach Gessyth gebracht hat. Nie mand hat etwas darüber erwähnt, was sie dort gefunden haben?« »Nichts«, bestätigte Cennaire. »Menelian hat nur ge sagt, daß sie Freunde Kandahars wären.« Anomius grunzte und bohrte erneut in einem Nasen loch herum. Trotz ihres früheren Lebenswandels sah Cennaire damenhaft weg. Anomius mochte zwar ein Hexer und ihr Schöpfer sein, aber das änderte nichts
daran, daß er ein abstoßender Mann war. »Warum sollten ihnen Vanuer helfen?« überlegte er laut, eine rein rhetorische Frage. »Anzunehmen, daß ihr Zusammentreffen nur auf Zufall beruht, wäre zuviel verlangt. Ich weiß nur äußerst wenig über dieses Land, aber ich habe gehört, daß es dort Schamanen mit großer Macht geben soll. Könnten sie dieses Zusammentreffen in die Wege geleitet haben? Und wenn ja, aus welchem Grund?« »Vielleicht haben auch sie es auf das Zauberbrevier abgesehen«, meinte Cennaire. »Vielleicht.« Anomius' Stirn legte sich in unzählige Runzeln, als er nachdachte. »Und wenn das zutrifft, dann muß es sich wirklich um ein Buch von ungeheurem Wert handeln. Möglicherweise sogar von größerem Wert, als Calandryll geglaubt…«, sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse der Wut und Bösartigkeit, »… oder zugegeben hat.« »Hätte er dieses Wissen denn vor Euch verbergen können?« erkundigte sich Cennaire und bereute die Fra ge schon im gleichen Moment wieder, als sie sah, wie seine Augen durch die unterschwellige Beleidigung kalt und zornig wurden. Dieser Mann hatte ihr das Leben gegeben, das sie jetzt lebte, und er konnte es ihr auch wieder fortnehmen, war vielleicht sogar der einzige Mensch, der dazu mit Sicherheit in der Lage war. Hinter der Angst, die sein starrer Blick in ihr hervorrief, spürte sie, wie ein anderer Gedanke in ihr Gestalt annahm:
Vielleicht würde sie Anomius eines Tages töten müssen, um sich selbst zu schützen. Aber noch war die Zeit nicht gekommen, erst mußte sie die Grenzen ihrer neu gewon nenen Macht erforschen und sich vergewissern, daß sie diese Auseinandersetzung auch siegreich bestehen konn te. Sie lächelte nervös, senkte schuldbewußt die Lider und beobachtete ihn durch ihre dichten Wimpern hin durch, setzte alle Kniffe ihres früheren Gewerbes ein. Anomius schnaubte geräuschvoll, ließ sich zu keiner Antwort herab und sagte statt dessen: »Du darfst sie nicht töten, bevor du nicht das Buch in den Händen hältst. Hast du das verstanden? Erst wenn du das Zau berbrevier in Sicherheit gebracht hast, darfst du sie um bringen.« Seine Stimme klang hitzig, und Cennaire nickte gehor sam. »Und wenn sie es nicht haben?« fragte sie in unter würfigem Tonfall. Er betrachtete sie einen Augenblick lang forschend, und sie fürchtete schon, zu weit gegangen zu sein. Dann aber lächelte er wieder und sagte ölig: »Du denkst vor aus, meine Schöne. Aye, es ist möglich, daß sie es bereits ihrem Auftraggeber ausgehändigt haben und es sich jetzt im Besitz von Varent den Tarl befindet. Sollte das der Fall sein, dann töte sie, aber erst wenn du über alle Zweifel sicher bist, wo das Zauberbrevier steckt. Diese beiden sind gerissen und stecken voller Tücke, also sei vorsich tig! Wenn Varent den Tarl das Buch hat, dann überzeuge dich davon, daß du ihn auch finden kannst, bevor du
meine Rache vollziehst. Vor allen Dingen muß ich das Buch bekommen! Erledige zuerst das, bevor du dich um die beiden kümmerst. Danach…« Sein Blick wanderte über ihren Körper, aber in ihm lag nicht die Begierde, die sie in den Augen der Männer zu sehen gewohnt war. Während er sie musterte, stellte er sich vor, was sie alles in ihrem untoten Zustand erreichen konnte, und sein meckerndes Lachen beendete den Satz deutlicher, als er es mit Worten hätte tun können. »Damit ist deine Aufgabe also klar. Geh dich jetzt wa schen, schlafe, und morgen unterhalten wir uns noch einmal, bevor du dich auf den Weg nach Aldarin machst.«
KAPITEL 7 Das Flußtal, in das Aldarin eingebettet lag, war sanfter als die schroffen Felshänge, die Vishat'yi umschlossen. Weinpflanzungen bedeckten die Hügel, die zu beiden Seiten des langsam dahinfließenden Alda aufstiegen. Noch waren sie kahl, aber schon kündeten die ersten Knospen von der bald einsetzenden Blüte. Über den Hügelkämmen raschelte das Gras der Weideflächen Lysses im Wind, durchsetzt mit den dunklen Flecken grasender Rinder. Dort, wo der Fluß in das Enge Meer mündete, lag die Stadt an seinen Ufern, in blauen und goldenen Farbtönen unter dem weichen Licht der Nach mittagssonne. Die Stadtmauer erhob sich stolz über der Flußmündung, die Befestigungsanlagen liefen nach bei den Seiten bogenförmig aus und umschlossen die Bucht, in der Schiffe auf den Wellen dümpelten. Obwohl überall entlang des Hafens befestigte Wachhäuser standen, die von Katapulten überragt wurden, und die großen me tallverstärkten Tore massiv genug wirkten, um auch dem wildesten Ansturm widerstehen zu können, erweckte Aldarin den Eindruck einer friedlichen Handelsstadt, die ihren Alltagsgeschäften nachging. Und doch hoffte Calandryll innerhalb ihrer Mauern Rhythamun zu finden, dem Zauberer gegenüberzutreten
und ihm das Arcanum zu entreißen. Wie er das in einer Stadt anstellen sollte, in der Rhythamun, der furchtbare okkulte Kräfte besaß, geachtet als Varent den Tarl lebte, war Calandryll zur Zeit noch schleierhaft. Als das Kriegsboot seine Fahrt verlangsamte, wußte er lediglich, daß er es tun mußte und daß er ein Gefühl verspürte, als kehrte er heim. Er riß sich vom Anblick der Stadt los, spürte, wie das Boot langsamer und nicht mehr von den göttlichen Kräf ten Burashs, sondern nur noch von der Meeresströmung vorangetrieben wurde, und blickte nach unten. Neben ihm stieß Bracht ein Knurren aus, als das graugrüne Wasser brodelte und der Gott daraus emporstieg. Dies mal hatte er die Gestalt eines Menschen angenommen, aber trotzdem wirkte er majestätisch. Wasserströme liefen über seine gewaltigen Schultern, sein langes Haar bedeckte seinen Oberkörper wie ein glänzender Mantel, und die Augen, aus denen er die Menschen ansah, erin nerten an die Tiefen des Meeres. Katya sprach leise in ihrer Muttersprache mit ihrem Vater, und Tekkan starrte den Gott voller Ehrfurcht an, als die mächtige lautlose Stimme in ihren Köpfen ertönte. Weiter werde ich euch nicht bringen. Zieht von hier aus mit meinem Segen allein weiter. »Warte!« rief Calandryll, als der Gott zum Abschied eine Hand hob. »Wir brauchen Deine Hilfe noch. Wie sollen wir Rhythamun besiegen? Willst Du uns nicht helfen, wenn er doch so mächtig ist?«
Das liegt nicht mehr in meinem Ermessen, erwiderte der Gott, denn jetzt betretet ihr den Herrschaftsbereich meiner Schwester Dera. Wenn ihr Hilfe braucht, wie sie euch nur Götter gewähren können, dann ruft sie. »Und wird sie antworten?« Wenn sie dazu bereit ist. Aber ich darf nicht weitergehen, sonst würde ich in ihr Reich eindringen. Göttliches Gelächter hallte in ihren Köpfen wider. Wir Götter hüten unsere Reiche eifersüchtig. »Aber Rhythamun…« Der Gott schnitt Calandryll das Wort mit einer Hand bewegung ab. Trotz all seiner Macht ist er doch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut. Jeder Mensch kann besiegt werden, und eure Aufgabe ist es, herauszufinden, wie ihr gegen ihn vorgehen müßt. Calandryll hörte, wie Bracht neben ihm murrte: »Es scheint, daß die Götter genau wie die Hexer Rätsel lie ben.« Die Anmaßung des Kerners erschreckte Calandryll, und einen Augenblick lang fürchtete er schon, Burash könnte sich beleidigt fühlen und sie seinen ozeanischen Zorn kosten lassen. Statt dessen vernahm er wieder das Gelächter, das wie Wellen klang, die in eine unterseei sche Höhle schlugen. Wenn ich auch nicht dein Gott bin, Krieger, nimmst du dir doch eine Menge heraus, so mit mir zu sprechen. Würdest du
dich Ahrd gegenüber genauso respektlos verhalten? Bracht zuckte unerschrocken die Achseln und grinste. »Ich würde ihn um einen unmißverständlichen Rat bit ten«, entgegnete er. Ich sage euch, was ich sagen kann, erwiderte Burash. Glaubt ihr, wir Götter müßten uns keinen Gesetzen beugen? Nein, sosehr wir uns von den Sterblichen unterscheiden, so sehr unterscheiden sich auch unsere Gesetze von den euren. Könnte ich das Land betreten und das Arcanum aus Rhytha muns toten Händen nehmen, glaubt ihr nicht, ich würde es tun? Aber ich kann es nicht; es ist mir verboten. »Könnte es Dera denn tun?« fragte Calandryll. Nein. Wellen brandeten auf, als der Gott seinen riesi gen Kopf schüttelte. Sie kann euch helfen, wenn sie es will, aber Rhythamuns Leben beenden … nein. »Warum nicht?« wollte Bracht wissen und ignorierte hartnäckig die Hand, die Calandryll ihm auf die Schulter legte. »Wenn Rhythamun mit seinem Plan Erfolg hat, dann werden Dera, Du und Ahrd – alle Jüngeren Götter! – von Tharn bedroht werden.« Du hast recht, Bracht ni Errhyn. Die lautlose Stimme klang jetzt ernst und feierlich, und der gewaltige Kopf senkte sich für einen Moment, bevor er sich wieder hob und sich die grünen Augen auf das störrische Gesicht des Kerners richteten. Vielleicht haltet ihr drei unser aller Leben in den Händen. Aber trotzdem dürfen wir das, was das Schick sal zu eurer Aufgabe bestimmt hat, nicht selbst tun. Es ist uns nicht gestattet. Die Blasphemie, die Rhythamun beabsichtigt,
ist Menschenwerk und muß von Menschenhand beendet wer den. Ihr müßt die Rettung selbst herbeiführen und dürft nicht auf göttliche Retter warten. Wir werden euch die Hilfe gewäh ren, die wir euch geben können, aber nicht mehr. Und stellt mir keine weiteren Fragen mehr, denn ich verlasse euch jetzt. Lebt wohl! Genauso schnell, wie er in der Höhle erschienen war, tauchte Burash wieder unter. Dort, wo er eben noch ge wesen war, schäumte und wirbelte das Wasser. Ca landryll und die anderen betrachteten die Stelle noch eine Weile vom Ruderdeck aus und grübelten über die Worte des Gottes nach, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Es war Bracht, der schließlich das Schweigen brach. »Also müssen wir die Stadt allein betreten.« »Aye.« Calandryll richtete den Blick landeinwärts. Plötzlich erschien ihm Aldarin weniger einladend, und er sagte stockend: »Wir haben keine andere Wahl.« »Nein.« Brachts Stimme klang grimmig, genauso grimmig wie das Lächeln, das seine Lippen verzog. »Wir kehren auf dieselbe Weise zurück, wie wir diese Reise begonnen haben.« »Du vergißt, daß wir jetzt zu dritt sind«, warf Katya ein. »Und wir haben noch meine Landsleute hinter uns.« »Dich würde ich nie vergessen.« Bracht vollführte eine galante Verbeugung in ihre Richtung. »Aber trotzdem…« »… sind wir nur sehr wenige gegen eine Stadt, in der Varent den Tarl hoch geschätzt wird«, beendete Ca
landryll den Satz für ihn. »Denkt ihr, der Domm würde uns zuhören, wenn wir ihm unsere Geschichte erzählten? Höchstwahrscheinlich würde er uns auslachen – und dann einsperren lassen. Und ihr habt eine Vorstellung von den Kräften, die Rhythamun beherrscht. Vermutlich weiß er, daß wir kommen, und hat magische Schutzvor kehrungen gegen uns getroffen.« »Und trotzdem dürfen wir nicht umkehren«, sagte Bracht. In seiner Stimme klang nicht der geringste Anflug von Zweifeln oder Zögern mit, und als Calandryll sich zu ihm umdrehte und das Gesicht seines Gefährten muster te, sah er, daß es entschlossen wirkte, als wäre Bracht der Gedanke an Aufgabe völlig fremd. »Vielleicht gehen wir in den Tod«, gab er zu beden ken. Bracht schmunzelte unbekümmert, sein Gesichtsaus druck veränderte sich, und er hieb Calandryll kräftig auf die Schulter. »Mag, sein«, gab er gutgelaunt zu, »aber kein Mensch lebt ewig. Sollen wir uns davon abschrecken lassen?« Calandryll starrte ihn eine Weile an, bevor auch er zu schmunzeln begann. »Nein«, sagte er. »Auf keinen Fall!« »Auf keinen Fall!« wiederholte Katya und lächelte beiden zu. »Tekkan, auf nach Aldarin!« »Und mögen die Götter, die wir retten wollen, mit uns sein«, murmelte der Steuermann. Dann hob er die Stim me und rief der ausgeruhten Mannschaft in seiner Mut
tersprache zu, die Ruder aufzunehmen und sie in den Hafen zu bringen. Das schlanke schwarze Kriegsboot erregte Aufmerk samkeit, die fast schon an Aufregung grenzte, als es durch die gebogenen Schutzmauern glitt, die den Hafen umfaßten. Die Katapulte auf den Befestigungsanlagen wurden in seine Richtung geschwenkt, und noch bevor Tekkan den Ruderern befahl, die Geschwindigkeit zu verringern, und das Boot an einen Kai gleiten ließ, hatten sich Bogenschützen auf den Molen aufgebaut, hinter denen Pikenträger Stellung bezogen hatten. Calandryll stand zusammen mit Bracht und Katya am Bug, hielt sich am geschwungenen Hals des Drachenkop fes fest und rief den Wartenden auf Lyssianisch zu, daß sie in friedlicher Absicht kämen. »Wahrscheinlich wird es nicht lange dauern, bis Rhythamun davon erfährt«, sagte Bracht leise neben ihm. Calandryll nickte, ohne die Soldaten aus den Augen zu lassen. Er überlegte kurz, ob es nicht klüger gewesen wäre, Burash zu bitten, sie zu einer etwas entfernteren Bucht zu bringen, und von dort über Land in die Stadt zu gehen. Nein, entschied er. Wenn Rhythamun sich mit Schutzzaubern abgesichert hatte, würde er von ihrer Ankunft erfahren, egal auf welchem Weg sie sich ihm näherten. Sie konnten nur darauf hoffen, daß der Zaube rer glaubte, sie wären noch immer in der Einöde von Gessyth gefangen.
»Möglich«, erwiderte er, »vielleicht vermutet er uns aber immer noch in Tezin-dar. Wie dem auch sei, nach dem wir jetzt einmal hier sind, führt unser Weg uns nur noch nach vorn.« »Wie ein wahrer Krieger aus Cuan na'For gespro chen«, sagte Bracht anerkennend. »Aber wir müssen uns behutsam bewegen«, warnte Katya. »Wenn er glaubt, daß wir in der verschollenen Stadt gefangen sind, besitzen wir einen Vorteil, den wir durch ein ungestümes Vorgehen verspielen würden.« »Aye«, stimmte ihr Calandryll zu. »Wir sollten uns am besten verkleiden und die Lage auskundschaften, bevor wir es auf eine Konfrontation mit ihm ankommen las sen.« Bracht grinste verschlagen. »Es gibt mehrere Möglich keiten, eine Schlacht zu schlagen«, sagte er. »Ein Krieger ist gut beraten, sich an seinen Feind anzuschleichen.« Also hielten sie sich im Hintergrund und versuchten, unter den Besatzungsmitgliedern nicht aufzufallen, als Tekkan mit dem Befehlshaber der Hafenwache sprach und ihm eine Geschichte auftischte, der zufolge sie von Vanu aus nach Süden gesegelt waren, um Handel zu treiben und ferne Länder zu erkunden. Ein Sturm hätte sie von ihrem Kurs abgebracht, erzählte er, und sie woll ten nur eine Zeitlang in Aldarin vor Anker gehen und sich erholen, bevor sie sich wieder auf den Heimweg machten. Trotz des milden lyssianischen Klimas war es der Jah
reszeit entsprechend kalt, und die Vanuer trugen Woll mäntel und Ölzeug, so daß es Calandryll, Bracht und Katya nicht schwerfiel, in der Menge unbemerkt zu blei ben, während der Steuermann sein Garn spann. Er tat das so gekonnt, daß der Offizier ihm seine Geschichte schon bald glaubte. Er ließ sich überzeugen, daß es sich bei den Fremden weder um Piraten noch um ein Über fallkommando aus Kandahar handelte, und gestattete ihnen, im Hafen zu ankern. Calandryll war ein wenig überrascht, daß Tekkan ein derart begabter Lügner war, aber froh über die Zungenfertigkeit des Steuermannes, die ihnen ohne eine weitere Überprüfung den Zutritt in die Stadt ermöglichte. In seinen Mantel gewickelt, hielt er sich in der Mitte der Vanu, als sie eine Taverne in der Nähe aufsuchten. In der Kneipe war es warm, ein Feuer brannte im Zentralkamin. Um diese Tageszeit waren die Lampen noch nicht angezündet worden. Durch die niedrige De cke und die sie tragenden Stützbalken, die den Raum unterteilten, herrschte ein willkommenes Zwielicht in der Taverne. Die Vanuer ließen sich im hinteren Bereich nieder, wo es am dunkelsten war, und ignorierten die neugierigen Blicke der wenigen Zecher, als sie ihre Ka puzen zurückschlugen und ihr charakteristisches hell blondes Haar sie als Fremde auswies. Es hatten sich so viele von ihnen zwischen Calandryll und Bracht und die übrigen Gäste gedrängt, daß eventuell anwesende Spione Schwierigkeiten gehabt hätten, sie in der Menge zu er kennen. Tekkan bestellte Bier für alle.
Nachdem jeder einen Krug hatte und die Neugier des Wirtes befriedigt war, planten sie ihr weiteres Vorgehen. Sich geschlossen zu dem Palast zu begeben, den Rhythamun in seiner Rolle als Varent den Tarl bewohnte, würde nur unnötige Aufmerksamkeit erregen, meinte Calandryll. Es wäre besser, die Lage unauffällig auszu kundschaften und soviel wie möglich in Erfahrung zu bringen, bevor sie sich dem Zauberer stellten. Bracht stimmte ihm zu, und sie einigten sich darauf, zuerst Unterkünfte für alle in einer geeigneten Herberge zu suchen, bevor sie weitere Schritte unternahmen. »Sollten wir nicht versuchen, uns Deras Hilfe zu versi chern?« fragte Katya. Calandryll dachte einen Moment lang darüber nach, dann schüttelte er den Kopf und erwiderte: »Vielleicht sollten wir das vorläufig noch nicht tun. Varent den Tarl ist ein Adliger und könnte Augen und Ohren in den Tempeln haben.« »Wozu brauchen wir einen Tempel?« wollte die Krie gerin wissen. »Burash ist auf deinen Ruf hin erschienen. Würde Dera das nicht auch tun?« Darüber hatte er ausgiebig nachgedacht, während der Gott sie über das Enge Meer gebracht hatte, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu gelangen. Er schüttelte erneut den Kopf. »Ich weiß es nicht; ich weiß weder, ob Dera mich hö ren würde, noch wie ich Burash herbeigerufen habe. Ich weiß nur, daß ich fast ertrunken wäre…«, die Erinnerung
an dieses unerfreuliche Erlebnis ließ ihn eine Grimasse schneiden, »… und schon geglaubt hatte, ich wäre verlo ren, und wir alle müßten in dieser Höhle sterben. Was für einen Ruf ich ausgeschickt oder was für einen Schrei ich ausgestoßen habe – und wie ich das gemacht habe –, das ist mir genauso schleierhaft wie dir.« Er zuckte hilf los mit den Schultern. »Und die Kraft, die Menelian in mir gesehen hat, hilft mir da auch nicht weiter, sie bleibt ein Geheimnis für mich. Ich kann nur zu meiner Göttin beten und hoffen, daß sie mich erhört.« »Dann versuch es«, sagte Bracht. »Ich bin ebenfalls der Meinung, daß wir die Tempel meiden sollten, aber wir wissen, welche Fähigkeiten Rhythamun besitzt, und ich möchte jede Hilfe in Anspruch nehmen, die wir erhalten können, bevor wir gegen ihn vorgehen.« Calandryll nickte und wünschte sich, Burash hätte sich deutlicher ausgedrückt. In diesem Punkt war er einer Meinung mit dem Söldner; die Götter schienen wirklich in Rätseln zu sprechen. Er spürte, wie die Zuversicht, die ihn seit Burashs Eingreifen erfüllt hatte, etwas ins Wan ken geriet, und er fragte sich, ob nicht alles, was sie taten, vorherbestimmt war. Die Prophezeiungen, die er gehört hatte, die Worte der Wahrsagerinnen in Secca und Kha rasul und die der Wächter in Tezin-dar, stets war von drei Personen die Rede gewesen, von Bracht, Katya und ihm. Aber sie waren nur drei gewöhnliche Menschen, und seit sie nach Aldarin zurückgekehrt waren, erschien ihm ihre Aufgabe einmal mehr geradezu gewaltig. Trotz
allem, was Menelian gesagt hatte, Calandryll war kein Hexer und verfügte über keine Magie, die er gegen Rhythamun einsetzen konnte, und er glaubte einfach nicht, daß ihre Schwerter ausreichten, um den Magier zu besiegen. Auch mit List allein würden sie nicht zum Ziel kommen, denn Rhythamun wurde in dieser Stadt durch seine Stellung genauso gut geschützt wie durch seine okkulten Kräfte. Sie standen noch immer vor dem Prob lem, eine Möglichkeit zu finden, dem Zauberer das Buch zu entreißen, aber Calandryll hatte nach wie vor keine klare Vorstellung, wie sie das bewerkstelligen sollten. »Tu, was du kannst«, hörte er Bracht murmeln und wurde sich bewußt, daß er düster vor sich hin gebrütet hatte. »Mehr kann kein Mensch tun.« Calandryll brachte ein Lächeln zustande und sagte: »Aye. Wir sind schon zu weit gekommen, um jetzt zu zaudern.« Bracht nickte, und Calandryll begriff, daß er, ohne darüber nachzudenken, die Wahrheit gesagt hatte. Ihm war nie in den Sinn gekommen, aufzugeben. Er hatte sich nur damit abgefunden, daß sie vielleicht scheitern wür den. Sein Lächeln vertiefte sich, er hob seinen Krug und leerte ihn in einem Zug. Es war ein stärkeres Gebräu als das etwas dünne Bier in Kandahar, und mit ihm kamen die Erinnerungen zu rück. Er war wieder in Lysse. Secca lag im Osten, und er fragte sich, was in seiner Heimatstadt inzwischen alles geschehen sein mochte. Tobias würde mittlerweile mit
Nadama verheiratet sein. Hielten sie sich in Secca auf, oder befand sich sein Bruder vielleicht in den Schiffs werften von Eryn, um den Bau der versprochenen Kriegsschiffe zu beaufsichtigen? Glaubte er, sein Bruder sei tot, von den Chaipaku gemeuchelt? Oder hatte er von ihnen die Nachricht erhalten, daß Calandryll noch lebte und ihnen von dem Gott, den sie anbeteten, die Hände gebunden waren? Der Gedanke ließ ihn leise in sich hineinkichern, und er wünschte sich, er könnte Tobias' Gesicht in dem Augenblick sehen, in dem sein Bruder diese erschreckende Nachricht erhielt. Eines Tages – wenn er diese Mission überlebte – würde er ihm wahr scheinlich gegenübertreten, und was für ein Schock müß te das für Tobias sein. Zweifellos hielt ihn sein Bruder immer noch für einen Schwächling, hatte immer noch das Bild des Jünglings vor Augen, der sich ständig in der Palastbibliothek herumgetrieben hatte. Was würde er jetzt über diesen zähen Schwertkämpfer denken, der sein Bier mit solchem Genuß trank und Pläne schmiedete, einen mächtigen Zauberer anzugreifen? Die Niederge schlagenheit verließ Calandryll genauso plötzlich, wie sie gekommen war. Er schlug mit seinem Krug auf den Tisch und rief nach mehr Bier. »Deine Laune bessert sich«, stellte Katya fest, die sein Gesicht betrachtet hatte. Er grinste ihr zu und nickte. »Aye.« Obwohl sie ihn immer noch ansah und anscheinend verwirrt über seine abrupt wechselnden Stimmungen
war, verzichtete er auf eine weitere Erklärung. Ihm wur de bewußt, daß er Bracht immer ähnlicher wurde; er akzeptierte die Gegebenheiten, ohne ständig darüber nachzubrüten, wohin ihn die jeweilige Situation führen mochte. Der Teil in ihm, der noch zu seinem alten Ich gehörte, ließ ihn von Zeit zu Zeit zwar immer noch in düstere Grübeleien verfallen, aber diese Phasen der Nie dergeschlagenheit lösten sich immer schneller wieder auf und machten hartnäckiger Entschlossenheit Platz. Er hatte weder eine Ahnung, wohin ihre Mission sie führen würde, noch wußte er – wenn er sich gegenüber ehrlich war –, ob sie wirklich realistische Erfolgsaussichten hat ten, aber aufzugeben war einfach undenkbar. Der einzige Weg führte vorwärts. Er stellte fest, daß sein Krug wieder gefüllt war, und trank voller Genuß. Neben ihm grinste Bracht und sagte: »Du verträgst dein Bier mittlerweile besser.« »Es schmeckt mir jetzt auch besser«, erwiderte Ca landryll, und sein Lächeln wurde breiter, als er sich an ihre erste Begegnung erinnerte. »Und ich kenne meine Grenzen jetzt genauer.« Der Söldner grinste weiter, aber in seinen Augen lag die Andeutung eines Zweifels, als hätte er gewisse Vor behalte, was die unbekümmerte Behauptung seines Freundes betraf. Das bezog sich nicht auf das Bier, er kannte Calandryll, sondern auf andere Dinge, und in diesem Punkt war er sich ebenfalls nicht völlig sicher. Aber das spielte keine Rolle, sagte er sich, er würde sei
nen Weg weitergehen und auf die Götter und das Schick sal vertrauen. Der Wirt brachte ihnen etwas zu essen, große Schüs seln voller Würste, geräuchertem Fleisch, in Essig und Salzlauge eingelegtes Gemüse, Brot und cremigen Käse. Alle Fragen, die Bracht und Katya Calandryll noch hätten stellen können, blieben unausgesprochen, als sie sich hungrig über das Essen hermachten. Zum Abschluß tranken sie noch einen Krug Bier und verließen die Taverne. Sie hatten beschlossen, ihre Grup pe aufzuteilen und in mehreren Herbergen abzusteigen, um potentielle Beobachter zu verwirren. Zwar bemerkten sie nichts, was darauf hindeutete, daß sie verfolgt wur den, aber es erschien ihnen trotzdem klüger, sich zu trennen und darauf zu vertrauen, daß ihre dicken Mäntel es jedem Spion unmöglich machten herauszufinden, in welcher der Gruppen sich die drei befanden, nach denen Rhythamun unter Umständen Ausschau hielt. Calandryll, Bracht und Katya setzten sich zusammen mit Tekkan von den anderen ab, während siebzehn Va nuer zurückblieben, um eine falsche Fährte zu legen, und quartierten sich in eine Herberge namens Der Adler ein. Sie schien unauffällig genug, ein typisches Gästehaus, drei Stockwerke hoch, von einem mit Mauern geschütz ten Hof umgeben, in dessen hinterem Bereich sich Ställe befanden. Das Erdgeschoß wurde von der Küche und einem Gemeinschaftsraum eingenommen, in dem Mahl zeiten serviert wurden. Die drei Männer bezogen ein
geräumiges Zimmer im zweiten Stock, während Katya Brachts Vorschlag, sie sollten lieber alle zusammenblei ben – oder zumindest er und sie –, mit einem Lächeln zurückwies und das angrenzende Zimmer nahm. Der Söldner nahm die Abfuhr mit einem Schmunzeln zur Kenntnis und inspizierte den Raum mit routiniertem Blick. Er enthielt kaum mehr als die drei Betten, einen kleinen Schrank und einen einzelnen Waschtisch. Die Bodendielen knarrten, und von den Wänden bröckelte der Anstrich. Die Tür führte auf einen Treppenabsatz hinaus, von dem aus man den Gemeinschaftsraum ein sehen konnte, die Treppe selbst war gut im Blickfeld. Bracht brummte zufrieden, trat an das einzige Fenster und stieß die Läden auf, um diesen Notausstieg für den Fall zu überprüfen, daß sie eilig verschwinden müßten. Calandryll, der ihm über die Schulter sah, stellte fest, daß ein Sprung in den Hof nicht allzu tief sein würde, und die Mauer, die das Grundstück umgab, war niedrig ge nug, um sie ohne größere Schwierigkeiten überklettern zu können. Er ging zu seinem Bett, löste seinen Schwert gürtel und streckte sich mit einem zufriedenen Seufzen aus. Das Wissen, daß die Entscheidung bereits gefallen war und sie das, was getan werden mußte, am besten im Schutz der Dunkelheit durchführen konnten, erfüllte ihn mit Ruhe. »Dann also bis zum Abend«, sagte Bracht, und seine Worte waren ein weiterer Beweis für Calandryll, wie sehr sich ihre Denkweise zu ähneln begann.
»Aye.« Er verschränkte die Hände hinter seinen Na cken. Es war warm im Zimmer, und sein Magen war angenehm voll. Er fühlte sich schläfrig. »Bis zum A bend.« Auch der Kerner warf sich auf sein Bett, schnallte sei nen Schwertgürtel ab und legte sich das Krummschwert griffbereit über die Oberschenkel. Als ein leises Klopfen an der Tür ertönte, fuhr er blitz schnell auf, und sein Schwert schnellte aus der Scheide. Einen Lidschlag später war Calandryll ebenfalls auf den Beinen – das Schwert gezogen und kampfbereit in der Hand – und hatte schon Posten am Fenster bezogen, bevor Bracht, der sich vor der Tür aufbaute, ihm ein entsprechendes Zeichen geben konnte. »Das ist Katya«, sagte Tekkan und bedachte beide mit einem beinahe mißbilligenden Blick, als er die Tür öffne te, um seine Behauptung zu beweisen. »Könnte es selbst einem Mann wie Rhythamun gelingen, uns so schnell zu finden?« Bracht zuckte die Achseln und schob sein Schwert in die Scheide zurück. »Vielleicht«, erwiderte Calandryll, »und ich möchte kein Risiko eingehen.« »Er würde sich eher magischer Mittel bedienen«, meinte Katya, als sie das Zimmer betrat. »Es hat nicht nach Mandeln gerochen«, machte Ca landryll sie aufmerksam. »Das sollten wir nie vergessen, denn wahrscheinlich wird das die einzige Warnung sein,
die wir bekommen.« Die Kriegerin nickte, lächelte, als Bracht sie mit einer Handbewegung aufforderte, neben ihm auf seinem Bett Platz zu nehmen, setzte sich aber neben Tekkan. »Bre chen wir mit Einbruch der Dunkelheit auf?« fragte sie. Calandryll und Bracht wechselten einen Blick und grinsten, und der Kerner sagte: »Wir denken ähnlich. Zumindest in den meisten Dingen.« Er ignorierte Tekkans verweisenden Blick und strahlte Katya unschuldig an, die ein Schmunzeln unterdrückte und fragte: »Nur wir drei?« »Aye.« Bracht hob die Hand, als Tekkan protestieren wollte. Er wandte sich an den Kapitän, und sein dunkles Gesicht wurde ernst. »Wir müssen so unauffällig wie möglich vorgehen.« »Mehr Leute würden nur Aufmerksamkeit erregen«, erklärte Calandryll. »Der Palast liegt in einem Wohnvier tel, und es wäre ungewöhnlich, sollte dort eine größere Gruppe erscheinen.« Ein schwermütiger Zug erschien auf Tekkans Gesicht. Er fuhr sich mit der Hand durch seinen ergrauenden Haarschopf. »Aber nur drei?« wandte er ein. »Gegen einen Hexer mit derart großen Kräften?« »Es scheint, daß wir drei für diese Aufgabe auserwählt worden sind«, erwiderte Calandryll. »Ich weiß nicht, warum das so ist, ich weiß lediglich, daß in allen Weissa gungen immer nur von uns dreien die Rede gewesen ist. Außerdem glaube ich, daß Rhythamuns Kräfte so groß
sind, daß es keinen Unterschied macht, ob wir allein gehen oder mit allen deinen Leuten als Rückendeckung.« »Und sollten wir scheitern«, sagte Katya langsam, »mußt du in unsere Heimat zurückkehren und Bericht erstatten.« »Nehmt wenigstens ein paar Leute mit«, flehte Tek kan. Katya ergriff seine Hand und sah ihn eindringlich an. »Wie Calandryll schon gesagt hat, es wird keinen Unter schied machen, ob wir wenige oder viele sind.« »Nur würden wir uns in einer größeren Gruppe schneller verraten«, fügte Bracht hinzu. »Und sollte es zu einem Kampf kommen, ist es besser, wenn deine Mannschaft nicht daran beteiligt ist«, schloß sich Calandryll an. »Wenn die Stadtwache eingreift und deine Leute bei uns findet, würdet ihr und euer Boot höchstwahrscheinlich hier festgehalten werden, und dann würde niemand in Vanu erfahren, was hier gesche hen ist.« »Katya wird nichts geschehen, solange ich lebe«, ge lobte Bracht. »Darauf gebe ich dir mein Wort.« »Das weiß ich.« Tekkan schenkte dem Kerner ein dünnes Lächeln. »Aber wird überhaupt einer von euch überleben?« »Dieses Risiko sind wird schon eingegangen, als wir zu unserer Reise aufgebrochen sind«, stellte Katya klar und drückte die Hand ihres Vaters. »Und du bist kein
Kämpfer.« »Nein.« Zum ersten Mal entdeckte Calandryll in Tek kans Gesicht Bedauern über seine unkriegerische Natur. »Aber Quara und die anderen…« »Sind tapfer genug, wenn es um einen ehrlichen Kampf geht«, unterbrach ihn Katya, »aber kaum von Nutzen gegen Magie.« »Aber eure Schwerter sind es?« Tekkan deutete auf ih re Waffen. »Ich zweifele nicht an eurem Mut, aber wie steht es mit eurer Klugheit?« »Die Götter stehen auf unserer Seite«, erwiderte sie, »und wir müssen auf sie vertrauen. Hat uns Burash das nicht durch sein Eingreifen bewiesen?« Tekkan starrte eine Weile auf seine Hand, die Katya in den ihren hielt, und seufzte schließlich resigniert. »Ihr habt euch bereits entschieden«, murmelte er leise und gramvoll. »Die Entscheidung ist von anderen Mächten für uns getroffen worden«, entgegnete Katya. »Dann soll es so geschehen«, gab ihr Vater sich wi derwillig geschlagen. »Aber, Calandryll, du wirst doch zu Dera beten und sie bitten, euch zu helfen, nicht wahr?« Calandryll nickte und erwiderte den grimmigen Blick des älteren Mannes. Tekkan rang sich ein Lächeln ab, ergriff Katyas Hand mit beiden Händen und fragte: »Al so bleibt für mich nichts anderes zu tun, als zu warten?«
Es war Bracht, der ihm darauf antwortete. »Informiere deine Leute, daß sie sich bereithalten sollen. Versammle sie am besten in irgendeiner Hafenkneipe, damit wir sofort in See stechen können, falls wir fliehen müssen.« »Und woher soll ich das wissen?« fragte der Steuer mann. Der Kerner dachte einen Moment lang nach, warf Ca landryll und Katya einen fragenden Blick zu und sagte: »Geh mit ihnen in die Kneipe, in der wir schon gewesen sind. Wie hieß sie noch?« »Die Seemöwe«, half ihm Calandryll aus. »Also in die Seemöwe«, fuhr Bracht fort. »Haltet euch bereit, zu kämpfen oder Segel zu setzen. Sollte es zu einem Kampf kommen, werdet ihr das schon früh genug merken. Und wenn wir bis zum Morgengrauen nicht zurück sind, dann brecht ihr auf.« »Ich werde außer Sichtweite der Küste segeln und dort den ganzen Tag auf euch warten«, sagte Tekkan in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Bracht nickte zum Zeichen seines Einverständnisses. »Einen Tag lang, nicht mehr.« Er sah zuerst Katya und dann Calandryll an. »Wenn wir bis dahin noch nicht zurückgekehrt sind, brauchst du sowieso nicht länger zu warten.« »Mir fällt auch kein besserer Plan ein«, meinte Ca landryll. »Dieser klingt vernünftig«, sagte Katya lächelnd. »Und
wenn alles gutgeht, werden wir schon bald alle zusam men in der Seemöwe trinken und unseren Sieg feiern.« Tekkans Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß er in Katyas Worten nicht mehr als eine gutgemeinte Ermuti gung sah, aber er sah von weiteren Einwänden ab und gab sich mit einem Nicken geschlagen. »Laßt uns jetzt schlafen«, schlug Bracht vor. »Das könnte noch eine lange Nacht werden.« »Aye.« Katya stand auf, und Tekkan ließ ihre Hand nur widerstrebend los. »Und ich werde meine Tür ver schließen, damit ich von keinen ungebetenen Gästen belästigt werde.« Dabei sah sie Bracht an, ihre Augen funkelten vor Be lustigung, und er zuckte in gespielter Enttäuschung die Achseln. »Für eine solche Frau würde jeder Mann mit Freuden sterben«, sagte er absichtlich so laut, daß sie ihn hören mußte, als sie durch die Tür ging. Katya blieb kurz in der Tür stehen, drehte sich um und erwiderte: »Ich hoffe, daß keiner diesen Beweis erbringen muß.« »Das hoffe ich auch«, flüsterte Tekkan, als die Tür hin ter ihr geräuschvoll ins Schloß fiel. »Wenn die Götter wollen, wird es nicht dazu kom men«, warf Calandryll ein. Ihm war klar, daß seine Wor te ziemlich lahm klangen, aber er wußte nicht, was er sonst dazu hätte sagen können. »Ich bete darum«, sagte Tekkan betrübt, und er klang
auch nicht zuversichtlicher. »Wir werden tun, was wir tun müssen«, versicherte Bracht so schlicht, wie es seine Art war, und machte es sich wieder auf seinem Bett bequem. Er schloß die Au gen, und schon kurz darauf verrieten seine gleichmäßi gen Atemzüge, daß er eingeschlafen war. Calandryll bezweifelte, daß er ebensoschnell Erholung im Schlaf finden könnte, denn wenn er sich gegenüber ehrlich war, mußte er zugeben, daß er Tekkans Vorbehal te teilte. Er warf einen kurzen Blick auf den Kapitän und sah, daß Tekkan an die Decke starrte, ohne wirklich ir gend etwas zu sehen. Er versuchte, sich etwas einfallen zu lassen, das ermutigend genug klang, um den Mann zu trösten, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen, und so überließ er ihn seinen eigenen Gedanken, legte die Arme um sein Schwert, als wäre es seine Geliebte, und ließ den Kopf auf das Kissen sinken. Er schreckte auf, als Rhythamuns Gesicht vor einem pechschwarzen Hintergrund Konturen gewann, ihn bösartig anlächelte und der Zauberer die Hände hob, um irgendeinen heimtückischen Zauber zu wirken. Ca landryll konnte die Worte des Zauberspruches weder verstehen, noch wollte er sie hören; alles, was er wollte, war, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen und den Schwarzmagier damit niederzustrecken. Aber er konnte es nicht, denn irgend etwas umklammerte kraftvoll sein Handgelenk, und eine Hand drückte ihn in sein Bett zurück, während gleichzeitig eine Stimme in seinen be
nebelten Verstand eindrang. »Der Abend steht kurz bevor, und ich möchte noch etwas essen, bevor wir uns auf den Weg machen.« Calandryll stöhnte, und die Traumbilder lösten sich auf. Er erkannte Brachts Gesicht und seufzte voller Er leichterung. »Ich dachte…«, er schüttelte sich und vertrieb die letz ten Traumfetzen aus seinem Kopf. »Ich habe von Rhythamun geträumt…« Der Kerner lockerte seinen Griff und grinste ihn an. »Das habe ich mir gedacht. Ich hatte sogar schon Angst, du würdest mich in Stücke hacken.« Er deutete zum Fenster. »Es wird Zeit.« »Aye.« Calandryll sah, daß der Himmel eine dunkel blaue Tönung angenommen hatte und die Sichel des aufgehenden Mondes über der Stadt hing. Vom unteren Stockwerk drangen Essensgerüche und leises Stimmen gewirr empor. Er stand auf, ging zum Waschtisch, spritz te sich kaltes Wasser ins Gesicht, schnallte seinen Schwertgürtel um und ging zum Fenster, sah die Lichter Aldarins golden unter ihm funkeln. »Geht schon mal runter und bestellt etwas zu essen«, bat er, nachdem Bracht Tekkan geweckt hatte. »Ich möch te allein sein, um mit Dera zu sprechen.« Falls ich das überhaupt kann, fügte er in Gedanken hin zu, während Tekkan sich kurz wusch. »Es wird nicht lange dauern.«
Er spürte, wie Bracht ihm kameradschaftlich die Hand auf die Schulter legte, und als er sich zu ihm umdrehte, sah er das ernste Gesicht seines Freundes. »Versuch es«, sagte der Söldner sanft. »Und wenn sie nicht antwortet…«, Brachts vertrautes Grinsen löschte den nachdenklichen Gesichtsausdruck aus, und er ließ eine Hand auf den Griff seines Krummschwertes fallen, »… dann haben wir immer noch das, und bisher haben uns unsere Schwerter gute Dienste geleistet.« Calandryll nickte ihm zu und wartete, bis die beiden Männer gegangen waren und sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. Dann warf er wieder einen Blick auf den abendlichen Himmel. Wie sehr er sich auch bemühte, er konnte nichts in sich entdecken, daß auf die Fähigkeit hindeutete, Kontakt zu der Göttin aufzunehmen. Und er verspürte auch keine Angst, wie er zu seiner Überraschung feststellte, sondern ganz im Gegenteil eine unerschütterliche Ruhe, als wür de er jetzt, nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte, alles akzeptieren, was vor ihm liegen mochte. Er überlegte, daß er vielleicht niederknien sollte; schließlich kam er als Bittsteller, auch wenn Deras eigenes Schicksal wahrscheinlich von den Ereignissen dieser Nacht abhing. Die Bodendielen knarrten, als er auf die Knie ging, die Arme weit ausbreitete, den Kopf senkte und die Gottheit anrief. Lautlos bat er sie darum, ihnen beizustehen, ihnen Kraft bei ihrem Kampf gegen Rhythamun zu geben, der
wollte, daß sie und ihre göttlichen Geschwister unter den Füßen Tharns, des Verrückten Gottes, zertreten werden würden. Könnte sie tatenlos zusehen, wie das geschah? fragte er. Würde sie es zulassen? Könnte sie ihre ah nungslosen Gläubigen im Stich lassen, oder würde sie denen zur Seite stehen, die versuchten, ihre Gläubigen, sie selbst und alle Jüngeren Götter zu verteidigen? Hilf mir, flehte er. Zeige Dich mir, wie es Dein göttlicher Bruder Burash getan hat. Zeige mir, wie ich Rhythamun besiegen kann. Gib mir diese Kraft. Weder vernahm er eine Antwort, noch spürte er, daß sich irgend etwas in seinem Inneren regte. Als er wieder den Kopf hob, sah er den Himmel vor sich, vom Rechteck des Fensters eingerahmt. Ein im Mondlicht schimmern des Spinnennetz zitterte in einem Winkel. Die silberne Mondsichel war ein kleines Stückchen auf ihrem Weg westlich weitergewandert. Im Zimmer war es kalt ge worden. Calandryll fröstelte, ließ die ausgebreiteten Arme sinken, und seine linke Hand schlug gegen das harte Leder der Scheide. Wie Bracht so unbekümmert festgestellt hatte, schienen die Schwerter ihre einzige Waffe zu sein, denn er verspürte keine göttliche Berüh rung, keine Antwort auf seine Gebete. »Dann soll es so sein«, sagte er laut und erhob sich. Er seufzte einmal und stieß ein kurzes Lachen aus. »Wir werden tun, was wir können, und sollten wir scheitern, wird es wenigstens nicht daran liegen, daß wir es nicht versucht haben.«
Er fuhr sich mit den Fingern durch sein langes Haar und strich seine Tunika glatt. Das Leder war mittlerweile rissig und verwittert, eher die Kleidung eines Söldners als die eines Prinzen. Calandryll verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter zu seinen Gefährten, die ihm erwartungsvoll entgegensahen. Sein Gesichtsausdruck verriet ihnen, daß er keine Antwort erhalten hatte. »Egal.« Bracht hob eine Karaffe mit dem kräftigen Rotwein, für den das Aldatal berühmt war, und füllte ein Glas. »Du hast nicht zu Burash gebetet, und er ist trotz dem erschienen. Vielleicht wird auch Dera erscheinen, wenn wir ihre Hilfe brauchen.« Calandryll quittierte den Zuspruch mit einem dankba ren Lächeln, nahm das angebotene Glas entgegen und trank einen großen Schluck. Katya schob ihm eine Schüs sel mit einem dicken Fischeintopf zu, und er häufte eine großzügige Portion auf seinen Teller. »Wie sollen wir uns Rhythamuns Palast nähern?« frag te die Kriegerin. »Am besten in einer Kutsche, denke ich«, erwiderte er mit vollem Mund. »Eine Kutsche verbirgt uns vor neu gierigen Blicken.« »Aber sie kann uns nicht vor den Abwehrzaubern schützen, die Rhythamun möglicherweise errichtet hat«, murmelte sie. Calandryll zuckte die Achseln. Eine Antwort erschien ihm überflüssig, denn Katya hatte nur das Offensichtli
che festgestellt, und wenn sie sich Rhythamuns Anwesen voller Furcht vor Magie näherten, konnten sie es auch gleich bleibenlassen. »Sollten wir den Einfluß von Zaubersprüchen spüren, rennen wir davon«, sagte Bracht und fügte mit einem schiefen Grinsen hinzu: »Wenn wir es dann noch kön nen.« »Und wenn alles ungefährlich erscheint?« »Dann gehen wir hinein«, verkündete der Kerner ent schlossen. »Ich habe ein Pferd in Varents Stall zurückge lassen, und das hole ich mir wieder.« »Und wenn Rhythamun gar nicht mehr da ist?« wollte Tekkan wissen. Alle drei wandten sich ihm zu, und Calandryll wurde auf einmal klar, daß sie diese Möglichkeit absichtlich verdrängt hatten. Für ihre Rückkehr nach Aldarin war es erforderlich gewesen, sich gefühlsmäßig auf ein Zusam mentreffen mit dem Magier einzustellen, und daß er schon verschwunden sein könnte, hatte in ihren Überle gungen überhaupt keine Rolle gespielt. Er brach ein Stück Brot ab und sagte: »Dann müssen wir versuchen, von denen, die dageblieben sind, entsprechende Aus künfte einzuholen.« »Was sagt dir dein Stein?« fragte Bracht und deutete mit dem Kopf auf den Anhänger, den Katya um den Hals trug. »Daß Rhythamun da ist«, erwiderte sie.
Der Kerner nickte. Tekkan wirkte beinahe enttäuscht. Calandryll wischte seinen Teller mit einem Brotstück sauber; er hatte keine große Lust auf weitere Diskussio nen. Seiner Meinung nach mußten sie vorläufig von der Annahme ausgehen, daß Rhythamun im Körper Varent den Tarls in Aldarin geblieben war und Mutmaßungen über seine nächsten Schritte sinnlos waren. Der Hexer war ihnen ständig einen Schritt voraus, und sie konnten ihm nur folgen. Sollte er schon abgereist sein, blieb ihnen nur die Hoffnung, sein Ziel in Erfahrung zu bringen und sich an seine Fersen zu heften. War er noch da, mußten sie ihn mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln angreifen. Auf einmal verspürte er eine große Ungeduld. Er schluckte den letzten Bissen Brot herunter, schob den Teller zur Seite, ergriff sein Glas und leerte es in einem Zug. »Wollen wir uns überzeugen?« fragte er. Ohne eine Antwort abzuwarten, schob er den Stuhl zurück, stand auf und legte den Mantel um seine Schul tern. Bracht grinste grimmig und folgte seinem Beispiel, Katya schloß sich etwas zögernd an, nachdem sie sich mit ihrem Vater in ihrer Muttersprache unterhalten hatte, worauf Tekkan ein dünnes Lächeln zustande brachte. »Dann also bis später«, murmelte Calandryll zum Ab schied. »In der Seemöwe.« Tekkan nickte ihm zu und erwiderte: »Aye, bis später. Und mögen Dera und alle anderen Götter mit euch sein.« Es war eine Kutsche, wie sie von den vornehmen Leuten
bevorzugt wurde, ein Phaeton, von zwei Pferden gezo gen. Die Kabine hatte eine schmale Tür und Vorhänge aus dickem Filzstoff vor den Fenstern. Katya und Bracht saßen nebeneinander auf der einen Bank, die Gesichter unter den Kapuzen ihrer Mäntel verborgen, Calandryll auf der Bank ihnen gegenüber, von wo aus er dem Kut scher Anweisungen geben konnte. Das Gefährt schwank te auf seiner Lederfederung und holperte, als es seine Passagiere vom Hafenviertel tiefer in die Stadt hinein brachte. Die Nacht war noch jung, und eine Zeitlang fuhren sie parallel zum Alda durch bevölkerte Straßen. Der Fluß selbst war hinter den Häusern verborgen, die sein Ufer säumten. Dann bogen sie ab und überquerten eine der vielen Brücken. Der Straßenbelag wurde ebener, ein Zeichen, daß sie ein vornehmeres Viertel erreicht hatten. Schon bald wurden die Straßen leerer, die Taver nen und Läden blieben zusammen mit ihren Kunden zurück. Statt dessen bestimmten die von Mauern umge benen Anwesen der Reichen das Bild. Weder Calandryll noch Bracht erkannten die Straße wieder, in der Varent den Tarls Palast lag, bis der Kutscher sein Gespann zü gelte und die Insignien auf den stuckverzierten Mauern betrachtete. Durch sein Fenster erblickte Calandryll ein Tor, das ihm bekannt vorkam, und runzelte die Stirn, weil irgend etwas daran nicht stimmte. Zuerst war er unsicher und wollte seinen Augen nicht trauen, denn die vom Winter
noch kahlen Bäume erfüllten die Straße mit Schatten, und der zunehmende Mond warf nur wenig Licht. Er rief dem Fahrer zu, die Kutsche anzuhalten, und starrte wie betäubt die langen weißen Seidenwimpel an, die vom Torbogen herabhingen und im leichten Nachtwind ge spenstisch flatterten. Allmählich dämmerte ihm die Er kenntnis, und er stöhnte auf. »Was ist los?« Brachts flüsternde Stimme klang laut in seinen Ohren. Der Söldner musterte aufmerksam das Tor. »Was sind das für Bänder?« Calandryll knirschte mit den Zähnen, als der Kutscher vom Fahrersitz her rief: »Wollt Ihr über Nacht hierblei ben, oder soll ich auf Euch warten, bis Ihr den Trauern den Euer Beileid bekundet habt?« »Trauerwimpel!« Eine böse Vorahnung ließ Ca landrylls Stimme rauh klingen. »Irgend jemand ist hier gestorben. Es ist Sitte in Lysse, solche Bänder aufzuhän gen, um einen Todesfall bekanntzugeben.« »Rhythamun?« fragte Bracht ungläubig. Calandryll schüttelte den Kopf, riß sich vom Fenster los und drehte sich zu Bracht um. Die Anspannung und das Mondlicht ließen sein Gesicht bleich aussehen. »Eher Varent den Tarl. Wißt ihr, was das bedeutet?« »Daß Rhythamun seinen Körper verlassen hat und jetzt einen anderen bewohnt«, sagte Katya leise und hilflos. Bracht stieß einen Fluch aus.
»Soll ich auf Euch warten oder weiterfahren?« erkun digte sich der Kutscher wieder. »Ihr könnt gleich weiterfahren.« Calandryll stieß die Tür auf, sprang hinaus und warf dem Mann ein paar Münzen zu. Bracht folgte ihm und half Katya beim Aussteigen. Calandryll stierte die weißen Wimpel haßerfüllt an und hämmerte gegen das Tor. Es gab keinen Grund mehr, vorsichtig zu sein, jetzt mußte er nur noch fürchten, daß sie zu spät gekommen waren. Bei Dera, wenn Varent den Tarl tot und Rhythamun in ein neues Opfer geschlüpft war, standen sie vor einer schier unlösbaren Aufgabe! Mußten sie jetzt einen Frem den mit einem unbekannten Gesicht jagen, hinter dem sich der Schwarzmagier versteckte? Calandryll spürte sein Herz vor Furcht schneller schlagen, seine Finger trommelten ungeduldig auf seinen Schwertgriff. »Wie ist es möglich, daß er tot ist, wenn dein Stein uns hierhergeführt hat?« hörte er Bracht fragen. »Ich weiß es nicht«, antwortete Katya schlicht, und Bracht fluchte erneut. Endlich wurde das Tor von einem Diener geöffnet, der die für Varents Personal charakteristische blaugoldene Livree trug und eine weiße Trauerschärpe um seine Brust geschlungen hatte. Der Schatten, den seine Laterne warf, ließ sein Gesicht hager aussehen. »Herrschaften?« fragte er. »Was wünscht Ihr in diesem traurigen Haus?«
»Wir wollen Lord Varent den Tarl besuchen«, erklärte Calandryll. Er hatte Mühe, den Anschein von Ruhe zu bewahren. »Ist er tot?« »Aye.« Der Diener nickte feierlich. »Er liegt jetzt in seinem Sarg.« »Dann möchten wir ihm die letzte Ehre erweisen«, sagte Calandryll schnell. »Wir sind erst vor kurzem in Aldarin angekommen, und diese Nachricht trifft uns völlig überraschend.« »Ihr habt Lord Varent gekannt?« Der Mann mit der weißen Schärfe hob die Laterne höher und musterte die Neuankömmlinge mit verhaltenem Mißtrauen, als wäre von Besuchern zu so später Stunde nichts Gutes zu er warten. »Ich habe eigentlich gedacht, daß alle, die von ihm Abschied nehmen wollen, bereits gekommen wären. Schon morgen soll er in der Familiengruft beigesetzt werden.« »Lord Varent hatte uns mit einem Auftrag betraut«, erklärte Calandryll fest. »Wenn wir mit…«, er stockte und durchforstete sein Gedächtnis nach den fast schon vergessenen Namen, »… mit Darth sprechen könnten … aye, mit Darth oder mit Symeon, der sein Vermögen verwaltet. Beide werden sich für uns verbürgen.« Der Diener zögerte. Er steckte unverkennbar in einem Zwiespalt. Einerseits wollte er diesen hochgewachsenen jungen Mann, der im Tonfall der lyssianischen Adelskas te sprach, auch wenn er wie irgendein umherziehender Söldner aussah, nicht vor den Kopf stoßen, andererseits
verunsicherte ihn das Erscheinen zu dieser späten Stun de. Bracht löste das Problem auf die ihm eigene Art, schob Calandryll zur Seite und baute sich vor dem Diener auf. »Ich habe einen schwarzen Hengst in Darths Obhut zu rückgelassen«, fauchte er, »und ich denke, Symeon wird bestätigen, daß ich noch zweitausendfünfhundert Varre zu bekommen habe. Also, laßt Ihr uns jetzt rein, oder…?« Er berührte demonstrativ den Griff seines Krumm schwertes. Der Diener zuckte zurück, gab mit einem widerwilligen Murren nach und winkte ihnen zu, ihm zu folgen. Die Türen des Anwesens waren wie das Tor mit wei ßen Bändern geschmückt, und in seinem Inneren herrschte Dunkelheit. Nur die Empfangshalle, in die der Diener sie führte, wurde von einem einzelnen Kronleuch ter erhellt. Er deutete eine Verbeugung an, bat sie zu warten und wirkte erleichtert, als Calandryll ihn mit einer knappen Handbewegung wegschickte und den Kerner nervös und finster anblickte. »Hier ist wahrscheinlich eher Zurückhaltung ange bracht«, flüsterte er. »Wenn wirklich der schlimmste Fall eingetreten ist, wie es den Anschein hat, müssen wir so viel wie möglich von Varents Leuten in Erfahrung brin gen und sie nicht gegen uns aufbringen.« »Ich hatte genug von seiner Widerspenstigkeit«, sagte der Kerner ungehalten und grinste gleich darauf wieder. »Und hier sind wir, oder?«
»Aye«, gab Calandryll zu. »Wie immer uns das auch weiterhilft.« »Vielleicht finden wir ja eine Spur«, meinte Katya. »Hast du nicht gesagt, er hätte eine Bibliothek?« Calandryll nickte kurz angebunden. »Obwohl ich be zweifle, daß er uns ein paar Wegweiser zurückgelassen hat. Und wenn er einen anderen Körper übernommen hat, dann brennt uns die Zeit noch mehr auf den Nä geln.« »Wir tun, was wir können«, verteidigte Bracht Katya unwirsch. Calandryll seufzte und erklärte: »Ich befürchte nur, daß er uns entwischt.« Der Rückzieher besänftigte Bracht. Er lächelte kurz und sagte: »Wenigstens bekommen wir es hier nicht mehr mit Magie zu tun.« Calandryll wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, doch da schwang die Innentür auf, und Darth betrat die Vorhalle. Wie der Türsteher trug auch er eine weiße Seidenschärpe zum Zeichen der Trauer, die er sich um die Hüfte geschlungen hatte. Der Griff eines Langdolches ragte daraus hervor. Seine Lippen waren von Rotwein verfärbt, und er war etwas unsicher auf den Beinen. Er musterte die Neuankömmlinge einen Moment lang aus zusammengekniffenen Augen, dann grinste er, als er sie erkannte, und begrüßte sie mit schwerer Zunge. »Ihr seid also zurückgekehrt und habt auch noch eine Schönheit mitgebracht.« Sein Blick blieb kurz an Katya
hängen. Er vollführte eine wacklige Verbeugung, bevor er sich wieder an Bracht wandte und anzüglich murmel te: »Rytha wird enttäuscht sein.« Unter anderen Umständen hätte Calandryll das Errö ten des Kerners belustigt, als Katya Bracht einen for schenden Blick zuwarf und darüber ihren Ärger über Darths plumpe Bewunderung vergaß, aber die Konse quenzen, die diese unerwartete Situation mit sich brach te, beschäftigten ihn jetzt viel mehr. Bracht räusperte sich und fragte: »Rytha? Ich hatte Rytha ganz vergessen.« Darth zuckte sorglos die Achseln. »Willst du dein Pferd abholen? Es ist gut gepflegt worden.« »Und das Geld, das mir noch zusteht.« Bracht deutete mit einem schwieligen Daumen auf Calandryll, mimte überzeugend den Söldner und Leibwächter. »Mir sind zweitausendfünfhundert Varre versprochen worden, sobald ich meinen Schutzbefohlenen unversehrt aus Gessyth zurückgebracht habe. Und wie du sehen kannst, habe ich das getan.« Darths gerötetes Gesicht wurde eine Spur dunkler, und Calandryll befürchtete schon, er könnte sie hinaus werfen, doch dann verzogen sich die Lippen des Mannes zu einem Grinsen, und er kicherte. »Das stimmt«, stellte er fest, »aber Symeon ist hier der Haushofmeister, und diese Dinge muß er jetzt erledigen. Komm mit, ich bringe dich zu ihm.« Calandryll hob eine Hand und hielt ihn zurück, als er
ihnen zuwinkte, ihm zu folgen. »Diese Summe war ver einbart«, sagte er, »aber bevor solche weltlichen Dinge geregelt werden, möchte ich Lord Varent die letzte Ehre erweisen.« Darth schien von dieser Respektbezeugung beein druckt zu sein. Er geleitete sie aus der Vorhalle über eine Galerie, die in regelmäßigen Abständen von brennenden Kerzen in sanftes gelbes Licht getaucht wurde, zu einer mit einem schlichten weißen Laken verhängten Tür. Wie es die Sitten in Lysse verlangten, war ein Zimmer leergeräumt worden, damit nichts von dem Sarg ablenk te, vor dem die Besucher Abschied von dem Verstorbe nen nehmen konnten. Vor den Fenstern hingen blüten saubere Vorhänge. Das einzige Licht stammte von Kan delabern, die am Fuß- und Kopfende des Katafalks stan den, der mit noch mehr weißer Seide geschmückt war. Auf diesem Podest ruhte der Marmorsarkophag, der in den Farben Varents gehalten war, in Blau und Gold. Calandrylls Blick wanderte über den kunstvoll verzierten Sarg, und er hätte nicht sagen können, ob er dabei Angst oder Hoffnung verspürte; die dramatische Wendung der Ereignisse hatte seine Gedanken in Aufruhr versetzt. Am liebsten wäre er direkt vorgestürmt, aber er beherrschte sich und zwang sich dazu, mit gesenktem Kopf und geheuchelter Ehrerbietung langsam an den Sarg heranzu treten. Als er in ihn hineinblickte, wurde er sich bewußt, daß er den Atem anhielt und fast schon erwartete, Rhythamun würde ihm entgegenspringen und ihn ausla
chen. Aber im Sarg lag nur eine Leiche, eine Hülle, aus der alles Leben gewichen war. Sie war in weiße Seide gehüllt, das stille Gesicht schimmerte im Kerzenlicht, und daß es so lebendig wirkte, zeugte lediglich von der Kunstfertigkeit des Einbalsamierers. Calandryll starrte auf die vertrauten Züge, in die dunklen Augen, die nun, da sie von keinem Lebensfunken mehr beseelt wurden, stumpf geworden waren. Dies war ohne jeden Zweifel Varent den Tarl, und er war tot. Calandryll hörte, wie sein angehaltener Atem in einem langen Seufzer aus seinem Mund entwich, und wandte sich ab. Er sah Darth an, als sich Bracht und Katya der Toten bahre näherten. Seine Gedanken überschlugen sich. Ihm war mit entsetzlicher Klarheit bewußt, daß der Hexer ihm entkommen war und er irgendwie eine Möglichkeit finden mußte, seine Spur aufzunehmen. »Wann ist er gestorben?« fragte er. Darth hielt den brüchigen Tonfall für Kummer, was es in gewisser Weise ja auch war, und erwiderte: »Wie es unseren Sitten entspricht, ist er drei Wochen lang aufge bahrt worden. Und jetzt soll das Haus verkauft werden, und ich muß mir eine neue Anstellung suchen.« Er warf einen anklagenden Blick auf den Katafalk. Ca landryll setzte ein mitfühlendes Lächeln auf und sagte: »Mein Beileid. Würdet Ihr uns jetzt zu Symeon bringen?« Symeon hockte hinter demselben mit Papieren über häuften Schreibtisch in derselben holzgetäfelten Kam
mer, in der sie ihn beim letzten Mal gesehen hatten, als hätte er sich seit damals nicht von der Stelle gerührt. Die Läden des einzigen Fensters hoch oben in der Wand waren geschlossen. Kerzenlicht spiegelte sich auf der Glatze und den dicken Brillengläsern des Schreibers, die seine kurzsichtigen Augen wie eine Lupe vergrößerten. Er sah zu den drei Besuchern auf, die Darth in den Raum führte. »Zweitausendfünfhundert Varre«, sagte er statt einer Begrüßung. »Und Ihr hättet sie am liebsten in Decuris ausgezahlt, richtig?« Bracht nickte. Der kleine dicke Mann schlug ein leder gebundenes Buch auf, notierte eine Reihe von Zahlen und legte die Schreibfeder weg. Er wischte sich die tin tenverschmierten Hände an seiner schmuddligen Tunika ab und hinterließ dabei auch noch eine Menge Flecken auf der Trauerschärpe, die sich über seinem Schmer bauch spannte. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und kauerte sich vor die in der Wand eingelassene Metalltür. Calandryll sah, wie er einen Schlüssel aus seiner Hose kramte und ihn ins Schloß steckte. Er öffnete die Tür unter lautem Schnaufen, zog eine Kassette hervor und verdeckte sie mit seinem Körper. Münzen klimperten, als er sie abzählte und in einen Lederbeutel fallen ließ. Dann schob er die Kassette in das Fach zurück und verschloß die Tür sorgfältig wieder. Ächzend stemmte er sich vom Boden hoch und legte den Lederbeutel auf die andere Seite seines Schreibtisches.
»Wir haben Euch für tot gehalten«, murmelte er. Seine Augen wanderten über die Gesichter der beiden Männer und der Frau und zurück zu dem versprochenen Lohn. »Aber ein Vertrag ist ein Vertrag.« »So ist es.« Bracht ergriff den Beutel und wog ihn nachdenklich in der Hand. »Es ist die gesamte Summe«, versicherte Symeon. Bracht neigte leicht den Kopf. »Ich zweifle nicht dar an«, sagte er und verstaute den Beutel unter seinem Wams. Der kleine dicke Mann nickte. Seine Finger liebkosten die Bücher, als hielte er die Angelegenheit damit für erledigt und könnte es nicht mehr erwarten, zu seiner Arbeit zurückzukehren. Als seine Besucher keine Anstal ten machten zu gehen, brummte er gereizt und fragte: »Gibt es noch andere Dinge zu klären? Lord Varent hat keine Verwandten, und es ist meine Aufgabe, eine Auf stellung all seiner Besitztümer anzufertigen, damit sie versteigert werden können.« Seine Stimme klang so unwirsch, daß Calandryll bei nahe laut aufgelacht hätte, und er wußte, daß ein hysteri sches Lachen dabei herausgekommen wäre. Andere Din ge? dachte er. Aye, ich würde mich gern darüber unterhalten, unter welchen Umständen dein Herr gestorben ist, und dar über, daß er geplant hat – und in einer vermutlich anderen Gestalt immer noch plant –, den Verrückten Gott wiederaufer stehen zu lassen. Er unterdrückte das drohende Gelächter und sagte laut: »Unser Vertrag mit Lord Varent ist zwar
mit seinem Tod erloschen, aber ich würde gern noch einmal einen Blick in seine Bibliothek werfen. Er hatte einige seltene Exemplare dort, die man in kleineren Sammlungen kaum finden kann, und er hat mir verspro chen, daß ich sie mir bei meiner Rückkehr ansehen könn te.« Symeon schürzte die dicken Lippen und fummelte mit seinen tintenverschmierten Fingern daran herum, als müßte er sich das noch einmal überlegen. »Vielleicht finde ich ein paar Bücher, die ich gern kau fen würde«, hakte Calandryll nach. »Das könnte Euch die Buchhaltung etwas erleichtern. Der Preis spielt keine Rolle.« Sofort erschien ein habgieriges Lächeln auf dem Ge sicht des Haushofmeisters. »Ich sehe keinen Grund, wa rum wir uns nicht auf einen angemessenen Preis einigen sollten«, sagte er. »Darth, bringst du unsere Gäste in die Bibliothek?« Und ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, beugte er sich wieder tief über seinen Schreib tisch und begann, emsig zu schreiben. »Fette Qualle«, murmelte Darth, nachdem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Geld ist seine einzige Leidenschaft.« Er führte sie in das Zimmer, das Calandryll schon kannte, und zog eine Zunderdose hervor, mit der er die Kerzen anzündete. Während er vor sich hin murmelnd von einer Kerze zur nächsten ging, flüsterte Calandryll Bracht ins Ohr: »Bring ihn weg von hier, wenn du
kannst, und versuch, so viel wie möglich aus ihm he rauszubekommen. Ich werde nachsehen, ob ich hier irgend etwas entdecken kann.« Es erwies sich nicht als schwer, Darth wegzulocken. Im Kamin brannte kein Feuer, es war kalt in der Biblio thek, und er zögerte nicht, als Bracht ihm kameradschaft lich auf die Schulter schlug und vorschlug, Calandryll allein die Regale durchstöbern zu lassen, während sie sich an einen wärmeren Ort zurückzogen und ein paar von den Weinen probierten, die bestimmt noch im Keller des toten Hausherrn lagerten. Katya lehnte ihren Vor schlag, sie zu begleiten, mit einem Lächeln ab und erklär te, daß sie mehr an der Bibliothek interessiert sei. Sobald sich die Tür geschlossen hatte, legte Calandryll den Rie gel vor und machte sich daran, den Raum zu durchsu chen. Es schien unwahrscheinlich, daß der Zauberer etwas zurückgelassen haben könnte, anhand dessen er aufge spürt werden konnte, aber Calandryll hoffte trotzdem, irgendeinen Hinweis zu entdecken. Er wußte, daß die Aussichten sehr gering waren, und sein vorsichtiger Optimismus schwand schnell dahin. Die Bibliothek war aufgeräumt worden, der Tisch, an dem Calandryll so viele Stunden verbracht hatte, um Orwens Karte nachzu zeichnen, war leer, und in den Regalen war eine derarti ge Menge von Schriftrollen, Pergamenten und Manu skripten säuberlich verstaut, daß es Wochen erfordert hätte, alles zu durchsuchen, und das ohne realistische
Aussichten auf Erfolg. Er sah sich mit wachsender Ver zweiflung um. Die Regale schienen ihn höhnisch auszu lachen. Und dann erinnerte er sich an das Geheimfach, dem Varent die Karten entnommen hatte. Es war nicht mehr als ein Strohhalm, an den er sich klammerte, aber trotzdem dröhnte ihm das Blut in den Schläfen, als er Bücher, die ihn früher Stunden oder Tage beschäftigt hätten, die jetzt aber nur ein Hindernis auf seiner Suche darstellten, aus den Regalen riß. Er warf sie achtlos hinter sich, legte das Geheimfach frei und drehte den Holzknauf, der es aufspringen ließ. Was immer er auch zu finden erwartet hatte – irgend eine andere Karte oder einen Hinweis darauf, wohin der Zauberer gegangen war –, es war nicht das, was er ent deckte. Das Fach war leer bis auf einen matten roten Stein, an dem ein Lederband befestigt war: der Talisman, den er so lange getragen hatte, der Schlüssel, der Rhythamun den Weg nach Tezin-dar geebnet hatte. Seine Hand zuckte wie vor dem aufgerissenen Maul einer Schlange zurück, und er knurrte einen lästerlichen Fluch. Katya keuchte und zog ihren eigenen Anhänger unter dem Hemd hervor. Ihre Augen verschleierten sich, als sie den Stein umklammerte und einen nicht minder deftigen Fluch ausstieß. »So hat er uns also hergelockt«, sagte sie heiser. »Und jetzt entkommt er uns.« »Nein!« zischte Calandryll. Er weigerte sich, das ein zugestehen. Enttäuschung und Wut ließen seine Stimme
hart klingen. »Das wird er nicht!« Ohne darüber nachzudenken, packte er den zweiten Stein, zog ihn aus dem Fach heraus, wobei er unablässig Rhythamun verfluchte, und dann brachen seine Verwün schungen plötzlich ab, als er das Ding in seiner Hand warm werden fühlte. Das matte Glühen im Inneren des Anhängers leuchte auf, eine Flamme zuckte empor und spuckte ihm eine Wolke Mandelduft in sein verdutztes Gesicht. Calandryll schleuderte den Stein von sich und zog in der gleichen Bewegung instinktiv sein Schwert, obwohl er wußte, daß er mit der Klinge nichts gegen die Zauber kraft des Anhängers würde ausrichten können. Seine Kopfhaut prickelte vor Furcht und Anspannung, und mit weit aufgerissenen Augen sah er, wie eine Flamme in die Höhe schoß und die Gestalt eines Mannes in dem fla ckernden Licht Konturen annahm. Er stieß einen weiteren Fluch aus, als er sie erkannte und entgeistert in das Gesicht Varent den Tarls starrte. Die geisterhafte Gestalt lächelte höhnisch zurück. Ver achtung funkelte in ihren dunklen Augen auf, und ihre flüsternde Stimme klang wie das Knistern eines Feuers, kultiviert und gleichzeitig erfüllt von furchtbarer Belusti gung. »Also bist du aus Tezin-dar entkommen, Calandryll, denn nur deine Hände können diesen Stein aktivieren, der dich zweifellos hierher geführt hat. Vielleicht sollte ich dir dazu gratulieren. Ich hatte gedacht, du wärst für
immer in der verschollenen Stadt gefangen.« Katyas Säbel schnitt durch die undeutliche Gestalt. Sie waberte wie Rauch in einem plötzlichen Luftzug, und die Stimme fuhr fort: »Gut gemacht. Du mußt eine Geistes gegenwart bewiesen haben, die ich dir nicht zugetraut hätte. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr! Du hast deine Aufgabe bereits erfüllt und gute Arbeit geleistet, indem du mich in die Stadt gebracht und zum Arcanum geführt hast.« Die Erscheinung lachte. Calandryll starrte sie an, ohne sich bewußt zu sein, daß er wie ein angeketteter Blut hund knurrte, der nur darauf wartete, losgebunden zu werden sich auf sein Opfer stürzen zu können. »Jetzt gehört das Buch mir, und ich muß nur noch Tharns Ruheort aufsuchen, muß nur noch die Zauber wirken, die den Bann lösen und den Gott wiederaufer stehen lassen. Gibt es dann noch irgend etwas, das ich mir nicht einfach nehmen könnte? Ich werde eine Macht besitzen, von der ihr armseligen Menschen nur träumen könnt, die ihr aber nie zu ergreifen wagen würdet! Und du bist es, dem ich dafür Dank schulde, Calandryll. Sei dir gewiß, daß ich all das ohne deine Hilfe niemals hätte erreichen können.« Das Phantom verbeugte sich, und Calandryll knirschte mit den Zähnen. »Huldigst du mir? Oder verfluchst du mich? Das letz tere, nehme ich an, denn deine Arglosigkeit war gerade zu ein Wunder, und ich bezweifle, daß jemand wie du
die Kühnheit meiner Träume überhaupt begreifen kann. Aber trotzdem hast du mir gut gedient, und vielleicht werde ich dich dafür belohnen, wenn ich mein Ziel er reicht habe … falls du noch lebst, nachdem der große Tharn wieder über die Welt wandelt. Wenn nicht, dann kannst du mit dem Wissen sterben, daß dein Leben sei nen Zweck mehr als erfüllt hat, indem du mir bei mei nem Vorhaben geholfen hast. Und nun leb wohl. Ich habe den Körper verlassen, den du gekannt hast, und bin gegangen. Soll ich dir sagen, wohin? Vielleicht doch lieber nicht. Der Pfad, den ich beschreite, ist nicht geeignet für deinesgleichen. So leb denn wohl, mein dummer Gehilfe, und hab nochmals vielen Dank.« Die verhaßte Gestalt verbeugte sich ein letztes Mal und lachte laut und höhnisch. Die Flamme erlosch, der Mandelgeruch verflog, und Stille kehrte in die Bibliothek ein. Der rote Stein lag matt und leblos auf dem Boden. Jetzt, nachdem die ihm innewohnende Magie verbraucht war, war er nicht mehr als nutzloser Tand. Calandryll und Katya schoben ihre Klingen in die Scheiden zurück, und lange Zeit sagten beide kein Wort. Es war Katya, die schließlich das Schweigen brach. Ihre Stimme klang leise und hoffnungslos. »Er ist fort, und unsere Mission ist gescheitert.«
KAPITEL 8 »Nein!« Calandryll trat direkt vor sie, ergriff sie an den Armen und drückte fest zu. Von der Verzweiflung, die ihn vorher gepackt hatte, war nichts mehr vorhanden, er verspürte nur noch eine gewaltige Wut, als hätte Rhythamuns Hohn jede Spur von Pessimismus aus ihm herausgebrannt und nur noch Entschlossenheit zurück gelassen. »Hast du nicht selbst gesagt, es wäre äußerst schwierig, den Körper eines anderen Menschen zu über nehmen, eine zeitraubende Prozedur?« Katya nickte stumm, Resignation hatte ihre grauen Augen verschleiert. »Und wo hätte er das tun sollen, wenn nicht hier? Hier, wo er seine schmutzige Magie in aller Ruhe aus üben konnte.« Katyas Resignation machte Verwirrung Platz. Sie zuckte hilflos die Achseln. »Wahrscheinlich war es so, aber was hilft uns das?« Calandryll registrierte, daß sich seine Finger in den feinmaschigen Kettenpanzer ihrer Tunika gebohrt hatten. Er lockerte seinen Griff, das Gesicht immer noch dicht vor dem ihren, und seine Stimme klang hitzig. »Dann ist es gut möglich, daß das Hauspersonal sein
Opfer gesehen hat!« In Katyas grauen Augen flackerte ein neuer Hoff nungsschimmer auf. Sie nickte. »Also müssen wir sie befragen«, fuhr Calandryll fort. »Aber vorsichtig! Komm, gehen wir zu Symeon.« Einen Moment lang schien sie vor Verwirrung noch wie erstarrt, und er ergriff sie wieder am Arm, zerrte sie mit sich zur Tür, schlug den Riegel zurück und stieß die Tür so heftig auf, daß sie gegen die Außenwand schep perte. Draußen im Flur gewann Katya etwas von ihrer gewohnten Vitalität zurück, und er ließ ihren Arm los, als sie sich seiner Geschwindigkeit anpaßte. In ihrer Hast rannten sie beinahe und eilten zu dem kleinen Haushof meister zurück, der noch immer dort saß, wo sie ihn zuletzt gesehen hatten. Symeon blinzelte sie kurzsichtig an, als sie herein platzten. In seinem runden Gesicht stritten Verärgerung über ihren dramatischen Auftritt und Gier über die Aus sicht auf Profit um die Vorherrschaft. »Habt Ihr Bücher gefunden, die Euch interessieren?« erkundigte er sich und legte die Schreibfeder beiseite. Calandryll widerstand dem Drang, den Mann zu pa cken und die Antworten aus ihm herauszuschütteln. Er bezweifelte, daß der Schreiber ihm glauben würde, wenn er jetzt die ganze Geschichte hervorsprudelte. Vermutlich würde Symeon sie für verrückt erklären, vielleicht Diener oder sogar Wachen rufen, um sie hinauswerfen zu lassen, ohne ihnen irgendwelche Antworten zu liefern. In dieser
Situation war Zurückhaltung erforderlich, und obwohl es Calandryll schwerfiel, sein Temperament zu zügeln, zwang er sich zu einem Lächeln und sagte: »So viele, daß ich erst einmal darüber nachdenken und entscheiden muß, welche mich am meisten interessieren.« »Es werden schon bald eine Menge Leute kommen, um sich eine derart gut bestückte Bibliothek anzusehen«, gab Symeon zu bedenken. »Ich würde vorschlagen, daß Ihr Euch möglichst schnell entscheidet.« »Das werde ich auch tun und wahrscheinlich schon morgen früh wiederkommen.« Calandryll setzte eine Trauermiene auf. »Sagt mir, wann ist Lord Varent ge storben?« »Vor drei Wochen«, antwortete Symeon. Seine Stimme klang schon wieder verdrossen, als gehörte der Tod be reits der fernen Vergangenheit an und es ginge jetzt nur noch darum, den Haushalt aufzulösen. »Wie?« Das Wort klang scharf. Symeon runzelte die Stirn und bedachte ihn mit einem merkwürdigen Blick. »Das weiß niemand«, sagte er. »Er schien recht gesund zu sein. Wir haben ihn tot in der Bibliothek gefunden…« »In der Bibliothek?« »Er hatte die Nacht dort verbracht. Es war bei ihm in letzter Zeit zur Gewohnheit geworden, stundenlang über seinen Büchern zu brüten. Dann durfte niemand von uns die Bibliothek betreten.«
Calandryll hielt den Blick unverwandt auf das mit Tin tenspritzern übersäte Gesicht des dicken Mannes gerich tet. Er spürte, wie seine Erregung stieg, und er bemühte sich, seine Anspannung zu verbergen, war sich bewußt, daß die Zukunft der Welt von der Genauigkeit seiner Fragen abhängen konnte. »War er allein?« Symeons Gereiztheit wuchs, er kniff ungeduldig und verwirrt die Augen zusammen. Calandryll brachte ein Lächeln zustande, von dem er hoffte, daß es beruhigend wirkte, und kämpfte gegen die Versuchung an, mit dem Schwert schnellere Antworten aus seinem Gegenüber herauszukitzeln. »Nein, er hatte geschäftlich mit einem Pferdehändler zu tun«, sagte Symeon langsam und fügte seiner Schärpe ein paar weitere Flecken hinzu, als er sich geistesabwe send die Hände daran abwischte. »Der Pferdehändler war es auch, der uns alarmiert hat. Ich glaube, er stammt aus Gannshold und treibt Handel mit den Kernern. Darth hat mehr Zeit als ich mit ihm verbracht.« Calandryll nickte und kam zu dem Schluß, daß er von Darth mehr erfahren würde, als von diesem Haushof meister, dem man jedes Wort einzeln aus der Nase zie hen mußte. »Ein tragischer Verlust«, murmelte er. »Und einer, der mir eine ganze Menge Arbeit berei tet«, stellte Symeon mit unübersehbarer Ungeduld fest. Calandryll nutzte den Wink, um sich zu verabschie den. Er neigte den Kopf und sagte: »Dann werde ich jetzt
meinen Leibwächter suchen und gehen. Ich danke Euch für Eure Hilfe.« Symeon hob eine tintenverschmierte Hand. Er sah nicht einmal auf, als sie die Schreibstube verließen und sich auf die Suche nach Bracht machten. Der Söldner hatte es sich in einem kleinen Nebenraum der Küche bequem gemacht, von dem man direkt auf den Hinterhof und zu den Ställen gelangen konnte. Der Raum war durch einen bogenförmigen Durchgang von der größeren Küche getrennt, in der sich andere Mitglie der des verwaisten Haushalts aufhielten, und als Ca landryll in die Richtung ging, aus der er die Stimme des Kerners hörte, entdeckte er Rytha unter ihnen. Das Mäd chen betrachtete Katya forschend, was der Vanuerin jedoch entging. Bracht saß direkt hinter dem Durchgang Darth gegen über an einem Tisch, auf dem zahllose Weinflaschen ringförmige Flecken zurückgelassen hatten. Zwischen ihnen stand eine zur Hälfte geleerte Flasche Rotwein. Der größte Teil davon, vermutete Calandryll, war durch Darths Kehle geflossen. Varents Gefolgsmann begrüßte sie mit der guten Lau ne eines Betrunkenen und erhob sich etwas unsicher, um noch ein paar Becher und eine frische Flasche aus der Küche zu holen. Sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte, blickte Bracht seine Gefährten fragend an. »Rhythamun hat eine längere Zeit mit einem Pferde händler aus Gannshold zugebracht«, sagte Calandryll
leise, als das Geräusch von zerschellendem Glas auf klang, gefolgt von der Rüge einer Frau und Darths sorg loser Beschwichtigung. »Dieser Mann war auch bei ihm, als ›Varent‹ gestorben ist. Hast du noch irgend etwas anderes erfahren?« »Bisher nicht mehr als das.« Bracht senkte die Stimme und sah verstohlen zu Katya hinüber. »Rytha war hier – ich habe eine Weile gebraucht, um sie abzuschütteln.« Katya beäugte ihn auf eine Weise, die vermuten ließ, daß er zu einem geeigneteren Zeitpunkt einige Fragen mehr würde beantworten müssen, und er grinste nervös, sichtlich erleichtert, als Darth mit den Bechern und der Weinflasche zurückkehrte und sie auf dem Tisch abstell te. Er schenkte ein und strahlte Katya breit an. Calandryll trank einen Schluck und sagte im Plauder ton: »Lord Varent hatte mit einem Händler aus Ganns hold zu tun, wie mir Symeon erzählt hat.« »Aye«, bestätigte Darth mit gemessener Feierlichkeit. »Er wollte seinen Bestand auffrischen, und dieser Bur sche hat behauptet, die besten Pferde zu besitzen. Er hat ihm auch ein Angebot für deinen Hengst gemacht.« Den letzten Satz sagte er mit einem Nicken in Brachts Richtung, und der Kerner setzte die Befragung fort. »Wie hieß er?« fragte er. »Vielleicht kenne ich ihn.« »Daven Tyras, soweit ich mich erinnere«, erwiderte Darth. »Er hat mit einem ähnlichen Akzent wie du ge sprochen.« Calandryll spürte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er
hatte den Eindruck, daß Darth seinen Herzschlag hören und die Ungeduld in seinen Augen sehen mußte, und zwang sich zur Ruhe. Jetzt kam es darauf an, vernünftig nachzudenken. Wenn Rhythamun Varents Körper in Gegenwart eines anderen Mannes verlassen hatte, dann konnte dieser nur der neue Wirtskörper für den bösarti gen Geist des Zauberers sein. Er, Calandryll, mußte so viel wie möglich über den Fremden in Erfahrung brin gen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie Bracht die Stirn runzelte. »Daven Tyras«, murmelte der Söldner vor sich hin, als versuchte er, den Namen einzuordnen. »Ein Bursche von ungefähr deiner Größe«, half ihm Darth. »Allerdings mit sandfarbenem Haar.« »Ein häßlicher Mann?« improvisierte Bracht. »Mit ei ner Säufernase?« »Nein, der Bursche sah recht gut aus.« Darth schüttelte den Kopf und zwinkerte anzüglich. »Rytha war von ihm ganz angetan.« Bracht gab einen unverbindlichen Laut von sich und fragte: »Hatte er kleine blaue Augen?« »Braun und groß«, berichtigte Darth. »Und seine Nase war gesund, sieht man einmal davon ab, daß sie irgend wann gebrochen worden und deshalb etwas platt war.« »Dann ist es nicht der, an den ich gedacht habe«, er klärte Bracht und fügte zu Calandrylls Erleichterung hinzu: »Obwohl ich ihn trotzdem gern treffen würde. Er könnte Nachrichten aus Cuan na'For haben.«
»Dazu ist es zu spät«, sagte Darth und füllte seinen Becher nach. »Er ist schon am Tag nach Lord Varents Tod abgereist. Zurück nach Gannshold, hat er gesagt.« Calandryll hörte, wie der Kerner eine Verwünschung verschluckte. »Anscheinend sind wir zu spät zurückge kehrt«, murmelte er mit geheucheltem Bedauern. »Armer Varent.« »Aye«, pflichtete ihm Darth bei. »Und wir sind eben falls zu bedauern. Er hat keine Verwandten hinterlassen, und jetzt wird das Haus verkauft. Ich muß mir eine neue Anstellung suchen.« »Wir scheinen alle einen Verlust erlitten zu haben«, stellte Calandryll salbungsvoll fest. »Wenn ich die Mög lichkeit hätte, würde ich Euch eine Anstellung bieten.« Darth zuckte die Achseln, schenkte sich erneut Wein nach und verschüttete dabei eine beachtliche Menge. Er grinste dümmlich, dann legte sich seine Stirn in Falten, und er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Ich hatte fast vergessen, daß Ihr aus Secca stammt«, sagte er. »Habt Ihr dort Verwandte?« Calandryll nickte. Daß Secca seine Heimatstadt war, war den Leuten, die wie Darth zu Rhythamuns Gefolge gehört hatten, als dieser in der Rolle Varents Secca be sucht hatte, allgemein bekannt. Allerdings wußte nie mand, daß Calandryll der zweite Sohn des Domms die ser Stadt war. »Habt Ihr die Neuigkeiten noch nicht gehört?« fragte der Mann.
Calandryll schüttelte den Kopf. Er wäre am liebsten so schnell wie möglich verschwunden, da er glaubte, daß sie alles erfahren hatten, was Darth wußte, aber irgend etwas im Tonfall des anderen hielt ihn zurück. »Der Domm – er hieß Bylath, nicht wahr? – ist tot. Jetzt führt sein Sohn Tobias diesen Titel.« Calandryll spürte, wie seine Hände den Weinbecher beinahe zerquetschten. Vorsichtig stellte er ihn auf den Tisch. Er war sich nicht sicher, welche Bedeutung diese Nachricht für ihn hatte, nicht einmal, was er dabei emp fand. Sein Vater war tot. Fühlte er Trauer darüber? Es schien einem anderen Zeitalter anzugehören, als sein Vorsatz zu fliehen durch Bylaths gedankenlosen Schlag bestärkt worden war. Ja, es schien Ewigkeiten her, daß er beschlossen hatte, aufregende Abenteuer zu suchen und sich auf die große Mission zu begeben, die Rhythamun vor ihm ausgebreitet hatte, um den ahnungslosen Jüng ling zu ködern und ihn zu seinem nützlichen Idioten zu machen. Seither hatte er kaum noch an seinen Vater gedacht, außer daran, daß er mit dem, was er tat, Bylaths Verachtung für seinen schwächlichen bücherverliebten Sohn ständig widerlegte, und manchmal hatte er sich verschwommen vorgestellt, wie er, sollte er diese Missi on überleben, im Triumph zurückkehren und seinem Vater zeigen würde, was er erreicht hatte. Jetzt aber war Bylath tot, und Calandryll verspürte… Er konnte es nicht bestimmen. Vielleicht war es Trau er, vielleicht aber auch Wut, als hätte ihm Bylath einen
Strich durch die Rechnung gemacht und ihm noch im Tod die Genugtuung und Anerkennung versagt, nach der er sich gesehnt hatte, als sein Vater noch am Leben gewesen war und ihn verachtet hatte. Calandryll hatte das Gefühl, einen Verlust erlitten zu haben, aber ihm war nicht klar, worin dieser Verlust bestand, und er schob das Problem grob beiseite. Sollte er Kummer über den Tod seines Vaters empfinden, würde er später um ihn trau ern. Jetzt war es erst einmal wichtiger zu entscheiden, welche Auswirkungen die veränderte Situation für ihn hatte. Bylath war tot, und sein Bruder hatte den Platz des Vaters eingenommen. Derselbe Bruder, der die Chaipaku damit beauftragt hatte, Calandryll umzubringen, war jetzt Domm. Auf den Befehl Burashs hin wurde Ca landryll zwar nicht mehr von der Bruderschaft der Meu chelmörder bedroht, aber mit welchen Methoden würde Tobias nun, da ihm sämtliche Machtmittel Seccas zur Verfügung standen, gegen ihn vorgehen? Weder Darth noch irgend jemand sonst in Aldarin wußte, daß Calandryll der verstoßene Sohn des verstor benen Domms war. Unter all seinen widersprüchlichen Gedanken und Empfindungen verspürte Calandryll nur eine Gewißheit: es war das beste, wenn seine Herkunft auch weiterhin geheim blieb. »Wie ist er gestorben?« fragte er in einem Tonfall, von dem er glaubte, daß er neutral genug klang, um keinen Verdacht zu erregen. »Als ich das letzte Mal…« – fast hätte er gesagt: ›im Palast war‹, konnte sich aber im letz
ten Augenblick noch zurückhalten – »… in Secca war, schien er sich bester Gesundheit zu erfreuen.« »An einer auszehrenden Krankheit, heißt es«, berichte te Darth, »aber es machen Gerüchte die Runde. Ich habe ihn gesehen, als ich mit Lord Varent dort war, müßt Ihr wissen, und wie Ihr gesagt habt, hat er einen gesunden und robusten Eindruck gemacht.« Er tippte sich ver schwörerisch an die Nase, als handelte es sich um ver trauliche Informationen, die er hier preisgab. Allmählich geriet er in Fahrt. »Es heißt, Tobias konnte es nicht mehr erwarten, den Thron zu besteigen, und hätte ein bißchen nachgeholfen, seinen Vater zu beseitigen. Es ist die Rede von Gift. Natürlich nicht in der Öffentlichkeit, versteht sich von selbst, aber das ist es, was die Leute tuscheln, und es wäre ja nicht das erste Mal, daß ein ehrgeiziger Sohn es nicht mehr erwarten konnte, sein Erbe anzutre ten, was?« Er lachte leise in sich hinein und schüttelte den Kopf über die Vorstellung, wie abwegig es doch unter dem Adel zuging. Calandryll hob den Becher an seine Lippen und trank in langen Zügen, nicht so sehr, weil er jetzt einen großen Schluck Wein benötigte, sondern weil es ihm Zeit zum Nachdenken gab. Die Neuigkeiten mußten – durften! – zwar keinen Einfluß auf die Verfolgung Rhythamuns haben, aber wenn Darths Geschwätz der Wahrheit entsprach, dann war es unter Umständen ein weiterer Beweis dafür, daß sich der Verrückte Gott be reits im Schlaf regte und von seiner Befreiung träumte
und jetzt schon seinen verderblichen Einfluß auf die Welt ausübte. Kandahar befand sich im Würgegriff des Bür gerkrieges, Bylath war vermutlich vergiftet worden. Konnte Tharn irgendwie spüren, daß Rhythamun sich seinem Ziel näherte, ihn wiederzuerwecken? Und was von unmittelbarerer Bedeutung war: Welche Auswir kungen mochte Tobias' Thronbesteigung auf die Mission haben? Wie sehr ihn diese Fragen beschäftigten, mußte seinem Gesicht abzulesen gewesen sein, denn Darth fuhr fort: »Bylaths Tod hat einigen Wirbel verursacht, das kann ich Euch sagen. Aldarin und Secca hatten sich verbündet, um eine gemeinsame Flotte zu gründen – das war der Grund für Lord Varents Besuch in Secca –, mit der die Seeräuber bekämpft werden sollten. Jetzt spricht Tobias davon, die Flotte zu benutzen, um Kandahar anzugrei fen. Wußtet Ihr, daß dort Krieg herrscht? Nun, es scheint, daß Tobias ein Bündnis mit den anderen Städten einge hen will, um die Kander anzugreifen, solange sie sich untereinander bekriegen.« Er unterbrach sich, um seinen Becher zu leeren, und lachte leise, während er ihn wieder auffüllte. »Vielleicht finde ich ja dort Arbeit, was?« Calandrylls Gesicht war blaß geworden. »Ist Aldarin mit diesem Plan einverstanden?« fragte er. Das konnte doch wirklich nur bedeuten, daß sich Tharn bereits regte. »Und was ist mit den anderen Städten?« »Bisher noch nicht.« Darth wischte sich über den Mund und zuckte die Achseln. »Unser Domm ist un
schlüssig. Tobias war vor einer Weile hier zu Besuch und hat eine Menge Zeit mit Lord Varent verbracht. Nach dem, was ich aufgeschnappt habe, hat Lord Varent das Vorhaben unterstützt, aber jetzt ist er tot.« Bei diesen Worten hob er seinen Becher in einer übertriebenen Geste des Kummers zum Gedenken an seinen ehemaligen Herrn. »Daric hat sich immer auf Lord Varent verlassen, wenn er Rat in schwierigen Fragen brauchte. Tobias ist mit seiner Frischvermählten weiter nach Wessyl gereist. Sie haben es als Höflichkeitsbesuche bezeichnet, um den Städten Lysses Seccas gute Absichten zu demonstrieren, aber diejenigen von uns, die mit diesen Angelegenheiten näher vertraut sind, wissen, daß er versucht, ganz Lysse zum Krieg zu überreden.« Daß Tobias Nadama zu seiner Frau gemacht hatte, ü berraschte Calandryll nicht, daß er darüber keine Trauer verspürte, war jedoch eine angenehme Erfahrung. Ihm war, als hätte ein anderer Nadama geliebt, eine frühere Inkarnation seiner selbst. Jetzt hatte er diese jugendliche Schwärmerei hinter sich gelassen. Er murmelte eine un verständliche Antwort und sagte dann: »Ich habe Gerede über einen jüngeren Bruder gehört … Hat es da nicht einen familiären Zwist gegeben?« »Aye«, bestätigte Darth, lachte laut auf und deutete mit dem Finger in seine Richtung. »Dera, das hatte ich völlig vergessen! Ihr heißt genau wie er, nicht wahr? Calandryll?« Calandryll nickte lächelnd.
»Hab ich mir doch gedacht. Jetzt erinnere ich mich wieder, er ist ungefähr zu der Zeit aus Secca geflohen, als wir da waren«, erzählte Darth weiter. »Warum, das weiß ich nicht, aber Tobias hat ihn für vogelfrei erklärt und zehntausend Varre auf seine Ergreifung ausgesetzt. Eini ge behaupten, es wäre Calandryll gewesen, der Bylath vergiftet hat, aber das macht keinen Sinn für mich. Wenn er seinen Vater aus dem Weg räumen wollte, warum hat er dann nicht auch noch gleich seinen Bruder vergiftet? Und wieso sollte er weglaufen, wenn er es auf den Thron abgesehen hätte?« »Richtig, warum hätte er so etwas tun sollen?« fragte Calandryll mit unbewegter Miene zurück. »Aber trotzdem, zehntausend Varre sind eine ganz schöne Belohnung, was?« meinte Darth. »Für soviel Geld würde ich ihn gern in die Finger bekommen.« »Ich auch«, mischte sich Bracht wieder in das Ge spräch ein, und sein dunkles Gesicht verriet nicht, was in ihm vorging. »Aber wo könnte er nur stecken?« »Wer weiß?« fragte Darth. »Er wird sich irgendwo verkrochen haben, denk' ich mir. Falls er nicht schon tot ist … Ich habe Gerüchte gehört, Tobias soll die Chaipaku auf ihn angesetzt haben.« »Die Bruderschaft der Meuchelmörder?« Bracht nickte bedeutungsschwer. »Dann ist er wahrscheinlich schon tot.« »Wenn er die auf dem Hals hat, aye«, stimmte ihm Darth zu und kniff die Augen zusammen, als er sie wie
der auf Calandryll richtete. Er hatte mittlerweile offen sichtlich Schwierigkeiten, klar zu sehen. »Wollt Ihr mal was Lustiges hören? Tobias hat ein Steckbrief von ihm anfertigen lassen, und er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Euch. Ihr solltet lieber auf Euch aufpassen.« »Das werde ich«, versprach Calandryll und brachte ein humorloses Lachen zustande. »Es ist natürlich keine große Ähnlichkeit«, fuhr Darth fort. »Calandryll den Karynth sieht wie ein Waschlappen aus. Als ob er nie einen Fuß vor den Palast gesetzt hät te. Nicht wie Ihr, mein Freund.« »Ich werde Eure Warnung trotzdem beherzigen«, ver sicherte Calandryll ernsthaft. »Und ich werde mich be mühen, Tobias aus dem Weg zu gehen.« »Dann solltet Ihr am besten einen Umweg um Wessyl machen.« Darth kicherte. »Oder um Eryn und Ganns hold, denn er war unterwegs nach Norden. Und dabei fällt mir ein, daß er vorhatte, am Ganngebirge weiter nach Forshold zu ziehen, um dann über Hyme nach Secca zurückzukehren. Ihr solltet also alle Städte meiden, denn er wollte jede einzelne besuchen!« Das schien ihn ungemein zu erheitern, denn er wa ckelte in seinem Stuhl herum und lachte so heftig, daß er eine Menge Wein verschüttete. Calandryll verzog die Lippen zu einer Art Grinsen, gab Bracht ein verstohlenes Zeichen und deutete unauffällig auf die Außentür. Der Kerner nickte und sah kurz zu Katya hinüber, die den
betrunkenen Darth mit kaum verhohlenem Widerwillen anstarrte. Sie fing den versteckten Hinweis auf, lehnte sich zurück und gähnte herzhaft. »Wir sollten jetzt lieber gehen«, schlug der Söldner vor. »Die Nacht iss' noch jung, und es gibt noch 'ne Menge Wein zu trinken«, nuschelte Darth mit schwerer Zunge. »Trotzdem.« Bracht lächelte und sah wieder zu Katya hinüber. Darth folgte seinem Blick mit einiger Mühe und hob wissend einen Finger. »Die Nacht iss' noch jung, und du möchtest sie nich' ungenutz' verstreichen lassn, was? An deiner Stelle ging es mir genauso. Aber Rytha wird das bestimmt nich' gefallen.« »Ich werde mein Pferd holen«, sagte Bracht schnell, und sein Grinsen wurde unsicher, als er Katyas Augen aufblitzen sah. Ihr Blick verriet überdeutlich, daß sie eine Erklärung erwartete. »Liegen meine anderen Sachen im Schuppen?« »Aye. Ich bring' dich hin.« Darth versuchte aufzustehen, aber es gelang ihm nicht. Auf halbem Weg stieß er seinen Stuhl um und kippte rücklings zu Boden, wo er mit ausgebreiteten Armen und Beinen liegenblieb. »Vielleicht solltest du lieber hierbleiben«, murmelte Bracht. »Iss' vielleicht besser«, stimmte ihm Darth fröhlich zu,
schloß übergangslos die Augen und begann gleich dar auf, lautstark zu schnarchen. »Irgend jemand muß Darth in sein Bett helfen!« rief Calandryll in die Küche und erntete damit nur abfälliges Gelächter. »Soll er doch da liegenbleiben, das besoffene Schwein«, erwiderte eine dicke Frau. Calandryll zuckte die Achseln und folgte Bracht und Katya auf den Hof hinaus. Mittlerweile stand der Mond bereits hoch am Himmel. Es ging auf Mitternacht zu, und sie eilten zu den Ställen. Die Verschläge befanden sich direkt an der Mauer und waren mit halbhohen Türen versehen. Calandryll glaubte schon, sie müßten in jedem einzelnen nachsehen, aber Bracht blieb stehen und stieß einen leisen durchdringen den Ruf aus, der von einem eifrigen Schnauben beant wortet wurde. Ein glänzender schwarzer Pferdekopf erschien über der Tür eines Verschlages, und der Hengst wieherte laut, als er seinen Herrn erkannte. »Du erinnerst dich also noch an mich.« Der Kerner tät schelte den großen Kopf so zärtlich, als liebkoste er eine Frau. »Dann komm.« Er öffnete den Verschlag. Der Hengst tänzelte heraus und stieß dem Söldner die Nüstern mit derart ungestü mer Zuneigung gegen die Brust, daß Bracht ein paar Schritte zurückstolperte. Er schlang die Arme um den Hals des Pferdes, rieb seine Wange an der des Tieres und sprach leise in der Sprache Cuan na'Fors auf es ein.
»Tekkan wartet«, drängte Katya, »und obwohl ich dir nicht auch noch dein zweites Wiedersehen verderben möchte…« »Aye.« Bracht ergriff das Pferd an seiner pechschwar zen Mähne und führte es zu dem Schuppen, in dem die Sättel und das Zaumzeug aufbewahrt wurden. Vor dem Eingang hing eine Lampe, die Calandryll von ihrem Haken nahm und in die Höhe hielt, als sie den Schuppen betraten. Bracht fand seine Sachen, sattelte schnell das Pferd und führte es zum Tor. Ein paar Gesichter beo bachteten sie von der Küche aus, aber am Tor, das nur durch einen einzigen Riegel gesichert wurde, wartete kein Wächter, und kurz darauf standen sie auch schon auf der Straße. Nicht weit von ihnen entfernt stiegen gerade Fahrgäs te vor einem hell erleuchteten Haus aus einer Kutsche. Calandryll rief dem Kutscher zu, zu warten und sie so schnell wie möglich zur Seemöwe zu bringen. Bracht wei gerte sich, die Kutsche zu besteigen. Er wollte sich lieber wieder mit seinem Pferd vertraut machen, und so waren Calandryll und Katya allein. Eine Weile fuhren sie schweigend dahin und grübelten über die Ereignisse des Abends und die Informationen nach, die sie erhalten hatten. Ihre Gedanken wurden vom Klappern von Hufeisen auf dem Straßenpflaster und dem unablässigen Knarren der Kutsche begleitet. Als sie den Alda auf einer breiten Brücke überquerten, sagte Katya schließlich sanft: »Es tut mir leid, daß dein Vater
tot ist.« Calandryll zuckte die Achseln. Er hatte nicht über sei nen Vater, sondern über Daven Tyras und darüber nach gedacht, wie ihre Chancen standen, ihn einzuholen oder überhaupt aufzuspüren. Katyas gutgemeinte Worte erin nerten ihn wieder an Bylaths Tod, aber noch immer be reitete es ihm Schwierigkeiten, sich über seine Gefühle klar zu werden. Es kam ihm so vor, als wäre Bylath ge nau wie Nadama zu einer undeutlichen Gestalt aus der Vergangenheit geworden, aus einer so fernen Zeit, daß sein Tod ihn nicht wirklich berührte. Die Verfolgung Rhythamuns schien viel schwerer als ein solcher persön licher Verlust zu wiegen, oder aber er war noch viel här ter geworden, als er geglaubt hatte. Da er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte, sagte er: »Tobias ist ein gefährlicher Gegenspieler. Wenn er meinen Steckbrief in ganz Lysse verbreiten lassen hat…« »Darth hat dich jedenfalls nicht erkannt«, warf Katya ein. »Er war betrunken.« Calandryll wandte sich von ih rem mitfühlenden Blick ab und sah zum Fenster hinaus, wo Bracht neben der Kutsche ritt. Sein breites Lächeln und die blitzenden Zähne verrieten seine unbändige Freude. »Jemand, der nüchterner ist, könnte mich erken nen.« »Wie denn, wenn wir über das Meer segeln?« wollte sie wissen. Er drehte sich wieder zu ihr um und deutete mit dem
Daumen in Richtung des fröhlichen Reiters. »Ich bezweif le, daß Bracht seinen Hengst zurücklassen würde, nach dem sich die beiden jetzt wiedergefunden haben. Und wenn Daven Tyras aus Gannshold gekommen und wie der dorthin zurückgekehrt ist…« Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich vermute, wir müssen den Landweg nehmen.« »Dann müssen wir eben vorsichtig sein«, murmelte sie. Ihr Blick wanderte zu dem Kerner hinüber, und nach einer Weile fragte sie in absichtlich beiläufigem Tonfall: »Wer ist Rytha?« »Eins von Varents Dienstmädchen«, erwiderte Ca landryll gedankenlos, mehr mit den Gefahren, die seine Ächtung mit sich brachte, als mit Brachts amourösen Abenteuern beschäftigt. »Bracht…« Im letzten Augen blick verschluckte er den Rest des Satzes und wurde plötzlich verlegen. »Bracht hat sie kennengelernt«, sagte er statt dessen, »als wir mit Rhythamun nach Aldarin gekommen sind.« »Wie gut?« wollte Katya wissen. Calandryll zuckte unbehaglich die Achseln. »Wir wa ren nicht allzu lange hier.« »Lange genug, schätze ich.« Es war so dunkel in der Kutsche, daß er ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte, aber ihre Stimme klang angespannt. »Ist sie schön?« »Ich nehme es an«, sagte Calandryll hilflos. »Ich erin nere mich kaum noch an sie, und ich denke, Bracht geht es nicht anders.«
»Aber sie erinnert sich an ihn.« »Würdest du das nicht tun?« Calandryll wunderte sich über ihre Verärgerung und fürchtete, daß die Eifersucht, die er aus ihrer Stimme heraushörte, ihr Bündnis ebenso in Gefahr bringen könnte, wie das für Brachts besitzer greifende Art ihr gegenüber galt. Es verblüffte ihn, wie leise und unsicher ihre Antwort klang, als hätte er sie bei etwas Ungehörigem ertappt, als würden ihre eigenen Worte sie verwirren. »Aye, das würde ich, und das werde ich auch immer tun. Aber ich hatte nicht gedacht…« Sie zögerte und schüttelte den Kopf. Als sie einen freien Platz überquer ten, wo keine Häuser die Mondsichel verdeckten, tanzte ein flüchtiger Lichtstrahl silbern über ihr langes Haar. »Ich habe noch nie … In Vanu ist das anders … Wir…« Ihre Stimme verklang, und Calandryll erkannte, daß sie verwirrt und verlegen zugleich war. Ihm wurde auf einmal bewußt, daß er nach wie vor kaum etwas über ihre Heimat oder die Sitten und Gebräuche ihrer Lands leute wußte. Und er hatte die Kriegerin noch nie so ver unsichert erlebt. Ihre hilflos stockenden Worte verrieten ihm einen Aspekt an ihr, der ihm bisher verborgen gewe sen war, ein sehr viel verletzlicheres Wesen, als er es für möglich gehalten hätte. »Bracht liebt dich«, sagte er ernst. »Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Seit er dich das erste Mal zu Ge sicht bekommen hat, hat er keine andere Frau mehr an gesehen.«
»Er hatte ja auch kaum eine Gelegenheit dazu«, erwi derte sie, aber kurz bevor sie den freien Platz verließen und wieder in die Schatten eintauchten, sah Calandryll, wie sie lächelte, und hörte die Zuversicht in ihrer Stim me. »Es würde nichts ändern«, versicherte er ihr und lä chelte zurück. »Er hat dir sein Wort gegeben, und ich gebe dir meins, daß er sich daran hält. Was dich betrifft, würde er es gar nicht zurücknehmen wollen.« Er sah, wie sich ihr Lächeln vertiefte, als sie den Kopf zur Seite drehte und aus dem Fenster blickte. Die neben der Straße aufgehängten Laternen ließen ihn die Zärt lichkeit in ihren grauen Augen erkennen, mit der sie den lachenden Reiter betrachtete. Bracht bemerkte ihren Blick und winkte ihr zu, und zu Calandrylls Freude winkte sie zurück. Kurz darauf hatte die Kutsche das Hafenviertel er reicht und hielt vor der Seemöwe. Die Wasseruhr über dem langen Tresen, der sich von einem Ende der Taverne bis zum anderen erstreckte, verriet, daß Mitternacht gerade vorüber war, als sie eintraten. Tekkan saß mit rund einem Dutzend seiner Leute am anderen Ende der Kneipe, und sein wettergegerbtes Gesicht strahlte vor Erleichterung auf, als er sah, wie sich Calandryll, Bracht und Katya durch die Menge schoben. Er machte Platz auf der Bank für sie frei, schickte einen seiner Leute, der einigermaßen fließend Lyssianisch sprechen konnte, Bier holen, und forderte sie auf, ihm alles zu erzählen, was sie
in Erfahrung gebracht hatten. Als Katya und Calandryll ihm von ihrer Begegnung mit Rhythamuns magischer Erscheinung berichteten, verdunkelte sich sein Gesicht, und er murmelte eine Verwünschung. Sie erzählten ihm mit knappen Worten von Daven Tyras und ihrer Vermutung, daß der Hexer in den Körper des Pferdehändlers geschlüpft war, um so seine Suche nach Tharn fortzusetzen. »Aber heißt das nicht, daß wir seine Spur verloren ha ben?« fragte Tekkan. »Was bleibt uns jetzt noch anderes übrig, als nach Vanu zurückzukehren und Hilfe von unseren Heiligen Männern zu erbitten?« »Nein.« Calandryll schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Wenn Daven Tyras aus Gannshold gekommen ist, dann wird er wahrscheinlich auch dorthin zurückkeh ren.« »Und Darth hat gesagt, er hätte mit dem Akzent der Bewohner Cuan na'Fors gesprochen«, fügte Bracht hinzu. »Also gehört er vielleicht einem Clan an oder ist ein Halbblut.« »Wie hilft uns das weiter?« wollte Tekkan wissen und hob ratlos die Schultern. »Hast du geglaubt, der Verrückte Gott würde in Lysse ruhen?« fragte Calandryll, und als der Kapitän den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Oder in irgendeinem der ande ren Länder, in dem die Jüngeren Götter herrschen? Wenn das so wäre, hätten sie sich bestimmt zusammengetan, um Rhythamun aufzuhalten. Nein, Tharn kann nur in
einem fernen Land ruhen, das keinem Menschen bekannt ist.« »Jenseits des Borrhun-maj?« Tekkan fuhr sich nervös mit den Fingern durch den Bart. »Dann haben wir ihn verloren.« »Er hat einen Vorsprung, aber zwischen hier und dem Borrhun-maj liegen Cuan na'For und die Ebene von Jes seryn«, sagte Bracht. »Und in Cuan na'For habe ich im mer noch Freunde.« Er grinste einen Moment lang nach denklich. »Auch Feinde, aber das ist eine andere Ge schichte. Wenn dieser Daven Tyras vorhat, mein Heimat land zu durchqueren, dann kann ich wahrscheinlich herausfinden, welchen Weg er genommen hat.« Tekkan erkannte, worauf das hinauslief, und er be gann von neuem, Einwände zu machen. »Ihr wollt einen Mann verfolgen, den ihr nur aus den Beschreibungen eines Betrunkenen kennt? Einen Schwarzmagier, der jederzeit in einen anderen Körper schlüpfen kann? Das ist Irrsinn!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich sage, wir sollten nach Vanu segeln und bei den Heiligen Männern Rat suchen.« »Es ist nicht so einfach, einen anderen Körper zu ü bernehmen«, gab Katya zu bedenken. »Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß Rhythamun das tut, solange ihm Daven Tyras gute Dienste leistet. Warum sollte er auch, wenn er davon ausgeht, daß wir vermutlich in Tezin-dar festsitzen?« »Und warum hat er Varent den Tarls Körper dann ü
berhaupt verlassen?« wollte Tekkan wissen. »Weil Varent den Tarl ein Adliger dieser Stadt war«, erklärte Calandryll geduldig, »ein Berater des Domms Daric. Ein Mann in seiner Position kann nicht einfach Aldarin verlassen und in der Welt umherziehen.« »Während man von einem Pferdehändler erwartet, daß er reist«, fügte Bracht hinzu. »Und wenn wir nach Vanu segeln, würden wir seine Spur wahrscheinlich verlieren«, sagte Katya. Tekkan zog ein mürrisches Gesicht und deutete auf die Vanuer. »Und meine Mannschaft? Soll ich mein Schiff hier im Hafen von Aldarin zurücklassen?« Calandryll sah von Bracht zu Katya und entdeckte in ihren Augen die Bestätigung für die Entscheidung, die er ganz unbewußt bereits getroffen hatte. Katya legte ihrem Vater eine Hand auf den Arm. »Du sollst uns nicht begleiten«, erklärte sie sanft. »Es ist besser, wenn du nach Vanu zurückkehrst und den Heiligen Männern berichtest, was wir tun. Vielleicht wird ihnen irgend etwas einfallen, um uns zu helfen, aber jetzt müssen wir drei über Land reisen.« »Zu Pferd«, sagte Bracht mit ungespielter Begeiste rung. Tekkan musterte sie nacheinander und sah die Ent schlossenheit in ihren Gesichtern. Seine Miene wurde düsterer. Er seufzte und ließ eine Weile den Kopf hän gen. Dann hob er ihn wieder, und Resignation schimmer
te in seinen hellen Augen. »Ich würde euch gern davon abbringen«, sagte er langsam, »aber ich sehe, daß mir das nicht gelingen wird. Ich gebe es nur ungern zu, aber mir fällt einfach kein überzeugendes Argument ein. Also werden wir es so machen, wie ihr sagt. Ihr reist auf dem Landweg weiter, ich segle zurück nach Vanu.« »Vergiß das hier nicht.« Katya berührte den Talisman, der vor ihrer Brust hing. »Solange ich den Stein trage, werden die Heiligen Männer immer wissen, wo ich bin. Und vielleicht finden sie ja sogar eine Möglichkeit, mich über den Stein zu erreichen.« »Aye, das ist wahr.« Tekkan nickte traurig. »Wollt ihr gleich aufbrechen?« »Morgen«, erwiderte Bracht. »Wir müssen noch zwei Pferde kaufen.« »Zwei?« Sie erzählten ihm von Brachts Hengst. Calandryll ü berlegte, ob er erwähnen sollte, daß er steckbrieflich gesucht wurde, beschloß jedoch, Tekkans Sorgen nicht noch zu vergrößern, und weder Katya noch Bracht schie nen es für angebracht zu halten, das Thema zur Sprache zu bringen. »Dann soll es so geschehen«, stimmte der ältere Mann schließlich widerstrebend zu und sah Bracht und Ca landryll streng an. »Und hört mir jetzt genau zu: Ich vertraue Katya eurer Obhut an. Sollte ihr etwas Uner freuliches zustoßen, werde ich euch dafür zur Rechen
schaft ziehen.« Calandryll nickte knapp. Er verstand, was Tekkan damit meinte, und akzeptierte die Verpflichtung. Bracht war ein wenig begriffsstutziger und sagte: »Ich habe dir bereits mein Wort gegeben, daß ihr nichts zustoßen wird, solange ich lebe.« »Ich habe nicht das gemeint, was ihr ein Schwert zu fügen könnte«, erwiderte Tekkan, »abgesehen von dem Schwert, das alle Männer tragen.« Katya errötete. Der Kerner runzelte die Stirn, als wür de ihn die deutliche Warnung überraschen. Calandryll sah, wie sein gebräuntes Gesicht noch dunkler und seine blauen Augen gefährlich schmal wurden. Bracht emp fand Tekkans Worte als Beleidigung, erkannte Ca landryll, und er spannte sich in Erwartung einer heftigen Reaktion, bereit, sofort einzugreifen, doch Bracht setzte sich nur gerade auf und erwiderte Tekkans starren Blick genauso eindringlich. »Als wir damals nach Gessyth gesegelt sind«, erklärte er steif, »habe ich deiner Tochter und dir mein Wort gegeben, daß ich mich an ihre Bedingungen halten, mei ne Gefühle ihr gegenüber beherrschen und sie nicht be drängen würde, bis das Arcanum zerstört und sie sicher nach Vanu heimgekehrt ist. Ich vergesse meine Verspre chen nicht!« Den letzten Satz stieß er so hitzig hervor, daß Tekkan zurückzuckte. Diesmal wurde das Gesicht des Vanuers dunkler, als ihm das Blut in die Wangen stieg. Er neigte
in einer entschuldigenden Geste den Kopf, und sein Gesichtsausdruck verlor seine Grimmigkeit, als er sagte: »Verzeih mir, Bracht ni Errhyn. Die väterliche Sorge hat mich zu dieser unbedachten Äußerung hingerissen.« Bracht akzeptierte die Entschuldigung und fügte in gemäßigterem Tonfall hinzu: »Glaubst du wirklich, ich könnte mich gegen ihren Willen an ihr vergreifen, Tek kan?« »Nein.« Der ältere Mann schüttelte den Kopf und ge wann seine Fassung zurück, als er das Gesicht des Söld ners betrachtete. »Das glaube ich nicht.« »Dann ist die Angelegenheit damit geklärt«, stellte Bracht fest, »und ich schlage vor, daß wir unser Bier austrinken und schlafen gehen, denn morgen früh müs sen wir Pferde kaufen, und wahrscheinlich steht uns noch ein harter Ritt bevor, wenn wir Rhythamun erwi schen wollen.« »Aye.« Tekkan hob seinen Krug. »Auf den Erfolg und eure sichere Heimkehr.« Sie leerten ihre Krüge und verließen die Taverne. Die Vanuer suchten ihre Unterkünfte auf, nachdem Tekkan sie angewiesen hatte, sich zur zweiten Ebbe beim Kriegs boot einzufinden, während er und die drei Abenteurer sich auf den Weg zu ihrer eigenen Herberge machten. Vater und Tochter gingen voraus, in ein ernstes Gespräch vertieft, Calandryll und Bracht folgten ihnen in geringem Abstand. Der Himmel hatte sich bezogen, Wolkenfetzen legten sich über den Mond, und der Atem des Hengstes,
den Bracht am Zügel führte, dampfte in der kalten Nachtluft. Der Kerner ging absichtlich etwas langsamer, um den Abstand zu Katya und Tekkan zu vergrößern. Forschend sah er Calandryll an. »Ich hatte erwartet, einige Fragen über Rytha beant worten zu müssen«, sagte er mit gedämpfter Stimme. »Deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen.« Calandryll lachte leise in sich hinein. »Katya hat mich über eure … Beziehung befragt, und ich habe ihr gesagt, daß du Rytha zwar früher gekannt hast, jetzt aber nur noch Augen für sie hättest.« »Was, wie Ahrd weiß, nur zu wahr ist.« Bracht be trachtete Katya liebevoll. »Ich danke dir für dein diplo matisches Geschick, mein Freund.« »In den nächsten Tagen werden wir vermutlich mehr als nur diplomatisches Geschick brauchen«, entgegnete Calandryll. »Rhythamun hat einen großen Vorsprung vor uns, und meine Ächtung könnte uns einige Probleme bescheren.« »Aye, zehntausend Varre sind genug, um den Blick je den Mannes zu schärfen.« Bracht grinste. »Aber vielleicht können wir dich ein bißchen verkleiden.« »Abgesehen von dem magischen Trick, den Rhytha mun angewandt hat, um mich unerkannt aus Secca her auszuschleusen, wüßte ich nicht, wie das funktionieren sollte«, murmelte Calandryll. »Und wenn wir seiner Spur folgen wollen, müssen wir bestimmt die nördlichen Städ te durchqueren.«
»Ich würde keine Magie anwenden«, versicherte Bracht. »Je weniger ich damit zu tun habe, desto besser. Nein, wir werden uns einer einfacheren Methode bedie nen.« »Welcher?« wollte Calandryll wissen, aber der Kerner schmunzelte nur und weigerte sich, seine Idee näher zu erläutern. Es war ein strahlend heller Morgen. Die Sonne schien aus einem stahlblauen wolkenlosen Himmel herab. Nur weit draußen auf dem Engen Meer hatten sich ein paar ver einzelte Wolken aufgetürmt. Die Ränder der Fenster scheiben waren von einer Eiskruste überzogen, auf dem Kopfsteinpflaster im Hof lag eine dünne Reifschicht, und aus der Küche stieg verlockend der Duft von Haferbrei und brutzelndem Speck auf. Calandryll war nicht über rascht, daß Bracht schon fort war; vermutlich steckte der Kerner im Stall bei seinem geliebten Pferd. Er ging in den Gemeinschaftsraum hinunter, während Tekkan sich wusch, bestellte ein reichhaltiges Frühstück und hatte schon mindestens die Hälfte vertilgt, als sich die anderen zu ihm gesellten. Bracht war ausgezeichneter Laune, voller Begeisterung über die Aussicht, dem Meer endlich den Rücken kehren zu können und zu Pferd weiterzuziehen. Katya und Tekkan, denen klar war, daß dies wahrscheinlich der letzte Tag war, den sie gemeinsam verbrachten, legten ein zurückhaltenderes Benehmen an den Tag, und Bracht
bewies ein für ihn unübliches Taktgefühl. »Bis wir Cuan na'For erreichen, brauchen wir nur zwei Pferde«, erklärte er. »Um das Grasland zu durchqueren, werden wir noch ein Packpferd benötigen, aber das kön nen wir auch noch in Gannshold kaufen. Calandryll und ich können die Tiere, die wir jetzt brauchen, auch ohne eure Hilfe besorgen. Wir treffen uns gegen Mittag wieder hier.« Katya warf ihm ein dankbares Lächeln zu, das er mit einer Verbeugung quittierte. Auch Tekkan bedankte sich, und Bracht erhob sich grinsend und winkte Calandryll zu, ihm zu folgen. Sie erkundigten sich nach dem Pferdemarkt, verließen die Herberge und machten sich zu Fuß auf den Weg. Am Tag war Aldarin eine geschäftige Stadt. Die Marktplätze und Straßen waren bevölkert und vom Lärm und den Gerüchen eines bunten Völkergemischs erfüllt, Men schen, die kauften oder verkauften oder einfach nur herumschlenderten und sich umsahen. Auf einem der größeren Plätze, der von einer Reihe Gaststätten und Tavernen umgeben war, stand eine Säule, wie man sie in Secca benutzte, um öffentliche Bekanntmachungen aus zuhängen: amtliche Verlautbarungen, Verfügungen, neue Gesetze und Nachrichten über Gesetzesverstöße. Calandryll drängte seinen Gefährten, einen Moment lang stehenzubleiben, und sah sich die Säule genauer an. Auf ihr entdeckte er seinen Steckbrief und die Belohnung, die Tobias ausgesetzt hatte. Die Ähnlichkeit zwischen ihm
und dem Bild war nicht allzu groß, wie schon Darth festgestellt hatte, ohne Calandrylls wahre Identität zu kennen. Das Gesicht, das er dort sah, gehörte einem Jüngling, wirkte sorglos, glatt und etwas verweichlicht. Das Haar war säuberlich geschnitten, und die Augen sahen irgendwie nichtssagend aus. Calandryll erkannte, daß es nach einem Porträt gezeichnet worden war, das im Palast seines Vater hing – der jetzt Tobias' Palast war! – und vor einigen Jahren gemalt worden war. Laut dem Steckbrief wurde er wegen Verbrechen gegen Secca ge sucht, und auf seine Ergreifung oder die Überbringung seines Kopfes waren zehntausend Varre ausgesetzt. Calandryll fluchte, als er die heimtückischen Lügen seines Bruders las, und er war dankbar, daß die Morgen kälte es ihm ermöglichte, einen Mantel zu tragen, der ihn größtenteils verbarg. Unbewußt zog er die Kapuze noch etwas tiefer über sein Gesicht. »Ein ziemlich schlechtes Bild«, murmelte Bracht. »Was steht da geschrieben?« Calandryll hatte ganz vergessen, daß Bracht weder le sen noch schreiben konnte, und las ihm den Text mit leiser und wütender Stimme vor. Bracht nickte grimmig. »Ich denke, du solltest mit deinem Bruder abrechnen, sobald wir unsere Mission beendet haben«, sagte er. »Ein kluger Mann hält sich den Rücken frei von Feinden.« Mit einem Achselzucken entfernte sich Calandryll von der Säule und fragte sich, ob die Blicke, die er auf sich ruhen spürte, Wirklichkeit oder nur Einbildung waren.
»Hast du nicht auch Feinde in Cuan na'For zurückgelas sen?« erkundigte er sich. »Aye.« Er hörte das Zögern in Brachts Stimme. »Aber das ist eine andere Geschichte.« Calandryll betrachtete das Gesicht des Kerners; es war ausdruckslos, und wenn man überhaupt etwas darin erkennen konnte, dann Brachts Widerwillen, über die Angelegenheit zu reden. Nicht zum ersten Mal fragte sich Calandryll, was es war, das sein Gefährte ihm ver schwieg. »Komm«, sagte Bracht in dem offensichtlichen Ver such, das Thema zu wechseln, »wir müssen Pferde kau fen, und das Handeln braucht seine Zeit.« Irgendwann, beschloß Calandryll, würde er den Ker ner überreden, ihm zu erzählen, welches Geheimnis in seiner Vergangenheit lag, das ihn aus seiner Heimat fortgetrieben hatte. Aber nicht heute. Er kannte Bracht gut genug, um sich damit abzufinden, daß auch diese Fragen eines Tages ihre Klärung finden würden, und im Augenblick gab es dringendere Angelegenheiten zu erledigen. Sie ließen den Platz hinter sich und machten sich wie der auf den Weg zum Pferdehändlerviertel, das sich an die nördliche Stadtmauer schmiegte. Allmählich wurden die Gerüche von Essen, Wein, Bier und Menschen von dem durchdringenderen Geruch von Pferden, Mist und Stroh überlagert. Sofort beschleunigten sich Brachts Schritte, und er hob den Kopf, um die Düfte in sich auf
zunehmen, als handele es sich um erlesene Parfüme. Er lachte fröhlich, als sie unter einem hohen Torbogen auf einen großen Platz hinaustraten, der von Menschen und Tieren wimmelte. Die Stadtmauer, auf die sie blick ten, wurde von einem Tor durchbrochen, durch das die Pferde zum Grasen auf die Hochlandweiden geführt werden konnten. Auf beiden Seiten des Tores erstreckten sich Ställe und Scheunen, die mit vereinzelten Sattlereien und kleinen Bierstuben durchsetzt waren, ringförmig um den Zentralplatz, der in Pferche unterteilt war, zwischen denen sich breite Wege dahinzogen, auf denen die Tiere den interessierten Käufern vorgeführt werden konnten. Bracht blieb einen Moment lang unter dem Torbogen stehen und betrachtete die Szenerie mit vor Freude fun kelnden Augen. Dann nickte er und lächelte breit. »Viel leicht können wir hier etwas mehr über Daven Tyras erfahren«, sagte er und stürzte sich mitten in das Ge wühl. Zuerst erschien Calandryll der Pferdemarkt völlig chaotisch. Er war vom Lärm wiehernder Pferde, dem Trommeln ihrer Hufe und dem Geschrei der Menschen erfüllt. Das Kopfsteinpflaster war schlüpfrig vom Pfer demist, der sich in der kalten Luft mit den Gerüchen von Stroh und dem beißenden Gestank von Urin vermischte. Auskeilende Pferde und ihre Besitzer schienen in ständi ger planloser Bewegung zu sein und zwangen die Un vorsichtigen, sich hinter den Zäunen in Sicherheit zu bringen. Doch unter Brachts erfahrener Anleitung er
kannte Calandryll schließlich eine gewisse Ordnung in dem Gewimmel. Dort standen die Arbeitspferde, hier die Zelter, wie sie von vornehmen Damen bevorzugt wurden. In der Nähe des Tores befanden sich die Pferche mit den Ponys, die so klein waren, daß auch Kinder mit ihnen zurechtkommen konnten. Auf der einen Seite wurden Zugpferde angebo ten, auf der anderen Packpferde. Die Reitpferde befanden sich in der Mitte des Platzes, aber auch hier gab es noch gewisse Unterschiede. Bracht zeigte Calandryll Pferde, die besonders für die Jagd taugten, andere, die eher dazu geeignet waren, einen Mann in voller Rüstung zu tragen, speziell gezüchtete Rennpferde und solche, die zäher waren und sich sowohl durch Schnelligkeit als auch durch Ausdauer auszeichneten. Die letzteren waren es auch, zu denen sie gingen. Eine Weile schlenderten sie scheinbar ziellos zwischen den Pferchen herum und blieben ab und zu stehen, um einige der Tiere einer genaueren Musterung zu unterzie hen. Die Händler erkannten Bracht sofort als Kerner. Sein langer Pferdeschwanz und das dunkle, scharfgeschnitte ne Gesicht wiesen ihn unverkennbar als einen Clanange hörigen aus dem Norden aus, und er nutzte diesen Vor teil, um Erkundungen über Daven Tyras einzuziehen. Mehrere Händler kannten den Mann, bestätigten die Beschreibung, die Darth ihnen geliefert hatte, und fügten noch einige Einzelheiten hinzu, die Varents Diener nicht erwähnt hatte. So erfuhren sie beispielsweise, daß in
Daven Tyras' Oberkiefer ein Zahn fehlte, was zu einer leicht zischenden Aussprache führte, und daß sein linker Daumen, den er sich vor langer Zeit gebrochen hatte, etwas verkrümmt war. Es war allgemein bekannt, daß er aus Gannshold stammte und – wie Bracht bereits vermu tet hatte – ein Halbblut war. Sein Vater war lyssianischer Herkunft, seine Mutter gehörte dem Lykard-Clan an. Seine Besuche in Aldarin waren unregelmäßig, und so weit die Händler wußten, hatte er seinen letzten bereits beendet; jedenfalls hatte ihn seit einigen Wochen nie mand mehr gesehen. Es waren nicht gerade viele Informationen, um einen Mann kreuz und quer durch die Welt zu verfolgen, aber Calandryll nahm an, daß sie ausreichten, um seine Spur aufnehmen zu können. Wie sie mit ihm fertig werden sollten, sobald sie ihn gefunden hatten, schob er vorläu fig ebenso beiseite wie die Schwierigkeiten, die der Vor sprung des Hexers ihnen bereitete. Es schien zumindest so, als hätte der Zauberer keinen ernstzunehmenden Versuch unternommen, seine Spur zu verwischen, was vermutlich bedeutete, daß er annahm, sie wären in Tezin-dar gefangen, und die in dem magischen Stein ge speicherte Erscheinung war wohl nicht mehr als eine eitle Spielerei, die letzte demütigende Botschaft eines Mannes, der sich seines Sieges sicher war. Zu sicher, wie Ca landryll hoffte. Als sie überzeugt waren, alles über Daven Tyras in Er fahrung gebracht zu haben, was man hier von ihm wuß
te, beschlossen sie, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen, und konzentrierten sich darauf, zwei Pferde auszusuchen. Diese Aufgabe überließ Calandryll bereitwillig Bracht, der sich sehr viel besser mit Pferden auskannte und of fensichtlich auch eine Menge Erfahrung im Handeln besaß. Es dauerte eine geraume Zeit, und Calandrylls Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, während sein Gefährte voller Hingabe feilschte, aber schließlich kauften sie zwei Tiere. Für Katya suchte Bracht einen Schimmel aus, für Calandryll einen etwas größeren Braunen. Beides waren Wallache, schlank und mit ge wölbter Brust, die Schnelligkeit und Ausdauer in sich vereinten, wie sowohl Bracht als auch der Händler über einstimmend versicherten. Sie führten die Tiere zu einer Sattlerei, wo sie Sättel und Zaumzeug kauften, und ge gen Mittag machten sie sich auf den Rückweg zu ihrer Herberge. Unterwegs hielt Bracht vor einem Geschäft an, stieg ab und warf Calandryll die Zügel zu. Er ignorierte die Fra gen seines Gefährten und verschwand kommentarlos in dem Laden. Calandryll blieb nichts anderes übrig, als zu warten und sich zu fragen, was Bracht in einem Geschäft wollte, das sich auf Kosmetika und Parfüms spezialisiert hatte. Auch nach seiner Rückkehr verweigerte Bracht jede Erklärung, und Calandryll kam zu dem Schluß, daß der Kerner ein Geschenk für Katya gekauft hatte, auch wenn ihm das ziemlich unwahrscheinlich erschien, denn
die Kriegerin benötigte keine künstlichen Hilfsmittel, um ihre Schönheit hervorzuheben, und er hatte auch noch nie ein Parfüm an ihr gerochen. Trotzdem machte Bracht einen äußerst zufriedenen Eindruck, als er sich wieder auf den Schimmel schwang und sie weiterritten. Katya und Tekkan warteten im Gemeinschaftsraum auf sie, wo sie in bedrücktem Schweigen zu Mittag aßen. Gleich nach dem letzten Bissen stand der Vanuer auf und teilte ihnen mit, daß er unverzüglich aufbrechen würde. Die Ebbe stand kurz bevor, und er wollte das Kriegsboot noch einmal inspizieren, bevor er in See stach. »Auch ihr solltet euch am besten so schnell wie mög lich auf den Weg machen«, sagte er, ergriff nacheinander die Hände der beiden Männer und deutete mit dem Kinn in Richtung seiner Tochter. »Wir haben uns schon verab schiedet, und ich möchte diesen Moment nicht noch länger herausschieben. Mögen alle Götter mit euch sein. Die Heiligen Männer werden euch aus Vanu jede Hilfe schicken, die in ihrer Macht steht. Viel Glück und Er folg!« Calandryll hatte den Eindruck, daß Tekkans Augen feucht waren, aber der ältere Mann hielt sich gerade, als er sich umdrehte und den Gemeinschaftsraum verließ, ohne noch einmal zurückzublicken. Katya sah ihm hinterher. Ihr schönes Gesicht wirkte traurig, und sie sagte leise: »Er hat recht. Wir sollten am besten ebenfalls gleich verschwinden.« »Aye«, stimmte ihr Bracht zu und musterte sie be
sorgt, aber dann klang eine Spur von Belustigung in seiner Stimme mit, als er auf Calandryll deutete und sagte: »Aber zuerst müssen wir noch etwas gegen das Aussehen dieses Gesetzlosen unternehmen.« Er flüsterte Katya irgend etwas ins Ohr, worauf sie nickte und in die Küche ging. Bracht winkte Calandryll mit einem breiten Grinsen zu, und der Jüngere folgte ihm gehorsam auf ihr gemeinsames Zimmer, wobei er sich fragte, wie der Kerner sein Aussehen verändern wollte. Seine Haut war mittlerweile fast genauso dunkel ge bräunt wie die Brachts, und seine Züge hatten ihre Weichheit verloren, sein Gesicht war schmaler und härter geworden, seine einstmals großen Augen hatten sich durch die langen Tage auf See zu schmalen Schlitzen verengt. Auch sein Körper hatte sich verändert, seine Schultern waren breiter, er war gewachsen, und sein Auftreten war nicht mehr das eines Bücherwurms und verhätschelten Prinzen, sondern das eines Schwertkämp fers. Der Eindruck eines umherziehenden Söldners wur de durch das abgewetzte Leder seiner Hose und Tunika und durch das Schwert, das er trug, noch verstärkt. Er hatte sich stark genug verändert, um bei einer oberfläch lichen Musterung von Leuten wie Darth nicht erkannt zu werden, aber ein aufmerksamerer Beobachter würde wahrscheinlich die Ähnlichkeit mit dem Konterfei auf dem Steckbrief bemerken, und sein von der Sonne aus gebleichtes Haar war eindeutig das eines Lyssianers und würde zweifellos Aufmerksamkeit erregen, weil es der vollen Haarpracht seines Vaters und seines Bruders glich.
Bracht sprach Calandrylls Gedanken laut aus. »Dein helles Haar verrät dich«, stellte er fest. »Davon abgese hen, könntest du als Clansmann durchgehen. Also…« Mit einer theatralischen Geste präsentierte er, was er kurz zuvor gekauft hatte. Es war kein Geschenk für Ka tya, sondern ein kleines Salbentöpfchen, und als er den Deckel abnahm, kam eine dicke schwarze Paste zum Vorschein. Calandryll erkannte sie als ein Färbungsmit tel, wie es Frauen – und einige eitle Männer – benutzten, um das Ergrauen ihres Haares zu verbergen. In diesem Augenblick betrat Katya das Zimmer mit einem Krug, aus dem Dampf aufstieg. »Setz dich da hin«, befahl Bracht und deutete zum Waschtisch. »Der Händler, von dem ich das Zeug ge kauft habe, hat mir versichert, daß es auch den grausten Kopf schwarz färbt.« Katya goß heißes Wasser über Calandrylls langes Haar, und der Kerner trug die Paste auf. Dann holte er einen Kamm aus seiner Satteltasche und arbeitete das Färbemittel damit gleichmäßig in die nassen Strähnen ein. Als er damit fertig war, warf er Calandryll ein Hand tuch zu, und nachdem das Haar einigermaßen trocken war, kämmte er es erneut und band es ihm mit einem Lederstreifen im Nacken zu einem Pferdeschwanz zu sammen, der dem seinen glich. Er kramte einen kleinen polierten Metallspiegel aus seinen Sachen hervor und hielt ihn seinem Gefährten vors Gesicht. Aus dem Spiegel blickte Calandryll das Gesicht eines Kerners mit pech
schwarzem Haar entgegen. »Versuch, mit einem leichten Akzent zu sprechen«, riet ihm Bracht, »und sollte irgend jemand mißtrauisch werden, dann behauptest du einfach, du wärst ein Halb blut. Deine Mutter ist Lyssianerin, und dein Vater stammt aus den Asyth-Clan.« Calandryll erschien es fast schon zynisch, sich eine Herkunft zuzulegen, die so sehr der Daven Tyras' glich, aber andererseits war es auch irgendwie passend, sich Rhythamuns übler Tricks zu seinem eigenen Vorteil zu bedienen. Er gab sich Mühe, die Aussprache und Beto nung eines Kerners nachzuahmen. »Nicht schlecht«, sagte Bracht. »Du wirst problemlos als freier Söldner durchgehen. Außerdem steht in deinem Steckbrief kein Wort davon, daß du in Begleitung unter wegs bist.« Er drehte sich zu Katya um und deutete auf Calandryll. »Was meinst du dazu?« Katya nickte. »Ich würde euch beide für Schwert kämpfer halten, auf keinen Fall für Prinzen.« »Was wir ja auch sind.« Bracht grinste. »Und wir ha ben noch einen Vorteil; solange du bei uns bist, wird kein Mann genauer auf uns achten.« Das Lächeln, mit dem sie auf seinen launischen Spruch reagierte, war nur flüchtig, und Calandryll erkannte, daß ihr Tekkans Abwesenheit mehr zu schaffen machte, als sie zugeben wollte. Ihm wurde auf einmal bewußt, daß sie bisher nur selten – wahrscheinlich sogar noch nie – von ihrem Vater getrennt gewesen war.
»Jetzt bin ich also zu einem Halbblut aus Cuan na'For geworden«, sagte er knapp. »Wollen wir aufbrechen?« »Aye!« Bracht warf Calandryll dessen Gepäck zu, ergriff seine eigenen Sachen, nahm Katya beim Arm und führte sie aus dem Zimmer. Sie hatte ihre Satteltaschen bereits gepackt, und so mußten sie nur noch ihre Rechnung bezahlen und die Pferde besteigen. Kurz darauf verließen sie Aldarin durch das Nordtor, und jeder, der sie sah, hätte sie wahrscheinlich für drei vagabundierende Söldner gehalten, die auf der Suche nach einer neuen Anstellung unterwegs in die Grenzre gionen Lysses waren.
KAPITEL 9 Die Straße folgte der Küstenlinie nördlich von Aldarin über Wessyl nach Eryn mit seinen Werften und von dort aus weiter zu der befestigten Garnisonsstadt Gannshold. In östlicher Richtung verband sie Aldarin mit Secca, Secca mit Hyme und Hyme wiederum mit Gannsholds Schwester-Stadt Forshold, bevor sie sich durch das Vor gebirge des Gannmassivs schlängelte und die Runde durch Lysse in Gannshold beendete. Sie war die Haupt verkehrsader des Landes, über die der Handel und Post verkehr abgewickelt wurde, und gelegentlich wurde sie auch von den marschierenden Armeen benutzt. Die Stra ße war gut ausgebaut, verlief größtenteils auf einem künstlichen, von Entwässerungsgräben gesäumten Damm und war mit großen Steinplatten gepflastert, in denen die Räder unzähliger Wagen, Karren und Kut schen Furchen hinterlassen hatten. Daß die Rinnen trotz dem nicht allzu tief waren, zeugte von der Festigkeit des Belages. Die von Zeit zu Zeit erforderlichen Reparaturar beiten wurden von den Städten ausgeführt, in deren Einzugsbereich die schadhaften Stellen lagen. Jede Stadt markierte die Grenzen ihres Einflußbereichs durch Stein tafeln, und das zwischen diesen Meilensteinen liegende Land wurde von keiner Stadt beansprucht. Eine lockere
Bindung bestand lediglich durch die ökonomischen Ver flechtungen, da in diesen Gebieten die Farmen und Bau ernhöfe lagen, die ihre Produkte auf den Märkten der ihnen nächstgelegenen Städte verkauften und ihrerseits auf die Waren der Handwerksbetriebe angewiesen wa ren, die sich im Schutz der Stadtmauern angesiedelt hatten. Diese Straße war es auch, der die drei Abenteurer folg ten, denn sie stellte den kürzesten Weg nach Gannshold dar, und obwohl sie sie zwangsläufig durch die Städte führen würde, in denen Calandrylls Ächtung die Gefähr ten vor Probleme stellen könnte, erschien ihnen der Zeit faktor als vordringlich, und sie vertrauten darauf, daß sie durch die Veränderungen, die Bracht an Calandrylls Aussehen vorgenommen hatte, ihr Ziel ohne ernste Zwi schenfälle erreichen würden. Sie ritten zügig. Der große Hengst des Kerners gab das Tempo vor. Calandrylls Brauner und Katyas Schimmel hielten problemlos mit ihm Schritt und stellten damit unter Beweis, was für ein hervorragender Pferdekenner Bracht war. Die Sonne hatte sich noch nicht dem westli chen Horizont entgegengeneigt, als sie Aldarin bereits weit hinter sich gelassen hatten. Die Straße verlief schnurgerade durch die winterlich kargen Weiden, auf denen Rinder an den kümmerlichen Grasresten zupften, die unter einer tauenden dünnen Schneeschicht zutage traten. Allmählich wurde der Himmel dunkler, und der Wind, der vom Engen Meer her kam, frischte auf. Längs
der Straße waren Obstbäume gepflanzt worden, die ihre kahlen Zweige wie in einer stummen flehenden Geste dem aufgehenden Mond entgegenreckten. Als die Schat ten länger wurden, sahen sie vor sich in der Ferne die Lichter eines Bauernhauses schimmern. Calandryll wuß te, daß es von dort aus nicht mehr weit bis zur nächsten Karawanserei war, die etwa eine Tagesreise mit einem Wagen von der Stadt entfernt neben der Straße lag. Bei ihrer Geschwindigkeit würden sie dort eintreffen, bevor es völlig dunkel geworden war, und sie beschlossen, dort Rast zu machen. »Tobias wird ebenfalls dort vorbeigekommen sein!« rief Calandryll über das Trommeln der Hufe hinweg. Er traute seiner Verkleidung immer noch nicht ganz. »Er wird dort zweifellos einen Steckbrief von mir hinterlas sen haben!« »Einen Steckbrief von Calandryll den Karynth!« rief Bracht zurück. Er dachte einen Moment lang nach und grinste, als ihm ein passender Name einfiel. »Nicht von Calan aus dem Clan der Asyther. Aye … Calan, das hat einen guten Klang.« Calandryll akzeptierte seinen neuen Namen mit einem Nicken, aber sein Gesicht mußte einen Rest von Zweifeln widergespiegelt haben, denn Bracht fügte hinzu: »Ahrd, Mann! Niemand wird dich jetzt wiedererkennen. Abge sehen vielleicht von denen, die dich früher gekannt ha ben, und auch die nur, wenn sie ganz genau hinsehen. Was meinst du, Katya?«
Er sah zu ihr hinüber, und sie rief ihm eine Bestäti gung zu, aber ihr Gesicht blieb ernst, und Calandryll dachte sich einmal mehr, daß ihr die Trennung von ihren Landsleuten sehr schwerfallen mußte. Er nahm an, daß sie mit der Zeit darüber hinwegkommen würde. Ihm war es auch gelungen, wenn sich sein Abschied aus dem vertrauten Secca und von seiner Familie auch unter et was anderen Umständen abgespielt hatte. Er lächelte ihr in dem Versuch zu, sie aufzumuntern, doch sie reagierte lediglich mit der Andeutung eines Lächelns darauf, das gleich wieder einem grimmig entschlossenen Ge sichtsausdruck Platz machte, und Calandryll kam zu dem Schluß, daß es besser wäre, sie in Ruhe zu lassen, bis sie mit sich selbst ins reine gekommen war. Ob Bracht schon vor ihm zu der gleichen Erkenntnis gekommen war oder Katyas Unbehagen gar nicht be merkte, weil er sich von seiner Begeisterung darüber mitreißen ließ, wieder auf einem Pferderücken zu sitzen, hätte Calandryll nicht sagen können. Nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, vermutete er, daß das erstere zutraf, denn auch wenn der Kerner Katya gegen über nicht viel Mitgefühl erkennen ließ und sie genauso wie immer behandelte, schien das in dieser Situation die beste Vorgehensweise zu sein. Katya gehörte nicht zu den Frauen, die es schätzen, wenn man ihnen mit über triebenem Mitleid begegnet. Außerdem hatte Calandryll im Augenblick ganz ande re Probleme. Nach der langen Zeit auf See hatte er völlig
vergessen, wie es war, auf einem Pferd zu sitzen, beson ders bei dem scharfen Tempo, das Bracht vorlegte. Jetzt wurde ihm wieder bewußt, daß das Reiten mit keiner anderen Fortbewegungsart vergleichbar war. Er stellte fest, daß er sich immer ungeduldiger danach sehnte, endlich in der Karawanserei einzutreffen, wo es be stimmt Bäder und weiche Betten gab. Das ständige Rüt teln des Sattels ließ einen dumpfen Schmerz in seinem Hinterteil entstehen, der nach und nach in seinen gesam ten Körper ausstrahlte. Er war dankbar, als schließlich Lichter in der Dunkelheit vor ihnen aufschimmerten und der Kerner seinen Hengst in den Schritt fallen ließ. Bracht beobachtete die Karawanserei mit der ihm eigenen ins tinktiven Vorsicht, bevor er sich ihr näherte. Die Raststation lag etwas abseits der Straße und wur de von einer brusthohen Mauer aus schweren Steinblö cken umgeben. Das Tor, von dem eine einzelne Laterne herabhing, stand offen. Im hellen Licht, das aus den Fenstern fiel, war ein rechteckiges, zweistöckiges Gebäu de mit einem von einer Brüstung umgebenen Flachdach zu erkennen, hinter dem Ställe und eine Scheune lagen. Als sie auf den Hof ritten, liefen ihnen zwei barfüßige Jungen entgegen und boten ihnen an, für ihre Pferde zu sorgen. Es überraschte Calandryll nicht im geringsten, daß der Kerner darauf bestand, vorher persönlich die Ställe zu inspizieren, und ihm vorschlug, sich um Katyas Pferd zu kümmern, damit sie die Gelegenheit hatte, sich ein wenig zu entspannen. Calandryll konnte ein beifälli ges Lächeln über diesen einfachen Beweis von Brachts
Ritterlichkeit nicht unterdrücken. Katya nahm das Angebot an und verschwand etwas steifbeinig in der Herberge. Calandryll, der sich durch den Ritt mehr als nur ein wenig zerschlagen fühlte, über gab die Zügel einem der Jungen und humpelte zu den Ställen. Brachts Überprüfung der Ställe war zu seiner Zufrie denheit ausgefallen, und nachdem sie den Pferden die Sättel abgenommen und den Jungen Geld gegeben hat ten, damit sie die Tiere trockenrieben und ihnen Fressen gaben, folgten die beiden Männer Katya in die Karawan serei. Der überwiegende Teil des Erdgeschosses wurde von einem großen Raum eingenommen, dessen rückwärtiger Teil den Speisesaal bildete, während der Rest als Schenke diente. In einem geräumigen Kamin flackerte ein großes Feuer. Die Fensterläden waren geschlossen, so daß die Wärme nicht entweichen konnte. Ein paar Reisende nahmen gerade ihr Abendessen ein oder saßen im Schankbereich vor Krügen mit schäumendem Bier oder Weinflaschen. Sie blickten auf, als Calandryll und Bracht eintraten, schenkten ihnen jedoch nicht mehr Beachtung als irgendwelchen beliebigen Neuankömmlingen und setzten nach einer oberflächlichen Musterung ihre Ge spräche fort. Von Katya war nichts zu sehen. Calandryll und Bracht steuerten den Tresen an, wo sie von einem fülligen Mann mit gerötetem Gesicht und hellem spärli chen Haar, das er sich in dünnen Strähnen über den kahl
werdenden Schädel gekämmt hatte, gutgelaunt begrüßt wurden. Am Regal hinter ihm, in dem Steingutkrüge standen, hing Calandrylls Steckbrief, und bei seinem Anblick zuckte der junge Mann zusammen. Er zog den Mantel enger um sich, während sich seine Hand instink tiv auf den Griff seines Schwertes senkte. Bracht dagegen ließ nicht das geringste Zögern erken nen. Statt dessen bestellte er Bier, wie es jeder durstige Reisende getan hätte, und erkundigte sich, wo Katya steckte. »Sie wollte ein Bad nehmen«, erklärte der Wirt, wäh rend er Bier aus einem Fäßchen zapfte. »Sie hat gesagt, Ihr wolltet zwei Zimmer.« »Aye«, bestätigte Bracht. »Und außerdem wollen wir selbst baden.« »Sobald die Dame fertig ist.« Der dicke Mann stellte die Krüge vor ihnen ab und musterte ihre Gesichter mit unverhüllter Neugier. »Ihr seid Kerner, nicht wahr? Weit weg von zu Hause, was? Freie Söldner?« Bracht nickte. Calandryll hatte Mühe, den Blick von dem Steckbrief abzuwenden. Der Wirt bemerkte das Interesse seines Gastes und grinste. Er drehte sich um und betrachtete selbst das Bild. »Zehntausend Varre, was? Wirklich eine hübsche Belohnung. Fragt Ihr Euch, was er verbrochen hat?« Dann wandte er sich wieder den beiden Neuankömmlingen zu. »Der Domm Tobias hat hier Rast gemacht, müßt Ihr wissen. Er und seine Gemah lin. Sie waren auf der Durchreise, und er hat das aufhän
gen lassen.« In seinem Blick oder seiner Stimme war keine Spur von Mißtrauen zu entdecken, und Calandryll spürte, wie er sich allmählich entspannte. Neben ihm trank Bracht voller Genuß sein Bier und starrte den Steckbrief an. »Aye, das wäre ein schöner Verdienst«, murmelte er und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. »Ich hätte nichts dagegen, das Geld einzustreichen, wenn ich diesem Kerl begegnen würde.« Der Wirt lehnte sich mit seinem dicken Bauch gegen den Tresen und zuckte die Achseln. »Den Gerüchten zufolge ist er nach Kandahar geflohen«, erzählte er in einem Tonfall, als gäbe er vertrauliche Informationen preis. »Es heißt, er hätte seinen Vater vergiftet und dann versucht, seinen Bruder umzubringen – das ist der Domm, der hier Rast gemacht hat –, aber sein Plan ist fehlgeschlagen, und er hat Zuflucht bei den kandischen Rebellen gesucht. Habt Ihr davon gehört?« Bracht nickte feierlich. »Und wohin führt Euch Euer Weg?« wollte der ge schwätzige Wirt wissen. »Zurück nach Hause, was? Üb rigens, ich heiße Portus.« »Bracht«, stellte sich der Kerner vor und deutete mit dem Bierkrug auf Calandryll. »Das ist Calan.« »Seid mir willkommen, Ihr beiden«, sagte Portus. »Be gleitet Ihr die Dame? Nicht, daß sie viel zu befürchten hätte, so wie sie auftritt.«
»Das hat sie auch nicht«, stimmte ihm Bracht zu. Portus schien mehr an seinen eigenen Fragen als an ih ren Antworten interessiert zu sein. Er plauderte munter weiter, während er sich selbst einen Krug Bier zapfte. »Ihr seid also unterwegs nach Norden, was? Wir be kommen hier nur selten Kerner zu Gesicht. Ab und zu mal ein paar freie Söldner wie Euch oder einen der weni gen Pferdehändler, die versuchen, in den südlichen Städ ten ein besseres Schnäppchen als in Gannshold zu ma chen.« Nachdem er jetzt sicher war, daß seine Verkleidung ihren Zweck erfüllte, beschloß Calandryll, sich in das Gespräch einzumischen. Er bemühte sich um eine Aus sprache, von der er annahm, daß sie in etwa Brachts Akzent glich, und sagte: »Wir haben erst kürzlich von einem gehört. Vielleicht habt Ihr ihn gesehen; einen Mann namens Daven Tyras.« »Ein Halbblut. Ist vor einer Weile hier vorbeigekom men«, erwiderte Portus. »Hat kaum den Mund aufge kriegt, der Kerl, aber soweit ich mich erinnere, hat er sich so genannt.« »Ein Mann mit sandfarbenem Haar und einer gebro chenen Nase?« hakte Calandryll nach. »Das ist er«, bekräftigte Portus. »Ein Freund von Euch, oder?« »Wir kennen ihn«, sagte Calandryll, froh über diese Bestätigung. Wenn Rhythamun auch ein paar Wochen Vorsprung hatte, so waren sie doch zumindest auf der
richtigen Spur. »Ein Pferdehändler aus Gannshold.« »Hat nicht gesagt, wohin er wollte.« Portus zuckte die Achseln. »Eigentlich hat er so gut wie gar nichts gesagt. Ein unfreundlicher Zeitgenosse, hab' ich mir gedacht. Das soll aber keine Beleidigung gegen die Kerner sein.« »Haben wir auch nicht so verstanden«, beruhigte ihn Bracht. Portus nickte ihm zu, und als er sah, daß ihre Krüge leer waren, schenkte er ihnen ohne zu fragen nach. »Hat auch nicht viel getrunken…« Er strahlte sie an. »Und ich habe die Erfahrung gemacht, daß das ziemlich unge wöhnlich für einen Kerner ist. Ihr trinkt sehr gern Bier, Ihr Burschen.« »Nur wenn es gut ist«, sagte Bracht. »Ihr werdet nirgendwo ein besseres bekommen.« Der dicke Mann leerte seinen Krug, setzte ihn ab und schmatzte genüßlich mit den Lippen. »Das Aldatal mag ja berühmt für seine Weine sein, aber ich schätze, wir brauen auch eins der besten Biere.« Er erweckte den Eindruck, als wollte er diese belang lose Plauderei den ganzen Abend lang fortsetzen, und Calandryll, der spürte, wie seine Schultern und Beine allmählich steif wurden, begann sich zu fragen, wie sie seiner Geschwätzigkeit entgehen sollten. Die Entschei dung wurde ihm abgenommen, als eine Frau den Kopf durch eine halbgeöffnete Tür streckte und rief, daß die Dame ihr Bad beendet hätte und jeder, der noch baden wollte, sich jetzt melden sollte.
»Diese beiden!« rief Portus zurück. »Ihr habt doch nichts dagegen, Euch eine Wanne zu teilen, oder?« fragte er. »Nicht, wenn das Wasser heiß genug ist«, erwiderte Calandryll. »Heiß genug, um Hummer darin zu kochen«, ver sprach der Wirt. »Und da wir gerade bei diesem Thema sind, soll ich die Küche anweisen, ein Abendessen für Euch vorzubereiten? Wir haben nur ein Einheitsgericht hier, aber ich kann Euch versichern, daß es gut ist.« »Wir essen, sobald wir gebadet haben«, erwiderte Bracht. »Ein Junge wird Euch Euer Zimmer zeigen«, sagte Portus. »Der Schlüssel steckt in der Tür, und bis Ihr zu rückkommt, wird Euer Essen fertig sein.« Der Kerner nickte ihm zu und trank sein Bier aus. Ca landryll folgte seinem Beispiel ein wenig langsamer. Sie ergriffen ihre Satteltaschen und gingen zu der Tür auf der anderen Seite des Schankraumes, von der aus eine schmale Treppe zum oberen Stockwerk und an der Kü che vorbeiführte, aus der appetitliche Düfte drangen, die Portus' Eigenlob bestätigten. Die Frau, die ihnen zugeru fen hatte, daß das Bad wieder frei sei, deutete auf eine weitere Tür, aus der Dampfwolken quollen. »Es ist alles bereit«, sagte sie und wischte sich das ver schwitzte Gesicht an der Schürze ab. »Sagt Bescheid, wenn Ihr fertig seid.« Sie betraten das Badezimmer, wo sie eine riesige höl
zerne Wanne voller fast noch kochendem Wasser und einen Tisch mit grober Seife, rauhen Handtüchern und zwei Kübeln mit kaltem Wasser vorfanden. Calandryll und Bracht zogen sich sofort aus und stiegen in die Wan ne. Beide lehnten ihre Schwerter griffbereit an den Au ßenrand. »Wir sind Rhythamun also auf der Spur«, meinte Bracht, während er sich eifrig die narbige Brust scheuer te. »Aber wir liegen Wochen hinter ihm zurück.« Ca landryll spürte, wie sich die schmerzhaften Verspannun gen in seinen Muskeln lösten, und seufzte zufrieden. Wie knapp ihre Zeit auch bemessen sein mochte, im Augen blick wollte er sich nur noch im Wasser zurücklehnen und es seine heilsame Wirkung tun lassen. »Er gibt sich keine Mühe, sich zu tarnen«, stellte Bracht fest, »und vielleicht hat er es nicht einmal sonder lich eilig. Wenn wir zügig weiterreiten…« »Aye.« Calandryll ließ sich tiefer in das Wasser sinken, bis es sein Kinn umspülte. Die Hitze machte ihn schläf rig. Es fiel ihm schwer, an Rhythamun zu denken, wäh rend er sich entspannte, und noch schwerer, darüber nachzudenken, wie sie vorgehen sollten, falls – wenn! – sie ihn einholten. Er zwang sich, die schweren Augen zu öffnen und sich zu konzentrieren. »Und was dann?« »Dann…«, Bracht zuckte die Achseln und grinste über das ganze Gesicht. »Dann passiert, was eben passiert. Vielleicht greifen die Götter in irgendeiner Form ein.«
Calandryll gab ein vages zustimmendes Brummen von sich, war aber längst nicht so zuversichtlich wie der Ker ner. Trotz Burashs Eingreifen in Kandahar war er nicht davon überzeugt, daß sie sich auf die Hilfe der Jüngeren Gottheiten verlassen konnten, aber andererseits konnte er sich auch nicht vorstellen, wie sie ohne ihre Unterstüt zung den Schwarzmagier besiegen sollten. Er schob die Zweifel beiseite, richtete sich in der Wan ne auf und begann, sich so entschlossen einzuseifen, daß Wasserspritzer über den Wannenrand schwappten. Nachdem sie aus der Wanne gestiegen waren, sich mit kaltem Wasser abgespült, abgetrocknet und wieder an gezogen hatten, verließen sie das Badezimmer und riefen nach jemandem, der ihnen ihr Zimmer zeigte. Einer der Stalljungen kam herbeigerannt und führte sie die Treppe empor zu ihrem Zimmer, das auf den Hof hinausging. An den Wänden standen zwei Betten, zwischen denen ein großes Ofenrohr vom Boden zur Decke verlief und wohlige Wärme verbreitete. »Die Dame wartet unten auf Euch«, sagte der Junge und starrte sie aus großen Augen neugierig an. »Seid Ihr wirklich freie Söldner aus Kern?« »Aye«, bestätigte Bracht, und als das Kind schließlich verschwunden war, fügte er an Calandryll gewandt hinzu: »Anscheinend erfüllt deine Verkleidung ihren Zweck.« »Sieht so aus.« Calandryll rückte das Schwert an seiner Hüfte zurecht und grinste wehmütig. »Solange ich zu
Fuß unterwegs bin. Mein Körper hat völlig vergessen, wie hart ein Sattel ist.« Bracht schmunzelte. »Nach ein paar Tagen wird sich das wieder ändern.« »Aye«, ächzte Calandryll, »nach ein paar sehr harten Tagen.« Immer noch schmunzelnd schob ihn Bracht durch die Tür. Sie gingen zum Gemeinschaftsraum hinunter und blickten sich nach Katya um. Sie saß allein im hinteren Teil des Speisesaales. Ein Krug Bier stand unberührt vor ihr. Mit düsterer Miene ignorierte sie die neugierigen Blicke, die ihr die anderen Gäste zuwarfen. Das Lächeln, mit dem sie Calandryll und Bracht begrüßte, war nur flüchtig, und in ihren grauen Augen lag ein undefinierbarer Ausdruck. Die Männer nahmen rechts und links von ihr Platz, als Portus geschäftig mit randvoll gefüllten Bierkrügen herbeigeeilt kam und verkündete, daß ihr Essen gleich serviert wer den würde. »Bist du mit dem Schimmel zufrieden?« erkundigte sich Bracht. »Du hast eine gute Wahl getroffen.« Katyas Stimme klang dumpf, und Calandryll sah Be sorgnis in Brachts Augen aufflackern. Er versuchte, sie dadurch abzulenken, indem er ihr berichtete, was sie über Daven Tyras erfahren hatten, aber sie blieb nach wie vor in sich gekehrt, was sonst nicht ihre Art war, und nickte nur knapp.
»Wenn wir ein scharfes Tempo anschlagen und Rhythamun es nicht eilig hat«, sagte Bracht mit einem Seitenblick auf Calandryll, »könnten wir ihn noch über holen, bevor wir Gannshold erreichen.« »Aye«, war alles, was Katya darauf antwortete. Ca landryll sah, wie sich Brachts Stirn in Falten legte, und er vermutete, daß sich in seinem eigenen Gesicht ebenfalls Verunsicherung über Katyas ungewöhnliche Schwermü tigkeit widerspiegelte. Kurz darauf wurde die Suppe serviert, und sie aßen eine Weile wortlos, bis Katya schließlich das Schweigen brach. »Ich hätte nicht gedacht, daß es sich so anfühlen wür de«, murmelte sie und schob den erst halb geleerten Teller von sich. »Ich fühle mich … allein.« »Wir sind bei dir«, sagte Bracht sanft. »Aye.« Sie schenkte ihren Gefährten ein zaghaftes Lä cheln. »Dafür bin ich euch auch dankbar, aber…« Sie schüttelte den Kopf und schlug die Augen nieder, als die Suppenschalen abgeräumt und durch Teller mit gebrate nem Fleisch ersetzt wurden. »Verzeiht mir.« Es erschreckte Calandryll, Tränen in ihren Augenwin keln glitzern zu sehen, ein Zeichen einer Verletzbarkeit, die er nie zuvor an ihr bemerkt hatte und die er nie für möglich gehalten hätte. Er sah, wie Bracht ihre Hand ergriff, sie behutsam hielt, sich vorbeugte und leise mit ihr sprach. Calandryll konnte nicht verstehen, was Bracht sagte, aber Katyas Miene hellte sich ein wenig auf. Sie
nickte einmal kurz, richtete sich gerader auf und dehnte ihre Schultern, als wollte sie die Niedergeschlagenheit von sich abschütteln. »Ich bin noch nie von meinen Leuten getrennt gewe sen«, sagte sie ruhig. »Ich habe nie daran gedacht, daß wir uns würden trennen müssen, und als wir es getan haben, habe ich nicht erwartet, daß es sich so anfühlen würde. Es wird irgendwann vergehen, nehme ich an.« Den letzten Satz hatte sie energischer gesprochen, als müßte sie sich selbst von ihren Worten überzeugen, und Bracht versicherte: »Das wird es, mein Wort darauf.« »Und auf dein Wort ist Verlaß«, erwiderte sie genauso leise wie zuvor. Bracht nickte. »Ich weiß, wie es ist, seine Heimat und seine Landsleute zu verlassen und in die Fremde zu gehen. Calandryll kennt dieses Gefühl ebenfalls. Wir sind drei heimatlose Wanderer, aber solange wir zusammen sind, sind wir in gewisser Weise unter Landsleuten.« Katya lächelte über seine Ermutigung, aber noch im mer umgab sie eine Aura der Verlorenheit. Es schien, als wollte sie ihm zwar glauben, aber es gelänge ihr nicht so recht. »Die Zeit heilt die Wunden, die einem eine Trennung zufügt«, behauptete Calandryll, und er hätte noch mehr gesagt, wäre Portus nicht in diesem Moment erschienen. Der Wirt nahm mit einem unbekümmerten Mangel an Feingefühl an ihrem Tisch Platz, erkundigte sich, wie es ihnen schmeckte, ohne in seiner Leutseligkeit Brachts
unfreundlichen Blick zu bemerken, und ließ sich über Katyas Appetitlosigkeit aus, als fürchtete er, seine Koch künste würden ihren Geschmack nicht treffen. »Das Essen ist ausgezeichnet«, erklärte Calandryll taktvoll, »aber wir haben einen anstrengenden Ritt hinter uns, und die Dame ist müde.« Katya quittierte seine Bemühungen mit einem dankba ren Blick und entschuldigte sich kurz darauf. »Wir brechen mit dem ersten Tageslicht auf!« rief Bracht ihr hinterher, was sie mit einem Winken zur Kenntnis nahm. Portus folgte ihr mit bewundernden Blicken. »Eine schöne Frau«, murmelte er. »Ganz anders als alle Kerne rinnen, die ich bisher gesehen habe.« Beide Männer ignorierten die unausgesprochene Frage in der Bemerkung des Wirtes, aber entweder registrierte Portus ihre Schweigsamkeit überhaupt nicht, oder aber es machte ihm nichts aus, denn kurz darauf verwickelte er sie schon wieder in ein ziemlich einseitiges Gespräch. Sie aßen weiter, während er redete, zufrieden damit, ihm zuzuhören und so viele Neuigkeiten wie möglich aufzu schnappen. So erfuhren sie, daß Tobias vor einigen Wo chen eine Nacht in der Karawanserei verbracht hatte und daß aus Kandahar berichtet wurde, das Land hätte sich in zwei Lager gespalten, daß Sathoman ek'Hennem die gesamte Ostküste kontrollierte, während der Tyrann eine große Armee zusammenzog, um gegen die Rebellen zu marschieren, und daß der gesamte Handel mit dem vom
Bürgerkrieg zerrissenen Königreich zum Erliegen ge kommen wäre. Das meiste war Tratsch, der sie weder sonderlich interessierte noch irgendwelche brauchbaren Informationen enthielt, sah man davon ab, daß sie unter anderem erfuhren, daß Daven Tyras ohne Begleitung unterwegs war und ein geschecktes Pferd ritt. Sie ließen den Wirt quasseln, bis seine Aufmerksamkeit von ande ren Gästen in Anspruch genommen wurde, die etwas bestellen wollten, und ergriffen die Gelegenheit, um ihr Zimmer aufzusuchen. Die Betten erwiesen sich als so weich, wie Calandryll es sich erhofft hatte. Er sank schnell in einen traumlosen Schlaf, aus dem er nur widerwillig erwachte, als Bracht ihn an der Schulter rüttelte und ihn aufforderte aufzuste hen. Calandryll schob sich aus seinem warmen Bett, kleide te sich zitternd an und vergaß nicht, sich das Haar zu rückzukämmen und im Nacken zusammenzubinden, wie es in Cuan na'For üblich war. Dabei fiel ihm ein, daß er das Kissen überprüfen sollte, und zu seiner Zufriedenheit entdeckte er keine Spur von schwarzer Farbe auf dem Leinenbezug. Das Färbemittel des Kerners schien sehr gut zu sein. Schließlich ergriffen sie ihre Mäntel und Satteltaschen und suchten Katyas Zimmer auf. Die Kriegerin war bereits angezogen und drängte zum Aufbruch, obwohl sie kein bißchen fröhlicher als am Vortag wirkte. Calandryll vermutete, daß sie in erster Linie deshalb weiterreiten wollte, weil der Ritt sie von
ihrem Kummer ablenken würde. Jedenfalls frühstückte sie mit besserem Appetit – oder schlang ihr Frühstück zumindest eiliger herunter –, als stellte es nur eine lästige Verzögerung der Weiterreise dar. Im kalten Morgenlicht war Portus längst nicht so ge schwätzig wie am Abend zuvor. Sie bezahlten ihre Rech nung und holten ihre Tiere aus den Ställen. Die Sonne war gerade erst über den Horizont geklet tert, eine trübe Scheibe aus mattem Gold, die fahles Licht auf das mit Rauhreif überzogene Kopfsteinpflaster warf. Sie legten ihren Pferden mit in der Kälte dampfendem Atem das Zaumzeug an und sattelten sie. Abgesehen vom Wirt und seinen Bediensteten war um diese frühe Stunde noch niemand auf den Beinen, und sie ritten mit klappernden Hufen zur Straße zurück, als seien sie die einzigen Menschen auf der Welt. Im Norden hingen schiefergraue Wolken tief am Himmel, deren Unterseiten von der tiefstehenden Sonne in gelbliches Licht getaucht wurden. Sie kündigten einen für die Jahreszeit unge wöhnlichen Schneefall an. Der Wind blies von der See her und trug die scharfen Gerüche des nahen Meeres mit sich, aber schon bald darauf drehte er auf Nord und trieb ihnen die Wolken entgegen. Um die Mitte des Vormitta ges begann Schnee aus einem mittlerweile völlig grau gewordenen Himmel zu rieseln, schmolz auf ihren Män teln und dem Fell der Pferde zu großen Tropfen und überzog die Landschaft mit einer weißen Schicht. Gegen Mittag schneite es heftiger. Der Schnee bedeckte die
Straße und ließ den festgestampften Lehm tückisch glit schig werden, so daß die Gefährten gezwungen wurden, ihr Tempo zu drosseln, damit die Pferde nicht strauchel ten. Trotzdem kamen sie immer noch so schnell voran, daß sie noch in der ersten Hälfte des Nachmittags die zweite Karawanserei erreichten. Sie machten nur kurz Rast, um ihren Tieren eine Ver schnaufpause zu gönnen, Glühwein zu trinken und ge nügend Vorräte für die Nacht und den nächsten Tag zu kaufen. Dann brachen sie wieder auf, gegen den Rat des Wirtes, der ihnen versicherte, daß noch mehr Schnee fallen würde, wahrscheinlich während des gesamten restlichen Tages und die ganze Nacht hindurch. Seine Warnung erwies sich als zutreffend. Der Schnee fiel immer dichter, bildete einen weißen, treibenden Vor hang, der genauso undurchdringlich wie die Dunkelheit war und die Dämmerung früh hereinbrechen ließ, als sie sich auf einem einsamen Straßenabschnitt befanden, der durch einen Wald führte. Große Bäume streckten ihre kahlen Äste über die Straße, ihre Stämme bildeten den einzigen Schutz vor der Witterung. Bracht ordnete eine Rast an. Calandryll war in dieser trostlosen Landschaft nur zu gern bereit, ihm die Füh rung zu überlassen, und Katya hatte ihre Mutlosigkeit immer noch nicht überwunden. Der Kerner führte sie ein Stückchen von der Straße fort. Er schien überhaupt nicht beunruhigt durch die Umstände und lenkte seinen Hengst tiefer in den Wald hinein, bis er auf eine Lichtung
stieß, wo Zypressen und Zedern so dicht beisammen standen, daß sich ihre Äste berührten und ein löchriges Dach bildeten. Dort stieg er ab und wies Calandryll und Katya an, Feuerholz zu suchen, während er die Pferde abrieb und jedem eine Satteldecke über den Rücken legte. Calandryll hatte geglaubt, mittlerweile in der Wildnis überleben zu können, aber zu seiner Beschämung gelang es ihm nicht einmal, die aufgestapelten Zweige in Brand zu setzen. Die Funken, die er mit seiner Zunderdose erzeugte, verglühten zwischen den dürren Zweigen, ohne daß auch nur das kleinste Flämmchen aufgezüngelt wäre. Immer wütender bearbeitete er die Reibfläche mit dem Feuerstein, ohne jedoch mehr damit zu erreichen, und fluchte vor Enttäuschung über seine Unfähigkeit. Er zuckte zusammen, als eine Hand seine Schulter berührte, und drehte sich mit rotem Gesicht zu Katya um, die hinter ihm stand. »So geht das«, sagte sie mit einem kurzen entschuldi genden Lächeln, kauerte sich nieder, schob eine Hand voll Moos zwischen die Zweige, nahm ihm die Zunder dose aus der Hand und rief gleich mit ihrem ersten Ver such ein Flämmchen ins Leben. »Es erfordert ein bißchen Übung.« »Die unserem vogelfreien Prinzen fehlt«, bemerkte Bracht grinsend. Früher, in einem anderen Leben, hätte sich Calandryll wahrscheinlich über die gutmütige Stichelei des Kerners geärgert, jetzt aber zuckte er nur die Achseln und grinste
zurück. »Meine Zeit mit dir ist eine ununterbrochene Lehre«, stellte er schmunzelnd fest. »Dann erhältst du jetzt gleich eine weitere Lektion«, erklärte Bracht. »Ich werde dir zeigen, wie man eine Schlafhöhle baut.« Er zog Calandryll mit sich in den Wald, während Ka tya das Feuer mit ihrem Atem weiter anfachte, und zeigte ihm abgestorbene Äste, die sich für eine grobe Unterlage eigneten, sowie solche, aus denen man ein Schutzdach anfertigen konnte. Unter seiner Anleitung bastelte Ca landryll eine einfache, an einen Baumstamm gelehnte Hütte. Der Kerner brauchte für die beiden anderen weit aus weniger Zeit. »Vorläufig kommen wir damit aus«, meinte er, »aber spätestens in Wessyl müssen wir uns eine witterungs taugliche Ausrüstung besorgen.« »Wir hätten daran denken sollen, Segeltuchplanen vom Kriegsboot mitzunehmen«, murmelte Katya. Die kurze Aufheiterung, die Calandrylls vergebliche Bemü hungen, ein Feuer zu entzünden, in ihr hervorgerufen hatte, schmolz dahin wie die Schneeflocken, die durch die Zweige über ihnen rieselten. »Ich hätte nicht gedacht, so tief im Süden auf Schnee zu treffen«, sagte Bracht. Katya nickte wortlos, kauerte sich vor das Feuer und streckte den emporzüngelnden Flammen die Hände entgegen. Sie hielt den Kopf gesenkt, als suchte sie Trost
in der Wärme. »Trotzdem werden wir es einigermaßen gemütlich ha ben.« Bracht stand direkt hinter ihr. Calandryll glaubte schon, der Kerner würde die Hand ausstrecken und sie berühren, aber Bracht schien es sich anders zu überlegen. Er hielt sich zurück und fügte nur hinzu: »Wenigstens werden wir im Trockenen schlafen, und wir haben etwas zu essen.« Er erhielt keine Antwort, bedachte sie mit einem be sorgten Blick und stellte einen Topf mit Schnee auf das Feuer, in den er die Vorräte hineinwarf, die sie in der Karawanserei gekauft hatten. Kurz darauf brodelte ein appetitlich duftender Eintopf. Durch den langen Ritt und die Kälte aßen sie hungrig, und der Eintopf wärmte sie von innen. Bracht versuchte mehrmals, ein munteres Gespräch in Gang zu bringen, aber Katya blieb stumm, solange sie nicht direkt ange sprochen wurde. Ihre düstere Stimmung betonte die Trostlosigkeit ihrer Umgebung noch. Irgendwann gab der Kerner seine Versuche auf und schlug vor, daß sie schlafen gingen. Er legte Holz nach, damit das Feuer in der Nacht nicht erlosch, und jeder kletterte in seine im provisierte Schlafstelle. Calandryll streckte sich auf der Unterlage aus elasti schen Zweigen aus, die einigermaßen bequem war. Die Äste über ihm und sein Mantel hielten den Schnee, wenn auch nicht die Kälte ab, die ihm unerbittlich bis ins Mark kroch. Das Feuer wärmte ihn auf der einen Seite, wäh
rend die andere Körperseite eisig blieb, wie eng er sich auch in seinen Mantel einwickelte. Er drehte sich ständig herum und fragte sich, wie es seinen Gefährten erging. Sie schienen beide besser mit solchen harten Bedingun gen zurechtzukommen, denn während er ununterbro chen zitterte, hörte er keinen Laut aus ihren Schlafstellen, nur das Knacken der brennenden Äste, das leise Zischen schmelzender Schneeflocken und das gelegentliche Stampfen und Schnauben der Pferde. Calandryll hatte geglaubt, sich mittlerweile an Unannehmlichkeiten ge wöhnt zu haben, aber das hier war etwas ganz anderes, als in Kandahar im Freien zu schlafen oder die Nächte in der stickigen Hitze von Gessyth zu verbringen, und er begann sich zu fragen, wie es ihm auf den weiten Ebenen in Cuan na'For ergehen würde, sollten sie dieses Land betreten müssen. Er nahm an, daß er sich mit der Zeit darauf einstellen würde – mittlerweile hatte er sich be reits an so viele Veränderungen gewöhnt –, aber vorläu fig war er überzeugt, sich noch nie in seinem Leben un wohler gefühlt zu haben. Er gähnte herzhaft, schloß die Augen und zwang sich, die Kälte zu ignorieren. Es schien völlig unmöglich, deshalb war er überrascht, daß sich das Licht verändert hatte, als er das nächste Mal die Augen öffnete. Der Schnee fiel nicht mehr in grauen Flocken aus der Dunkelheit, sondern glitzerte heller unter einem aufgeklarten Himmel. Die Dämmerung war angebrochen, und er hatte tatsächlich geschlafen. Sofort begannen seine Zähne wieder zu klappern, und er kroch aus seiner Unterkunft zum Feuer, um Holz nachzulegen.
Er stöhnte, als seine steifen Gliedmaßen gegen die Bewe gung protestierten, hockte sich eine Weile dicht vor das Feuer, genoß seine Wärme und sah zu, wie der Himmel im Osten lachsrosa leuchtete und allmählich eine schie fergraue Farbe annahm, die von den goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne durchzogen wurden. Vögel be gannen zu singen, und er hoffte, daß das ein Ende der Schneefälle bedeutete. Er erhob sich und ging zu den Pferden. Die Tiere schienen die Nacht gut überstanden zu ha ben, anscheinend sogar bequemer als er. Sie hatten sich eng aneinandergedrängt, um sich gegenseitig zu wär men, und begrüßten ihn mit leisem Schnauben und Kopfschütteln, das in allen Regenbogenfarben schim mernde Schneeflocken aus ihren Mähnen rieseln ließ. Calandryll gab jedem eine Portion Haferflocken und kehrte zum Feuer zurück. Er füllte gerade einen Kessel mit frischem Schnee, als Bracht aus seiner Unterkunft hervorkam. Der Kerner wirkte genauso entspannt wie die Pferde und streckte sich, als hätte er in einem Bett unter Dau nendecken geschlafen. Ein breites Grinsen teilte sein dunkles Gesicht, als er Calandrylls Miene bemerkte. Er sah in Richtung der Pferde, und Calandryll sagte: »Ich habe sie bereits gefüttert.« Bracht quittierte seine Worte mit einem beifälligen Nicken, wusch sich das Gesicht mit einer Handvoll Schnee und verschwand zwischen den Bäumen.
Während er seine Notdurft verrichtete, stand Katya ebenfalls auf. Sie bewegte sich nicht weniger geschmei dig, als seien solche Nächte nicht ungewöhnlich in Vanu, blickte zum Himmel auf und murmelte: »Die Schneefälle werden schon bald aufhören.« Dann verschwand sie ebenfalls im Unterholz. Calandryll warf eine Handvoll Tee in den Kessel. Die unbekümmerte Zähigkeit seiner Gefährten erinnerte ihn nur noch mehr daran, wie unbehaglich die Nacht für ihn gewesen war. Mürrisch rührte er den Tee um. »Hat dein Bett dir nicht zugesagt?« Er blickte auf und sah Bracht zwischen den Bäumen hervorkommen. Calandrylls heruntergezogene Mund winkel waren Antwort genug. Der Kerner schmunzelte und kramte in seinen Satteltaschen nach den Zutaten für ein Frühstück herum. »Katya behauptet, die Schneefälle würden aufhören«, sagte Calandryll. Bracht blickte auf und nickte. »Schon bald, aber sie werden uns trotzdem noch aufhalten. Wir werden wahr scheinlich nur mühsam auf der Straße vorankommen.« Er drehte sich um, als Schnee unter Katyas Stiefeln knirschte. »Was meinst du?« Die Frau zuckte die Achseln, und Calandryll hatte den Eindruck, daß sich ihre Stimmung immer noch nicht gebessert hatte. »Heute noch«, sagte sie. »Morgen früh wird der Schnee wieder schmelzen.«
Calandryll beugte sich ihrer überlegenen Kenntnis des Wetters. Im Augenblick war er damit zufrieden, sich vom Feuer aufwärmen zu lassen. »Liegen alle Raststätten so dicht beieinander an der Straße?« erkundigte sich Katya. »Sie sind für Reisende gedacht, die mit dem Wagen unterwegs sind«, erwiderte Calandryll. Es freute ihn ein wenig, daß er zumindest in diesem Punkt mehr als seine Gefährten wußte. »Für Händler und Kaufleute, die lang samer als wir sind.« Katya brummte eine Verwünschung. »Dann werden wir sie nur aufsuchen, wenn uns nichts anderes übrigbleibt«, sagte Bracht und schmunzelte, als Calandryll stöhnte. »Sobald wir können, kaufen wir Zelte. Ein gutes Zelt ist eine ausreichende Unterkunft.« Calandryll fiel keine passende Antwort ein. Sie muß ten so schnell wie möglich vorankommen, und dafür würden sie eben auf Bequemlichkeiten verzichten müs sen. Der heiße Tee und das Frühstück, auch wenn es nur aus getrocknetem Rindfleisch und hartem Gebäck be stand, munterten ihn ein wenig auf, und als sie wieder auf ihre Pferde stiegen und zur Straße zurückkehrten, fühlte er sich bereits etwas wohler. Wie Bracht behauptet hatte, erwies sich der Ritt als be schwerlich. Der Schneefall ließ nach, je weiter der Tag voranschritt, die dichten grauen Wolken lösten sich auf, der Himmel nahm eine harte azurblaue Farbe an, und die
Sonne ließ die hohen Schneewehen, die die Straße be deckten und in denen die Pferde manchmal brusttief versanken, glitzern und funkeln. Brachts kräftiger Hengst pflügte eine Schneise durch den Schnee, der die Wallache bereitwillig folgten. Die Gefährten ritten so zügig, wie nur möglich, aber trotzdem erreichten sie die nächste Karawanserei erst nach Einbruch der Dämme rung. Die Entscheidung, dort die Nacht zu verbringen, entlockte Calandryll ein erleichtertes Seufzen. Die Raststation unterschied sich in nichts von der, die Portus geleitet hatte, abgesehen davon, daß sich mehr Reisende in ihr aufhielten, die es vorgezogen hatten, dort das Ende des Schneesturms abzuwarten. Sie erfuhren, daß Daven Tyras auch hier vorbeigekommen war, doch dank des Sturmes hatte sich sein Vorsprung um mindes tens einen Tag vergrößert. Bracht nahm die Nachricht ungerührt zur Kenntnis, Calandryll nicht ganz so stoisch, und Katya, deren Schwermut im Laufe des Tages etwas verflogen war, versank wieder in düsterem Schweigen. Aber ein heißes Bad, ein gutes Essen und eine Nacht in bequemen Betten waren ein Luxus, der sie alle aufmun terte, und am nächsten Morgen setzten sie ihre Reise in besserer Stimmung fort. Auch der weitere Tag trug dazu bei, ihre Stimmung zu heben. Die Sonne hatte bereits früh den wolkenlosen Himmel erobert und erwärmte die Luft, so daß der Schnee, genau wie Katya es angekündigt hatte, schnell zu schmelzen begann. Sie konnten ihr Tempo immer weiter
erhöhen, bis die Pferde schließlich galoppierten. Ihre Hufe ließen aus den Pfützen, die sich überall auf der Straße gebildet hatten, Wasserfontänen aufspritzen, in denen kleine Regenbögen leuchteten. Auch in dieser Nacht fanden sie Unterkunft in einer Karawanserei, verbrachten die nächsten drei Nächte jedoch im Freien, und zu seiner Freude stellte Calandryll fest, daß er sich zunehmend an die harten Bedingungen gewöhnte. Unter Brachts Anleitung erlernte er auch die Kunst des Feuermachens. In den nächsten ein bis zwei Tagen, so schätzte er, würden sie Wessyl erreichen, und dabei wurde er sich plötzlich bewußt, daß die Tage län ger wurden und der Frühling trotz des schlechten Wet ters unaufhaltsam voranschritt. Er hatte keinen Kalender geführt – dort, wo sie gewe sen waren, hätte das wenig Sinn ergeben, es sei denn, um die Tage bis zur Wiederauferstehung des Verrückten Gottes zu zählen –, und es traf ihn wie ein Schock, daß die Wintersonnenwende unbemerkt an ihm vorüberge gangen war, denn in Secca wurde sie stets ausgelassen gefeiert. Zu diesem Anlaß fand immer ein Maskenball im Palast statt, und beim letzten Mal hatte er neben seinem Vater gesessen, versucht, Nadama in der Menge zu ent decken, eifersüchtig um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt, und es hatte ihn beunruhigt, sie mit Tobias tanzen zu sehen. In diesem Jahr hatte er den Feiertag verpaßt, weil er vollauf mit seiner Mission beschäftigt war. Seit seiner Flucht aus Secca hatte er sogar vergessen, irgendeinen
Feiertag zu beachten, sowohl die Tage, die den Göttern geweiht waren, als auch seinen eigenen Geburtstag; sie alle waren unbemerkt verstrichen. Er war ein Jahr älter geworden, auch wenn ihm die Zeit viel länger erschien. Calandryll lächelte gedankenverloren, als er das Gewicht der Zeit auf sich lasten fühlte, so lang und doch wieder um so kurz, als wäre seine Reise mit Bracht und Katya etwas, das sich unabhängig von den übrigen Ereignissen der Welt abspielte und nie zu Ende gehen würde. Und vielleicht, überlegte er, tut sie das ja auch. Menelian hat vermutet, daß Tharn hinter den Grenzen der Welt ruht, und. vielleicht müssen wir über die Grenzen der Zeit hinausreisen, um Rhythamuns Pläne zu durchkreuzen. Dies war die einzi ge feste Gewißheit, die er hatte, eine unumstößliche Tat sache: Rhythamun mußte aufgehalten werden, auch wenn Calandryll immer noch nicht wußte, wie sie das bewerkstelligen sollten. Er wußte nur, daß die Verfol gung weitergehen mußte. An diesem Abend betete er zu Dera, bat die Göttin um Vergebung für seine Versäumnisse und um Hilfe bei der erfolgreichen Beendigung seiner Mission. Er erhielt je doch kein Zeichen, ob sie seine Gebete erhört hatte, und während er einschlief, fragte er sich, ob sie ihr Antlitz womöglich von den Bewohnern Lysses abgewandt hatte, um sie dem schrecklichen Schicksal zu überlassen, das ihnen von dem Verrückten Gott drohte. Calandryll konn te sich zwar nicht vorstellen, daß sie zu einer solch furchtbaren Fahrlässigkeit fähig sein könnte, aber er konnte seine Zweifel auch nicht völlig abschütteln, und
am nächsten Morgen war er in düstere Gedanken versunken. Seine Laune glich nun der Katyas. Er verfluchte sich für seinen Pessimismus, doch seine Stimmung änderte sich nicht, als sie nordwärts galop pierten. Es war unvermittelt stürmisch geworden. Vom Engen Meer her trieben unaufhaltsam dichte graue Wol ken heran, die sich in heftigen Regenschauern entluden, als wollten sie seine Befürchtungen bestätigen. Mittlerweile durchquerten sie Moor- und Sumpfland. Vor ihnen erstreckte sich eine eintönige Landschaft aus sanften Hügeln, auf denen Gras in Büscheln wuchs, das unter dem grauen Himmel farblos wirkte. Die Straße schlängelte sich in unzähligen Windungen zwischen den Hügeln dahin, das Land auf beiden Seiten war kahl und windgepeitscht, durchbrochen von Schilfteichen und kleinen Wasserläufen, die Pfützen auf der alten Straße bildeten oder sie dort, wo sie am tiefsten war, als schmutzigbraune Bäche überquerten. Es war eine öde Gegend, die nur von Brachvögeln und Wildgänsen be völkert zu sein schien. Nirgendwo war ein Bauernhaus zu sehen. Sie begegneten auch keinen anderen Reisen den. An der letzten Karawanserei waren sie an diesem Morgen vorbeigekommen, und die nächste würden sie zu früh erreichen, als daß sich eine Rast gelohnt hätte, falls sie nicht durch irgend etwas Unvorhergesehenes aufgehalten wurden. So stand ihnen die Aussicht auf eine feuchte und unangenehme Nacht bevor. Es war eine Überraschung, in dieser Gegend auf das
alte Weib zu stoßen. Sie umrundeten gerade die Flanke einer Endmoräne, die wegen der tief im Westen stehenden Sonne im Schat ten lag, und im ersten Augenblick sah es so aus, als wäre ein großes Bündel Schilfrohr irgendwie lebendig gewor den und würde die Straße entlanggehen. Erst als der Haufen wackelte, zu Boden fiel und sich die einzelnen Garben verstreuten, entdeckten sie die Frau, die das Bündel getragen hatte. Ihr abgetragenes Kleid hatte die gleiche staubgrüne Farbe wie ihre Last, so daß es fast mit den Garben verschmolz, als sie sich jetzt bückte, um sie wieder zusammenzuklauben. Calandryll zügelte sein Pferd und sah, wie sich ihm ein von Alter und Wind gezeichnetes Gesicht zuwandte. Die Frau strich sich dünne Strähnen elfenbeinfarbenen Haars aus einer mit Runzeln übersäten Stirn und betrachtete ihn teilnahmslos aus müden, resignierten blauen Augen. Sie gab keinen Laut von sich, blieb nur reglos stehen und beobachtete ihn stumm. Anscheinend erwartete sie weder Hilfe noch Mitgefühl. Ohne darüber nachzudenken, brachte Ca landryll seinen Braunen zum Stehen. Bracht lenkte seinen Hengst zur Seite, als wollte er um die alte Frau herumrei ten, überlegte es sich dann jedoch anders und hielt eben falls an. Katya, die hinter ihm ritt, folgte seinem Beispiel. »Kann ich Euch helfen, Mutter?« fragte Calandryll und schwang sich aus dem Sattel. »Wir müssen heute noch einige Meilen hinter uns bringen«, wandte Bracht ein, aber Calandryll ging in die
Hocke, schlang die Zügel um die Fesseln seines Pferdes, deutete auf die Alte und fragte: »Willst du sie so hilflos zurücklassen?« Für einen kurzen Moment blitzte Ungeduld in den blauen Augen des Kerners auf, dann schüttelte er den Kopf und stieg ab. Katya musterte das Geschehen eine Weile mit unlesba rer Miene, bevor sie ebenfalls aus dem Sattel sprang und sich zu den anderen begab. Sie brauchten nicht lange, um das Schilfrohr zusam menzuklauben und es zu einem Bündel zu verschnüren, aber danach erschien es ihnen größer als zuvor und schwerer, als es eine derart zerbrechliche Frau tragen könnte. Ihre Schultern waren schmal und gebeugt, die Handgelenke, die aus den Ärmeln des Kleides hervor schauten, dünn wie Zweige, die nackten Füße lehmver schmiert, und ihr Kleid sah zu dünn und abgetragen aus, um sie gegen den Wind schützen zu können. »Wo wohnt Ihr, Mutter?« fragte Calandryll spontan. »Wir können mein Pferd benutzen, um das hier zu schleppen.« Neben ihm stieß Bracht voller Ungeduld scharf die Luft aus, aber Calandryll achtete nicht auf ihn. »Nicht weit von hier«, erwiderte die Vettel und deute te mit einer verwelkten Hand eine grobe Richtung an. Calandryll nickte und bückte sich, um das Bündel hochzuheben, aber er schaffte es nicht allein und sah Bracht hilfesuchend an. Der Kerner seufzte, zuckte die
Achseln und griff mit an. Gemeinsam verfrachteten sie das Bündel auf den Sattel des Braunen und zurrten es dort fest. »Hätten wir sie etwa ignorieren sollen?« Calandryll begegnete Brachts anklagendem Blick. »Wir bitten die Götter um Hilfe. Warum sollten sie uns helfen, wenn wir diese alte Frau einfach sich selbst überlassen würden?« Er rechnete schon damit, irgendeine gereizte Antwort zu erhalten, aber der Kerner zuckte nur erneut die Ach seln und neigte den Kopf. »Aye.« Er grinste und ver beugte sich in Richtung der Alten. »Verzeiht mir, Mutter. In meiner Eile habe ich meine Manieren vergessen.« »Aber Ihr habt sie wiedergefunden, und dafür danke ich Euch.« Die Stimme der alten Frau klang genauso trocken und raschelnd wie das Schilf. Sie war im Wind kaum zu verstehen. »Dort entlang.« Sie drehte sich um und wollte vorausgehen, blieb dann aber wieder stehen, als Katya vor sie trat und ihr eine Hand auf den Arm legte. »Möchtet Ihr auf meinem Pferd reiten? Ihr seid wahr scheinlich schon lange genug gelaufen.« »Das ist sehr freundlich von Euch.« Die Vettel nickte und ließ sich von Katya auf den Schimmel helfen, wo sie wie eine windzerzauste Vogel scheuche ziemlich unsicher im Sattel hockte, weil ihre Beine zu kurz waren, um die Steigbügel zu erreichen. »Haltet Euch am Sattelknauf fest«, riet ihr Katya. »Ihr
habt nichts zu befürchten.« Die alte Frau gehorchte, entblößte in einem dankbaren Lächeln ein paar vereinzelte gelbe Zähne und umklam merte den Sattelknauf. Katya ergriff die Zügel und mar schierte los, Calandryll und Bracht schlossen sich ihr an. Es war eine merkwürdige Prozession, die langsam über die Straße zog. Sie brachten den flachen Hang hinter sich und folgten noch eine Weile der Straße, bevor die alte Frau auf zwei niedrige Hügel am Wegesrand zeigte, zwischen denen ein Bach dahingurgelte. Sie bogen von der Straße ab, hielten auf den Einschnitt zwischen den Hügeln zu und schreckten beim Näherkommen einen Reiher auf, der sich mit einem verärgerten Krächzen auf schwerfälligen Schwingen erhob. Der Boden war matschig, das Sumpf gras durch den Regen mit Wasser vollgesogen. Ihre Stie fel und die Hufe der Pferde sanken bei jedem Schritt tief in den Morast ein und lösten sich wieder mit schmatzen den, saugenden Geräuschen. Es verwunderte Calandryll, wie irgend jemand freiwillig in einer derart trostlosen Gegend leben konnte, aber wahrscheinlich hatte die alte Frau gar keine andere Wahl. Er betrachtete sie. Sie saß wie eine Spielzeugpuppe im Sattel von Katyas Schimmel, und er stellte sich vor, was für ein erbärmli ches Leben sie in dieser menschenleeren Einöde führen mußte. Vielleicht sah es hier im Sommer freundlicher aus, aber jetzt hingen die Wolken grau und drohend tief am Himmel, und das Heulen des Windes klang wie un
heimliches Gelächter. Es war eine Gegend, die Calandryll nur zu gern sofort wieder verlassen hätte, aber es war einfach undenkbar für ihn, die alte Frau in ihrer mißli chen Lage allein zu lassen. Was er zu Bracht gesagt hatte, war einem Impuls entsprungen: Wie konnte jemand, der selbst Hilfe erwartete, achtlos an denen vorbeigehen, die in Not waren? Hinter den dicht beieinanderstehenden Hügeln erwei terte sich das Land und fiel zu einer flachen Senke ab, in deren Mitte sich ein stinkender Morastteich gebildet hatte, der mit schwarz gewordenem Schilfgras umstan den war. Sie umrundeten das Sumpfloch, überquerten das Rinnsal, das den Teich speiste, und stiegen auf der anderen Seite der Senke wieder empor. Dahinter fiel das Land erneut ab, bevor es sich wieder hob, in festeren Boden überging und eine etwas erhöhte, mit dünnem Gras bewachsene trockene Ebene bildete. Hier blies der Wind, der nicht mehr durch Hügel ferngehalten wurde, stärker und trug die salzigen und fauligen Gerüche des umgebenden Sumpflandes mit sich. Der Horizont ver schmolz mit den tiefhängenden Wolken, und der Regen wurde stärker. Calandryll fragte sich, wo die Vettel woh nen mochte. Er konnte in dieser Einöde nicht die gerings ten Anzeichen einer menschlichen Besiedlung entdecken. Dann erkannte er dort, wo windgepeitschte Ginster büsche ihre verfilzten Zweige über das nasse Gras streck ten, den Beginn eines Einschnitts. Der Weg führte durch einen schmalen und steilen
Spalt in einen von Hügeln geschützten Talkessel. Eine Quelle sprudelte zwischen blauschwarzen Steinen hervor und bildete einen klaren Bach, der sich durch eine kleine Wiese mit kräftigerem Gras schlängelte. Neben der Quel le stand eine windschiefe Hütte. Die Wände waren ein abenteuerliches Durcheinander aus vereinzelten Brettern, unbearbeiteten Ästen und Steinblöcken, die vielleicht von einem älteren Gebäude stammten, das schon vor langer Zeit eingestürzt war, das Dach ein Flickwerk aus Schilfrohr. Ein Stückchen daneben erhob sich ein nicht weniger baufälliges Gebilde, das wohl einmal eine Scheune gewesen, inzwischen aber so stark in sich zu sammengefallen war, daß eine Reparatur nicht mehr lohnte. Dort hielt der kleine Zug an, und Katya hob die Vettel aus dem Sattel, während Calandryll und Bracht das Schilfrohrbündel abluden. Ein schwarzer Kater kam aus dem Eingang der Hütte hervor, betrachtete die Fremden mißtrauisch aus gelben Augen, stieß ein durch dringendes Kreischen aus und huschte wie verängstigt über die Wiese davon, bis er hinter der nächsten Hügel kuppe verschwunden war. »Er sucht sich sein Abendessen«, erklärte die alte Frau. »Und ich würde Euch auch gern zum Abendessen einla den.« »Wir wollen uns Euch nicht aufdrängen.« Calandryll lächelte und dachte sich, daß es wohl angebrachter wäre, wenn sie die Vorräte aus ihren Satteltaschen mit der Alten teilten, anstatt ihr das Wenige wegzunehmen, was
sie besitzen mochte. »Und wir wollen auch keine Zeit verlieren«, sagte Bracht freundlich. »Wir haben noch eine weite Strecke vor uns.« »Es braut sich ein Sturm zusammen«, erwiderte die Vettel und winkte ihnen mit verkrümmten Fingern zu. »Folgt mir.« Bracht lächelte ablehnend und ergriff die Zügel seines Hengstes, als wollte er aufsteigen. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht ganz verstand, zögerte Ca landryll und fragte: »Wo hättet Ihr das Schilfrohr gern, Mutter?« »Dort.« Sie deutete auf die Ruine der Scheune. »Und dort könnt Ihr auch Eure Pferde unterstellen.« »Wir können nicht bleiben«, wiederholte Bracht. »Wir werden Euer Schilfrohr verstauen und uns wieder auf den Weg machen.« »Mitten in den Sturm hinein?« Die Vettel entblößte ih re gelben Zähne zu einem häßlichen Lächeln. »Ihr wür det nicht weit kommen, Krieger.« Wie als Bestätigung brach in diesem Augenblick ein Donnergetöse los, und Blitze zuckten auf die Erde herab. Der Regen wurde stärker, prasselte in schweren Tropfen nieder, und wieder hallte der Donner, als wäre der bläu lichgraue Himmel eine gigantische Trommel, die ein Unsichtbarer schlug. Calandryll wischte sich das Gesicht ab und bedeutete Bracht, ein Ende des Schilfrohrbündels aufzunehmen. Gemeinsam schleppten sie es in die
Scheune. Drinnen war es merkwürdig trocken. Obwohl das Dach nur aus einem Flickteppich aus Stroh bestand, hielt es den Sturzregen, der jetzt heftig über die Wiese peitsch te, fern. Der alte Steinboden war mit frischem Stroh be streut, in einer rostigen Futterkrippe lag aromatisch duf tendes Heu, und ein Trog war mit sauberem Wasser gefüllt. Calandryll fing Brachts zweifelnden Blick auf und runzelte die Stirn. »Das alles ist irgendwie ziemlich seltsam«, murmelte er. »Aye.« Bracht trat gegen das Garbenbündel. »Es war schon für dich und mich schwer genug, das Ding hoch zuheben, und die Alte ist so zerbrechlich wie eins ihrer Schilfrohre.« »Und das hier…« Calandryll deutete auf die Scheune. »So ordentlich wie ein Stall nur sein kann. Mit Heu und Wasser … als hätte sie Besucher erwartet.« Der Kerner nickte. In seinen Augen erschien ein be sorgter Ausdruck, seine Finger spielten mit dem Schwertgriff. »Dieser Ort erweckt den Anschein von Zauberei«, sagte er leise. »Ist sie vielleicht eine Dämonin, die uns in ihre Falle lockt?« »Das glaube ich nicht.« Calandryll schüttelte den Kopf. Er war von einer Gewißheit erfüllt, die er sich nicht erklären konnte. »Ich halte sie für ehrlich.« Brachts Blick war nach wie vor mißtrauisch. »Wie auch immer«, meinte er, »wir sollten uns lieber wieder
auf den Weg machen.« Aus irgendeinem Grund, der ihm genauso schleierhaft wie seine Gewißheit war, daß die Vettel keine Gefahr darstellte, zögerte Calandryll, Bracht zuzustimmen, ging aber zusammen mit ihm zur offenen Tür. Und dann blieben beide stehen, denn Katya kam durch einen plötz lich mitternachtsschwarz gewordenen Nachmittag, der nur noch von den Blitzen erhellt wurde, und führte die drei Pferde an den Zügeln. Ihr Gesicht glänzte vor Nässe und war düster, aber Calandryll, der ihr in die grauen Augen sah, glaubte nicht, daß es an der Niedergeschla genheit lag, die sie seit der Trennung von ihren Lands leuten ergriffen hatte. Er trat zurück, als sie die Tiere in die Scheune führte. »Ich glaube«, sagte sie langsam, sich ihrer Worte an scheinend genauso unsicher wie ihrer Beweggründe, »es wäre besser, wenn wir ihre Gastfreundschaft annehmen würden.« »Aye.« Calandryll neigte zustimmend den Kopf und nahm ihr die Zügel des Braunen aus der Hand. »In die sem Sturm…« »Wir können immer noch reiten«, mischte sich Bracht ein. »Lieber ein Wolkenbruch als ein…« Er sprach den Satz nicht zu Ende und schüttelte den Kopf, als hätte er vergessen, wovor er seine Gefährten hatte warnen wol len. Das Stirnrunzeln und die Unsicherheit in seinen Augen spiegelten seine Verwirrung wider. »Bracht befürchtet, eine Dämonin könnte uns in ihre
Falle locken«, erklärte Calandryll. »Oder eine Sumpfhexe könnte ihre Zauberkräfte spielen lassen.« »Eine alte Frau bietet uns Schutz vor einem Unwetter an.« Katya begann, den Sattelgurt zu lösen. »Das ist alles. Nur eine einsame alte Frau.« Bracht starrte sie voller Zweifel an. »Weißt du es?« fragte er herausfordernd. »Ich glaube es.« Katya hob den Sattel vom Rücken des Schimmels und legte ihn auf den Boden. »Ich vertraue ihr.« Sie begann, den Wallach trockenzureiben. Draußen nahmen Regen und Donner weiter zu. Der Regen hagelte in einem gleichmäßigen Trommelrhythmus herab, als würden unzählige Finger über ihren Köpfen auf das Dach klopfen, obwohl noch immer kein Tropfen in die Scheune fiel. Der Donner war ein gewaltiges wildes Kra chen, das wie das wütende Brüllen einer riesigen un sichtbaren Bestie nachhallte. Im Widerschein der Blitze wirkten ihre Gesichter bleich, und Katyas Haar glänzte wie Silber. Calandryll löste das Zaumzeug seines Brau nen. »Ich verstehe euch nicht!« schrie Bracht, um den von draußen anbrandenden Lärm zu übertönen. »Steht ihr unter einem Zauberbann?« Zum ersten Mal seit Tagen lachte Katya wieder, warf sich das Haar in den Nacken und blickte Bracht über ihr Pferd hinweg an. »Was gibt es da zu verstehen?« fragte sie. »Wie weit
könnten wir während des Sturmes in diesem trostlosen Landstrich schon kommen? Zauberei? Nein, abgesehen davon, daß ich das Angebot, im Trockenen zu sitzen und ein warmes Essen zu bekommen, bezaubernd finde.« »Wir hätten sowieso schon bald unser Lager aufschla gen müssen«, fügte Calandryll hinzu. »Warum nicht hier? Wenigstens haben wir hier ein Dach über dem Kopf.« »Ich…« Bracht schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. »Nun gut, wie ihr wollt.« Calandryll wußte nicht, ob der Kerner nur Katya zu liebe nachgab, oder ob auch er allmählich zu der Über zeugung gelangte, daß ihnen von der Vettel keine Gefahr drohte. Er lächelte, als Bracht dem Hengst den Sattel abnahm und ihm mit einer Verbissenheit das glänzend schwarze Fell abrieb, mit der er nur seine Zweifel zu überspielen versuchte. Nachdem die Tiere versorgt waren, hüllten sich die drei Gefährten in ihre Mäntel und liefen durch den nie derprasselnden Regen zu der Hütte, aus deren schräg in den Angeln hängender Tür und schiefen Fenstern jetzt Licht fiel. Es gab nur einen einzigen Raum, der warm und trocken und vom Duft der Kräuterbündel erfüllt war, die von den Dachsparren herabhingen. In einem Steinherd flackerte ein munteres Feuer. Darüber hing ein rußgeschwärzter Kochtopf, in dem die Vettel herumrühr te. Sie begrüßte ihre Gäste mit einem Nicken, lächelte ihnen zu und deutete auf grob zusammengezimmerte
Stühle, die sich um einen wackligen Tisch gruppierten, auf dem ein Tonkrug und vier Tonbecher standen. Der schwarze Kater lag zu Füßen der alten Frau, putz te sich sorgfältig und blickte kurz auf. Calandryll ent deckte Blutspritzer auf den Schnurrhaaren des Tieres. »Er hat sein Abendessen bereits gefunden«, erklärte die Alte, »und Eures wird auch bald fertig sein. Vorerst kann ich Euch ein wenig Wein anbieten.« Sie erhob sich von ihrem Schemel, humpelte zum Tisch hinüber, schenkte die Becher voll, reichte jedem einen und lächelte, als Bracht zögerte. »Weder Gift noch Zauberwerk, Krieger. Nur Wein.« Sie hob ihren Becher und trank einen großen Schluck. »Auf alle, die einer schwachen alten Frau zu Hilfe kom men.« Katya war die erste, die an ihrem Wein nippte. Ca landryll folgte ihrem Beispiel, und etwas zögerlich schloß sich auch Bracht an, noch immer nicht völlig überzeugt. Der Wein war gut, vollmundig und leicht aromatisiert. Calandryll trank einen weiteren Schluck und sagte: »Wir haben Proviant, den wir beisteuern könnten, Mutter.« »Nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich danke Euch für das Angebot, aber ich habe genügend Vorräte. Doch eins könntet Ihr für mich tun. Ich wüßte gern Eure Na men.« Beinahe wäre Calandryll mit seinem richtigen Namen herausgeplatzt, aber ein warnender Blick Brachts hielt ihn davon ab, und er sagte: »Ich heiße Calan, sie heißt
Katya und er Bracht.« Es schien, als funkelte eine Spur von Belustigung in ih ren trüben Augen auf, als er den falschen Namen aus sprach, vielleicht war es aber auch nur eine vom fla ckernden Licht hervorgerufene Spieglung, denn sie nick te lediglich. »Und ich heiße Edra«, erwiderte sie, stellte ihren Becher ab und kehrte zum Feuer zurück. »Wie lebt Ihr hier, Edra?« erkundigte sich Katya. »Das scheint eine einsame Gegend zu sein.« »Gut genug«, lautete die rätselhafte Antwort der Al ten. »Ich finde die Gesellschaft, die ich brauche.« Calandryll sah sich um. Die Hütte war schlicht einge richtet, sogar primitiv, aber überraschend gemütlich. Der Boden bestand aus festem Stein – das Fundament eines früheren Hauses, vermutete er –, war mit geflochtenen Binsenmatten ausgelegt und sauber. Vor der Rückwand lag ein flacher Strohsack, auf dem sich Schaffelle türm ten. Dicht neben dem Herd standen eine Truhe und ein Geschirrschrank, dem Edra jetzt Schüsseln und Teller entnahm, die aus dem gleichen groben Material wie die Becher und der Krug gefertigt waren. Ohne darüber nachzudenken, stand Calandryll auf, um ihr zu helfen, und als er ihr die Teller abnahm, wurde ihm bewußt, daß in dieser Hütte genau wie in der Scheune kein Luftzug zu spüren war, obwohl draußen der Wind heulte. Die löchrigen Wände schienen das Tosen des Sturmes sogar zu dämpfen und völlig fernzuhalten. »Ihr seid sehr freundlich«, murmelte Edra, als er die
Teller auf den Tisch stellte, und musterte ihn mit einem seltsam abschätzenden Blick. »Wohin seid Ihr unter wegs?« »Nach Gannshold«, erwiderte er und dachte sich, daß es nicht schaden würde, dieser einsamen Alten ihr Ziel zu verraten. »Habt Ihr dort geschäftlich zu tun?« fragte sie und bückte sich, um den Kochtopf vom Feuer zu nehmen. Calandryll nahm ihn ihr ab. Ihre Finger berührten sich kurz. »Wir suchen einen Mann namens Daven Tyras«, sagte er. »Einen Pferdehändler, einen Halbblut-Kerner mit sandfarbenem Haar und einer gebrochenen Nase. Vielleicht habt Ihr ihn vorbeikommen gesehen.« »Zu dieser Jahreszeit bereisen nur wenige die Straße in nördlicher Richtung.« Die Alte begann, den Inhalt des Topfes auf die Teller zu häufen. »Und diesen Mann habe ich nicht gesehen, obwohl er trotzdem vorbeigekommen sein könnte. Weshalb sucht Ihr ihn?« »Er hat uns etwas gestohlen«, warf Bracht schnell ein, bevor Calandryll antworten konnte. »Wir – Calan und ich – waren beauftragt worden, einen bestimmten Ge genstand zu finden, aber er hat ihn uns gestohlen, und jetzt wollen wir ihn zurückhaben.« »Ah, dann seid Ihr also freie Söldner.« Edra nickte und ließ den Blick kurz von einem zum anderen wandern. Ihrem runzligen Gesicht war keine Regung anzumerken. »Es muß ein ziemlich wertvoller Gegenstand sein, wenn Ihr dem Mann deswegen so verbissen durch ganz Lysse
nachjagt.« »Woher wißt Ihr das?« erkundigte sich Bracht mißtrauisch. »Daß wir ihm durch ganz Lysse hinterher jagen?« Edra zuckte die Achseln, der verschlissene Stoff ihres Kleides spannte sich über ihren schmalen Schultern. »Ihr reitet nach Gannshold«, erklärte sie, »und zwischen hier und Aldarin gibt es kaum eine Siedlung. Und dort kommt ihr doch her, oder?« Bracht nickte verlegen; die Erklärung war einleuch tend genug. »Und Ihr, Katya, seid Ihr auch eine Söldnerin?« wollte die Vettel wissen. »Wir reiten gemeinsam«, erwiderte die Kriegerin. »Aber ich glaube, Ihr stammt nicht aus Lysse. Ihr seht nordisch aus, als würdet Ihr aus einem fernen Land kommen.« Während sie sprach, löffelte sie Eintopf auf die Teller, das Gesicht tief über den Tisch gebeugt. »Ich stamme aus Vanu«, entgegnete Katya. »Ah, Vanu.« Edra nickte über ihrer Schüssel. »Das ist sehr weit weg. Dicht am Borrhun-maj, von dem die Leute sagen, daß es die Grenze der Welt bildet. Vermißt Ihr Eure Heimat nicht, Katya? Eure Landsleute?« »Aye.« Für einen Moment verschleierten sich Katyas Augen, und ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. »Ich vermisse sie«, murmelte sie leise. »Aber wahrscheinlich werdet Ihr dorthin zurückkeh
ren, nachdem Ihr diesen Gegenstand gefunden habt, nach dem Ihr sucht, nicht wahr?« Katya zögerte, und Bracht sagte fest: »Aye. Wir wer den gemeinsam gehen.« »Und Ihr, Calan? Werdet Ihr dann auch nach Hause zurückkehren?« Calandryll ließ den Löffel sinken, überrumpelt durch die Frage, unsicher, was er darauf antworten sollte. Wo war sein Zuhause? Bestimmt nicht in Secca. Zu Hause, das war zu etwas nicht Greifbarem geworden, zu einer Vorstellung, die so verschwommen wie die Überzeugun gen und Hoffnungen war, die er mit seiner Flucht aufge geben hatte. Er schürzte die Lippen und sagte leise: »Vielleicht. Vielleicht werde ich aber auch nach Vanu gehen.« »Also nicht nach Cuan na'For?« Wieder fragte er sich, ob das, was er in ihrem undeut lichen Blick entdeckte, Belustigung oder nur ein Effekt des flackernden Lichtes war. Er lächelte unverbindlich und zuckte die Achseln. Edra erwiderte das Lächeln. »Verzeiht mir meine Neugier«, bat sie. »Ich halte Euch vom Essen ab, aber ich habe nur selten so nette Gesell schaft und kann meine Zunge nicht im Zaum halten.« Calandryll lächelte wortlos. Irgendwie spürte er, daß sie seine Verstellung durchschaute und genau wußte, wer und was er war. Aber trotzdem empfand er nach wie vor keine Angst und glaubte ebensowenig, daß sie eine Dämonin oder Hexe sein könnte. Er probierte seinen
Eintopf, und sein Lächeln wurde breiter. Das Essen schmeckte ausgezeichnet. Hase, vermutete er, mit Kräu tern gewürzt, und reichlich Gemüse. Er sah, wie Bracht ihm gegenüber am Tisch voller Hingabe aß. Anscheinend hatte der Kerner sein Mißtrauen vergessen oder zumin dest vorläufig zurückgestellt. Die zweite Portion wollte Calandryll eigentlich dan kend ablehnen, aber Edra drängte ihn und versicherte ihm, daß sie noch jede Menge Nahrungsvorräte hätte, und nachdem sie den Eintopf aufgegessen hatten, leerten sie den Krug Wein und unterhielten sich entspannt über Aldarin und ihre Reise nach Norden. Der Sturm wütete noch immer, als Edra vorschlug, sie sollten schlafen gehen. Sie breitete Matten und Schaffelle vor dem Herd aus und entschuldigte sich dafür, daß sie ihren Gästen keine richtigen Betten anbieten könnte. »Besser, als in einer solchen Nacht am Straßenrand zu schlafen«, versicherte Katya. »Wir danken Euch dafür und für das ausgezeichnete Mahl.« »Ihr habt es Euch verdient«, erwiderte Edra. Als Bracht ihr einen kurzen Blick zuwarf, lächelte sie und fügte hinzu: »Schließlich habt Ihr mir geholfen.« Sie ging zu ihrem Bett, und die anderen machten es sich vor dem Herd bequem. Bracht schlief wie immer mit dem Krummschwert in den Armen, als hielte er seine Geliebte umschlungen. Calandryll und Katya jedoch legten die Schwerter beiseite. Ohne zu wissen wieso, vertrauten sie der alten Frau.
Und Calandryll hatte einen Traum. Oder zumindest glaubte er, es wäre ein Traum. Später sagte er sich, daß es die Antwort auf längst vergessene Gebete gewesen war.
KAPITEL 10 Er erwachte – oder träumte, er würde erwachen –, als Edra ihm eine Hand auf die Wange legte. Calandryll öffnete die Augen und sah sie an seiner Seite kauern, eine undeutliche Gestalt im Mondlicht, die ihn mit einer Handbewegung aufforderte aufzustehen. Er gehorchte ihr, ohne zu zögern oder darüber nachzudenken, augen blicklich hellwach, und folgte ihr leise. Weder Katya noch Bracht rührten sich, und das war merkwürdig, denn der Kerner wachte normalerweise bei dem leisesten Geräusch auf; selbst im tiefsten Schlaf schienen all seine Sinne auf seine Umgebung eingestellt zu sein. Jetzt je doch lag er unter einem Stapel von Schaffellen, die Füße dem Feuer entgegengestreckt, die Lippen zu einem glückseliges Lächeln verzogen, eine Hand locker um den Griff seines Krummschwertes gelegt. Calandryll fragte sich, wie das möglich sein konnte, und er kam zu dem Schluß, daß er träumte, auch wenn er die trockenen Fin ger des alten Weibes auf seiner Haut gefühlt hatte und jetzt das Knistern des Feuers und das leise Donnergrollen fern im Süden hören konnte. Er durchquerte den kleinen Raum und folgte Edra zur Tür, die sich geräuschlos öff nete und schloß, obwohl er sich noch deutlich erinnern konnte, daß sie vorher in den rostigen Angeln ge
quietscht hatte. Calandryll trat in die Nacht hinaus. Die Luft roch frisch, als hätte das Gewitter sie gerei nigt. Der faulige Sumpfgeruch war verflogen, es duftete nach Nachtblumen, und es war mild wie in einer Som mernacht. Dies war ein äußerst interessanter Traum, fand Calandryll, nichts darin wirkte bedrohlich, im Gegenteil, alles war friedlich und verheißungsvoll. Über ihm wölbte sich ein weiter und klarer Himmel. Die Sterne funkelten, wirkten wie winzige Lichtpunkte in einem violett schwarzen Baldachin, wie ferne Fackeln oder die Positi onsleuchten von Schiffen. Der Mond war beinahe voll und übergoß das Land mit sanftem Licht. Ein leichter Wind kam auf und ließ das Gras der kleinen Wiese leise rascheln. Das Gluckern des durch die Frühjahrsschmelze angeschwollenen Baches war wie ein musikalischer Kontrapunkt von Silberzimbeln gegen das Säuseln des Windes. Calandryll blickte nach unten, als die schwarze Katze schnurrend zwischen seinen Beinen hindurchstrich und geschmeidig in der Dunkelheit verschwand. Edra winkte ihm wieder zu, und er entfernte sich von der Hütte. Was für ein bemerkenswert realistischer Taum, dachte er, ohne ihn in Frage zu stellen, und folgte der alten Frau auf eine Hügelkuppe hinauf. Hier wehte der Wind stärker, er fühlte, wie er ihm ü ber das Gesicht strich und sein Haar zerzauste. Edra blieb stehen und sah zur Hütte zurück. Calandryll folgte ihrem Blick. Der Schuppen hatte sich nicht direkt verän dert, doch jetzt wirkte er nicht mehr wie ein jämmerli
ches Gebilde aus morschen Latten und Brettern, sondern wie eine sichere Zuflucht vor Sturm und Gefahren, einen Moment lang sogar wie ein kleiner, mit Licht erfüllter Palast. »Ihr könntet hierbleiben. Dies ist kein so schlechter Ort.« Calandryll blickte sich um und wußte, daß sie recht hatte. Die Nacht hatte das Sumpfland in einen magischen Mantel gehüllt, und er erkannte, wie es hier mit dem Einbruch des Frühlings aussehen, wie der Sommer die Schlammlöcher und Morastsenken verändern würde. »Das kann ich nicht«, sagte er. »Hier würdet Ihr in Sicherheit sein.« Ihre Stimme hatte sich verändert, sie klang jetzt nicht mehr heiser und flüs ternd, sondern honigsüß und sehr selbstbewußt. Ca landryll schüttelte den Kopf und wiederholte: »Das kann ich nicht.« »Warum nicht?« »Weil Rhythamun dann mit Hilfe des Arcanums Tharn finden und den Verrückten Gott wiederauferste hen lassen würde. Das darf nicht geschehen.« Es kam ihm gar nicht in den Sinn, sein Vorhaben ge heimzuhalten. Unterbewußt war ihm klar, daß Ehrlich keit die Grundlage dieses Traum war und er ihn durch Ausflüchte zerstören würde. »Rhythamun?« »Er besitzt jetzt die Gestalt von Daven Tyras. Vorher
war er Varent den Tarl, aber er ist und bleibt trotzdem Rhythamun.« »Ah, ich verstehe … ein Gestaltwandler.« »Aye, und so verrückt wie der Gott, den er wiederer wecken will.« »Und Ihr möchtet ihn davon abhalten.« »Ich, Bracht und Katya. Wir müssen es tun, sonst ver sinkt die ganze Welt im Chaos.« »Ihr drei seid Sterbliche. Wie wollt Ihr ihn daran hin dern?« »Das weiß ich nicht; ich weiß nur, daß wir es versu chen müssen.« Sie nickte. Ihr zerfurchtes Gesicht drückte Zustim mung aus, und als er sie genauer ansah, erkannte er, daß sie sich verändert hatte. Sie war jetzt kein altes Weib mehr, sondern eine Frau in der Blüte ihrer Jahre, die ein Gewand trug, in dessen Falten sich der sanfte Schein des dreiviertelvollen Mondes fing, so daß sie in strahlendes Licht gehüllt wurde. Ihr goldenes Haar fiel ihr in vollen Locken frei über die Schultern, umspielte ein Gesicht, das gleichzeitig einzigartig war und irgendwie doch dem einer jeden Frau glich, an die er sich liebevoll erinnerte: das seiner Mutter, das von Nadama, Katya und der Wahrsagerin Reba. Sie alle wurden eins in diesem Ant litz, und als er in ihre Augen starrte, die so blau wie der Himmel im Hochsommer waren, da wußte – oder träum te – er, daß er in das Gesicht einer Göttin blickte.
»Dera«, flüsterte er und fiel auf die Knie. Sie bückte sich, zog ihn hoch und sagte: »Du brauchst mir keine Ehrerbietung entgegenzubringen. Eher sollte ich vor dir niederknien.« Er schüttelte wortlos den Kopf. »Aye«, bekräftigte sie, »denn kämpfst du nicht in mei nem Namen? Reitest du nicht mit deinen Gefährten, um zu meinem Schutz in die Schlacht zu ziehen? Sollten wir, die Jüngeren Götter, dir nicht dafür danken?« »Was sollte ich sonst tun?« fragte Calandryll. Da lächelte sie, und ihr Lächeln schien die Nacht zu vertreiben, bis ihm war, als stünde er unter der hellen Sonne, aber Dera antwortete nicht direkt und sagte statt dessen: »Nicht alle Menschen denken so wie du. In Kan dahar gibt es Magier, die von dem Arcanum gehört ha ben und wissen, was es bewirken kann, aber dennoch begeben sie sich nicht auf die Suche nach Rhythamun. Die Männer aus Vanu, die sich selbst Weise nennen, kennen die Bedeutung des Buches, und doch sind sie in ihrem Land geblieben und haben Katya an ihrer Stelle geschickt.« »Es sind friedliche Leute«, verteidigte Calandryll die Vanuer, »und in Kandahar sind die Hexer dem Tyrannen verpflichtet, müssen seinen Krieg kämpfen.« »Und doch erscheint dieser Krieg, wieviel Blut dort auch vergossen werden mag, unbedeutend im Vergleich zu dem, was Tharn der Menschheit antun würde.«
»Ich denke, daß sie es wahrscheinlich nicht verste hen.« Er zuckte die Achseln. »Und verstehst du es?« wollte die Göttin wissen. »Ich weiß, daß man Tharn den Verrückten Gott nennt«, erwiderte er, »und ich glaube, daß es Wahnsinn ist, ihn wiedererwecken zu wollen. Ich möchte nicht, daß das Chaos über die Welt hereinbricht.« »Ist die Welt denn so wichtig für dich? War sie so gut zu dir?« Calandryll runzelte die Stirn, überrascht von ihrer Frage. Sie schien gegen alles zu verstoßen, was er wußte, woran er glaubte, so daß er keine Antwort parat hatte. Nach einer Weile sagte er: »Würde Rhythamun Erfolg haben und Tharn erwachen, dann würdest bestimmt auch Du ausgelöscht werden.« »Alles vergeht irgendwann.« Sie deutete auf den Mond, der den Zenith überschritten hatte und dem west lichen Horizont entgegensank. »So sicher, wie auch die Nacht enden muß.« Wieder runzelte er die Stirn. »Willst Du mir damit sa gen, ich sollte diese Mission aufgeben?« »Nein.« Sie lächelte erneut, schüttelte den Kopf, und ihr Haar versprühte helles Licht. »Ich sage nur, daß du die Wahl hast.« »Nicht in diesem Punkt«, sagte Calandryll. »Du hast das Arcanum gefunden. Es ist durchaus
möglich, daß Tharn dir dafür dankbar ist. Du könntest Wohlgefallen in seinen Augen finden.« Er erschauderte und wies die Vorstellung weit von sich. »Nein!« rief er voller Abscheu. Seine Reaktion schien ihr zu gefallen, trotzdem be rührte sie seinen Arm und sagte: »Es ist gut möglich, daß deine Aufgabe unlösbar ist.« »Ist das ein Grund, um aufzugeben?« Er schüttelte den Kopf und beantwortete seine Frage selbst. »Nein!« »Es ist gut möglich, daß du dabei stirbst.« »Aye.« Diesmal nickte er. »Aber wir müssen es trotz dem versuchen.« Sie musterte sein Gesicht eine lange Zeit, dann lächelte sie von neuem und sagte: »Du bist tapfer.« Das Lob tat ihm so gut, daß er errötete. Er scharrte wie ein verlegener Jüngling mit den Füßen, senkte die Augen und murmelte: »Wirklich?« »Du jagst einen Zauberer«, erklärte sie leise, »einen Hexer, der eine furchtbare Macht besitzt und dessen grausame Tücke du bereits kennst. Hat er dich nicht schon einmal hereingelegt? Glaubst du nicht, daß er auch andere für seine Zwecke manipuliert?« Es schien keine Rolle zu spielen, daß sie ihn so einfach durchschauen konnte, daß sie wußte, wer er war und was er mit dem Schwarzmagier zu tun gehabt hatte – schließlich war sie eine Göttin, und alles war nur ein Traum.
»Trotzdem.« »Trotzdem«, wiederholte sie. »Obwohl es wahrschein lich unmöglich ist, obwohl du dir ohne Zweifel Tharn zum Feind machen würdest, sollte Rhythamun Erfolg haben, obwohl du sehr wohl sterben kannst, bevor dieser Tag kommt … Trotz allem willst du weitermachen?« »Trotz allem«, sagte er fest. »Es gibt nur noch wenige Menschen von deiner Art, Calandryll.« Ihre Stimme klang beinahe wehmütig. Er zuckte die Achseln und sagte: »Ich bin nicht allein. Katya und Bracht sind vom gleichen Schlag. Noch mehr…« »Auf ihre Art«, unterbrach sie ihn, »aye. Und dafür verdienen auch sie meinen Dank. Aber es ist eine andere Art von Stärke in dir.« Er nahm das Kompliment mit einem Lächeln entge gen, aber in erster Linie beschäftigte ihn das, was sie über Dankbarkeit gesagt hatte, und er fragte sich, ob er es wagen durfte, den Gedanken auszusprechen, der ihm durch den Kopf ging. Warum eigentlich nicht? Schließ lich war dies doch nur ein Traum, oder? Und in einem Traum war alles möglich. »Ich möchte dich um mehr als nur um deine Dankbar keit bitten«, sagte er. Calandryll befürchtete schon, sich zu weit auf unsiche ren Boden vorgewagt zu haben, denn er glaubte, einen Schatten über das Gesicht der Göttin streichen zu sehen,
wie ein Wolkenfetzen, der über den Mond zog. »Um was möchtest du mich bitten?« wollte sie wissen. »Um Hilfe. Wir sind – wie Du gesagt hast – nur ge wöhnliche Menschen, und wir jagen einen Feind, dem eine ehrliche Klinge nichts anhaben kann. Hilf uns! Ich weiß nicht wie, aber gib uns Mittel in die Hand, mit de nen wir Rhythamun besiegen können!« Dera sah ihm ernst in die Augen, und Calandryll dachte, er wäre zu weit gegangen, aber dann sagte sie: »Ist euch mein Bruder Burash nicht schon zu Hilfe ge kommen? Und das werde ich ebenfalls tun – soweit ich es kann. Aber wir Jüngeren Götter besitzen nicht die Macht von Tharn und Balatur, so wie sie ihrerseits gerin gere Kräfte als Yl und Kyta besitzen, und mir sind Gren zen auferlegt, genau wie Burash. Über Lysse hinaus habe ich keinen Einfluß.« Sie schwieg, ihr wunderschönes Gesicht wirkte ge dankenverloren. »Was auch immer Du uns an Hilfe geben kannst«, drängte Calandryll. »Irgend etwas.« »Wir Jüngeren Götter sind nicht allmächtig. Wir müs sen uns Gesetzen beugen, die du nicht so leicht verstehen würdest, so wir ihr Menschen euch dem Lauf der Zeit beugen müßt.« Wieder schwieg sie eine Weile, und Ca landryll wartete mit angehaltenem Atem. »Aber eines kann ich dir sagen, obwohl du es jetzt noch nicht verste hen kannst und – wie ich vermute – mir auch nicht glau ben wirst: Das, was du brauchst, um Rhythamun zu
besiegen, trägst du bereits in dir.« »Das begreife ich wirklich nicht«, bestätigte er. »Kannst Du es mir nicht so erklären, daß ich es verste he?« »Das darf ich nicht«, erwiderte Dera ruhig und be stimmt, »sonst würde ein Gleichgewicht von Kräften ins Wanken geraten, das zu komplex ist, als daß du es erfas sen könntest. Ich kann dir nur sagen, daß dein Vorhaben nicht aussichtslos ist.« Calandryll wollte protestieren, erinnerte sich daran, was Bracht über die Unverständlichkeit der Aussagen von Göttern und Magiern zu sagen pflegte, aber sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Halte an deinem Glauben fest«, beschwor sie ihn, »und erinnere dich an meine Worte. Ich kann dir nicht mehr mitteilen, als ich dir bereits gesagt habe, außer« – wieder huschte ein Schatten über ihr Gesicht, und sie schürzte die Lippen, als ob sie mit sich selbst kämpfte – »daß du innerhalb Lysses sicher sein wirst, wie intensiv dein Bruder auch nach dir fahndet. Diesen Gefallen kann ich dir erweisen. Und noch einen weiteren. Gib mir dein Schwert.« Ihm war gar nicht bewußt gewesen, daß er sein Schwert trug. Im Gegenteil, er war sich sogar sicher, es nach dem Aufstehen nicht umgeschnallt zu haben. Trotzdem zog er es wie selbstverständlich aus der Schei de und reichte es ihr. Dera hielt es mit der einen Hand am Griff und ließ die
andere vom Schaft bis zur Spitze der Klinge gleiten. »Ihr werdet auf eurem Weg mit Sicherheit Zauberwerk be gegnen, das mit einfachem Stahl nicht bekämpft werden kann«, erklärte sie. »Deshalb sei dir gewiß: Diese Klinge hat meinen Segen und wird Geschöpfe der Magie ebenso verletzen, wie sie durch menschliches Fleisch schneidet. Doch genug jetzt. Geh schlafen, bevor der Tag anbricht und ihr euch wieder auf euren Weg begeben müßt.« Ihre Stimme klang sanft, aber trotzdem duldete ihr Tonfall keinen Widerspruch. Calandryll neigte gehorsam den Kopf, folgte ihr den Hügel hinunter zurück zur Hüt te und sah, wie sie sich dabei schrittweise veränderte, bis sie wieder die alte Vettel Edra geworden war. Sie schloß die Tür hinter ihnen – genauso lautlos wie zuvor – und ging zu ihrem Strohsack. Calandryll legte sich wieder auf seinen Platz vor dem Herd. Jetzt war er sicher, daß er träumte, denn Bracht und Katya schliefen immer noch, und kurz darauf nickte er ebenfalls ein. Er erwachte frisch und ausgeruht. Im Licht des neuen Tages verschwammen die Ereignisse der letzten Nacht und wurden immer undeutlicher, wie es die Natur der Träume ist. Calandryll erhob sich, streckte sich und ging zur Quelle hinaus, um sich zu waschen. Bracht begleitete ihn, und als sie fertig waren, wusch sich Katya, während die beiden Männer zur Scheune gingen, um nach den Pferden zu sehen. Der Sturm hatte sich längst verzogen, und der Himmel, der noch immer grau war, wurde von
der Sonne erhellt, die über einem trüben Dunstvorhang schwebte. Unter ihren Strahlen wirkte die Senke heiter und ließ den Wechsel der Jahreszeiten erahnen. Tautrop fen funkelten auf dem Gras, Vögel sangen und huschten wie farbige Pfeile über den Hügel. »Anscheinend hatte ich unrecht«, gab Bracht zu, und als er Calandrylls verständnislosen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Was Edra betrifft. Sollte sie eine Moorhexe sein, dann hat sie jedenfalls ein freundliches Wesen.« Calandryll nickte. Irgend etwas regte sich in seiner Er innerung, etwas nicht Greifbares, das ihm immer wieder entglitt. Ihm schien, als hätte er etwas Wichtiges verges sen, und dieses Gefühl hielt an, bis sie ihr Frühstück aus frischgebackenem Brot und Käse gegessen, sich verab schiedet und Edras Hütte hinter sich zurückgelassen hatten. Die alte Vettel hatte sie bis zur Straße begleitet und stand vor einem Hügel, als sie ihren Pferden die Fersen in die Weichen stießen und nach Norden galop pierten. Als Calandryll noch einmal zurückblickte und grü ßend die Hand hob, fiel ein einzelner Lichtstrahl auf die alte Frau. In diesem Augenblick wurde sie wieder zur Göttin, zu einer strahlenden Gestalt, die ihrerseits die Hand in einer segnenden Geste hob. Calandryll keuchte auf. Alles, was sich in der letzten Nacht ereignet hatte, strömte mit einemmal wieder auf ihn ein, und er wußte, daß es kein Traum gewesen war. Er hörte, wie Katya einen überraschten Ruf ausstieß, drehte sich zu ihr um
und erkannte einen Ausdruck in ihrem Gesicht, von dem er wußte, daß er dem seinen glich. Als er sich noch ein mal umwandte, war Dera verschwunden. »Was ist los?« Bracht ließ seinen Blick mit gerunzelter Stirn von einem zum anderen wandern. »Ihr seht aus, als hättet ihr ein Gespenst gesehen.« »Kein Gespenst.« Calandryll schüttelte den Kopf. Ein zögerndes Lächeln umspielte seine Lippen und festigte sich. »Eine Göttin.« »Ich habe es für einen Traum gehalten«, murmelte Ka tya. »Ich hatte es völlig vergessen, bis ich gerade einen Blick zurückgeworfen und sie gesehen habe.« »Mir geht es genauso«, erwiderte Calandryll. »Ich habe auch zurückgeblickt und nur eine alte Frau gesehen«, sagte Bracht. »Nicht Dera?« fragte Katya. Der Kerner schüttelte den Kopf, und die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. »Die Göttin? Nein, ich habe nur Edra gesehen.« Er drehte sich im Sattel um und mus terte Calandryll mit einem fast schon argwöhnischen Blick. »Hast du ebenfalls Dera gesehen?« Calandryll nickte. »Einen Moment lang, als die Sonne auf sie geschienen hat.« Sein Lächeln wurde breiter. »Und letzte Nacht hat sie mit mir gesprochen. Ich habe es für einen Traum gehalten, aber jetzt…« »Raus damit«, drängte Bracht. Calandryll berichtete in knappen Worten, worüber sie
gesprochen hatten. »Also, wenn dein … Traum Realität war, dann besitzt du jetzt ein nützliches Schwert.« Brachts Gesicht wirkte nachdenklich. »Und dir, Katya, was hat sie dir gesagt?« Katyas Augen leuchteten vor Aufregung, und Ca landryll entdeckte noch etwas anderes in ihnen. Es schien, als wäre eine Last von ihr genommen worden, die Niedergeschlagenheit verschwunden, die sie seit ihrer Trennung von Tekkan und den Vanuern ergriffen hatte, und ihre vertraute Lebensfreude wieder vollständig zurückgekehrt. »Edra hat mich geweckt und gebeten, ein Stückchen mit ihr spazierenzugehen«, rief sie über das Trommeln der Hufe hinweg. »Ich bin mit ihr gegangen. Mir ist gar nicht in den Sinn gekommen, mich zu weigern. Ich habe gedacht, ich müßte einfach meinem Traum folgen, ob wohl es ein äußerst realistischer Traum war. Wie Ca landryll hatte ich ihn bis eben vergessen, aber jetzt…« Sie lächelte strahlend, als würde sie die Erinnerung in vollen Zügen auskosten. »Wir gingen über eine Wiese, die wie die Grashochebenen in Vanu aussah. Der Mond stand am Himmel, aber mir war nicht kalt, und ich hatte überhaupt keine Angst. Sie sagte mir – da war sie immer noch Edra –, daß ich nicht weiterreiten müßte, sondern sicher nach Vanu heimkehren könnte. Ich…« Sie wandte einen Mo ment lang das Gesicht ab, und Calandryll glaubte, sie erröten zu sehen, als sie Bracht einen kurzen Seitenblick zuwarf. »Ich habe ihr gesagt, daß ich euch nicht alleinlas
sen könnte«, fuhr sie fort, »daß wir uns geschworen hät ten, Rhythamun zur Strecke zu bringen, wohin er auch geht und welche Gefahren wir auch immer bestehen müssen. Da wurde sie zu Dera und sagte mir, daß ich meinen Glauben nicht verlieren sollte und die Jüngeren Götter uns helfen würden, soweit es in ihrer Macht steht, auch wenn sie durch Gesetze gebunden sind, die über das Vorstellungsvermögen von Menschen hinausgehen. Und daß ich nicht über die Trennung von meinen Lands leuten trauern, sondern mich über das freuen sollte, was als Geschenk deutlich vor mir liegt.« Sie stockte, und diesmal war sich Calandryll sicher, daß sie errötete, als Bracht direkt fragte: »Und was ist das?« »Liebe«, erwiderte sie mit leiser Stimme. »Eine Liebe, wie man sie nur selten findet und die man wie einen kostbaren Schatz hüten muß.« Zu Calandrylls großer Überraschung war es jetzt Bracht, der errötete. Der Kerner rutschte unbehaglich in seinem Sattel hin und her und starrte eine Weile in die Ferne. Dann zuckte er die Achseln und grinste wie ein kleiner Junge, den man bei einem Lausbubenstreich er tappt hatte. »Du weißt, daß ich dich liebe«, sagte er genauso leise wie sie. »Habe ich das nicht deutlich gemacht?« »Aye.« Katya nickte feierlich, und der ernste Ausdruck in ihrem Gesicht verschwand, als sie wieder lächelte. »Aber jetzt ist unsere Liebe gesegnet worden, und ich
erkenne, daß es falsch von mir war, über das zu trauern, was unvermeidlich ist. Daß die Trennung von meinen Leuten notwendig für unsere Mission war und wir uns wiedersehen werden.« Calandryll sah, daß Brachts Gesicht aufleuchtete, als er das Wort ›unsere‹ hörte. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sich diskret zurückgezogen, um die beiden allein zu lassen, aber das war in dieser Situation unmöglich, und so beschied er sich damit, ein Stückchen zurückzubleiben und zu schweigen. »Das ist gut«, sagte Bracht ernst. »Ich freue mich, daß du nicht mehr trauerst.« »Das Versprechen, das du mir gegeben hast, bleibt trotzdem bestehen«, gab Katya zurück. »Erst wenn wir das Arcanum nach Vanu gebracht haben und es zerstört worden ist…« »Ich weiß«, erwiderte Bracht. »Und ich akzeptiere es.« »Ich hoffe«, sagte Katya, »daß es nicht mehr allzulange dauert.« Da lachte Bracht so laut auf, daß eine Gänseschar, die etwas von der Straße entfernt auf dem Boden herumpick te, mit rauschenden Flügelschlägen und protestierendem Quaken aufflatterte. Die Vögel kreisten wachsam in der Luft, bis die drei Reiter vorübergezogen waren und lan deten erst dann wieder im feuchten Gras. »Eines beunruhigt mich an der ganzen Sache«, stellte Bracht nach einer Weile fest. »Warum habe ich Dera nicht gesehen?«
Calandryll, der wieder zu ihnen aufgeschlossen hatte, dachte einen Moment lang darüber nach und meinte dann: »Vielleicht, weil du der einzige von uns bist, der nicht zweifelt. Nachdem ich erkannt hatte, wie Rhytha mun mich mißbraucht hat, bin ich unsicher geworden. Seine Betrügereien haben mir hart zugesetzt. Bei Katya war es der Abschied von ihren Leuten, der sie mutlos gemacht hat. Aber du hast das Ziel nie aus den Augen verloren. Vielleicht hast du Deras Ermutigung einfach nicht gebraucht.« »Mag sein«, räumte der Kerner ein. »Ich denke, das muß der Grund sein«, stimmte Katya Calandryll zu. »Nur du hast nie in Frage gestellt, wohin wir gehen oder was uns bevorsteht.« Bracht nickte stumm, und Calandryll fragte sich, wie er den Gesichtsausdruck seines Kameraden deuten sollte. Die dunklen Züge des Kerners wirkten ruhig und be herrscht, aber seine Augen hatten sich umwölkt, als wäre er sich da längst nicht so sicher wie seine Gefährten. »Es gibt einige Leute, denen ich lieber nicht begegnen würde«, murmelte er leise. Seine Worte waren eigentlich nicht für die anderen gedacht gewesen, aber der Wind trug sie zu Calandryll herüber. Katya, die mittlerweile etwas vorausgeritten war, bekam sie nicht mit, und Ca landryll beschloß, Bracht nicht danach zu fragen. Das Wetter wurde wieder rauher, als sie Wessyl erreich ten. Vom Engen Meer her kam ein heulender Wind, der
bedrohlich schwarze tiefhängende Wolken vor sich her trieb, die sich immer wieder in heftigen Regenschauern entluden. Manchmal ging der Regen in Hagel über, der auf der Straße hüpfte und die ungeschützten Hautpartien der drei Reiter schmerzhaft peitschte. Die Umgebung war öde, wenn auch nicht mehr sumpfig. Das Land stieg sanft an und ging in eine karge Heide über, die mit windzerzausten Bauminseln und Gestrüpp durchsetzt war. Immer wieder brach der harte graue Fels, aus dem die Stadt erbaut war, aus der dünnen Erddecke hervor. Es war ein abstoßender Ort, der im schwindenden Licht des regengepeitschten Nachmittags finster wirkte. Er thronte auf einer Landzunge, die sich über der Bucht von Eryn erhob. Der Hafen lag unterhalb der eigentli chen Stadt und bildete fast einen eigenen Ort, der durch eine lange, von Mauern geschützte Straße mit der Ober stadt verbunden war. Die unterschiedlichsten Schiffe lagen vor Anker und schaukelten in der aufgewühlten See, hauptsächlich Karavellen mit Lateinsegeln und Fi scherboote, aber darunter waren auch einige größere Einmaster und schlanke, tief im Wasser liegende Kriegs boote. In den Werften von Eryn mußte Hochbetrieb ge herrscht haben, erkannte Calandryll, und sofort überlegte er, wie weit ihnen Tobias zur Zeit voraus sein mochte. Der Gedanke war beunruhigend. Eine Reise, wie sein Bruder sie gerade unternahm, ging nicht schnell vonstat ten. Der neue Domm und seine Braut würden von ihres gleichen in jeder Stadt, die sie besuchten, mit einem Fest geehrt werden. Geschenke würden ausgetauscht werden,
bestehende Vereinbarungen erneuert und neue Abkom men getroffen. Es war durchaus möglich, daß sich Tobias immer noch in Wessyl aufhielt. Mit Sicherheit waren Fahndungsplakate von Calandryll in der Stadt aufge hängt worden, und trotz Deras Versicherung, daß er Lysses gefahrlos würde durchqueren können, fragte sich Calandryll, wie gut seine Verkleidung wirklich war. Nervosität ergriff ihn, als sie sich den Stadttoren nä herten, und er war dankbar für die langen Schatten und den Regen, der ihm einen Grund gab, den Mantel eng um sich zu schlingen und sein Gesicht unter der Kapuze zu verbergen. Seine Spannung legte sich ein wenig, als die Stadtwachen sie wegen des Regens nur einer flüchti gen Musterung unterzogen, sie weiterwinkten und er mahnten, daß dies eine friedliche und ordentliche Stadt sei und sie sich vernünftig benehmen sollten, solange sie sich innerhalb ihrer Mauern aufhielten. Doch schon kurz darauf erblickte Calandryll eine Säule mit allerlei Be kanntmachungen, darunter auch sein Fahndungsbrief, und die Anspannung kehrte zurück. Voller Unruhe mus terte er die Häuser, an denen sie vorbeiritten, und die vor Nässe glänzenden Granitwände erinnerten ihn an Ge fängnismauern. Er teilte Bracht seine Befürchtungen mit. Der Söldner lachte und versicherte ihm, daß niemand in ihm etwas anderes als einen umherziehenden Kerner sehen würde, einen Söldner, der auf der Heimreise nach Cuan na'For war. Calandryll war längst nicht so zuversichtlich. Er
sagte sich, daß Brachts Optimismus hauptsächlich von dem herrührte, was Katya über ihre Begegnung mit Dera erzählt hatte, aber anscheinend hatte sein Kamerad recht, denn sie fanden Quartier in einer Taverne nahe der Stadtmauern, und niemand schenkte ihm besondere Beachtung. »Trotzdem möchte ich mich hier nicht länger aufhal ten«, stellte er fest, als sie ihre Pferde in den Stall brach ten. »Nur diese eine Nacht«, versprach Bracht, »und so lange, wie wir brauchen, um Zelte zu kaufen. Darüber hinaus haben wir keinen Grund, hierzubleiben.« Calandryll nickte, etwas beruhigt durch diese Zusiche rung. »So fühlt man sich also, wenn man ein Ausgesto ßener ist?« murmelte er wehmütig. »Innerhalb von Stadtmauern, aye.« Bracht grinste und fügte nachdenklich hinzu: »In Cuan na'For ist das leich ter.« Irgend etwas in seinem Tonfall ließ Katya, die damit beschäftigt war, ihren Schimmel zu striegeln, innehalten und aufblicken. »Eines Tages mußt du mir erzählen, wie es zu deiner Ächtung gekommen ist«, sagte sie lächelnd. Bracht nickte, aber hinter seiner immer noch nach denklichen Miene verbargen sich Zweifel, als er mit – wie Calandryll vermutete – erzwungener Unbekümmertheit erwiderte: »Eines Tages. Obwohl ich glaube, daß wir schon bald in Cuan na'For sein werden.« »Werden wir das?« fragte Katya. »Bist du dir so sicher,
daß wir Rhythamun nicht in Gannshold finden werden?« »Ich rechne nicht damit, falls er nicht durch irgend et was aufgehalten worden ist.« Bracht schüttelte den Kopf. »Könnte Tharn dort begraben liegen? Das glaube ich nicht. Ich denke, wie Menelian gesagt hat, daß Tharn irgendwo jenseits der Grenzen der bekannten Welt ruht und Rhythamun keine Zeit verlieren wird, sein Ziel so schnell wie möglich zu erreichen.« »Aber wir könnten ihn trotzdem noch einholen«, warf Calandryll ein. »Wenn er noch annimmt, daß wir in Tezin-dar gefangen sind, könnte es sein, daß er keinen Grund zur Eile sieht.« Bracht zuckte die Achseln. »Ich glaube, daß Männer von Rhythamuns Schlag nie lernen, Geduld zu üben, wie lange sie auch leben mögen. Ich glaube nicht, daß er länger als nötig in Gannshold verweilen wird.« »Vor einiger Zeit hast du es noch für möglich gehalten, daß wir ihn bis dahin überholen könnten«, stellte Katya fest. »Woher kommt dieser Meinungsumschwung?« »Dera hat Calandryll eine sichere Reise durch Lysse versprochen«, erläuterte der Kerner langsam, »aber sie schien Rhythamuns Aufenthaltsort nicht zu kennen. Wäre er in Gannshold gewesen, hätte sie es bestimmt gewußt und uns Bescheid gesagt. Ich fürchte, daß er weiter nach Cuan na'For gezogen ist.« »Möglich«, räumte Katya widerstrebend ein. »Aber er könnte sich trotzdem immer noch in Gannshold aufhal ten.«
Calandryll wurde bewußt, daß eher Hoffnung als ech te Überzeugung aus ihren Worten sprach, und gleichzei tig erkannte er, daß sich in dem, was sie auf der Straße gesagt hatte, eine geheime Bedeutung – vielleicht konnte man es ein Geständnis nennen – verborgen hatte, die er erst jetzt völlig durchschaute. Jetzt hoffte sie nicht mehr nur aus den ursprünglichen Gründen auf eine schnelle Beendigung ihrer Mission, jetzt fieberte sie auch danach, das Versprechen einzulösen, das sie und Bracht sich gegeben hatten. Calandryll zweifelte nicht daran, daß sie sich auch weiterhin mit Leib und Seele ihrer Jagd ver schrieben hatte, aber nun verlieh die Liebe ihrer Aufgabe eine größere Dringlichkeit. Er begriff, daß es schwer für die beiden sein mußte, ihre Gefühle durch das Gelöbnis, das sie abgelegt hatten, im Zaum zu halten. So lange gemeinsam zu reiten, ohne dem körperlichen Verlangen, das sie verspürten, nachgeben zu dürfen, gebunden durch ihr Versprechen, gehindert durch ihren Ehrenko dex, war nicht leicht. Ehre, dachte Calandryll, war etwas Merkwürdiges, schwer zu erringen und schwer zu be wahren, und seine beiden Gefährten blieben ihrer Ehre treu. Wieder einmal kam er sich wie ein Eindringling vor und beschäftigte sich mit seinem Pferd, während Bracht leise sagte: »So Ahrd will, wird er noch da sein. Aber ich glaube nach wie vor, daß wir weiterziehen müssen.« »Bis zum Borrhun-maj und darüber hinaus?« fragte Katya, und Resignation schwang in ihrer Stimme mit. »Wohin auch immer unser Weg uns führt«, bestätigte
Bracht. Katya senkte den Kopf. Das Fackellicht ließ silberne Funken über ihr flachsblondes Haar tanzen. »Also laßt uns hier fertig werden, zu Abend essen und schlafen gehen«, sagte Bracht entschlossen. »Damit wir diese elende Stadt so schnell wie möglich wieder verlas sen können.« »Aye!« Katya lächelte ihm über den Rücken ihres Pferdes hinweg zu. »So schnell wie möglich!« Sie legten die Striegelbürsten beiseite, versorgten die Pferde mit Futter und begaben sich in die Taverne. Calandrylls Befürchtungen erwiesen sich als unbe gründet. Die drei Gefährten erregten nicht mehr Auf merksamkeit als die anderen Gäste. Wie sie es sich an gewöhnt hatten, suchten sie sich einen Tisch im hinteren Bereich des Speisesaales und bestellten ein Abendessen und Bier. Anscheinend waren die Wessyler nicht sehr gesprächig, denn weder der Wirt noch die Gäste versuch ten, die Fremden in eine Unterhaltung zu verwickeln, wie es die Leute im Süden getan hatten. Sie wurden schweigend bedient und erhielten auf ihre Fragen nur knappe Antworten. Die Abenteurer erfuhren nichts über Daven Tyras, was jedoch nicht sonderlich überraschend war. Einem Reisenden fiel es sehr viel leichter, unbe merkt eine Stadt zu durchqueren, als in den Karawanse reien entlang der Straße keine Aufmerksamkeit zu erre gen. Beunruhigender war statt dessen, daß sie zu Tobias und seinem Gefolge aufschlossen, und Calandryll über
legte, ob es vielleicht nicht ratsamer wäre, Eryn zu um gehen, und in der Hoffnung, daß sich sein Bruder länger in den Schiffswerften aufhielt, querfeldein nach Ganns hold zu reiten. Zwar war er jetzt zuversichtlicher, daß ihn Fremde für einen Kerner hielten, aber sollte Tobias ihn zu Gesicht bekommen … Sein Bruder würde die Tarnung bestimmt durchschauen. Er oder Nadama oder jeder andere aus seinem Gefolge, der den jungen Prinzen Ca landryll den Karynth aus Secca kannte. Er teilte Bracht und Katya seine Überlegungen mit, während sie gegrillten Fisch aßen, und sie erklärten sich einverstanden, die Straße dort, wo sie der Biegung der Bucht folgend nach Eryn abbog, zu verlassen und eine Route abseits der Hauptverkehrsader einzuschlagen. »Aber Gannshold selbst können wir nicht umgehen«, gab Katya zu bedenken. »Auch wenn Rhythamun viel leicht schon weitergezogen ist, müssen wir soviel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen.« »Ich bezweifle, daß ein Halbblut, das mit Pferden handelt, und der Domm von Secca sich am gleichen Ort aufhalten«, beruhigte Bracht Calandryll, »und vielleicht ist dein Bruder auch schon wieder abgereist. Aber selbst, wenn er noch da ist, wird man uns kaum einladen, am gleichen Tisch mit ihm zu speisen.« »Aber wenn er mich auf der Straße sieht…«, warf Ca landryll ein. »… wird er einen freien Söldner aus Kern sehen, der sich wegen der Kälte in seinen Mantel hüllt«, grinste
Bracht, »und nicht seinen flüchtigen Bruder. Bleib ruhig, Calan.« »Ich glaube, Nadama würde mich wiedererkennen«, murmelte Calandryll. »Du hast wohl einen bleibenden Eindruck bei ihr hin terlassen, was?« Bracht schmunzelte hinterhältig. »Ob wohl sie mittlerweile mit deinem Bruder verheiratet ist, wird sie dein attraktives Gesicht nie mehr vergessen?« Calandryll grinste mit einem Anflug von Verlegenheit zurück. Seine Erinnerung an Nadama war mit der Zeit verblaßt und verschwommen geworden; würde sie sich wirklich noch so gut an ihn erinnern? Wahrscheinlich, dachte er, hat Bracht recht, und ich kann genauso un sichtbar an ihnen vorbeigehen, wie ich Secca verlassen haben. Er zuckte die Achseln, schob die Zweifel beiseite und leerte seinen Krug. Kurz darauf suchten sie ihre Zimmer auf. Da die Ta verne nicht so gut besucht war, bekam jeder ein Einzel zimmer. Calandryll hatte ein Eckzimmer mit zwei Fens tern. Das eine ging auf die spitzen Dächer der Oberstadt hinaus, das andere auf die Bucht, und eine Weile stützte er die Ellbogen auf den steinernen Fenstersims des zwei ten und blickte hinaus. Die Nacht war dunkel, der Voll mond verbarg sich hinter Wolken, und der Wind fegte durch die menschenleeren Straßen. Laternen flackerten, und Calandryll konnte das Doppelband der breiten Stra ße erkennen, die zum Hafen hinabführte. Die See war eine ölig aussehende aufgewühlte Fläche. Das dumpfe
Donnern der Brandung gegen die Mole und die Wellen brecher drangen schwach zu ihm herüber. Die vor Anker liegenden Schiffe verschmolzen mit der Dunkelheit und waren kaum auszumachen. Er dachte an die Kriegsschif fe, die er gesehen hatte, und fragte sich, ob er darin einen Plan Tobias' erkennen konnte, der über die bloße Vertei digung der lyssianischen Seefahrtsrouten hinausging. Den Gerüchten zufolge, die er auf dem Weg nach Wessyl gehört hatte, rief Tobias zum Krieg gegen Kandahar auf, und diese Truppentransporter mit den hohen Aufbauten für Bogenschützen und Armbrüste waren nicht gerade dafür geeignet, Handelsschiffen Geleitschutz zu geben. Das war die Aufgabe der schlanken, schnellen Kriegs boote. Die Truppentransporter waren neben der Beförde rung von Soldaten für Angriffe auf Landziele und als Landungsboote für die Sturmtruppen gedacht. Wollte Tobias tatsächlich einen Krieg anzetteln? Dien te seine Rundreise in erster Linie dem Zweck, die Domms der anderen Städte von seinem Vorhaben zu überzeugen? Er hatte sich schon damals in Secca, als Varent den Tarl dort zu Besuch gewesen war, in dieser Richtung geäußert, und Bylath hatte ihm widersprochen. Jetzt aber war Bylath tot, und Tobias herrschte. Vielleicht brauten sich wirklich die Wolken des Krieges am Hori zont zusammen. Calandryll erschauderte. Wenn das zutraf, konnte es eigentlich nur bedeuten, daß Tharn jetzt schon an Einfluß gewann, daß der Verrückte Gott selbst im Traum die Welt zu verheeren begann.
Und es waren nur drei Kämpfer, die sich seinen chao tischen Zielen entgegenstemmten. Er rief sich noch einmal dieses traumartige Gespräch mit Dera ins Gedächtnis zurück, und zu seiner freudigen Überraschung zerstreuten sich die aufkommenden Zwei fel augenblicklich, und an ihre Stelle trat eine unerklärli che Zuversicht, als hätte die Göttin ihn durch ihre Worte und Berührungen mit einem Selbstvertrauen erfüllt, das über sein Verständnis hinausging. Er konnte es nicht greifen oder in Worte kleiden, aber er wußte, daß es da war, und schon das allein war ein Geschenk. Mit neuer wachtem Mut zog er die Fensterläden zu und legte sich ins Bett. Sein Schlaf war tief und traumlos, bis er schließlich durch ein beharrliches Klopfen geweckt wurde. Er öffne te die Augen, stellte fest, daß es noch dunkel war, gähnte und streckte die Hand gleichzeitig nach seinem Schwert aus, das auf der Bettdecke neben ihm lag. Die Scheide mit der linken Hand umklammernd, die rechte auf den Griff gelegt, tappte er zitternd zur Tür. Es war kalt im Zimmer, und der nackte Steinboden fühlte sich eisig unter seinen Füßen an. Anscheinend waren die Gastwirte in Wessyl mit der Heizung genauso sparsam wie mit den Worten. Calandryll erkundigte sich schläfrig, wer ihn geweckt hätte, erkannte Brachts Stimme draußen auf dem Flur und schob den Riegel zurück. »Wir hatten uns auf einen frühen Aufbruch geeinigt«, erklärte der Kerner grinsend und schob sich an Ca
landryll vorbei, um die Fensterläden aufzustoßen. »Leg das Schwert weg und zieh dich an.« Calandryll reagierte mit einem Grunzen auf die gute Laune seines Gefährten. Er hatte die Zähne zusammen gebissen, damit sie in der Kälte nicht klapperten. Sein Optimismus, dachte er, erlebte auch seine Rückschläge. Er warf das Schwert auf das Bett, ging zum Waschtisch, und es überraschte ihn nicht sonderlich, einen dünnen Eisrand in der Wasserschüssel zu entdecken. Er keuchte, als er sich Gesicht und Oberkörper mit dem eisigen Was ser wusch, trocknete sich eilig ab und schlüpfte in seine Kleidung. Durch das Fenster sah er, daß die Stadt mit einer mil chigen Nebelschicht überzogen war, die die wenigen Geräusche dämpfte, die es zu einer so frühen Stunde gab. Überall hingen glitzernde Eiszapfen. Der Hafen ver schwand im Dunst, die Sicht reichte gerade bis zu den nächsten Gebäuden. Der Anblick erinnerte ihn an Vishat'yi, und er fragte sich flüchtig, wie es wohl Menelian gehen mochte, während er seine Tunika zuschnürte und das Schwert umgürtete. »Also, Frühstück und die Zelte, und schon können wir aufbrechen«, sagte Bracht fröhlich. »Komm, Katya trifft uns unten im Speisesaal.« Calandryll legte sich den Mantel über die Schultern, froh über die Wärme, die dieser spendete, ergriff seine Satteltaschen und folgte dem Kerner die Steinstufen hinunter in den Gemeinschaftsraum.
Dort war es kaum wärmer als im oberen Stockwerk. Ein Hausdiener mit verschlafenen Augen und rußver schmiertem Gesicht, der ein sackartiges Kleidungsstück trug, schob frische Holzscheite ins Feuer. Der Wirt kam mit einem gewaltigen Gähnen aus der Küche, offensicht lich überrascht, so früh schon Gäste vorzufinden. Er kratzte sich mürrisch am Kopf und sagte ihnen, daß das Küchenpersonal gerade erst aufgestanden sei und er ihnen höchstens Haferbrei und Brot vom Vortag anbieten könne, da er den Herd noch nicht einmal angeheizt habe. »Dann muß das eben ausreichen«, meinte Bracht, ohne sich durch den Mißmut des Mannes die gute Laune ver derben zu lassen. »Und wir brauchen ein paar Auskünf te. Wo können wir Zelte kaufen?« »Im Segelmacherviertel.« Der Gastwirt schneuzte sich und wandte sich ab, um zu gehen, aber Bracht hielt ihn mit erhobener Hand zu rück. »Und wo ist das? Vielleicht ist Euch noch nicht aufgefallen, daß wir hier fremd sind.« Der Mann bedachte den Kerner mit einem griesgrämi gen Blick und begann, irgend etwas Abfälliges über um herziehende Söldner zu murmeln, überlegte es sich dann aber anders, als Bracht beiläufig und immer noch lä chelnd mit den Fingern über den Griff seines Dolches strich. Der Wirt erklärte ihnen den Weg und verschwand mit finsterem Gesicht in der Küche. »Unfreundliche Leute«, murmelte Bracht. »Aye.«
Calandryll war noch nicht nach Gesprächen zumute, aber als Katya kurz darauf zu ihnen stieß, wurde seine Schweigsamkeit von ihr und Bracht wettgemacht. Sie begrüßte die beiden Männer mit einem Lächeln, löffelte voller Begeisterung den Haferbrei, der ihnen an den Tisch gebracht wurde, plauderte fröhlich über ihre Ab reise, und schon bald hatte Calandryll seine Müdigkeit abgeschüttelt. Durch die Lebhaftigkeit seiner Gefährten hob sich auch Calandrylls Stimmung. Es war wirklich ein aufmunternder Gedanke, schon bald diese graue und düstere Stadt hinter sich lassen zu können. Nachdem sie ihre Bäuche gefüllt hatten, zahlten sie die Rechnung mit Rhythamuns Geld und holten ihre Pferde aus dem Stall. Der Nebel hing noch immer dicht über der Oberstadt, aber als sie die breite Straße hinabritten, die zum Hafen führte, kam ein leichter Wind vom Engen Meer her auf, zerriß den Nebel und ließ ihn in dicken Schwaden durch die Straßen tanzen. Die drei Abenteurer fanden das Segelmacherviertel, erstanden drei kleine Zelte aus kräftiger Segeltuchplane mit verstärkten Bo denmatten und schnallten sie hinter ihren Sätteln fest. Danach hatten sie keinen Grund mehr, noch länger in Wessyl zu verweilen, kehrten über die breite Verbin dungsstraße in die Oberstadt zurück und fanden das gleiche Tor, durch das sie Wessyl betreten hatten. Sie warfen keinen Blick zurück, als sie durch den Nebel in Richtung Norden trabten.
Das Heideland blieb den ganzen Tag über nebelver hüllt. Sie kamen so langsam voran, daß sie beschlossen, die Nacht in der Karawanserei zu verbringen, auf die sie kurz vor Sonnenuntergang stießen. Hier wurden sie freundlicher als in Wessyl aufgenommen, und der Wirt war nur zu gern bereit, sich mit ihnen zu unterhalten. Von ihm erfuhren sie, daß ein Mann, auf den die Be schreibung Daven Tyras' zutraf, hier vorbeigekommen war, und daß Tobias und sein Gefolge nicht mehr weit vor ihnen sein konnten. Sie verließen die Raststätte im Morgengrauen. Der Nebel hatte sich in der Nacht aufge löst, der Tag war klar und kalt, und abgesehen vom Ho rizont, der von der Sonne in goldenes Licht getaucht wurde, wölbte sich der Himmel blaßblau über ihnen. Diesmal kamen sie schneller voran, verbrachten die Nacht in den Zelten und näherten sich bereits am nächs ten Tag Eryn. Die Straße bog in nordwestlicher Richtung ab, folgte der Küstenlinie um das äußerste Ende der langgestreck ten Bucht herum und mündete in die Werftstadt. Von dort aus verlief sie direkt nach Norden weiter bis Ganns hold, und Calandryll, der sich die Bücher und Karten ins Gedächtnis zurückrief, die er in Secca ausgiebig studiert hatte, schätzte, daß sie nach einigen Meilen landeinwärts wieder auf die Straße stoßen würden. Über das Land selbst, das sie durchqueren mußten, wußte er kaum et was, nur, daß es aus steiniger Heide bestand, die zum Gann-Gebirge hin anstieg, eine einsame und fast men schenleere Gegend, das Reich von einigen wenigen Fal
lenstellern und Jägern. Dort würden sie nur schwerlich Gastfreundschaft finden. »Wahrscheinlich kommen wir dort genauso schnell wie auf der Straße voran«, meinte Bracht, als sie von der erhöhten gepflasterten Hauptverkehrsader auf einen sanften Hang mit struppigem Gras abbogen, das mit verkümmertem Heidekraut durchsetzt war. »Und es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß wir dort deinem Bruder begegnen werden.« Calandryll pflichtete ihm bei, stieß seinem Wallach die Fersen in die Seiten und schloß zu Bracht auf, der die Zügel des großen Hengstes freigab. Sie preschten dahin, die Hufe der Pferde hinterließen eine Spur losgetretener Grasstücke. Das Land breitete sich weit vor ihnen aus, eine grüne Fläche, in die Heide kraut und Ginster blaue und goldene Farbtupfer setzten und die von silbernen Bändern durchzogen wurde, wo kleine Bäche durch Gras und Moos flossen. Brachvögel stießen ihre glucksenden Schreie aus, Schnepfen zwit scherten, Kiebitze und Rotschenkel huschten ihnen aus dem Weg, und über ihnen kreisten erwartungsvoll Bus sarde und Wanderfalken. Es war ein gutes Gefühl, durch eine so freie Landschaft zu galoppieren, und Calandryll genoß den Ritt in vollen Zügen. Nachdem die Pferde sich ausgetobt hatten, fielen sie in einen gemächlicheren gleichmäßigen Galopp. Als die kraftlose Sonne ihren Zenith erreicht hatte, legten sie eine kurze Rast ein und aßen zu Mittag, bevor sie bis zur
Abenddämmerung weiterritten. Dann schlugen sie ihr Lager neben einem kleinen Bach am Fuß eines niedrigen Hügels auf, der sie vor dem kalten Wind schützte. Mit Einbruch der Nacht brannte ein munteres Feuer. Die Pferde waren angeleint und rupften zufrieden an dem zähen Gras. Bracht kramte Schlingen aus seinen Sattelta schen hervor, legte sie auf der anderen Seite des Hügels aus und versprach seinen Gefährten, daß sie am nächsten Morgen Hase oder Kaninchen essen würden. Calandryll hatte den Eindruck, daß er für alle Zeit glücklich so wür de leben können. Die Bequemlichkeiten, die er im Palast seines Vaters als selbstverständlich hingenommen hatte, erschienen ihm mittlerweile wie ein Traum. Er lachte leise in sich hinein, als er sich in seinem Zelt ausstreckte und sich fragte, wo Tobias diese Nacht schlief und wie er jetzt wohl über seinen Bruder denken würde. Wahrscheinlich würde er ihn jetzt als eine noch größe re Bedrohung ansehen, überlegte Calandryll, denn er wußte, daß er Tobias nun in einem ehrlichen Kampf besiegen könnte, und das erinnerte ihn an etwas, das Bracht vor einiger Zeit gesagt hatte, daß es wahrschein lich irgendwann zu einer Abrechnung kommen würde. Vielleicht, dachte er müßig, während seine Augen vor Müdigkeit schwer wurden, aber irgendwann später, nachdem sehr viel wichtigere Dinge geregelt worden waren. Als er den wärmenden Mantel bis zum Kinn hochzog, wurde er sich bewußt, daß er mit jedem verstreichenden
Tag dem pragmatischen Kerner ähnlicher wurde, dessen Freund er vor einem Jahr geworden war. Es kam ihm sehr viel länger vor, als hätte er Bracht schon immer gekannt, und mit diesem Gedanken schlief er ein. Bracht hatte nicht zuviel versprochen, denn am nächs ten Morgen gab es zwei fette Hasen zum Frühstück, bevor sie über das freie Land weiter in Richtung Ganns hold ritten. Es kam zu keinen weiteren Regen- oder Schneefällen, und sie kamen zügig durch die Heideland schaft voran. Das Gelände stieg beständig an, je weiter sie sich der noch fernen Bergkette näherten. Kleine Inseln aus windzerzaustem Wacholder und Zwergpappeln erschienen zwischen dem Stechginster und dem Heide kraut. Außer einer Gestalt, die sie von weitem wachsam von einer Hügelkuppe aus beobachtete, begegneten sie keinem Menschen, und nach zwei weiteren Tagen stie ßen sie wieder auf die Straße. Es war am späten Vormittag, die Sonne stand kurz vor ihrem Zenith und schien aus einem Himmel, der die Farbe von Enteneiern angenommen hatte und mit langen Streifen von Zirruswolken durchzogen war, die der Nordwind vor sich her trieb. Sie ritten in einem langsa men und gemächlichen Galopp dahin und überlegten sich, eine Rast einzulegen, um eine Kleinigkeit zu essen und den Pferden eine Ruhepause zu gönnen. In wenigen Tagen würden sie Gannshold erreichen. Bracht war et was vorausgeeilt und erreichte gerade die Kuppe eines
niedrigen Hügels, als er seinen Hengst in den Schritt fallen ließ und warnend eine Hand hob. Calandryll und Katya zügelten ihre Pferde und lenkten sie neben den Kerner, der mit einem Nicken auf die Szenerie deutete, die seine Vorsicht erregt hatte. Vor ihnen fiel die Straße ab und verlief schnurgerade durch ein flaches Tal, in dessen Mitte ein Fluß dahin strömte, über den eine kleine Brücke führte. Die Straße vor der Brücke wurde auf beiden Seiten von einem Zug buntgeschmückter Wagen und Kutschen gesäumt. Die Zugpferde waren ausgeschirrt worden und grasten in einem provisorischen, mit Seilen gezogenen Pferch am Straßenrand. Daneben stand ein riesiges, schwarz und grün gestreiftes Zelt, vor dem Wasserträger zwischen ausgelassenen Frauen in luxuriöser Reisekleidung und Männern in leichter Rüstung geschäftig umhereilten. Von den Karren und Pfosten, die um das Zelt herum aufgestellt waren, flatterten Wimpel in den gleichen Farben, grün und schwarz, den Farben Seccas. Calandryll stieß ein Keuchen aus. Seine Augen such ten die Menge ab, und er erkannte die Insignien, die die Brustpanzer und Halbhelme der Soldaten und die Liv reen der Diener zierten. Mit leiser Stimme, als fürchtete er, man könnte ihn dort unten hören, flüsterte er: »Tobi as.« Bracht nickte. »Und der einzige Weg führt geradeaus.« »Können wir nicht einen Bogen schlagen?« Calandryll blickte sich um und überlegte, ob es möglich wäre, die
Straße hier wieder zu verlassen und den Fluß etwas wei ter stromaufwärts zu überqueren, aber er wußte schon im selben Moment, daß ein so offensichtlicher Umweg garantiert Mißtrauen hervorrufen würde. Katya bestätigte seine Befürchtungen, indem sie auf die Bogenschützen deutete, die einen Halbkreis vor der Menschenmenge bildeten, gerade die Pfeile auf die Seh nen legten und in Richtung der drei Reiter starrten. »Sie haben uns schon entdeckt«, bemerkte sie gelassen. »Wenn wir versuchen, sie zu umgehen, werden sie wahr scheinlich wissen wollen, warum wir das tun.« »Und versuchen, uns einzuholen«, fügte Bracht hinzu. Seine Augen wanderten zu den in Kettenrüstungen ge kleideten Lanzenträgern, die hinter den Bogenschützen standen. »Sie würden uns für den Spähtrupp einer Räu berbande halten.« Calandryll fluchte leise, als ein Unteroffizier etwas Unverständliches rief und in ihre Richtung deutete. Seine Worte wurden weitergegeben, und kurz darauf löste sich eine vertraute Gestalt aus der Menge und trat mit stolzen Schritten vor. Der Mann hob eine Hand über die Augen und spähte zu der niedrigen Hügelkuppe herüber. Das Sonnenlicht funkelte auf seiner polierten Rüstung. Er trug keine Kopfbedeckung, der Wind zerzauste sein langes, volles rötlichbraunes Haar. Obwohl die Entfernung zwischen ihnen so groß war, daß keine Einzelheiten in den Ge sichtszügen auszumachen waren, wußte Calandryll, daß
er dort unten im Tal seinen Bruder sah. Er glaubte, eine eisige Hand über seinen Rücken streichen zu fühlen, und war überzeugt, daß Tobias ihn jeden Moment erkennen mußte und die berittenen Lanzenträger der Palastgarde im vollen Galopp auf ihn hetzen würde. Er leckte sich über die plötzlich trocken gewordenen Lippen, als Tobias mit den ihm am nächsten stehenden Männern sprach, und sah, wie eine Frau, deren kastanienbraunes Haar von einem Netz zusammengehalten wurde, sich neben ihn schob. Sein Bruder legte ihr den Arm um die Schul tern und sagte etwas zu ihr, das die Umstehenden in Gelächter ausbrechen ließ. Calandryll erkannte Nadama, und mit einem Teil seines Verstandes, der nicht vor Furcht wie betäubt war, registrierte er, daß sie immer noch wunderschön war und er zu seiner Erleichterung bei ihrem Anblick keinen schmerzhaften Stich des Be dauerns über ihren Verlust empfand. Vielleicht lag das aber auch nur daran, daß die Furcht, wiedererkannt zu werden, alle anderen Gefühle überlagerte. »Wir sollten besser weiterreiten«, schlug Bracht vor. »Er wird mich bestimmt erkennen«, wandte Ca landryll ein. Der Kerner warf ihm einen kurzen abschätzenden Blick zu. »Würde der Domm von Secca einem umherzie henden Söldner besondere Aufmerksamkeit schenken?« Er beantwortete seine eigene Frage mit einem Kopfschüt teln. »Kommt, sie haben uns längst gesehen, und ihnen auszuweichen würde mit Sicherheit dazu führen, daß sie
uns verfolgen. Sollte der schlimmste Fall eintreten, bre chen wir einfach durch.« Er trieb seinen Hengst zuversichtlich zum Trab an und ließ Calandryll keine andere Wahl, als ihm den Hügel hinab zur Brücke zu folgen. Direkt auf seinen Bruder zu, der seinen Tod wollte. So, wie sich ein Ertrinkender an einen Strohhalm klammert, klammerte sich Calandryll an Deras Verspre chen, aber trotzdem spürte er sein Herz immer schneller schlagen, je näher sie der Menge kamen. Beim Anblick der zur Hälfte gespannten Bögen begann seine Haut zu prickeln. Er wußte, daß es nur eines Wortes von Tobias bedurfte, und er würde, mit Pfeilen gespickt, aus dem Sattel geschleudert werden. Und er wußte, daß sein Pferd durch den Morgenritt müde war, während die Tiere der Palastgarde ausgeruht und frisch waren. »Du bist Calan, ein Krieger aus Cuan na'For«, sagte Bracht aus dem Mundwinkel heraus. »Denk immer nur daran.« Calandrylls Mund war zu trocken, als daß er zu ant worten gewagt hätte. Lautlos verfluchte er die Arroganz, mit der der Zug seines Bruders nur einen schmalen Durchgang in der Mitte der Straße offen ließ. Die Wagen nahmen soviel Platz ein, daß er nicht einmal ein bißchen Deckung zwischen seinen Gefährten finden konnte. Sie mußten den Troß nacheinander passieren. Das war ty pisch für Tobias, dachte er, sich dort, wo er keine Rechte besaß, wie der Besitzer des Landes aufzuführen. Zorn
mischte sich in seine Angst. »So ist es besser«, murmelte Bracht. »Behalte diesen hochmütigen Gesichtsausdruck bei.« Vor ihnen drängten sich die Bogenschützen wachsam zusammen. Vom Fluß her klangen die Rufe der Diener auf, die verkündeten, daß das Mittagessen fertig sei. Wenn die Lanzenträger der Palastwache dichter an die Straße herankommen, dachte Calandryll, werden sie mich bestimmt erkennen. Wenn mich Nadama oder Tobias aus der Nähe sehen, erkennen sie mich garantiert wieder. Er biß die Zähne aufeinander, das Herz hämmerte ihm wie ver rückt in der Brust, schien schneller und lauter zu schla gen, als die Hufe seines Pferdes auf dem Straßenpflaster klapperten. Er bemühte sich nach Kräften, geradeaus zu starren und die ihm zugewiesene Rolle zu spielen, aber seine Augen wanderten unerbittlich zu der ihn beobach tenden Menge, als würde sein Blick wie durch ein Mag net von Tobias angezogen. Er sah, daß sein Bruder geal tert war, sein attraktives Gesicht wirkte härter, Falten hatten sich um seinen aristokratischen Mund eingegra ben, und in seinen Augen lag mehr als nur die altbekann te Arroganz. Irgend etwas Kaltes und Unbarmherziges. Jetzt befanden sie sich fast auf gleicher Höhe mit den Bogenschützen, und Bracht verlangsamte das Tempo wieder, als sich Soldaten auf die Straße drängten, beru higte den großen Hengst, der die Anspannung seines Herrn spürte und schnaubte und unruhig tänzelte. Katy as Schimmel ließ sich davon anstecken und bockte ner
vös. Calandryll hielt die Zügel seines Wallachs, der eben falls schnaubte und stampfte, straff gespannt. Der Unter offizier, der das Erscheinen der Fremden gemeldet hatte, trat vor, eine Hand lässig auf den Griff seines Schwertes gelegt, während seine Männer hinter ihm warteten. Tobi as betrachtete die drei Reiter kalt. Einen Moment lang begegneten seine Augen denen seines jüngeren Bruders, und Calandryll war überzeugt, daß seine Zeit gekommen wäre, daß jetzt der Befehl zum Angriff erfolgen und er auf dieser einsamen Straße sterben würde, bevor er seine Mission beenden konnte. Rhythamun würde freie Bahn haben. Doch dann wanderte Tobias' hochmütiger Blick über ihn hinweg. Der Domm beugte sich näher an Na dama heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lachte, und ihre Zähne schimmerten weiß zwischen den roten Lippen. Calandryll war sicher, daß die Bemerkung ihm gegolten hatte. Er spannte sich. Sollte sich auch nur ein Bogen auf ihn richten, würde er sein Schwert ziehen und seinem Pferd die Fersen in die Weichen stoßen. Aber Tobias wandte sich ab, zog Nadama mit sich und kehrte zum Zelt zurück. Für den Domm von Secca waren die drei umherziehenden Kerner nur von kurzfristigem Interesse. »Vorsicht, sonst beißt er. Bewaffnete Männer machen ihn nervös.« Bracht lächelte dem Unteroffizier entspannt zu und ließ die Zügel gerade so weit locker, daß der Hengst den Kopf in Richtung des Soldaten drehen und die gelben Zähne blecken konnte. Der Mann trat ihm aus
dem Weg und beäugte den Kerner und dessen Begleiter mit der leidenschaftslosen Wachsamkeit eines Berufssol daten. »Ihr habt ein schönes Tier.« Sein Blick wanderte gelas sen über den Rappen, den Schimmel und den Braunen. »Eure Gefährten ebenfalls.« »Aye«, stimmte ihm Bracht zu. »In Cuan na'For legen wir sehr viel Wert auf unsere Pferde.« Der Unteroffizier nickte und gab seinen Männern Zei chen, den Weg freizugeben. Calandryll ritt an ihm vor bei, immer noch überzeugt, daß man ihn jeden Augen blick erkennen würde, und das Kribbeln auf seiner Brust verlagerte sich nun auf seinen Rücken, als er die Bogen schützen hinter sich ließ. Er sah Tobias und Nadama im Zelt verschwinden. Dann war er auch an den letzten Bogenschützen vorbei, die Hufe seines Braunen klapper ten über die Brücke, und dann trieb er ihn zu einem ver haltenen Galopp an, als Bracht das Tempo beschleunigte. Erst jetzt wurde er sich bewußt, daß sich sein Gesicht und sein Oberkörper mit kaltem Schweiß überzogen hatten. Katya lenkte ihren Schimmel neben ihn und sagte lä chelnd: »Jetzt kannst du wieder ausatmen.« Calandryll hatte gar nicht bemerkt, daß er die Luft an gehalten hatte, bis er sich den Atem mit einem Seufzen ausstoßen hörte und erschauderte. Er sog die Luft in tiefen Zügen in seine Lungen. Die Straße stieg wieder an. Sie ritten den Hügel auf der anderen Seite des Tales hin
auf und über die Kuppe hinweg, die die Sicht auf das Zelt, die Wagen und all die Leute abschnitt, die ihn hät ten erkennen können. Calandryll schüttelte den Kopf, immer noch unfähig, ein Wort hervorzubringen, verwirrt von den Gefühlen, die auf ihn einstürmten. Er hatte Furcht verspürt, das war ihm klar, aber Furcht war ihm längst vertraut geworden; er hatte gelernt, damit umzu gehen, und er wußte, daß es mehr als nur Angst gewesen war, was er empfunden hatte. Wahrscheinlich waren es die Nähe und der Anblick seines Bruders gewesen, die ihm nicht nur auf eine abstrakte Art, sondern unmittelbar und unmißverständlich bewußt gemacht hatten, daß er keine Familie und Heimat mehr besaß. Vielleicht hatte dazu ebenso beigetragen, Nadama zusammen mit Tobias zu sehen, sich mit eigenen Augen davon überzeugen zu können, daß die Frau, in die er einst verliebt gewesen war, sich für seinen Bruder entschieden hatte. Es war ihm sehr leicht gefallen, diese Tatsachen mit zeitlichem und räumlichem Abstand zu akzeptieren, aber sie direkt vor sich zu sehen, bedeutete, sich mit dieser Wirklichkeit auseinandersetzen zu müssen. Wieder schüttelte er den Kopf, und plötzlich bemerkte er, daß Tränen seine Sicht verschleierten. Er hob eine Hand und wischte sich über die Wangen. Katya beugte sich wortlos zu ihm hinüber, legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er lächelte zaghaft, dankbar für ihr stummes Mitgefühl. Bracht grinste und sagte: »Ich habe dich gut verklei det. Sie haben nur einen Krieger aus Cuan na'For in dir gesehen.« Dann gab er ihnen ein Zeichen, das Tempo
anzuziehen. »Oder Dera hat sie mit Blindheit geschlagen«, mur melte Calandryll. Jetzt fühlte er sich schuldig, weil er an dem Versprechen der Göttin gezweifelt hatte. Er trieb den Braunen zum Galopp an, konzentrierte sich ganz auf den schnellen Ritt, und der Wind vertrieb seine Verwir rung. So ritten sie weiter, bis die Pferde zu ermüden began nen. Dann machten sie Rast, um zu essen, zufrieden, Tobias und sein Gefolge meilenweit hinter sich zurückge lassen zu haben. Durch die Größe der seccanischen Rei segruppe und die Gemächlichkeit, die sie an den Tag gelegt hatten, bestand kein Zweifel, daß die drei Gefähr ten Gannshold erreichen würden, lange bevor dort Ca landrylls Steckbrief ausgehängt werden konnte, und dieser Gedanke munterte Calandryll etwas auf. Als sich die Nacht über die Heide senkte und sie ihr Lager auf schlugen, hatte er seine Ruhe wiedergefunden und die Gedanken an seinen Bruder und die Frau, die er einmal zu lieben geglaubt hatte, bereits in den hintersten Winkel seines Bewußtseins zurückgedrängt. Am nächsten Tag erschien verschwommen die dunkle Silhouette des Gann-Gebirges am Horizont, und einen Tag später ging die Heide in die Hügellandschaft des Vorgebirges über. Die vereinzelten Kiefern- und Lär chenhaine wurden dichter und zahlreicher und überzo gen die Hügel mit Farbschleiern in unzähligen Grün
schattierungen, die den bevorstehenden Frühling ankün deten. Die von Bäumen gesäumte Straße stieg beständig an und kletterte unaufhaltsam den Bergen entgegen, führte durch künstliche Einschnitte im blaugrauen Granit und über bogenförmige Brücken, unter denen wild schäumende Gebirgsbäche durch enge Schluchten tobten, schlängelte sich in Serpentinen die steilen Berghänge hinauf, auf denen Kiefern hier und da einen unsicheren Halt gefunden hatten, und verlief durch Täler mit leuch tend bunten Blumenteppichen. Tagsüber kreisten Raub vögel am Himmel, und in der Nacht stießen Eulen ihre klagenden Rufe aus. Am dritten Tag kamen vor ihnen die Tore von Gannshold in Sicht.
KAPITEL 11 Kesham-vaj schwelte immer noch. Der rote Feuerschein vereinzelter Brandherde spiegelte sich am Himmel wi der, die Nacht war von Mandelgeruch und dem Verwe sungsgestank der Leichen erfüllt. Im Inneren des großen Zeltes des Tyrannen wurde der Gestank fast vollständig durch den Geruch nach Weihrauch und gebratenem Fleisch überdeckt. Trotzdem wedelte Xenomenus, der schon immer recht zimperlich gewesen war, mit einem parfümierten Taschentuch vor seiner Nase herum. Er strahlte über das ganze Gesicht, als ihm seine Hauptleute den großen Sieg meldeten. Die Streitkräfte der Rebellen wichen in Unordnung zurück, flohen hastig von der Hochebene wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen. Sie zogen sich nach Osten zurück, in die Fayne hinein, um sich wahrscheinlich wieder vor Sathoman ek'Hennems Festung zu sammeln und eine Verteidigungslinie zwischen den noch von ihnen gehaltenen Küstenstädten und den Armeen des Tyrannen zu bilden. Noch immer setzten die Rebellen ihnen zu, war der Lord der Fayne am Leben und hielt das Banner der Rebellion hoch, aber dieser Sieg gehörte Xenomenus, und schon bald würden die besetzten Städte Mhazomul und Mherut’yi fallen. Jetzt kam es nur noch
darauf an, nachzurücken und die Versorgungslinien zu unterbrechen, um die Küstensiedlungen völlig zu isolie ren und so die Rebellen auszuhungern. Das würde nicht über Nacht geschehen, ja vielleicht nicht einmal bis zum Jahresende, trotz der Hilfe, über die Xenomenus verfüg te. Er warf einen wachsamen Seitenblick auf die schwarzgekleideten Hexer, die neben ihm standen. Aber es war auf jeden Fall ein Anfang, ein glorreicher Anfang. Sie hatten noch den gesamten Sommer vor sich, um zu kämpfen und zu marschieren. Mit dem Winter würde sich dieser Vorstoß zwangsläufig verlangsamen, aber bis zum Frühling des nächsten Jahres – spätestens im Som mer – sollte sich wieder ganz Kandahar seinem rechtmä ßigen Herrscher unterwerfen, und Sathoman ek'Hennems Kopf würde die Mauern Nhurjabals zieren. »Gut gemacht!« Xenomenus preßte sich das Taschen tuch auf die Nase – Burash, was stanken diese Soldaten nach Schweiß, Blut, Stahl und zu lange getragenen Dra chenhautrüstungen! –, aber er hörte nicht auf zu lächeln, denn dies war wirklich ein gewaltiger Sieg, eine Bestäti gung seiner Überzeugungen. »Laßt alle Kompanien fei ern. Sie werden Wein erhalten.« »Und der Krieg?« fragten seine Führungsoffiziere. »Wann marschieren wir weiter?« »Ihr werdet es bald erfahren«, versprach Xenomenus. »Diese Entscheindung werde ich morgen fällen. Jetzt möchte ich mich erst einmal ausruhen.« Er schickte die Offiziere mit einer nachlässigen Hand
bewegung fort. Sie verließen das Zelt, ohne zu murren, denn sie waren in der Mehrzahl einfache Soldaten, die eher auf Stahl als auf Zauberei vertrauten, und was sie bei der Eroberung dieser Stadt miterlebt hatten, rief Er innerungen an den Krieg der Hexer wach, den die meis ten am liebsten vergessen hätten. Trotzdem hatte sich niemand gegen diese Unterstützung ausgesprochen, denn Kesham-vaj hatte über eine furchtbare Verteidi gung verfügt und wäre ohne die Hilfe der Magier viel leicht nie gefallen. Nachdem die Führungsoffiziere verschwunden waren, winkte Xenomenus seine Hexer näher zu sich heran, und Anomius schob sich am weitesten vor. »Hatte ich nicht recht?« fragte der Tyrann, ohne etwas anderes als Zustimmung zu erwarten. »Ich weiß, daß einige von Euch diesen Mann lieber in den Verliesen hätten schmoren lassen. Und jetzt? Hat er uns nicht Kesham-vaj gegeben? Uns den ersten Sieg ermöglicht?« Anomius lächelte einfältig und verbeugte sich strah lend. »So ist es, Xenomenus, Herr«, bestätigte Lykander. »Diese Entscheidung war sehr weise.« Er neigte den Kopf, verschränkte die Hände über seinem Schmerbauch und genoß die Zustimmung, mit der der Tyrann ihn bedachte, ohne den verächtlichen Seitenblick von Ano mius zu bemerken. »Aye, das war sie«, sagte Xenomenus selbstgefällig. »Und jetzt gehört Kesham-vaj mir, und Sathoman ek'-
Hennem befindet sich auf dem Rückzug. Aber…« – er verzog sein weichliches Gesicht zu einem Ausdruck, den er für streng und entschlossen hielt – »… der Krieg ist noch nicht vorbei. Es gibt noch einiges zu tun, und diese Nachrichten aus Lysse beunruhigen mich.« »Ich glaube nicht, daß Ihr Euch deswegen Sorgen ma chen müßt«, meinte Lykander. »Es gibt kaum Zauber kundige in diesem Land, und die wenigen, die dort le ben, sind keine ernstzunehmenden Gegner für uns.« »Mag sein«, räumte Xenomenus ein, »aber meine Spi one berichten mir, daß dort eine Flotte gebaut wird. Es ankern bereits Kriegsschiffe vor Eryn und Wessyl. Sollte Lysse beschließen, sich einzumischen…« Er unterbrach sich und wedelte mit dem Taschentuch. »Sie haben nicht genug Zeit, mein Fürst«, sagte Ly kander. »Bevor die Flotte in See stechen kann, werden wir die Küstenstädte zurückerobert haben, und unsere Flotte ist immer noch größer als die ihre.« Xenomenus schürzte die Lippen. »Wenn Bylath doch noch in Secca herrschen würde«, murmelte er. »Ich glau be, einer seiner Söhne, dieser Tobias – Burash möge seine Augen verfaulen lassen! – möchte das Enge Meer beherr schen. Dieser Welpe ist ehrgeizig, und es würde mich nicht wundern, wenn er versuchen sollte, sich zum Ty rannen von ganz Lysse aufzuschwingen.« »Bestimmt nicht, mein Herr«, erwiderte Caranthus lei se und lächelte beruhigend. »Wäre das sein Ziel, müßte er zuerst alle Städte erobern, und die Städte Lysses sind
berühmt für ihre Unabhängigkeit. Wenn er das wirklich wollte, müßte er einen Krieg mit ganz Lysse führen, bevor er auch nur daran denken könnte, Kandahar an zugreifen.« »Das ist richtig«, sagte Xenomenus, »aber was, wenn er die Domms von Lysse überreden würde, Sathoman ek'Hennem ein Bündnis anzubieten? Was dann?« »Dann müßte er immer noch zuerst die Flotte bauen lassen und die anderen Domms von seinem Vorhaben überzeugen«, antwortete Lemomal. »Sollte das wirklich seine Absicht sein.« »Und bevor er hoffen kann, das zu erreichen«, fügte Lykander hinzu, »werdet Ihr die Rebellen bereits besiegt haben.« »Werde ich das?« fragte der Tyrann an Anomius ge wandt. »Ihr werdet siegen«, versprach der kleine Mann. Seine blasse pergamentartige Kopfhaut glänzte, als er den Kopf neigte. »Mein Wort darauf.« Xenomenus hielt sich das Taschentuch noch dichter vor die Nase. Wie nützlich Anomius für ihn auch sein mochte, er hatte einen äußerst widerwärtigen Geruch an sich, als ob irgend etwas in seinem Mund verweste oder er bei lebendigem Leibe von innen heraus verfaulte. Ja, hätte er sich nicht als wertvoll erwiesen und weitere Erfolge versprochen, dann hätte Xenomenus seinen He xern befohlen, die Zauberkräfte zu entfesseln, mit denen sie, wie sie versicherten, den Magier belegt hatten, und
Anomius zu vernichten. So nahe, wie ihm der Zauberer jetzt war, fiel es ihm schwer, sein Lächeln aufrechtzuer halten, und er lehnte sich in seinem großen Sessel weit zurück. »Ich verlasse mich darauf«, murmelte er. »So wird es geschehen«, behauptete Anomius im Brustton der Überzeugung. »Ihr werdet erleben, wie Sathoman aus all Euren Städten in die Fayne-Burg zu rückgetrieben wird. Und dann wird auch diese Festung geschleift werden. Das verspreche ich Euch.« Er vollführte eine Verbeugung, deren Wirkung jedoch durch den Schleim beeinträchtigt wurde, der dabei aus seiner Knollennase tropfte und sich zu den anderen un definierbaren Flecken gesellte, die die Vorderseite seiner Robe verunzierten. Xenomenus zog es vor, nicht darüber nachzudenken, woher diese schmierigen Streifen und Flecken rührten, ja, er zog es vor, Anomius überhaupt aus dem Weg zu gehen. Wäre dieser häßliche kleine Mann nicht so wertvoll gewesen … Er schob diese Über legungen beiseite, nicht ganz sicher, ob der Zauberer nicht vielleicht seine Gedanken lesen konnte. »Ich werde Euch beim Wort nehmen«, sagte er und führte dann etwas leiser hinzu: »Aber ich frage mich, ob nicht etwas gegen diesen Tobias den Karynth unter nommen werden sollte.« »Er kann getötet werden«, versicherte Anomius so eif rig wie ein Kampfhund, der Blut geleckt hatte. »Es gibt da gewisse Möglichkeiten, Herr, wenn ich die Erlaubnis
erhalte.« Er hob die Arme in einer bewußt auffälligen Geste, so daß die schmutzigen Ärmel seiner Robe zurückglitten und die Bänder enthüllten, die seine Handgelenke um schlossen. Hinter seinem Rücken warfen Cenobar und Rassuman dem Tyrannen warnende Blicke zu. Andrycus schüttelte heftig den Kopf. Xenomenus' Lächeln wurde dünner, als auch er den Kopf schüttelte. »Ich glaube, das wäre zu früh«, wählte er vorsichtig eine doppeldeutige Antwort. »Ich möchte nicht, daß man Kandahar bezichtigt, sich in die inneren Angelegenheiten Lysses einzumischen … jedenfalls jetzt noch nicht.« Anomius zuckte die Achseln und senkte die Arme, so daß die Ärmel wieder die magischen Fesseln bedeckten. Der Kleine wird weich, dachte er. Er gewöhnt sich daran, daß er mich braucht, und bald wird er befehlen, mir die Freiheit zurückzugeben. Und dann werde ich diesen Hexern des Ty rannen zeigen, was wirkliche Magie ist. Aber vorerst habe ich alles, was ich brauche – Cennaire ist in Lysse, und das Kerl chen beginnt, mir zu vertrauen. Ich habe Zeit, eine Menge Zeit. Er verzog die fleischigen Lippen zu etwas, das wie ein demütiges Lächeln aussah, und schlug die wäß rigblauen Augen nieder. »Vorläufig haben wir genug zu tun«, hörte er Xeno menus verkünden. »Die lyssianische Flotte und dieser ehrgeizige Domm, um diese Probleme kümmern wir uns später. Ich werde müde, meine Herren, laßt mich jetzt
allein.« Die Hexer verneigten sich, verließen das Zelt und machten sich zu ihrer eigenen schwarzen Unterkunft auf, als Diener einen Tisch vor dem Tyrannen deckten und Musiker besänftigende Weisen zu spielen begannen. Cenobar warf einen Blick auf die zerstörte Stadt und machte eine unauffällige Geste, die nur für Rassumans Augen bestimmt war. Dieser fing sie trotz seines vom Alter getrübten Blickes auf, beantwortete sie auf die gleiche Weise und gab das Zeichen an Andrycus weiter, der kaum erkennbar nickte. Später, bedeuteten die Signa le, wenn wir ungestört sind. Die Kraft des Zauberspruches, den die drei wirkten, ließ die Luft schimmern, als ob ein kaltes und unsichtba res Feuer um sie herum brannte, das die Hütte vor jeder Form von Beobachtung abschirmte, sei sie gewöhnlicher oder magischer Natur. Der Schuppen lag außerhalb der zerstörten Mauern von Kesham-vaj und abseits der Zelte des Tyrannen, der Hexer und der Führungsoffiziere. Wahrscheinlich war er einmal die Behausung eines Vieh hirten gewesen. Jetzt war er trotz des kärglichen Kom forts, den er bot, der Stützpunkt der Verschwörer. Die drei Hexer saßen auf rohgezimmerten Stühlen um einen primitiven Tisch herum. Im Widerschein des Lichtes, das außerhalb der nackten Steinwände nicht zu sehen war, wirkten ihre Gesichter ernst, der Bedeutung dessen, was sie besprachen, und der damit verbundenen Gefahr an
gemessen. »Er wird stärker«, stellte Cenobar fest, »und wenn er auch wie eine Made aussieht, versteht er sich doch dar auf, geschickt mit Worten umzugehen.« »Aye, und die Eroberung dieser Stadt verbessert seine Position«, fügte Andrycus hinzu und strich sich geistes abwesend über die frischverheilte Hand, die so glatt und rosig wie die eines Säuglings aussah. »Nicht mehr lange, und er hat Xenomenus' Vertrauen errungen.« »Ich denke«, sagte Rassuman, der älter und gesetzter als seine Kameraden war, »da beurteilt ihr unseren Ty rannen falsch. Ich glaube, daß er, abgesehen davon, ihn als Werkzeug zu benutzen, nichts mit Anomius zu tun haben will. Wir müssen Sathoman ek'Hennem nur zur Strecke bringen. Dann, nehme ich an, wird Xenomenus uns befehlen, Anomius zu töten.« »Wenn wir es dann überhaupt noch können«, warf Cenobar düster ein. »Er besitzt größere okkulte Kräfte, als ich vermutet habe.« »Glaubst du, er könnte einen Weg finden, seine Fes seln zu zerbrechen?« fragte Andrycus. Cenobar zuckte die Achseln und überließ es Rassu man, zu antworten: »Noch nicht. Vielleicht mit der Zeit, wenn wir in unserer Wachsamkeit nachlassen. Oder falls er Verbündete finden sollte.« »Lykander?« erkundigte sich Andrycus. »Bestimmt wird nicht einmal er…«
»Wie Cenobar bereits festgestellt hat, Anomius ver steht es, geschickt mit Worten umzugehen«, sagte Ras suman, »und unser dicker Kollege war schon immer empfänglich für Schmeicheleien. Außerdem mangelt es ihm nicht an eigenem Ehrgeiz.« »Womit sollte Anomius ihn ködern?« wollte Andrycus wissen. »Was könnte er ihm versprechen?« »Grenzenlose Macht«, erwiderte der ältere Hexer leise und eindringlich. »Eine Macht, wie er sie sich nie hat träumen lassen.« »Das Arcanum?« Andrycus schüttelte heftig den Kopf. »Lykander würde ihn bestimmt verraten, sollte Anomius ihm ein solch wahnsinniges Angebot machen.« »Und woher sollte Anomius überhaupt davon wis sen?« fragte Cenobar. »Er glaubt nach wie vor, Ca landryll und die anderen würden einem Zauberbrevier hinterherjagen, nicht diesem furchtbaren Buch.« »Hast du Menelian vergessen?« fragte Rassuman zu rück. Jetzt klang seine Stimme düster. »Von allen Zaube rern der zweiten Garde war er der stärkste. Trotzdem ist er gestorben.« Cenobar neigte den Kopf, sowohl eine Geste der Zu stimmung als auch der Trauer. »Aber Menelian hat der Wiedererweckten nichts verraten. Anomius glaubt be stimmt noch immer, daß er sie auf die Suche nach einem Zauberbrevier geschickt hat.« »Er hat sie nach Lysse geschickt«, gab Rassuman zu bedenken, »und sollte sie Erfolg haben, sollte sie die
Gesuchten finden, was wird sie dann erfahren? Doch bestimmt, daß das Ziel ihrer Suche nicht einfach nur ein Zauberbrevier, sondern das Arcanum selbst ist.« »Trotzdem«, sagte Cenobar langsam und ordnete sei ne Gedanken, »sie haben das Buch nicht. Soviel hat uns der arme Menelian mitgeteilt. Dieser Rhythamun hat es ihnen abgenommen, und selbst wenn die Wiedererweck te sich für Anomius an ihnen rächt, wird ihr das Buch nicht in die Hände fallen.« Rassuman nickte. Sein aristokratisches Gesicht war ernst. »Ich hoffe, daß sie ihr entwischen«, sagte er, »aber wenn nicht, dann wird sie bestimmt den wahren Grund ihrer Mission herausfinden und Anomius darüber Be richt erstatten. Und sobald er einmal Bescheid weiß … Warum sollte er sich so sehr von Rhythamun unterschei den?« »Würde selbst ein Mann wie er…?« keuchte Andrycus. »Ich glaube, das würde er«, bestätigte Rassuman. »Ce nobar?« Der jüngere Hexer nickte. »Ich halte ihn für verrückt«, erwiderte er. »Sollte er von dem Arcanum erfahren, würde er mit Rhythamun darum wetteifern.« »Dann müssen wir ihn vernichten!« rief Andrycus. »Ihn und das Herz der Wiedererweckten!« »Er ist zu gut geschützt«, gab Rassuman zurück, und Zorn ließ seine Stimme rauh klingen. »Sowohl durch seine eigenen Zaubersprüche wie durch Lykander.«
»Aber wenn wir Lykander und den anderen erzählen, was wir wissen, würden sie sich doch sicher auf unsere Seite stellen«, sagte Andrycus. »Wenn er Bescheid wüßte, würde uns selbst Xenomenus bestimmt die Erlaubnis geben, Anomius zu töten.« »Ich halte es für durchaus denkbar, daß unser Tyrann diese Entscheidung aufschieben würde«, widersprach Rassuman. »Er mag zwar schwächer als sein Vater sein – der wiederum schwächer als Dyomanus war –, aber er ist trotzdem kein Dummkopf. Niemand kann daran zwei feln, daß der Lord der Fayne die größte Bedrohung dar stellt, die Kandahar erlebt hat, und ich denke, daß Xeno menus Anomius so lange am Leben lassen wird, bis diese unmittelbare Gefahr beseitigt ist, was auch immer wir an Argumenten vorbringen. Und was noch wichtiger ist, Lykander und die anderen haben dieselbe Störung im magischen Unterbau der Welt wie wir gesehen und trotzdem beschlossen, sie zu ignorieren. Wieso sollten sie so plötzlich ihre Haltung ändern? Wir haben unsere Bedenken schon einmal vorgebracht, und ich bezweifle, daß unsere Kollegen ihre Meinung jetzt ändern würden.« »Und Anomius wird durch ihre Magie geschützt«, fügte Cenobar hinzu. »Genau wie durch seine eigene. Wir drei allein könnten ihn nicht töten.« »Vielleicht können wir Lykander nicht überzeugen«, warf Andrycus ein, »aber was ist mit Caranthus? Oder mit Lemomal und Padruar?« »Lemomal steht auf Lykanders Seite«, sagte Rassu
man, »weil er ihn als Oberhaupt unseres Zirkels betrach tet. Caranthus ist dem Tyrannen bedingungslos ergeben. Padruar würde sich vielleicht überzeugen lassen, aber Padruar ist ein Opportunist, und ich könnte mir gut vorstellen, daß er versuchen würde, unsere Argumente gegen die von Lykander abzuwägen, was fast mit Sicher heit bedeuten würde, Anomius über einen Umweg alles zu verraten, was wir wissen.« »Ich kann mir trotzdem immer noch nicht vorstellen, daß Lykander bei der Wiedererweckung Tharns helfen würde«, stellte Andrycus fest. »Ich auch nicht«, pflichtete Rassuman ihm bei. »Ca ranthus, Lemomal und Padruar erst recht nicht. Aber genausowenig glaube ich, daß sie damit einverstanden wären, Anomius zu beseitigen. Jedenfalls nicht, bevor er seinen Zweck erfüllt hat.« »Und dann könnte er sich schon als zu stark erwei sen«, meinte Cenobar. »Vielleicht«, gab Rassuman zu. »Aber ich glaube, wenn der Innere Zirkel geschlossen auftritt, können wir es schaffen.« »Willst du damit sagen, daß wir warten müssen?« fragte Andrycus. »Bis die Rebellion niedergeschlagen ist? Und was ist danach mit dieser lyssianischen Flotte? Oder diesem Domm von Secca? Könnte es nicht sein, daß Xe nomenus dann eine weitere Verwendung für Anomius findet?« »Diese Probleme können der Innere Zirkel und unser
Militär lösen«, erklärte Rassuman. »Sollte der schlimmste Fall eintreten, dann müssen wir vielleicht tun, was Ano mius vorgeschlagen hat, und diesen Tobias den Karynth töten. Aber ich glaube, daß Anomius unangreifbar ist, bis die Rebellen geschlagen sind.« »Burash!« rief Andrycus. »Bis dahin wird er seinen Platz unter uns gefunden haben.« »Hat er das nicht bereits?« fragte Cenobar bitter. »A ber laßt uns nicht abschweifen. Was sollen wir tun? Wenn wir Lykander und die anderen nicht davon über zeugen können, daß Anomius getötet werden muß – und ich stimme zu, daß diese Aussicht sehr gering ist –, dann kann seine grauenhafte Wiedererweckte auch weiter frei herumlaufen, und wenn sie ihre Beute aufspürt…« »… wird Anomius von dem Arcanum erfahren«, be endete Andrycus den Satz für ihn. »Noch schlimmer«, sagte Rassuman. »Schlimmer?« Andrycus starrte den älteren entsetzt an. »Was könnte noch schlimmer sein?« »Daß sie Calandryll und die anderen umbringt«, er widerte Rassuman grimmig, »und damit Rhythamun oder Anomius den Weg ebnet. Daß sie ihnen die Hinder nisse bei der Wiedererweckung des Verrückten Gottes beseitigt.« Andrycus stöhnte und fuhr sich mit beiden Händen – der natürlichen und der neugewachsenen – hilflos durch das lange Haar.
»Was ist mit Vanu?« fragte Cenobar. »Menelian hat gesagt, Calandryll und Bracht wären mit einem vanui schen Kriegsboot und in Begleitung von Vanuern nach Vishat'yi gekommen. Die Frau, Katya, ist von den Heili gen Männern dieses Landes ausgeschickt worden. Und in all unseren Vorhersagen war von drei Suchern die Rede. Welche Rolle spielen die Heiligen Männer dabei?« »Ich weiß es nicht.« Rassuman zuckte die Achseln. »Nur das, was Menelian uns gesagt hat: daß die Heiligen Männer von Vanu das Buch haben wollen, um es zu zerstören.« »Es hätte lieber in Tezin-dar bleiben sollen«, murmelte Andrycus. »Zweifellos«, stimmte ihm Rassuman zu, »aber das ist nicht der Fall. Und ich denke, wäre es noch immer dort, dann würde irgendwann ein anderer Rhythamun kom men. So ist nun mal der Lauf der Welt, mein Freund, und solange das Arcanum nicht zerstört ist, bleibt die Bedro hung durch Tharns Wiederauferstehung bestehen.« »Wir hätten es klarer voraussehen müssen«, sagte Andrycus. »Wir hätten früher handeln müssen.« »Wir sollten dieses ›Hätten‹ und ›Sollen‹ am besten vergessen«, erwiderte Rassuman streng genug, um den jüngeren Mann aus seinen düsteren Grübeleien zu rei ßen. »Wir müssen jetzt den Blick nach vorn richten, auf das, was wir tun können, und unsere Zeit nicht mit dem verschwenden, was wir früher hätten unternehmen sol len.«
»Aber was können wir denn tun?« wollte Cenobar wissen. »Anscheinend sind uns die Hände gebunden. Anomius ist eine Gefahr, die wir noch nicht ausschalten können, und Rhythamun kann sich – wie wir annehmen müssen – weiterhin ungestört Tharns Ruheort nähern, während diejenigen, die ihn vielleicht aufhalten könnten, von Anomius' Wiedererweckten verfolgt werden. Wir können uns nicht einmal auf die Unterstützung unserer Hexerkollegen verlassen.« »Können wir nicht die Wiedererweckte beseitigen?« fragte Andrycus. »Zumindest diese Bedrohung ausschal ten?« »Nur, wenn wir ihr Herz in unseren Besitz bringen«, sagte Rassuman. »Dann laßt uns das versuchen«, drängte Andrycus. »Daran haben wir auch schon gedacht«, sagte Ceno bar, »aber Anomius hat es mit Magie geschützt. Wir können nicht feststellen, ob er es mit sich herumträgt oder ob es in Nhurjabal geblieben ist. Wir wissen nur, daß er es im gleichen Augenblick, in dem wir es zerstö ren, erfahren würde. Selbst wenn wir uns ihm nur nähern würden, würde er es merken.« »Soll er es doch merken!« stieß Andrycus mit rauher Stimme hervor und streckte herausfordernd die frisch verheilte Hand aus. »Das hier hat mich Schmerzen gekos tet, und selbst wenn die Zerstörung des Herzens seine Wut erregen sollte, bin ich bereit, seine magischen Kräfte
mit den meinen zu messen.« »Noch einmal?« fragte Rassuman mit trügerischer Sanftheit. »Als wir ihm zum ersten Mal gegenübergetre ten sind, hat es uns deine Hand und Zytharans Leben gekostet. Er war damals schon stark, und jetzt … jetzt ist er noch stärker.« »Dank Lykander«, knurrte Andrycus. »Aber trotzdem, mit der richtigen Vorbereitung könnten wir drei gemein sam…« »… uns Xenomenus' Ärger zuziehen«, fiel ihm Ceno bar ins Wort. »Burash weiß, Andrycus, daß ich um Zytharan und Menelian trauere und deine Schmerzen bedauere, aber der kleine schäbige Wurm hat den Tyran nen und Lykander verführt. Denk an sein Versprechen, als wir ihn aus dem Verlies herausgeholt haben – daß der Preis für seine Hilfe die Wiedererweckte wäre.« »Aye«, sagte Rassuman ernst, »und seine Rachegelüste würden ihn dieses Versprechen bestimmt vergessen lassen. Ich glaube, er würde eher sterben, als uns in die sem Krieg zu helfen, sollten wir das Herz der Frau zer stören.« »Und Xenomenus möchte den Krieg schnell beenden«, fügte Cenobar hinzu. »Ohne Anomius, der seine eigenen Schutzzauber wieder aufheben kann, würde es ein langer und aufreibender Kampf werden. Also bleiben er und seine Wiedererweckte so lange unantastbar, wie der Tyrann ihn braucht.« »Dann können wir also überhaupt nichts tun!« stöhnte
Andrycus. »Außer tatenlos zuzusehen, wie die Welt ins Chaos gestürzt wird!« »Verliert nicht den Mut!« verlangte Rassuman streng. »Ich denke, daß wir vorerst nur abwarten und beobach ten können, aber so, wie ein Jäger lauert. Wir müssen geduldig sein und den richtigen Zeitpunkt abpassen, um zuzuschlagen. Wir müssen geschickt vorgehen und dür fen uns nicht allein auf die Magie verlassen. Natürlich ist Anomius deshalb wichtig, weil er die Schutzzauber auf heben kann, die er über die von den Rebellen eroberten Städte gelegt hat, aber auch unsere Fähigkeiten werden gebraucht. Wir dürfen nicht zulassen, daß Xenomenus das vergißt. Und er darf nicht vergessen, daß Anomius früher ek'Hennem gedient und dann die Seiten gewech selt hat, daß er das vielleicht wieder tun könnte.« »Und Lykander«, murmelte Cenobar nachdenklich. »Wir könnten ihn darauf aufmerksam machen, daß er an Bedeutung verliert, je heller Anomius' Stern strahlt.« »Du hast den wesentlichen Punkt erkannt.« Rassuman lächelte. »Wir könnten mit Worten erreichen, was wir mit Zaubersprüchen nicht bewirken können. Wir müssen versuchen, diesen Emporkömmling zu schwächen, wo immer sich uns eine Gelegenheit bietet.« »Aber da ist immer noch die Wiedererweckte«, gab Andrycus zu bedenken. »Gegen die wir bis jetzt noch nichts unternehmen können«, entgegnete Rassuman. »Aber wenn wir gedul dig und aufmerksam aufpassen, dann werden wir viel
leicht eine Schwachstelle in Anomius' Rüstung finden.« »Caranthus ließe sich leicht überzeugen«, meinte Ce nobar und hob eine Hand, als Rassuman die Augenbrau en wölbte. »Nein, nicht durch direkte Warnungen oder Schmeicheleien, sondern indem man ihm behutsam klarmacht, daß sich Anomius am Ende zu einer Bedro hung für den Tyrannen entwickeln würde. Und wenn Lykander seine Position durch Anomius gefährdet sieht, würde Lemomal sich ihm mit Sicherheit anschließen.« Rassuman nickte. »Und Padruar würde seine oppor tunistische Haltung aufgeben und sich auf unsere Seite schlagen.« »Das alles wird seine Zeit dauern«, sagte Andrycus. »Was, wenn die Wiedererweckte in der Zwischenzeit Calandryll und seine Begleiter findet?« »Sie ist nicht allmächtig, und es könnte noch lange dauern, bis sie sie findet«, erwiderte Rassuman langsam und vorsichtig. Seine Stirn legte sich in Falten, während er seine Worte mit Bedacht wählte. »Ich denke, daß sie ihrem Herrn dann Bericht erstatten muß, und wenn sie das tut, muß Anomius zwei Dinge, nach denen er sich sehnt, gegeneinander abwägen. Er dürstet in gleichem Maß nach Rache wie nach Macht, oder?« Er wartete, bis Cenobar und Andrycus ihm zugestimmt hatten, bevor er fortfuhr: »Und die Wiedererweckte wird wahrscheinlich früher oder später erfahren, daß das Zauberbrevier nur eine Erfindung ist, daß die Suche in Wirklichkeit dem Arcanum gilt und dieses sich im Besitz von Rhythamun
befindet. Das wird sie Anomius mitteilen, und dann muß er sich entscheiden. Soll er seiner Kreatur befehlen, die drei umzubringen, oder soll er versuchen, sie für seine Zwecke einzuspannen? Er wird seine Rachegelüste gegen seinen Machthunger abwägen müssen.« »Er wird ihr garantiert befehlen, sie umzubringen.« Andrycus runzelte die Stirn. »Und dann wird er sie auf Rhythamun ansetzen.« »Vielleicht«, sagte Rassuman, »vielleicht aber auch nicht. Diese ganze Angelegenheit folgt einem Plan, auch wenn er für uns zu komplex ist, um ihn zu verstehen, und vielleicht spürt Anomius das. Diese drei sind dem Ziel schon einmal nahe gewesen, schließlich haben sie einen Ort erreicht, den noch niemand vor ihnen gefun den hat, oder? Sie waren im legendären Tezin-dar und sind wieder herausgekommen, um ihre Jagd fortzusetzen – und laut unserer Zukunftsdeutung müssen es drei sein, die die Bedrohung durch Tharn beenden. Wäre es also unwahrscheinlich, daß Anomius seiner Kreatur befehlen wird, sie leben zu lassen? Zumindest so lange, bis sie das Buch gefunden haben?« »Das ist eine schwache Hoffnung«, erwiderte Andry cus. »Aber die einzige, die wir haben«, sagte Rassuman. »Es sei denn, irgendeine Macht jenseits unserer Vorstel lungskraft greift zu ihren Gunsten in das Geschehen ein.« »Wenn wir nur unsere magischen Kräfte einsetzen könnten, um ihnen zu helfen«, flüsterte Andrycus.
»Das können wir nicht.« Rassuman lächelte schwach. »Wir können nur für sie beten und uns nach Kräften bemühen, Anomius' Position zu untergraben. Abgesehen davon, können sie nur auf ihre eigenen Fähigkeiten set zen.« »Mögen Burash und all seine göttlichen Geschwister mit ihnen sein«, sagte Cenobar beschwörend. »Denn eine solche Hilfe werden die drei mit Sicherheit brauchen.« »Aye«, bestätigte Rassuman, »aber in der Zwischen zeit werden wir unser Möglichstes tun, auch wenn es nicht viel ist. Wir müssen klug sein, meine Freunde! Laßt uns geschickt mit Worten arbeiten und das Geschehen aufmerksam verfolgen.« »Und wenn das nicht ausreicht?« wollte Andrycus wissen. »Sollte die Wiedererweckte Anomius das Buch bringen, was dann?« »Dann«, sagte Rassuman entschlossen, »werden wir das gleiche Opfer bringen, das Menelian gebracht hat. Was auch immer es uns kosten mag, wir werden versu chen, Anomius zu beseitigen.« »So soll es geschehen«, schloß sich ihm Cenobar an, während Andrycus seine Zustimmung mit einem grim migen Nicken bekundete. Aldarin war eine Stadt, dachte Cennaire, in der sie mit ihrem früheren Gewerbe viel Geld hätte verdienen kön nen. Hier herrschte ein Wohlstand, der gleichmäßiger als in Nhurjabal verteilt war, und wenn es auch im Matro
sen- und im Kurtisanenviertel eine Menge schöner Frau en gab, war sie doch unter den hellhaarigeren Lyssiane rinnen eine Exotin. Sie erkannte schon bald, daß sie ge nügend Kundschaft unter den Männern gefunden hätte. Es amüsierte sie – das hatte es schon immer getan –, wie leicht man einem Mann mit einem bestimmten Blick oder der diskreten Zurschaustellung von ein wenig nackter Haut den Kopf verdrehen konnte. Ein leichtes Aufbau schen des Rockes, um einen Fußknöchel zu entblößen, oder eine scheinbar achtlose Bewegung, die ein Stück chen ihrer vollen Brüste enthüllte, und schon fingen die Männer Feuer. Ein Senken der Augenlider, eine Zungen spitze, die vielversprechend über ihre Lippen fuhr, und schon waren sie ihr ausgeliefert. Daß sie das Verlangen der Männer jetzt mit unendlich geschärften Sinnen wahrnehmen, es an ihnen riechen und wie eine Flamme in ihren Augen brennen sehen konnte, war ein zusätzli ches Vergnügen. Wäre der Auftrag ihres Herrn und Meisters nicht so dringlich gewesen, hätte sie hier viel leicht noch ein wenig Zeit verbracht und mit den Män nern gespielt, berauscht von ihrer Macht. Aber sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und die hatte Vorrang. Anomi us hielt ihr Herz unter Verschluß, und welche Macht sie auch verspüren mochte, die, die Anomius über sie besaß, war größer. Es war die Macht über das Leben nach dem Tod, die ultimative Macht, und sie war bemüht, seine Befehle in diesem fremden Land zu befolgen. Als erstes suchte sie das Anwesen von Varent den Tarl auf und fand es leer vor, abgesehen von ein paar weni
gen Bediensteten, die zurückgeblieben waren, um das palastartige Gebäude in Ordnung zu halten. Ihr Herr, so erfuhr sie am Tor, war tot. Sie erklärte, daß sie nicht ihn, sondern drei Bekannte von ihm suchte, einen Lyssianer namens Calandryll, einen Kerner namens Bracht und eine Frau namens Katya. Mit einem hilflosen Ge sichtsausdruck und einem kunstvollen Flattern ihrer Augenlider gelang es ihr, zu einem häßlichen, kleinen, kahlköpfigen Mann vorgelassen zu werden, der so tief in seine Buchhaltung vertieft und so verknöchert war, daß er fast überhaupt nicht auf ihre Verführungskünste rea gierte. Er hieß Symeon, und sein fehlendes Interesse ärgerte sie ein wenig, aber sie verbarg ihre Gefühle und konzentrierte sich darauf, so viel wie möglich in Erfah rung zu bringen. »Sie waren hier«, bestätigte Symeon, ohne die Wöl bung ihrer Brüste oder die Tinte zu bemerken, mit der er sich die Wangen beschmierte. »Sie sind gegangen. Sucht Darth. Fragt ihn. Er kennt sie besser als ich, und ich habe eine Menge Arbeit.« Cennaire ignorierte den offensichtlichen Hinauswurf und erkundigte sich mit einem unschuldigen Lächeln, wo sie Darth finden und wie sie ihn erkennen könnte. »Er ist ausgezahlt worden«, sagte Symeon. »Wahr scheinlich versäuft er seinen Lohn. Versucht es im Söld nerviertel oder bei den Docks.« Vielleicht ist er ein Eunuch, dachte Cennaire, so
schwach war der Geruch, den er verströmte, schwächer als der seiner staubigen Bücher und der Tinte, die er größzügig auf seinem Gewand und seiner Haut verteilt hatte, und ihr kam der flüchtige Gedanke, ihn nur seiner Gleichgültigkeit wegen umzubringen. Aber sie wider stand der Versuchung, da sie wußte, daß sie damit nur ihre Jagd gefährden würde. Also bedankte sie sich und machte sich auf die Suche nach Darth. Groß und braunhaarig, hatte Symeon gesagt, die Wangen vom vielen Bier gerötet. Sein Familienname war Cobal. Das war nicht gerade viel, und sie brauchte meh rere Tage, um ihn zu finden. Im Zuge ihrer Nachfor schungen blieben drei Männer, die etwas zu energisch versucht hatten, mit ihr anzubändeln, mit gebrochenen Knochen zurück. Einen vierten, der noch aufdringlicher gewesen war, hatte sie umgebracht, aber das alles hatte sich in den rauheren Vierteln der Stadt abgespielt, und sie bezweifelte, daß die Folgen ihrer Wut ungewöhnli ches Mißtrauen hervorrufen würden. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, daß irgend jemand in der Stadt eine so zierliche Frau verdächtigen würde, derartige Verletzungen verursacht zu haben, solange man sie nicht von einem Magier überprüfen ließ. Schließlich spürte sie Darth in einer Taverne auf, die hauptsächlich von Söld nern besucht wurde, im Schwertkämpfer. Er saß unter einem Fenster, durch das warmes Son nenlicht auf sein Gesicht fiel und seine fleckigen Wangen und die blutunterlaufenen Augen betonte. Letztere
brauchten einen Moment, um sich auf die Frau einzustel len, die ihm gegenüber an seinem Tisch Platz nahm und ihm ein verführerisches Lächeln schenkte. »Ich bin Cennaire«, sagte sie. »Ihr seid Darth Cobal, nicht wahr?« »So heiß' ich«, bestätigte er und glotzte sie an. Seine Stimme klang etwas undeutlich, und Cennaire vermutete, daß die Flasche Rotwein neben seinem Ellbo gen nicht die erste war, die er heute getrunken hatte. Er kniff die Augen zusammen, während er sie anstarrte, und über den Weingeruch hinweg roch sie sein sofort erwachtes Verlangen. Dies war nicht Symeon, diesen Mann konnte sie problemlos manipulieren. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ließ die Hände durch ihr Haar gleiten und zupfte an ihren Röcken. Darth bestellte lautstark ein frisches Glas und eine neue Flasche AldaRotwein. Mit großem Getue zog er seinen Geldbeutel hervor, der immer noch prall gefüllt war. »Symeon hat mir gesagt, daß ich Euch hier finden könnte.« Cennaire drehte sich zur Seite, als wollte sie sich die Taverne ansehen, und wandte ihm das Profil zu. Sie wußte, daß sich durch die Drehung der Stoff über ihren Brüsten spannte, und es hätte nicht seines Geruches be durft, um die Wirkung dieser Bewegung einschätzen zu können, denn sie hörte deutlich, wie Darth einmal tief durchatmete. Er leckte sich die Lippen, hin- und hergerissen zwi schen Neugier und Begierde. Das letztere überwog –
Cennaire nahm den moschusartigen Geruch wahr –, der Wein trübte seinen gesunden Menschenverstand und erfüllte ihn mit übertriebenem Selbstbewußtsein. »Symeon?« fragte er. »Diese vertrocknete kleine Krö te? Was hattet Ihr mit ihm zu schaffen?« »Ich habe Euch gesucht.« Der Geruch, den er verströmte, wurde intensiver. Cennaire behielt ihr Lächeln bei, als er sich gerader auf richtete, der Bedienung das Glas aus der Hand nahm, es unaufgefordert füllte und der Wiedererweckten mit dem ungelenken Versuch einer höflichen Verbeugung reichte. »Mich? Dera, dann habe ich aber ein Glück.« Es dauer te eine Weile, bis er auf den Gedanken kam, sich nach dem Grund zu erkundigen. »Könnten wir das ungestört besprechen?« fragte sie mit heiserer Stimme in verschwörerischem Tonfall. »Ir gendwo, wo wir allein sind?« Es schien Darth gar nicht in den Sinn zu kommen, wie unwahrscheinlich es war, daß eine solche Frau sich gera de ihn für ein amouröses Abenteuer ausgesucht haben könnte. Der Geruch seines Verlangens wurde fast über wältigend. Er nickte. »Es gibt Zimmer über der Taverne. Wir könnten uns eins nehmen.« Cennaire brachte ein bezauberndes Stirnrunzeln zu stande und schüttelte den Kopf. Zu viele Zeugen hatten sie die Taverne betreten gesehen und ihr Gespräch – oder
vielmehr sie – beobachtet. Es könnte sein, daß sie diesen benebelten Trunkenbold umbringen mußte, und in die sem Fall wollte sie das lieber irgendwo tun, wo seine Leiche weniger Aufmerksamkeit erregte und man sie nicht mit dem Mord in Verbindung bringen würde. »Ein Privathaus?« fragte sie leise. Sie nahm an, daß die Leute glauben würden, sie hätte Darth als Beschützer angeworben, falls man beobachtete, wie sie zusammen die Taverne verließen. Bestimmt würde niemand auf den Gedanken kommen, daß sie mit ihm schlafen wollte. Darth nickte wieder voller Eifer. »Trinkt aus«, drängte er sie. Cennaire leerte ihr Glas und stand auf. Darth folgte ih rem Beispiel etwas wackliger und warf strahlend ein paar Münzen auf den Tisch. Er bot ihr seinen Arm an, aber sie tat, als hätte sie die Geste nicht bemerkt, und ging voraus, spielte die Rolle einer Dame von hohem Stand, die nur gekommen war, um einen Leibwächter anzuheuern, als sie die Taverne verließen und in die nachmittägliche Sonne hinaustraten. Darth blieb einen Moment lang stehen, blinzelte, schüt telte den Kopf und grinste dümmlich. Dann deutete er auf eine schmale Straße, die zum Hafen hinunterführte. »Da drüben gibt es Pensionen«, sagte er. Seine Stimme klang lüstern, sein Blick war nicht weniger unschuldig. »Dort können wir ein Zimmer mieten.« »Ausgezeichnet«, stellte Cennaire fest. Durch lange Übung schwang in dem einen Wort das Versprechen
eines angenehmen Erlebnisses mit. Darths Lächeln wurde noch breiter. Er ging galant voraus und schwankte, dabei ein wenig. Cennaire be trachtete seinen Rücken und bemerkte das lange Schwert und den Dolch. Seine Schultern waren breit und musku lös, und sie nahm an, daß er in nüchternem Zustand einen guten Kämpfer abgeben würde. Aber weder seine Kraft noch seine Waffen machten ihr Sorgen. Sie wußte, daß sie stärker war und ihr nicht einmal seine Klingen etwas anhaben konnten, sollte es zu einem Kampf kom men. Wo die Straße auf einen ruhigen Platz mündete, blieb Darth stehen. Die Häuser schienen tatsächlich unauffälli ge Pensionen zu sein. Er vollführte eine Verbeugung, die ihm diesmal etwas besser gelang, und streckte einen Arm aus. »Milady Cennaire, wollt Ihr bitte auswählen?« Sie blickte sich um, entschied sich für ein Haus auf der anderen Seite des Platzes und sagte: »Besorg du uns das Zimmer, Darth. Ich komme dann nach.« Sein Verlangen machte ihn blind, zu blind, um auf ei nen anderen Gedanken zu kommen, als daß eine Frau von hohem Stand vorhätte, sich mit ihm zu vergnügen. Deshalb nickte er und lief beinahe im Laufschritt zu dem Haus hinüber, das sie ausgewählt hatte. Cennaire wartete im Schatten eines Balkons, und als er wieder auftauchte und ihr zuwinkte, überquerte sie schnell den Platz. Niemand sah sie das Haus betreten, es gab keinen Por
tier, und Darth geleitete sie zum ersten Stockwerk hinauf in ein schlichtes Zimmer mit einem großen Bett, einem Waschtisch und einem Kleiderschrank. Die Fensterläden hatte er bereits geschlossen. Staub tanzte träge in den Lichtstrahlen, die durch die Ritzen in den Läden fielen. Er verschloß die Tür, wandte sich Cennaire zu, ließ sei nen Blick über ihren Körper gleiten, schnallte seinen Schwertgürtel ab und warf ihn neben dem Bett auf den Boden. Cennaire schenkte ihm ein Lächeln, streifte ihren leichten Mantel ab und legte ihn ordentlich zusammen gefaltet auf den Kleiderschrank. Obwohl sie Darth den Rücken zugewandt hatte, roch sie, wie er an sie herantrat. Sie drehte sich wieder um, legte ihm die Hände auf die Brust und schob ihn sanft von sich. Seine Weinfahne streifte ihr Gesicht. »Nur noch einen Augenblick«, murmelte sie. »Um zu reden.« »Reden?« Darth zögerte. Es war mehr ihr unerwarteter Vorschlag als der Druck ihrer Hände, der ihn zurück hielt. »Worüber?« »Über Calandryll«, sagte sie. »Über Bracht und eine vanuische Frau namens Katya.« »Die?« In den Geruch von Wein und Begierde mischte sich der von Verwirrung. »Was ist mit ihnen?« »Sie sind gekommen, weil sie deinen Herrn sehen wollten, nicht wahr? Um eine … Angelegenheit mit Lord Varent den Tarl zu besprechen. Es ging um ein Buch.« Darth runzelte die Stirn, legte den Kopf schief und
wischte sich über den Mund. Cennaire bemerkte, daß seine Hände schwielig und seine Fingernägel schmutzig waren. »Was hast du damit zu tun?« fragte er. »Wir sind doch bestimmt nicht hierhergekommen, um über sie zu spre chen.« »Sie waren hier«, erwiderte Cennaire. »Stimmt's? Und haben Lord Varent tot vorgefunden. Erzähl mir, was sie gesagt haben und was sie wissen wollten.« »Milady … Cennaire.« Darth trat einen Schritt auf sie zu. »Spielst du mit mir? Wir haben das Zimmer, das du wolltest, und ein Bett. Laß uns das jetzt auch ausnutzen.« Er machte einen weiteren Schritt, legte ihr die Hände auf die Schultern und zog sie an seine Brust. Sein Mund näherte sich ihrem Gesicht. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm vielleicht seinen Wunsch erfüllen und die Informationen aus ihm herausholen sollte, nachdem er befriedigt war. Es würde nicht lange dauern, und er war nicht schlimmer als andere Kunden, die sie bedient hatte, sogar besser als etliche. Doch das gehörte der Vergan genheit an, als sie nicht mehr als eine hübsche junge Frau gewesen war, die sich nur mit ihrer Schönheit und ihrem wachen Verstand durchs Leben hatte schlagen können. Jetzt aber war sie mehr als das, und sie hatte es nicht länger nötig, sich den Launen betrunkener Männer zu beugen. Jetzt verfügte sie über andere Möglichkeiten. Darth wußte nicht, wie es kam, daß er sich plötzlich auf dem Boden wiederfand. Er glaubte nicht, so viel
getrunken zu haben, und es lag auch kein Teppich auf dem nackten Fußboden, über dessen Falten er hätte stol pern können. Er grinste etwas verlegen und machte An stalten aufzustehen. Und dann stieß er ein Keuchen aus, als er hochgerissen und rücklings auf das Bett geschleu dert wurde. Voller Schrecken erkannte er, daß die fremde Frau über ihm kniete, und Angst stieg in ihm auf, als ihm die Erkenntnis dämmerte, daß sie es war, die ihn auf das Bett geworfen hatte und jetzt sein Hemd mit einer schlanken Hand gepackt hielt, die andere um seinen Unterkiefer gelegt. Das einzige Versprechen, das jetzt noch in ihren Augen lag, war das, ihm Qualen zuzufü gen. Die Intensität ihres Blickes spülte mit einem Mal die Trunkenheit aus ihm heraus. Es wäre ihm lieber gewe sen, noch immer vom Wein benebelt zu sein, als er spür te, wie sich ihre Finger spannten. Er hatte das Gefühl, sein Unterkiefer müßte jeden Augenblick zermalmt wer den. Cennaire betrachtete ihn einen Moment lang, sog sei nen Geruch in sich auf, kostete das Entsetzen aus, das in seinen blutunterlaufenen Augen flackerte. Der Geruch der Begierde war befriedigend und amüsant, der des Entsetzens jedoch berauschend. Aber sie hielt sich zu rück. Es hatte keinen Sinn, seinen Kiefer zu zerquetschen – er würde noch reden müssen. »Erzähl es mir«, befahl sie. Darth umklammerte ihre Handgelenke, die Sehnen an seinen Armen traten deutlich hervor, als er darum
kämpfte, sich aus ihrem Griff zu befreien. Aber er schaff te es nicht und schlug nach ihrem Gesicht. Sie fing seine Faust mit einer Hand ab und drückte zu, erstickte seinen Schrei mit der anderen Hand, als seine Fingerknochen brachen. Er begann zu husten, Tränen traten ihm in die Augen. »Was bist du?« fragte er mit vor Angst krächzender Stimme, als sie seinen Mund freigab. »Ich bin Cennaire«, erwiderte sie. »Und wenn du mir nicht alles erzählst, was du über Calandryll und seine Begleiter weißt, werde ich dich töten, und zwar ganz langsam.« Der Ausdruck in seinen Augen und der schärfere Ge ruch, den er plötzlich verströmte, verrieten, daß er nicht an ihren Worten zweifelte. Sie befürchtete schon, er wür de das Bewußtsein verlieren, und schlug ihm einmal kurz ins Gesicht, schüttelte seinen Kopf hin und her. Blut tröpfelte aus seinen Mundwinkeln, wo sie ihm das Wan genfleisch gegen die Zähne gepreßt hatte. »Erzähl es mir«, wiederholte sie. »Alles.« Und Darth erzählte es ihr, hielt nichts zurück, durch forstete seinen völlig verängstigten Verstand nach jeder Erinnerung. Er sprudelte die Worte hervor, wußte, daß sie sein einziger Schutz vor diesem unbarmherzigen Druck waren, der sein Leben aus ihm herauspressen konnte. Als er geendet hatte, gab Cennaire ihn frei, und er be ging einen schrecklichen Fehler, seinen letzten. Er warf
sich vom Bett, ohne den Schmerz zu registrieren, der seine gebrochene Hand durchzuckte, als sie auf den Boden schlug, und griff nach seinem Schwert. Aber noch bevor er die Klinge aus der Scheide ziehen konnte, stürz te sich Cennaire auf ihn und brach ihm das Genick. Dann stand sie auf, ohne der Leiche einen weiteren Blick zu gönnen, glättete sorgfältig ihre zerknitterte Klei dung, brachte ihr zerzaustes Haar wieder in Form und konzentrierte sich auf das Zimmer, das sie gemietet hatte. Es lag auf der anderen Seite der Stadt, in einem der bes seren Viertel Aldarins, wo vornehme Besucher eine ge pflegte Unterkunft finden konnten. Cennaire hatte sich jedes Detail genau eingeprägt. Sie sprach die Worte, die Anomius sie gelehrt hatte, und roch den Mandelduft, der die Luft erfüllte. Einen Moment lang verspürte sie ein Gefühl des Nichtseins, einer Leere, die sie umgab. Aber das Gefühl hielt nur einen Augenblick lang an. Dann fand sie sich in der ver trauten Umgebung ihres Zimmers wieder und lächelte, als ihr Selbstvertrauen zurückkehrte. Die Sonne stand noch immer hoch am Himmel. Cen naire entspannte sich bei einem ausgiebigen Bad, um einen guten Eindruck beim Mittagessen zu machen, und vertrödelte den Nachmittag, bis es Zeit wurde, Bericht zu erstatten. Dann verschloß sie sorgfältig die Tür, zog einen Spiegel aus ihrem Gepäck hervor, legte ihn auf die An kleidekommode und nahm davor Platz. Nachdem sie eine Weile ihr Spiegelbild bewundert hatte, intonierte sie
den zweiten Zauberspruch, den sie gelernt hatte. Einmal mehr erfüllte durchdringender Mandelgeruch die Luft, und ihr Spiegelbild begann zu wabern. Der Spiegel wur de dunkel, Nebel wallte hinter der Glasscheibe auf und wurde zu einem Farbstrudel, aus dem sich Anomius' gelblichblasses Gesicht herausschälte. »Was hast du herausgefunden?« Seine Stimme war lei se, kaum mehr als ein Flüstern, aber sie klang drängend. Cennaire beugte sich dichter über den Spiegel und er widerte nicht viel lauter: »Ich habe einen Mann gefun den, der sie gekannt hat…« »Sie gekannt hat? Wo sind sie?« Cennaire sah seine wäßrigen blauen Augen schmal werden. Die Perspektive verzerrte sich, als er sich vor beugte und seine Knollennase den größten Teil des Spie gels ausfüllte. »Sie haben Aldarin verlassen.« »Was? Wohin sind sie gegangen?« »Nach Norden, glaube ich.« »Du glaubst? Du weißt es nicht?« »Laßt mich erklären…« »Aye, das solltest du lieber tun. Ich bin nur einen Ge danken von Nhurjabal entfernt, und dort liegt dein Herz.« Die Drohung, die in seinen Worten mitschwang, war überflüssig und ärgerte Cennaire. Diente sie ihm denn etwa nicht loyal? Aber immerhin, dachte sie, erfuhr sie so
Dinge, die sich eines Tages als hilfreich für sie erweisen konnten. Anomius hielt sich in Kesham-vaj auf, das Käst chen mit ihrem Herzen in Nhurjabal. Bestimmt konnte er sich mit seinen magischen Kräften augenblicklich dorthinversetzen, aber würde er das auch tun können, ohne daß die Hexer des Tyrannen es bemerkten? Auf der Reise nach Lysse hatte sie genug Zeit gehabt, ihre Situation zu überdenken, und sie hatte sich schon überlegt, daß Anomius vielleicht keine weitere Verwen dung für sie haben könnte, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte. Außerdem wußte sie, daß seine Nekroman tie von den anderen Magiern als etwas Verwerfliches betrachtet wurde. Würden er oder sie ihr gestatten, wei terzuexistieren, nachdem er – oder vielmehr sie, Cennaire – das Zauberbrevier in den Händen hielt? Und ein weite rer Gedanke war ihr durch den Kopf gegangen: Würden die Hexer des Tyrannen Anomius nicht beseitigen, sobald er dafür gesorgt hatte, daß der Lord der Fayne Xenomenus in die Hände fiel? Oder es zumindest versuchen? Cennaire wußte, daß sie ihn verabscheuten, und sollte es ihnen gelingen, ihn zu töten, dann würde ihre Existenz garantiert zu sammen mit ihrem Gebieter enden. Deshalb war sie zu dem Schluß gekommen, daß ihre einzige Sicherheitsga rantie darin lag, das Kästchen mit ihrem Herzen an sich zu bringen. Diese rebellischen Gedanken schossen ihr durch den Kopf, ohne daß ihren Augen oder ihrer Haltung irgend etwas davon anzumerken gewesen wäre, denn noch war
Anomius wahrhaft ihr Gebieter. Sie lächelte entschuldi gend und sagte: »Varent den Tarl ist tot.« »Was?« Die Frage des Zauberers klang wie ein Peit schenschlag auf. Cennaire zuckte zusammen und berichtete schnell: »Calandryll und die anderen sind hier erschienen und haben eine Menge Fragen gestellt. Anscheinend haben sie sich für einen Mann namens Daven Tyras interes siert.« Anomius' Spiegelbild runzelte die Stirn. Er kratzte sich mit einem rissigen Fingernagel an der Nase. Seine gelben Zähne wurden sichtbar, als er die Lippen zu einem Lä cheln verzog, das eher einem bösartigen Zähnefletschen glich. »Erzähl weiter«, verlangte er. »Daven Tyras ist ein Pferdehändler aus Gannshold, ein Halbblut-Kerner. Er hat einige Zeit mit Varent den Tarl verbracht – war der letzte, der ihn lebend gesehen hat – und ist jetzt verschwunden. Ich habe einen von Varents Bediensteten befragt, aber er wußte nicht, wohin dieser Daven Tyras gegangen ist. Er konnte mir nur sa gen, daß Calandryll und seine Gefährten Aldarin verlas sen haben, nachdem sie das alles in Erfahrung gebracht hatten.« »Varent ist also tot, was?« Anomius nickte nachdenk lich vor sich hin. »Und unsere drei Freunde ziehen Er kundigungen über einen Pferdehändler ein? Ich denke, Varent muß seine Gestalt gewechselt haben. Aye! Aus Gründen, die ich jetzt noch nicht verstehe, hat er den
Körper von Daven Tyras übernommen.« »Ich habe eine Beschreibung von ihm«, sagte Cennaire. Anomius neigte den Kopf. »Gut. Und das Zauberbre vier?« »Niemand, mit dem ich gesprochen habe, wußte etwas darüber. Nur daß Calandryll und Bracht von Varent damit beauftragt worden sind, irgendein Buch zu fin den.« »Soviel wußte ich bereits – das war das Zauberbrevier. Aber warum sollte Varent seine Gestalt wechseln? Wozu den Körper von diesem Daven Tyras übernehmen?« Cennaire hob die Schultern. »Es steckt mehr hinter dieser Angelegenheit, als ich ursprünglich geglaubt habe«, murmelte Anomius. »Un sere drei Freunde verbünden sich mit Vanuern, Varent schlüpft in einen anderen Körper, und jetzt scheint es, als würden sie nordwärts nach Gannshold ziehen. Wieso?« Da Cennaire darauf auch keine Antwort wußte, schwieg sie und wartete nur. »Du hast gute Arbeit geleistet«, meldete sich Anomius nach einer Weile wieder zu Wort. »Reise jetzt weiter nach Gannshold und finde diesen Daven Tyras. Finde das Zauberbrevier.« »Und die drei?« wollte Cennaire wissen. »Wenn du Daven Tyras findest, findest du auch sie«, erwiderte Anomius. »Aber das Zauberbrevier hat Vor rang! Bring es in deinen Besitz, und dann töte sie.«
Cennaire nickte gehorsam. Das Abbild im Spiegel verblaßte, und dann lag wieder ein gewöhnlicher Hand spiegel vor ihr, wie ihn Frauen benutzen: ein harmlos aussehender Gegenstand. Sie betrachtete sich darin, während sie ihre Frisur in Ordnung brachte, bevor sie das Haus verließ und sich erkundigte, wo und wie sie eine Schiffspassage nach Gannshold buchen könnte.
KAPITEL 12 Von allen Städten Lysses war Gannshold die älteste, und dieses ehrwürdige Alter spiegelte sich deutlich in der Struktur der uralten Stadtmauern wider, so wie die Jah resringe eines Baumes Aufschluß über sein Alter geben. Das Herz der Stadt, die zu einer Zeit erbaut worden war, als Lysse und Cuan na'For noch jung gewesen waren und ihre Rivalitäten in Kämpfen ausgetragen hatten, bildete die große Zitadelle, die sich vor dem Eingang des Passes durch den Westrand des Gann-Gebirges erhob. Ihre Schutzwälle erklommen die Felshänge zu beiden Seiten, mit Gußlöchern und Zinnen versehen, auf deren Erker türmen auch in diesen friedlicheren Zeiten immer noch Katapulte und schwere Armbrüste standen, die an die längst vergangenen Tage erinnerten, als die Pferde-Clans kriegerische Vorstöße in den Süden unternommen hat ten. Unterhalb dieser düsteren Zeitzeugen lagen die Gebäude der ersten Ansiedlung, ihrerseits wiederum von einer nach außen überhängenden, mit Wachtürmen be stückten Mauer geschützt, und hinter dieser erstreckte sich ein weiterer Wall, der niedriger als die beiden inne ren war und noch mehr Häuser einschloß. Der Zugang zu dieser letzten Außenmauer wurde durch das Gelände selbst erschwert. Die Straße verlief über einen breiten
Hang, der keinerlei Deckung bot, zu beiden Seiten von schroffen Felsvorsprüngen flankiert wurde und vor ei nem Glacis endete, das von Zwillingswachtürmen über ragt wurde. Gannshold galt als uneinnehmbar, und tat sächlich war die Stadt auch nie erobert worden. Gemäß ihrer Tradition und allgemeinem Einverständnis hielt sie sich heute aus allen Eroberungskriegen heraus, die gele gentlich das Land heimsuchten, das sie schützte. Vom offenen Gelände des Glacis aus betrachtet, bot Gannshold den drei Reitern, die sich den Stadttoren näherten, einen erhabenen Anblick. Es war ein warmer und wolkenloser Tag. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt gerade überschritten und übergoß die Stadt mit einem Licht, das die harten Kontu ren der Befestigungsanlagen aufweichte. Ihre Strahlen ließen den bläulichen Granit der Mauern und den dunk leren Schiefer der Dächer heller erscheinen, betonten die Umrisse der Belagerungsmaschinen und der hohen Tür me und Erker. Die Tore selbst standen offen, massive Flügel, mit altersschwarzem Metall verstärkt, hinter denen sich ein kurzer Tunnel anschloß, der in einen frei en Platz mündete, von dem aus wiederum nur eine ein zige breite Straße herausführte. Sowohl das Tor als auch die Einmündung der Straße wurden von Soldaten in den blauen und schwarzen Farben der Festung bewacht. Sie waren auf eine kurzangebundene Art höflich, überprüf ten die Neuankömmlinge gründlich und erkundigten sich nach ihren Namen und Absichten. Bracht, den Ca
landryll und Katya zu ihrem Wortführer bestimmt hat ten, erklärte, daß ihre Reise persönlicher Natur sei, die Rückkehr nach Cuan na'For nach einem längeren Auf enthalt in Lysse. Der Hauptmann der Wache, mit den Wanderungen von Söldnern aus Cuan na'For vertraut, akzeptierte die Angaben bereitwillig und gab ihnen den Weg in die Innenstadt mit der beiläufigen Ermahnung frei, daß sie sich immer noch auf lyssianischem Gebiet befänden und deshalb noch der Gesetzgebung Lysses unterstünden. Bracht bestätigte, daß er verstanden hätte, und führte seine Begleiter von dem freien Platz über die breite Zu gangsstraße in ein Netzwerk davon abzweigender Stra ßen, die, wie Calandryll erkannte, als sie tiefer in die Stadt hineinritten, ein Gittermuster bildeten, das den sie umschließenden Bergen angepaßt war. Was er über diese riesige Wächterstadt wußte, stammte nur aus Büchern, und er blickte sich aufmerksam um, während der Kerner, der sich hier auskannte, sie führte. Da den Häusern nur eine knappe Grundfläche zur Verfügung stand, wuchsen sie in die Höhe, viel höher als die Gebäude in Secca oder Aldarin, fünf und manchmal sogar sechs Stockwerke hoch, so daß Calandryll und seine Gefährten durch schat tige Schluchten zu reiten schienen. Obwohl die Sonne zu dieser Tageszeit hoch am Himmel stand, gab es Straßen, in die kein Lichtstrahl fiel und in denen es fast dunkel war. Balkone ragten aus den Wänden hervor und ver stärkten das Gefühl, eingeschlossen zu sein. Auf den wenigen freien Plätzen drängten sich Verkaufsstände
und Menschenmengen, die in etwa zu gleichen Teilen aus dunkelhaarigen Kernern und den helleren Lyssia nern bestanden. Es schien keinerlei Parkanlagen oder Gärten zu geben, und schon bald verspürte Calandryll einen leichten Anflug von Klaustrophobie. Ihm wurde bewußt, wie sehr er sich an die offene Landschaft ge wöhnt hatte. Das Gefühl der Beklemmung dämpfte seine natürliche Neugier, und er fragte sich, wie lange sie wohl hier bleiben mußten. Lange genug, nahm er an, um herauszufinden, ob Rhythamun immer noch hier verweilte oder – was wahr scheinlicher schien – bereits wieder abgereist war. Sollte er verschwunden sein, mußten sie so viel wie möglich über seine Weiterreise in Erfahrung bringen: ob er in Begleitung unterwegs war oder erwähnt hatte, welche Richtung er einschlagen wollte. Sie brauchten irgendei nen Hinweis, dem sie über die Prärien jenseits der Berge folgen konnten. Sollte er sich immer noch hier aufhalten … Calandryll wußte nicht, was dann geschehen würde. Er nahm an, daß es dann zu einer Konfrontation kom men würde, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie diese ausgehen würde, trotz Deras Versicherung, daß er die Mittel in sich trug, um den Schwarzmagier zu besiegen. Dieses Versprechen blieb ein Mysterium für ihn, denn obwohl er anscheinend die Fähigkeit besaß, die Jüngeren Götter herbeizurufen – ohne zu wissen, wie er das anstell te –, blieben ihre Worte für ihn rätselhaft. Vielleicht, dachte er, würde sich das Verständnis bei Bedarf einstel len, so wie ihm bereits die Magie mehrmals zu Hilfe
gekommen war, die er ebensowenig wie die göttlichen Versprechungen begriff. Er konnte nur hoffen, seinen Weg weitergehen und an diesem Glauben festhalten. Er wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als der Schatten der inneren Mauer auf sein Gesicht fiel. Ca landryll hob den Kopf und sah, daß der Schutzwall sich vor ihnen erstreckte und in die hier näher zusammenrü ckenden Felswände überging. Dies war der eigentliche Eingang in den Paß nach Cuan na'For. Wie ihr Vorgänger war auch diese Barriere mit Schieß scharten versehen und besaß Erkertürme, die jedoch nicht bemannt waren und aus älterem Gestein errichtet worden waren. Efeu rankte sich in großen Mengen an den Steinblöcken empor und verlieh dem harten Granit ein freundlicheres Aussehen. Früher hatte sich hier eine unbebaute Fläche erstreckt, um den Verteidigern freies Schußfeld zu ermöglichen, jetzt aber wurde der Streifen zwischen der Mauer und den nächsten Gebäuden von provisorischen Behausungen ausgefüllt, wackligen Ge bilde aus Holz und durcheinandergewürfelten Steinen, die sich gegen den Schutzwall lehnten. Es roch nach ungewaschenen Leibern und Unrat, als hätte man den Abfall Gannsholds – sowohl den menschlichen als auch den organischen – hier abgeladen. »Das Bettlerviertel«, sagte Bracht und beschleunigte das Tempo ein wenig, als sich zerlumpte Gestalten mit ausgestreckten Händen um sie drängten und um Geld bettelten. »Dahinter werden wir eine Unterkunft finden.«
Mit ›dahinter‹, sah Calandryll jetzt, war die innere Stadt gemeint. Zwischen den baufälligen Baracken ent deckte er ein offenes Tor, hinter dem ein weiterer kurzer Tunnel auf eine breite, von alten Häusern gesäumte Stra ße führte, über der sich die mächtige Zitadelle erhob. Sie überragte alle anderen Gebäude wie ein uralter, aber immer noch aufmerksamer Wächter, abweisend trotz des Sonnenlichts, das sich über die Befestigungsanlagen ergoß und auf den Helmen und Piken der Soldaten schimmerte, die auf den hochaufragenden Mauern pat rouillierten. Trotz der bedrohlich wirkenden Präsenz des Bauwerks vermittelte dieser Teil Gannsholds einen freundlicheren und lebendigeren Eindruck als die äuße ren Stadtteile. Die Straßen waren breiter, die Häuser niedriger, als hätten die ursprünglichen Bewohner mehr Raum zur Verfügung gehabt oder wären nicht so zahl reich gewesen, während die, die nach ihnen gekommen waren, den spärlichen Wohnraum so effektiv wie mög lich nutzen mußten. Soldaten standen am Ende des Tun nels Wache, versahen ihren Dienst aber äußerst lässig. Sie hielten die drei Reiter nicht auf, und Calandryll vermute te, daß ihre Aufgabe lediglich darin bestand, die Bettler fernzuhalten. Der Stadtteil, den sie jetzt betraten, war zweifellos ge pflegter. Einige Häuser besaßen sogar winzige Gärten, aber Bracht führte sie schnell weiter in ein Viertel voller Tavernen und Gasthäuser, in dem Kerner die Mehrheit und Lyssianer die Minderheit bildeten und es intensiv nach Pferden roch. Er lenkte seinen Hengst an den Rand
eines Platzes, der ausschließlich von Bierstuben gesäumt wurde, suchte sich eine Stelle aus, an der kein Durch gangsverkehr herrschte, und brachte sein Pferd zum Stehen. »Dort liegt das Pferdehändlerviertel.« Er deutete auf eine breite Straße, die in einen offenen Platz mündete. Der leichte Wind, der aus dieser Richtung kam, trug den Geruch von Dung und Pferdeschweiß mit sich. »Wahr scheinlich kennt man Daven Tyras dort und in den um liegenden Tavernen.« »Aber du glaubst, daß er nicht mehr da ist.« Katya blickte in die angegebene Richtung, die grauen Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Bracht nickte. »Aye. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er sich immer noch hier aufhält.« »Wir haben nur eine Möglichkeit, das herauszufin den«, sagte Calandryll. »Und zwei Möglichkeiten, sich ihm zu nähern, falls er doch noch hier ist. Entweder Hals über Kopf oder vor sichtig.« Bracht musterte seine Gefährten ernst. »Sollen wir darüber beratschlagen?« Calandryll erwiderte den Blick des Kerners genauso ernst. Nachdem sie so weit gekommen waren, drängte es ihn, die Entscheidung so schnell wie möglich zu suchen. Wenn sich Rhythamun in der Gestalt Daven Tyras noch immer in Gannshold aufhielt, schien es das beste zu sein, ihn ausfindig zu machen, auf die Götter zu vertrauen und zu versuchen, ihn zu töten, bevor er die Möglichkeit
erhielt, weiterzuziehen. Und sollte er, wie Bracht vermu tete, bereits abgereist sein, wäre es das klügste, sich so fort an seine Fersen zu heften. Aber Calandryll hatte lernen müssen, daß es ratsam war, behutsam vorzuge hen, was Rhythamun betraf, und er zögerte mit der Ant wort, auf die, wie er sich bewußt wurde, Katya und Bracht warteten. Es schien, als wäre er durch Deras Ver sprechen dazu bestimmt worden, die Entscheidung zu treffen und die anderen in diese letzte Konfrontation zu führen. Er seufzte. Wie Bracht bezweifelte auch er, daß Rhythamun immer noch in Gannshold war, aber wenn er sich irrte … Er runzelte die Stirn, unschlüssig über die beste Vorgehensweise, und blickte auf, als könnte er die Antwort im Himmel lesen, der sich blau über ihm wölb te. Um die Berggipfel und die Türme der Zitadelle kreis ten die schwarzen Silhouetten von Raben. »Wir liegen Wochen hinter ihm zurück«, begann er langsam und wußte gleichzeitig, daß das nur Ausflüchte waren, »und wahrscheinlich hast du recht, und Rhytha mun ist bereits weiter nach Norden gezogen.« »Aber wenn nicht…«, murmelte Katya. »… wird er wahrscheinlich nicht damit rechnen, uns hier anzutreffen«, beendete Bracht den Satz für sie. Calandryll nickte, atmete tief durch und spürte die erwartungsvollen Blicke seiner Gefährten auf sich. Er verspürte einen kurzen Anflug von Verärgerung dar über, daß ihm die Entscheidung vorbehalten sein sollte. In so vielen Fragen beugte er sich Brachts Urteil, und
Katya verfolgte Rhythamun schon länger als er – warum sollten sie die Verantwortung jetzt ihm überlassen? Weil die Götter sagen, daß du den Schlüssel zu Rhythamuns Nie derlage in dir trägst, meldete sich eine Stimme in seinem Kopf zu Wort. Willst du jetzt zaudern? Er leckte sich über die Lippen. Das Kribbeln in seinem Bauch war dem nicht unähnlich, das einem Kampf vorausging. Sie hatten ei nen weiten und harten Ritt hinter sich gebracht, um die sen Konflikt auszutragen. »Aye«, sagte er schließlich. »Versuchen wir, ihn gleich jetzt zu finden.« Brachts Antwort bestand aus einem sparsamen, aber entschlossenen Grinsen und einem zustimmenden Knur ren. »Einverstanden«, sagte Katya und lockerte den Säbel in der Scheide. »Dann hier entlang.« Der Kerner lenkte sein Pferd in den Verkehr zurück und führte sie auf die breite Straße. Sie tauchten in Schatten ein und gelangten dann wie der ins Sonnenlicht, als die Straße in einen großen Platz mündete, der vom Lärm und Geruch von Pferden und Menschen erfüllt war. Calandryll fühlte sich an das Pfer dehändlerviertel in Aldarin erinnert, aber dies hier war weitaus größer, der Geruch überwältigend, der Lärm ohrenbetäubend. Fliegen stiegen summend in dicken schwarzen Wolken vom Mist unter den Hufen ihrer Pferde auf. Fast alle Händler waren Kerner oder Misch linge, die Pferche ein Meer von Pferdeköpfen in ständi
ger Bewegung. Es schien unmöglich, in diesem Durch einander einen einzelnen Mann finden zu wollen. »Die Jahreszeit kommt uns zugute!« rief Bracht über den Lärm hinweg und deutete auf das chaotische Trei ben. »So früh im Jahr sind weniger Händler da. Wenn die Fohlenzeit kommt…« Was er sonst noch sagte, ging im Hufgeklapper unter, als zwei Kerner eine Pferdeherde an ihnen vorbeitrieben. Calandryll nickte, beugte sich zu Bracht hinüber und berührte sein Ohr beinahe mit den Lippen. »Wo fangen wir an?« »Bei Männern, denen ich vertrauen kann«, erwiderte der Kerner. »Aber überlaß das mir. So etwas erledigt man auf eine ganz bestimmte Weise.« Calandryll runzelte die Stirn. Er hätte seinem Gefähr ten gern noch einige Fragen gestellt, aber Bracht gab ihm nicht mehr die Gelegenheit und lenkte den schwarzen Hengst in den Strom aus Menschen und Tieren. Ca landryll und Katya hielten sich dicht hinter ihm. Die ohrenbetäubende Lärmkulisse machte jeden Einwand und erst recht jedes Gespräch unmöglich. Der Kerner schien ziellos zwischen den Pferchen umherzureiten, aber seine Augen glitten ständig über das Gedränge, als versuchte er, eine bestimmte Person in der brodelnden Menge zu entdecken. Hoffte er etwa, Daven Tyras in diesem unüberschaubaren Durcheinander zu finden? überlegte Calandryll und verwarf den Gedanken wieder, als Bracht sich umdrehte, ihnen zuwinkte und sie zu
einem Gatter führte, das direkt an die Mauer der Zitadel le anschloß. Zwei Männer saßen auf dem Zaun und beaufsichtig ten eine Herde einjähriger Pferde. Beide waren nicht mehr jung, graue Strähnen durchzogen ihr glattes schwarzes Haar, ihre Gesichter waren sowohl von den Jahren als auch von der Witterung gezeichnet. Sie trugen die aus derbem Leder gefertigten Hosen, die hohen Stie fel und die Tuniken, die die übliche Kleidung der Ein wohner Cuan na'Fors darstellte, und an ihren Gürteln baumelten Schwerter und Langdolche. Die Augen, mit denen sie die drei Reiter musterten, waren von unzähli gen Fältchen umgeben, aber klar und von dem gleichen verblüffenden Blau wie die von Bracht. Der Kerner zügelte sein Pferd vor ihnen und hob die rechte Hand, die Handfläche nach außen gedreht und die Finger gespreizt. Calandryll erinnerte sich, daß Bracht der großen Eiche, aus der der Byah gekommen war, um sie vor Rhythamuns Betrug zu warnen, einen ähnlichen Gruß entboten hatte. Die Männer erwiderten die Geste, und ihre Augen richteten sich auf Bracht, bevor sie über Calandryll weiter zu Katya wanderten. Es war eine äu ßerst kurze Musterung, und doch hatte Calandryll das Gefühl, daß er schon im gleichen Moment abgeschätzt und beurteilt worden war. Ganz plötzlich wurde er sich wieder seiner Tarnung bewußt und war überzeugt, daß die beiden den Lyssianer hinter dem schwarzgefärbten Haar erkannt hatten.
Bracht bestätigte diese Vermutung, als er zeremoniell verkündete: »Ich bin Bracht ni Errhyn vom Clan der Asyther. Dies ist Katya, die Tochter Tekkans aus Vanu, und das Calandryll den Karynth aus Lysse.« »Ich kenne dich, Bracht ni Errhyn«, erwiderte der älte re der beiden nicht weniger formell und stellte sich, auch an Calandryll und Katya gewandt vor: »Ich bin Gart ni Morrhyn vom Clan der Asyther, und dies…« – er deutete mit einem Nicken auf den Mann an seiner Seite – »… ist Kythan ni Morrhyn, mein Bruder. Wir grüßen euch.« »Und wir grüßen euch«, gab Bracht zurück und fügte mit feierlicher Miene hinzu: »Ich bin froh, euch bei guter Gesundheit vorzufinden.« »Tugend und Ehrenhaftigkeit sind unsere Gefährten«, entgegnete Gart mit geduldig beibehaltenem Ernst, »und wir rechnen damit, noch ein hohes Alter zu erreichen.« Seine Worte ließen Bracht lächeln. Er schüttelte schmunzelnd den Kopf. Calandryll verfolgte den Wort wechsel aufmerksam. Er war gut genug mit der Sprache Cuan na'Fors vertraut, um den größten Teil der Unterhal tung zu verstehen, und was er hörte, war äußerst interes sant. Er begriff, daß hier eine Art Protokoll befolgt wur de, die formelle Begrüßung jetzt in gutmütige Spötteleien überging und die beiden Brüder keine Fremden für Bracht waren. Im Augenblick wurden Katya und er von der Unterhaltung ausgeschlossen, es war ein Gespräch unter Kernern, und er vermutete, daß Gart und Kythan nicht wußten, daß er sie verstand.
»Bist du gekommen, um dir noch ein paar Pferde von den Lykardern zu holen, Bracht ni Errhyn?« fragte Kythan mit einem Ernst, den das Funkeln in seinen Au gen Lügen strafte. »Oder vielleicht, um Wergeid zu zah len?« Bracht ließ ein dünnes Lächeln aufblitzen. »Ich habe eine Menge Wergeid dabei«, erwiderte er, »und ich hoffe, daß man mir später eine Gelegenheit gibt, diese Sache zu bereinigen.« »Ich glaube nicht, daß Jehenne ni Larrhyn allzu großen Wert auf Wergeid legt«, sagte Kythan, ohne sich länger um Ernsthaftigkeit zu bemühen, »sondern an einer eher … persönlichen … Wiedergutmachung interessiert ist.« »Die Lykarder waren schon immer ziemlich nachtra gend«, bestätigte Gart mit einem Nicken. »Ich hatte gehofft, die Sache wäre in Vergessenheit ge raten«, sagte Bracht, »und Jehenne hätte einen anderen gefunden.« Die beiden Männer kicherten und schüttelten die Köp fe, als wäre das alles äußerst spaßig. »Der Clan der Lykarder hat ein gutes Gedächtnis«, stellte Gart fest. »Und Jehenne ni Larrhyn ist ein bemerkenswertes Biest«, fügte Kythan hinzu. »Wenn du nach Norden willst, dann würde ich an deiner Stelle wie der Wind reiten. Du und deine fremden Freunde.« Dabei wander ten seine Augen in einer stummen Frage über Katya.
Bracht schüttelte einmal knapp den Kopf und sagte: »Jehenne hat keinen Grund für einen Streit mit ihr.« Gart zuckte die Achseln. »Sie reitet mit dir, und sie ist hübsch. Willst du mir etwa erzählen, du hättest nicht…?« »Nein«, unterbrach ihn Bracht schnell und warf einen besorgten Blick in Katyas Richtung, obwohl diese nur stumm auf ihrem Pferd saß und nichts von der Unterhal tung verstand. Calandryll, der allmählich ahnte, worum es hier ging, fragte sich, was der Kerner ihr erzählen würde. Der Wortwechsel faszinierte ihn. Garts Brauen stiegen in die Höhe. »Hat das südliche Klima dein Blut dünn gemacht?« erkundigte sich Kythan. »Ich habe ein Gelübte abgelegt«, antwortete Bracht. »Es besteht ein Einvernehmen zwischen uns.« Kythan grinste. »An deiner Stelle wäre ich auch zu ei nem Einvernehmen mit einer wie ihr bereit.« Calandryll sah, wie Bracht bei diesem Scherz kurz die Lippen zusammenpreßte, aber der Kerner zügelte sein hitziges Temperament und brachte ein Lächeln zustande. Anscheinend akzeptierte er derartige Sticheleien von seinen Landsleuten eher als von Fremden. »Sie kann mit ihrer Klinge umgehen«, sagte er. »Während deine, falls ich mich nicht täusche, durch andauernden Mißbrauch rostig und abgenutzt ist.« Daraufhin brachen die beiden älteren Kerner in brül lendes Gelächter aus. Gart nickte eifrig und schlug sei
nem prustenden Bruder so heftig auf die Schultern, daß Kythan beinahe vom Zaun fiel. »Ich hoffe, dein Schwert ist genauso scharf wie deine Zunge«, stieß er unter La chen hervor, »denn wenn du irgend jemandem aus der Familie der ni Larrhyn begegnest, wirst du ein gutes Schwert brauchen.« »Oder ein schnelles Pferd«, meinte Kythan. »Ist der Schwarze gut?« »Schnell wie der Wind«, behauptete Bracht, »und wenn die Lykarder mich zu Wort kommen lassen, nun, ich habe genug Wergeid, um selbst Jehennes Zorn zu besänftigen.« »Wenn sie dir eine Gelegenheit dazu geben«, sagte Gart, jetzt wieder etwas ernster, »und ich würde mir an deiner Stelle lange überlegen, ob ich bereit wäre, dieses Risiko einzugehen. Aber komm, wir sitzen hier auf dem Trockenen und schwatzen, während wir unsere Zungen viel besser mit Bier lösen könnten. Du sagst, du hast Varre? Dann sage ich, daß wir Münze um Münze und Krug um Krug mit dir mithalten werden. Ich möchte mir anhören, was du erlebt hast und was dich – außer Wahn sinn – wieder in das Gebiet der Lykarder führt.« Calandryll bekam genug von der Unterhaltung mit, um zu verstehen, daß Daven Tyras bisher noch mit kei nem Wort erwähnt worden war, und die Entschlossen heit, mit der die beiden älteren Männer vom Zaun spran gen, verriet ihm, daß sie kaum eine andere Wahl hatten, als mit ihnen zu trinken. Er bezwang seine Ungeduld –
schließlich hatte er selbst erst vor kurzem noch gezögert –, folgte Brachts Beispiel und stieg vom Pferd. »Was haben sie gesagt?« wollte Katya wissen und runzelte die Stirn, als Kythan das Tor öffnete und ihnen versicherte, daß ihre Pferde gut in dem Pferch aufgeho ben wären. »Daß wir mit ihnen Bier trinken gehen und unsere Tie re solange hier zurücklassen sollen«, erklärte Calandryll. »Bier?« Katya schüttelte irritiert ihren flachsblonden Kopf. »Wollten wir nicht Rhythamun suchen? Sollen wir in irgendeiner Taverne unsere Zeit vergeuden?« »Vertrau mir.« Bracht führte seinen Hengst in den Pferch. »Wir werden schon sehr bald Antworten erhal ten.« Die Falten auf der Stirn der Kriegerin wurden tiefer, und ihre grauen Augen blitzten einen Moment lang ge fährlich auf, als ob sich in ihnen ein Sturm zusammen braute, aber dann murmelte sie irgend etwas in ihrer Muttersprache, glitt geschmeidig aus dem Sattel und führte ihren Wallach hinter Calandrylls Braunen in die Umzäunung. Gart und Kythan begutachteten beide Tiere, während sie vor dem Tor warteten, und nickten anerkennend. »Wo habt ihr sie gekauft?« wollte Gart wissen. »In Aldarin«, erwiderte Bracht. »Aber wenn ich mich nicht täusche, stammen sie aus Cuan na'For«, sagte Kythan. »Wie teuer?«
Bracht nannte den Preis, und Kythan grinste. »Hier müßtest du weniger bezahlen«, stellte er fest. »Wir waren nun einmal in Aldarin und haben Pferde gebraucht«, entgegnete Bracht mit einem Achselzucken. »Es ist nicht billig, sie so tief in den Süden zu bringen«, sagte Gart. Kythan nickte. »Und dann die Löhne für die Treiber.« »Und auch noch der Rückweg«, fügte Gart hinzu. »Viel zu weit«, behauptete Kythan. »Das lohnt den ganzen Aufwand nicht«, stimmte ihm Gart zu. »Egal, wie hoch der Preis steigt.« Ihre Gespräche drehten sich auch weiterhin um Geld fragen, während sie die Pforte wieder verschlossen und sich auf den Weg zu einer Taverne machten, deren Vor derseite offen war. Calandryll fragte sich, ob alle Kerner so habgierig waren. Als sich Bracht damals einverstan den erklärt hatte, ihn nach Gessyth zu begleiten, hatte er den Eindruck gehabt, daß es dem Söldner nur um das Geld gegangen wäre, und er erinnerte sich noch, ihm seine Gier zum Vorwurf gemacht zu haben. Und auch als sie nach Aldarin zurückgekehrt waren, hatte Bracht sich Sorgen um seinen versprochenen Lohn gemacht und Calandryll damit wieder an seine Söldnerdienste erin nert. Jetzt aber … Das Gespräch über diese – wie hieß sie doch noch gleich? – Jehenne ni Larrhyn und über Wer geid, das zur Beilegung irgendwelcher Streitigkeiten gezahlt werden sollte, ließ Brachts Beweggründe in ei nem ganz anderen Licht erscheinen. Vielleicht, dachte
Calandryll, würde er jetzt erfahren, warum Bracht aus seiner Heimat geflohen war. Und, wie er hoffte, auch einiges über Daven Tyras. Die Tavernen in diesem Viertel schienen sich irgend wie nach Clanzugehörigkeit zu gliedern. Der Wirt dieser Schenke sah Bracht und den beiden älteren Männern ähnlich, während Calandryll bei anderen Unterschiede in der Kleidung und Haut- sowie der Haarfarbe bemerkte, die auf eine andere Herkunft schließen ließen. Hier, so nahm er an, herrschten die Asyther vor, denn um sie herum saßen Männer, die in der Mehrzahl in Hosen und Tuniken aus schwarzem Leder gekleidet waren und blaue Augen und dunkles Haar hatten, das sie wie Bracht – und wie er selbst, rief sich Calandryll ins Gedächtnis zurück – zu lockeren Pferdeschwänzen im Nacken zu sammengebunden trugen. Einige riefen ihnen Grüße zu, allerdings mit gedämpften Stimmen, als fürchteten sie, von unerwünschten Lauschern – Lykardern? – gehört zu werden, und Bracht erwiderte sie mit einer warnenden Geste, damit sich niemand zu ihnen gesellte und sie unter sich bleiben konnten. Sie fanden einen Tisch und bestellten eine Runde Bier. »Was gibt es Neues?« fragte Bracht mit einem kurzen Blick nach Norden, wo sich die große Zitadelle erhob. »Deinem Vater und deiner Mutter geht es gut.« Gart nahm einen tiefen Schluck und schmatzte genüßlich mit den Lippen. »Mykah hat den Lykardern Pferde als Ent schädigung angeboten, aber sie haben abgelehnt.«
»Es scheint, als wollte Jehenne lieber dich haben«, sag te Kythan mit einem verschlagenen Grinsen. »Ihre Ant wort lautete, daß sie sich nur mit dir und zwei kräftigen Nägeln zufriedengeben würde.« Er legte eine sorgfältig bemessene dramatische Kunst pause ein und trank. Gart nickte und erklärte: »Dich, weil es so vereinbart war, und die Nägel, um dich zu kreuzi gen.« »Wenn du wirklich vorhast, nach Hause zurückzukeh ren, solltest du dir noch ein bißchen Zeit lassen«, riet ihm Kythan, diesmal voller Ernst. »Sobald wir unsere Herde verkauft haben, machen wir uns auf den Heimweg, zu sammen mit einigen anderen aus dem Clan. In der Gruppe wärst du sicherer.« »Oder nimm die Straße in Lysse nach Forshold«, schlug Gart vor. »Denn in letzter Zeit sind die Lykarder weiter nach Osten vorgedrungen.« Bracht sah ihn fragend an, und Gart zuckte die Ach seln. »Wie es scheint, rühren sich die Kreaturen aus dem Höllenmaul«, erklärte er, »und sie lassen sich weder durch die Drachomannii noch durch Schwerter vom Paß fernhalten.« »Sie kommen heraus?« Calandryll registrierte die Überraschung in Brachts Stimme und durchforstete sein Gedächtnis nach dem, was er über das Höllenmaul wußte. So bezeichneten die Einwohner Cuan na'Fors den Geff-Paß, und er erinnerte sich, daß er Bracht vorgeschlagen hatte, Gessyth über
diese Route wieder zu verlassen, worauf dieser von selt samen Kreaturen gesprochen hatte, die angeblich dort hausten. Und jetzt rührten sie sich? Er fragte sich, was das zu bedeuten hatte. War es ein weiterer Beweis für den verderblichen Einfluß, der von dem Verrückten Gott ausging? Er sah, daß Gart bestätigend den Kopf neigte, und konzentrierte sich auf die Worte des Kerners. »Nach dem, was wir gehört haben, scheint das wirk lich der Fall zu sein. Zwar ist das Land der Asyther da von bisher noch nicht berührt worden, aber die Lykarder sprechen von Verlusten an Menschen und Pferden. Sie haben sich in letzter Zeit aus dieser Gegend zurückgezo gen und sich den Weideflächen der Asyther genähert.« »Egal.« Bracht machte eine wegwerfende Handbewe gung. »Wir müssen trotzdem unverzüglich weiterziehen, es sei denn, wir finden hier den Mann, den wir suchen.« »Ah«, sagte Kythan. »Ich spüre, daß es gleich eine Ge schichte zu hören geben wird. Warte…« Er leerte seinen Krug, eilig gefolgt von Gart, und rief lautstark nach mehr Bier. Nachdem es gebracht worden war, tranken beide Brüder ein paar Schlucke und beug ten sich vor, die Augen gebannt auf Bracht gerichtet. Es war unverkennbar, daß sie gepannt auf seine Geschichte waren. Calandryll fragte sich, wieviel sein Gefährte ihnen verraten würde. Wieviel sollte er ihnen erzählen? Bisher schien es stets klüger gewesen zu sein, ihr Wissen über Rhythamun und dessen verwerfliche Ziele für sich zu behalten, und es hatte sich auch noch keine Situation
ergeben, in der die Preisgabe dieser Informationen ihnen einen Vorteil hätte bringen können. Und jetzt? Er war sich nicht sicher. »Wir suchen einen Mann namens Daven Tyras«, sagte Bracht. Die Gesichter der beiden Brüder verrieten, daß ihnen der Name bekannt war. Kythan nickte, und Gart fragte: »Ein Halbblut, das mit minderwertigen Pferden han delt?« Bracht brummte zustimmend. »Dessen Mutter Lykarderin und dessen Vater Lyssia ner ist?« hakte Kythan nach. »Ist er hier?« erkundigte sich Bracht barsch. Welches Protokoll solche Angelegenheiten auch im mer vorschrieben, Bracht hatte es durch eine derart di rekte Frage offensichtlich gebrochen. Die beiden Brüder schienen einen Moment lang verunsichert zu sein, als bestünde die korrekte Vorgehensweise darin, das Thema eine Weile zu umkreisen und sich ihm erst nach und nach zu nähern. Trotzdem – vielleicht durch Brachts grimmigen Ge sichtsausdruck beeindruckt – schüttelten die Kerner die Köpfe, und Gart antwortete: »Nein. Er hat Gannshold vor einigen Wochen durchquert. Vor drei? Vier?« »Vier«, sagte Kythan. »Wir hatten gerade den Rot schimmelhengst verkauft.« »Aye, also vor vier Wochen«, stimmte ihm Gart zu.
Bracht fluchte, obwohl es genau das war, was er er wartet hatte. Calandryll spürte eine Hand auf seinem Arm, drehte sich um und sah, daß Katya neugierig die Stirn runzelte, sichtlich enttäuscht, daß sie nichts verste hen konnte. »Ich habe den Namen gehört«, sagte sie. »Was habt ihr erfahren?« »Daß Rhythamun vor vier Wochen nach Norden ge zogen ist«, erklärte Calandryll. Die Kriegerin stieß eine Verwünschung in ihrer Muttersprache aus. »Warte«, bat Bracht und wandte sich wieder den Brü dern zu. »Erzählt mir, was ihr über ihn wißt.« Gart und Kythan wechselten einen Blick, als könnten sie so ihre Erinnerungen vergleichen, dann fragte Gart: »Weißt du, wie er aussieht?« Bracht wiederholte die Beschreibung, die ihm Darth gegeben hatte, und was sie sonst noch auf ihrem Weg nach Norden erfahren hatten. Gart nickte bekräftigend, trank von seinem Bier, wischte sich den Schaum von den Lippen und sagte: »Er reitet noch immer den gescheckten Wallach, aber er hat Gannshold in Begleitung eines Lykarders aus der Familie seiner Mutter verlassen, der ni Brhyn. Mehr wissen wir auch nicht.« Er hob bedauernd die Schultern. Kythan fragte: »Hast du Streit mit dem Halbblut?« Bracht zögerte einen Augenblick, dann neigte er den Kopf. »Er hat einen Gegenstand gestohlen.«
»Einen Gegenstand«, murmelte Kythan, »der dich in Begleitung einer Kriegerin aus Vanu und eines als Clansmann verkleideten Lyssianers in den Norden führt, was? Das muß aber ein äußerst wichtiger Gegenstand sein…« Es war zwar keine direkte Frage, aber trotzdem eine unmißverständliche Aufforderung zu erklären, worum es sich dabei handelte. Bracht nickte, zeigte flüchtig ein humorloses Lächeln und sagte: »Es ist ein Buch. Wir…« Seine Worte gingen im Prusten der beiden Brüder un ter. Gart spuckte einen Mundvoll Bier aus und begann zu husten. Kythan klopfte ihm kräftig auf den Rücken. Sein Mund stand weit offen, Bier lief an seinem Kinn herab. »Ein Buch?« Das schien völlig unbegreiflich für ihn zu sein. »Du riskierst Jehenne ni Larrhyns Rache für ein Buch?« »Was kannst du mit einem Buch anfangen?« Garts Ge sichtsausdruck verriet, daß das über seinen Verstand ging. Er wischte mit einer Hand über sein biergetränktes Hemd und trank einen weiteren Schluck, als könnte er damit die Normalität wiederherstellen. »Hast du auf deinen Reisen durch Lysse etwa Lesen gelernt?« »Nein«, erwiderte Bracht, »aber ich habe Geld dafür bekommen, es zu suchen. Und ich habe geschworen, es sicher nach Vanu zu bringen.« »Du arbeitest für sie?«
Katya runzelte erneut die Stirn, als sich die Brüder ihr zuwandten, und rutschte nervös auf ihrem Stuhl herum. Calandryll gab ihr ein Zeichen, ruhig zu bleiben. »Nein«, stellte Bracht klar. »Sie ist an den gleichen Eid gebunden – das Buch in ihr Heimatland zu bringen.« »Diese Geschichte hat das Zeug, die Winternächte auszufüllen«, bemerkte Kythan. »Eine Geschichte, wie sie die Barden vortragen … Bracht ni Errhyn auf der Suche nach einem … Buch … reitet gemeinsam mit Katya aus Vanu und einem verkleideten Lyssianer.« Seine Augen richteten sich auf Calandryll und stellten wieder eine unausgesprochene Frage. Bracht grinste verschwörerisch und sagte: »Demnächst wird Tobias den Karynth, der jetzt Domm von Secca ist, nach Gannshold kommen. Er wird Steckbriefe von Ca landryll aufhängen und ihn als Vatermörder suchen lassen.« Sofort wurden die Augen der Brüder schmal, und Bracht fügte eilig hinzu: »Das ist nicht wahr! Tobias selbst hat die Chaipaku beauftragt, seinen Vater zu ver giften, und seinem Bruder die Schuld in die Schuhe ge schoben, während Calandryll mit mir unterwegs war.« »Ein Vatermörder ist…« Gart benutzte ein Wort, das Calandryll nicht verstand, aber das vor Abscheu verzerr te wettergegerbte Gesicht des Kerners verriet deutlich genug, was es bedeutete. »Aye«, bestätigte Bracht, »und da wir ganz Lysse durchqueren mußten, hat sich diese Maskerade als not
wendig erwiesen.« »Und es wäre dir lieber, wenn wir das für uns behal ten würden«, vermutete Gart. »Während du einem Buch hinterherjagst«, fügte Kythan hinzu. »Aye«, stimmte Bracht beiden gleichzeitig zu. »Die Chaipaku«, sagte Gart mit einem Anflug von Nervosität, wie Calandryll zu erkennen glaubte. »Hat es auch die Bruderschaft auf dich abgesehen?« »Nicht mehr«, erwiderte Bracht. »Nicht mehr?« Diesmal vergaß Kythan die Umständ lichkeit, die die Umgangsformen der Kerner anscheinend verlangten. »Im Norden möchte Jehenne ni Larrhyn dich kreuzigen, du reitest mit einem Mann, der vom Domm von Secca gejagt wird, und du erzählst uns, daß dir auch die Chaipaku auf den Fersen waren? Du hast ein Talent, dir Feinde zu machen, Bracht.« Calandryll sah, wie Bracht grinsend die Achseln zuck te, als hätten seine Landsleute ihm gerade ein großes Lob ausgesprochen. »Das ist eine lange Geschichte«, erklärte der Söldner, »die ich ein anderes Mal erzählen werde. Jetzt geht es darum, daß wir Daven Tyras finden.« »Er hat vor vier Wochen den Paß überquert«, sagte Gart, »wie wir dir bereits gesagt haben. Wo er jetzt steckt? Wahrscheinlich bei den ni Brhyn.« »Kann Daven Tyras lesen?« fragte Kythan verwun
dert. Bracht nickte. »Dieses Buch muß sehr wertvoll sein«, meinte Gart. »Durch ganz Lysse, sagst du? Und dann weiter nach Norden direkt in die Arme der Lykarder? Und das alles nur, um dieses Buch nach Vanu zu bringen, wo noch nie ein Clansmann gewesen ist?« Wieder zuckte Bracht, ohne die Frage zu beantworten, die in Garts Blick lag. Statt dessen fragte er: »Gibt es hier Angehörige der ni Larrhyn, die Jehenne mein Angebot übermitteln könnten, ihr Wergeid zu bezahlen?« Die Brüder bestätigten das mit einem Brummen und deuteten mit den Köpfen auf eine Taverne, die ein Stück chen entfernt an der Mauer lag. Calandryll folgte ihren Blicken und bemerkte, daß die Männer dort helleres Haar hatten, das sie in zwei langen geflochtenen Zöpfen tru gen. »Sowohl ni Larrhyn wie ni Brhyn«, sagte Gart. »Au ßerdem noch ein paar andere Familien. Und sie alle wür den dir wahrscheinlich die Kehle durchschneiden, sollten sie erfahren, daß du hier bist.« »Jehenne hat verlauten lassen, daß ihr auch dein Kopf genügen würde, sollte es sich als zu schwierig erweisen, dich ihr lebend auszuliefern«, erläuterte Kythan. »Vor ausgesetzt, er ist gut genug erhalten, damit sie dich er kennen kann. Obwohl sie es vorziehen würde, dich an einen Baum nageln zu lassen.« Diese Ankündigung ließ Calandryll zusammenzu
cken. Allmählich hatte er den Eindruck, daß ihnen noch etliche Gefahren bevorstanden, ehe sie auf Rhythamun trafen, daß ihr Weg mit Hindernissen übersät war. Das Schicksal schien zu ihren Ungunsten auszuschlagen. »Was ist los?« zischte ihm Katya ins Ohr. »Worum geht es?« Er bedeutete ihr erneut mit einer Geste zu schweigen, während Bracht kalt lächelte und fragte: »Ist Gannshold kein neutraler Ort mehr? Gelten die Vereinbarungen nicht mehr?« »In den meisten Punkten schon.« Gart zuckte die Achseln. »Aber auch in diesem? Jehenne ist mittlerweile ziemlich mächtig und sehr wütend. Es ist nicht undenk bar, daß einige hitzköpfige Krieger die Vereinbarungen vergessen könnten.« »Chador ist gestorben, während du auf Wanderschaft warst«, erklärte Kythan, »und jetzt ist Jehenne Anführe rin der ni Larrhyn. Sie hat den Kriegern, die dich an sie ausliefern, oder ihr deinen Kopf überbringen, eine Menge versprochen.« »Ich hätte nicht gedacht, daß ihre Gefühle so leiden schaftlich sind.« Brachts Gesichtsausdruck verfinsterte sich, als er die Taverne musterte, wo die hellhaarigeren Männer saßen. »Aber trotzdem, ich habe eine Menge Wergeid, fast fünftausend Varre.« »Soviel?« Garts Unterkiefer klappte herab. »Ahrd!« keuchte Kythan mit weit aufgerissenen Au gen.
»Wäre es möglich, den Versuch einer Verständigung zu unternehmen?« fragte Bracht. »Bei einer derartigen Summe, vielleicht«, sagte Gart langsam. »Das ist mehr Wergeid, als jemals irgend jemand an geboten hat«, stellte Kythan fest. »Aber es könnte trotzdem immer noch nicht ausrei chen.« Die Fältchen um Garts Augen vertieften sich. »Jehenne kocht vor Wut. Dein Vater hat ihr angeboten, ihr die vierzig Pferde zurückzugeben, die du ihr gestoh len hast, und noch einmal vierzig ihrer Wahl dazu, kom plett mit Sätteln und Zaumzeug, und trotzdem hat sie abgelehnt. Sie hat, wie gesagt, dich und zwei Nägel ver langt, es sei denn, Mykah persönlich würde ihr deinen Kopf aushändigen.« »Und was hat er ihr geantwortet?« wollte Bracht wis sen. »Daß sie versuchen könnte, dich zu holen, falls du zu rückkommst«, erwiderte Gart. »Aber daß sie dann lieber mit ihrem gesamten Clan reiten sollte, weil sie es mit jedem Krieger der Asyther zu tun bekäme, sollte sie ver suchen, dich mit Gewalt zu ergreifen.« Bracht grinste über das ganze Gesicht, als er das hörte, schlug sich heftig auf den Oberschenkel und sagte: »Das Feuer brennt noch immer heiß in meinem Vater.« »Er wird dich nicht an die ni Larrhyn ausliefern«, gab Gart zurück, »selbst auf die Gefahr hin, daß ein Krieg zwischen den Clans ausbrechen könnte.«
»Dazu möchte ich es nicht kommen lassen.« Brachts Grinsen erlosch. »Es geht mir nur um Daven Tyras und das Buch, das er besitzt.« Er schüttelte den Kopf, und seine Lippen wurden schmal, als er eine Weile nachdachte. Dann wandte er sich an Calandryll und fragte auf Lyssianisch: »Wieviel hast du von all dem verstanden?« »Das meiste, glaube ich«, erwiderte Calandryll. »Und du, Katya?« »Überhaupt nichts!« fauchte sie. »Ich habe den Namen Daven Tyras verstanden, aber worüber ihr geredet habt…« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf, daß ihr flachsblon des Haar flog, und ihre grauen Augen blitzten wütend auf. »Ich muß dich bitten, noch ein wenig Geduld zu haben«, sagte Bracht und berührte kurz ihre Hand. »Ich werde dir später alles erklären.« Dann wandte er sich wieder Calandryll zu. »Ich glaube, wir sollten ihnen die ganze Geschichte erzählen.« Er wartete auf eine Antwort, während Calandryll ü berlegte. War es nötig, ihre Mission vor den Brüdern geheimzuhalten? Wenn Gart und Kythan die Bedeutung ihrer Aufgabe begriffen, dann würden sie ihnen be stimmt jede Hilfe gewähren, die in ihrer Macht stand. Sie schienen ihm beherzt genug, und wenn Bracht ihnen vertraute … Er nickte. »Wenn du es für erforderlich hältst…« »Es könnte uns den Weg durch Cuan na'For ebnen«,
sagte Bracht. »In diesem Fall, aye«, gab Calandryll sein Einver ständnis. Er nahm an, daß die Brüder den Wortwechsel ver standen hatten, denn ihre Augen waren während des Gesprächs von einem zum anderen gezuckt, und auf ihren Gesichtern hatte sich Neugier abgezeichnet, die sich jetzt, nach seiner Zustimmung, in gespannte Erwar tung verwandelte. »Was ich euch jetzt erzähle, ist nur für eure Ohren be stimmt«, machte ihnen Bracht klar. »Gebt ihr mir euer Wort, es für euch zu behalten?« Sie nickten beide feierlich, hoben nacheinander die Hände, die Finger gespreizt, und ballten sie dann zu Fäusten. »Bei Ahrds heiligem Namen«, gelobte Gart, gefolgt von Kythan. »Dann hört mir gut zu«, forderte Bracht sie auf. »Das Buch, nach dem ich suche, heißt das Arcanum. Es wurde von den Ersten Göttern erschaffen und lag verborgen in Tezin-dar…« Bracht erzählte den ungläubig staunenden Brüdern ihr ganzes Abenteuer und endete mit den Worten: »Sollte Daven Tyras – Rhythamun – Erfolg haben, würde Tharn wiederauferstehen und Chaos über die ganze Welt und die Jüngeren Götter hereinbrechen.« Er schwieg und trank von seinem Bier. Die Brüder starrten ihn lange Zeit an, als wäre er verrückt. Schließ lich brach Gart das Schweigen. »Hätte mir irgendein
anderer diese Geschichte erzählt, würde ich ihn für über geschnappt erklären.« »Der Verrückte Gott ruht doch bestimmt nicht in Cuan na'For«, wandte Kythan ein. »Ich … wir glauben es nicht«, erwiderte Bracht. »Wahrscheinlich muß Rhythamun Cuan na'For nur durchqueren, um irgendein ferneres Land aufzusuchen. Vielleicht jenseits des Borrhun-maj. Aber wohin er auch immer geht, wir müssen ihm folgen.« »Ihr drei allein?« fragte Gart zweifelnd. Bracht nickte. »So wurde es vorhergesagt.« »Und wenn er Erfolg hat, wird er den Verrückten Gott wiedererwecken?« Der ältere Mann schüttelte fassungs los den Kopf. »Bei Ahrd, er muß wahnsinnig sein!« »Das ist er«, bestätigte Bracht. »Er würde tatsächlich Ahrd vernichten?« fragte Kythan leise, entgeistert über den bloßen Gedanken an eine derartige Blasphemie. »Wie können wir euch hel fen?« »Aye, wie?« fragte auch Gart. Was immer sie auch an Vorbehalten gehabt haben mochten, jetzt waren sie ausgeräumt. Ihre Zweifel waren ehrfürchtiger Überzeugung gewichen. Von ihren Gesich tern und Augen, in denen sich Entsetzen gepaart mit Entschlossenheit widerspiegelte, konnte Calandryll able sen, daß sie die Wahrheit akzeptierten. Ihre Zweifel, ob es klug sei, eine Begegnung mit Jehenne ni Larrhyn zu
riskieren oder die Lykarder zu informieren, daß sich Bracht in Gannshold aufhielt, waren verschwunden. Jetzt hatten sie begriffen, daß diese Risiken eingegangen wer den mußten, sollte Rhythamun nicht triumphieren, denn andernfalls würden ihr Gott sowie all seine göttlichen Geschwister Tharns Wahnsinn zum Opfer fallen. »Wir dürfen hier keine Zeit verlieren.« Bracht machte eine ausholende Handbewegung, die ganz Gannshold einschloß. »Jeder Tag bringt Rhythamun seinem Ziel näher. Wir müssen weiterziehen, so schnell wir können.« »Die Lykarder werden das nicht glauben«, murmelte Gart. »Wenn wir ihnen diese Geschichte erzählen, wer den sie sie als die Erfindung eines Feiglings abtun, der sich damit nur von Jehennes Zorn freikaufen will.« »Glaubt ihr mir denn?« wollte Bracht wissen. Gart und Kythan sahen einander lange an, dann nick ten sie einträchtig. »Aye«, sagte der ältere der Brüder. »Du warst nie ein Geschichtenerzähler.« »Und ebensowenig ein Feigling«, fügte Kythan hinzu. »Aber trotzdem, was sollen wir tun?« »Erzählt ihnen nichts von dieser Mission«, sagte Bracht mit Blick auf die andere Taverne, »sondern über bringt ihnen nur mein Angebot, Wergeid zu bezahlen. Vermittelt, so gut ihr könnt, für mich. Wenn die Lykarder uns aufhalten, hat Rhythamun freie Bahn, um die Welt zu vernichten.« »Selbst wenn sie damit einverstanden sind…« – Gart deutete mit dem Daumen in Richtung der Lykarder – »…
muß immer noch Jehenne informiert werden, und sie trifft die Entscheidung. Ich glaube nicht, daß sie ihre Zustimmung geben wird, es sei denn, sie erfährt deine Geschichte. Und wenn die Drachomannii den niederträch tigen Schwarzmagier nicht durchschauen, wird er Zu flucht bei den ni Brhyn finden.« »Rhythamun ist gerissen und ein sehr mächtiger Zau berer«, sagte Bracht. »Es ist durchaus möglich, daß es ihm gelingt, sein wahres Wesen vor den Drachomannii zu verbergen. Ich wiederhole: überbringt den Lykardern mein Angebot, ihnen Wergeid zu bezahlen. Bietet Jehen ne viertausend Varre als Entschädigung und den Rest für eine sichere Durchreise. Wenn genügend Anführer dar auf eingehen, muß auch Jehenne zustimmen.« »Es könnte genug sein«, räumte Gart vorsichtig ein. »Aber wenn wir das tun, müssen wir zwangsläufig ver raten, daß du hier bist. Und wenn sie ablehnen…« »Das Risiko gehe ich ein«, unterbrach ihn Bracht, »und ich vertraue darauf, daß Gannsholds Status als neutraler Ort nicht angetastet wird. Wenn nicht … Wir werden auf jeden Fall weiter nach Norden ziehen müssen.« »Und wahrscheinlich Jehenne direkt in die Arme rei ten«, sagte Gart düster. »Und sterben.« Bracht zuckte nur die Achseln. »Schick eine Nachricht voraus«, schlug Kythan vor. »Schick einen Boten – mich, wenn du willst –, der Jehen ne deine Geschichte erzählt. Vielleicht glaubt sie dir und läßt den Mann von ihren eigenen Drachomannii überprü
fen.« »Oder sie lacht über die Geschichte, wie Gart vermu tet.« Bracht schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß das die richtige Vorgehensweise ist. Und ein Bote könnte Rhythamun vor uns warnen und ihm so Gele genheit zur Flucht geben.« Kythan gab seufzend nach, und Gart sagte: »Das ist keine einfache Angelegenheit. Es sieht so aus, als stünden die Chancen schlecht für euch, als drohte euch von allen Seiten Gefahr. Selbst wenn du Jehennes Zorn entgehen kannst, werden die ni Brhyn euch kaum diesen Mann aushändigen. Nicht, solange sie ihn für einen der ihren halten.« »Dann schick eine Nachricht an die ni Errhyn«, schlug Kythan vor, »an Mykah, daß er einen Stoßtrupp aussen den soll, der den Mann ergreift.« »Es handelt sich um einen Hexer mit großer Macht«, wiederholte Bracht, »der wahrscheinlich den ganzen Stoßtrupp niedermetzeln und danach fliehen kann. Nein, wir drei sind diejenigen, die gegen ihn in den Kampf ziehen müssen, und nur wir drei allein. So wurde es vorhergesehen. Niemand sonst kann diese Aufgabe be wältigen.« Kythan knurrte frustriert und kratzte sich am Kopf. Sein Bruder trank sein Bier aus und rief geistesabwesend nach einem weiteren Krug. Nachdem er ihn bekommen hatte, nahm er einen tiefen Schluck und sagte: »Du möch test also, daß wir als Vermittler für dich fungieren, ohne
zu verraten, was ihr vorhabt.« Bracht nickte. »Mir fällt leider kein besserer Plan ein.« »Und sollten die Lykarder einverstanden sein«, fuhr Gart düster fort, »werdet ihr euch mit einem Magier anlegen, der sowohl von seinen Zauberkünsten als auch von den ni Brhyn beschützt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr das überstehen sollt.« »Ich auch nicht«, erwiderte Bracht fröhlich, »aber trotzdem steht es geschrieben, daß wir es versuchen müssen. Hört zu, wir haben mit Göttern über diese Mis sion gesprochen, und sie haben uns versichert, uns jegli che Hilfe zu gewähren, die in ihrer Macht steht. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist…« Er zuckte die Achseln. Die Brüder glotzten ihn wieder fassungslos an, ihre Unterkiefer fielen herab. »Ihr habt mit Göttern gespro chen?« fragte Kythan leise. »Ahrd hat uns einen Byah geschickt, um uns vor Rhythamuns Betrug zu warnen«, erklärte Bracht. »In Kandahar hat uns Burash aus den Händen der Chaipaku gerettet, und auf der Straße hierher ist Dera Calandryll und Katya erschienen. Sie hat gesagt, daß er«, er deutete mit dem Kopf auf Calandryll, »über die Mittel verfügt, um Rhythamun zu besiegen.« »Er ist ein Zauberkundiger?« fragte Gart mit unüber sehbarem Mißtrauen. Bracht schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist eine Kraft in ihm, aber weder er noch wir verstehen, welcher Art sie ist. Wir haben nur das Versprechen der Göttin, daß
Rhythamun damit besiegt werden kann, und deshalb müssen wir ein Zusammentreffen mit dem Magier her beiführen.« »Das ist der Stoff, aus dem Legenden gemacht wer den«, flüsterte Kythan. »Die Barden werden noch jahrhundertelang davon erzählen.« »Aber nur, wenn wir Erfolg haben«, schränkte Bracht ein. »Und dazu müssen wir nach Cuan na'For gehen, um Rhythamun aufzuspüren.« »Und wir spielen eine Rolle in diesem Spiel.« Kythan grinste voller Stolz und schlug Gart begeistert auf die Schultern. »Also, Bruder, sollen wir den Lykardern Brachts Angebot übermitteln?« »Aye.« Gart nickte, wirkte allerdings etwas besonne ner als sein Bruder. »Aber wir dürfen nichts überstürzen. Sollten sie ablehnen, stehen wir vor dem Problem, wie diese drei hier Gannshold ungehindert verlassen können. Laß uns vorher darüber nachdenken.« Kythan wurde sofort wieder ernst, sein Lächeln verblaßte. Gart strich sich über das Kinn und nickte schließlich, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Sollten sie einverstanden sein, geht alles klar«, sagte er bedächtig. »Es sind genügend Lykarder hier, daß sich Jehenne ei nem Beschluß des Clans fügen müßte. Zumindest dem, euch ungefährdet durch die Gebiete ziehen zu lassen, die nicht den ni Larrhyn gehören. Wenn nicht, müßt ihr versuchen, unbemerkt aufzubrechen. Eure Pferde ma
chen einen kräftigen Eindruck, und wenn sie sich eine Nacht lang erholt haben, sollten sie ausdauernd genug für eine eventuelle Flucht sein. Ruht euch also aus, wäh rend Kythan und ich den Lykardern dein Angebot un terbreiten. Wir werden euch benachrichtigen, wie sie entschieden haben. Sollte die Antwort nein lauten, brecht ihr im Morgengrauen auf, sobald das Nordtor geöffnet wird. Ich werde genug Krieger der Asyther zusammen trommeln, um euch den Rücken freizuhalten und Verfol ger oder Botenreiter eine Weile aufzuhalten.« »Ich möchte nicht, daß ihr gegen die Neutralitätsver einbarungen verstoßt«, sagte Bracht. »Das werden wir nicht.« Gart lächelte wölfisch. »Soll ten wir kein Einvernehmen mit den ni Larrhyn erzielen, werdet ihr zusammen mit einer Gruppe unserer Leute aufbrechen. Die Neutralitätsvereinbarung gilt nur bis zu den Toren. Wir können einen Hinterhalt vorbereiten, der euch Zeit gibt, einen Vorsprung herauszuholen.« »Wir haben uns in einer Herberge in der Nähe ein quartiert, wo ihr Zimmer mieten könnt«, warf Kythan ein. »Wartet dort auf uns.« Bracht warf Calandryll einen Blick zu und hob fragend die Brauen. Calandryll dachte einen Moment lang nach, aber er hatte auch keine bessere Idee, und er konnte keinen Fehler im Plan der Brüder entdecken. Also erklär te er sich mit einem Nicken einverstanden. »Gut, machen wir es so«, sagte Bracht. »Dann laßt uns jetzt eure Pferde holen und zu unserer
Herberge gehen«, schlug Gart vor. »Danach werden Kythan und ich die Lykarder aufsuchen.« »Gebe Ahrd, daß sie einverstanden sind«, murmelte Kythan beschwörend. Sie leerten ihre Krüge. Bracht warf ein paar Münzen auf den Tisch und wischte das Angebot der Brüder, die Zeche zu bezahlen, mit einer knappen Handbewegung beiseite. Mittlerweile hatte sich die Sonne dem Horizont genähert, und bald würde die Dämmerung hereinbre chen. Ein kalter Nordwind, der von den Bergen her weh te, ließ die Wimpel auf den Festungsmauern der Zitadel le flattern und trieb graue Wolkenbänke vor sich her. In einigen Tavernen, die sich schon zum größten Teil geleert hatten, brannten bereits die ersten Lampen, und das Gedränge im Pferdehändlerviertel ließ nach. Das laut starke Feilschen der Händler wurde in dem Maß von den Geräuschen der Pferde überlagert, wie die Geschäfte dem Ende entgegengingen. Calandryll sah sich wachsam um, als sie an der Taverne vorbeikamen, die hauptsächlich von Lykardern besucht wurde, aber niemand dort schenkte ihnen übermäßige Beachtung, und sie erreich ten den Pferch der Brüder ohne Zwischenfälle. Die Jähr linge hatten sich an einem Ende der Umzäunung zu sammengedrängt und beäugten nervös Brachts Hengst, der, flankiert von den Wallachen, auf der anderen Seite stand, als hielte er Wacht, und seinen Herrn mit einem leisen Wiehern begrüßte. Die Gefährten führten ihre Pferde aus dem Pferch und folgten Gart und Kythan über
den großen Platz und die breite Straße zu einem von hohen Mauern umgebenen Gasthaus. Über dem Tor hing ein Schild, das in verblassenden Farben ein sich aufbäu mendes Pferd zeigte und die Aufschrift Herberge zum Reiter trug. »Die Ställe sind gut«, versicherte Gart, »und die meis ten Asyther steigen hier ab. Hier werdet ihr unbehelligt schlafen können.« »Wir schulden euch Dank«, sagte Bracht. »Was hätten wir denn sonst tun sollen?« fragte Gart lächelnd. »Kommt mit, wir gehen zum Wirt und regeln die Formalitäten.« »Ich kümmere mich in der Zwischenzeit um eure Pferde«, bot Kythan an, und Calandryll war ein wenig überrascht, daß Bracht damit einverstanden war. An scheinend machte es ihm nichts aus, sein Pferd einem Landsmann anzuvertrauen. Zu dieser frühen Jahreszeit waren jede Menge Unter künfte frei, und sie bekamen drei benachbarte Zimmer. Gart und Kythan verabschiedeten sich mit der Zusiche rung, daß sie sofort zurückkommen würden, sobald sie eine Antwort von den Lykardern erhalten hätten. Sie waren kaum verschwunden, als Katya in Brachts Zimmer erschien und lautstark verlangte, daß Calandryll zu ih nen kommen sollte. Er hatte den Eindruck, daß ihre Stimme genauso gereizt klang, wie ihre Augen während des Nachmittages in der Taverne ausgesehen hatten, als sie nicht mitbekommen hatte, worum sich die Unterhal
tung drehte, und so beeilte er sich, ihrem Ruf Folge zu leisten. Sie stand mit dem Rücken an das Fenstersims gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt, Bracht ihr genau gegenüber, mit einem Gesichtsausdruck, als müßte er sich rechtfertigen. Calandryll schloß die Tür hinter sich und setzte sich auf das Bett. »Also, ich habe die ganze Zeit über geduldig dageses sen, ohne ein Wort von eurem Gespräch zu verstehen.« Katya sprach in einem bemüht ruhigen Tonfall, als fiele es ihr schwer, ihren Ärger zu unterdrücken. »Könntet ihr mir jetzt verraten, worüber ihr gesprochen habt? Ist Da ven Tyras verschwunden?« »Aye«, bestätigte Bracht und faßte sein Gespräch mit den Kernern in knappen Worten zusammen. Als er geendet hatte, nickte Katya und starrte ihn mit unbewegter Miene an. »Also müssen wir nach Cuan na'For hineinreiten«, murmelte sie, »und ob wir dabei Probleme bekommen, hängt davon ab, wie sich die Ly karder entscheiden.« Bracht nickte stumm. »Und diese Jehenne ni Larrhyn?« erkundigte sich Ka tya in einem kälteren Tonfall. »Wer ist sie? Wieso will sie deinen Tod?« Calandryll, der nicht weniger neugierig war, sah Bracht gespannt an. Vielleicht würde er jetzt endlich hinter das Geheimnis kommen, das den Söldner aus Cuan na'For vertrieben hatte, und die Informations
bruchstücke, die er während des Nachmittags aufge schnappt hatte, zu einem vollständigen Bild zusammen setzen können. Er sah, wie Bracht unbehaglich schluckte und einen Moment lang Katyas forderndem Blick aus wich. Doch dann zuckte der Kerner die Achseln, räusper te sich und begann zu erzählen. »Jehenne ni Larrhyn ist die Tochter von Chador, einem Ketomann – einem Anführer – der Lykarder«, sagte er langsam, hob den Kopf und sah Katya mit einem Ge sichtsausdruck in die Augen, in dem die Bitte um Ver ständnis oder Vergebung lag. »Mein Vater ist Mykah, Ketomann der ni-Errhyn-Familie. Unsere Weidegründe grenzen aneinander, und unsere Clane befehden sich seit vielen Jahren. Mein Vater wollte einen dauerhaften Frie den zwischen ihnen herbeiführen und hat deshalb einen Heiratsvermittler zu den ni Larrhyn geschickt, um eine Ehe in die Wege zu leiten, mit der unsere Familien anei nandergebunden werden sollten – eine Ehe zwischen mir und Jehenne.« Katyas gebräuntes Gesicht wurde blaß, abgesehen von ihren Wangen, die sich mit einer Röte überzogen, als hätte man ihr rechts und links eine Ohrfeige versetzt. Ihre Augen, die bisher schon vor Ärger dunkel gewesen waren, wurden eisig, und ihre Stimme klang frostig. »Du bist verheiratet?« »Nein!« Bracht schüttelte heftig den Kopf und hob die Hände in einer abwehrenden Geste. »Ahrd, nein!« »Was dann?«
Calandryll wußte nicht, ob Ärger oder Angst Katyas Stimme so kalt klingen ließ. Er sah, wie sich ihre vor der Brust verschränkten Arme anspannten und sich ihre Finger in ihr Hemd krallten, während ihre Augen die Gefühlsaufwallung verrieten, die in ihr tobte. »Diese Vereinbarung ist von unseren Vätern getroffen worden«, sagte Bracht und straffte die Schultern. »Ich habe Jehenne erst danach zum ersten Mal gesehen, und sie war … attraktiv. Ich habe mich bereit erklärt, über eine Verbindung nachzudenken … Sie schien alles zu sein, was ein Mann sich wünschen konnte…« Er geriet ins Stocken und leckte sich die Lippen, als hätte die Angst vor Katyas Reaktion seinen Mund trocken werden lassen. »Ihr Vater hat uns vierzig Pferde als Mitgift ge schickt, weil er geglaubt hat, wir wären uns bereits einig. Ich…« Er zuckte die Achseln, hob die Hände und ließ sie wieder sinken, umklammerte den Griff seines Krumm schwertes mit der Linken, als könnte er Kraft aus der Berührung ziehen, ballte die Rechte zur Faust und öffne te sie in einer Geste der Hilflosigkeit wieder. Calandryll hatte ihn noch nie so nervös und verunsichert gesehen. »Sprich weiter«, verlangte Katya in einem Tonfall, der kälter als der Wind war, der jetzt die Fensterläden klap pern ließ. »Jehenne wollte die Verbindung«, berichtete Bracht, »Chador und mein Vater wollten sie … alle glaubten, es würde mir gefallen.« Wieder schwieg er einen Moment
lang, seufzte und fuhr dann fort: »Zuerst hat es mir auch gefallen … es wurden Vorbereitungen für die Hochzeit getroffen, aber dann habe ich Jehennes Jähzorn erlebt. Wir sind zusammen ausgeritten, als ihr Pferd gestrau chelt ist und sie abgeworfen hat. Es war kein schlimmer Sturz, aber sie ist furchtbar wütend geworden und hat mit einer Peitsche auf das Tier eingedroschen, bis es geblutet hat. Ich…«, er hob die Schultern. »Ich konnte eine Frau, die Pferde schlägt, einfach nicht heiraten.« Katyas Finger lösten sich aus ihrem Hemd, der grim mige Ausdruck verschwand aus ihren Augen und mach te Verblüffung Platz. »Und dann?« fragte sie mit weiche rer Stimme. »Ich habe es meinem Vater erzählt. Er hat mir erklärt, daß sich die ganze Angelegenheit schon viel zu weit entwickelt hätte, daß ich mit einem Rückzieher alle ni Larrhyn beleidigen und wahrscheinlich einen Krieg zwi schen den Clanen auslösen würde. Aber ich konnte ein fach keine Frau heiraten, die ihr Pferd schlägt! Also bin ich nach Lysse geflohen. Und bei der Gelegenheit habe ich…« – dabei grinste er, teils beschämt, teils triumphie rend – »… die vierzig Pferde der ni Larrhyn mitgenom men.« »Dann bist du also nicht verheiratet?« vergewisserte sich Katya. »Und bist es nie gewesen?« Bracht schüttelte den Kopf. Calandryll blickte von einem zum anderen und warte te auf Katyas Antwort. Er wußte nicht, ob er belustigt
oder schockiert sein sollte. »Also lediglich ein Pferdedieb.« »Es waren Pferde der ni Larrhyn«, erwiderte Bracht in einem Tonfall, als wäre die Herkunft der Pferde eine ausreichende Rechtfertigung und Erklärung für seine Tat. »Und jetzt möchte diese Jehenne ni Larrhyn deinen Tod«, stellte Katya fest. Bracht nickte. »Sie hat ein unbeherrschtes Tempera ment.« »Und du hast sie zurückgewiesen, weil sie ein Pferd geschlagen hat.« »Sie hat dazu eine geflochtene Peitsche benutzt!« rief Bracht wütend, als wäre so etwas völlig undenkbar. Katya starrte ihn lange an, und er stand schweigend vor ihr, ein Mann, der den Urteilsspruch des Richters erwartet. Da wich die Kälte aus Katyas grauen Augen, schmolz wie Eis in der Hitze des Feuers dahin, und ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Sie löste sich vom Fenster, trat einen Schritt auf Bracht zu, dann noch einen, nahm die Hände von der Brust, ballte sie zu Fäusten, hob sie, ließ sie auf Brachts Brust niedersausen und begann, laut und lang anhaltend zu lachen. Der Kerner stolperte überrascht rückwärts, stieß mit den Beinen gegen den Bettrand, und Calandryll schnellte sich im letzten Moment zur Seite, als Bracht in voller Länge rücklings auf das Bett fiel. Er richtete sich auf den Ellbo gen auf und starrte Katya an, die kopfschüttelnd vor ihm
stand, die Hände in die Hüften gestemmt. Calandryll sah Bracht zusammenzucken, als die Kriegerin sich urplötz lich vorbeugte, sich über ihn kniete und die Hände nach seinem Kopf ausstreckte. Aber nicht, um ihm eine Ohrfeige zu versetzen. Statt dessen umfaßte sie sein Gesicht mit beiden Händen und küßte ihn kurz, aber trotzdem leidenschaftlich auf die Lippen. Dann löste sie sich genauso plötzlich wieder von ihm und kehrte schmunzelnd zum Fenster zurück. »Du bist nicht wütend?« erkundigte sich Bracht. »Daß du nicht verheiratet bist?« Ihre flachsblonde Mähne wallte, als sie den Kopf schüttelte. »Nein! Daß diese Frau unsere Mission gefährdet? Aye.« »Vielleicht läßt sich das durch mein Angebot bereini gen, ihr Wergeid zu zahlen«, sagte Bracht und setzte sich auf. »Es ist eine höhere Summe, als sie jemals zuvor an geboten worden ist.« Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest. Bracht stand auf und trat einen Schritt auf Katya zu, blieb ste hen, hob die rechte Hand und berührte ihre Wange. Seine schwieligen Finger strichen in einer sanften Liebkosung über ihre Haut. »Dieses Gelübde ist hart«, flüsterte er in seiner Muttersprache und fügte auf Lyssianisch hinzu: »Das ist der Grund, warum ich Varents Geld angenom men habe: um diese Angelegenheit aus der Welt zu schaffen.« Calandryll sah, wie Katya bei der Berührung erschau derte, und hörte, wie sie scharf die Luft einsog. Sie schloß
einen Moment lang, immer noch lächelnd, die Augen. Bracht ließ die Hand sinken, und sie fragte: »Und wenn dir das nicht gelingt?« »Vielleicht können wir uns mit dem Geld zumindest die Zusage erkaufen, unbehelligt die Gebiete zu durch queren, die nicht von den ni Larrhyn beansprucht wer den«, sagte Bracht. »Bis zu den Weideflächen der ni Brhyn, wohin Rhythamun wahrscheinlich gegangen ist.« »Und wenn nicht?« »Dann müssen wir auf unserem Ritt sehr wachsam sein.« »Auf unserem Ritt durch ein Land voller Feinde.« »Aye, aber wir reiten zusammen.« »Aye«, sagte sie leise, und ihr Blick brannte wie Feuer auf seinem Gesicht. »Zusammen. Ich wollte es gar nicht anders haben.«
KAPITEL 13 »Rhythamun müßte nach Norden ziehen, wenn er mit den ni Brhyn unterwegs ist.« Bracht schob die Reste sei nes Abendessens beiseite, zog seinen Langdolch aus der Scheide und ritzte eine grobe Karte mit der Spitze in die Holztischplatte. »Das Weideland der Lykarder liegt im Westen und erstreckt sich vom Höllenmaul bis zum Ausgang des Gannshold-Passes. Hier ist das Territorium der ni Larrhyn und dort das der ni Brhyn.« Calandryll sah zu, wie die Klinge die Umrisse des Graslandes von Cuan na'For nachzeichnete. Das Gebiet, das die ni Larrhyn beanspruchten, lag direkt vor dem Gann-Gebirge, der östlichste Ausläufer reichte bis zum Ausgang der Bergschlucht, die von der großen Zitadelle bewacht wurde. Von dort aus erstreckte es sich weiter nach Norden auf den südlichen Rand des riesigen Zent ralwaldes zu, der Cuan na'Dru hieß. Die ni Brhyn be wohnten einen Landstrich nördlich von dem der ni Larrhyn. »Soviel haben wir uns bereits gedacht«, erwiderte Ca landryll und tippte mit dem Finger auf den unregelmä ßigen Kreis, der den Cuan na'Dru darstellte. »Aber wird er durch den Wald oder um ihn herum reiten?« »Um ihn herum. Der Cuan na'Dru wird von den Grua
gach bewacht, und ich bezweifle, daß selbst Rhythamuns Magie ihnen gewachsen ist.« Bracht warf Gart und Kythan einen kurzen Blick zu, und die beiden Brüder nickten bekräftigend. »Sie sind älter als die Menschheit und besitzen ältere Kräfte. Außerdem ist Ahrds Macht in seinem Wald am größten – was Rhythamun bestimmt auch weiß –, und ich glaube nicht, daß der Gott ihm die Durchreise gestatten würde. Nein, ich denke, Rhytha mun wird den Wald umgehen.« Calandryll fuhr mit dem Finger eine Linie nach, die von Gannshold aus in die Weidegründe der ni Brhyn hinein und weiter um den Cuan na'Dru herum führte. »Wenn Ahrd auf unserer Seite steht, dann bietet sich uns eine Möglichkeit, Rhythamun zu überholen.« »Dera hat uns versprochen, daß wir Hilfe von ihren Göttergeschwistern erhalten würden«, murmelte Katya. »Vielleicht ist das unsere Chance.« Bracht nickte knapp, doch sein Blick war skeptisch. »Aber wir müssen trotzdem den östlichen Teil der lykar dischen Weidegründe durchqueren«, gab er zu beden ken. »Und einige Tage lang werden wir uns auf dem Territorium der ni Larrhyn befinden.« Sein Lächeln war genauso düster wie die Nachrichten, die Gart und Kythan von ihrem Vermittlungsversuch bei den Lykardern zurückgebracht hatten. Die Vertreter der ni Larrhyn hatten sich strikt geweigert, auf Brachts An gebot, Wergeid zu bezahlen, einzugehen. Die anderen Familien der Lykarder waren einverstanden, ihn für
tausend Varre ungehindert durch ihre Gebiete ziehen zu lassen, und er hatte – gegen den Rat der Brüder – be schlossen, ihnen die verlangte Summe zu geben. »Ahrd, Mann!« hatte Gart protestiert. »Wozu das Geld verschwenden? Du wirst ihre Weidegründe nur errei chen, wenn du den ni Larrhyn entkommst.« Er hatte nicht hinzufügen müssen, daß er das für un wahrscheinlich hielt, trotzdem hatte Bracht nur die Ach seln gezuckt, ihn gebeten, das Geld zu überbringen, und darauf hingewiesen, daß sie sich, falls sie das Territorium der ni Larrhyn lebendig durchqueren konnten, immer noch im Einflußbereich der Lykarder befinden würden. Und die Verfolgung Rhythamuns würde einfacher ver laufen, wenn sich ihnen keine feindseligen Familien in den Weg stellten. Die Brüder hatten zwar gemurrt, die Lykarder aber trotzdem wieder aufgesucht und waren mit Garantiepfanden in die Herberge zurückgekehrt. Diese Amulette, kleine Eichenholzstäbe, die die Zeichen der Clane trugen und mit bunten Federn verziert waren, steckten jetzt in Brachts Satteltaschen. »Die Friedenspflicht endet jenseits der Mauern von Gannshold«, fuhr er fort, »und wenn der Paß selbst auch von niemandem beansprucht wird, könnten die ni Larrhyn doch versuchen, uns dort anzugreifen.« »Wir haben einen Trupp von Kriegern zusammenge stellt, die einen Überfall vereiteln werden«, erklärte Gart. »Sie werden im Morgengrauen am Tor zu uns stoßen.« »Und jeden Boten der ni Larrhyn aufhalten«, fügte
Kythan hinzu. »Aber du hast trotzdem immer noch Jehenne zu fürch ten«, sagte Gart. Diesmal wurde das Gespräch auf Lyssianisch geführt, damit Katya ihm folgen konnte. Sie nickte und starrte auf die in die Tischplatte geritzten Linien. »Wie viele Tage?« wollte sie wissen. »Während der uns die ni Larrhyn aufhalten könnten?« Bracht dachte einen Moment lang nach und warf Gart und Kythan einen kurzen fragenden Blick zu. »Vielleicht zwanzig, wenn wir so schnell wie möglich reiten und durch nichts aufgehalten werden. Wenn wir uns aller dings verstecken oder kämpfen müssen…« Er zuckte die Achseln. »Schlagt einen Bogen«, drängte Kythan und zeichnete einen Weg auf die Tischplatte, der östlich der lykardi schen Gebiete verlief. »Biegt direkt nach dem Paß nach Osten ab, bis ihr die Weidegründe der Asyther erreicht, und reitet von dort aus nach Norden. Dann zurück nach Westen und in das Territorium der ni Brhyn.« »Viel zu weit.« Bracht schüttelte den Kopf. »Jeder Tag bringt Rhythamun seinem Ziel näher.« »Ahrd!« grollte Gart. »Ihr habt nicht die geringste Ah nung, wo sein Ziel ist, abgesehen davon, daß es wahr scheinlich hinter dem Ende der Welt liegt, jenseits des Borrhun-maj.« »Aye«, nickte Bracht, »und deshalb müssen wir versu chen, so schnell wie möglich ihn oder seine Spur zu fin
den.« »Wollt ihr ihn als Geister jagen?« fragte der ältere Mann störrisch. »Denn wenn Jehenne euch findet, wird nicht mehr von euch übrigbleiben, um eure Mission fortzuführen, weil eure Leichen dann an einem Baum hängen werden.« »Wir haben keine andere Wahl«, gab Bracht zurück. »Und das Versprechen der Götter, uns zu helfen«, füg te Katya hinzu. Gart schüttelte den Kopf und sagte: »Cuan na'For ist Ahrds Reich, und um es zu erreichen, müßt ihr erst ein mal das Land der ni Larrhyn durchqueren.« Bracht spielte mit seinem Dolch, drehte ihn zwischen den Händen hin und her und sah dann nacheinander Katya und Calandryll an. »Es ist einiges wahr an dem, was sie sagen«, murmelte er. »Auf dem kürzesten Weg lauern eine Menge Gefahren. Jehennes Zorn gilt nur mir, nicht euch, aber wenn sie euch in meiner Begleitung findet, werdet ihr wahrscheinlich das gleiche Schicksal wie ich erleiden. Möchtet ihr lieber die sicherere Ostroute einschlagen?« »Und riskieren, Rhythamuns Spur zu verlieren?« Ka tya schüttelte den Kopf, ihr Gesicht verriet nicht den geringsten Zweifel. »Wir haben bisher schon etliche Ge fahren gemeistert und werden wahrscheinlich noch mehr begegnen. Ich sage, wir sollten auf die Götter und unsere Klingen vertrauen und den kürzesten Weg einschlagen.« Sie und Bracht blickten Calandryll an, der die Rillen in
der Tischplatte nachzeichnete, die das Gann-Gebirge und die Grenzen der Clan-Territorien darstellten. Sie warte ten auf seine Antwort. Sein Finger wanderte weiter nordwärts bis zum Cuan na'Dru. »Wie lange würden wir brauchen, um das Gebiet der Asyther zu erreichen? Drei Tage, vier? Dann nach Nor den, bevor wir wieder nach Westen schwenken können – wie lange, vierzehn oder fünfzehn Tage?« Wie Katya schüttelte auch er den Kopf. »Wir liegen jetzt schon weit genug hinter Rhythamun zurück. Ich meine, wir sollten das Risiko eingehen.« Bracht nickte grinsend und gab einen grollenden Laut von sich, der vielleicht ein unterdrücktes Lachen war. Dann bedachte er Gart und Kythan mit einem freundli chen aber entschlossenen Blick. »Habt ihr gehört? Ich reite mit Kriegern!« Er stieß den Dolch in die Scheide zurück und beugte sich über den Tisch. »Wir versuchen, das Ende der Welt zu verhindern, und niemand sollte sich uns in den Weg stellen.« Gart seufzte, Kythan zuckte die Achseln. »Dann tref fen wir uns morgen mit dem ersten Tageslicht«, erwider te der ältere der beiden Brüder. »Da ist noch etwas, worum ich euch bitten möchte«, sagte Bracht. »Wir brauchen ein Packpferd für unsere Ausrüstung. Wir haben zwar schon Zelte und Decken, aber es wäre mir lieber, wenn wir genügend Proviant mitnehmen könnten, damit wir unterwegs nicht zu jagen brauchen. Und auch Bögen könnten sich als nützlich
erweisen.« »Wir werden euch alles besorgen«, versprach Gart. »Wie lange sollen wir den Paß blockieren?« erkundigte sich Kythan. »Mindestens drei Tage«, sagte Bracht. »Länger, wenn ihr könnt.« Kythan nickte. »Ihr werdet die Zeit bekommen.« »Ihr habt euch also für die kürzeste Route entschie den?« vergewisserte sich Gart. »Aye«, entgegnete Bracht. »Uns bleibt keine andere Wahl.« »Dann möge Ahrd mit euch sein«, gab Gart feierlich zurück und winkte seinem Bruder zu. »Komm, wir müs sen ein Pferd aussuchen und Proviant einkaufen.« Die beiden Männer standen auf, verbeugten sich höf lich vor Katya und verabschiedeten sich. »Bis zum ersten Tageslicht«, rief ihnen Bracht hinter her, als sie den Speisesaal der Herberge verließen. Nachdem sie verschwunden waren, bestellte er noch eine Runde Bier. Sein dunkles Gesicht wirkte geistesab wesend. Er schien völlig in seine Gedanken versunken zu sein, und auch Calandryll war nicht nach Reden zumute. Er hatte nicht gedacht, daß ihre Jagd auf Rhythamun einfach werden würde, aber er hatte auch nicht mit der Feindschaft einer ganzen lykardischen Großfamilie ge rechnet. Ihre Chancen, so schien ihm, standen ziemlich schlecht, und er fragte sich pessimistisch, ob ihre Mission
in Cuan na'For am Zorn einer rachsüchtigen Frau schei tern würde. Aber ihnen blieb, wie Bracht festgestellt hatte, kaum eine Wahl, wollten sie nicht aufgeben, und das war eine Alternative, die für keinen von ihnen in Frage kam. Er gab Katya recht: Sie mußten auf die Jünge ren Götter vertrauen. Sich nur auf ihre Waffen zu verlas sen, wäre ziemlich töricht. Katyas Stimme riß ihn aus seinen Grübeleien. Sie schien sich als einzige nicht von der Aussicht entmutigen zu lassen, daß Jehenne ni Larrhyn ihre Wut an ihnen auslassen könnte, und er fragte sich, ob diese Zuversicht von ihrer Begegnung mit Dera herrührte oder von dem, was Bracht über seine Vergangenheit erzählt hatte. Die Beseitigung ihrer so plötzlich und unerwartet aufgetrete nen Zweifel schien die Bande zwischen ihnen gefestigt und Katya mit erneuter Entschlossenheit erfüllt zu ha ben. Es kam ihm fast so vor, als betrachtete sie Jehenne als eine Herausforderung. »Warum hast du uns nichts über diese Sache erzählt?« fragte sie gerade. »Von deinen Feinden in Cuan na'For.« Ihr Tonfall war sanft, aber trotzdem wurde Bracht et was verlegen, als er erwiderte: »Ich hatte gehofft, daß es nicht nötig werden würde, daß die Angelegenheit bereits in Vergessenheit geraten wäre oder ich sie mit Rhytha muns Geld bereinigen könnte.« Er schwieg eine Weile, ließ das dunkle Bier in seinem Krug kreisen und fuhr dann fort: »Ich bin gegen den Willen meines Vaters davongelaufen, und das ist etwas,
worauf ich nicht gerade stolz bin.« »Aber sie hat ihr Pferd geschlagen«, sagte Katya. »Aye«, bestätigte Bracht mit einem verkniffenen Grin sen, »aber trotzdem … Was ich getan habe war das glei che, wie einen Krieg zwischen unseren Clanen vom Zaun zu brechen. Vielleicht hätte ich die Pferde nicht stehlen dürfen.« »Vielleicht hättest du dich den Wünschen deines Va ters fügen und diese Jehenne heiraten sollen«, meinte Katya. »Ob sie nun Pferde schlägt oder nicht.« Calandryll erkannte, daß sie Bracht nur aufzog, aber der Kerner mißverstand ihren spöttischen Tonfall. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und er starrte die Kriegerin aus großen Augen wie gebannt an. »Dann wäre ich dir nie begegnet«, stellte er fest. »Nein«, stimmte ihm Katya zu und lächelte. »Vielleicht hat schon immer irgendeine Art von Plan bestanden«, sagte Calandryll, »so daß wir uns auf jeden Fall begegnen mußten.« Katya nickte langsam. »Das glaube ich auch«, murmel te sie. »Und wenn das stimmt, dann ist es bestimmt unser Schicksal, Rhythamun zu finden, welche Hindernisse auch immer auf unserem Weg liegen mögen.« »Ahrd gebe, daß du recht hast«, sagte Bracht inbrüns tig. »Aber sobald wir den Paß hinter uns gelassen haben, müssen wir trotzdem äußerst vorsichtig sein.« »Dann laßt uns jetzt ins Bett gehen«, schlug Katya vor.
»Ich möchte die letzte Nacht, die ich in Sicherheit verbringen kann, ausgiebig genießen.« Das schien ein vernünftiger Vorschlag zu sein. Die Ge fährten leerten ihre Krüge und bezahlten ihre Rechnung beim Wirt, bevor sie sich zurückzogen. Sie gaben ihm etwas mehr als die geforderte Summe, damit er sie warn te, falls irgendein hitzköpfiger Lykarder auftauchte, der es auf sie abgesehen hatte, und damit er den Mund hielt, was ihre Abreise betraf. Als sie die Treppe erreicht hatten, zögerte Bracht, for derte die beiden auf, schon auf ihre Zimmer zu gehen, und verschwand in der Küche. Calandryll dachte, daß der Kerner vielleicht Vorbereitungen für ihr Frühstück treffen wollte. In seinem Zimmer angekommen, zündete er die einzelne Kerze an und betete zu Dera, ihnen zu helfen, obwohl sie morgen die Grenze ihres Reiches ü berschreiten würden. Danach begann er, sein Schwert und seinen Dolch zu wetzen. Er war viel zu sehr mit dem beschäftigt, was er heute erfahren hatte, um jetzt schon an Schlaf denken zu können. Kurz darauf wurde er von einem Klopfen an der Tür und Brachts leiser Stimme in seiner Beschäftigung unterbrochen. Er legte die Waffen weg, schob den Riegel zur Seite und öffnete die Tür. Bracht trat mit einem Eimer in der Hand ein, in dem heißes Wasser dampfte. »Dein Haar«, erklärte er. »Für den Fall, daß wir auf die Lykarder treffen. Sie könnten etwas unfreundlich auf einen Mann reagieren, der sich
als Asyther verkleidet hat. Wenn es ganz schlimm kommt, werden sie vielleicht zögern, einen Lyssianer zu kreuzigen.« Er stellte den Eimer ab, zog ein kleines Sal bentöpfchen unter seiner Tunika hervor und warf es Calandryll zu. »Damit, hat man mir versichert, läßt sich das Färbungsmittel auswaschen.« Calandryll nickte und bedankte sich. Bracht wünschte ihm eine gute Nacht und ließ ihn wieder allein. Nachdem er den Riegel wieder vorgeschoben hatte, zog Calandryll sein Hemd aus und goß, in der kühlen Nachtluft fröstelnd, heißes Wasser in die Schüssel auf dem Waschtisch. Er band seinen Pferdeschwanz auf und tauchte seinen Kopf in das Wasser. Dann öffnete er das Töpfchen und massierte sich die dicke weiße Paste, die ein wenig nach Rosen duftete, in sein langes Haar. Das Wasser in der Schüssel wurde grau und schließlich schwarz. Er schüttete es aus dem Fenster und wusch sich den Kopf so oft, bis er die gesamte Paste aufgebraucht hatte. Im Licht der Kerzenflamme war er sich zwar nicht ganz sicher, aber als er sich in dem kleinen Metallspiegel betrachtete, glaubte er doch, daß er wieder blondhaarig war. Auf einmal wurde ihm bewußt, daß ihre frühe Ab reise wahrscheinlich Aufmerksamkeit erregen würde. Wenn Tobias die Wachsoldaten in Gannshold gründlich genug befragen ließ, würde er vermutlich erfahren, daß sein Bruder vor ihm hiergewesen und weitergereist war. Ob er sich dann wohl an den Kerner erinnerte, dem er auf der Straße begegnet war? Dieser Gedanke ließ Ca
landryll kichern. Er stellte sich Tobias' Enttäuschung vor, beendete, immer noch grinsend, die Arbeit an den Klin gen seiner Waffen und schlüpfte unter die Decke. Nach den Nächten, die er im Freien verbracht hatte – und angesichts derer, die noch folgen würden –, war das Bett angenehm warm, weich und bequem. Wahrschein lich würden sie ab morgen nur noch einen leichten Schlaf abbekommen, und jedesmal würde einer von ihnen Wa che schieben müssen. Trotzdem konnte er nicht gleich einschlafen, als ihm wieder die Gefahren durch den Kopf gingen, die sie in einem ihm unbekannten Land erwarte ten. Rhythamuns Spur in den riesigen Weiten Cuan na'Fors aufzuspüren, war bestimmt keine einfache Aufgabe. Bei all den Unwegbarkeiten und Gefahren, die ihnen bevorstanden, schien es nur eine unverrückbar festste hende Tatsache zu geben, und die lautete, daß sie an ihrer Aufgabe festhalten und dafür notfalls bis in den Tod gehen würden. Daran bestand für ihn nicht der geringste Zweifel, und seltsamerweise war das ein ir gendwie tröstlicher Gedanke, der ihn schließlich in einen traumlosen Schlaf sinken ließ. Als er von Brachts Klopfen geweckt wurde, stellte er fest, daß die Morgendämmerung in Gannshold erst spät he reinbrach. Die Steilwände des Passes hielten das frühe Tageslicht fern, der Himmel über der Stadt ließ kaum eine Spur des heranbrechenden Tages erkennen, und noch immer klammerte sich die Nacht an die Berge,
deren Gipfel sich im Osten mit einem ersten rosafarbenen Schimmer überzogen. Calandryll sprang aus seinem warmen Bett, fluchte über die Kälte, die seine Zähne klappern ließ, und stieß die Tür mit einem gemurmelten Gruß auf. Bracht trat gutgelaunt ein. Er war bereits voll ständig angekleidet und sah zu, wie Calandryll die Kerze anzündete und sich schnell wusch. »Es hat gut funktioniert.« Der Kerner deutete auf Ca landrylls Haar, das dieser sich gerade wie selbstverständ lich zu einem Pferdeschwanz im Nacken zusammen band. »Du siehst wieder wie du selbst aus.« Calandryll brummte eine wortlose Erwiderung und schlüpfte in seine Tunika. Er legte den Schwertgürtel an, warf sich den Mantel über die Schultern, ergriff seine Satteltaschen und hoffte, daß sie noch Zeit für ein Frühs tück finden wurden. Bracht machte seine Hoffnung zunichte. »Gart erwar tet uns unten«, sagte er. »Komm, Katya müßte sich mitt lerweile auch angezogen haben.« Katya war bereits fertig, und sie traten gemeinsam auf den Innenhof hinaus, wo Gart mit sechs oder sieben stämmigen Kernern wartete und die stille Straße im Au ge behielt. »Kythan ist bereits mit den anderen zum Tor gegangen«, berichtete er, während sie ihre Pferde sattel ten. »Er hat ein Packpferd mit Bögen, Pfeilen und Provi ant dabei, der für eine Weile reichen müßte.« »Hat euch niemand gesehen?« Gart beantwortete Brachts Frage mit einem kurzen
Grinsen, das seine Zähne in der Dunkelheit hell aufleuch ten ließ. »Da waren zwei ni Larrhyn, die uns folgen sollten.« Er lachte leise in sich hinein. »Sie werden Kopfschmerzen haben, wenn sie wieder aufwachen.« »Wir müssen uns noch einmal bei euch bedanken«, sagte Bracht. Gart zuckte die Achseln und machte eine wegwerfen de Handbewegung. »Beeilt euch«, drängte er. »Die ni Larrhyn könnten mit so etwas rechnen und am Tor nach uns suchen.« Sie kamen seiner Aufforderung nach, zogen die Sattel gurte fest, bestiegen ihre Pferde und ritten auf die Straße hinaus. Das Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflas ter hallte laut von den Häuserwänden wider. Wie eine Trompete, die unseren heimlichen Aufbruch ankündigt, dachte Calandryll. Er spähte um sich, die rechte Hand locker auf den Schwertgriff gelegt. Die Lust auf ein Frühstück war längst vergessen, Anspannung hatte das Hungergefühl vertrieben, aber in der Dunkelheit, die immer noch in den Straßen und Gassen herrschte, konnte er kein Anzeichen für einen Hinterhalt entdecken. Die einzigen Geräusche, die er hörte, waren die, die ihre Pferde verursachten, und das Bellen von Hunden, die aus dem Schlaf gerissen worden waren. Zu beiden Seiten der Straße traten Kerner aus den Schatten hervor und versicherten flüsternd, daß ihnen niemand folgte. Gart führte den kleinen Zug zum Tor. Über ihnen nahm der
Himmel allmählich einen bleichen Farbton an. Das matte Grau wurde heller, als die aufgehende Sonne die Nacht zu vertreiben begann und sich der perlmuttartige Glanz langsam nach Westen ausbreitete. Die ersten Vögel stimmten ihr Morgenlied an. Von der riesigen Zentralfes tung flatterten die schwarzen Umrisse von Raben und Krähen auf und stiegen mit rauhem Krächzen in die Höhe. Als sie das Tor erreichten, begannen die Berggipfel ge rade in rötlichgoldenem Licht aufzuleuchten, und ein Hornsignal von den Stadtmauern kündigte den Anbruch des neuen Tages an. Noch immer wurde der Fuß des Festungswalles, wo jetzt das protestierende Rumpeln des sich öffnenden Portals aufklang, von der Finsternis ver schluckt. Von oben erschollen die Rufe der Soldaten, die ihren Wachwechsel vollzogen. Ein paar Reiter kamen ihnen entgegen. Kythan begrüßte sie leise, und die übri gen Reiter gruppierten sich schützend um Calandryll und seine Gefährten. »Keine Schwierigkeiten?« fragte Gart. »Keine«, bestätigte sein Bruder. »Dann kommt mit.« Gart übernahm die Führung, als sie den freien Platz vor den Toren überquerten. Über ihnen verwandelte sich das Rot in Gold, kletterte über die Berggipfel und schob ein breites Band immer heller werdenden Blaus über den Himmel. Calandryll sah, daß der Paß hinter den offenen Toren noch immer im Schatten der Felswände lag. Gart
hielt kurz an, als Soldaten hervorkamen, und wechselte ein paar Worte mit ihnen. Die Soldaten traten zurück und sahen schweigend zu, wie der Trupp an ihnen vor beiritt. Noch einmal senkte sich tintige Finsternis über sie, als sie den Tunnel unter den Stadtmauern im leichten Ga lopp durchquerten, dann wurde es wieder heller, und sie kamen auf dem eigentlichen Paß wieder ins Freie. Gart steigerte das Tempo zum vollen Galopp, bis die Fels wände vom vielfach verstärkten Donnern der Hufe wi derhallten. In diesem Augenblick schob sich die Sonne über die Gipfel und tauchte die Schlucht in goldenes Licht. Hier gab es keine künstlich angelegte Straße, sondern eher einen breiten ebenen Weg, dessen steiniger Grund im Laufe der Zeit glattgeschliffen worden war und der auf beiden Seiten von den fast senkrecht abfallenden Hängen des Gann-Gebirges begrenzt wurde. An den Rändern hatte sich genügsames Gestrüpp angesiedelt, und höher oben sah Calandryll vereinzelte Kiefern aus Felsspalten herauswachsen und einen Bach, der als sil berner Wasserfall in die Tiefe stürzte. Die Luft wurde wärmer, das Zwitschern der Vögel lauter, weiße Zirrus wolken zogen über das blaue Band des Himmels. Die Reiter preschten in halsbrecherischem Tempo durch die ebene Schlucht, um einen möglichst großen Vorsprung vor eventuellen Verfolgern herauszuholen. Dann begann die Schlucht anzusteigen und führte di
rekt auf eine glatte Felswand aus blaugrauem Granit zu. Es war der Fuß eines kleineren Berges, auf dessen Spitze Schnee strahlend weiß leuchtete. Der Weg wand sich um ihn herum und immer höher aufwärts, die nackten Fels wände auf beiden Seiten rückten näher zusammen. Es war ein langer Anstieg, und nach einer Weile begannen die Pferde in der Höhenluft zu keuchen. Calandryll ver spürte ein leichtes Schwindelgefühl und kniff die Augen zusammen, als die Schneekappen der höheren Berge zu wabern begannen, als blicke man sie durch einen dünnen Wasserfilm an. Auf Garts Kommando drosselten sie das Tempo und legten die letzte Meile in einer langsameren Gangart zurück, bis sich die Schlucht wieder verbreiterte und der Paß in einen breiten grasbewachsenen Talkessel mündete, der von Lärchen gesäumt wurde und durch den ein kleiner Bach plätscherte. Ein frischer Wind pfiff durch die Zweige der Bäume, und dort, wo die Schatten am dichtesten waren, entdeckte Calandryll verharschte Schneereste. Er stellte zu seiner Überraschung fest, daß die Sonne bereits die Hälfte ihres Weges zum Zenith zurückgelegt hatte. Gart zügelte sein Pferd und winkte sie zu sich. »Das ist die richtige Stelle, um unser Lager aufzu schlagen.« Er drehte sich im Sattel um, ließ den Blick über die Bergwiese wandern und fügte mit einem ver wegenen Grinsen hinzu: »Und ein guter Ort für einen Kampf, sollten euch die ni Larrhyn verfolgen.« Bracht nickte. Die beiden Männer reichten sich die
Hände. Kythan schloß zu ihnen auf. Er zog ein gescheck tes Pferd an einem Seil hinter sich her, das einen großen Packen trug. »Alles, was ihr braucht«, sagte er. »Die Bögen liegen ganz oben. Möge Ahrd mit euch sein.« »Und mit dir«, gab Bracht zurück. Er nahm Kythan das Seil aus der Hand und schlang es um sein Sattelhorn. »Mit euch allen.« Kythan grinste genauso verwegen wie sein Bruder. »Es ist schon ziemlich lange her, daß ich mich über einen guten Kampf freuen konnte. Und wenn die ni Larrhyn kommen, werden wir uns eine Rolle in den Geschichten der Barden verdienen.« »So Ahrd will«, erwiderte Bracht ernst und ergriff Kythans Hand. Die beiden Brüder schüttelten auch Calandryll und Katya die Hände und wünschten ihnen viel Glück. »Kommt«, sagte Bracht und ritt mit seinen Gefährten auf die Wiese hinaus. Hinter ihnen begannen die Männer vom Clan der Asyther, ihr Lager aufzuschlagen, und postierten Wachen vor dem Eingang der Felsschlucht. »Sollten die ni Larrhyn versuchen, uns zu jagen oder Jehenne eine Nachricht zu schicken, steht ihnen ein har ter Kampf bevor«, murmelte Bracht. Seine Stimme klang stolz, und Calandryll nickte. Es war ein ermutigendes Gefühl, in einer Welt voller Feinde derart verläßliche Freunde zu finden.
Bracht ignorierte den breiteren Weg auf der anderen Seite der Wiese und führte seine Gefährten statt dessen in einen schmalen Felseinschnitt, dessen Sohle eine Weile eben verlief und dann anstieg. Sie überließen es den Pferden, das Tempo selbst zu wählen, und folgten im Schritt einem Ziegenpfad, der sich um ausladende Berg flanken herum aufwärts schlängelte und öfters von über hängenden Simsen und Felswänden überschattet wurde, die wie zersplitterte Drachenzähne in den hellen, leicht bewölkten Himmel hineinragten. Die Luft war dünn. Sie sprachen kaum und konzentrierten sich auf den langsa men und beschwerlichen Aufstieg. Calandryll nahm an, daß sie den Mittelkamm des Gann-Gebirges überqueren mußten, und er hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bevor ihr Weg sie wieder in wärmere Regionen hinabführte, wo einem das Atmen leichterfiel. Er hoffte, daß es nicht mehr allzulange dauerte, denn dies war eine kalte, einsame und merkwürdig bedrückende Gegend. Der endlose Fels und der Himmel über ihnen lasteten wie ein Gewicht auf ihm und machten ihm zunehmend bewußt, daß sie nur zu dritt durch feindliches Terrain unterwegs waren. Gegen Mittag rasteten sie im Windschatten einer Ge röllhalde. Unter den Dingen, die das gescheckte Pack pferd trug, fanden sie Hafer für die Pferde sowie Tro ckenfleisch und Zwieback für sich. Nachdem sie geges sen hatten, inspizierte Bracht die Bögen, die Kythan ih nen besorgt hatte, und verteilte sie mit einem zufriede nen Brummen an seine Gefährten.
Sie waren von der Art, wie sie von den Kernern be vorzugt wurden, und bestanden aus mit Knochen ver stärktem Holz. Sie waren viel kürzer als die in Lysse gebräuchlichen Langbögen, die aus Eibenholz hergestellt wurden, stärker gekrümmt und besser auf einem Pferde rücken zu handhaben. Calandryll probierte seinen Bogen aus und war dankbar für die Übungsstunden, die er auf dem Kriegsboot absolviert hatte, denn es erforderte viel Kraft, einen solchen Kurzbogen zu spannen. Die Kno cheneinlagen verliehen der Waffe eine Stärke, die sie durch ihre geringe Größe sonst nie hätte erreichen kön nen. Zufrieden mit sich, löste er die Sehne und verstaute seinen Bogen samt Köcher in einer Schutzhülle aus wei chem Leder neben seinem Sattel. »Wie weit ist es noch bis Cuan na'For?« erkundigte sich Katya, als sie sich anschickten, wieder aufzubrechen. »Dies ist Cuan na'For«, erwiderte Bracht. »Allerdings wird dieses Hochland von keinem Clan beansprucht.« »Wieso nicht?« Die Kriegerin blickte sich mit einem überraschten Stirnrunzeln um. »Diese Hügel erinnern mich ein wenig an Vanu.« »Ahrd!« Bracht erschauderte und verzog angewidert das Gesicht. »Hügel? Das sind Berge!« Katya lächelte. »In Vanu würden wir sie als Hügel be zeichnen.« »Und ich habe gelobt, nach Vanu zu gehen«, stöhnte Bracht mit einem reumütigen Grinsen. »Hast du es dir jetzt anders überlegt?« Katyas Lächeln
wurde herausfordernd. Bracht schüttelte heftig den Kopf. »Nein«, entgegnete er lachend. »Und wenn ich bis in die Wolken klettern müßte, zusammen mit dir – für dich – würde ich es tun.« Calandryll fragte sich, ob es an dem Wind und der Kälte lag, daß sich Katyas Wangen gerötet hatten, aber sie sagte nichts mehr, schüttelte ihrerseits den Kopf und schwang sich schmunzelnd in den Sattel. »Warum wird das Land von niemandem bean sprucht?« hakte Calandryll nach. Bracht machte eine abfällige Handbewegung. »Siehst du hier oben irgendwo Weideland? Vielleicht für Ziegen, aber für Pferde? Nein, dies hier ist Niemandsland. Unser Reich sind die Grasebenen.« »Dann will ich meine Frage anders stellen«, sagte Ka tya. »Wann werden wir die Grasebenen erreichen?« »In zwei Tagen.« Bracht warf einen prüfenden Blick in den Himmel. »Der Frühling ist bereits weit genug fortge schritten. Es wird nicht mehr zu Regen- oder Schneefäl len kommen, die uns aufhalten könnten.« »Nur Jehenne ni Larrhyn.« »Aye«, erwiderte Bracht und wurde wieder ernst. »Nur Jehenne. Oder jedes andere Mitglied ihrer Familie.« »Ich glaube nicht, daß sie uns aufhalten kann«, sagte Katya hitzig. In ihren grauen Augen lag ein entschlosse ner Ausdruck. Bracht wirkte weniger zuversichtlich. Calandryll blickte auf seine Hände und verspürte ein
unangenehmes Kribbeln unter dem Leder seiner Hand schuhe. »Würde sie dich wirklich kreuzigen lassen?« fragte er. »Uns alle?« »Mich bestimmt.« Bracht nickte grimmig. »Katya und dich … vielleicht, weil ihr mit mir reitet. Die Lykarder bevorzugen diese Art der Bestrafung. Sie würden mich an eine Eiche nageln und mein Schicksal in Ahrds Hände legen.« »In Ahrds Hände?« keuchte Calandryll. »Wie sollte Ahrd über das Schicksal eines Mannes entscheiden, durch dessen Hände Nägel getrieben werden?« Bracht zuckte die Achseln. »Sie behaupten, daß Ahrds Eiche die Nägel zurückweisen würde, sollte die Bestra fung ungerecht sein.« Calandryll sah den Kerner fassungslos an, der ein zy nisches Lachen ausstieß und hinzufügte: »Soweit ich weiß, hat Ahrd bisher noch niemanden für unschuldig befunden.« Es war eine furchtbare Vorstellung, und Calandryll versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß sie bereits ähnlichen Gefahren gegenübergestanden und sie überlebt hatten. Bracht setzte sich an die Spitze und folgte dem Weg, der sich durch einen Hain verkrüppelter Kiefern wand. Katya ritt an zweiter Stelle und blickte sich interessiert um, als unternähmen sie einen Vergnügungsausflug. Calandryll beschloß, seine Gedanken und seine Besorgnis für sich zu behalten.
Hinter den Kiefern führte der Weg einen langgestreck ten Hang hinauf, umrundete einen ausladenden nackten Felsvorsprung und verschwand in einer schmalen Schlucht, die so abschüssig war, daß Calandryll sich nur noch auf den Abstieg konzentrierte. Der schmelzende Schnee ließ den glattgeschliffenen Untergrund schlüpfrig werden, die Wände ragten zu beiden Seiten so hoch auf, daß jetzt, nachdem der Nachmittag angebrochen war, kein Sonnenstrahl mehr den Boden erreichte. Sie kamen auf einer Hochebene heraus, auf der wieder mehr Bäume wuchsen, die wie vom Wind gekrümmte rheumatische Männer aussahen. Am Himmel kreisten Vögel, Raben und Dohlen und manchmal ein Adler, der erhaben über seinen kleineren Artgenossen schwebte. Kiefernmarder huschten vor ihnen durch das Gebüsch, und auf den Berghängen grasten Steinböcke und Schafe mit mächti gen Hörnern auf den spärlichen Grasinseln. Die Sonne schien hell, aber durch die Höhe war die Luft kalt und so dünn, daß sie nur langsam vorankamen, und nach dem ständigen Auf und Ab, bei dem nach jedem Abstieg ein noch längerer Anstieg zu folgen schien, war die flache Ebene eine willkommene Abwechslung. In diesen Höhen zog sich der Tag in die Länge, und Calandryll war froh, als Bracht eine von drei Seiten durch Felswände geschützte kleine Nische, in der Gras wuchs, zu ihrem Lagerplatz bestimmte. Sie schienen den höchs ten Punkt des Gebirges erreicht zu haben, nur wenige Gipfel ragten noch höher auf, und von der Felsnische aus bot sich ihnen ein weiter Ausblick auf die niedrigeren
Bergzüge. Es waren zerklüftete Felskämme, die sich nach Norden, Osten und Westen erstreckten. Die drei Gefährten bauten ihre Zelte auf, machten ein Feuer und legten den Pferden Decken gegen die Kälte um, als die Sonne dem westlichen Horizont entgegen sank. Dort brannte der Himmel in grellen Farben und trotzte beharrlich der aus dem Osten unerbittlich heran kriechenden Dunkelheit, die der zunehmende Halbmond wie einen Mantel hinter sich herzog. Sterne begannen, im violetten Firmament zu funkeln, der Wind schlief einen trügerischen Moment lang ein, um dann noch kälter und heftiger als zuvor wieder aufzufrischen. Das Feuer fla ckerte, Funken stiegen in den Nachthimmel empor. In den tieferen Regionen heulten Wölfe, ließen die Pferde unruhig schnauben und stampfen, und der schwarze Hengst stieß ein drohendes angriffslustiges Wiehern aus. Bracht briet Fleisch über dem Feuer. Sie hüllten sich in ihre Mäntel und sogen hungrig den appetitlichen Bra tenduft ein. Der Kerner deutete mit einer ausholenden Geste um sich. »Ist Vanu wirklich so öde wie das hier?« »Öde?« Katya strich sich eine flachsblonde Haarsträh ne aus dem Gesicht und sah ihn belustigt an. »Das ist nicht besonders öde. In Vanu sind die Berge jetzt immer noch schneebedeckt. Hier ist es nur ein bißchen kühl.« Bracht gab ein unverbindliches Knurren von sich. Ca landryll runzelte die Stirn. Ihm kamen die Berge bitter kalt vor. Vanu, dachte er, mußte ein hartes Land sein,
wenn Katya dieses Gebirge als belanglos abtat. »Sollten wir das Borrhun-maj überqueren müssen…« Sie zuckte demonstrativ die Achseln, und der Feuer schein betonte ihre vollen Lippen, die sich zu einem spöttischen Lächeln verzogen, »dann werdet ihr richtige Berge zu sehen bekommen.« »Gebe Ahrd, daß wir das Arcanum noch in Cuan na'For in die Hände bekommen«, sagte Bracht. »Diese Berge sind schon hoch genug für meinen Geschmack.« Katyas Lächeln erlosch, als sie wieder an ihre Aufgabe erinnert wurde. Sie nickte ernst und beugte sich vor, um ein Stück Fleisch zu wenden. »Ich frage mich, wo Tekkan jetzt ist«, murmelte sie. »Wahrscheinlich nähert er sich bereits Vanu«, sagte Bracht mit fester Stimme, »um euren Heiligen Männern mitzuteilen, was wir vorhaben.« Katya nickte. Brachts aufmunternde Worte ließen ein schwaches Lächeln in ihr Gesicht zurückkehren. »Und ich frage mich, wie es Menelian jetzt geht«, warf Calandryll ein. »Aye.« Diesmal wurde das Gesicht des Kerners ernst. »Ob er wohl eine Möglichkeit gefunden hat, Anomius' Wiedererweckte aufzuhalten?« Daß ihnen auch noch von dieser Seite Gefahr drohte, hatte Calandryll beinahe vergessen. Sie hatten keine Spur von dem Geschöpf des Hexers entdeckt, und was seit ihrer Abreise aus Kandahar geschehen war, hatte diese
Bedrohung aus seinem Bewußtsein verdrängt. Er zuckte die Achseln und sagte: »Wahrscheinlich hat er das; sonst hätte uns die Kreatur bestimmt schon aufgespürt.« Bracht nickte. »Ich weiß kaum etwas über Wiederer weckte, aber wir werden schon bald in Cuan na'For sein, und dort wird es schwerer werden, uns zu finden.« »Darum kümmern wir uns, wenn es soweit ist«, sagte Katya. »Im Augenblick haben wir dringendere Probleme zu erledigen, als uns mit der Vergangenheit aufzuhal ten.« Die Erwähnung von dringenden Problemen schien Ca landrylls Magen daran zu erinnern, daß er immer noch leer war, denn sofort gab er ein erstaunlich lautes Knur ren von sich. Katya und Bracht lachten. »Ich nehme an, das Fleisch dürfte bald fertig sein«, schmunzelte der Kerner. Calandryll rieb sich den protestierenden Bauch. »Ob roh oder gebraten, ist mir im Augenblick so ziemlich egal.« Immer noch schmunzelnd, nahm Bracht die Stücke aus dem Feuer, und sie begannen zu essen. Calandryll erschien es wie ein Festschmaus, auch wenn ihm Blut über die Lippen lief, als seine Zähne die verkohlte Kruste durchbrachen. Er schlang das Fleisch gierig in sich hinein und lehnte sich mit einem behaglichen Seufzen zurück, als nichts mehr übrig war. »Diese kleinen Berge«, bemerkte Bracht mit einem Grinsen in Katyas Richtung, »scheinen den Appetit unse
res Freundes geschärft zu haben.« »Und sie scheinen ihn ein wenig barbarisch zu ma chen«, gab sie zurück und tupfte sich absichtlich geziert den Mund ab. Calandryll leckte ungerührt den blutigen Fleischsaft von seinen Lippen und wischte sich nachlässig das Fett vom Kinn. »Dera, ich glaube, ich bin noch nie so hungrig gewesen«, verkündete er. »Das wird dir noch eine Weile so gehen«, behauptete Bracht, »bis wir wieder tiefere Regionen erreichen.« »Und wann wird das sein?« Calandryll stützte sich auf die Ellbogen und beschloß, seine Füße noch eine Weile vom Feuer wärmen zu lassen. »Wir steigen nicht mehr höher.« Bracht warf einen fri schen Ast in die Glut. »Von jetzt an geht es nur noch bergab. In zwei Tagen werden wir das Grasland erreicht haben.« »Und die Wölfe?« Calandryll legte den Kopf schief und lauschte dem unheimlichen Heulen. »Sind die Pfer de in Gefahr, müssen wir eine Wache aufstellen?« »Nicht nötig.« Bracht schüttelte den Kopf. »Noch be finden sich die Wölfe in tieferen Regionen, wo sie bessere Jagdbedingungen finden, und das Feuer wird sie fernhal ten. Das Feuer und mein Hengst; er nimmt es mit jedem Wolf auf.« Calandryll nickte und gähnte. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, merkte er erst, wie totmüde er war.
»Ich frage mich, ob uns deine lykardischen Freunde ge folgt sind«, murmelte er. »Es sind nicht meine Freunde.« Brachts Stimme wurde unwirsch. »Und sollten sie es versucht haben, werden sie teuer dafür bezahlen müssen.« »Gart und Kythan haben sich als wahre Freunde er wiesen«, stellte Calandryll fest. »Sie sind Asyther«, sagte Bracht, als bedürfte es keiner weiteren Erklärung. »Wahre Freunde«, wiederholte Calandryll schläfrig. »Clan«, sagte Bracht. »Das ist eine starke Bande.« »Und die Pfände, die du gekauft hast?« fragte Katya. »Werden sich die als genauso zuverlässig herausstellen?« »Aye.« Bracht schob einen Ast, der aus dem Feuer ge fallen war, mit seinem Dolch in die Glut zurück. »Nach dem sie einmal gegeben worden sind, können sie nicht zurückgenommen werden. Damit können wir alle Terri torien ungefährdet überqueren, außer denen der in Larrhyn.« Katya nickte. Ihr Gesicht wirkte nachdenklich. »Auch das der ni Brhyn?« »Selbst das«, bestätigte Bracht. »Dann können die Lykarder nicht wissen, daß Daven Tyras in Wirklichkeit Rhythamun ist«, murmelte die Kriegerin. »Ich bezweifle, daß selbst die Lykarder…« – Ca landryll konnte die Verachtung aus Brachts Stimme her
aushören – »… Rhythamun helfen würden. Bist du ande rer Meinung?« Katya zuckte ratlos die Achseln. »Ich weiß genauso wenig über Cuan na'For wie du über Vanu«, sagte sie, »aber wenn Rhythamun seine wahre Identität geheim hält, kann er eigentlich nur langsamer als wir voran kommen, weil er sich der Geschwindigkeit der ni Brhyn anpassen muß. Außerdem dürfte er nicht damit rechnen, daß wir ihn verfolgen, andernfalls hätte er irgendeine Geschichte erfunden, damit die Lykarder uns aufhalten.« »Wahrscheinlich«, stimmte ihr Bracht zu. »Dann glaube ich, daß unsere Chancen, ihn zu stop pen, besser als je zuvor stehen.« Ihre Stimme wurde so lebhaft, daß Calandryll seine Müdigkeit abschüttelte und sich auf ihre Worte konzentrierte. »Wir sind uns einig, daß er es nicht riskieren wird, im Cuan na'Dru Ahrd zu begegnen, daß er versuchen wird, den Wald zu umge hen, richtig?« Bracht nickte, Calandryll wartete. »Und Ahrd lebt in jedem Baum?« »Er lebt in den Wäldern und überall dort, wo Bäume wachsen«, bestätigte Bracht. »Vor allen Dingen aber in den Eichen.« »Dann wird Ahrd also wissen, wohin Rhythamun geht?« Wieder nickte Bracht. »Und die ni Brhyn werden wahrscheinlich zu ihm hal
ten, es sei denn, er gibt sein wahres Gesicht zu erken nen.« »Selbst die ni Brhyn würden einen Gharanevur verab scheuen«, sagte Bracht. »Dann glaube ich, daß wir ihn mit Ahrds Hilfe auch außerhalb des Gebietes der ni Brhyn finden könnten. Wenn er weiterzieht, um den Cuan na'Dru herum.« Bracht runzelte die Stirn, als ihm allmählich dämmer te, worauf sie hinauswollte. Auf seinem Gesicht spiegel ten sich Zweifel wider – und vielleicht sogar ein wenig Angst, dachte Calandryll. »Du denkst daran, den Cuan na'Dru zu durchqueren?« fragte er. Katya nickte. »Wenn Ahrd es uns erlaubt, könnten wir wahrscheinlich vor Rhythamun die andere Seite errei chen, und der Gott könnte uns sagen, wo wir den Pfad des Magiers kreuzen.« »Falls Ahrd uns die Erlaubnis gibt«, sagte Bracht lang sam. »Und die Gruagach.« »Bruash und Dera haben uns bereits geholfen«, erin nerte Katya den Kerner. »Warum also nicht auch Ahrd und diese Gruagach?« »Die Gruagach sind äußerst merkwürdige Kreaturen.« Brachts Stimme klang vorsichtig. »Kein Mensch, der sie gesehen hat, ist mit dem Leben davongekommen. Es ist ihr Lebensinhalt, den Cuan na'Dru zu bewachen. Ich rechne nicht damit, daß sie uns die Durchreise gestatten würden.«
Katya zuckte die Achseln. »Ich sage bloß, daß es eine Möglichkeit wäre. Vielleicht die beste.« »Ich würde Rhythamun lieber unter den ni Brhyn ge genübertreten.« Es war unverkennbar, daß die Vorstel lung, auf die Gruagach zu stoßen, den Kerner beunruhig te. Calandryll wurde bewußt, daß er zum ersten Mal, seit er Bracht kannte, einen Anflug von Angst bei ihm be merkte. »Du hast gesagt, daß die Drachomannii ihn erkennen könnten«, warf er ein. »Wer sind sie? Würden sie uns helfen?« »Wenn sie ihn erkennen würden, aye«, erwiderte Bracht, »aber sie sind keine Hexer. Das Wort bedeutet soviel wie Geistersprecher – ihr würdet sie als Schama nen bezeichnen, nehme ich an. Sie leiten die Clane, spre chen mit den Geistern und bringen die Opfer an Ahrd dar. Sie könnten herausfinden, was Rhythamun ist, und ihn davonjagen, aber nicht mehr…« Er machte eine hilf lose Geste. »Nein, ich glaube, wir müssen uns auf die Kraft in dir verlassen, um den Kampf zu gewinnen, Ca landryll.« »Und auf die Jüngeren Götter«, behauptete Katya be harrlich. »Auf Ahrd.« »Aye«, räumte Bracht etwas widerstrebend ein. »Aber trotzdem möchte ich nicht in die Nähe der Gruagach kommen, es sei denn, wir haben keine andere Wahl.« Der Gedanke bereitete ihm offensichtlich Unbehagen. Er stand auf und sah nach den Pferden, als wollte er
einen Augenblick lang allein sein und das Gespräch beenden. »Zumindest haben wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite«, murmelte Katya, während sie ihn beo bachtete. »Rhythamun glaubt bestimmt, wir würden immer noch in Tezin-dar festsitzen, und deshalb wird er keine Fallen hinter sich zurückgelassen haben.« Calandryll brummte eine schläfrige Zustimmung. Noch konnten sie nicht wissen, wie sehr Katya sich ge täuscht hatte. Am nächsten Morgen war der Wind eingeschlafen. Rauhreif hatte das Gras überzogen und glitzerte silbern unter einem wolkenlosen Himmel, der einen harten blauen Farbton angenommen hatte. Die Sonne hing wie eine dunstige Scheibe tief im Osten, die Berggipfel und Felsgrate warfen lange Schatten. Vor dem Azurblau zeichneten sich die Silhouetten kreisender Vögel scharf ab. Calandrylls Atem bildete Dampfwolken, als er eilig das Feuer anfachte, während Bracht die Pferde versorgte und Katya hinter den Felsen verschwand, um ihre Not durft zu verrichten. Sie kochten Tee und aßen Trocken fleisch, kauerten um das Feuer herum und sahen zu, wie die Sonne ein Stückchen höher in den Himmel stieg. Dann traten sie die schwelenden Äste auseinander, sat telten die Pferde, ließen die Felsnische hinter sich zurück und folgten dem Weg, der sich gefährlich steil einen glatten Hang hinabschlängelte.
Wie Bracht versprochen hatte, lag der Mittelkamm des Gebirges jetzt hinter ihnen, und der Weg führte bestän dig bergab, war jedoch nicht leichter geworden. Unter ihnen erstreckte sich eine Reihe niedriger werdender schroffer Felszüge wie die Wellen eines erstarrten Meeres einem fernen blaugrünen Dunst entgegen, der das Flach land von Cuan na'For anzeigte. Der Pfad wand sich ge fährlich über Schieferhänge, durch Spalten, entlang senk rechter Felswände und Einschnitte in die Tiefe, fand irgendwie einen Weg um die Erhebungen herum oder zwischen ihnen hindurch. Die Bäume wuchsen allmäh lich zahlreicher, Rot- und Schierlingstannen sowie Ze dern bedeckten die Hänge. Sie überquerten weitere Bergwiesen und immer mehr Bäche, die klar und kalt dem Vorgebirge entgegenströmten, als wollten sie ihnen die Richtung weisen. Eichhörnchen huschten am Weges rand auf, die Hochgebirgsvögel wurden von Krähen, Turm-, Wanderfalken und Bussarden abgelöst. Die Luft wurde wärmer, und als sich die Sonne dem Zenith nä herte, zogen die Abenteurer ihre Mäntel aus und genos sen die milde Luft, bis die Sonne wieder unterging und die Mondsichel erneut die Herrschaft über den Himmel antrat. In dieser Nacht hörten sie die klagenden Schreie der Eulen in den Bäumen, die ihren Lagerplatz auf allen Seiten umgaben. Kiefernnadeln bedeckten den Boden wie weiche Matratzen, das Lagerfeuer knisterte fröhlich, verströmte den aromatischen Duft von Zedern und ließ Funken zu den Zweigen aufsteigen, die ein schützendes Dach über den Gefährten bildeten. Das Heulen der Wölfe
klang jetzt näher. Calandryll hantierte mit seinem Bogen herum und erkundigte sich erneut, ob sie nicht lieber eine Wache aufstellen sollten. »Nein.« Bracht schüttelte den Kopf und warf einen blankgenagten Knochen ins Feuer. »Sie werden uns kei nen Ärger machen.« »Aber sie jagen ganz in der Nähe«, protestierte Ca landryll. »Aber nicht uns«, gab der Kerner leichthin zurück. »Was weißt du über Wölfe?« »Nicht viel«, gab Calandryll zu. »Daß Schäfer und Bauern sie hassen … In Lysse werden sie manchmal gejagt. Die Leute sagen, die Wölfe würden unvorsichtige Wanderer angreifen, wenn das Rudel groß genug ist.« Bracht lachte. »Die Schäfer hassen Wölfe, weil sie ihre Herden bedrohen, und deshalb erfinden sie Geschichten über die Gefährlichkeit von Wölfen. Aber ich habe noch nie davon gehört, daß ein Rudel – egal wie groß es auch war – einen Menschen angegriffen hat. Im Gegenteil, Wölfe machen einen großen Bogen um Menschen und ihre Feuer. Wenn sie hungrig und zahlreich genug sind, wagen sie sich vielleicht einmal an ein Pferd heran, aber ich denke, für uns besteht keine Gefahr.« »Und die Pferde?« Calandryll zog die Stirn in Falten und spielte immer noch mit seinem Bogen herum. »Sind die auch sicher?« »So nahe bei uns und unserem Feuer, aye«, erwiderte Bracht. »Die Wölfe, die du hörst, finden genug Wild, um
ihren Hunger zu stillen. Und wie ich dir schon einmal gesagt habe, mein Hengst nimmt es mit jedem Wolf auf.« Calandryll beugte sich Brachts größerer Erfahrung. Was er selbst über Wölfe wußte, beschränkte sich größ tenteils auf das, was sich die Leute erzählten. In Secca war er kaum zur Jagd gegangen, hatte sich lieber mit seinen Büchern und wissenschaftlichen Arbeiten beschäf tigt und die Aufforderungen seines Vaters und Bruders abgelehnt, sie auf die Pirsch zu begleiten. Manchmal hatten sie einen erlegten Wolf von ihren Ausflügen zu rückgebracht und Schauergeschichten über dessen Wild heit erzählt. Bracht mußte es wissen, dachte er, aber trotzdem fiel es ihm schwer, in seinem Zelt einzuschla fen, während er dem Chor der Wölfe lauschte, und er legte Schwert und Bogen in Griffweite bereit. Mit der Morgendämmerung bestätigte sich, daß Bracht recht gehabt hatte. Weder waren die Pferde angegriffen worden, noch fand sich irgendwo in der Nähe eine Wolfsspur auf dem Boden. Nicht zum ersten Mal stellte Calandryll fest, daß es auch außerhalb seiner geliebten Bücher eine Menge zu lernen gab, durch die Beobach tung der Dinge, die er nicht in der Palastbibliothek oder in wissenschaftlichen Abhandlungen hatte finden kön nen. Und während er zwischen den Bäumen hockte, wurde ihm auf einmal bewußt, daß er seit mehr als ei nem Jahr kein Buch mehr in den Händen gehalten hatte, sah man einmal von der flüchtigen Untersuchung von Varent den Tarls Bibliothek ab, und es überraschte ihn,
wie wenig er das Lesen vermißte. Noch vor einem Jahr hätte er es für undenkbar gehalten, jetzt aber schienen ihm die Pergamente, Schriftrollen und ledergebundenen Bücher, die den größten und zweifellos wichtigsten Ab schnitt seines Lebens beansprucht hatten, kaum mehr als die verschwommenen Erinnerungen an ein Leben zu sein, das er wie die Stadtmauern von Secca, Nadama, den Hohn seines Bruders und die Verachtung seines Vaters hinter sich zurückgelassen hatte. Er stand auf, streckte sich lächelnd und lauschte dem Gesang der Vögel in den Bäumen. Mittlerweile konnte er weit mehr unterscheiden als an jenem fernen Tag, da er durch die Stadttore von Secca geritten war, um eine Freiheit zu entdecken, von der er damals nicht einmal gewußt hatte, daß es sie gab. Noch immer lächelnd kehrte er zum Feuer zurück, nahm den Tee entgegen, den Bracht ihm anbot, und sah zu, wie der Himmel heller wurde und goldene Lichtbah nen durch die Zweige über ihm fielen. »Du scheinst ja blendender Laune zu sein«, bemerkte Katya. Calandryll nickte und strahlte sie an. »Aye.« Er deute te mit einer ausholenden Handbewegung auf ihr Lager. »Das ist ein gutes Leben.« »Schön, daß du es so siehst«, sagte Bracht trocken, »denn davon steht dir noch eine Menge bevor. Heute abend werden wir die Grasebene und das Territorium der ni Larrhyn erreicht haben, und dort werden wir eine Wache aufstellen müssen – gegen menschliche Wölfe.«
»Sind die Lykarder denn wirklich so wild?« fragte Ca landryll. Bracht nickte. »Das sind sie. Und ich glaube, daß jetzt, da Jehenne die ni Larrhyn anführt, diese Familie die wildeste von allen ist.« Selbst diese ernüchternde Warnung konnte Ca landrylls gute Laune nicht dämpfen. Während er sein Zelt abbaute und es mit den anderen auf dem Packpferd verstaute, summte er ein fast vergessenes Lied vor sich hin, sattelte seinen Braunen und übernahm das Ende ihres kleinen Zuges, den Bracht weiter durch den Wald führte. Die erste Hälfte des Morgens ritten sie zwischen Bäu men dahin, dann wieder über Felsen, auf denen nur Gestrüpp wuchs. Sie stießen auf einen Bach, dem sie durch Schluchten und Felsrinnen zu einem kleinen blau en See folgten, in dessen glatter Oberfläche sich die Tan nen spiegelten, die ihn säumten. Dort machten sie Rast und aßen, bevor sie einen schmalen Grat erklommen. Dahinter erblickten sie die letzte und niedrigste Bergket te, und wiederum dahinter erstreckte sich die immer noch im Dunst verschwimmende Grasebene. Ein wie mit der Axt in den Höhenzug geschlagener Einschnitt mar kierte die Stelle, an der sie das Flachland betreten wür den. Zwischen dem Kamm und der letzten Hügelkette wuchsen die Bäume dichter. Sonnenstrahlen fielen durch die ineinander verflochtenen Äste über ihren Köpfen und
warfen ein Lichtmuster auf den Pfad. Die Luft roch har zig und war vom Summen zahlloser Insekten erfüllt. Die Hügel vor ihnen wurden von den Bäumen verdeckt, und urplötzlich stießen die Gefährten auf die Schlucht, die sie von der Höhe aus gesehen hatten. Der Wald endete un vermittelt vor einer grauen Felswand. Die Sonne hatte den Zenith bereits überschritten. Bracht verkündete, daß sie den Einschnitt durchqueren und an seinem anderen Ende ihr Lager aufschlagen würden. Er lenkte sein Pferd auf die schmale Öffnung in den Felsen zu. Das Pferd schnaubte nervös, warf den Kopf hoch und stampfte. Hinter ihm wieherte das Packpferd und riß an der Leine. Calandryll spürte, wie sein Brauner erzitterte, tänzelte und seinen Reiter abzuwerfen drohte. Er hörte Bracht fluchen, als sich der Hengst auf der Stelle drehte und auf die Hinterhand stieg. Katyas Schimmel führte sich genauso störrisch auf. Es gelang Calandryll nur mit Mühe, im Sattel zu bleiben und das nervöse Pferd zum Stehen zu bringen. Der Wallach hatte die Ohren flach angelegt und biß mit wild rollenden Augen auf die Tren se. Er scharrte mit den Hufen auf dem Boden, und Ca landryll zog ihn ein Stückchen zurück. Das Pferd beruhigte sich ein wenig, als sich der Ab stand zur Einmündung der Schlucht vergrößerte. Katya schloß zu ihm auf, und auch ihr Schimmel wurde ruhi ger, je weiter er sich von dem dunklen Felsspalt entfern te. Calandryll begegnete ihrem Blick und wußte, daß sich die Unsicherheit in ihren Augen auf seinem Gesicht wi
derspiegeln mußte. Gemeinsam beobachteten sie Bracht, der noch immer mit dem nervösen Hengst kämpfte. »Irgend etwas muß da drinnen liegen!« rief Ca landryll. »Die Pferde können es spüren oder riechen.« »Komm zurück«, forderte Katya ihn auf. Bracht fluchte, wendete den schwarzen Hengst und trottete zu ihnen zurück. Das Packpferd folgte ihm be reitwillig mit wild rollenden Augen. »Was soll da sein?« fauchte der Kerner, drehte sich im Sattel um und spähte in die Schlucht. »Ich habe nichts gesehen.« »Es muß weiter im Inneren liegen«, vermutete Ca landryll. »Außer Sichtweite.« Bracht beugte sich vor, tätschelte den Hals des Hengs tes und sprach besänftigend auf ihn ein. Das Pferd warf einmal den Kopf zurück und wurde wieder ruhig. Das Packpferd zog sich so weit von den Felsen zurück, wie es die Leine zuließ, und drängte sich zitternd an die ande ren Tiere. »Irgend etwas muß da sein«, sagte Katya und fummel te an ihrem Säbel herum. Bracht knurrte und musterte den düsteren Spalt. »Wenn wir nicht zwei Tage verlieren wollen, indem wir einen Bogen zum Hauptpaß schlagen, müssen wir da rein.« Seine Stimme paßte zu seinem finsteren Gesicht. »Und es wird nicht mehr lange dauern, bis es dunkel wird.«
Calandryll überzeugte sich mit einem Blick in den Himmel, daß der Kerner recht hatte. Die Sonne stand dicht vor den westlichen Berggipfeln. Schon bald würde die Schlucht in völliger Dunkelheit liegen. Die Vorstel lung, sie bei Nacht zu durchqueren, erfüllte ihn mit gro ßem Widerwillen. »Vielleicht sollten wir hier rasten und erst durch die Schlucht reiten, wenn die Sonne hoch am Himmel steht.« Er warf Bracht und Katya einen kurzen Blick zu und wartete auf ihre Antwort. »Wenn irgend etwas Gefährliches da drinnen lauert, wird es wahrscheinlich in der Dunkelheit herauskom men.« Bracht schüttelte den Kopf. »Und hier werden wir auch nicht sicherer als auf der anderen Seite sein.« »Und wir dürfen keine Zeit verlieren«, fügte Katya hinzu, wenn sie auch nicht gerade sehr überzeugt klang. »Den anderen Paß zu erreichen, wird uns zu lange auf halten.« Und vielleicht wird der andere Paß bewacht, dachte Ca landryll und wunderte sich, mit welcher Selbstverständ lichkeit er diese Vorstellung akzeptierte. Vielleicht, über legte er, lag es daran, daß sich ihnen bisher niemand in den Weg gestellt hatte. Sie hatten Lysse ungehindert durchqueren und Gannshold problemlos verlassen kön nen. Vielleicht war alles viel zu einfach gewesen. Es war ein unbehaglicher Gedanke, und er nickte widerwillig, als Bracht sagte: »Ich glaube, wir haben kaum eine ande re Wahl.«
»Aber laßt uns vorsichtig sein«, warnte Katya. »Aye«, stimmte ihr der Kerner zu und drehte sich wieder zu Calandryll um. »Spürst du irgend etwas, das auf Magie schließen lassen könnte?« Calandryll schnupperte in der Luft, konnte aber nur Pferdeschweiß, den harzigen Duft der Kiefern und die Felsen riechen. Er schüttelte den Kopf. »Vielleicht haben die Lykarder irgendein Tier dort drinnen getötet«, murmelte Bracht, »und der Blutgeruch macht die Pferde nervös.« »Auch deinen Hengst?« fragte Katya, was Bracht mit einem Knurren zurückwies. »Wir müssen die Pferde am Zügel führen und Fackeln tragen«, sagte er. »Sollte irgendein wildes Tier da drin nen hausen, werden die Flammen es wahrscheinlich vertreiben.« Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht verstand, war sich Calandryll sicher, daß das, was in der Fels schlucht lauerte, nicht einfach nur ein wildes Tier war, das sich von Feuer abschrecken lassen würde. Aber wie Bracht schon gesagt hatte, blieb ihnen anscheinend kaum eine andere Wahl. Also sammelten sie harzige Kiefern zweige und banden sie zu dicken Fackeln zusammen. Auf Brachts Anweisung opferten sie eine Decke, um daraus Augenbinden für die Pferde anzufertigen. Katya nahm die Zügel. Der Kerner wischte ihre Proteste beisei te, indem er darauf hinwies, daß er am besten mit dem Schwert umgehen könnte, während Calandrylls Klinge
von Dera gesegnet worden sei und deshalb – sollte das unbekannte Hindernis magischen Ursprungs sein – wahrscheinlich ihre wirkungsvollste Waffe darstellte. So betraten die beiden Männer als erste den Hohlweg, die gezogenen Waffen in der rechten, die brennenden Fackeln in der linken Hand. Katya folgte ihnen in eini gem Abstand und fluchte auf Vanuisch vor sich hin, weil sie mit den immer noch störrischen Tieren zu kämpfen hatte. Die Luft in dem schmalen Felsspalt war kalt, die Wän de stiegen glatt in die Höhe und verdeckten die Sonne, wenn auch ein Streifen des blauen Himmels weiterhin sichtbar blieb. Calandryll bemerkte, daß kalter Schweiß sein Gesicht und seine Brust feucht werden ließ. Er hatte den Eindruck, als würde sein Herz laut genug schlagen, um das Prasseln der Fackeln zu übertönen. Sein Mund wurde trocken, und seine Nackenhärchen stellten sich auf. Er hielt die Fackel vor sich, das Schwert schlagbereit und versuchte, die Finsternis mit den Augen zu durch dringen. Die Fackeln schienen kaum eine Wirkung zu zeigen, als wäre die Dunkelheit zwischen den engen Felswänden nicht natürlichen Ursprungs, und er war dankbar für Brachts Nähe. Der Kerner schritt entschlossen aus. Seine scharfen Gesichtszüge leuchteten rot im Widerschein der Flammen, seine zu Schlitzen verengten Augen gaben ihm ein grimmiges Aussehen. Er runzelte die Stirn, während sich seine Nasenflügel wie die eines wachsamen Tieres
blähten, das Witterung aufnahm, und warf Calandryll mit erhobenen Brauen einen kurzen Blick zu. Calandryll nickte. Trotz des harzigen Geruchs, den die Fackeln ver strömten, nahm er Mandelduft wahr. Doch gleich darauf wurde der Mandelduft von Aasge stank überlagert, der so intensiv war, daß Calandryll würgte und ausspuckte. »Magie!« hörte er Bracht rufen, und was er vielleicht darauf geantwortet hätte, ging in dem gräßlichen Brüllen unter, das auf Brachts Aufschrei folgte. Es hallte ohrenbetäubend von den Felswänden wider, ließ fast ihre Trommelfelle bersten und übertönte das schrille Wiehern der Pferde und Katyas Schrei. Das Brül len schien die Dunkelheit noch zu verstärken, als senkte sich eine unnatürliche Nacht über sie und umfinge sie mit einer solchen Schwärze, daß die Fackeln nur noch kleine Lichtpunkte waren, gedämpft durch die höllische Düsternis und den ekelhaften Gestank, der sie von allen Seiten umspülte. Fast verschluckt von dem grauenhaften Brüllen, hörte er Bracht rufen: »Ahrd steh uns bei!« und ohne zu wis sen, ob es ein Stoßgebet oder ein Kampfschrei war, stimmte er ein: »Dera beschütze uns!« Da verwandelte sich das Brüllen in ein schreckliches, hustendes Grollen oder Gelächter, und die Dunkelheit geriet in Bewegung wie Nebel, der von einem großen Körper aufgewirbelt wird, einer Masse von solchen Ausmaßen, daß sie die Finsternis beiseite schob. Durch
sie – aus ihr schoß ein Ding hervor, das Calandryll zuerst nicht einordnen konnte. Er zuckte zurück, das Schwert abwehrend erhoben, als ihm Leichenatem ins Gesicht schlug. Voller Entsetzen starrte er die Erscheinung an, die sich sprungbereit niederkauerte. Sie besaß den Körper eines Wolfes, aber es war ein Wolf, wie ihn noch kein Mensch zuvor gesehen hatte. Er war riesig, hatte Kiefer wie Fangeisen voller dolchartiger Zähne und rote Augen, in denen eine bösartige Intelli genz loderte. Sein Pelz war grau, verfilzt und zerrissen, so daß Knochen gelblich daraus hervorschauten. Die Sehnen seiner muskulösen Beine lagen frei, und um das Maul herum konnte man die rohen Muskeln und die Kieferknochen sehen. Es schien ein wiederauferstandenes Ding zu sein, ein Atavismus, ein Schreckgespenst von einem Wolf, der schon seit langem tot und jetzt mit einer Art von neuem Leben erfüllt worden war, um sie aufzu halten. Es sprang. Calandryll stieß einen hilflosen Angriffsschrei aus und hob das Schwert, obwohl er wußte, daß die Kreatur ihn schon allein durch ihre Masse niederdrücken würde, daß ihre entsetzlichen Kiefer seinen Kopf mit einem einzigen Biß zerquetschen konnten. Er bemerkte nur am Rande, wie Bracht das Geschöpf von der Seite her ansprang und mit seinem Krummschwert zuschlug. Fleisch platzte auf, und aus der klaffenden Wunde quoll ein Schwall sich windender Würmer hervor. Die Fackel in der linken Hand des Kerners stieß nach dem Ungeheuer und ver
sengte sein Fell, so daß sich der Gestank verbrannten Haares in den von verfaulendem Fleisch mischte. In einem instinktiven Reflex ließ sich Calandryll in die Ho cke fallen, entging den zuschnappenden Kiefern, drehte sich zur Seite und stieß sein Schwert gleichzeitig in die Schulter des Wesens, aus der sich Fetzen verrotteten Fells lösten. Aus der Wunde hätte Blut fließen müssen, aber es kam keins. Er hörte, wie sich das Grollen der Bestie veränderte und Bracht schrie: »Wir müssen Katya und die Pferde schützen!« Der Kerner wich blitzschnell zurück und bezog zwi schen dem Wolfding und der Frau Stellung, aber die Kreatur ignorierte ihn und wirbelte wieder zu Calandryll herum, als richtete sich die Intelligenz, die den verende ten Körper mit Scheinleben erfüllte, nur auf ihn. Er ging in die Hocke, Schwert und Fackel stoßbereit in der Hand. Die Angst verlieh ihm eine solche Kraft, daß er nicht einmal mehr Furcht verspürte, als er sah, wie sich die bloßliegenden Muskeln erneut spannten. Bracht schlug wieder von hinten auf die Kreatur ein, fügte ihr mit dem Krummschwert Schnittwunden im Rücken zu, die nicht bluteten, und stieß ihr die Fackel mit aller Kraft in den Körper. Seine Bemühungen zeigten nicht die geringste Wirkung. Krallen, so lang wie Menschenfinger, schabten über den felsigen Untergrund, und die Bestie katapultier te sich auf Calandryll zu, der im letzten Moment zur Seite sprang. Jetzt befanden er und Bracht sich wieder
zwischen dem Ungeheuer und Katya. Die Pferde wieher ten schrill und bäumten sich auf, so daß Katya, die die Zügel umklammert hielt, in die Höhe gerissen wurde und den Boden unter den Füßen verlor. Sie pendelte hilflos hin und her, während sie versuchte, die Tiere daran zu hindern, durchzugehen und zurück in die Ber ge zu flüchten. Plötzlich erkannte Calandryll, daß die Enge der Schlucht auch einen Vorteil hatte. Der monströse Wolf war so massig, daß er sich nach der Landung nicht sofort umdrehen konnte. Sein Kopf zeigte nach Norden, und Calandryll nutzte die Gelegenheit, sprang vor und stieß ihm das Schwert tief zwischen zwei bloßliegende Rippen. Das Ding heulte auf, sowohl vor Schmerzen wie vor Wut, und Calandryll verdrehte die Klinge mit aller Kraft, riß sie mit einer kreisenden Bewegung wieder heraus, schlug noch einmal zu, als sich das Vieh herumdrehte, versenkte den Stahl in die Schulter der Bestie und stieß mit der Fackel nach ihrem Gesicht. Die Kiefer öffneten sich, schlossen sich um die Fackel und rissen sie ihm aus der Hand. Rauch quoll zwischen den Zähnen hervor. Die Kehle des Ungeheuers leuchtete genauso rot wie seine Augen, Flammen züngelten aus Löchern in seinem ver faulten Fleisch. Es spuckte die Fackel aus, die mit einem zischenden Geräusch erlosch, und wieder schien sich das Grollen in Gelächter zu verwandeln, richteten sich die glühenden Augen voller Verachtung – wie Calandryll meinte – auf sein Gesicht.
In diesem Moment war er überzeugt, sterben zu müs sen, und auf einmal war es ihm egal. Er ließ das Schwert in hohem Bogen auf die schreckliche Schnauze der Krea tur niedersausen. Sie heulte auf, und er meinte, eher Schmerzen als Wut aus dem Schrei heraushören zu kön nen. »Dein Schwert!« schrie Bracht neben ihm. »Deras Ma gie entfaltet ihre Wirkung!« Calandryll schlug erneut zu, einmal, zweimal. Die Klinge hinterließ lange Schnitt wunden in dem verzerrten Gesicht, die heftig geblutet hätten, wäre das Ding von echtem Leben und nicht von Magie beseelt gewesen. Die Wolfkreatur zögerte und duckte sich, aber diesmal nicht, um zum Sprung anzusetzen; die Bewegung wirkte eher defensiv. Calandryll tänzelte einen Schritt auf das Ungeheuer zu, stieß mit dem Schwert in seine Richtung und sah es zurückweichen. Ein Lachen entrang sich sei ner Kehle, ein Schrei, fast so wild wie das Heulen der Bestie. Er täuschte einen auf die Schnauze gezielten Schlag vor. Der Kopf ruckte herum, die Schnauze schnappte nach dem Schwert, und er grub die Klinge tief in die Kehle des Ungeheuers und riß sie wieder heraus, als das Ding zurückzuckte, den Körper verdrehte und ihm die Waffe aus der Hand zu winden drohte. Ca landryll wich zurück, gab Bracht ein Zeichen, ihm Platz zu machen, und stand abwartend da, während das Un geheuer sein Gleichgewicht wiederfand und sich zum Sprung anschickte.
Er sah, wie sich der riesige Körper anspannte, wie sich die langen Beine streckten und das Geschöpf wie von einer Bogensehne abgeschossen vorwärtskatapultierten. Die glutroten Augen waren durch das weitaufgerissene Maul verborgen. Calandryll ging in die Knie und igno rierte Brachts Schrei, als der Körper auf ihn zuflog, stieß das Schwert aufwärts in die Brust des Ungeheuers und sprang gleichzeitig hoch, legte seine gesamte Kraft, sein Körpergewicht und seinen Glauben an die Göttin in den Stoß. Die Klinge bohrte sich bis zum Heft in den Leichen wolf, und die Felsschlucht hallte von seinem grauenvol len Heulen wider. Und dann hörte Calandryll plötzlich überhaupt nichts mehr, als er von dem gewaltigen Ge wicht umgerissen und unter stinkendem Fell begraben wurde. Der Panik nahe, versuchte er, sich unter der ekel haften Masse hervorzuschieben. Der Gestank ließ ihn würgen. Er konnte weder atmen noch sich befreien. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen, sein Magen rebellierte, und er fürchtete, sich übergeben zu müssen und an seinem eigenen Mageninhalt zu ersticken. Er spürte gar nicht, wie Bracht sein wild um sich schlagen des Handgelenk packte und ihn unter der sich immer noch windenden und heulenden Bestie hervorzerrte, bis sich seine Lungen wieder mit Luft füllten und sich sein Blick so weit klärte, daß er die Todeszuckungen der Aas kreatur sehen konnte. Da wußte er, daß seine Vermutung richtig gewesen
war, daß die oberflächlichen Hieb- und Stichwunden die Bestie nur gereizt hatten. Erst dadurch, daß er sein von der Göttin gesegnetes Schwert dauerhaft im Körper des Ungeheuers versenkt hatte, war es endgültig besiegt worden. Er sah zu, wie sich die Kiefer voller Qual öffne ten und die Fänge entblößten, wie das rote Glühen der Augen matter und das Zucken der kräftigen langen Beine immer schwächer wurde. Und dann keuchte er auf und stolperte entsetzt einen Schritt zurück, als das Ding, das jetzt zum zweiten Mal starb, sprach. »Ihr habt also wieder überlebt. Meinen Glückwunsch, ihr erweist euch als hartnäckiger, als ich erwartet habe, aber auch das spielt letztendlich keine Rolle. Jetzt weiß ich, daß ihr mich verfolgt, und kann euch weitere Hin dernisse in den Weg legen. Und zwar schlimmere als dieses, das verspreche ich euch! Es wäre besser für euch, mir nicht mehr in die Quere zu kommen, denn ihr könnt dieses Spiel nicht gewinnen, und solltet ihr dennoch weitermachen, werdet ihr nur den Tod finden. Kehrt jetzt um, ihr Narren! Kehrt um, solange ihr noch eure armse ligen Leben habt. Genießt die Zeit, die euch noch bleibt, denn allmählich werde ich zornig, und ihr werdet für eure Taten zur Rechenschaft gezogen werden, sobald Tharn wiederauferstanden ist.« Es war Rhythamuns Stimme.
KAPITEL 14 Rhythamuns Stimme verklang, der Leichenwolf löste sich auf, das Fell schrumpfte über den Knochen und von Maden wimmelnden Organen zusammen, die zu Staub zerfielen, und der Aasgestank verwehte. Calandryll zog sein Schwert aus den puderartigen Überresten und fuhr mit der Klinge durch die Flammen von Brachts Fackel, um sie auszubrennen und zu reinigen. Beide starrten sie auf die vertrockneten Überreste, bis Katyas Stimme sie aus ihrer angeekelten Versunkenheit riß. »Nachdem das erledigt ist, könntet ihr mir vielleicht mit den Pferden helfen, bevor sie durchgehen?« Es war eine derart nüchterne Frage, daß Calandryll in Gelächter ausbrach. Zusammen mit Bracht eilte er der Kriegerin zu Hilfe, die mit den immer noch verängstigten Tieren kämpfte. Sie ergriffen jeder einen Zügel, beruhig ten die Pferde, so gut es ging, und führten sie im Lauf schritt an den Überbleibseln des Ungeheuers vorbei. Die Hufe wirbelten den Staub auf und zerstreuten ihn bis zur Unkenntlichkeit. Es herrschte noch immer ein bißchen Tageslicht, und ein Stückchen tiefer in der Schlucht nah men sie den Pferden die Augenbinden ab, bestiegen sie und galoppierten schweigend dahin, bis die Schlucht breiter wurde und sie das Grasland von Cuan na'For
erreicht hatten. Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Zwielicht senkte sich über die Prärie. Die letzte Bergkette endete genauso abrupt, wie sie begonnen hatte. Zedern und Zypressen bedeckten den sanften Hang, der bis zum Rand des endlosen Grasmeeres reichte. Ohne sich darüber verständigen zu müssen, legten sie noch eine größere Strecke vom Ausgang des Passes zu rück, bis sie eine Stelle gefunden hatten, wo ein kleiner klarer Bach zwischen den Bäumen dahinfloß, die dicht genug Standen, um den Widerschein des Feuers zu ver bergen. Calandryll steckte den Kopf in das kalte Wasser und spülte sich den Mund aus, in dem er immer noch den ekelhaften Geschmack des Wolfdings spüren konnte. Auch danach glaubte er, den widerwärtigen Gestank in seiner Tunika und seiner Hose zu riechen, und er hätte sich am liebsten ausgezogen und seine Kleidung gewa schen, aber sie hatten nicht die Zeit dazu, denn jetzt wuß te Rhythamun, daß sie noch lebten und ihm folgten, und von nun an würden sie noch viel wachsamer sein müs sen. Während er sich abtrocknete, verfluchte sich Ca landryll, kehrte mit finsterer Miene zum Lagerfeuer zu rück und hockte sich dicht davor, damit der aromatische Rauch in seine Kleidung einziehen konnte. »Du hast das Ding erschlagen«, sagte Bracht und wendete die Fleischstreifen über dem fröhlich flackern den Feuer. »Wieso brütest du jetzt noch darüber nach?« »Ich hätte damit rechnen müssen«, erwiderte Ca
landryll, und der Ärger auf sich selbst ließ seine Stimme barsch klingen. »Ich hätte schon in Aldarin daran denken müssen, nachdem Rhythamun durch den Stein gespro chen hat.« »Woran hättest du denken müssen?« wollte Bracht wissen. »Daß er auf jeden Fall irgendwelche Vorkehrungen treffen würde.« »Er hat geglaubt, wir würden in Tezin-dar festsitzen«, warf Katya ein. »Gefangen, nachdem sich die Tore ge schlossen hatten.« Calandryll starrte nur düster ins Feuer. »Möchtest du es uns nicht erklären?« fragte Bracht sanft. »Er hat gehofft, daß wir in Tezin-dar festsitzen wür den.« Calandryll streckte einen Arm aus und fuhr mit der Hand durch die Flammen. »Vielleicht hat er es sogar geglaubt, aber damit hätte er sich auf keinen Fall zufrie dengegeben. Er brauchte Gewißheit – deshalb hat er den Stein zurückgelassen und ihn magisch präpariert. Es war idiotisch von mir, ihn zu berühren. Ich hätte es wissen müssen.« »Wir haben es mit Hexerei zu tun«, meinte Bracht, »und die ist immer undurchschaubar.« »Trotzdem hätte ich wissen müssen, daß mehr als Ei telkeit oder Selbstgefälligkeit oder was immer ich darin vermutet habe hinter dieser Manifestation gesteckt hat.
Begreifst du es nicht?« Bracht schüttelte den Kopf. Katya musterte aufmerk sam Calandrylls Gesicht. »Der Anhänger war auf mich geeicht«, fuhr er fort, »stand durch Rhythamuns Magie mit mir in Verbindung. Er ist in meiner Hand zum Leben erwacht, und Rhytha mun ist vor uns erschienen.« Die letzten Worte richtete er an Katya, die zustimmend nickte. »Damals habe ich ge dacht, daß er das nur aus Selbstgefälligkeit getan hätte, um uns zu verhöhnen. Aber er hat sich mehr dabei ge dacht. Durch die Berührung des Steins habe ich ihm verraten, daß wir überlebt haben und nach Aldarin zu rückgekehrt sind. Ich habe ihn gewarnt, und er mußte damit rechnen, daß wir ihm folgen würden. Deshalb konnte er Vorkehrungen gegen uns treffen.« »Er hat seine Gestalt verändert«, gab Bracht zu beden ken. »Er ist in den Körper von Daven Tyras geschlüpft. Bestimmt hat er geglaubt, uns damit täuschen zu kön nen.« »Er hat es sicherlich gehofft«, erwiderte Calandryll, dessen Gesicht und Stimme noch immer seinen Ärger verrieten. »Er hat bestimmt gehofft, uns im Körper eines anderen Mannes abschütteln und seine Spur in Cuan na'For verwischen zu können. Aber was er vorhat, ist so bedeutend, daß er kein Risiko eingehen würde. Nein, er wollte selbst die bloße Möglichkeit einer Verfolgung ausschließen. Deshalb auch diese Wolfbestie.« Bracht hob den Kopf und ließ den Blick über den
Himmel und die Baumkronen wandern. Vielleicht dachte er an den Quyvhal, den Anomius in Kandahar ausge schickt hatte, um sie zu beobachten. Als sich seine Augen wieder auf Calandrylls Gesicht richteten, lag ein besorg ter Ausdruck in ihnen. »Aber woher konnte er wissen, daß wir den kleineren Paß nehmen würden?« fragte er. »Wahrscheinlich hat er ein ähnliches Ungeheuer als Wache auch auf dem größeren Paß zurückgelassen«, erwiderte Calandryll. »Wahrscheinlich wird jeder Zu gang nach Cuan na'For von einer magischen Bestie be wacht.« »Aber du hast sie trotzdem erschlagen«, sagte Bracht. »Aye.« Calandryll nickte einmal kurz und grimmig. »Und ihm damit verraten, daß wir hier sind. Wahrschein lich hat er uns jetzt schon einen Trupp Lykarder auf den Hals gehetzt.« »Das glaube ich nicht«, meldete sich Katya zu Wort. Calandryll fuhr zu ihr herum und sah sie mit gerun zelter Stirn an. »Nein? Was wird er denn sonst tun? Uns freie Durchreise gewähren? Sein Garantiepfand denen hinzufügen, die Bracht gekauft hat?« Katya ging nicht auf seinen bitteren Tonfall ein, blickte ihn durchdringend mit ihren grauen Augen an und sag te: »Wie sollte er den Lykardern von uns erzählen, es sei denn, er würde sich als Schwarzmagier zu erkennen geben? Bracht, hast du nicht gesagt, daß sich selbst die Lykarder gegen ihn wenden würden, sollte sein wahres Wesen ans Licht kommen?«
»Aye«, bestätigte Bracht. »Würde er sich zu erkennen geben, oder sollten die Geistersprecher ihn durchschau en, würden sich selbst die Lykarder garantiert zusam mentun und gegen ihn vorgehen.« »Dann muß er seine Magie heimlich ausüben. Ich glaube, er würde sich nicht selbst behindern, indem er sich die Leute, von denen er Hilfe erwartet, zu Feinden macht. Er muß seine Zaubersprüche im Verborgenen wirken, unbemerkt von den Geistersprechern, weil er sonst die Unterstützung der ni Brhyn verlieren würde. Sie halten ihn doch bestimmt für Daven Tyras, nicht wahr? Also muß er auch Daven Tyras sein, ein Halbblut und nicht mehr. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er Krieger ausschickt, um uns den Weg zu versperren.« Sie verstummte und wartete auf eine Antwort. Bracht nickte und brummte zustimmend. Calandryll dachte über ihre Worte nach und fand sie überzeugend, war aber noch immer nicht ganz bereit, den Ärger zu verges sen, der nur ihm selbst galt. »Trotzdem«, murmelte er unwillig. »Ihr habt ihn ge hört. Er hat uns weitere Hindernisse versprochen. Wir müssen uns schon mit Jehenne ni Larrhyns Zorn beschäf tigen, und jetzt kommt anscheinend auch noch Zauber werk dazu. Sollen wir uns denn durch ganz Cuan na'For hindurchkämpfen?« »Wenn es sein muß«, erwiderte Bracht. »Ahrd, Ca landryll! Heute haben wir einer Alptraumkreatur gege nübergestanden, und du hast sie erschlagen! Du trägst
ein Schwert, das bewiesenermaßen von einer Göttin gesegnet worden ist. Welche Zauber er auch immer wirkt, um uns aufzuhalten, wir werden uns ihnen stellen. Wir haben die Jüngeren Götter als Verbündete, und Rhythamun wird uns nicht entkommen!« »Es sei denn, wir sterben während der Jagd.« »Das ist möglich«, stimmte ihm Bracht leichthin zu. »Aber ist das ein Grund, ihm das Feld zu überlassen?« »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf und begann zu lächeln. »Trotzdem würde ich mir wünschen, wir hätten ihn nicht gewarnt.« Bracht zuckte die Achseln und nahm das Fleisch vom Feuer, das zu verkohlen drohte, weil er es fast vergessen hätte. Er reichte jedem einen länglichen auf einem Holz stück aufgespießten Streifen. »Ich denke, daß Cuan na'For zu groß ist, als daß Rhythamun das ganze Land im Auge behalten kann«, sagte Katya langsam. Sie hielt das Fleischstück in beiden Händen. »Wahrscheinlich weiß er von den Feindseligkei ten und wird versuchen, sie zu benutzen, um uns … hinzuhalten. Wahrscheinlich wird er diese magischen Kreaturen ausschicken, mit denen er uns gedroht hat, aber zuerst müssen sie uns finden. Außerdem wären sie dann für uns wie Wegweiser, denen wir folgen können. Und wie Bracht gesagt hat, die erste Bestie ist bereits tot. Warum nicht auch die nächste? Ich denke, unser größter Feind ist die Zeit.« Sie schwieg eine Weile, knabberte geziert an ihrem
Fleisch herum und wischte sich Fett vom Kinn. »Sprich weiter«, drängte Calandryll sie. Sein Ärger verrauchte, seine Laune wurde besser. Er war neugierig, in welche Richtung Katyas Gedanken gingen. »Er reitet mit den ni Brhyn«, fuhr sie fort, »nach Nor den. Vermutlich, da sind wir uns einig, zum Borrhun maj.« »Das dürfte das wahrscheinlichste Ziel sein«, bestätig te Calandryll. »Und solange er vor uns bleibt, ist er uns gegenüber im Vorteil.« »Mit Jehenne ni Larrhyn und allem, was er zaubert, zwischen sich und uns, aye.« »Wenn wir ihn also einholen oder vor ihn gelangen könnten, würden wir ihm diesen Vorteil nehmen.« »Aye, das ist richtig«, sagte Calandryll. »Ich glaube, mir gefällt nicht, worauf das hinausläuft«, warf Bracht ein. Katya schmunzelte. Calandryll nickte langsam. »Du meinst, wir sollten di rekt durch den Cuan na'Dru reiten.« Die Kriegerin gab das Nicken zurück. »Wie ich bereits gesagt habe, im Vertrauen auf Ahrd.« »Ahrd vertraue ich«, sagte Bracht, leise. »Den Grua gach…« Er ließ den Satz offen, sprach seine Befürchtun gen nicht aus. »Können sie uns denn tatsächlich so gefährlich wer
den?« erkundigte sich Katya, aber eigentlich war es gar keine Frage. »Du sagst, sie würden deinen Baumgott bewachen, und Ahrd hat euch schon einmal Hilfe ge schickt. Burash hat versprochen, daß Calandryll erhört werden würde, sollte er um Hilfe rufen. Dera hat uns gesagt, daß ihre Göttergeschwister uns jede Unterstüt zung gewähren würden, die in ihrer Macht steht. Könnte Ahrd da seinen Wächtern erlauben, uns etwas anzutun?« Bracht zuckte stumm die Achseln und blickte weiter hin skeptisch drein. »Was bleibt uns denn sonst übrig?« ließ Katya nicht locker. »Wir müssen Jehenne und Rhythamuns Geschöp fen aus dem Weg gehen. Er selbst ist jetzt wahrscheinlich bei den ni Brhyn oder schon weitergezogen. Zum Kess Imbrun und vielleicht den Ebenen von Jesseryn. Sollen wir einen Bogen um den Wald machen?« »Ich denke, er wird es tun«, sagte Bracht. »Dann wird er also Zeit verlieren, weil er Ahrds Reich ausweichen muß, obwohl er weiß, daß wir ihm auf den Fersen sind. Wenn wir es durchqueren, könnten wir vor ihm die andere Seite erreichen. Und es könnte sogar sein, daß wir von Ahrd erfahren, wo sich Rhythamun zur Zeit befindet.« »Wenn uns die Gruagach passieren lassen«, schränkte Bracht ein. »Ihr Götter!« Katya schüttelte den Kopf. Ihr Ge sichtsausdruck war eine Mischung aus Belustigung und Frustration. »Du gehst das Risiko ein, von Jehenne ni
Larrhyn an einen Baum genagelt zu werden, du greifst, nur mit einem Schwert bewaffnet, ein untotes Ding an, das der übelsten Nekromantie entsprungen ist, aber diese Gruagach … Wer oder was sind sie, daß sie dich derart verunsichern?« »Die Wächter des Waldes«, erwiderte Bracht ein wenig mürrisch, als glaubte er, sein Mut würde in Frage gestellt – was, wie Calandryll dachte, in gewisser Weise ja auch zutraf. »Das ist alles, was ich über sie weiß. Außer, daß am Rand des Cuan na'Dru die Gebeine der Menschen vermodern, die sie zu Gesicht bekommen haben.« »Haben diese Menschen mit Göttern gesprochen?« fragte Katya. Ihre Stimme klang jetzt sanft und aufmun ternd. »Wurde ihnen göttliche Hilfe zugesagt?« Wieder zuckte Bracht nur die Achseln und warf den Holzspieß, an dem er sein Fleisch gebraten hatte, ins Feuer. Das Fett zischte kurz auf und verbrannte. Bracht wischte sich die Hände am Gras ab und starrte verdros sen in die Dunkelheit. »Ich glaube«, versuchte Calandryll vorsichtig zu ver mitteln, »daß uns vielleicht wirklich keine andere Mög lichkeit bleiben könnte.« Die offensichtlichen Vorbehalte des Kerners erfüllten ihn mit Sorge. »Vielleicht geht er auch gar nicht nach Norden«, sagte Bracht ohne große Überzeugung. »Wohin denn sonst?« wollte Katya wissen. »Nicht nach Osten, denn dann wäre er mit einem Schiff von Aldarin aus bequemer und schneller angekommen. Nach
Westen? Zurück nach Gessyth? Warum hätte er die Sümpfe dann überhaupt verlassen sollen? Wieso hätte er dann noch einmal nach Aldarin zurückkehren sollen?« »Er geht nach Norden«, gab Bracht zu. »Und er hat einen Vorsprung«, fügte Katya hinzu, »der groß genug ist, um uns zu entwischen. Kennst du die Ebene von Jesseryn?« »Nein.« »Calandryll und ich ebensowenig. Solange Rhytha mun in Cuan na'For bleibt, wissen wir wenigstens, daß er sich in Daven Tyras' Körper befindet, und du kennst dieses Land. Was, wenn er den Kess Imbrun überschrei tet und sich den Körper irgendeines Jesseryters aneignet? Dann müßten wir einen Fremden durch ein fremdes Land verfolgen. Ich behaupte, die größten Erfolgsaus sichten haben wir hier und jetzt, und deshalb ist der wichtigste Punkt unsere Schnelligkeit.« Bracht seufzte, betrachtete ihr ernstes Gesicht und warf Calandryll einen sorgenvollen Blick zu, der nicht wußte, was der Kerner von ihm erwartete. Also nickte er zustimmend und sagte: »Ich glaube, Katya hat recht.« »Ahrd ist uns nicht feindlich gesonnen«, murmelte sie, »warum sollten es dann seine Hüter sein?« »Wir könnten uns den Ausläufern des Cuan na'Dru vorsichtig nähern«, schlug Calandryll vor. »Und sollten die Gruagach uns den Zutritt verwehren, können wir den Wald immer noch umgehen.«
Brachts Lippen wurden schmal, und einen Moment lang glaubte Calandryll, der Kerner würde Argumente für den längeren Umweg vorbringen, aber dann knurrte er, nickte und sagte: »Nun gut, versuchen wir es mit dem Cuan na'Dru.« Katya lächelte, aber das bekam Bracht nicht mehr mit, denn er erhob sich und ging zu den Pferden, als wollte er seine Zweifel vor den anderen verbergen oder Sicherheit in der vertrauten Nähe der Tiere finden. Calandryll sah ihm zu, wie er den muskulösen Hals des Hengstes strei chelte. Das Pferd quittierte die Liebkosung, indem es ihn mit den Nüstern anstieß und ein leises Wiehern von sich gab. »Du gibst mir also recht?« fragte Katya leise, damit Bracht sie nicht verstehen konnte. Calandryll drehte sich zu ihr um. Im Licht des Feuers schimmerte ihr Haar rotgolden, die zuckenden Flammen ließen Schatten über ihr Gesicht tanzen. Er nickte und fragte sich dabei, ob sie vielleicht irgendwelche Zweifel verspürte. »Was du sagst, klingt logisch«, pflichtete er ihr bei. »Es scheint der schnellste Weg für uns zu sein.« Er wußte, daß es eine etwas zweideutige Antwort war, aber irgend etwas an Brachts Reaktion hatte jetzt auch in ihm Zweifel geweckt. Für das anfängliche Zögern des Kerners, Cuan na'For zu betreten, hatte es eine einleuch tende Erklärung gegeben, und nachdem sich herausge stellt hatte, daß es unumgänglich war, hatte er eingewil
ligt, obwohl er befürchten mußte, gekreuzigt zu werden, und das war eine Aussicht, die – wie Calandryll fand – jeden Menschen zögern lassen würde. Diese Sache jedoch war etwas gänzlich anderes. Brachts Mut stand außer Frage, deshalb mußte es für seinen Widerwillen, auch nur in die Nähe der Gruagach zu gelangen, eine tiefere Ursache geben, die weit über die Furcht vor körperlichen Gefahren hinausging, etwas, das anscheinend die Grund festen seiner Seele berührte. Und wenn es einen stichhal tigen Grund für seine Befürchtungen gab, wenn die Gru agach ihnen den Zutritt verwehren oder versuchen soll ten, sie umzubringen, dann würden sie den längeren Weg nehmen müssen. »Er ist kein Feigling«, hörte er Katya leise wie ein Echo seiner eigenen Gedanken sagen. »Ich frage mich, was sie sind, diese Gruagach.« »Ich nehme an«, erwiderte er langsam, als hätten Brachts Zweifel ihn angesteckt, »daß wir das noch he rausfinden werden.« Katya nickte, und er entdeckte eine gewisse Unsicher heit in ihren Augen. »Aber es ist trotzdem die logische Vorgehensweise«, fügte er hinzu, nicht sicher, ob er ihr oder sich selbst Zuversicht einzuflößen versuchte. »Und wie du selbst gesagt hast, Ahrd wird uns sicher freundlich gesonnen sein und uns gefahrlos den Wald durchqueren lassen.« »Aye.« Katya lächelte. »Ich wünschte nur, Bracht wäre etwas mehr davon überzeugt.«
Bracht ließ nicht erkennen, wie er darüber dachte, als er zum Feuer zurückkehrte. Allerdings machte er einen entschlossenen Eindruck, als würde er sich jetzt, nach dem die Entscheidung gefallen war, keine Zweifel mehr gestatten. Oder er verbarg sie geschickt, indem er wieder sein gewohntes Verhalten an den Tag legte und seinen Gefährten schilderte, was vor ihnen lag und wie sie ihre Reise durch die Grasebenen beginnen sollten. Mit Einbruch des Frühlings, erklärte er, fohlten die Stuten. Die Clane würden überwiegend mit der Aufzucht und dem Schutz ihrer Tiere beschäftigt sein und kaum die Zeit finden, die Prärie zu durchstreifen. Das schränk te die Aktivitäten möglicher Feinde ein und erhöhte ihre Aussichten, den Cuan na'Dru unbehelligt zu erreichen. Außerdem würden sie nicht durch so offenes Land rei ten, wie Calandryll es erwartet hatte. Zwar war der Cuan na'Dru der mit Abstand größte Wald, aber er war nicht der einzige. Das Grasland zwischen diesem Punkt und dem Zentralwald wurde von kleineren Wäldern, Hügeln und Flußtälern durchzogen. Natürlich würden sie nicht umhin kommen, auch offenes Land zu überqueren, aber mit etwas Glück und Brachts Kenntnissen der lykardi schen Weidegründe standen ihre Chancen, einer Entde ckung zu entgehen, gar nicht einmal so schlecht. »Gart und Kythan haben davon gesprochen, daß sich die Lykarder nach Osten zurückziehen«, sagte Katya. »Weil sich die Kreaturen des Höllenmauls rühren.« »Wir reiten am äußersten Rand ihres Territoriums ent
lang«, erwiderte Bracht. »Im Grenzgebiet ihrer Weide gründe und der meines Clans. Auch wenn das Höllen maul seine abartigen Kreaturen ausspuckt, werden die Lykarder keinen Krieg mit den Asythern riskieren, nicht während ihre Stuten fohlen.« »Und was ist, wenn sich Rhythamun noch immer bei den ni Brhyn aufhält?« wollte Calandryll wissen. »Wir haben die Pfände, die uns gestatten, ihr Land unbehelligt zu durchqueren«, gab Bracht zurück. »Sollte er noch da sein, werden wir ihm gegenübertreten und ihn anklagen. Wenn ein derartiger Vorwurf gegen ihn erhoben wird, müssen die Drachomannii ihn überprüfen, und es wird sich zeigen, wer und was er wirklich ist.« »Ein Hexer, der seine Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt hat«, knurrte Calandryll. »Aye, daran besteht kein Zweifel«, sagte Bracht und grinste. Er war wieder ganz der alte. »Und dann … nun, du sagst, du vertraust auf die Jüngeren Götter, dann wirst du bestimmt auch auf Deras Versprechen vertrau en, daß du die Fähigkeiten in dir hast, ihn zu besiegen.« Calandryll grinste zurück, er steckte in der Klemme. Bracht hatte recht, er mußte der Göttin vertrauen, auch wenn er von den versprochenen Fähigkeiten überhaupt nichts spürte. Letztendlich blieb ihnen allen nur ihr Glaube, aber damit waren sie bisher schon recht weit gekommen. Calandryll schmunzelte, mußte gähnen, und Bracht schlug vor, daß sie sich schlafen legen sollten.
Am nächsten Morgen kroch Nebel von den Hügeln herab und wand sich in grauen Schwaden um die Bäume. Tau tropfen funkelten auf dem Gras, den Zweigen und dem Fell der Pferde, als eine blasse Sonnenscheibe im Osten aufstieg. Der zunehmende Mond stand noch immer dicht über dem westlichen Horizont. Calandryll fachte das Feuer wieder an, während Bracht nach den Pferden sah und Katya das Frühstück zubereitete. Sie aßen und machten sich reisefertig. »Spannt eure Bögen«, forderte Bracht seine Gefährten auf, »und haltet euch bereit, sie auch zu benutzen. Sollten wir kämpfen müssen, dann wahrscheinlich vom Rücken der Pferde aus.« Sie kamen seiner Aufforderung nach, schnallten die Köcher vor ihren Sätteln fest und verstauten die Bögen in ihren Hüllen. Trotz seiner Übungen fragte sich Ca landryll, wie gut er einen Pfeil vom Rücken eines ren nenden Pferdes aus abschießen können würde. Das war etwas ganz anderes, als vom Boden oder den Deckplan ken eines Bootes aus zu schießen. Vertrauen, machte er sich selbst Mut. Hab Vertrauen. Mit etwas Glück werden wir unbehelligt bleiben. Mit diesem Gedanken schwang er sich auf seinen Braunen und folgte Bracht den Hang hinunter. Der Wald blieb hinter ihnen zurück, die Zedern und Zypressen wurden immer spärlicher, und dann breitete sich vor ihnen die endlose Grasebene aus. Bracht zügelte seinen Hengst. Anscheinend hatte er alle Zweifel, die ihn noch
letzte Nacht geplagt hatten, abgestreift, denn er strahlte, richtete sich in den Steigbügeln auf und deutete mit einer weitausholenden Handbewegung auf das Land vor ih nen. »Cuan na'For«, verkündete er. Ehrfurcht klang in seiner Stimme auf, und seine blauen Augen leuchteten vor Begeisterung. Calandryll sah sich um. Einen Moment lang war er eingeschüchtert durch die Weite der Prärie. Die Sonne war höher gestiegen, der Himmel, über den sich Zirrus wolken zogen, hatte einen makellos blauen Farbton an genommen. Kumuluswolken türmten sich blendend weiß wie Schnee über den Gipfeln im Osten auf. Ein leichter Wind ließ das Gras wogen, und Calandryll hatte den Eindruck, auf ein riesiges Meer aus unzähligen stän dig wechselnden Grüntönen zu blicken. In der Ferne funkelte ein Fluß im Sonnenlicht. Dunklere Flecken über zogen die unermeßliche Weite wie Wolkenschatten – die Waldinseln, von denen Bracht gesprochen hatte. Die Luft war frisch und klar und duftete nach Gras und dem fri schen neuen Grün des Frühlings. Calandryll konnte sich nicht vorstellen, daß es irgendein größeres Land geben könnte, und das zog den Gedanken nach sich, daß es unmöglich sein mußte, Rhythamun in diesen riesigen Weiten aufzuspüren, was ihn wiederrum zu der Über zeugung gelangen ließ, daß Katya recht hatte und sie Ahrd um Hilfe bitten mußten. »Kommt«, hörte er Bracht sagen und trieb seinen Braunen zu einem gemäßigten Galopp an. Sie legten den
Rest des sanften Hangs zurück und erreichten die Ebene, wo das Gras hoch wuchs und im Wind raschelte. Es klang wie die unvollständigen Fetzen eines Liedes, eine sehnsuchtsvolle Melodie, die mit dem Zwitschern und Trällern kleiner bunter Vögel erfüllt war, die überall im Grün umherflatterten. Sie ritten im gleichmäßigen Tempo weiter, bis sie auf den Fluß stießen, der von Weiden gesäumt war. Seine Ufer fielen dort, wo das Gras abrupt endete, steil ab. Enten und Bachstelzen stiegen bei ihrer Ankunft von gelben Sandbänken auf. Bracht wies seine Gefährten an zu warten und folgte dem Ufer ein Stückchen in beide Richtungen, wobei er die Sandbänke aufmerksam be trachtete. Dann kehrte er zurück und berichtete, daß er keine Hufabdrücke oder andere Spuren entdeckt hätte, die auf die Anwesenheit von Lykardern schließen ließen. Das Wasser spritzte unter den Hufen ihrer Pferde auf, als sie den flachen Fluß durchquerten und ihren Ritt auf der anderen Seite fortsetzten. Gegen Mittag machten sie Rast, um den Pferden eine Ruhepause zu gönnen und etwas zu essen. Noch immer hatten sie keinen Menschen zu Gesicht bekommen, aber hin und wieder sahen sie grasende Herden von Wild pferden. Die Leithengste wieherten bei ihrem Anblick angriffslustig, und Brachts Rappe erwiderte die Drohge bärden. Nach der Rast galoppierten sie weiter, und Calandryll erkannte, wie trügerisch die Landschaft war. Was von
ihrem erhöhten Standpunkt an diesem Morgen wie eine flache Ebene ausgesehen hatte, erwies sich als hügeliges Grasland. Die Entfernung hatte die sanften Bodenwellen, flachen Täler und gelegentlichen Einschnitte verschluckt. Dort hätte sich ein Trupp Reiter unbemerkt verstecken können, bis ihm ein unvorsichtiger Reiter praktisch in die Arme lief. Calandryll wurde zunehmend wachsamer und ließ seinen forschenden Blick wie Bracht ständig umher wandern. Doch sie begegneten keinen Reitern, auch wenn sie um die Mitte des Nachmittags im Westen Rauch aufsteigen sahen, der verriet, daß sich dort ein Lager der Lykarder befand. Daraufhin beschleunigten sie das Tempo, ließen den Rauch hinter sich und hielten auf eine Waldinsel zu. Wie das Land rief auch der Wald einen trügerischen Eindruck hervor. Was zuerst nicht allzu groß ausgesehen hatte, schien zu wachsen und sich immer weiter nach Osten und Westen auszustrecken, je näher sie kamen. Die silbernen Baumstämme von Birken leuchteten in den Strahlen der tiefstehenden Sonne. Sie umgaben den Wald wie eine natürliche Palisade und machten allmählich Hainbuchen Platz, die höher waren und ihre Äste über einen nahezu grasfreien Boden streckten, der noch mit einer Schicht trockenen Laubs vom Vorjahr bedeckt war. Bracht führte Calandryll und Katya so tief in den Wald hinein, bis von der Prärie nichts mehr zu sehen war. Schatten senkten sich über sie, die Luft war vom Gesang unzähliger Vögel erfüllt. Sie ritten weiter, bis sie auf eine Gruppe von Erlen stießen, wo eine gluckernde Quelle
entsprang, die einen kleinen Teich speiste. Dort stiegen sie aus den Sätteln und sammelten Holz zusammen, entzündeten das Feuer aber erst, nachdem die Dämme rung hereingebrochen war und den Rauch verbarg. Zuversichtlich, daß die dicht stehenden Bäume den Feuerschein verschlucken würden, bereiteten sie das Abendessen zu und stellten ihre Zelte auf. Wegen dem Rauch aus dem Lager der Lykarder beschlossen sie, in dieser Nacht Wache zu halten. Irgendwann wurde Ca landryll, der die mittlere Schicht hatte, von Katya ge weckt. Da die Nächte noch immer recht kalt waren, legte er sich den Mantel um die Schultern, schnallte sich den Köcher auf den Rücken und ergriff seinen Bogen, bevor er pflichtbewußt seine Runden drehte. Der zunehmende Mond warf mattes Licht auf den Waldboden, und durch Lücken in den Ästen und Zweigen konnte Calandryll Sterne funkeln sehen. Die Pferde schnaubten und beweg ten sich leise im Schlaf, Ziegenmelker stießen ihre schril len Schreie aus, Eulen klagende Rufe. Kleine Raubtiere waren auf dem Waldboden auf der Jagd, unhörbar in der Dunkelheit, bis die Todesschreie ihrer Beute aufklangen. Obwohl Calandryll einen Pfeil auf die Sehne gelegt hatte, verspürte er kein Gefühl der Bedrohung. Es war, als würde der Wald Frieden ausatmen und ihm auf seine Art versichern, daß ihm kein Leid geschehen würde, solange er sich innerhalb seiner Grenzen aufhielt. Calandryll fragte sich, ob das vielleicht eine stumme Botschaft war,
die Ahrd ihm sandte, so sehr war er überzeugt, sich in Sicherheit zu befinden, obwohl in diesem Wald anschei nend keine Eichen wuchsen. Seine Wache verlief ereig nislos. Er weckte Bracht zur vereinbarten Stunde, kroch in sein Zelt und versank entspannt in einem traumlosen Schlaf. Der nächste Morgen war strahlend hell. Sie aßen ihr Frühstück und ritten weiter durch den Wald, wobei Bracht wieder die Führung übernahm. Da sie einem schmalen Pfad folgten, kamen sie nur langsam voran, und es war fast schon Mittag, als sie den Wald verließen und wieder auf offenes Land stießen, das sich ohne eine weitere Deckung vor ihnen ausbreitete. Trotzdem begeg neten sie auch diesmal keinen Lykardern, während sie durch die Prärie zogen. Sie ritten abwechselnd im lang samen Galopp und im Schritt. Die Sonne wärmte ihre Rücken, der ständige Wind ließ das kniehohe Gras ra scheln. Sie sahen weitere Pferde und manchmal Wild hunde, die, wie Bracht erklärte, die vorherrschenden Raubtiere des Graslandes waren, aber sie hielten sich immer wachsam außerhalb Bogenschußweite. Es waren häßliche Tiere mit stumpfen Schnauzen und kräftigen Kiefern, langen Beinen und kurzen Schwänzen. Ihr Fell war gefleckt, so daß sie mit dem Gras zu verschmelzen schienen und bei der Jagd wie Gespenster unvermittelt auftauchen und wieder verschwinden konnten. Dies war eine günstige Zeit für sie, kranke und schwächliche Foh
len versprachen reiche Beute. Durch dieses großzügige Nahrungsangebot stellten sie keine Gefahr dar, aller dings geschah, daß sie, im Gegensatz zu den Wölfen in den höher gelegenen Gebieten, auch einmal einen unvor sichtigen Reiter anfielen. In dieser Nacht schlugen sie ihr Lager in einer flachen Senke auf, ohne ein Feuer anzuzünden, denn im Laufe des Nachmittags hatten sie wieder Rauch gesehen, näher als am Vortag. Sie brachen auch früher als sonst wieder auf. Die Sonne war kaum über den Horizont geklettert. Bracht gab das Packpferd in Calandrylls Obhut und erklärte, daß er als Späher vorausreiten würde. Dann trieb er den schwarzen Hengst zu einem Galopp an und war schon bald außer Sicht verschwunden. Um die Mitte des Vormittags kehrte er zurück, presch te auf sie zu und lenkte den Hengst neben Katyas Schimmel, die wie Calandryll nervös darauf wartete, was Bracht zu berichten hatte. »Reiter der in Larrhyn«, verkündete er und deutete di rekt nach vorn. »Sie kreuzen unseren Weg.« »Kommen sie auf uns zu?« fragte die Kriegerin. Bracht schüttelte den Kopf. »Nein, sie ziehen nach Westen. Aber wenn wir nicht vorsichtig sind, werden sie uns trotzdem entdecken.« Calandryll blickte sich um, sah aber nur Gras und weit und breit keine Möglichkeit, sich zu verstecken. »Schneller«, zischte Bracht, und Calandryll erkannte, daß er instinktiv langsamer geworden war. Auf Brachts
Drängen trieb er seinen Braunen zum Galopp an. Das Packpferd wieherte protestierend, als sich die Zugleine mit einem Ruck straffte. »Werden wir mit ihnen kämpfen?« rief er. »Wir verstecken uns vor ihnen«, gab Bracht zurück und ließ Calandryll keine andere Wahl, als ihm zu fol gen. Wenn sie weiter in nördliche Richtung ritten und die ni Larrhyn ihren Weg kreuzten, mußten sie ihnen direkt in die Arme laufen. Calandryll war verwirrt, denn er sah weder, wie sie eine Begegnung vermeiden sollten, noch irgendeine Versteckmöglichkeit. Bracht kennt dieses Land, dachte er, vertrau ihm. Aber trotzdem blieben seine Zwei fel, und er wurde den Eindruck nicht los, direkt in die Schlacht zu galoppieren. Sie durchquerten einen kleinen Fluß, der wie der erste von Weiden und Erlen gesäumt wurde. Wasser spritzte unter den Hufen der Pferde auf. Dann bemerkte er, daß das Gelände langsam anstieg und Bracht direkt auf die Hügelkuppe zuhielt, von wo aus sie in diesem flachen Land meilenweit zu sehen sein mußten. Doch als sie den Kamm erreicht hatten, konnte er keine Spur von den Reitern entdecken und sagte sich, daß sich das Land wahrscheinlich wieder senkte und die Reiter verbarg. Sein Vertrauen in Brachts Erfahrungen mit der Prärie stieg, und er trieb den Braunen zu einem schnelleren Galopp an. Mit donnernden Hufen jagten sie die flache Erhebung wieder hinunter, über eine Strecke ebenen
Bodens und noch einmal abwärts in eine weite schüssel förmige Senke, wo Bracht heftig am Zügel riß. Sein Pferd war noch nicht zum Stehen gekommen, da sprang der Kerner auch schon aus dem Sattel, und der Hengst drehte sich um seine eigene Achse, als sich die Zügel ruckartig spannten. Bracht bückte sich, ergriff eine Fessel des Rappen, zog sie hoch und drückte gleichzeitig gegen die Schulter des Tieres, wobei er leise und be schwörend in seiner Muttersprache auf es einflüsterte. Der Hengst schnaubte unwillig, aber er war auf dieses Manöver trainiert, so daß er in die Knie ging und sich auf die Seite rollte. Bracht sprach weiter mit ihm, strich ihm kurz über die Nüstern und legte die Zügel über den glänzend schwarzen Hals. Der Hengst blieb reglos auf der Seite liegen, und Bracht rannte zu seinen Gefährten. »Halt das Packpferd!« befahl er Calandryll und wie derholte das Manöver mit den beiden anderen Reitpfer den, diesmal etwas gröber. »Legt euch auf ihre Hälse, haltet ihnen die Nüstern zu und sorgt dafür, daß sie liegenbleiben und keinen Laut von sich geben.« Calandryll gehorchte und verdrehte den Kopf, um zu zusehen, wie Bracht das Packpferd zu Boden warf und mit ihm das gleiche tat, was er von Calandryll und Katya verlangt hatte. Dann konnten sie nur noch warten. Nach einer Weile verriet ihnen ein Vibrieren des Bodens, das sich Pferde näherten. Calandryll spürte, wie ein Insekt auf seinem Hals landete und durch den Schweiß trippelte. Die Be
rührung seiner Beine war federleicht und äußerst nervtö tend. Er hielt weiterhin eine Hand über die Nüstern des Braunen und fühlte, wie der Hals des Tiers gegen sein Gewicht drückte, als er mit der anderen Hand nach dem störenden Käfer schlug. Das Insekt erhob sich kurz, lan dete aber wieder auf der gleichen Stelle, nachdem Ca landryll die Hand zurückgezogen hatte. Er gab den Ver such auf und fand sich mit dem Kribbeln der winzigen Beine auf seiner Haut ab. Das Vibrieren des Bodens wur de zu einem dumpfen Geräusch, löste sich in das gleich mäßige Trommeln von Hufen auf, kam näher und wurde dabei immer lauter. Calandryll verstärkte seinen Druck auf den Braunen, als der Wallach mit den Augen rollte und aufzustehen versuchte. Er spürte, wie sich ein zwei tes Insekt zu dem ersten gesellte und ihn reizte, die Hän de von seinem Pferd zu nehmen und die Quälgeister zu verscheuchen, aber er widerstand der Versuchung und riskierte einen Rundblick. Katya lag über ihrem Schim mel, das gebräunte Gesicht schweißnaß, die Augen er wartungsvoll auf den Rand der Senke gerichtet. Bracht lag etwas weiter hinten reglos über dem Packpferd. Ca landryll sah einen Köcher und Bogen im Gras vor dem Tier und stellte fest, daß er gar nicht mitbekommen hatte, wie der Kerner an die Waffe gekommen war. Der schwarze Hengst zeigte nicht die geringste Regung. Der Hufschlag schien jetzt unglaublich laut zu wer den. Er tönte wie dumpfes Donnergrollen, als hielten die Reiter direkt auf die Senke zu. Calandryll fluchte stumm vor sich hin. Ihm wurde bewußt, daß sein eigener Bogen
unter dem Körper seinen Pferdes begraben war, und dann überlegte er, daß die ni Larrhyn schon viel zu nah sein mußten, als daß ihm der Bogen noch von Nutzen hätte sein können. Wenn sie die drei Eindringlinge ent deckten, würde es bestimmt zu einem Schwertkampf kommen. Er fragte sich, wie viele Reiter es sein mochten. Dann verspürte er zu seiner Überraschung eine Ver änderung in dem Geräusch und den Vibrationen. Beides ließ nach, das Trommeln der Hufe wurde immer schwä cher und undeutlicher, bis es nur noch ein von den über reizten Nerven hervorgerufenes Echo war. Er zuckte zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte und Bracht fröhlich sagen hörte: »Falls du nicht gerade eine unnatürliche Zuneigung zu diesem Pferd entwickelt hast, kannst du es jetzt loslassen.« Calandryll wälzte sich zur Seite, und das Tier sprang auf, schüttelte den Kopf und schnaubte mit noch immer wild rollenden Augen. Er tätschelte und beruhigte es, bis er sicher war, daß sie beide zu zittern aufgehört hatten. Währenddessen beruhigten Katya und Bracht die ande ren beiden Pferde. Dann rief der Kerner seinem Hengst leise irgend etwas zu, und der Rappe stand gehorsam auf, blieb ruhig stehen und beäugte seinen Herrn. »Ich dachte…« Calandryll zögerte und seufzte ge räuschvoll. »Dera, ich habe wirklich gedacht, sie müßten jeden Moment auf uns stoßen.« Bracht schmunzelte und gab ihm ein Zeichen, in den Sattel zu steigen. »Es gibt genug Stellen, wo man sich
verstecken kann«, sagte er grinsend, »wenn man das Land kennt. Du wirst es noch lernen.« Calandryll stieg auf und nickte. Bracht führte das Packpferd zu seinem Hengst, schwang sich ebenfalls in den Sattel und winkte seinen Begleitern zu, ihm zu fol gen. Sie verließen die schützende Senke, ritten aber zu erst eine Weile nach Osten, bevor sie eine Bodenrinne überquerten und sich wieder nach Norden wandten. »Wir müssen eine Zeitlang sehr wachsam sein«, warn te Bracht und spähte nach Westen. »Ihr Lager muß ganz in der Nähe liegen.« Wie nahe es lag, fanden sie heraus, als die Dämme rung hereinbrach und sie im Zwielicht den Widerschein der Lagerfeuer kaum eine Meile entfernt sahen. »Also werden wir nur eine kurze Rast einlegen und während der Nacht weiterreiten«, entschied der Kerner. »Sie werden sich morgen wieder auf die Suche nach wilden Fohlen begeben. Es kann sein, daß wir eine ganze Weile im Dunklen reiten müssen.« Calandryll und Katya fügten sich seinem Beschluß widerspruchslos. Sie aßen kaltes Fleisch, während sich die Nacht endgültig über die Prärie senkte, der Wind einschlief und die Luft kälter wurde. »Werden sie denn nicht unsere Spuren entdecken?« erkundigte sich Calandryll. »Sie werden eine Spur finden«, bestätigte Bracht, »aber so Ahrd will, werden sie glauben, es würde sich nur um Wildpferde handeln.«
»Und werden sie ihnen dann nicht folgen?« fragte Ca landryll weiter. »Wenn sie sowieso Wildpferde jagen?« »Vier Pferde lohnen kaum den Aufwand für sie«, be ruhigte ihn Bracht. »Außerdem werden sie feststellen, daß keine Fohlen dabei waren. Nein, ich glaube, daß wir einigermaßen sicher sind, es sei denn, sie sehen uns.« Was nicht allzu schwer sein würde, dachte Calandryll, wenn nicht gerade eine Senke oder eine Waldinsel in der Nähe war. Doch er behielt seine pessimistischen Gedan ken für sich, als sie wieder aufstiegen und ihren Weg fortsetzten. Die Dunkelheit behinderte sie kaum, denn mittlerwei le war der Mond voll genug, um das Grasland in silbri ges Licht zu tauchen, und die unzähligen Sterne am Himmel spendeten zusätzliche Helligkeit. Calandryll glaubte, noch nie zuvor so viele Sterne gesehen zu haben, nicht einmal als sie das Enge Meer überquert hatten oder quer durch Lysse geritten waren. Es war, als spiegelte sich die Unermeßlichkeit Cuan na'Fors im Himmel wi der. Sie ritten wie Gespenster Meile um Meile im lang samen Galopp dahin, bis die bevorstehende Dämmerung den Himmel verblassen ließ. Bracht drosselte das Tempo, als über dem östlichen Horizont eine falsche Dämmerung aufglühte. Sie stießen auf einen Bach, wo sie kurz raste ten, um die Tiere saufen zu lassen, wagten aber nicht, länger zu verweilen, weil sie befürchteten, daß auch Wildpferde zum Saufen hierherkommen könnten, die ihrerseits die Lykarder anziehen würden. Also ritten sie
weiter, während die falsche Dämmerung wieder erlosch und sich die Welt in dunkles Grau hüllte. Schließlich wählte Bracht den Fuß eines niedrigen Hügels als Lager platz und ordnete an, daß sie eine Weile schlafen und wieder aufbrechen sollten, nachdem er die Umgebung ausgekundschaftet hatte. Calandryll hatte die erste Wache und erklomm den Hügel, von dem aus er zusah, wie die Sonne hell in den Himmel stieg. Die Welt wurde in flüssiges Feuer ge taucht, das auch in die letzten Bastionen der Nacht einsi ckerte. Überall begannen Vögel zu singen, und der Wind erwachte wieder. Calandryll hörte das Heulen eines Rudels Wildhunde, die ihre Morgenjagd begannen, und das ängstliche Wiehern von Wildpferden, übertönt von dem aggressiven Wiehern der Hengste. In der Ferne, am Rande seines Blickfeldes, entdeckte er eine grasende Herde, die plötzlich davonpreschte und nach Südwesten galoppierte, genau auf den Hügel zu. Als die Pferde näher kamen, konnte Calandryll auch kleinere Schemen ausmachen, und er erkannte, daß die Herde von einem Rudel Hunde verfolgt wurde. Er sah eine Stute strau cheln und langsamer werden. Drei Hunde näherten sich ihr und schnappten nach ihren Beinen. Zwei weitere Hunde griffen sie von vorn an. Dann brach ein Hengst seine Flucht ab, kehrte um und stürzte sich auf die An greifer. Calandryll verfolgte das Drama fasziniert, sah, wie der Hengst mitten in die Hunde hineinstieß, einen umwarf, der sich jaulend überschlug, und herumwirbel te, um den gestürzten Hund mit den Hufen zu bearbei
ten. Ein zweiter wurde von den Hinterhufen davon geschleudert, und dann war die Stute wieder frei und rannte davon. Der Hengst blieb einen Augenblick lang stehen, tänzelte heftig atmend auf der Stelle und wieher te schrill, bevor auch er kehrt machte und der Herde hinterherjagte. Calandryll verfolgte den Weg der Pferde, sah, wie eine Gruppe Hunde aus der Jagdmeute ausbrach und über ein junges, lahmendes Pferd herfiel. Es hatte weniger Glück als die Stute. Schon bald waren seine Sehnen zerbissen, und kurz darauf war es tot. Calandryll wandte sich von dem blutigen Festmahl der Hunde ab und beobachtete erneut die Herde, die jetzt die Richtung wechselte und nach Westen lief, auf die vom Wind zerrissenen Rauch fäden zu, die über dem Lager der ni Larrhyn aufstiegen. Die Entfernung war so groß, daß Calandryll nur ein paar verwaschene Flecken in der Grasebene ausmachen konn te, die Andeutung großer Zelte, aber kurz darauf sah er Reiter aus dem Lager kommen, wahrscheinlich durch das Wiehern der Pferde oder das Jaulen ihrer Jäger angelockt. Er duckte sich dicht auf den Boden. Zwar war er sicher, daß ihn niemand über diese Entfernung hinweg sehen konnte, aber er wollte trotzdem jedes Risiko vermeiden. Als sich die Herde und die Reiter begegneten, bogen die Pferde nach Norden ab, während die Lykarder an ihnen vorbeijagten und ihre Pfeile auf die Hunde ab schossen. Undeutlich konnte Calandryll das Jaulen der getroffenen Tiere hören, dann war das Rudel plötzlich
verschwunden, mit dem Gras verschmolzen, und die Lykarder setzten der Herde nach. Dort, wo das lahmende Pferd gerissen worden war, kreisten Vögel, schwarze Silhouetten vor dem Morgenhimmel, die darauf warte ten, daß die Hunde ihr Mahl beendeten und sie das ihre beginnen konnten. Calandryll seufzte und trauerte um das junge Pferd, obwohl er wußte, daß das der unvermeidliche Kreislauf des Lebens war. Er fuhr mit den Händen durch das tau nasse Gras und rieb sich das Gesicht, murmelte ein an Dera gerichtetes Gebet und vorsichtshalber auch noch eins an Ahrd, denn das Drama, dessen Zeuge er gewor den war, hatte ihn wieder daran erinnert, wie dicht Le ben und Tod in diesem weiten und offenen Land beiein anderlagen. Nachdem die Sonne noch etwas höher geklettert war, weckte er Bracht und zeigte ihm das Lager der Lykarder. Der Kerner nickte brummend und sagte: »So nah, wie ihr Lager liegt, sollten wir lieber den Tag über schlafen und in der Nacht weiterreiten.« »Soll ich den Pferden die Sättel abnehmen?« fragte Ca landryll. »Besser nicht, denke ich.« Bracht starrte mit ernstem Gesicht auf die Rauchfäden. »Es könnte passieren, daß wir ganz schnell verschwinden müssen.« Calandryll zuckte die Achseln, ließ den Kerner allein, ging den Hügel hinunter und streckte sich müde auf seiner Decke aus.
Von der Sonne angenehm gewärmt, fiel er schon bald in einen tiefen und festen Schlaf, aus dem er nur langsam wieder erwachte. Zuerst wußte er nicht, wo er war, und zuckte zusammen, als er hörte, wie irgend etwas über Metall schabte. Seine rechte Hand umklammerte den Griff seines Schwertes, noch bevor er sich erinnerte, daß er am Fuß eines Hügels in Cuan na'For lag, nicht weit entfernt von einer Gruppe feindlicher ni Larrhyn. Sofort zog er das Schwert aus der Scheide, rollte sich zur Seite, ging in Hockstellung und blinzelte den Schlaf aus den Augen. Er sah, wie Bracht grinsend von seinem Krumm schwert aufblickte, das er gerade gewetzt hatte, und stieß das Schwert zurück in die Scheide. »Alles in Ordnung«, sagte Bracht. »Katya hält Wache. Du hast den größten Teil des Tages verschlafen.« Calandryll warf einen Blick in den Himmel. Die Sonne näherte sich bereits dem westlichen Horizont. Katya kauerte auf der Hügelkuppe, den Bogen über die Knie gelegt. Ein Stückchen weiter grasten die Pferde zufrie den. Er tastete nach seiner Wasserflasche und trank einen tiefen Zug. Sein Magen begann zu knurren. Bracht schmunzelte und deutete auf die Satteltaschen, die in der Nähe lagen. »Es gibt mal wieder kaltes Essen. Und dabei wird es bleiben, bis wir einen sichereren Ort gefunden haben.« Das reichte Calandryll völlig aus. Trockenfleisch und Zwieback essen zu können, ohne mit unmittelbar dro henden kriegerischen Auseinandersetzungen rechnen zu
müssen, schien ihm geradezu ein Luxus zu sein. Nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, suchte er ei ne Stelle, wo er ungestört ein anderes Bedürfnis befriedi gen konnte. Dann kehrte er zu Bracht zurück, hockte sich neben ihn und bearbeitete sein Schwert und den Lang dolch mit einem Wetzstein. »Werden wir jetzt immer nachts reiten?« fragte er. Bracht schüttelte den Kopf. »Vielleicht die nächste Zeit. In ein oder zwei Tagen werden wir diese Weide gründe verlassen haben und können wieder tagsüber reiten.« »Also treiben sich da keine weiteren ni Larrhyn her um?« hakte Calandryll nach. »Noch nicht«, erwiderte Bracht. »Im Frühling verstreuen sich die Familien. Wenn wir diese Gruppe erst einmal hinter uns gelassen haben, werden wir eine Zeit lang unbehelligt bleiben.« Calandryll nickte und dachte eine Weile nach, bevor er fragte: »Kommen sie nicht zusammen?« »Dazu ist es noch zu früh«, sagte Bracht. »Erst wenn alle Stuten ihre Fohlen geworfen haben. Dann, zum Sommeranfang, versammeln sich die Familien in der Nähe des Cuan na'Dru, um Ahrd für seine reichlichen Gaben zu danken und ihn um seinen Segen zu bitten. Das gleiche geschieht noch einmal kurz vor dem Winter. Jetzt aber sind die Familien weit verstreut. Wir hatten Glück, zu dieser Jahreszeit nach Cuan na'For zu kom men.«
»Glück?« murmelte Calandryll. »Oder gibt es da ir gendeinen übergeordneten Plan?« »Was auch immer.« Bracht zuckte die Achseln. »Für uns ist es auf jeden Fall günstig.« »Ich frage mich, ob nicht die Jüngeren Götter irgend wie dabei die Hand im Spiel hatten«, sagte Calandryll nachdenklich. »Hätte uns Burash nicht so schnell über das Enge Meer gebracht…« Bracht grunzte. »Vielleicht. Aber hätten uns die Chai paku nicht geschnappt, hätte Burash vielleicht nicht eingegriffen. Hat also auch die Bruderschaft ihre Rolle gespielt?« »Vielleicht hat sie das«, meinte Calandryll. »Wenn auch unwissentlich.« Bracht schmunzelte. »Auf ihre Hilfe würde ich gerne verzichten.« »Trotzdem.« Plötzlich freute sich Calandryll über die se Zwangspause, die ihm die Zeit gab, solche philosophi schen Überlegungen anstellen zu können. »Wir haben schon früher davon gesprochen, daß es so aussieht, als würde sich Tharn in seinem Gefängnis regen und die Welt beeinflussen. Warum nicht auch Balatur? Vielleicht spielt auch er durch seine Träume eine Rolle in diesem Spiel.« »Mag sein«, räumte Bracht ein, »vielleicht war es aber auch nicht mehr als ein glücklicher Zufall, der uns zu einem günstigen Zeitpunkt nach Lysse zurückgebracht und über das Gann-Gebirge geführt hat.«
Calandryll nickte. »Oder die Jüngeren Götter haben uns auf ihre Art geholfen. Oder Balatur selbst.« »Wenn dem so ist«, sagte Bracht zweifelnd, »warum halten sie dann Rhythamun nicht selbst auf?« »Das verbietet irgendein übergeordneter Plan«, erklär te Calandryll. »Dera hat uns gesagt, daß ihrer Hilfe be stimmte Grenzen gesetzt sind, daß dies eine Angelegen heit der Menschen ist und deshalb auch von Menschen erledigt werden muß.« »Sie hat nur mit dir und Katya gesprochen«, rief ihm Bracht in Erinnerung, »nicht mit mir. Wenn hier irgend ein Plan existiert, kann ich ihn jedenfalls nicht erkennen. Ich sehe nur, daß wir drei Rhythamun verfolgen, dabei kaum Unterstützung bekommen und uns auf uns selbst verlassen müssen.« »Ich glaube, es steckt mehr dahinter«, behauptete Ca landryll mit Nachdruck. »Dann solltest du beten, daß Ahrd ein paar Wälder in unseren Weg gepflanzt hat«, entgegnete Bracht, »denn dort werden wir keinen Lykardern begegnen.« »Warum nicht?« Der Kerner runzelte einen Moment lang die Stirn. Sei nem Gesichtsausdruck nach hatte Calandryll eine derart dämliche Frage gestellt, daß er keine passende Antwort darauf parat hatte. Doch dann lächelte er, und sein dunk les Gesicht wurde wieder freundlicher. »Ich vergesse immer wieder, daß du nur wenig über Cuan na'For weißt«, sagte er mit kameradschaftlicher Geduld. »Cuan
na'For ist das Land der Pferde und Reiter, nicht wahr? Und Pferde leben in der Grassteppe.« Er machte eine ausladende Bewegung mit dem Krummschwert, die die gesamte Prärie umfaßte. »Da es hier so viel davon gibt, haben sie nichts für Wälder übrig, und deshalb leben sowohl die Pferde als auch die Menschen in den offenen Ebenen und nicht in den Wäldern.« Das klang einleuchtend, und Calandryll nickte. »Also sind wir in den Wäldern sicher«, sagte er. »Aye«, bestätigte Bracht. »Aber ihr benutzt doch bestimmt auch Holz?« »Das ist richtig.« Bracht prüfte die Schneide des Krummschwertes vorsichtig mit dem Daumen, brummte zufrieden und schob es in die Scheide zurück. »Für die großen Wagen, Zeltstangen, Sättel und dergleichen. Aber das holen wir uns aus den Wäldern, die Ahrd uns zu berühren gestattet. Und niemals von Eichen!« »Woher wißt ihr, welche Bäume ihr berühren dürft und welche nicht?« wollte Calandryll wissen. »Das entscheiden die Drachomannii, die Geisterspre cher«, erklärte Bracht. »Sie sprechen mit Ahrd, und er berät sie.« Calandryll nickte erneut. »Diese Geistersprecher…«, begann er, aber Bracht schnitt ihm mit einer schnellen Handbewegung das Wort ab. »Du solltest lieber nicht über sie sprechen«, sagte er hastig und deutete in die Richtung, in der das Lager der
ni Larrhyn lag. »Einer wird auch dort sein. Und sie haben gute Ohren. Sollte er dich hören…« Er zuckte die Achseln und ließ den Satz offen. Ca landryll akzeptierte das. Es gab noch so vieles, was er über Cuan na'For und die hier gebräuchlichen Sitten lernen mußte, eine Menge Dinge, die in den Arbeiten von Medith und Sarnium oder der anderen Gelehrten und Historiker, die er früher so eifrig gelesen hatte, nicht erwähnt wurden. Das schien schon endlos lange her zu sein. Vielleicht würde er eines Tages alles niederschrei ben, alles, was er auf seinen Reisen erfahren hatte … Er mußte über diese Vorstellung lächeln und erinnerte sich, daß er schon einmal daran gedacht hatte. Und daß diese Mission erst einmal abgeschlossen werden mußte, und zwar erfolgreich, bevor er sich um derartige Dinge kümmern konnte, denn andernfalls würden Bracht, Ka tya und er mit Sicherheit Rhythamuns wahnsinnigem Ehrgeiz zum Opfer fallen. Er legte den Wetzstein beiseite und registrierte, daß der Himmel im Osten bereits dunkler wurde. Schon bald würden sie sich wieder auf den Weg machen. Als die Sonne untergegangen war und der westliche Horizont rot leuchtete, rief Bracht Katya zu, ihren Posten zu verlassen. Sie aßen ein eilig zusammengestelltes A bendessen und stiegen beim letzten Tageslicht in die Sättel. Über ihnen begannen unzählige Sterne zu funkeln. Wieder wurde die Nacht vom Licht des Mondes und der Sterne erhellt, und sie kamen fast so schnell wie bei Ta
geslicht voran. Hinter ihnen blieb der bedrohliche Wider schein der Feuer aus dem Lager der ni Larrhyn zurück, vor ihnen breitete sich die offene Prärie aus. Einmal stießen sie auf ein schlafendes Hunderudel und trieben ihre Pferde zum Galopp an, als die Tiere zu kläffen und zu jaulen begannen, aber sie spritzten eher auseinander, als daß sie angriffen, und schon bald ver klang ihr wütendes Knurren wieder hinter den drei Rei tern. Zweimal störten sie Wildpferdherden auf, doch die Pferde wieherten und schnaubten nur, und die Hengste bäumten sich drohend auf, ohne ihnen jedoch gefährli cher als die Wildhunde zu werden. Sie durchquerten einen größeren Fluß und kamen durch ein kleines Wäld chen, in dem die Stümpfe gefällter Bäume verrieten, daß die Lykarder hier ihr Holz geholt hatten, aber den fri schen grünen Trieben nach zu urteilen, lag das schon längere Zeit zurück. Kurz vor dem Morgengrauen, als sich der Himmel bereits aufzuhellen begann, hielten sie an, diesmal auf flachem Land, wo ihnen weder ein Hügel noch eine Senke oder irgend etwas anderes Deckung bot. »Sollten wir nicht lieber weiterreiten?« fragte Ca landryll. »Nach einer kurzen Rast«, erwiderte Bracht und stieg ab. »Die Pferde brauchen eine Ruhepause – für den Fall, daß sie rennen müssen.« »Streifen die ni Larrhyn denn so weit umher?« wollte Katya wissen. Bracht nickte und lächelte grimmig. »So Ahrd will,
werden sie uns nicht finden.« Er nahm seinem Hengst den Sattel und dem Packpferd die Ausrüstung ab. »Wenn doch, benötigen wir ausgeruhte Tiere, es sei denn, ihr sehnt euch nach einem Kampf.« »Darauf könnte ich gerne verzichten«, sagte Katya und begann, ihren Schimmel abzureiben. »Aber das hier ist ein völlig ungeschützter Punkt.« »Wir bleiben nicht lange«, versprach der Kerner. »Nur bis die Pferde wieder zu Atem gekommen sind. Dann reiten wir weiter. Bis dahin sollten die Wachen auf der Hut sein.« Calandryll wäre lieber gleich weitergezogen, denn hier waren sie, wie Katya bereits festgestellt hatte, meilenweit zu sehen, und obwohl er Brachts Beispiel folgte, dem Braunen den Sattel abnahm und sich um ihn kümmerte, war er sehr nervös. Viel zu nervös, um einzuschlafen. Bracht übernahm die erste Wache und wies seine Gefähr ten an, sich auszuruhen, aber als Calandryll sich auf seiner Decke ausstreckte und die Augen schloß, konnte er nur daran denken, daß jeden Moment umherziehende Lykarder auf sie stoßen könnten, und seine Ohren lauschten ununterbrochen auf das Geräusch von trom melnden Hufschlägen und einen Warnschrei. Als der Morgen anbrach, war noch immer alles ruhig, aber Ca landryll konnte trotzdem nicht einschlafen, und nachdem er sich eine Weile ruhelos herumgewälzt hatte, während Katya schlief – anscheinend konnte sie sich wie Bracht jederzeit entspannen –, stand er auf und ging zu Bracht.
»Ich kann nicht einschlafen«, murmelte er, als Bracht ihm einen flüchtigen Blick zuwarf. »Soll ich deine Wache übernehmen?« »Wir können sie uns teilen.« Bracht ließ ein kurzes Grinsen aufblitzen, aber Ca landryll erkannte den düsteren Gesichtsausdruck des anderen und begriff auf einmal, daß die scheinbare Zu versicht des Kerners nicht auf der Überzeugung beruhte, daß sie sich in Sicherheit befanden, sondern eher dazu dienen sollte, seine Gefährten zu beruhigen und ihnen etwas Schlaf zu ermöglichen. »Du glaubst, daß sie uns finden werden«, sagte Ca landryll langsam. »Ich halte es für möglich«, erwiderte Bracht. »Aber die Pferde brauchen trotzdem eine Ruhepause.« »Und wenn sie uns finden?« »Dann fliehen oder kämpfen wir. Kommt darauf an.« »Worauf?« »Darauf, wie viele es sind. Darauf, wie versessen sie auf einen Kampf sind.« Calandryll nickte. Ihm gefielen beide Möglichkeiten nicht sonderlich, aber er fand sich damit ab, daß eine Verständigung unmöglich sein würde. »Sie werden sofort erkennen, daß ich ein Asyther bin«, führte Bracht aus, »und schon allein deshalb versuchen, mich zu töten – ich habe unbefugt ihre Weidegründe betreten. Wenn sie aber erkennen, welcher Asyther ich
bin, nun…« Er lachte leise und bitter. »Dann werden sie versuchen, mich zu Jehenne zu bringen.« Der Gedanke ließ Calandryll erschaudern. »Aber wenn wir sie abhängen können, werden wir das doch tun, oder?« wollte er wissen. Bracht schwieg eine Weile, bevor er antwortete. »Ich werde das jetzt nur einmal sagen, für den Fall, daß die Ohren, von denen wir vor kurzem gesprochen haben, uns hören. Wenn die Lykarder uns entdecken, werden sie den anderen Bescheid geben. Die Geistersprecher können sich über große Entfernungen verständigen und würden zweifellos jedes Lager zwischen hier und dem Cuan na'Dru über unsere Anwesenheit informieren. Wenn uns nur wenige entdecken, ist es für uns am si chersten, sie zu töten, ihre Leichen den Hunden zu über lassen und ihre Pferde zu verjagen, damit sie sich den wilden Herden anschließen. So könnten wir eine Entde ckung länger hinauszögern.« »Selbst wenn sie nicht mit uns kämpfen wollen?« Ca landryll runzelte die Stirn. »Selbst wenn wir sie abhän gen könnten?« »Selbst dann«, bestätigte Bracht. »Es sei denn, du möchtest, daß uns alle ni Larrhyn jagen.« »Und wenn es zu viele sind?« fragte Calandryll. »Zu viele, um sie zu töten?« »Dann fliehen wir.« Bracht zuckte die Achseln. »Und beten, daß Ahrd uns beschützt.« Calandryll seufzte. Wie es schien, würde er wieder
unschuldiges Blut vergießen müssen, wenn auch das von Menschen, die ihre Mission zum Scheitern bringen wür den, ohne die Hintergründe zu kennen. Es blieb ein Ge wissenskonflikt für ihn. Er konnte immer noch nicht akzeptieren, daß der Zweck, wie edel er auch sein moch te, die Mittel heiligte, aber trotzdem sah er einfach keine andere Möglichkeit, sollte es zu einem Kampf kommen. »Gebe Ahrd, daß uns niemand in die Quere kommt«, sagte er. »Aye«, erwiderte Bracht tonlos. Sie rasteten noch eine Weile, bis die Sonne eine Hand breit über den Horizont geklettert war und der Kerner erklärte, daß die Tiere sich ausreichend erholt hätten. Dann weckten sie Katya und sattelten die Pferde. Im Osten türmten sich dunkle Wolken auf und kündigten Regen an, der noch vor Sonnenuntergang hereinbrechen würde. Trotzdem blieb der Tag warm und hell, der Früh ling näherte sich unaufhaltsam dem Sommer. Während sie dahinritten, begann Calandryll zu hoffen, daß seine Befürchtungen unbegründet waren, obwohl sie die bis her weiteste Ebene durchquerten. Bis zum Mittag waren sie keiner Menschenseele be gegnet, nur Pferden, Wildhunden und Vögeln. Sie mach ten eine kurze Rast, aßen hastig eine Kleinigkeit und ritten weiter. Die Wolken kamen ständig näher und quol len zu riesigen Säulen auf, in denen von Zeit zu Zeit Blitze aufzuckten, und unter ihnen bildeten sich Regen vorhänge. Bracht legte einen verhaltenen Galopp vor,
hielt immer wieder kurz an und richtete sich in den Steigbügeln auf oder kletterte sogar auf den Sattel, um von dort aus die Umgebung besser überblicken zu kön nen. Gegen Mitte des Nachmittags stieß er einen Fluch aus und forderte seine Gefährten lautstark auf, Tempo zuzulegen. Sie gehorchten augenblicklich, trieben ihre Pferde zu einem schnellen Galopp an, verließen ihre ursprüngliche Richtung und schwenkten nach Westen. Das Trommeln der Hufe wurde von dem noch immer fernen Donner grollen begleitet. »Sieben Reiter!« schrie Bracht über den Lärm hinweg. »Rechts vor uns. Sie kommen direkt auf uns zu!« Calandryll warf einen Blick nach Osten und beschwor das Gewitter, schneller heranzuziehen. Der Regen und die Blitze würden ihnen einen gewissen Schutz bieten und es ihnen vielleicht sogar ermöglichen, einen tödli chen Kampf zu vermeiden. Aber während er daran dach te, darum betete, wußte er schon, daß es eine vergebliche Hoffnung war. »Haben sie uns gesehen?« fragte Katya. »Vielleicht noch nicht«, erwiderte Bracht. »Aber wahr scheinlich wird das nicht mehr lange dauern.« »Können wir uns denn nicht verstecken?« erkundigte sich Calandryll. »So, wie wir das schon einmal getan haben?« »Nicht hier.« Bracht deutete mit einer ärgerlichen Ges te auf die flache Prärie. »Hier würden sie uns sehen. Es
ist besser, wenn wir im Sattel bleiben. So Ahrd will, wer den sie uns nur für drei Asyther halten, die ihr Territori um heimlich durchqueren wollen und keine Verfol gungsjagd wert sind.« Aber diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Wenigs tens einer der Lykarder mußte ähnlich scharfe Augen wie Bracht haben, denn schon kurz darauf entdeckte auch Calandryll die Reiter, die deutlich sichtbar die Richtung wechselten und auf die Eindringlinge zuhielten. Sie trie ben eine kleine Herde vor sich her, und ihre kriegeri schen Absichten waren unverkennbar, als sie die Wild pferde sich selbst überließen, ihre Pferde zum vollen Galopp antrieben und sie durch die sich zerstreuende Herde jagten. Der Wind trieb ihre Schreie herüber, und Calandryll sah, wie sie ihre Bögen ergriffen und Pfeile auf die Sehnen legten, was auch die letzten Zweifel an ihren Absichten beseitigte. Er bemerkte, daß auch Bracht seinen Bogen hervorzog, die Zügel um das Sattelhorn schlang und den Hengst nur noch mit dem Druck seiner Knie lenkte. »Wir können sie noch abhängen!« rief Calandryll. »Sie haben es auf einen Kampf abgesehen!« schrie Bracht zurück, während er das Seil löste, das seinen Hengst mit dem Packpferd verband. »Sie lassen uns keine andere Wahl!« Calandryll fragte sich, ob es tatsächlich Begeisterung war, die er aus der Stimme des Kerners heraushörte, als Bracht den großen Rappen herumriß und mit einem
lauten Schrei den angreifenden Lykardern entgegen stürmte. Auf jeden Fall entdeckte er ein wildes Grinsen auf dem Gesicht des Kriegers. Er sah, daß Katya ihren Säbel gezogen hatte. Vermutlich setzte sie auch nicht mehr Vertrauen als er in ihre Fähigkeit, einen Bogen vom Rücken eines rennenden Pferdes aus vernünftig handha ben zu können. Sie wendete ihren Schimmel und folgte dem Hengst. Mit einem letzten bedauernden Stöhnen zog auch Calandryll sein Schwert und stieß dem Braunen die Fersen in die Weichen. Sie kamen näher, die Kriegsschreie der Lykarder klan gen jetzt genauso laut wie Brachts Brüllen. Pfeile zischten durch die Luft, die Metallspitzen schimmerten tödlich in der Sonne. Calandryll sah einen braunhaarigen Mann mit einem Pfeil zwischen den Rippen rückwärts von seinem Pferd stürzen. Er duckte sich tief über den Hals des Braunen, als Brachts Geschosse erwidert wurden und dicht über seinen Kopf zischten. Er spürte, wie ihm einer ein Haarbüschel aus der Kopfhaut riß und ein anderer an seinem Ärmel zupfte. Dann stießen sie aufeinander, und er vergaß alle Zwei fel, als er einen Krieger mit wild verzerrtem Gesicht auf seine Brust zielen sah. Er drehte sich verzweifelt im Sat tel, um dem tödlichen Schuß zu entgehen, trieb das Pferd noch schneller in dem Versuch an, die Entfernung zu verkürzen und sein Schwert benutzen zu können, sah, wie der Mann die Bogensehne losschnellen ließ, im glei chen Moment den Bogen wegwarf und nach seinem
Schwert griff. Calandryll spürte irgend etwas in seine linke Schulter einschlagen. Es war wie ein kräftiger Fausthieb. Das Gesicht des Lykarders verzog sich zu einem triumphierenden Grinsen, und ihn überkam eine grenzenlose Wut darüber, daß dieser unbekannte Clans mann versuchte, ihn umzubringen und seine Mission zu beenden. Die Wut löschte alle anderen Empfindungen außer den Willen, zu überleben, in ihm aus, und er lenkte sein Pferd direkt auf den Mann zu, das Schwert zum Schlag erhoben, als der Lykarder seine eigene Waffe hochriß. Calandryll schmetterte sie zur Seite, und seine Klinge schlitzte die Ledertunika des Kriegers auf. Blut spritzte aus der langen Schnittwunde hervor. Das Pferd des Lykarders drehte sich zur Seite, dann war er an ihm vorbei. Calandryll schlug noch einmal zu und traf den Mann von hinten in die Wirbelsäule. Der Lykarder stieß einen schrillen Schrei aus, fuhr kerzengerade auf, krümmte sich wieder zusammen und kippte seitlich aus dem Sattel. Der Schwung trieb Calandryll mitten durch das Schlachtengetümmel hindurch. Er duckte sich unter einem Schwerthieb weg, stieß zu und hörte ein schmerzerfülltes Ächzen, spürte seine Klinge vibrieren, als sie auf Knochen traf. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er undeutlich wahr, daß Bracht und Katya die Schläge ihrer Gegner parierten und erwiderten. Ihre Klingen schimmerten rötlich. Er riß den Wallach herum, ging erneut zum Angriff über und schlug einen Mann aus dem Sattel, in dessen Seite bereits zwei von Brachts
Pfeilen steckten. Und dann war der Kampf urplötzlich zu Ende. Die Lykarder lagen blutüberströmt im zertrampel ten Gras, ihre Pferde tänzelten und wieherten nervös. Bracht blutete aus einer Schnittwunde an der Hand, Katya war unverletzt. »Katya, das Packpferd!« zischte Bracht. »Calandryll, hilf mir mit den Tieren der ni Larrhyn!« »Sollen wir sie mitnehmen?« fragte Calandryll. Bracht schüttelte den Kopf. »Nein, wir nehmen ihnen nur die Sättel und das Zaumzeug ab und lassen sie lau fen. Dann werden sie sich wahrscheinlich den Wildpfer den anschließen und nicht ins Lager zurückkehren, wo sie die ni Larrhyn warnen würden. So verschaffen wir uns etwas Zeit.« Calandryll nickte, schob das Schwert in die Scheide und schwang sich aus dem Sattel. Dabei spürte er, wie irgend etwas an ihm riß und ein heißer Schmerz wie ein Blitz durch seinen linken Arm und die linke Körperseite zuckte. Schlagartig trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn, und er begann zu zittern. Er schüttelte den Kopf. Einen Moment lang verschwamm die Umgebung vor seinen Augen, als würde Wasser seine Sicht trüben. Er hielt die Zügel des Braunen in der linken Hand und zog daran, um den Wallach von dem Schauplatz des Gemetzels fortzuführen. Das Tier warf den Kopf hoch, und wieder brannte der Schmerz in seiner Schulter wie Feuer. Die Zügel entglitten seinem Griff. Er drehte den Kopf zur Seite und sah einen karmesinrot und gelb gefiederten
Schaft ein Stückchen aus seiner Schulter ragen. Als er ihn mit der rechten Hand berührte, explodierte der Schmerz wie ein Donnerschlag in seinem Schädel. Daß er zu Boden gefallen war, begriff er erst, als er Brachts sorgenvolles Gesicht über sich sah. »Ahrd!« hörte er den Kerner keuchen. »Du bist getrof fen!« »Aye«, erwiderte er, oder zumindest glaubte er, es ge sagt zu haben. Er war sich nicht sicher, denn im selben Moment versank die Welt um ihn herum in bodenloser Schwärze.
KAPITEL 15 Die Schmerzen rissen Calandryll aus der schützenden Ohnmacht, so wie ein Fisch von einem Angelhaken aus den Tiefen des Meeres gerissen wird. Wie sehr er auch dagegen ankämpfte, sie ließen sich nicht vertreiben, und er öffnete die Augen, als ihm ein schriller Schrei in die Ohren drang, den er, wie ihm undeutlich bewußt wurde, selbst ausgestoßen hatte. Er erblickte Brachts Gesicht. Der Kerner hatte die Augen vor Konzentration zu schmalen Schlitzen verengt, sein Mund war ein dünner Strich. Calandryll sah den blutigen Dolch in der rechten Hand seines Gefährten und einen nicht weniger blutigen Pfeil in seiner linken. Er versuchte aufzustehen, aber kräftige Hände drückten ihn zu Boden, und er hörte Katyas Stimme. »Bleib ruhig liegen.« Sie sagte noch irgend et was, das er nicht verstand, denn in diesem Augenblick kamen die Schmerzen wie eine mächtige Welle zurück, die über ihm zusammenschlug und ihn wieder in die Dunkelheit schleuderte. Dann wurde die Dunkelheit von rotem Licht davongespült, und er sah – wie aus einiger Entfernung, als würde er sich außerhalb seines eigenen Körpers befinden – die rotglühende Klinge, die Bracht gegen seine Schulter preßte. Die Schmerzen waren so bestialisch, daß er sich unter Katyas Händen wand und
aufbäumte, und sie nahmen ein solches Ausmaß an, daß er erneut das Bewußtsein verlor und wieder in bodenlo ser Schwärze versank. Irgendwann – er hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war – spürte er Nässe auf Händen und Ge sicht. Die ganze Welt war schwarz geworden, aber im mer wieder wurde die Prärie von großen Blitzen in sil bernes Licht getaucht. Undeutlich begriff er, daß der Sturm sie erreicht hatte. Der Donner hallte wie ferne unrhythmische Trommelschläge in seinen Ohren wider, die Blitze waren eine unregelmäßige Abfolge gleißenden Lichts, die er kaum richtig wahrnahm. Verschwommen wurde ihm klar, daß er auf einem Pferd saß und das Tier galoppierte, denn mit jedem Hufschlag schoß ein neuer Schmerzstoß durch seinen Körper. In irgendeinem Teil seines Verstandes, der nicht völlig von den Schmerzen in Anspruch genommen wurde, fragte er sich, wieso er im Sattel blieb, und er sagte sich, daß Bracht ihn wahrschein lich dort festgebunden hatte, denn er glaubte nicht, daß er noch aus eigener Kraft hätte reiten können. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Das glühende Hämmern seiner Wunde beanspruchte seine gesamte Aufmerksamkeit und erstickte alle anderen Überlegungen, außer der Angst, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Er schloß die Augen, biß die Zähne zusammen und ver suchte, die Schmerzen mit einer Willensanstrengung erträglicher zu machen, aber er hatte nicht den gerings ten Einfluß darauf und sackte in sich zusammen. Sein Kopf hing schlaff auf seiner Brust, wippte bei jeder Be
wegung des Pferdes auf und ab, und wieder umfing ihn die Finsternis der Bewußtlosigkeit. Als er das nächste Mal die Augen öffnete, hatte es auf gehört zu regnen, und der Gewittersturm entfernte sich wie auf Stelzen aus reinem Silberlicht in westlicher Rich tung. Sein Gesicht glühte, obwohl ihm ein eisiger Wind entgegenblies, und er erschauderte. Sein Mund war tro cken, seine Kehle wie ausgedörrt. Er wollte etwas trin ken, aber als er versuchte, nach seiner Wasserflasche zu greifen, stellte er fest, daß sein rechtes Handgelenk am Sattelknauf befestigt und sein linker Arm vor seiner Brust festgezurrt war. Calandryll versuchte zu rufen, brachte aber nur einen krächzenden Laut zustande, der vom Wind verschluckt wurde. Er blinzelte, war sich nicht sicher, ob es Regentropfen oder Tränen waren, die seine Sicht verschleierten, und sah, daß ein Seil sein Pferd mit Brachts Hengst verband. Katya ritt dicht neben ihm und führte das Packpferd. Sie sah, daß er den Kopf bewegte, und rief ihm irgend etwas zu, aber er konnte sie nicht verstehen und schloß wieder die Augen, dankbar, daß sie anscheinend das Tempo gedrosselt hatten und die Schmerzen ein wenig schwächer geworden waren. Danach war es dunkel, und er spürte keine Bewegung mehr. Langsam wurde ihm bewußt, daß sie angehalten hatten und er auf dem Rücken neben einem Feuer lag. Er glaubte nicht, daß es regnete, und er fragte sich, warum sein Gesicht noch immer naß war, warum sich sein Kör per abwechselnd glühend heiß und eiskalt anfühlte. Er
stöhnte, als sich ein Arm um seine Schultern legte und ihn hochzog, und er erkannte Brachts Gesicht dicht vor dem seinen. Der Kerner sprach zu ihm, aber wieder blie ben die Worte unverständlich, wurden von dem Nebel erstickt, der in Calandrylls Kopf wallte, und er brachte nur ein kraftloses unzusammenhängendes Stammeln als Antwort zustande. Er gab den Versuch auf – es war viel zu anstrengend zu reden – und lag schlotternd in Brachts Armen, während Katya ihm mit einem Löffel Fleischbrü he einflößte. Ihr Gesicht war viel zu verschwommen, als daß er ihre Sorge hätte bemerken können. Er schluckte die Brühe, so gut er konnte, und schloß wieder die Au gen, wollte nur noch schlafen und den Schmerzen ent fliehen. Dann spürte er, wie er bewegt wurde und die Schmer zen sofort zurückkehrten. Er schrie auf, als er auf die Füße gezogen wurde, wollte nicht mehr im Sattel des Braunen sitzen, nicht mehr die hämmernden Qualen eines weiteren Rittes erleiden müssen. »Du mußt«, hörte er Bracht sagen. Die Stimme erreich te ihn wie aus weiter Ferne, wie ein Ruf, den der Wind zu ihm herübertrug. »Diese Stelle ist viel zu ungeschützt. Wir müssen einen Wald finden.« Er grunzte und nickte und preßte die Zähne zusam men, als er in den Sattel gehoben und Seile um seine Arme und Beine geschlungen wurden. Mit der rechten Hand klammerte er sich am Sattelknauf fest. In seinem Kopf drehte es sich, das sonnendurchflutete Grasland
waberte vor seinen Augen, als wäre es eine Fata Morga na. Er begann zu zittern und wußte, daß er Fieber hatte, daß ihm der Schweiß aus allen Poren brach und die Schmerzen bald wieder beginnen würden. Dera steh mir bei, betete er stumm. Hilf mir, dies durch zustehen. Er zuckte zusammen, als der Braune mit einem unwil ligen Stampfen gegen die Zugleine protestierte, und keuchte, als die ersten Schritte ihn durchschüttelten und das Feuer in seiner Schulter von neuem entfachten. Dann erhöhte Bracht das Tempo zu einem langsamen Galopp, und Calandryll stöhnte, bemühte sich, den Laut zurück zuhalten, ihn zwischen den Zähnen zu zerbeißen. Er war sich nicht sicher, ob er durchhalten würde, und als die Schmerzen mit voller Wucht zurückkehrten und das Fieber seinen Verstand trübte, spürte er, wie seine Sin neswahrnehmungen durcheinandergerieten. Er war fast dankbar für diesen Zustand, denn er führte ihn zu einem Punkt tief in seinem Inneren, wo er für eine Weile Zu flucht finden konnte. Es schien nicht lange zu dauern, auf jeden Fall nicht lange genug, da spürte er, wie er wieder aus dem Sattel gehoben wurde, und hörte eine Stimme sagen: »Ganz langsam. Vorsichtig! Aye, hierhin. Halt ihn fest.« Seine Augen fühlten sich klebrig an, seine Kehle war so trocken und zugeschnürt, daß er kein Wort heraus brachte. In seinem Inneren brannte ein Feuer, und er fragte sich, wie ihm so kalt sein konnte, wenn er gleich
zeitig eine solche Hitze verspürte. Eiskalte Finger fuhren behutsam über seine Brust, und er schrie auf, als sie seine Schulter betasteten. Hatten ihn die Lykarder gefangen genommen? Folterten sie ihn? Seine Kameraden würden ihm doch bestimmt nicht derartige Qualen zufügen. Er kämpfte gegen die Hände an, die ihn auf dem Boden festhielten, und hörte Katyas beschwörende Stimme in seinem Ohr. »Calandryll, du bist in Sicherheit! Wir haben ein Ver steck im Wald gefunden, und du kannst dich jetzt ausru hen. Aber du mußt uns deine Wunde untersuchen lassen. Versuch, ruhig zu liegen.« Er nickte oder glaubte zumindest es zu tun, stöhnte eine Bestätigung oder bildete es sich ein. Er hätte nicht sagen können, was davon zutraf, denn in diesem Augen blick machten sich die Finger wieder an seiner Schulter zu schaffen, und er bäumte sich schreiend auf. »Ahrd! Halt ihn fest, sonst reißt er sich die Wunde noch tiefer auf!« Er erkannte Brachts Stimme. »Die Wun de hat sich entzündet. Verfluchte Lykarder…« »War der Pfeil vergiftet?« Katyas nüchterne Frage erfüllte ihn mit neuer Furcht, die jedoch von Brachts Antwort ein wenig besänftigt wurde. »Nein, aber er ist tief eingedrungen. Der Muskel ist zerrissen, und er hat viel Blut verloren. Ich muß die Wunde noch einmal säubern.« Die Finger entfernten sich für einen Moment und
kehrten dann zurück. Ein Brüllen ließ seine Ohren dröh nen, die Dunkelheit kam wieder, von einer roten Welle aus Schmerzen getragen, die ihn davonspülte, und dann merkte er überhaupt nichts mehr, bis er das nächste Mal die Augen aufschlug. Sonnenlicht sickerte golden und grünlich durch das Laubdach über ihm. Vögel sangen, die Luft roch nach dem Rauch eines Lagerfeuers und nach Humus. Ein Pferd schnaubte, und in der Nähe klang das Plätschern eines Baches auf, das Murmeln leiser Stimmen. Calandryll fühlte sich schwach. Aufzustehen erschien ihm zu anstrengend, deshalb drehte er nur den Kopf zur Seite und erblickte eine von dicken Baumstämmen ge säumte grasbewachsene Lichtung, durch die ein Wild bach floß. Auf der anderen Seite der Lichtung standen die Pferde. Er drehte den Kopf ein Stückchen weiter, bis sein Blick auf Bracht und Katya fiel, die lang ausgestreckt vor einem kleinen Feuer lagen. Ihre Tuniken hingen an Ästen. Das Kettenhemd der Kriegerin schimmerte und bildete einen deutlichen Kontrast zu dem schwarzen Leder, das der Kerner trug. Ihre Bögen und Köcher lagen in Griffweite, und beide hatten ihre Schwertgürtel abge schnallt. Anscheinend fühlten sie sich auf dieser Wald lichtung sicher. Calandryll lächelte, als ihm allmählich bewußt wurde, daß er wieder klar sehen konnte, daß seine Sicht nicht mehr von fiebrigem Schweiß getrübt wurde. Auch das Zittern hatte aufgehört, und das Bren
nen in seiner Schulter war zu einem gedämpften gleich mäßigen Schmerz geworden. Er stieß einen erleichterten Seufzer aus, und sofort drehten sich die Köpfe seiner Gefährten zu ihm um. »Ahrd sei Dank, du bist wieder bei Bewußtsein.« Bracht kam zu ihm herüber und hockte sich neben ihn. »Ich habe eine Zeitlang befürchtet…« Sein raubvogelartiges Gesicht teilte sich in einem Grinsen. Er hob vielsagend die Schultern, und die Geste vervollständigte den Satz genauso deutlich, wie es Worte hätten tun können. »Wir haben uns große Sorgen gemacht«, sagte Katya mit einem strahlenden Lächeln. Sie beugte sich vor und strich ihm eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. »Du warst sehr schwer verletzt.« »Und jetzt?« Seine Zunge fühlte sich pelzig an, sein Mund ge schwollen. Bracht stand auf, füllte einen Becher im Bach und flößte seinem Gefährten vorsichtig das kalte klare Wasser ein. Calandryll trank gierig. »Jetzt wirst du wieder gesund«, erklärte der Kerner. »Bald können wir wieder aufbrechen.« »Bald?« Calandryll runzelte die Stirn. Er hatte keine Ahnung, wie lange er sich im Griff des Fiebers befunden hatte und wie lange er schon hier lag; er wußte nur, daß sich Rhythamuns Vorsprung mit jedem verstreichenden Tag weiter vergrößerte. Als er Anstalten machte, sich aufzusetzen, flammte der feurige Schmerz in seiner
Schulter wieder auf, und er ließ sich mit einem Keuchen zurücksinken. »Wie lange ist bald?« Bracht zuckte die Achseln. »So lange, wie es dauert, bis deine Verletzung wieder verheilt ist. Der Lykarder hat dich aus nächster Nähe erwischt, und der Pfeil ist tief eingedrungen. Du hast nur durch Glück überlebt – oder durch die Hilfe der Götter. Es wäre besser gewesen, ich hätte dich nach dem Kampf gleich an Ort und Stelle verarztet, aber das war zu riskant. Deshalb haben wir dich auf dein Pferd geschnallt und sind weitergeritten, was deiner Wunde nicht gerade gutgetan hat.« »Wo sind wir jetzt?« fragte Calandryll. »In einem Wald, in Sicherheit«, erwiderte Bracht, »wohin die Lykarder bestimmt nicht kommen werden.« »Werden sie uns nicht verfolgen?« Der Kerner schüttelte den Kopf. »Der Sturm hat unse re Spur verwischt. Und wir sind weit von der Stelle ent fernt, an der der Kampf stattgefunden hat.« »Wie weit?« wollte Calandryll wissen. »Wie lange war ich ohnmächtig?« »Fünf Tage«, sagte Bracht. »Die meiste Zeit hast du mit dem Fieber gekämpft. Wir sind drei Tage lang gerit ten und befinden uns seit zwei Tagen hier.« »Bracht hat dir den Pfeil herausgeschnitten und die Wunde ausgebrannt«, erklärte Katya. »Trotzdem hast du viel Blut verloren und Wundfieber bekommen.« Auf einmal wurde Calandryll von einer furchtbaren
Angst gepackt. Er drehte den Kopf zur Seite, sah an sich hinab und lachte dann in grenzenloser Erleichterung auf, als er sah, daß sich sein Arm noch an seiner Schulter befand, wenn er auch stark bandagiert war. »Du bist nicht verkrüppelt«, beruhigte ihn Bracht, der den Grund für seinen Schreck erkannt hatte. »Noch bist du geschwächt, aber schon bald wirst du wieder völlig gesund und munter sein.« »Bracht ist ein hervorragender Wundarzt«, fügte Ka tya hinzu, »und er versteht eine Menge von Kräuterkun de. Du hast ihm dein Leben zu verdanken.« Der Kerner grinste über ihr Lob und sagte bescheiden: »Du hast deinen Teil dazu beigetragen, und wäre Ca landryll nicht so zäh, hätte ihn das Fieber besiegt.« »Ich danke euch beiden«, murmelte Calandryll. »Aber sollten wir nicht weiterziehen? Rhythamun…« »Ist da, wo er jetzt ist«, fiel ihm Bracht ins Wort, »und wir bleiben hier, bist du wieder vollständig genesen bist. Wenn wir jetzt weiterreiten, werde ich dir wahrschein lich den Arm abnehmen müssen.« »Und du solltest lieber beide Arme haben, wenn es zum Kampf mit ihm kommt«, sagte Katya. »Außerdem werden wir den Vorsprung, den er durch diese Verzöge rung gewinnt, bestimmt wieder wettmachen, wenn wir den Cuan na'Dru durchqueren.« Calandryll sah, wie bei Katyas Worten ein Schatten über Brachts Gesicht glitt, aber der Kerner nickte trotz dem. »Aye.« Dann lächelte er und stand auf. »Sollen wir
jetzt essen? Wir haben Wildbraten.« Calandryll hatte gar nicht an seinen Bauch gedacht, aber bei der Erwähnung von Essen stellte er fest, daß er hungrig war, und er lächelte zustimmend. »Du hast seit dem Kampf nur Fleischbrühe zu dir ge nommen«, erklärte Katya. »Gutes rotes Fleisch wird helfen, den Blutverlust wieder auszugleichen.« »Wildbraten?« fragte Calandryll. »Bracht hat einen Hirsch erlegt.« Katya schmunzelte. »Dieser Wald ist voller Wild, wir haben gut gegessen, seit wir hier sind.« Diesmal betrachtete Calandryll die Umgebung mit größerer Aufmerksamkeit und sah, daß die Lichtung von Buchen, Eschen und vereinzelten majestätischen Eichen gesäumt war. Über ihm bildeten die Äste der Bäume ein ineinander verflochtenes Gespinst, das die Lichtung mit einem sich ständig verändernden Muster verschiedener Grüntöne überzog. Vögel flatterten durch das Laubdach, Eichhörnchen huschten geschäftig von Ast zu Ast, das träge Summen von Insekten lag in der warmen Luft. Die Bäume standen in allen Richtungen so dicht, daß der Waldboden im Schatten lag, und die Lichtung schien der einzige Ort zu sein, den die Sonnenstrahlen erreichten. Sie erweckte einen sicheren Eindruck, die großen Bäume erfüllten sie mit Ruhe und Frieden, als würde Ahrd ihnen hier eine sichere Zufluchtsstätte vor Verfolgern gewäh ren. Calandryll fand, daß es ein guter Ort war, um sich zu verstecken und wieder gesund zu werden.
»Hier.« Bracht riß ihn aus seinen Gedanken und reich te ihm einen Teller, der mit gebratenem Hirschfleisch, wilden Zwiebeln und sogar einigen Kartoffeln beladen war. »Iß. Danach muß ich deine Wunde noch einmal untersuchen.« Calandryll nahm den Teller entgegen, begann zu essen und staunte über seinen Appetit. Es war gar nicht so einfach, mit nur einem Arm zurechtzukommen, aber er vertilgte den größten Teil des Essens und schob den Teller mit einem zufriedenen Seufzen beiseite. Bracht entfernte die Schlinge, die Calandrylls Arm hielt, zog ihm das Hemd von der Schulter und wickelte mit Katyas Hilfe den Verband ab. Calandryll verzog das Gesicht, als er das runzlige Fleisch, das immer noch feu errot war, und den dunklen Fleck auf seinem Hemd sah, aber er verspürte nur einen leichten Schmerz, als der Kerner die heilende Wunde berührte. Er sah zu, wie Bracht eine grünliche Masse hervorholte, mit etwas Was ser zu einer Paste verrührte, die er großzügig über die Wunde verteilte, und ihm dann einen frischen Verband anlegte. »Ist das nötig?« fragte Calandryll, als Bracht ihm den Arm wieder vor der Brust festband. »Aye«, sagte Bracht. »Du solltest den Arm die nächs ten ein oder zwei Tage am besten nicht bewegen. Trink das jetzt.« Calandryll nahm die Tasse, die Bracht ihm reichte, nippte an der bitteren Flüssigkeit und zog eine Grimasse.
Bracht lachte und sagte: »Runter damit, dann wirst du schneller wieder gesund.« »Ich habe gar nicht gewußt, daß du ein Heiler bist.« Calandryll leerte die Tasse, gab sie Bracht zurück und spürte, wie sich das Gebräu warm in seinem Bauch aus breitete. Seine Augen wurden schwer, und er gähnte. »Solche Dinge lernen wir in Cuan na'For schon als Kin der.« Brachts Antwort schien aus weiter Ferne zu kom men. »Und bisher hatte sich noch keine Notwendigkeit dafür ergeben.« »Damals in Mherut'yi, als Mehemmed mich angegrif fen hat…« Er brachte den Satz nicht zu Ende und gähnte erneut. »Dort gab es eine richtige Heilerin«, sagte Bracht. Sei ne Stimme klang leise und ging beinahe im schläfrigen Summen der Insekten und dem Plätschern des Baches unter. »Und hätten wir hier eine, würdest du noch schneller genesen. Das ist nichts weiter als ein bißchen Kräuter kunde. Heilmittel für Krieger, wenn kein Geistersprecher in der Nähe ist, um ihre Wunden zu versorgen.« »Trotzdem«, murmelte Calandryll. Seine Gedanken verwirrten sich, als ihn der Schlaf übermannte. »Du kannst das ziemlich gut.« Falls Bracht etwas darauf erwiderte, hörte Calandryll es jedenfalls nicht mehr. Ihm fielen die Augen zu, und sein Kopf sank zurück auf seinen Sattel. Die Geräusche des Waldes waren wie ein Schlaflied, das ihn sanft einni
cken ließ. Er erwachte zu einem anderen Lied, das aus den Ru fen von Eulen und dem Rascheln der Nachttiere im Un terholz bestand. Der Himmel war jetzt eine dunkelblaue Samtdecke, in der ein Vollmond die ziehenden Wolken mit silbernem Licht übermalte und sie in substanzlose Schlösser, Berge und Täler verwandelte. Calandryll sah Fledermäuse lautlos über seinem Kopf flattern. Im Schein eines kleinen Feuers am Bach zeichneten sich die Umrisse seiner Gefährten ab. Die Flammen warfen rötliches Licht auf Katyas flachsblondes Haar, in den Rauch mischte sich der verführerische Geruch gegrillten Fleisches. Ca landryll richtete sich ein wenig auf und stützte sich auf seinen gesunden Arm. Bracht bemerkte die Bewegung, stand auf und brachte ihm etwas zu essen und eine wei tere Tasse des bitteren Kräutergebräus. Calandryll trank sie widerspruchslos aus und aß gierig, wieder verblüfft über seinen Appetit. Dann sank er zurück und ließ den Schlaf und Brachts Medizin ihre heilsame Wirkung tun. So verbrachte er die nächsten beiden Tage damit, zu essen und zu schlafen, während die Pfeilwunde verheilte und der zertrennte Muskel wieder zusammenwuchs. Er unterdrückte seine Ungeduld, denn er wußte, daß er noch schwach war und seine Kraft zum Reiten und Kämpfen benötigen würde. Vorläufig gab er sich damit zufrieden, sich zu erholen, den Geräuschen des Waldes zu lauschen, die Pferde zu beobachten oder dem Kerner
und der Kriegerin bei ihren Schwertkampfübungen zu zusehen. Er fragte sich, ob es an dem Gebräu des Kerners lag, daß er ständig so schläfrig war, oder ob die Bäume selbst – besonders die Eichen, in denen nach Brachts Worten der Geist Ahrds wohnte – dafür verantwortlich waren, denn das Rascheln des Laubes klang wie eine sanfte Melodie, und das Wechselspiel von Licht und Schatten unter den schwankenden Zweigen wirkte beru higend auf sein Gemüt und half ihm, nicht die Geduld zu verlieren. Am dritten Tag jedoch wachte er gekräftigt und erholt auf und verspürte den Wunsch, aufzustehen und seinen Arm auszuprobieren. Bracht erteilte ihm die Erlaubnis, sein Essen am Feuer einzunehmen und ein wenig herumzulaufen. Er entfernte die Verbände, die Calandrylls Arm an dessen Brust fest hielten, und ermahnte ihn, sich nicht zu überanstrengen. Zuerst fühlte sich Calandryll etwas benommen – wie ein Kranker, der lange Zeit bettlägrig gewesen war und zum ersten Mal wieder aufstand –, aber das war schon bald verflogen, und er kostete seine wiedergewonnene Bewegungsfreiheit aus. Die Ungeduld kehrte in dem Maß zurück, in dem er sich erholte. Bracht wies ihn an, den Arm zu belasten, aber zuerst nur vorsichtig und langsam, denn der Muskel würde noch einige Zeit brau chen, um vollständig zu verheilen und einer größeren Anstrengung standzuhalten. Calandrylls Schulter war noch steif, er konnte sie nicht richtig bewegen, aber er zweifelte nicht daran, daß sich auch das wieder ändern
würde. »Du kannst jetzt zumindest wieder reiten«, stellte der Kerner ein paar Tage später fest. »Aber vorsichtig. Dein Arm wird erst im Sommer wieder völlig hergestellt sein.« Was nicht mehr allzulange dauern konnte, dachte Ca landryll, und dieser Gedanke fachte seine Ungeduld von neuem an. »Und wenn wir kämpfen müssen?« fragte er. »Hoffentlich kommt es nicht dazu«, erwiderte Bracht trocken. »Du wärst uns keine große Hilfe.« »Nicht mit dem Bogen«, gab Calandryll zu. »Aber mit dem Schwert?« »Auch das solltest du lieber vermeiden«, erwiderte Bracht. »Der linke Arm ist die Hälfte deines Gleichge wichtes, und bei einem Kampf vom Rücken eines ren nenden Pferdes aus…« Er hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Calandryll zog ein mürrisches Gesicht. Er wußte, daß Bracht recht hatte. »Wir können uns nicht bis zum Som mer verstecken«, sagte er. »Nein«, pflichtete ihm Bracht bei. »Deshalb werden wir auch morgen aufbrechen.« Calandrylls finsterer Gesichtsausdruck machte einem Grinsen Platz, und er nickte eifrig. »Wie lange noch, bis wir den Cuan na'Dru erreichen?« »Vielleicht in sieben Tagen, wenn uns keine Lykarder über den Weg laufen«, antwortete Bracht. »Vorausge setzt, die Gruagach gestatten uns überhaupt den Zutritt.«
Calandryll ignorierte die Zweifel des Kerners. Es muß te so sein, wie Katya glaubte: daß die Gruagach, Ahrds Helfer, sie nicht bei der Durchreise behindern, sondern ihnen im Gegenteil helfen würden. War ihre Mission nicht letztendlich mit der Rettung aller Jüngeren Götter identisch? Wie konnten sich Ahrds Diener dann gegen sie stellen? »Ich glaube, das werden sie tun«, sagte er. »Vielleicht.« Brachts Antwort war leise und unsicher, und nachdem sie an diesem Abend gegessen hatten, stand er auf und ging in den Wald. Calandryll öffnete den Mund, um ihn zu fragen, was er vorhätte, aber Katya ergriff sein Hand gelenk und schüttelte den Kopf. »Er geht beten«, murmelte sie und sah dem Kerner hinterher. »Er hat sich immer noch nicht mit dem Ge danken angefreundet, den Cuan na'Dru zu betreten.« »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sich die Gruagach uns gegenüber feindlich verhalten werden«, sagte Ca landryll. »Ich auch nicht«, erwiderte Katya. »Aber wir stammen nicht aus Cuan na'For, und Brachts Zweifel sind sehr real.« »Dann bete ich darum, daß Ahrd ihm antwortet«, meinte Calandryll. Falls der Gott dem Kerner eine solche Zusicherung gegeben hatte, erwähnte Bracht bei seiner Rückkehr jedenfalls nichts davon. Er setzte sich wortlos ins Gras neben das Feuer und begann, sein Schwert zu wetzen.
Sein dunkles Gesicht war so gedankenverloren, daß seine Gefährten darauf verzichteten, ihm Fragen zu stellen. Statt dessen sahen sie ihm schweigend zu, bis er seine Arbeit beendet hatte. Auch danach erklärte er nur, daß er schlafen gehen würde und sie gleich nach Anbruch der Dämmerung aufbrechen sollten. Nebel hüllte den Wald ein, als sie die Lichtung verlie ßen, Tautropfen glitzerten auf Blättern und Gras. Die Sonne war nur als schwacher Schimmer hinter dem dich ten Laubdach zu erahnen. Der Weg, dem Bracht folgte, war ein schmaler Wildpfad, und tiefhängende Äste lie ßen sie nur langsam vorankommen, als wollte der Wald sie nicht gehen lassen. Bei Sonnenuntergang hatten sie ihn noch immer nicht passiert, und der Morgen des nächsten Tages war bereits fortgeschritten, als die Bäume allmählich weiter auseinandertraten und sie Prärie vor sich sahen. Das Gras wogte unter einem warmen Wind, der Himmel war strahlend blau und wolkenlos. Am Rande des Waldes stand eine einzelne Eiche, kleiner als die in seinem Inneren, aber trotzdem stämmig. Ca landryll streckte eine Hand aus, legte sie auf einen Ast und schickte ein stummes Gebet zu Ahrd, daß er ihnen eine sichere Reise zum Cuan na'Dru gewährte, aber ent weder hatte der Gott ihn nicht erhört, oder aber seine Macht erstreckte sich nicht auf das offene Land, denn sie hatten den Wald kaum verlassen, da entdeckten sie schon eine Gruppe von etwa zehn Reitern westlich von
ihnen. Bracht fluchte herzhaft. »Sind das Lykarder?« rief Calandryll. »Wer sonst?« gab er der Kerner zurück. »Hier gibt es nur diesen Clan.« »Was sollen wir tun?« Calandrylls Blick wanderte von den Reitern zurück zum Wald, der tief genug war, um ihnen Zuflucht zu bieten, aber sich in ihn zurückzuziehen, bedeutete gleichzeitig, Rhythamun noch mehr Zeit zu schenken, und sie hatten keine Garantie, daß die Lykarder sie nicht wiederfinden würden, sobald sie den Wald erneut ver ließen. Vor ihnen lag nichts als die offene Prärie, leicht hügelig, aber ohne jede Deckungsmöglichkeit. »Wir reiten«, sagte Bracht knapp und stieß seinem Hengst die Fersen kräftig in die Flanken. Durch die Tage im Wald waren ihre Pferde ausgeruht und fielen bereitwillig in einen Galopp. Die Lykarder folgten sofort ihrem Beispiel, machten aber keine Anstal ten, sich ihnen zu nähern. Sie ritten parallel zu ihnen und holten auch nicht auf, sondern paßten sich lediglich ih rem Tempo an. Plötzlich stieß Katya einen Schrei aus. Calandryll drehte sich im Sattel um und sah in die Richtung, in die sie deutete. Er erblickte eine zweite Gruppe von Reitern, etwas näher als die erste. Sie hielten sich östlich hinter ihnen, um ihnen den Rückweg in den Wald abzuschnei
den. Bracht sah sie ebenfalls, fluchte wieder und rief über das Trommeln der Hufe hinweg: »Sie müssen vermutet haben, daß wir uns dort verstecken würden. Oder aber die Geistersprecher haben uns aufgespürt!« »Können wir sie abhängen?« wollte Calandryll wissen. »Wir können es zumindest versuchen!« rief Bracht zu rück. »Unsere Chancen, sie alle zu töten, stehen ziemlich schlecht.« Calandryll trieb seinen Braunen zu einem noch schnel leren Galopp an, dankbar, daß seine Schulter weit genug verheilt war und ihm keine Schmerzen mehr bereitete, aber gleichzeitig verfluchte er sie für den Zwangsaufent halt, der den Lykardern ausreichend Zeit gegeben hatte, die drei Eindringlinge zu finden. Ein kurzer Run dumblick verriet ihm, daß beide Gruppen nicht näher gekommen waren und noch immer keine Anstalten machten, sie anzugreifen. Es war, als würden die Lykar der sie wie Wildpferde vor sich her treiben, und er fragte sich, wo ihr Ziel liegen mochte. Eine Flucht schien un möglich, es sei denn, sie konnten die Verfolgung bis zum Einbruch der Nacht herauszögern und den Reitern im Schutz der Dunkelheit entkommen. Und auch das war nur eine schwache Hoffnung, falls die Drachomannii wirklich magische Kräfte benutzten, um sie aufzuspüren. Sie jagten weiter über die Grassteppe auf einen niedri gen Hügel zu, flankiert von ihrer unerwünschten Eskor te, die immer knapp außerhalb Bogenschußweite blieb. Auf der anderen Seite fiel der Hügel zu einer weiten
morastigen Senke ab, die von einer üppigen Pflanzende cke überzogen war. Im Osten trat Grundwasser zutage, schwarz und faulig, das den Anfang eines kleinen Baches bildete, im Westen war der Boden auch nicht viel besser. In beiden Richtungen warteten noch mehr Reiter und blockierten alle Fluchtwege außer dem Hang des Hügels. Bracht knurrte und jagte den Hengst auf den Sumpf zu. Der morastige Boden zwang sie zu einem langsameren Tempo, die Pferde glitten aus und schnaubten, als ihre Hufe tief in den Schlamm einsanken und sich nur wi derwillig mit schmatzenden Geräuschen wieder lösten. Schwarze Insektenschwärme stiegen auf, in der Luft lag ein fauliger Sumpfgestank. Als sie den festen Untergrund des Hangs auf der anderen Seite erreichten, tauchte eine weitere Reihe von Reitern auf, bildete beinahe gemäch lich eine Kette auf der Hügelkuppe und versperrte ihnen auch diesen Weg. Die Lykarder brachten ihre Pferde zum Stehen, legten Pfeile auf die Sehnen ihrer Bögen und richteten sie abwärts. Bracht fluchte haltlos. Calandryll legte die Hand auf den Schwertgriff, und Bracht rief scharf: »Nicht! Wenn du das Schwert ziehst, sind wir tot.« »Was sollen wir denn sonst tun?« Calandryll drehte den Braunen auf der Stelle einmal herum und sah, daß ihnen sämtliche Fluchtwege abgeschnitten waren. »Beten«, knurrte Bracht. »Aber zieh das Schwert, und wir sterben gleich hier.« Er ließ seinen Hengst ein paar Schritte den Hügel hi
naufgehen, den Blick auf die Mitte der Kette gerichtet, aus der sich jetzt ein einzelner Reiter löste und sich ihm näherte, als wolle er ihn begrüßen. Mit grimmigem Ge sicht hob Bracht eine Hand zu einem spöttischen formel len Gruß. »Wie geht es dir, Jehenne ni Larrhyn?« »Ich kann nicht klagen«, lautete die heisere Antwort. »Um so besser, jetzt, da ich dich wiedersehe.« Calandryll wußte, daß er damit hätte rechnen müssen, trotzdem starrte er die Frau mit vor Verblüffung offenem Mund an. Sie saß auf einem makellos weißen Schimmel, der dunkelscharlachrotes, mit Silber durchwirktes Ge schirr trug, passend zu der Lederkleidung seiner Reite rin. Das Tier stampfte unruhig mit den Hufen und wie herte, als wollte er angreifen, von der unterschwelligen Bösartigkeit im trügerisch sanften Tonfall der Frau ange steckt. Calandryll sah, daß sie schön war, so wie ein Falke oder eine Wildkatze schön ist, schlank und geschmeidig, eine Mischung aus Anmut und raubtierhafter Gier. Diese Wildheit spiegelte sich in ihren grünen Augen wider, die in einem gebräunten feingeschnittenen Gesicht funkelten. Ihre Zähne schimmerten weiß, als sie breit lächelte, ihre Lederkappe abnahm und eine volle Mähne roten Haares darunter hervorschüttelte, das über ihre Schultern fiel. Sie trug ein ähnliches Krummschwert wie Bracht an der Hüfte, machte aber keine Anstalten, es zu ziehen, und ließ auch ansonsten kein aggressives Verhalten erkennen, abgesehen von dem Glitzern in ihren Augen und der
Drohung, die in ihren Worten mitschwang. »Ich hatte gehofft, daß wir uns wiedersehen würden. Ich habe sogar darum gebetet.« »Was hiermit geschehen ist«, erwiderte Bracht in ei nem täuschend beiläufigen Tonfall. »Und was jetzt?« Jehenne ni Larrhyn lachte auf. Das Geräusch erschien Calandryll genauso unangenehm wie der faulige Geruch, der aus dem Morast aufstieg. »Nun, jetzt lade ich dich ein, die Gastfreundschaft meines Lagers in Anspruch zu nehmen, Bracht. Dich und deine Begleiter.« »Wir sind unterwegs zum Cuan na'Dru«, sagte Bracht. »Über das Weideland der Lykarder. Aber das spielt keine Rolle, du wirst schon bald genug mit Ahrd spre chen können. Darauf gebe ich dir mein Wort.« »Ich habe Wergeid mitgebracht.« Bracht deutete auf seine Satteltaschen. »Viertausend Varre.« »So viel?« Jehennes Brauen beschrieben einen perfek ten Bogen. Sie verbeugte sich anmutig. »Du schmeichelst mir.« »Ich möchte, daß Frieden zwischen uns herrscht«, er klärte Bracht. »Das Wergeid als Entschädigung für die Beleidigung, die ich dir zugefügt habe.« Jehenne lachte erneut, und da wußte Calandryll, daß keine Hoffnung mehr bestand. »Wir werden uns darüber unterhalten«, sagte sie. »In meinem Lager. Kommt ihr mit? Oder…«
Sie deutete mit einer weitausholenden Handbewe gung auf die Bogenschützen und die Reiter, die die Sen ke säumten. Bracht neigte zustimmend den Kopf. Sie hatten kaum eine andere Wahl, außer der, gleich hier zu sterben. »Gut.« Jehenne lächelte. »Ich möchte nicht, daß du ge tötet wirst, nicht hier. Du hast ein besseres Ende ver dient.« »Woran hast du dabei gedacht?« erkundigte sich Bracht. »Auch darüber werden wir uns noch unterhalten«, erwiderte sie. »Also, würdet ihr mich jetzt begleiten?« Sie wendete ihr Pferd, ohne eine Antwort abzuwarten, und Bracht ritt den Hügel hinauf. »Das ist Jehenne ni Larrhyn?« flüsterte Katya. Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Was hat sie ge sagt?« »Sie lädt uns in ihr Lager ein«, erklärte Bracht. »Lädt uns ein?« Katya musterte die Bogenschützen auf der Hügelkuppe mit finsterer Miene. »Damit sie dich kreuzigen kann?« »Ich nehme an, daß sie das vorhat«, entgegnete Bracht vorsichtig. »Aber vorher möchte sie sich noch ein biß chen amüsieren.« Katya spuckte aus, ihre grauen Augen nahmen die Farbe eines Gewittersturms an. »Wird sie das angebotene Wergeid nicht akzeptieren?«
fragte Calandryll. »Jehenne?« Bracht stieß ein zynisches Lachen aus, ein einzelner bellender Laut. »Das glaube ich kaum. Jeden falls nicht für mein Leben. Für das eure dagegen … viel leicht.« »Ich werde dich nicht im Stich lassen«, versicherte Ka tya. Bracht sah sie mit einem liebevollen Lächeln an. »Soll te sie mit diesem Handel einverstanden sein, dann bitte ich dich, ihn ebenfalls zu akzeptieren«, sagte er sanft. »Sie wird mich nicht gehen lassen, aber es besteht die Möglichkeit, daß ihr beide gehen könnt. Sie hat keinen Streit mit euch, sieht man davon ab, daß ihr in meiner Gesellschaft reitet.« »Wenn sie dir etwas zuleide tut«, sagte Katya hart, »dann habe ich Streit mit ihr.« »Und mehr noch«, warf Calandryll ein, »wir sind zu dritt. Die Wahrsagerinnen, die Alten, sie alle haben von drei gesprochen, die auf diese Mission gehen.« »Es könnte sein, daß Jehenne dieses Muster aufbricht«, murmelte Bracht. Sie hatten die Hügelkuppe erreicht. Die Bogenschützen machten einen Weg frei, um sie durchzu lassen, und bildeten einen dichten Ring um sie. »Das darf sie nicht tun!« rief Katya. »Dürfen ist ein Wort, für das Jehenne nicht viel übrig hat«, stellte Bracht fest. »Und wir reiten über das Weide land der Lykarder, wir befinden uns auf dem Territorium
der ni Larrhyn, wo Jehennes Wort Gesetz ist.« Sein Gesicht wirkte entschlossen, und Calandryll er kannte, daß Bracht nicht daran zweifelte, gekreuzigt zu werden. Auch schien es keinen Zweifel daran zu geben, daß Jehenne beabsichtigte, ihre Rache für die ihr zuge fügte Schmach voll auszukosten, das hatte Calandryll aus ihrer Stimme herausgehört und in ihren Augen gesehen. Er zwang seine rasenden Gedanken, sich ein wenig zu beruhigen, und suchte verzweifelt nach einem Ausweg aus dieser Zwickmühle. »Die Geistersprecher«, sagte er schließlich, als ihre Es korte, von Jehenne angeführt, einen langsamen Galopp vorlegte. »Könnten sie nicht unsere Aufgabe offenbaren? Könnten sie Jehenne nicht dazu bewegen, uns freizulas sen?« »Das eine … vielleicht«, erwiderte Bracht. »Das ande re? Ich glaube es nicht.« »Aber wenn sie die Wahrheit erfahren«, ließ Ca landryll nicht locker, »wenn sie erkennen, was Rhytha mun beabsichtigt, dann muß sie sich ihnen doch be stimmt fügen.« Wieder lachte Bracht, genauso humorlos wie zuvor. »Die einzige Stimme, auf die Jehenne hört, ist ihre eigene. Und die Geistersprecher werden nur versuchen, sie zu friedenzustellen, es sei denn, sie erlaubt ihnen, eine Wahrsagung durchzuführen, was ich bezweifle.« »Wir können es wenigstens versuchen«, sagte Ca landryll.
»Aye«, stimmte ihm Bracht zu. »So, wie ich versuchen werde, sie zu überreden, euch im Gegenzug für mein Wergeid freizulassen.« »Nein!« schrie Katya. »Sollte es so weit kommen, dann mußt du es hinneh men.« Bracht streckte einen Arm aus und berührte ihre Hand. »Ich bitte dich darum.« »Wenn sie dir etwas antut«, versprach Katya mit vor Wut gedämpfter Stimme, »werde ich sie umbringen.« Für einen Mann, dem eine qualvolle Hinrichtung drohte, war Brachts Lächeln strahlend, und er betrachtete Katya voller Bewunderung, aber seine Worte waren nüchtern. »Solange wir leben, besteht auch noch Hoff nung, vergiß das nicht! Und sollte Jehenne ihr Verspre chen wahr machen, dann erinnere dich daran, wie und warum wir uns begegnet sind. Unsere Mission wird nicht mit meinem Tod enden. Das darf sie nicht!« Katyas Augen blitzten wütend auf, als richtete sich ihr Zorn über diese Wendung der Ereignisse jetzt auf den Kerner, auf die Ruhe, mit der er sein Schicksal akzeptier te. Sie warf den Kopf zurück – der Widerwille stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben – und wollte widerspre chen, aber Bracht hob eine Hand und kam ihr zuvor. »Solltest du Jehenne angreifen, wird sie befehlen, daß jedes Schwert im Lager der ni Larrhyn dein Blut kosten soll. Ich möchte nicht, daß es so weit kommt, daß meine Torheit dich das Leben kostet. Weder deins noch Ca landrylls. Wenn sie mich an einen Baum nageln läßt,
dann bitte ich euch, es hinzunehmen und weiterzuzie hen. Findet Rhythamun, entreißt ihm das Arcanum und bringt es nach Vanu, wie wir es gelobt haben. Ist das nicht wichtiger als mein Leben?« Calandryll sah, wie die Unsicherheit Katyas Augen verschleierte, wie sie sich so fest auf die Unterlippe biß, daß er glaubte, jeden Augenblick Blut daraus hervorquel len zu sehen. »Ich würde es dir befehlen«, sagte Bracht sanft und drängend zugleich, »aber ich habe nicht das Recht dazu. Statt dessen bitte ich dich, mir dein Wort zu geben, daß du dein Leben nicht sinnlos wegwirfst, sondern unsere Mission weiterführst.« Einen Moment lang schien es, als würde sich die Krie gerin weigern. Sie ballte die rechte Hand zur Faust, hob sie und schlug sie so heftig auf ihren Oberschenkel, daß ihr Pferd erschreckt seitlich ausbrach, was eine scharfe Warnung der Lykarder nach sich zog. Dann schüttelte sie den Kopf, nicht um zu widersprechen, sondern aus Hilf losigkeit. »Ich gebe dir mein Wort«, versprach sie leise. »Und ich werde Jehenne ni Larrhyn verfluchen, sollte ich es einlösen müssen.« Bracht lächelte verkniffen und nickte. Dann grinste er, und seine nächsten Worte waren so leise, daß niemand aus der Eskorte sie verstehen konnte. »Sollte sich natürlich eine Gelegenheit ergeben, sie zu töten, ohne daß du dabei in Gefahr gerätst…« Diesmal nickte Katya. »Auch darauf gebe ich dir mein
Wort«, gelobte sie grimmig. »Und ich dir das meine«, schloß sich Calandryll an und überraschte sich selbst damit, als ihm bewußt wur de, daß er bereit war, eine Frau zu töten, die ihn bis jetzt noch nicht bedroht hatte. Was ihn nicht weniger über raschte, war seine Gewißheit, daß er Jehenne ohne jegli che Gewissensbisse umbringen würde, sollte sie Bracht hinrichten lassen. Der Gedanke an den Tod seines Ge fährten ließ ihn erschaudern. Es war, als würde er sich vorstellen, ein Körperteil zu verlieren. In dem letzten Jahr hatte sich eine enge Bindung zwischen ihnen entwickelt, das war ihm auch vorher schon bewußt gewesen, aber wie eng diese Bindung wirklich war, begriff er erst jetzt richtig, da er sich der Möglichkeit stellen mußte, daß sie für immer zerrissen werden könnte. Er steht mir näher, als es ein Bruder tun könnte, dachte er, und näher, als ich es meinem Vater jemals gewesen bin. Aye, sollte Jehenne ihre Drohung wahr machen, werde ich ihr mei nen Stahl ohne Gewissensbisse in den Bauch stoßen. Ich werde mein Mitleid an dem ihren messen. Er hatte keine Ahnung, wie grimmig sein Gesicht ge worden war, bis ihm Bracht auf die gesunde Schulter schlug und sagte: »Noch leben wir, mein Freund.« »Aye«, knurrte Calandryll. Bracht bedachte ihn mit einem ernsten Blick und fügte hinzu: »Das erste Versprechen, das mir Katya gegeben hat, möchte ich auch von dir haben.« »Du hast es«, entgegnete Calandryll. »Dieses und das
andere.« »Dann bin ich zufrieden«, sagte Bracht. Danach schwiegen sie, jeder hing seinen eigenen Ge danken nach. Sie ritten in einem gleichmäßigen verhalte nen Galopp inmitten der ni-Larrhyn-Krieger, die sie mit der Teilnahmslosigkeit von Menschen beäugten, die Tiere auf dem Weg zur Schlachtbank beobachteten. Ca landryll betrachtete sie seinerseits und bemerkte zum ersten Mal, daß sich etliche Frauen unter ihnen befanden. Abgesehen von den offensichtlichen Merkmalen ihres Geschlechts, unterschied sie nur wenig von den Män nern. Sie alle trugen ähnliche Lederkleidung wie Bracht und er, allerdings in verschiedenen Brauntönen statt in Schwarz und mit Metallplättchen und Knöpfen benäht, die sowohl Zierals auch Schutzfunktionen hatten. Krummschwerter oder Säbel hingen an ihren Hüften oder waren über ihre Schultern geschnallt. Alle führten Bögen mit sich, und einige hatten kleine Beile mit kurzen Stielen oder Messer mit breiten Klingen, die in speziellen Sattelscheiden steckten. Ihr Haar war braun wie ihre Tuniken und Hosen und reichte von dunklem Schokola denbraun bis zu der rötlichen Farbe von Jehennes Mäh ne. Die Männer trugen es in langen geflochtenen Zöpfen, die Frauen offen. Ihre Gesichter waren dunkel gebräunt und wirkten genauso streng wie ihre Augen. Nirgendwo entdeckte Calandryll auch nur eine Spur von Mitgefühl. Sie ritten bis zum späten Nachmittag in nördliche
Richtung mit einer leichten Abweichung nach Westen. Dann stießen sie auf ein flaches Tal, das ein Bach durch die Prärie gegraben hatte, und erreichten kurz darauf das Lager der ni Larrhyn. Bracht hatte ihm die nomadischen Behausungen von Cuan na'For beschrieben, aber für ihn waren sie etwas ganz Gewöhnliches, und seine Ausführungen hatten Calandryll kaum auf die Wirklichkeit vorbereiten kön nen. Er wurde davon überrascht, und trotz der Umstän de wurde das Interesse des Forschers in ihm geweckt. Mit großen Augen betrachtete er die Masse der transpor tablen Unterkünfte. Sie erstreckten sich quer durch das Tal und bedeckten das Gras mit ihrem buntscheckigen Leder bis auf die Durchgangswege, die durch die An ordnung der Zelte gebildet wurden. Als der Reiterzug näher kam, fragte sich Calandryll allerdings, ob die Be zeichnung Zelte wirklich zutreffend war, denn jetzt sah er, daß die Lederkuppeln auf großen Karren mit vielen Rädern errichtet worden waren. Nur um den Außenrand des Dorfes herum standen die Zelte direkt auf dem Bo den wie die ärmlicheren Behausungen, die sich am Ran de großer Städte ansiedeln. Aber selbst diese Zelte waren geräumig, und Calandryll erinnerte sich, was Bracht ihm erzählt hatte. Die jüngeren Männer und unverheirateten Krieger einer jeden Clanfamilie errichteten ihre Zelte als Wächter um den Kern der Siedlung herum. Calandryll schätzte die Anzahl der Menschen auf etwa zweihundert, und die meisten waren herausgekommen, um die heim kehrende Gruppe zu begrüßen. Auf beiden Seiten des
Tales waren Pferde zu sehen, die in Gatter gesperrt oder mit Leinen an länglichen Laufseilen angebunden waren, eine große Menge von Pferden, die die warme Luft mit ihrem Schweiß und ihrem Dung erfüllten. Es war, als wäre ein Dorf im Tal erbaut worden, aber eins, das in nerhalb eines Tages je nach Laune seiner Bewohner wie der abgebaut werden und weiterziehen konnte. Oder, verbesserte sich Calandryll in Gedanken, auf Jehenne ni Larrhyns Befehl hin, denn sie führte hier eindeutig das Kommando. Das wurde offensichtlich, als sie auf ihrem weißen Pferd den Hang hinab zu den ersten Zelten ritt. Die Leute machten ihr sofort respektvoll Platz, begrüßten sie und riefen ihr Fragen zu, auf die sie jedoch nicht reagierte, während sie den Schimmel über den breitesten Durch gangsweg lenkte. Die Krieger der Eskorte hinter ihr wa ren weniger verschlossen, und Calandryll hörte, wie sie berichteten, daß sie Bracht ni Errhyn zusammen mit zwei Fremden gefangengenommen hätten. Zu seiner Überra schung verhielten sich die Schaulustigen nicht übermä ßig feindselig, sie starrten die Gefangenen nur an und tuschelten untereinander, bis der Zug an ihnen vorbeige ritten war, und folgten ihm dann zum Zentrum des La gers. Jehenne hatte dort bereits angehalten. Der Mittelpunkt der Ansiedlung wurde von Karren auf beiden Seiten des Baches gebildet, die so etwas wie einen Dorfplatz umga ben. Sie stieg ab, als ihr Gefolge ankam, warf die Zügel
einem wartenden Mann zu, der ihr Pferd wegführte, und wandte sich dann zwei anderen Männern zu. Calandryll nahm an, daß es sich um die Drachomannii handelte, denn sie unterschieden sich auffällig vom Rest der Menge. Ihr Haar war nicht zu Zöpfen geflochten, sondern offen und mit bunten Muscheln und Federn geschmückt. Ihre Ge sichter waren blau und weiß bemalt, und statt Tuniken trugen sie lange ärmellose Lederroben. Sie schienen im mittleren Alter zu sein und verhielten sich Jehenne ge genüber ehrerbietig, verbeugten sich vor ihr und lächel ten, als sie ihre Geschicklichkeit im Aufspüren der drei Gesuchten lobte. Calandryll wollte aufschreien und von ihnen verlangen, daß sie ihre okkulten Fähigkeiten für eine Wahrsagung benutzen sollten, aber da wurde ihm ein Bogen in die Rippen gestoßen, und eine barsche Stimme befahl ihm abzusteigen. Er gehorchte, und sofort schirmte ihn ein Ring aus Menschenleibern von den Geistersprechern ab. Die Krieger hatten die Hände dro hend auf ihre Schwertgriffe gelegt, und so konnte er nichts anderes tun, als hilflos dazustehen und nervös zuzusehen, wie die Pferde weggeführt wurden. Dann teilte sich der Ring, und er erblickte Jehenne wieder. Sie hatte die Geistersprecher fortgeschickt. Die Männer wateten gerade durch den Bach, und mit ihnen verschwanden auch Calandrylls Hoffnungen. Die Frau winkte ihre Gefangenen zu sich. Eine Hand stieß ihn vorwärts, und er ging auf Jehenne zu, die boshaft lächel te.
»Kommt, ihr seid bestimmt hungrig.« Sie deutete auf den nächsten und größten Wagen. »Ich wäre eine schlechte Gastgeberin, würde ich euch nicht Erfrischun gen und Stärkungen anbieten.« Die Höflichkeit der Einladung war ein Hohn, der Bracht ein humorloses Grinsen und Katya einen finsteren Blick entlockte. Calandryll, hin- und hergerissen zwi schen Angst und Faszination, setzte sich in Bewegung, als Jehenne auf die Leiter stieg, die zu der Plattform des Karren hinaufführte, auf der ersten Stufe stehenblieb und hinzufügte: »Vielleicht solltet ihr lieber eure Waffen zurücklassen.« Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihre Schwert gürtel abzuschnallen und sie der wachsamen Eskorte auszuhändigen, bevor sie die Leiter hinaufkletterten. Sie betraten eine Art Vorhalle und blickten auf einen Ledervorhang, den zwei Männer zur Seite zogen. Dahin ter wurde das eigentliche Zeltinnere sichtbar. Es war verschwenderisch ausgestattet, ein starker Kontrast zu der äußeren Erscheinung des Zeltes. Dicke Teppiche mit hellen Mustern bedeckten den Boden, der mit großen Stapeln leuchtend bunter Kissen ausgelegt war, die Wände waren mit hellgelben Seidentüchern ausgeklei det. Von der Decke baumelten süßlich riechende Duftku geln herab. In der Mitte stand ein niedriger runder Tisch aus dunkelrotem Holz mit einer Karaffe und einigen Bechern. Jehenne deutete auf die Kissen, und die drei Gefährten nahmen Platz. Dann bellte sie ein paar Befehle,
worauf die Krieger Teile des Daches zur Seite zogen, so daß Sonnenlicht einfallen konnte. Jehenne trat durch einen zweiten Vorhang, der aus dem gleichen Seidenma terial wie die Tücher an den Wänden bestand. Als er sich teilte, gab er kurz den Blick auf ein luxuriöses, in Pastell tönen gehaltenes Schlafzimmer frei. Calandryll sah sich aufmerksam um. Zwei Männer und eine Frau saßen ihm gegenüber, zwei weitere Männer standen rechts und links neben dem Eingang. Alle waren bewaffnet, keiner sprach, ihre Mienen waren unergründlich. Kurz darauf kehrte Jehenne zurück. Sie hatte das Schwert und die Tunika abgelegt. Darunter trug sie ein rostrotes Hemd, das sich eng an ihren Körper schmiegte. Sie ließ sich anmutig auf die Kissen sinken und lächelte versonnen. »Ich bin erschöpft.« Sie strahlte mit einer furchterre genden Liebenswürdigkeit. »Trinkt Wein mit mir.« Auf eine Geste von ihr füllte ein Mann die Becher und reichte sie herum. Was für ein Schicksal sie auch immer für ihre Gefangenen vorgesehen hatte, Calandryll glaubte nicht, daß sie vorhatte, sie zu vergiften. Er nahm einen kleinen Schluck und schmeckte den herben Wein kaum. »Können deine Begleiter uns verstehen?« fragte sie Bracht. »Calandryll, aye«, antwortete der Kerner. »Katya nicht.« »Dann unterhalten wir uns auf Envah«, erklärte Je henne in der allgemeinen Verkehrssprache, »damit keine Mißverständnisse zwischen uns aufkommen. Du hast
etwas von Wergeid erwähnt…« »Viertausend Varre«, sagte Bracht. »Du hast mich schwer beleidigt«, erwiderte Jehenne. »Für diese Beleidigung bitte ich dich um Verzeihung. Für das, was ich getan habe, biete ich dir viertausend Varre als Entschädigung.« Brachts Tonfall klang ernst, und Jehenne schien das Angebot tatsächlich in Erwägung zu ziehen. Oder, was wahrscheinlicher war, dachte Calandryll, spielte sie nur mit dem Kerner, mit ihnen allen. Sie hatte etwas Berech nendes an sich, das über ihren Wunsch nach Rache hi nausging, und instinktiv spürte Calandryll, daß sie ir gend etwas wußte, das sie ihnen vorenthielt. »Ich habe deinem Vater meinen Preis genannt«, sagte sie schließlich. »Der war nicht einmal so hoch, trotzdem wollte er die Beleidigung nicht sühnen.« »Er möchte nicht, daß sein Sohn gekreuzigt wird«, entgegnete Bracht. »Daraus kannst du ihm bestimmt keinen Vorwurf machen.« »Nein«, gab Jehenne zu. »Aber dir kann ich einen Vorwurf machen.« »Aye«, sagte Bracht, »oder aber froh sein, daß dir ein schlechter Ehemann erspart geblieben ist.« »Wäre es so gekommen?« Jehennes grüne Augen rich teten sich einen Moment lang auf Katya. »Du hast einmal anders darüber gedacht. Hast du jetzt ein anderes Ziel für deine Zuneigung gefunden?«
Brachts Miene war Antwort genug, und Jehenne lachte leise in sich hinein. »Können viertausend Varre deinen Zorn nicht besänf tigen?« fragte Bracht. »Könnte ich nicht beides haben, Geld und Genug tuung?« fragte Jehenne zurück. »Wenn du keine Ehre hättest, aye. Aber ich glaube nicht, daß du überhaupt kein Ehrgefühl besitzt. Wenn du beides nimmst, das Wergeid und deine Rache, wärst du dann besser als ein gemeiner Bandit?« »Ich bin Ketomana der ni Larrhyn.« Für einen Moment ließ Jehenne die Maske der Lässigkeit fallen. Ihre Stimme wurde scharf, und ihre Augen blitzten gefährlich auf. »Hier ist mein Wort Gesetz.« »Daran zweifle ich nicht«, stimmte Bracht zu. »Aber es wäre trotzdem nicht ehrenhaft.«. Calandryll vermutete, daß Brachts Worte ebenso an die anderen Lykarder wie an Jehenne gerichtet waren, daß er versuchte, einen Ansatzpunkt zu finden, mit dem er den Dingen eine andere Wendung geben konnte, wenn schon nicht für sich selbst, dann wenigstens für seine Gefährten. Seine Gedanken rasten, während er auf Jehennes Antwort wartete. Er mußte sich irgend etwas einfallen lassen, irgendein Argument, mit dem er Bracht zu Hilfe kommen konnte. »Möglicherweise ist da etwas dran«, murmelte Jehen ne, jetzt wieder sanft, »aber was du getan hast, war auch nicht gerade ehrenhaft.«
»Dann bestraf mich«, sagte Bracht, »aber laß meine Gefährten frei. Nimm das Wergeid für ihr Leben.« Calandryll hörte, wie Katya scharf einatmete, und sah aus den Augenwinkeln heraus, wie sich ihr Körper an spannte. Er selbst beherrschte sich, konzentrierte sich auf Jehennes Gesicht und sah sie wieder lächeln. »Haben sie nicht lykardisches Blut vergossen?« er kundigte sie sich. »Wir sind angegriffen worden«, erwiderte Bracht schnell. »Wir wollten keinen Kampf, aber deine Leute haben uns keine andere Wahl gelassen.« »Ihr habt unser Weideland unbefugt betreten«, gab Je henne zurück. »Was hätten sie sonst tun sollen, außer euch anzugreifen?« »Es war ein ehrenvoller Kampf«, sagte Bracht, »und sie waren zu siebt gegen uns drei. Das müßte sich doch bestimmt durch die Zahlung von Wergeid regeln lassen.« Jehenne saß ein Stückchen entfernt von den anderen Lykardern, und Calandrylls Blick zuckte zwischen ihrem Gesicht und denen der anderen hin und her. Er war sich nicht sicher, was er dort entdeckte, aber mittlerweile war er überzeugt, daß Bracht versuchte, die anderen so zu beeinflussen, daß sie ihrerseits ihre Anführerin beeinfluß ten. »Das wäre denkbar«, gab Jehenne zu. »Allerdings bleibt eine andere Frage offen: Wieso durchquert ihr meine Weidegründe überhaupt?«
Bracht zögerte mit der Antwort, drehte sich kurz zu Calandryll um und sah ihn fragend an. Calandryll nickte. »Wir suchen einen Mann«, erklärte Bracht. »Ein Halb blut, ein Angehöriger der ni Brhyn, der sich Daven Tyras nennt.« Jehenne nickte, und Calandryll entdeckte unverhüllte Belustigung in ihren Augen. Er verspürte einen heftigen Schreck, als er erkannte, daß das für Jehenne keine Neu igkeit war, und er fragte sich erneut, was sie ihnen ver schwieg. »Wieso?« fragte sie direkt. Wieder schwieg Bracht einen Moment lang, als würde er die Situation abwägen und überlegen, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, daß Jehenne ihm glauben wür de. Calandryll spürte, wie sein Verdacht zu einer häßli chen Gewißheit wurde, und sagte: »Sie weiß Bescheid.« Er sah, wie sie die Augen zusammenkniff und ihn scharf musterte. »Was weiß ich?« erkundigte sie sich kalt und hob eine Hand, um Bracht zum Schweigen zu bringen. »Nein, nicht du! Der junge Bandit soll es mir sagen.« Calandryll nahm einen Schluck Wein, ohne ihn zu schmecken. Durch Ausflüchte war hier nichts zu gewin nen, entschied er, aber Jehenne die Wahrheit zu ver schweigen, könnte sie das Leben kosten. Gart und Kythan hatten mit Abscheu auf die Vorstellung des Ges taltwandelns reagiert, vielleicht würde es diesen Lykar
dern ebenso ergehen. Er stellte seinen Becher ab und sagte behutsam: »Daven Tyras ist ein Gestaltwandler, ein Gharanevur. Sein Körper wurde von Varent den Tarl aus Aldarin übernommen, der wiederum von einem Schwarzmagier namens Rhythamun getötet wurde. Rhythamun möchte den Verrückten Gott wiedererwe cken, und wir versuchen, ihn daran zu hindern.« »Ah.« Jehennes Stimme klang trügerisch sanft und bestätigte Calandrylls schlimmsten Befürchtungen. »Euer Ziel ist es also, uns alle vor Tharn zu retten.« »Aye!« rief er hitzig. Ihre Gleichgültigkeit machte es ihm unmöglich, an sich zu halten. »Und wenn du uns aufhältst, verurteilst du die Welt, im Chaos zu versin ken!« »Also sollte ich euch lieber die Freiheit schenken? Dir, Katya und auch Bracht?« »Aye«, war alles, was er darauf antworten konnte. Jehenne lachte. »Ein schlechter Versuch. Daven Tyras hat uns vor deinen geschickten Lügen gewarnt.« »Du kennst ihn?« Brachts Stimme klang scharf, als hät te er und nicht die Frau hier das Sagen. Jehenne bedachte ihn mit einem wütenden Blick, ohne sich länger zu verstellen. »Ich kenne ihn«, bestätigte sie. »Schließlich ist er, zumindest zur Hälfte, auch ein Lykar der.« »Er ist ein Gharan-evur!« stieß Bracht rauh hervor. »Sein Körper ist nur eine Hülle, die er benutzt, nicht
mehr! In Ahrds Namen, Jehenne! Wenn du ihn beschützt, verdammst du deine Seele!« »Und du windest dich, um deinem gerechten Schick sal zu entgehen«, erwiderte sie gehässig. »Genau wie Daven Tyras es vorausgesagt hat.« »Ahrd!« knurrte Bracht. »Er hat dich mit seinen Lügen eingewickelt.« »Genau wie du es vor einiger Zeit getan hast.« »Laß uns von deinen Geistersprechern überprüfen«, bat Calandryll. »Dann wirst du die Wahrheit erfahren.« »Auch davor hat mich Daven Tyras gewarnt«, entgeg nete Jehenne. »Ihr habt Magie in euch, die die Geister sprecher täuschen wird. Nein, sie haben ihre Aufgabe bereits erfüllt, indem sie euch aufgespürt haben. Den Rest erledige ich.« Calandryll stöhnte, als er die schwache Hoffnung, die er gehegt hatte, schwinden sah. Rhythamun hatte sie überlistet und sich durch mehr als nur die Leichenwölfe geschützt. Er hatte sich Jehennes Rachedurst bedient und ihn für seine eigenen Zwecke eingesetzt. »Rache um jeden Preis?« hörte er Bracht fragen. »Ahrd, Frau, wenn du unbedingt Blut vergießen mußt, dann nimm meins, aber laß diese beiden gehen!« »Und statt ihnen dein Wergeid annehmen?« Jehenne zeigte wieder ihre falsche Liebenswürdigkeit. »Dein Leben und viertausend Varre für ihre Freiheit?« »Aye«, bestätigte Bracht.
»Nein!« schrie Katya. Es war das erste Mal, daß sie sich zu Wort meldete. Sie war so erregt, daß sie von ihren Kissen auffuhr, und sofort griffen die wachsamen Lykar der ihr gegenüber am Tisch nach ihren Dolchen. Katya ließ sich zurücksinken, aber ihr Blick blieb starr auf Je henne gerichtet, und ihre Stimme war noch immer hitzig. »Hör mich an! Was Bracht und Calandryll dir gesagt haben, ist die Wahrheit. Ich stamme aus Vanu, und die Heiligen Männer meines Landes haben mich ausge schickt, um zusammen mit diesen beiden Männern das Arcanum zu finden, damit es zerstört werden kann. Wahrsagerinnen und Hexer haben geweissagt, daß drei erforderlich sind, um das zu vollbringen, und wenn du jetzt Bracht tötest, verhilfst du Rhythamun zum Sieg. Töte Bracht, und das Blut der gesamten Welt klebt an deinen Händen!« Jehenne hob spöttisch die Brauen. »Eine hübsche Re de«, stellte sie fest. »Aber verrat mir doch bitte, was die ses Arcanum ist.« »Ein uraltes Buch, in dem der Ort verzeichnet ist, an den die Ersten Götter Tharn verbannt haben«, antwortete Calandryll an Katyas Stelle. »Die Zaubersprüche, die erforderlich sind, um den Bann zu brechen, kannte Rhythamun bereits. Mit Hilfe des Buches kann er Tharns Grab finden und ihn wiederauferstehen lassen.« »Ich verstehe.« Jehennes Stimme triefte vor Verach tung. »Ein magisches Buch, ein Gestaltwandler, Heilige Männer aus einem Land jenseits des Borrhun-maj, und
ihr drei auf einer Mission, um die Welt zu retten … Eine Mär, wie sie die Barden spinnen. Voller Romantik, aber mit wenig Substanz.« »Laß uns von deinen Geistersprechern überprüfen«, wiederholte Calandryll verzweifelt. »Laß sie die Wahr heit feststellen.« Jehenne schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht tun. Ihr könntet sie täuschen. Ich werde euer Urteil fällen.« Calandryll betrachtete ihr Gesicht und sah nichts, das zu Hoffnung Anlaß gegeben hätte. Ihre Augen waren kalt, und wenn darin noch eine Spur von Belustigung zu finden war, dann darüber, wie sie sich das Schicksal der drei vorstellte, eine schreckliche Genugtuung darüber, daß sie endlich Rache für die Schmach nehmen konnte, die Bracht ihr angetan hatte. Alles andere war für diese Frau nebensächlich. Ihr Stolz machte sie in gewisser Weise wahnsinnig, und das war für Rhythamun wie ein Geschenk gewesen. Calandryll sah die anderen Lykarder an. Er war nicht gut genug mit den Bewohnern Cuan na'Fors vertraut, um ihre Mienen mit Sicherheit deuten zu können. Sie wirkten beherrscht und reglos, aber in einigen Augen glaubte – oder hoffte – er, einen Anflug von Verunsicherung zu entdecken. »Fürchtest du die Wahrheit so sehr?« fragte er. Ihm war klar, daß er sich an einen Strohhalm klammerte, aber er wußte nicht, was er sonst hätte tun können, außer Rhythamun kampflos den Sieg zu überlassen. »Hast du Angst, die Geistersprecher könnten dir deine Rache ver
wehren?« Jehennes Hand schnellte vor, und Calandryll zuckte zurück, als ihm der Inhalt ihres Bechers ins Gesicht spritzte. Er wischte den Wein fort und fragte sich, ob er mit seinen Worten irgend etwas bewirkt hatte, außer ihre Wut anzuheizen. Hätte sie immer noch eine Waffe getra gen, dann hätte er jetzt Stahl statt Wein zu kosten be kommen, davon war er überzeugt. Er sah, wie sie sich mit sichtlicher Anstrengung zusammenriß. »Über euer Schicksal muß ich noch entscheiden, aber ihr tut euch keinen Gefallen mit euren haltlosen Mär chen.« Ihre Stimme war so schneidend wie eine Schwert klinge, und ihre Augen funkelten wütend, als sie sich auf Bracht richteten. »Ich hätte etwas mehr Mut von dir er wartet, Bracht ni Errhyn, nicht, daß du dich hinter einem Lügengespinst versteckst.« »Du hast von uns nichts als die Wahrheit gehört«, er widerte Bracht ruhig. »Was es hier an Lügen gibt, stammt von Rhythamun. Aber du hast nicht die Ohren, um sie zu hören, und nicht die Augen, um zu erkennen, wohin dieser Weg führt.« Jehennes Lippen verzogen sich zu einem breiten Lä cheln, das Calandryll unwillkürlich an eine Katze denken ließ, die eine in die Enge getriebene Maus betrachtete und sich an ihren Qualen weidete. »Ich sehe den Weg deutlich genug«, sagte sie. »Er führt zu einem Baum, an den du genagelt werden wirst. Wo die Vögel dir die Augen aushacken und die Hunde
sich mit deinem Fleisch vollschlingen werden. Dein Ur teil ist gesprochen, Bracht ni Errhyn. Morgen früh werde ich dich kreuzigen.« Bracht nickte knapp. Sein dunkles Gesicht war starr wie Granit. Er verwehrte ihr die Genugtuung, sie darin Angst erkennen zu lassen. »Und meine Gefährten?« fragte er. »Akzeptierst du mein Wergeid für ihr Leben?« »Das werde ich überschlafen«, erwiderte Jehenne. Sie wandte sich ihren Gefolgsleuten zu. »Schafft sie jetzt weg.«
KAPITEL 16 Man brachte sie von Jehennes prachtvollem Wagen in einen kleineren Karren, der keinen derartigen Luxus bot, aber einigermaßen bequem war, wenn es in ihm auch nach Leder und geöltem Metall roch. Wahrscheinlich diente er normalerweise dem Transport dieser Dinge. Seine Planen bestanden aus fensterlosem sorgfältig ver nähtem Leder, der Eingang aus einem Ledervorhang, der hinter ihnen festgezurrt wurde. Einfache Kissen bedeck ten den nackten Holzboden. Bracht lugte durch einen Spalt im Vorhang und berichtete, daß zwei Männer vor dem Wagen Wache standen, wahrscheinlich noch mehr außerhalb seines Blickfeldes. Im von der Sonne aufge heizten muffigen Zwielicht eingeschlossen, konnten sie kaum mehr tun, als sich auf den Kissen auszustrecken und ihr Schicksal zu verfluchen. »Rhythamun hat uns überlistet«, sagte Calandryll bit ter. »Mit Hilfe von Daven Tyras' Erinnerungen hat er sich Jehennes Haß bedient, um uns ein Bein zu stellen.« »Aye«, stimmte ihm Bracht zu, »aber wo steckt er? Be stimmt nicht hier, sonst wäre er sicher erschienen, um sich an unserem Anblick zu weiden.« »Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?« fragte Ka tya. »Wir sind verdammt.«
Ihre Stimme klang heiser, als kämpfte sie gegen die Tränen an oder hielte ihre Wut mühsam unter Kontrolle. Calandryll sah, wie Bracht sanft ihre Wange berührte und leise erwiderte: »Anscheinend gilt das für mich, aber vielleicht nicht für dich und Calandryll.« »Was?« Jetzt mischten sich Zorn und Hilflosigkeit in ihre Stimme. »Jehenne ist verrückt, und sie sieht, was zwischen uns ist. Allein dafür wird sie mich umbringen. Und Calandryll, weil er mit dir befreundet ist.« »Möglicherweise nicht.« Brachts Stimme wurde nach denklich. »Ihr Anspruch auf mich ist gerechtfertigt, aber die einzige Anklage gegen euch kann nur der Tod dieser sieben Krieger sein, und dafür habe ich Wergeid angebo ten. Nach den Sitten Cuan na'Fors müssen die Angehöri gen der Getöteten entscheiden, ob sie das Angebot ak zeptieren oder ablehnen.« Calandryll hörte Katya stöhnen. Sie senkte den Kopf und vergrub ihr Gesicht, über das ihr flachsblondes Haar wie ein Schleier fiel, in beiden Händen. »Und wenn sie entscheiden, uns gehen zu lassen?« fragte sie gedämpft. »Sollen wir dann weiterreiten, wäh rend du an einen Baum genagelt hängst?« »Aye«, bestätigte Bracht. »So, wie wir es vereinbart haben.« Katyas Schultern bebten, und zwischen ihren Händen drang ein Laut hervor, den Calandryll zuerst nicht er kannte; er hatte nicht damit gerechnet, sie einmal weinen zu hören. Er konnte nur hilflos zusehen, wie Bracht einen
Arm um sie legte und sie an seine Brust zog. Es über raschte ihn, daß sie nicht versuchte, sich der Umarmung zu entziehen, sondern so liegenblieb, während Bracht ihr Haar streichelte und mit ruhiger und leiser Stimme auf sie einsprach. »Rhythamun ist nicht mehr hier, sonst hätten wir ihn längst schon gesehen. Also ist er weitergezogen, und ihr müßt ihn verfolgen. Hör mir zu.« Er ergriff ihr Kinn und hob ihren Kopf, so daß sie ihn ansehen mußte. »Jehenne wird mich mit Sicherheit an einen Baum nageln lassen, aber niemand lebt ewig, und ihr habt immer noch eine Pflicht zu erfüllen. Davon hast du dich bisher auch durch das, was wir füreinander empfinden, nicht abbringen lassen, und du wirst es auch jetzt nicht tun. Das darfst du nicht! Ich glaube, ich habe die ni Larrhyn ausreichend beeinflußt, daß Jehenne gezwungen sein wird, mein Angebot zu akzeptieren und mein Wergeid für euer Leben anzunehmen, oder ihre Position als Anführerin würde in Frage gestellt werden. Und in meinen Sattelta schen sind die Pfande, die euch gestatten, das Land der anderen Clane ungefährdet zu überqueren. Wenn es euch möglich ist, dann bringt in Erfahrung, wohin Rhythamun gegangen ist, wenn nicht, dann reitet weiter zum Cuan na'Dru und betet, daß Ahrd euch leitet. Aber ihr müßt auf jeden Fall weiterziehen, oder alles, was wir getan haben – und alles, was zwischen uns ist –, war vergebens.« Er lächelte sie auffordernd an, und nach einer Weile
nickte Katya. Bracht strich ihr behutsam über die Wan gen, und Calandryll nahm an, daß es Tränen waren, die der Kerner fortwischte, auch wenn das Zwielicht so dun kel war, daß er es nicht genau erkennen konnte. Dann seufzte Katya, richtete sich auf und löste sich aus Brachts Umarmung, fast so, als würde sie diese Demonstration von Schwäche und Verletzbarkeit bedauern, aber sie blieb dicht neben ihm sitzen, so daß sich ihre Schultern berührten. Den Rücken hatte sie an die Seitenwand des Karrens gelehnt. Auf einmal ging Calandryll ein Gedanke durch den Kopf, und obwohl er sich keine großen Hoffnungen machte, erschien ihm der Gedanke trotzdem wert, ihn auszusprechen. »Fällt Jehenne das Urteil allein?« fragte er. »Sie befehligt den Clan«, sagte Bracht. »Sie ist die ge wählte Ketomana.« »Und die Geistersprecher haben nichts dazu zu sa gen?« »Nicht in dieser Angelegenheit, es sei denn, sie fordert sie dazu auf. Ich sehe, worauf du hinauswillst, aber du hast Jehenne gehört, sie wird den Geistersprechern nicht gestatten, eine Wahrsagung über uns zu machen. Auch in diesem Punkt hat Rhythamun seine Verschlagenheit bewiesen.« »Sie hat gesagt, er hätte sie vor mir gewarnt.« Ca landryll runzelte die Stirn. Er weigerte sich, die letzte Hoffnung aufzugeben. »Ich glaube, es war nicht von dir
oder von Katya die Rede.« »Das spielt hier keine Rolle«, sagte Bracht. »Mein Ver gehen ist allgemein bekannt, und was das betrifft, hat Jehenne das letzte Wort. Hätte Katya Clanblut in den Adern, aye, dann hätte sie das Recht, eine Wahrsagung zu verlangen, nicht aber als Vanuerin.« »Mögen die Götter Rhythamun verfluchen!« fauchte Calandryll. »Er hat alle Möglichkeiten vorausgesehen und zunichte gemacht.« »Vermutlich verfluchen die Götter ihn«, sagte Bracht mit einem verkniffenen Grinsen. »Aber ihn zu besiegen, überlassen sie uns. Beziehungsweise euch, von morgen an.« »Du hast selbst gesagt, daß Hoffnung besteht, solange wir leben«, erwiderte Calandryll. »Und noch leben wir.« »Aye.« Bracht preßte ein zynisches Lachen hervor. »Aber selbst ich habe nicht immer recht«, fügte er selbst ironisch hinzu. »Gibt es keine Möglichkeit, mit einem Geistersprecher zu reden?« Calandryll war immer noch nicht bereit, alle Hoffnung fahrenzulassen. »Überhaupt keine Möglich keit?« »Nur, wenn Jehenne damit einverstanden ist«, erwi derte Bracht, »und das wird sie nicht sein.« »Es muß doch irgend etwas geben, das wir tun kön nen«, sagte Calandryll. »Wenn es etwas gibt, dann weiß ich jedenfalls nicht
was.« Bracht zuckte seufzend die Achseln. »Rhythamun hat seine Fallen zu gut aufgestellt, mein Freund.« Calandryll knirschte wütend mit den Zähnen. »Ein Gottesurteil durch einen Schwertkampf?« fragte er mit schnell nachlassender Hoffnung. »Könnten wir Jehennes Entscheidung nicht auf diesem Weg anzweifeln?« »Nicht, was mich betrifft«, antwortete Bracht. »Viel leicht in deinem Fall, obwohl Jehenne auch das ablehnen könnte, weil du nicht aus Cuan na'For stammst. Außer dem ist deine Schulter noch nicht völlig verheilt.« »Aber mir fehlt nichts«, sagte Katya. »Könnte ich sie nicht herausfordern?« »Wenn die Verwandten der Getöteten mein Geld an nehmen, besteht für dich kein Anlaß dazu«, erklärte Bracht. »Lehnen sie ab, oder sollte Jehenne versuchen, sie zu überstimmen, dann könntest du es verlangen. Aber ob Jehenne zustimmt oder ablehnt, ist allein ihre Entschei dung. Ich jedenfalls habe diese Möglichkeit nicht.« »Und wenn sie ablehnt, was dann?« wollte Calandryll wissen. Bracht schwieg eine Weile, bevor er ruhig antwortete: »Dann wird sie den Befehl geben, euch zu töten. Die bei den Lykardern übliche Todesart für Verurteilte ist die Enthauptung.« Dieser Tod war zwar einer Kreuzigung auf jeden Fall vorzuziehen, dachte Calandryll, aber auch nicht gerade erfreulich. »Die Jüngeren Gottheiten«, murmelte er, und die Hilflosigkeit ließ seine Stimme wütend klingen. »Bu
rash und Dera haben uns geholfen. Wird Ahrd jetzt nicht seinen Teil dazu beitragen?« »Bete, daß er es tut«, gab Bracht zurück. »Aber ich glaube, ich werde nicht mehr da sein, um das Ergebnis zu erleben.« »Drei«, flüsterte Katya so leise, daß ihre Stimme kaum zu vernehmen war. »Es war immer die Zahl drei. Wie sollen wir Erfolg haben, wenn wir nicht mehr zu dritt sind?« Bracht erwiderte nichts darauf, und auch Calandryll fiel keine Antwort ein. Es schien tatsächlich so, als hätte Rhythamun sie matt gesetzt, und ob am nächsten Mor gen nur Bracht oder sie alle sterben sollten, sie würden den Magier in keinem Fall mehr besiegen können. Ca landryll stöhnte, legte den Kopf zurück an die Leder wand und starrte in die Schatten, während seine Gedan ken auf der Suche nach einem Ausweg rasten. Bevor er irgendeine Antwort fand, wurde ihnen von einer schweigsamen Lykarderin Essen gebracht. Zwei Männer flankierten sie mit gezogenen Schwertern und blieben auch stumm, als Bracht sich erkundigte, ob sein Angebot, Wergeid zu zahlen, den Familien der Toten überbracht worden war. Er fluchte ausgiebig über die Schweigsamkeit der Krieger. Die Frau stellte den Korb, den sie mitgebracht hatte, vor den Gefangenen ab. Ihre Augen huschten von einem Gesicht zum anderen, bevor sie sich zwischen die Schwertträger zurückzog. Dann
verließen alle drei den Wagen und banden den Ausgang wieder gewissenhaft hinter sich zu. Draußen war die Nacht hereingebrochen. Im Inneren des Wagens herrschte vollkommene Schwärze, passend zu der Gemütsverfassung der Gefährten, die in dem Korb herumtasteten. »Sie hätten uns wenigstens Licht geben können«, be schwerte sich Calandryll. »Damit wir den Wagen abfackeln können?« Bracht schüttelte den Kopf, was niemand in der Dunkelheit sehen konnte. »Das wäre viel zu gefährlich, mein Freund.« »Wenn ich könnte, würde ich ihr ganzes Lager ab brennen«, sagte Katya leise und wütend. »Die Schuld trifft Jehenne«, murmelte Bracht. »Nicht den Clan.« »Sie folgen ihr«, fauchte die Kriegerin. »Sie gehorchen ihr.« »Wie es in Cuan na'For üblich ist.« Brachts Stimme klang verständnisvoll. »Solange Jehenne nicht gegen Clanrecht verstößt, müssen sie ihr gehorchen.« Katya schnaubte. Calandryll, der eine Fleischkeule aus dem Korb ge fischt hatte, sagte: »Wenigstens versorgen sie uns gut.« Er hatte recht. Es war Wildfleisch, und es war gut, auch wenn sie es von Hand zu Hand reichen und in Ermangelung eines Messers Stücke davon abbeißen muß
ten. Dazu gab es einen kalten Gemüseeintopf, Brot, Käse und sogar eine Flasche des herben Weines. Diese Groß zügigkeit überraschte Calandryll, bis er daran denken mußte, daß es vermutlich die übliche Gastfreundschaft war, die Verurteilten gewährt wurde, und daß Bracht seine Kreuzigung um so länger durchstehen würde, je kräftiger er war. Danach schmeckte es ihm nicht mehr, und er aß mechanisch, mehr aus einem instinktiven Be dürfnis heraus als mit Appetit. Während er kaute, dachte er, daß Bracht von ihnen allen am ruhigsten war, obwohl dem Kerner das unangenehmste Schicksal bevorstand. Für ihn selbst und Katya bestand wenigstens noch die Möglichkeit auf Rettung, Bracht dagegen war diese Hoffnung verwehrt, und trotzdem ließ er kein Anzeichen von Angst erkennen. Er war ein wahrhaft tapferer Mann, dachte Calandryll. Ihm wurde gar nicht bewußt, daß er selbst keine Zeit mit Gedanken über seinen eigenen mög lichen Tod vergeudete, sondern sich ausschließlich um den Kerner sorgte. Bracht wiederum schien sich nur Sorgen um seine Ge fährten zu machen. Als sie ihr Essen beendet hatten, ging er zum Eingangsvorhang und bat darum, daß sie ihre Notdurft verrichten durften. Wieder wurde Calandryll von der merkwürdigen Höflichkeit der Lykarder über rascht, denn man ließ sie sofort aus dem Wagen, wenn auch einzeln und unter Bewachung, und führte sie zu lederverhangenen Toiletten ein Stückchen stromabwärts. Es war beschämend, die Notdurft unter den Augen
wachsamer Männer verrichten zu müssen, aber es gab Calandryll wenigstens die Gelegenheit, das Lager etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Mittlerweile waren Feuer angezündet worden, das größte im Mittelpunkt des Lagers, wo die größten Karren standen, und er sah, daß sich dort viele Menschen ver sammelt hatten. Anscheinend waren sie in hitzige Dis kussionen vertieft. Ihre Stimmen klangen nur gedämpft zu ihm herüber, aber er glaubte, Verärgerung aus ihnen heraushören zu können, und einmal sah er die beiden Geistersprecher und Jehenne, die wütend gestikulierte. Er hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, und auch Bracht konnte ihm nicht weiterhelfen, als er zu ihrem Karren zurückgekehrt war. Er konnte nur die Hoffnung äußern, daß über sein Angebot, Wergeid für die getöteten Krieger zu zahlen, diskutiert wurde. Danach schien es kaum noch etwas zu geben, was sie hätten sagen können, außer vielleicht Lebewohl, aber niemand konnte sich dazu durchringen. Jeder Wahr scheinlichkeit zum Trotz klammerten sie sich an die Hoffnung, daß doch noch ein Wunder geschehen könnte. Die Debatte der Lykarder klang als Hintergrundmur meln zu ihnen herüber, genauso undeutlich wie die un aufhörlichen Geräusche, die die Pferdeherden verursach ten, und schließlich legten sich die Gefährten zum Schla fen nieder. Calandryll zog sich diskret mit einem Stapel Kissen zum Eingang zurück, so weit wie möglich entfernt von
Bracht und Katya. Er dachte sich, daß ihr Abschied viel leicht etwas intimer ausfallen könnte, denn entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit suchte sich Katya keinen Platz abseits von Bracht, sondern streckte sich neben dem Kerner aus, und Calandryll konnte in der Dunkelheit undeutlich das Silber ihres Kettenhemdes vor Brachts schwarzer Ledertunika sehen. Er wandte den beiden den Rücken zu, schloß die Augen und versuchte, auch sein Gehör auszuschalten. Natürlich weigerte es sich, seine Funktion einzustellen, und obwohl er seinen Kopf unter einem Kissen vergrub, konnte er es nicht vermeiden, Fetzen ihrer geflüsterten Unterhaltung aufzuschnappen. »Ich möchte dich nicht verlieren«, hörte er Katya sa gen. »Noch hast du mich nicht verloren«, erwiderte Bracht. Ihre Körper bewegten sich und ließen den Boden des Wagens leise knarren. Calandrylls Wangen wurden heiß. Er konnte sein Gehör ebensowenig abschalten, wie er aufhören konnte zu atmen. »Wir haben einen Eid geleistet«, hörte er Bracht jetzt sagen, und der Tonfall des Kerners erschreckte ihn, denn er war mit sehnsuchtsvollem Verlangen und Ablehnung zugleich erfüllt. »Aber damals konnten wir noch nicht wissen, was passieren würde«, flüsterte Katya. »Trotzdem«, klang wieder Brachts Stimme auf. »Wir haben es geschworen, bis das Arcanum zerstört ist.« »Dann wahrscheinlich nie«, erwiderte Katya.
»Wenn Ahrd es so will«, murmelte Bracht. »Aber ein Gelöbnis ist ein Gelöbnis, und ich möchte dich nicht entehren.« »Ehre!« Katyas Stimme wurde einen Augenblick lang lauter und dann wieder leiser. »Ist das jetzt noch so wich tig?« »Aye«, sagte Bracht ernst und sanft. »Deine und meine Ehre. Ich möchte nicht ohne Ehre in den Tod gehen, und ich möchte nicht, daß du die deine wegen einer Laune des Schicksals aufgibst.« Calandryll konnte Katyas Antwort nicht verstehen, weil er sich ein weiteres Kissen auf den Kopf drückte. Sein Gesicht wurde heiß, die Kissen, die einen schwachen Pferdegeruch verströmten, schnitten ihm die Luft ab. Er dachte schon, daß er Jehennes Rache vielleicht dadurch entgehen konnte, indem er erstickte, aber dann hörte er Katya lachen, gefolgt von Brachts leiserer Stimme, ob wohl der Karren nicht schaukelte und schwankte, wie er erwartet hatte. Statt dessen traf ihn irgend etwas am Rücken, und Brachts Stimme drang deutlich in seine glühenden Ohren. »Wir verbergen nichts vor dir, Calandryll. Du hast keinen Grund, dich zu verkriechen.« Da setzte sich Calandryll auf, sog dankbar frische Luft in die Lungen und konnte trotz der Dunkelheit undeut lich erkennen, daß der Kerner ein zweites Kissen in der Hand hielt und damit ausholte, um es nach ihm zu wer fen. Er lächelte und machte eine abwehrende Geste. »Ich
habe gedacht…«, begann er, »ich habe gedacht, daß…« »Aye«, erwiderte Bracht, »und wir sind dir dankbar für dein Taktgefühl.« »Aber Bracht ist ein ehrenhafter Mann«, fügte Katya hinzu. »Also kannst du ruhig schlafen.« Calandryll hörte Respekt und Zärtlichkeit in ihrer Stimme, und es klang wie eine Liebeshymne. Er ließ sich wieder zurücksinken und fragte sich, ob er in einer sol chen Situation auch so viel Beherrschung würde aufbrin gen können. Ob ich das wohl jemals herausfinden werde? dachte er, als ihn der Schlaf übermannte. Überrascht stellte er fest, daß er tatsächlich geschlafen hatte. Er hatte das Gefühl, daß er eigentlich hätte wach bleiben müssen, um über sein Leben nachzudenken und seinen zum Tode verdammten Freund zu bewachen oder sich über sein eigenes Schicksal zu sorgen, aber er öffnete erst wieder die Augen, als Licht auf sein Gesicht fiel und barsche Stimmen an seine Ohren drangen. Eine Wache stand unter der zurückgeschlagenen Eingangsplane und winkte ihm zu, den Karren zu verlassen. Wieder brachte man ihn allein zum Bach, wo er sich wusch und zwischendurch das erwachende Lager beo bachtete. Die Sonne war gerade erst über den Horizont geklettert und kündigte einen hellen, wolkenlosen Tag an. Bodennebel kroch um die Zelte, Kochfeuer brannten. Von dem großen Feuer auf dem Zentralplatz war nur ein rauchender Haufen verkohlter Holzscheite übriggeblie
ben. Kinder rannten zwischen den Karren umher, und überall entlang des Baches wuschen sich die Leute. Man brachte ihn zu ihrem Wagen zurück, wo er wieder einen Verpflegungskorb vorfand, diesmal gefüllt mit Brot, Früchten, Käse und einem Krug Wasser. Die Gefangenen frühstückten und warteten anschlie ßend. Es gab nichts, was sie hätten tun könnten. Schließlich wurde die Eingangsplane wieder zur Seite gezogen, und man forderte sie auf, herauszukommen. Ein Dutzend Krieger umringten sie und brachten sie zum Zentralplatz, wo Jehenne bereits wartete. Die Drachoman nii standen hinter ihr, flankiert von einer Menschentrau be aus Männern und Frauen mit feierlichen Gesichtern. Diese Leute, die einen besonderen Status innezuhaben schienen, hielten sich auf dem von den Wagen gebildeten Platz auf. Alle anderen, offensichtlich das gesamte Lager, sahen aus einiger Entfernung schweigend zu. »Die Angehörigen der Toten«, murmelte Bracht und deutete mit dem Kinn auf diejenigen, die Jehenne am nächsten standen. »Ich sollte lieber mit ihnen sprechen, wenn sie es mir erlaubt.« Die Eskorte blieb stehen, schob die Gefangenen vor, und Jehenne betrachtete sie lange Zeit schweigend. Die Sonne ließ ihr rotes Haar wie Feuer aufleuchten und funkelte auf den Metallplättchen, die ihre Lederkleidung zierten. Sie hatte die linke Hand auf den Griff ihres Schwertes gelegt, die rechte zur Faust geballt. In ihren Augen lag eine entsetzliche Vorfreude, ihr Lächeln war
raubtierhaft. »Das Urteil ist gefällt«, verkündete sie schließlich langsam und kostete jedes Wort einzeln genüßlich aus. »Wegen der Beleidigung, die er mir zugefügt hat, der Ermordung lykardischer Krieger und des unbefugten Betretens unserer Weidegründe wird Bracht ni Errhyn zum Tode verurteilt.« Sie verstummte, und auch alle Zuschauer blieben nach wie vor still. Selbst die Pferde schienen keine Geräusche mehr zu verursachen. Hoch oben in der Luft hörte Ca landryll einen Raben krächzen. Dann richteten sich Jehennes Augen auf Brachts Ge sicht, als erwartete sie, dort ein Anzeichen von Furcht zu entdecken, und sie fügte hinzu: »Du wirst von hier fort gebracht und gekreuzigt werden.« Sie hob den rechten Arm, öffnete die Faust und enthüllte die Nägel, die sie in der Hand hielt. Sie waren lang, hatten scharfe Spitzen und große breite Köpfe. »Damit wirst du an Ahrds Baum geschlagen werden, auf daß der Gott sein Urteil über dich fällt. Wenn es sein Wille ist, werden die Nägel nicht eindringen, und du bist frei. Solltest du jedoch für schul dig befunden werden, wirst du dort hängen, bis der Tod dich erlöst, und deine Knochen werden Zeugnis über deine Verfehlungen ablegen. So lautet dein Urteil.« Calandryll hörte, wie Bracht einmal scharf durch die Zähne einatmete, aber das Gesicht des Kerners blieb reglos, und obwohl sein gebräuntes Gesicht eine Spur blasser wurde, zeigte er keine erkennbare Angst. Statt
dessen neigte er nur knapp den Kopf, begegnete Jehen nes Blick und fragte: »Und meine Kameraden? Mein Angebot, Wergeid zu zahlen?« Jehenne schürzte die vollen Lippen, und ihre Augen wurden schmal vor Wut über die stoische Ruhe ihres Opfers. Calandryll spürte, wie sich ihm der Magen um drehte und seine Haut kalt wurde, ohne daß er hätte sagen können, ob aus Mitgefühl für Bracht oder aus Angst um sein eigenes Leben. Er straffte die Schultern und richtete sich gerade auf, entschlossen, ebensoviel Stärke wie Bracht zu zeigen. Obwohl sein Blick auf Je henne gerichtet war, sah er aus den Augenwinkeln her aus, wie Katya die Frau mit vor Wut gerötetem Gesicht haßerfüllt anstarrte. »Das Wergeid wurde akzeptiert.« Jehennes Stimme vibrierte vor mühsam beherrschtem Zorn. Ihre Finger knöchel traten weiß hervor, als sie die Nägel umklam merte. »Sie werden zusehen, wie du an den Baum gena gelt wirst, und dürfen dann gehen. Aber hört meine Worte: Sollte einer von euch noch einmal mein Land betreten, wird er wie Bracht sterben!« Mit einem Gesicht, das an eine schöne Harpyienmaske erinnerte, gab sie ein Zeichen, worauf ein Mann vortrat und Bracht dessen Satteltaschen aushändigte. Der Kerner zog den Lederbeutel mit dem Geld hervor und reichte ihn dem ihm an nächsten stehenden Geistersprecher. Der Schamane löste die Bänder, schüttete glitzernde Münzen in die Hände seines Kollegen und verkündete formell:
»Wergeid ist entrichtet worden, Gold für Blut. Niemand soll jetzt noch Rache fordern.« Da lächelte Bracht und nickte, als wäre er befriedigt, und Calandryll dachte, Jehenne müßte jeden Augenblick platzen vor Wut. »Gewähr mir einen letzten Wunsch«, bat Bracht. »Nein!« rief Jehenne schneidend. »Nichts!« »So will es die Sitte«, warf einer der Geistersprecher ein, und der andere wiederholte die Worte. Ein grauhaa riger Mann aus der Gruppe, die direkt neben Jehenne stand, sagte: »Das ist so üblich, Jehenne«, und die ande ren murmelten zustimmend. Jehenne stieß ein lautes Fauchen aus und gab wider willig nach. »Ich möchte etwas über Daven Tyras erfahren«, erklär te Bracht. »Wohin ist er gegangen?« Jehenne lachte voller Verachtung auf. »Du hältst im mer noch an diesem Märchen fest? Meinst du, irgend jemand hier glaubt dir deine Lügen?« »Wohin ist er gegangen?« wiederholte Bracht. »Ich glaube, du weißt, daß ich die Wahrheit über den Ges taltwandler gesagt habe. Verbündest du dich jetzt mit Gharan-evur, Jehenne? Verehrst du so wie er den Verrück ten Gott?« Calandryll war sich nicht sicher, ob Bracht tatsächlich Informationen erhalten oder die Frau nur wütend ma chen wollte. Wenn es das letztere war, hatte er sein Ziel
erreicht, denn auf ihrem Gesicht erschienen dunkle Fle cken, ihre Augen loderten hell auf, und ihre Lippen wur den dünn wie ein Strich. In diesem Moment schien sie wirklich wahnsinnig zu sein, und es hätte Calandryll nicht gewundert, wenn sie ihr Schwert gezogen und den Kerner auf der Stelle getötet hätte. Statt dessen antwortete sie mit nur mühsam be herrschter Stimme: »Er ist kein Gharan-evur, sondern ein Mann mit Visionen. Er reitet mit ausgewählten Kriegern nach Norden, um in meinem Namen mit den Valanern und den Yellern zu sprechen.« Brachts Augen wurden schmal, und Jehenne lachte thriumphierend, genoß seine Verblüffung. »Aye«, fuhr sie hämisch fort, »um mit den Ketomannii dieser Clane zu verhandeln und ihnen mein Angebot für ein Bündnis zu übermitteln.« »Ein Bündnis?« fragte Bracht. »Zu welchem Zweck?« Wieder lachte Jehenne. »Daß sich alle Clane von Cuan na'For zu einer großen Streitmacht vereinen und gemein sam nach Süden reiten. Lysse ist schwach, es liegt wie eine reife Frucht jenseits des Gann-Gebirges, die nur noch darauf wartet, gepflückt zu werden.« Calandryll keuchte auf, erkannte darin einen weiteren Mosaikstein eines großen und furchtbaren Plans, wieder ein Beweis dafür, daß Tharn mit seinem verderblichen Willen die Menschen beeinflußte und so selbst zu seiner Wiederauferstehung beitrug. Bürgerkrieg in Kandahar, in Lysse bereitete Tobias eine Invasion in dieses Land
vor, und jetzt auch noch dieses Gerede von einem Krieg zwischen Cuan na'For und Lysse. Es schien, daß der Wahnsinn in der gesamten Welt immer schneller um sich griff und sich die Menschen auf ein Blutbad vorbereite ten, das ein schreckliches Opfer an den Verrückten Gott werden würde. »Irrsinn!« hörte er Bracht rufen und glaubte, in einigen Gesichtern der versammelten Lykarder Unsicherheit zu entdecken. »Die Asyther werden einen solchen Wahnsinn zu rückweisen«, sagte Bracht. »Mein Vater wird niemals seine Zustimmung dazu geben.« »Dann werden dein Vater und – wenn es sein muß – dein gesamter Clan zugrunde gehen«, erwiderte Jehenne. »Alle, die sich diesem Traum widersetzen, werden zugrunde gehen.« »Du hast dich von einem Schwarzmagier verführen lassen!« schrie Bracht. »Daven Tyras ist ein Gestaltwand ler, ein Vatermörder, der das Ziel verfolgt, den Verrück ten Gott wiederauferstehen zu lassen! Du lieferst deinen Clan der Verdammnis aus, Frau!« »Schweig!« Jehennes Stimme war wie ein Peitschen schlag, begleitet von einer unwirschen Geste, worauf die Wachen näher traten und die Gefangenen mit festem Griff packten. »Du windest dich wie ein schmieriger Wurm, aber niemand glaubt deinen Lügen.« Calandryll starrte Jehenne an. Jetzt war er überzeugt, daß sie Rhythamuns Werkzeug war. Ob wissentlich oder
unbewußt, machte dabei kaum einen Unterschied. In ihrem blinden Ehrgeiz und ihrem Rachedurst hatte sie sich dem Magier ausgeliefert und half ihm bei seinem furchtbaren Vorhaben. Er wurde zurückgezerrt, die Wa chen drängten sich um ihn, aber bevor die Zuschauer von ihren Körpern verdeckt wurden, glaubte er, ihre Verunsicherung wachsen zu sehen. War das Brachts Absicht gewesen? Allen ni Larrhyn zu zeigen, welchen Weg ihre Anführerin einschlug? Es schien ihm eine eher philosophische Frage zu sein, als er grob davongestoßen und auf sein Pferd gesetzt wurde, Katya zu seiner Rech ten, Bracht dahinter. Reiter umringten sie, dirigierten sie über den Bach und zwischen den Karren hindurch zur anderen Seite des Tales. Jehenne führte den Zug an. Sie war deutlich zu erkennen auf ihrem großen weißen Pferd, gefolgt von den beiden Geistersprechern und einer Gruppe von Leu ten, die im Gegensatz zu den Wachen angeregt diskutier ten. Sie erreichten die Kuppe des Hanges, fielen in einen langsamen Galopp und hielten auf ein kleines Wäldchen zu, das sich undeutlich in der Ferne abzeichnete. Es war noch früh am Morgen, aber bereits warm, die Sonne eine helle Scheibe, die gleichgültig aus einem erstaunlich blauen Himmel schien, über den nur hier und da eine vereinzelte Wolke trieb. Als Bracht sprach, versuchte niemand aus der Eskorte, ihn zum Schweigen zu brin gen. Die Männer schienen den Wunsch des Verurteilten, sich zu verabschieden, zu respektieren.
»Dies ist ein guter Tag, um zu sterben, obwohl ich wünschte, es würde auf eine andere Weise geschehen.« Brachts Lächeln war grimmig und strafte seinen fröhli chen Tonfall Lügen. »Aber egal, ihr seid in Sicherheit, also hört mir zu.« Seine Stimme wurde sanfter, als er sich an Katya wandte. »Nein, weine nicht, höre mir zu. Sollte Rhythamun wirklich die Valaner und die Yeller zu die sem wahnsinnigen Bündnis überreden, muß er sich noch eine Weile in Cuan na'For aufhalten, und dann habt ihr eine Chance, ihn zu finden.« »Nur wir beide?« Katyas Stimme klang verzerrt. »Wenn es sein muß«, sagte Bracht fest. »Und wenn ihr immer noch vorhabt, den Cuan na'Dru zu betreten, be schwöre ich euch, vorsichtig zu sein. Sucht zuerst die Eichen am Rande des Waldes auf und bittet Ahrd um Erlaubnis, sein Reich betreten zu dürfen. Wenn ihr den Gruagach begegnet und sie sich als unfreundlich heraus stellen, dann macht kehrt und reitet davon, so schnell ihr könnt. Geht nicht in die Richtung, die euch die Gruagach verwehren. Darauf möchte ich euer Wort haben.« Katyas Antwort bestand aus einem zustimmenden Stöhnen. »Aye«, sagte Calandryll. Er bemerkte, daß auch die Männer der Eskorte Brachts Worte mitbekommen hatten, und auf ihren normalerweise unbewegten Gesichtern malte sich Überraschung ab, als ob dieses Gerede über den Cuan na'Dru und die Gruagach sie beeindruckte. Und außerdem, dachte er, nährte es die Zweifel, die Bracht in
ihnen zu säen versuchte. Wozu auch immer das gut sein mochte, denn keiner von ihnen schien sich gegen Jehen nes Urteil aufzulehnen, und deshalb würde es dabei bleiben, daß Bracht an einen Baum genagelt wurde. »Wir haben einen langen Weg zurückgelegt, wir drei«, fuhr der Kerner fort, »und ihr sollt wissen, daß ich mir keine besseren Gefährten hätte wünschen können.« »Ich mir auch nicht«, erwiderte Katya. Ihre Kehle hatte sich vor Kummer zusammengeschnürt, und sie brachte die schlichten Worte nur langsam und erstickt hervor. »Ich werde niemals einen wahreren Freund finden«, sagte Calandryll, dessen Stimme jetzt ebenfalls heiser klang. »Und wenn es in meiner Macht liegt, wird dein Tod nicht ungesühnt bleiben.« Bracht nickte und warf einen wachsamen Blick in Richtung ihrer Eskorte. »Macht Rhythamuns Niederlage zu eurer Rache«, murmelte er und grinste dann. »Es sei denn, ihr bekommt diese Gelegenheit, von der wir bereits gesprochen haben.« Calandryll neigte den Kopf, ein stummes Versprechen. »Also, da ich glaube, daß es Jehenne ziemlich eilig hat«, fuhr Bracht fort, »sage ich euch beiden jetzt schon Lebewohl. Mögen Ahrd und alle seine Göttergeschwister mit euch sein, und verliert keine Zeit, wenn ich an dem Baum hänge. Jehenne ist dem Wahnsinn verfallen, und es könnte durchaus sein, daß sie ihr Versprechen bricht.« Calandryll sah, wie einige ihrer Bewacher daraufhin die Stirn runzelten, aber sie blieben stumm. »Leb wohl,
Bracht«, sagte er. »Leb wohl«, sagte auch Katya, und auf ihren Wangen glitzerten Tränen, so silbern wie die Maschen ihres Ket tenhemdes. »Und du sollst wissen, hätten wir das Arca num nach Vanu gebracht, wäre ich deine Frau geworden, selbst wenn mein Vater mir seine Zustimmung verwei gert hätte.« »Dann werde ich zufrieden sterben«, erwiderte Bracht feierlich. Danach schwiegen sie, während das unablässige Trommeln der Pferdehufe die Entfernung fraß, die sie noch von dem Wäldchen trennte. Calandryll spürte, daß auch seine Wangen naß waren. Er wischte die Tränen fort, biß die Zähne aufeinander und betete verzweifelt um ein Wunder, daß Ahrd eingriff, daß ein Byah aus dem immer näher kommenden Wald treten und Jehenne zu rückweisen würde. Doch das einzige, was näher kam, waren die Bäume, die jetzt nicht mehr verschwommene Silhouetten in der hitzeflirrenden Prärie, sondern deutlich einzeln erkenn bar waren. Sie bildeten einen kleinen Hain, der das fri sche Grün der Frühlingstriebe zeigte, beherrscht von einer einzelnen Eiche an seinem Rand, die ihre knorrigen Äste wie Arme weit ausstreckte. Jehenne hielt im Schat ten des Baumes und betrachtete den großen Stamm eine Weile, bevor sie abstieg und die Zügel einem Krieger zuwarf, der das Pferd wegführte. Die beiden Drachoman nii sprangen ebenfalls aus den Sätteln, fielen mit ausge
breiteten Armen und gespreizten Fingern auf die Knie und begannen, ein Gebet zu singen. Die Männer der Eskorte zügelten die Pferde, hielten ein Stückchen von der Eiche entfernt an, bedeuteten den Gefangenen, abzu steigen, und warteten auf Jehennes Anweisung, bevor sie die drei zu ihr brachten. Sie stand breitbeinig da, die Hände in die Hüften ge stemmt, und sah triumphierend zu, wie sie zu ihr geführt wurden. »Ich möchte Ahrd um Gnade bitten«, sagte Bracht, was sie ihm mit einem kurzen Nicken gewährte. Er schüttelte die Hände ab, die ihn hielten, und ging auf die Eiche zu. Die Geistersprecher standen auf, zogen sich zurück, und Bracht legte beide Hände auf den runz ligen Stamm. Er murmelte leise vor sich hin, dann kniete er sich nieder, hob die Arme und senkte den Kopf. Jetzt! schrie Calandryll stumm in die Stille hinein, die sich in seinem Kopf breitgemacht hatte. Rette ihn jetzt! Ahrd, wenn Du willst, daß wir Rhythamun besiegen, dann schicke jetzt einen Byah. Weise Jehenne zurück und rette diesen Mann, der auf eine Mission gegangen ist, um Dich und alle Deine Göttergeschwister zu retten! Doch die einzige Antwort, die er erhielt, war der Ge sang der Vögel und das sanfte Rascheln der Blätter im Wind. Er sah, wie Bracht aufstand, der Eiche den Rücken kehrte, sich der rothaarigen Frau zuwandte und sagte: »Ich habe meinen Frieden gemacht, jetzt tu du, was du tun willst. Aber vergiß nicht dein Versprechen, daß mei
ne Gefährten in Freiheit davonreiten können.« Calandryll spürte, wie sich Katyas Hand in seinen Un terarm krallte und sich ihre Finger tief in sein Fleisch bohrten. Er legte seine Hand auf die ihre, und sie sahen voller Entsetzen zu, wie Jehenne unter ihre Tunika griff und die beiden Nägel hervorholte. Sie reichte sie den Geisterspre chern und befahl ein paar Kriegern, Bracht zu ergreifen und ihn gegen den Baum zu drücken. »Das ist nicht nötig.« Brachts Stimme klang herausfor dernd, und Calandryll sah Jehennes Lippen schmal wer den, als sich der Kerner mit dem Rücken an den Baum stamm lehnte, die Arme seitlich erhoben. Der alte Baum war so groß, daß Bracht nicht einmal die Vorderseite des graugrünen Holzes mit den Armen umspannte. Die Zweige über ihm warfen sanfte Schatten auf sein Gesicht. Er spannte seinen Körper und rief mit fester Stimme: »Also fang an, und möge Ahrd deine Seele verfluchen!« Jehenne fauchte, enttäuscht über seinen Mut, und bell te Befehle, worauf zwei muskulöse Krieger vortraten, die Brachts Handgelenke mit einer Hand umklammerten und gegen den Stamm preßten. In der anderen Hand hielt jeder einen Hammer mit einem lederumwickelten Stiel und einem schweren Kopf aus stumpfem Metall. Jehenne reichte jedem Geistersprecher einen Nagel. Die Schamanen traten vor und setzten die Spitzen auf Brachts Handflächen. Die Krieger hoben die Hämmer. Jehenne
lächelte, hielt die Augen unverwandt auf Brachts Gesicht gerichtet, und sagte mit furchtbarer Vorfreude: »Fangt an.« Wie aus einem Mund intonierten die Drachomannii: »Ahrds Wille geschehe«, und die Hämmer fielen herab. Calandryll beobachtete das Geschehen mit entsetzter Faszination, unfähig, den Blick abzuwenden oder die Augen zu schließen, wie gebannt von dem grauenhaften Schauspiel. Er spürte, wie seine eigenen Handflächen zu prickeln begannen, wie sich seine Hände unwillkürlich zu Fäusten ballten. Neben ihm stöhnte Katya tief auf, und ihre Hand umklammerte seinen Arm noch fester, ohne daß er es bemerkte. Ein Zittern lief durch Brachts Körper, als die Nägel in seine Hände eindrangen. Sein Kopf ruckte zurück, stieß heftig gegen den Baumstamm, die Sehnen an seinem Hals traten deutlich hervor. Er biß die Zähne zusammen, um einen Aufschrei zu unterdrücken. Seine Augen wur den groß und hell vor Schmerzen, Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Wieder hoben sich die Hämmer, wieder fielen sie her ab. Blut quoll aus Brachts Handflächen hervor, lief daran herab und tropfte auf den Stamm. Sein Mund verzog sich zu der gespenstischen Nachahmung eines Lächelns. Die Nägel ragten so lang wie ein Finger aus seinen Händen. Erneut schlugen die Hämmer zu. Wieder lief ein Schauder durch Brachts Körper, aber noch immer ragten
die Nägel aus seinen Händen hervor, als würde das Holz unter ihnen nicht nachgeben. Der Krieger zu seiner Lin ken zögerte und warf dem Geistersprecher auf seiner Seite einen verblüfften Blick zu. »Schlagt kräftiger zu!« schrie Jehenne. Beide Männer hoben die Hämmer und ließen sie her absausen. Die Nägel drangen nicht tiefer ein. Jetzt verharrten beide Männer, blickten erst einander und dann die Geistersprecher an. Calandryll spürte Hoffnung wie ein winziges Flämmchen in sich auffla ckern und flehte Ahrd stumm an, betete um Gnade und um ein Wunder. »Härter!« kreischte Jehenne. »Fester!« Die Hämmer fuhren herab, und in den Schlägen lag die ganze Kraft, die in den muskulösen Armen der Krie ger steckte. Metall prallte dröhnend auf Metall, aber es war aussichtslos. Keiner der Nägel drang in das Holz ein. Calandrylls Blick war starr auf das Gesicht seines Kame raden gerichtet, so daß er Jehennes Miene nicht sehen konnte, aber er hörte ihren erstickten Schrei, als würde sie sich und nicht ihr Opfer im Griff der Schmerzen win den. Und dann keuchten alle Zuschauer vor Ehrfurcht auf und standen wie gelähmt da, als sich die Nägel lang sam aus Brachts Händen herausschoben. Die Krieger mit den Hämmern traten einen Schritt zu rück. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich Scheu und etwas anderes ab, das Angst nahe kam. »Nein!« schrie Jehenne schrill. »Schlagt weiter und
kräftiger!« Die beiden Männer stand unschlüssig da. Einer holte halbherzig mit dem Hammer aus, doch da hob ein Geis tersprecher gebieterisch die Hand und sagte: »Nein. Hört auf.« Und dann standen alle schweigend da, während sich die Nägel unerbittlich aus Brachts Handgelenken scho ben, bis sie mit blutigen Spitzen in das Gras zu seinen Füßen fielen. Dort, wo sie sein Fleisch durchbohrt hatten, erschien eine grünliche Flüssigkeit, als hätte die unbe schädigte Borke der Eiche ein Sekret ausgeschwitzt, um die Nägel auszutreiben und die Wunden zu durchdrin gen. Es quoll aus den Löchern, lief wie Balsam über seine Haut, überdeckte das Blut und tropfte auf den hellroten Fleck im Gras. Calandryll sah fassungslos, wie die qual volle Anspannung Brachts Körper verließ. Die Augen des Kerners waren nicht mehr von Schmerzen verschleiert, sondern wurden klar, der verzerrte Mund entspannte sich, das klaffende Grinsen verwandelte sich in ein bei nahe glückseliges Lächeln. »Gelobt sei Ahrd!« rief Bracht mit lauter und deutlicher Stimme. Dann schloß er die Augen, glitt an dem Stamm herab und fiel schlaff zu Boden. Calandryll spürte seinen Unterarm brennen, als Katya ihren Griff löste und frisches Blut in die betäubten Mus keln strömte. Die Kriegerin eilte an Brachts Seite, bettete seinen Kopf in ihre Arme und starrte triumphierend auf die grüngefärbten Wunden. Die Flüssigkeit gerann, ver
krustete über den Löchern und verschmolz mit der auf gerissenen Haut, bis es schien, als wäre sie nicht von Nägeln durchbohrt worden. Nach wenigen Momenten war außer undeutlichen Stigmata nichts mehr von den Wunden zu sehen, nur noch blasse grünliche Flecken, wo neues Fleisch gewachsen war. »Ahrd hat über diesen Krieger zu Gericht gesessen und ihn für unschuldig befunden.« Der Geistersprecher starrte Bracht genauso ehrfürchtig an, wie es die Umste henden taten. »So ist es«, fügte der andere hinzu. »Ahrd weist die Nägel zurück. Dieser Mann wurde freigesprochen.« »Nein!« schrie Jehenne in hilflosem Zorn. Calandryll sah, wie sie das Schwert blitzschnell aus der Scheide zog, hochriß und losstürmte. Er streckte geistesgegenwärtig ein Bein aus und brachte sie zu Fall. Jehenne stürzte mit dem Kopf voran zu Boden, rollte sich aber geschmeidig wie eine Katze ab, kam wieder auf die Füße und ging erneut auf den bewußtlosen Bracht los. Wut und Wahn sinn blitzten in ihren grünen Augen. Katya war genauso schnell, gab Brachts Kopf frei und richtete sich in eine Hockstellung auf, bereit, ihn mit bloßen Händen zu ver teidigen. Calandryll schnellte vorwärts, prallte gegen die Frau und brachte sie erneut zu Fall. Die Lykarder began nen zu schreien. Er umklammerte Jehennes Handgelenk und schlang ihr einen Arm um den Hals. Jehenne kreischte und tobte und versuchte, ihn abzuschütteln. Er hörte schwere Stiefelschritte näher kommen, dann wurde
er von mehreren Händen gepackt und von Jehenne fort gezerrt, glaubte schon, die ni Larrhyn würden sie gewäh ren lassen, und brüllte: »Ahrd hat sein Urteil gefällt! Ahrd hat ihn für unschuldig befunden!« Als sie ihn auf die Füße zogen, sah er, daß Jehenne von anderen Lykardern festgehalten wurde. Sie entwanden ihr das Schwert, und ihre dunklen Gesichter wirkten verwirrt und verängstigt, während Jehenne darum kämpfte, sich aus ihren Händen loszureißen. »Tötet ihn«, keuchte sie. Speichel lief über ihre verzerr ten Lippen. »Ich befehle euch, ihn zu töten! Tötet sie alle drei!« »Du begehst eine Blasphemie.« Beide Geistersprecher bauten sich zwischen ihr und Bracht auf. Calandryll sah, daß Katya wieder neben dem Kerner niederkniete, ihm die Hände über der Brust faltete und seinen Kopf auf ihrem Schoß bettete. »Tötet sie!« tobte Jehenne weiter. »Ich bin die Ketomana der ni Larrhyn, und ich verlange von euch, sie zu töten.« »Nein!« Die Geistersprecher traten einen Schritt auf die noch immer kämpfende und heulende Frau zu, die Arme abwehrend erhoben. Sie begannen zu sprechen, und Calandryll hatte den Eindruck, nur eine einzige Stimme zu hören, aber vielleicht kamen ihre Worte auch nur zu schnell hervor und waren sich im Tonfall zu ähn lich, als daß er sie auseinanderhalten konnte. »Ahrds heilige Eiche hat die Nägel zurückgewiesen – willst du das Urteil unseres Gottes mißachten?
Dieser Mann wurde gerettet, und kein Lykarder darf seine Hand gegen ihn erheben, will er nicht der Ver dammnis anheimfallen. Ahrd hat sein Urteil gesprochen und diesen Krieger für ehrenhaft befunden. Sorgt dafür, daß jeder dies er fährt. Verbreitet die Kunde in allen Lagern – Bracht ni Errhyn reitet ohne Schuld über unsere Weidegründe. Niemand darf sich unserem Gott widersetzen. Seht her! Sind seine Wunden nicht verheilt? Hat Ahrd ihm nicht das Leben zurückgegeben? Dies ist ein großes Ereignis, dessen Zeuge wir geworden sind, und wer dies abstreitet, der verleugnet Ahrd selbst.« »Ich streite es ab!« Entsetztes Schweigen folgte Jehennes Worten. Die Krieger, die sie festhielten, waren so schockiert, daß sie sie freigaben. »Blasphemie!« schrie jemand. Ungläubige Wut zeichnete sich in den Gesichtern der Geistersprecher ab. Die Frau tat einen Schritt auf sie zu, und sie wichen zurück, als fürchteten sie, von ihr ir gendwie angesteckt zu werden. »Was du sagst, ist Blasphemie.« »Ich möchte ihn trotzdem töten. Sie alle!« »Das darf nicht geschehen.« »Das darf es. Und es wird geschehen.« Calandryll spürte, wie die Hände, die ihn festhielten, zurückgezogen wurden, sah Fassungslosigkeit in allen
Gesichtern. Jehenne bückte sich, um ihr Schwert aufzu heben. »Wenn du Ahrd verleugnest, dann kannst du nicht mehr die Ketomana der ni Larrhyn sein«, sagte der erste Geistersprecher. »Steck dein Schwert ein und laß diese drei unbehelligt weiterreiten«, fügte der zweite hinzu. »Aye«, nahmen die anderen Lykarder die Worte der Geistersprecher auf. »Keine Gotteslästerin darf uns füh ren.« »Sie verleugnet Ahrd selbst.« »Das ist Wahnsinn, wie es der ni Errhyn gesagt hat.« »Es wurde Wergeid entrichtet.« Jehenne ließ ihr Schwert durch die Luft fahren und drehte sich langsam um ihre eigene Achse. Ihre Augen schimmerten angriffslustig. Calandryll spannte sich, bereit, sich wieder auf sie zu stürzen, und er fragte sich, ob er ein Schwert ergreifen sollte, ohne einen Gedanken an seine von der Verwundung noch geschwächte Schul ter zu verschwenden. »Wenn du das tust, Jehenne«, sagte einer der Geister sprecher, »bist du verdammt.« »Dann werde ich eben verdammt sein.« Der Geistersprecher erbleichte. »Diese Frau darf uns nicht länger führen«, sagte der andere. »Dann werde ich euch nicht länger führen. Aber ich
werde meine Rache nehmen!« »Indem du einen wehrlosen Krieger abschlachtest?« klang eine Stimme hinter Calandryll auf. »Du bist ohne Ehre, Frau.« »Ich habe sein Wergeid angenommen, obwohl mein Sohn getötet worden ist«, sagte ein anderer Mann. »Wir haben eine Vereinbarung getroffen.« »Aye«, stimmten alle wie aus einem Mund zu. »Du verleugnest unseren Gott und raubst uns unsere Ehre.« Einer der Geistersprecher deutete anklagend mit dem Finger auf Jehenne, die ein verächtliches Lachen ausstieß und fragte: »Du sprichst von Ehre? Was ist denn mit meiner Ehre, die von Bracht ni Errhyn beschmutzt worden ist?« »Darüber hat Ahrd sein heiliges Urteil gefällt«, erwi derte der Geistersprecher mit rauher Stimme. Seine Au gen waren vor Fassungslosigkeit geweitet, die Farbe in seinem Gesicht hatte Risse bekommen. »Aber ich nicht das meine.« Jehennes Krummschwert zuckte vor, und der Geistersprecher zog die Hand zu rück, einen Herzschlag, bevor die Klinge ihm die Finger abtrennen konnte. Die versammelten Lykarder keuchten ungläubig auf, dann erhob sich ein wütendes Grollen, und Calandryll hatte den Eindruck, daß sie jeden Au genblick über die Frau herfallen würden. Das Blatt hatte sich völlig gewendet. »Wenn sie so sehr nach Blut dürstet, dann soll sie es doch mit dem meinen versuchen.«
Katya hatte auf Envah gesprochen. Ihre Stimme klang so hart und kalt, wie ihre grauen Augen aussahen, in denen ein Sturm zu toben und Blitze zu zucken schienen. Die Proteste erstarben, und alle Augen richteten sich auf sie. Sanft wie eine Mutter, die ihr Baby in die Wiege legt, ließ sie Brachts Kopf in das Gras sinken, erhob sich und trat vor, den Blick starr auf Jehenne gerichtet. »Diese … Kreatur … ist bereit, das Urteil eures Gottes zurückzuweisen, sie würde einen wehrlosen Mann ab schlachten, sie will ein Versprechen brechen, das mit Wergeid besiegelt worden ist. Sie besudelt die Ehre aller ni Larrhyn.« Nicken und zustimmendes Gemurmel be antworteten diese hitzigen und deutlichen Worte. »Aye, Bracht hat euch davor gewarnt«, fuhr sie fort, »und er hat die Wahrheit gesagt. Genau wie über Rhythamun, der diese verdorbene Frau verführt hat. Erinnert euch daran, nachdem ich sie besiegt habe. Erin nert euch daran, daß der Körper von Daven Tyras nur die Hülle eines Hexers ist, der den Verrückten Gott wie derauferstehen lassen und die Welt ins Chaos stürzen will. Wenn ihr weiter dem wahnsinnigen Traum nach hängt, den er in ihr geweckt hat, dann verbündet ihr euch mit dem Wahnsinn, mit einem Gott, der von seinen eigenen Eltern verdammt wurde, der Ahrd und alle Jün geren Götter vernichten will. Wenn ihr tut, was Jehenne von euch erwartet, dann unterwerft ihr euch Tharns Plänen.« Sie verstummte. Ihr Körper war gespannt wie eine Fe
der, ihre Augen wütend und trotzig. Calandryll zollte ihr lautlos Beifall für ihren Scharfblick, dafür, daß sie selbst in dieser Situation daran dachte, die Gunst des Augenbli ckes zu nutzen und Rhythamuns Pläne zu durchkreuzen. Er sah die Zweifel in den Gesichtern der Lykarder wach sen und zur Gewißheit werden. Keiner würde das von Jehenne vorgeschlagene Bündnis jetzt noch unterstützen. »Das wird nicht geschehen«, versicherte einer der Geistersprecher. »Es werden Boten ausgeschickt werden«, sagte der andere, »um vor diesem Magier zu warnen.« »Es wird kein solches Bündnis geben«, versprach der erste. Katya nickte. »Dann gebt mir meine Waffe, damit wir diese Angelegenheit klären können«, verlangte sie. »Soll diese Kreatur versuchen, ihre wahnsinnige Rache zu vollziehen.« Einen Moment lang herrschte unschlüssiges Schwei gen, dann rief einer der Geistersprecher: »So soll es ge schehen!« Ein Krieger lief los, holte Katyas Säbel und reichte ihn ihr mit einer respektvollen Verbeugung. Sie hob ihn, während die Lykarder einen Kreis um sie und Jehenne bildeten. Beide starrten einander mit unverhülltem Haß an. »Dein Leben gehört mir«, fauchte die rothaarige Frau. Katya warf ihre flachsblonde Mähne zurück und lä
chelte kalt. »Dann versuch doch, es dir zu holen«, erwi derte sie herausfordernd. Jehenne bedurfte keiner weiteren Aufforderung. Schnell wie ein zustoßender Habicht sprang sie vor, das Krummschwert wirbelte blitzend durch die Luft. Katya blieb auf der Stelle stehen, riß den Säbel hoch, blockierte den Angriff der Lykarderin, erwiderte ihn und fing damit Jehennes Anfangsschwung ab. Beide wichen etwas zurück, umkreisten einander und begannen ein verhaltenes Wechselspiel von Scheinangriffen, Vorstößen und Gegenattacken. Stahl klirrte auf Stahl, beide Frauen versuchten, die Grenzen und Fähigkeiten der jeweils anderen herauszufinden. Jehenne wurde von ihrer Wut angetrieben, von dem Wahnsinn, der in ihren Augen loderte, Katya von der festen Entschlossenheit, den Mann zu verteidigen, den sie liebte, und ihre Mission durchzu führen. Calandryll blieb wie allen anderen nur die Rolle des Zuschauers, er wich mit dem Kreis zurück und rückte wieder vor, je nachdem, wie sich der Kampf verlagerte. Es hatte den Anschein, als wären sich die beiden Frauen ebenbürtig und der Ausgang des Kampfes offen. Er sah, wie Jehenne einen Schlag auf Katyas Kopf antäuschte und den Hieb im letzten Moment umlenkte, um die Klinge blitzschnell auf ihre Brust zustoßen zu lassen. Die Vanuerin parierte und schlug waagrecht nach dem Bauch der Lykarderin. Jehenne tänzelte unbeeindruckt zurück, sprang zur Seite und versuchte, Katyas Schwung auszu
nutzen und sie zu einer Drehung zu veranlassen, um das Krummschwert auf ihren ungedeckten Rücken nieder fahren lassen zu können. Katya wich dem Schlag mit einem Sprung aus und erwiderte ihn so kräftig, daß Je hennes Schwert seitlich weggerissen wurde und sie dem Gegenschlag nur durch ihre Schnelligkeit entging. Danach hielten beide eine Weile ihre Stellung und wechselten zwischen Angriff und Verteidigung hin und her. Der helle Klang der aufeinanderprallenden Klingen hallte durch die warme Luft. Plötzlich trat Jehenne einen Schritt näher, als Katya gerade den Säbel hob, um einen von oben geführten Hieb abzuwehren, und ihre linke Hand zuckte zu ihrer rechten Hüfte, wo ihr Langdolch in seiner Scheide steckte. Calandryll stieß einen Warnschrei aus, aber Katya hatte die Bewegung bereits gesehen – oder gespürt. Ihre linke Hand schoß vor und umklam merte Jehennes Handgelenk, bevor der Dolch ihr den Bauch aufschlitzen konnte. Einen endlosen Moment lang standen sie sich dicht gegenüber, während Katyas erho bener Säbel das Krummschwert fernhielt und Jehenne darum kämpfte, den Dolch ins Spiel zu bringen. Dann hakte Katya unvermittelt die Stiefelspitze hinter Jehennes Fußknöchel, drehte sich auf der Stelle und beugte sich weit zur Seite, als das Krummschwert heruntersauste. Durch die Kraft, die sie in den Schlag legte, geriet die rothaarige Frau aus dem Gleichgewicht. Sie schrie gellend auf, als sie stürzte. Katya hielt noch immer Jehennes linkes Handgelenk umklammert und
nagelte mit dem Stiefel die rechte Hand ihrer Gegnerin auf den Boden. Sie drückte die Säbelspitze auf Jehennes Kehle, gerade stark genug, daß ein kleiner Blutstropfen aus der Haut der Lykarderin hervorquoll. Jehennes ehe mals schönes Gesicht verzerrte sich zu einer häßlichen Fratze, und sie fauchte mit rauher Stimme: »Los, mach schon Schluß. Ich werde nicht um Gnade winseln, falls es das ist, worauf du es abgesehen hast.« Katya schüttelte den Kopf, die Sonne ließ ihr silber goldenes Haar schimmern. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Das hätte ich auch nicht erwartet«, sagte sie. Sie sprach immer noch Envah, damit alle sie verstehen und hinterher niemand behaupten konnte, das Duell wäre unfair gewesen oder nur durch einen Trick entschieden worden. »Nein, ich töte keinen wehrlosen Feind. Ich bin nicht wie du.« Sie ließ das Handgelenk der Lykarderin los und sprang zurück. Jehenne kam wieder auf die Beine. Sie war rasend vor Zorn und hielt Krummschwert und Dolch ausgestreckt. Calandryll hörte, wie ein anerken nendes Murmeln durch die Zuschauer ging. Wäre er an Katyas Stelle gewesen, dachte er, hätte er nicht so viel ritterliche Rücksicht walten lassen, sondern gleich zuge stoßen und Jehenne den Kopf von den Schultern ge trennt. Aber Katya wirkte selbstsicher genug, und tatsächlich schien Jehenne nicht vorsichtiger, sondern eher noch ungestümer zu werden. Es war, als hätte die Tatsache,
daß ihr Leben verschont worden war, ihre Wut noch weiter angefacht und würde sie unvorsichtig werden lassen, denn jetzt griff sie unter völliger Mißachtung ihrer eigenen Deckung an, versuchte, Katya zurückzutreiben und allein durch die Wucht ihrer Attacken zu besiegen. Krummschwert und Langdolch zuckten und stießen vor, suchten eine Lücke in der Deckung der Vanuerin. Die flachsblonde Kriegerin parierte jeden Stoß und Schlag mit ihrer Geschicklichkeit. Sie umkreisten einander im mer weiter, und Calandryll erkannte, daß Katya ihre Gegnerin ständig lockte, um sie müde zu machen, wäh rend sie mit ihren eigenen Kräften haushaltete. Sie be schränkte sich jetzt völlig auf die Defensive, bewegte sich nicht mehr als nötig, während Jehenne ständig hin- und hersprang und mit einer derart wilden Energie zuschlug, daß ihr der Schweiß in Strömen über das Gesicht lief und ihr Atem in keuchenden Stößen zwischen ihren verzerr ten Lippen hervorkam. Einmal schien der Dolch den Weg in Katyas Rippen gefunden zu haben, aber im letzten Augenblick stieß die Vanuerin Jehenne zurück, immer noch lächelnd, obwohl eine dünne rote Linie auf ihrem Kettenhemd erschien. Ein anderes Mal streifte das Krummschwert ihren Ober schenkel, aber der Schnitt war nur oberflächlich. Und Katyas Säbel landete seinerseits Treffer. Die Tunika über Jehennes Rippen wurde aufgeschlitzt, Flecken, röter als das Leder, breiteten sich um den Schnitt herum aus, Blut lief ihr vom linken Unterarm über die Hand, die den Dolch umklammerte, Metallplättchen lösten sich und
klirrten unter Jehennes Brust. Doch auch das waren keine tiefen Wunden, nur leichte Verletzungen, die Jehenne im Eifer des Gefechtes und ihren unablässigen Versuchen, Katyas Deckung zu durchbrechen, gar nicht registrierte. Der Kampf verlagerte sich in Richtung der Eiche, und Calandryll schob sich zwischen die Frauen und Bracht, der immer noch bewußtlos auf dem Boden lag. Es war denkbar, daß Jehenne ihr Leben riskieren würde, nur um den Kerner zu töten, oder daß ihn ein zufälliger Schlag traf. Zu Calandrylls Überraschung gesellten sich die Geistersprecher und die beiden Krieger, die die Hämmer geschwungen hatten, zu ihm und bildeten einen leben den Schild vor dem Bewußtlosen. Er warf einen kurzen Blick auf Bracht, der aussah, als würde er ruhig schlafen, doch dann hörte er die anderen aufkeuchen und richtete seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf das Duell. Die beiden Frauen standen sich dicht gegenüber. Ka tya hielt Jehennes Dolch mit dem Säbel von ihrer Kehle fern und hatte das Krummschwert zwischen dem ketten bewehrten Brustkorb und ihrem linken Arm einge klemmt. Auf einmal verdrehte Jehenne den Körper und zog den Dolch zurück, so daß Katyas Waffe herabfuhr und die leere Luft durchschnitt. Im gleichen Moment schoß Jehennes Linke wieder vor, aber nicht, um mit dem Dolch zuzustoßen, dessen Klinge noch immer nach oben gerichtet war, sondern um ihr die Faust, die den Griff umklammerte, gegen das Kinn zu schmettern. Calandryll sah, wie sich Katyas Augen weiteten und einen Moment
lang blicklos wurden. Ein Ausdruck wilden gehässigen Triumphs erschien auf Jehennes Gesicht. Sie riß ihr Schwert frei, holte weit aus und ließ es dann auf Katyas Hals niederfahren. Es schien, als würde Katya, die von dem Schlag benommen war, unsicher straucheln und dem tödlichen Hieb des Krummschwertes nicht mehr ausweichen kön nen. Calandryll hatte den Eindruck, daß sich die Zeit in diesem Augenblick endlos dehnte und alles mit quälen der Langsamkeit ablief. Er sah die schimmernde Klinge auf Katyas Kehle zuschießen und die Kriegerin einen Schritt zurückweichen, der sich auf entsetzliche Weise in die Länge zog und nicht ausreichen würde, sie aus der Gefahrenzone zu bringen. Er sah, wie sie einen zweiten Schritt machte, wie ihre Knie plötzlich nachgaben, und er glaubte, der Schlag gegen ihr Kinn hätte ihr die Sinne geraubt. Und dann, immer noch mit der trägen Lang samkeit eines Traumes, sah er das Krummschwert so dicht über ihren Kopf hinwegschwingen, daß es lange Strähnen ihres strohblonden Haars durchschnitt. Er sah, wie sich Jehennes Körper durch die Kraft, die sie in den Schlag gelegt hatte, verdrehte, wie sie in einer instinkti ven Abwehrgeste eine wischende Bewegung mit dem Dolch machte und das Gewicht verlagerte, um die Schlagrichtung umzukehren. Er sah, wie Katya ihren Sturz abfing, sich ihre Beine blitzartig wieder streckten und sie mit aller Kraft ihres schlanken Körpers, die sie bis jetzt aufgespart hatte, nach vorn schnellte, den Säbel ausgestreckt.
Er traf Jehenne seitlich in den Brustkorb, bevor sie den Dolch zur Abwehr herumreißen oder die Klinge mit dem Krummschwert zur Seite schmettern konnte. Dann nahm die Zeit wieder ihre normale Geschwin digkeit an. Der Säbel bohrte sich bis zur Hälfte zwischen Jehennes Rippen, und der Schrei der rothaarigen Frau zerriß die Stille. Calandryll hatte den Eindruck, nicht so sehr Schmerzen als vielmehr ungezügelte Wut aus ihrer Stimme herauszuhören. Katya verdrehte die Klinge, als sie sie wieder herausriß, und jetzt schimmerte das Metall nicht mehr hell, sondern glänzte stumpf. Jehenne schwankte und hustete hellrote Blasen aus, die auf ihren Lippen zerplatzten und auf Wangen und Kinn spritzten. Ihr Gesicht wirkte wie ausgezehrt, als sie das Schwert hob und einen unsicheren Schritt in Katyas Richtung machte. Mit einer beinahe lässig anmutenden Bewegung ließ die Kriegerin ihren Säbel über den Bauch der Lykar derin fahren. Jehenne grunzte, spuckte Blut und kippte vornüber. Krummschwert und Langdolch entglitten ihren Händen, als sie zusammenbrach. Sie fiel auf Hände und Knie und verharrte eine Weile in dieser Stellung, das Gesicht hinter einem Vorhang aus schweißnassen Haaren verborgen, und stieß den Atem in einem grauenhaften Gurgeln aus. Dann schüttelte sie den Kopf und stöhnte Worte, die niemand verstand, sank in sich zusammen, gab einen letzten Seufzer von sich und Tag still. Es folgte eine atemlose Stille, die sich in die Länge zog, als könnte niemand der Anwesenden glauben, daß Je
henne ni Larrhyn tatsächlich tot war. Es schien, als wären selbst die Insekten verstummt, die über das Gras summ ten, als hätten die Vögel in den Bäumen und die warten den Pferde den Atem angehalten, als wäre der Wind eingeschlafen. Katya stand mit gesenktem Kopf da. Den blutigen Säbel hielt sie schlaff in der Hand. Ihr Gesicht wirkte ernst und grimmig, zeigte keine Spur von Tri umph oder Befriedigung, als würde sie ihrer toten Geg nerin die letzte Ehre erweisen. Endlich brachen die Drachomannii das Schweigen und verkündeten wieder in einem einstimmigen Singsang: »Der Kampf war gerecht. Jehenne ni Larrhyn ist gewogen und für zu leicht be funden worden. Mit ihren eigenen Worten hat sie sich verdammt. Sie hat zum Schwert gegriffen, und durch das Schwert ist sie gefallen. Alle, die hiervon Zeuge geworden sind, sollen wissen und verkünden, daß Katya aus Vanu ehrenhaft gekämpft und ehrenvoll gesiegt hat.« Calandryll sah, wie Katya bei dem rituellen Sprechge sang der Schamanen verständnislos die Stirn runzelte, und ging zu ihr, um die Worte für sie zu übersetzen. Sie nickte, riß eine Handvoll Gras aus, säuberte damit die Klinge und schob sie in die Scheide zurück. »Und was jetzt?« fragte sie. »Werden sie uns fortschi cken oder uns Unterkunft gewähren, bis sich Bracht
erholt hat?« Calandryll konnte ihr darauf keine Antwort geben, aber da kam einer der Geistersprecher zu ihnen. Sein Gesicht wirkte ein wenig verunsichert, als er den Kopf neigte und sagte: »Ich spreche eure Sprache. Kein Lykar der wird euch etwas antun, denn wir werden allen La gern Nachricht über das zukommen lassen, was sich hier ereignet hat. Alle werden von Jehenne ni Larrhyns Blas phemie hören und erfahren, daß Bracht ni Errhyn Ahrds Wohlgefallen gefunden hat. Wenn ihr es wünscht, wer den wir ihn zu unserem Lager zurückbringen, wo er so lange bleiben kann, bis er uns wieder verlassen will. Der Saft von Ahrds heiligem Baum fließt jetzt in seinen A dern, doch sollten unsere Heilkünste gebraucht werden, dann stehen sie ihm zur Verfügung. Und auch euch.« Er schwieg. Katya sah an sich herab und schien ihre eigenen Wunden zum ersten Mal zu bemerken. Sie tat sie mit einer nachlässigen Handbewegung ab und richtete ihren Blick auf den Schamanen. »Und werdet ihr auch von Rhythamun berichten? Von Daven Tyras?« »Das wird geschehen«, versprach der Drachoman. »Von Lager zu Lager wird die Nachricht weitergegeben werden, daß Daven Tyras ein Ausgestoßener ist und sofort getötet werden soll. Ahrd hat über Jehenne gerich tet, und alle sollen wissen, daß ihr Traum von einem Bündnis aller Clane ein Wahnsinn war, zu dem sie von Rhythamun verführt worden ist.«
»Trotzdem werden wir ihn weiterverfolgen«, sagte Ka tya, »denn er hat ein Buch bei sich, das wir nach Vanu zu bringen geschworen haben.« »Niemand wird euch daran hindern«, erwiderte der Schamane, »und sollte er getötet werden, wird alles, was er bei sich hat, euch übergeben werden, wo immer in Cuan na'For ihr euch auch befindet.« »Das ist gut. Dafür danken wir euch.« Katya neigte den Kopf. »Aber können wir Bracht jetzt erst einmal in euer Lager zurückbringen?« »Wie ihr wünscht.« Der Geistersprecher verbeugte sich, drehte sich um und rief ein paar Worte in seiner Sprache. Sofort begannen einige Männer damit, Äste und Zweige aus den Büschen am Rand des Wäldchens zu schlagen und daraus eine Tragbahre anzufertigen. Das ganze Lager erwartete sie, als sie zurückkehrten, und beim Anblick von Jehennes Leiche erhob sich ein lauter Schrei und ein zweiter beim Anblick Brachts, der, noch immer bewußtlos, auf der Tragbahre lag. Die Geis tersprecher ritten voraus und verkündeten mit lauter Stimme den Ausgang der Kreuzigung, berichteten von dem Zweikampf und von Daven Tyras. Die Nachrichten verbreiteten sich in Windeseile, und als sie zwischen den Wagen entlangritten, betrachteten die Lykarder Katya, deren sorgenvoller Blick nur auf Bracht gerichtet war, voller Ehrfurcht. Man brachte sie zu Jehennes Wagen, der den Sitten
gemäß jetzt ihnen gehörte, und Bracht wurde auf ein mit Seide bezogenes Bett gelegt. Katya gestattete den Geister sprechern ungeduldig, ihre Wunden zu versorgen, und nachdem das erledigt war, eilte sie sofort wieder an Brachts Seite. Der Kerner schien unverletzt. Die Wunden in seinen Händen waren verheilt, das Fleisch war unversehrt, selbst der grünliche Farbton des Saftes, der die Nägel aus seinen Händen herausgetrieben und die Löcher in sei nem Fleisch verschlossen hatte, war verschwunden. Wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte Calandryll nicht erkennen können, daß sein Freund ir gendeine Verletzung erlitten hatte. Trotzdem schlief Bracht bei Einbruch der Abenddämmerung immer noch, und niemand wußte, wann – und ob überhaupt – er wieder erwachen würde, denn bisher hatte noch kein Mann dieses Gottesurteil überlebt. »Er lebt«, sagte Calandryll, während Katya Brachts friedlich wirkendes Gesicht mit sorgenvoller Miene be hutsam mit einem feuchten Tuch abtupfte, »und wir … du hast uns heute einen Vorteil verschafft.« »Den werden wir verlieren, falls Bracht nicht wieder zu sich kommt.« Katya legte das Tuch weg, ohne Ca landryll anzusehen. Ihre Stimme klang trotzig. »Denn ich werde ihn hier nicht zurücklassen, und Rhythamun ver fügt über große Kräfte. Ich weiß nicht, welche magischen Fähigkeiten diese Geistersprecher besitzen, aber ich be zweifle, daß sie Zaubersprüche kennen, die ausreichen,
um diesen Magier aufzuhalten.« »Aye«, stimmte ihr Calandryll zu, »und deshalb bleibt uns nichts anderes übrig, als abzuwarten.« »So lange, bis er aufwacht«, sagte Katya und strich Brachts Haar glatt.
KAPITEL 17 Bracht schlief noch immer friedlich wie ein Baby, als die Dämmerung in die Nacht überging. Einige Lykarder erschienen. Sie waren schweigsam wie zuvor, aber dies mal aus Respekt, und zeigten ihnen die geschickt in die Seitenwände des Wagens eingebauten Fächer, die Lam pen, Nahrungsmittel und Wein enthielten. Sie luden sie zu einer allgemeinen Versammlung ein, auf der der neue Anführer des Clans bestimmt werden sollte. Katya wei gerte sich, von Brachts Seite zu weichen, aber Calandryll beschloß, daran teilzunehmen. Ihm war klar, daß man ihnen mit der Einladung eine Ehre erwies, und er fürch tete, daß die ni Larrhyn es als Beleidigung auffassen könnten, wenn sie beide ablehnten. Außerdem würde er dabei vielleicht etwas Nützliches in Erfahrung bringen können. Daß Bracht nicht mehr aufwachen könnte, erschien ihm unmöglich. Ahrd hatte das Leben des Kerners geret tet und würde ihn jetzt bestimmt nicht zu einem leben den Toten verdammen. Er vermutete, daß dieser seltsa me Schlaf Teil eines Heilungsprozesses war, in dem Bracht nicht nur körperlich, sondern auch geistig wieder vollkommen genesen würde. Die Erinnerung an den Augenblick, in dem die Nägel die Handflächen des Ker
ners durchbohrt hatten, ließ ihn noch immer erschau dern, und er sagte sich, daß sich kein Mensch schnell von einer solchen Tortur erholen würde. Wahrscheinlich gehörte auch dieser unnatürlich lange Schlaf zu Ahrds Segnungen. Darüber hinaus verspürte Calandryll bei der Vorstellung, in dem Wagen zu bleiben, eine merkwürdi ge Verlegenheit. Nach der geflüsterten Unterhaltung der beiden während der letzten Nacht und angesichts Katyas Sorge um Bracht kam er sich wie ein Eindringling in ihre Privatsphäre vor, wie ein Voyeur. Es gab zwar keinen vernünftigen Grund für dieses Gefühl, Katya gab ihm keinen Anlaß dazu, aber er konnte es nicht abschütteln, und so ließ er sie mit Bracht allein und versprach ihr, nach dem Ende des Festes zurückzukommen. Der Vollmond stand hoch über dem Tal, von funkeln den Sternen eingerahmt. Überall brannten Feuer und erhellten die Nacht mit rotgoldenem flackernden Licht. Funken stiegen zum Himmel empor. Die warme Luft war vom Duft bratenden Fleisches erfüllt, der so intensiv war, daß er die Ausdünstungen der Pferde und den Geruch, den das Leder verströmte, überlagerte. Das größ te Feuer brannte nahe am Bach, und dort fand Calandryll die Drachomannii und ein paar andere Lykarder, die er wiedererkannte. Sie waren bei der Kreuzigung und dem anschließenden Duell dabeigewesen und blickten ihm jetzt mit reglosen Gesichtern entgegen, bis einer der Geis tersprecher ihn mit einem Lächeln begrüßte und ihm einen Platz neben den Schamanen anbot. Calandryll bedankte sich mit einer Verbeugung, noch immer etwas
angespannt, da er wußte, daß sich unter den Anwesen den einige Verwandte der Krieger befanden, die er und seine Gefährten getötet hatten, aber anscheinend hegte niemand feindselige Gefühle gegen ihn. Was es an Groll gegeben hatte, war mit der Zahlung von Wergeid beige legt worden. Er setzte sich, und kurz darauf wurde ihm ein randvoller Krug in die Hand gedrückt und ein Teller vor ihm abgestellt. In der Runde wurde eifrig diskutiert, und er hörte den Gesprächen aufmerksam zu. Schon bald fand er heraus, daß hier die maßgeblichen Leute des Clans versammelt waren, die Entscheidungs träger. Männer und Frauen waren gleichberechtigt, und bei ihrem Gespräch ging es darum, die nächsten Schritte der ni Larrhyn festzulegen. Niemand schien Jehennes Tod übermäßig zu betrauern, und Calandryll vermutete, daß sie nicht sonderlich beliebt gewesen war. Auch sprach keiner davon, an ihrem Traum von einem Bünd nis aller Clane festzuhalten, oder von ihrem Vorhaben, Lysse zu überfallen. Zumindest in diesem Punkt, dachte er, hatten Rhythamuns Pläne einen Rückschlag erlitten. Das Blutopfer für ihn und den wahnsinnigen Gott, dem er diente, würde unterbleiben. Jehennes Leiche, erfuhr er, würde am nächsten Morgen weit vom Lager fortgebracht und den Hunden zum Fraß überlassen werden. Durch ihre Blasphemie, die sie durch die Zurückweisung von Ahrds Urteil begangen hatte, wurde ihr eine ehrenvolle Bestattung verweigert. Gewöhnlich wurden die Toten in einer zeremoniellen Feier auf die Äste einer Eiche gebet tet. Von größerem Interesse für Calandryll war die wie
derholte Zusicherung der Geistersprecher, alle Schama nen der Lykarder davon in Kenntnis zu setzen, daß Da ven Tyras keinerlei Unterstützung des Clans bei seinen Plänen hätte und ein Gestaltwandler und Vatermörder sei, gegen den sich alle zusammenschließen sollten. An diesem Teil des Gesprächs nahm auch Calandryll teil, denn die Geistersprecher drängten ihn, alles zu erzählen, was er über den Schwarzmagier wußte, und ausführli cher auf das einzugehen, was Bracht und Katya bereits gesagt hatten. Calandryll sah keinen Grund, warum er ihnen etwas verschweigen sollte, und so berichtete er von der Missi on, erzählte, wie Varent den Tarl nach Secca gekommen war, von ihrer langen Reise durch Kandahar und nach Gessyth hinein, wie sie das Arcanum in Tezin-dar ent deckt hatten und es ihnen von Rhythamun wieder entris sen worden war, wie sie nach Lysse zurückgekehrt wa ren und die Verfolgung des Magiers sie nach Cuan na'For geführt hatte. Als er geendet hatte, betrachteten ihn alle mit feierli chem Ernst und voller Bewunderung, als wäre er ein mystischer Held, wie er der Phantasie der Barden ent sprang, und er verspürte ein Gefühl der Verlegenheit, das er hinter seinem Krug zu verbergen versuchte. Der Krug wurde nie leer, Weinhäute machten ständig die Runde, von Frauen und jungen Männern getragen, die Calandryll ehrfürchtig bestaunten. So zog sich die Nacht in die Länge. Die Diskussion wandte sich der Frage zu,
wer die Führung des Clans übernehmen sollte, und Ca landryll fürchtete allmählich, betrunken zu werden. Danach nippte er nur noch an seinem Wein, um nicht die Kontrolle zu verlieren, und erinnerte sich mit flüchti ger Belustigung, daß er Bracht in diesem Zustand ken nengelernt hatte. Dieser Gedanke weckte wieder seine Sorge um den Kerner, und er suchte nach einer Gelegen heit, die Geistersprecher befragen zu können. Dabei erfuhr er nichts Neues; sie konnten ihm nur sagen, was sie ihm schon früher erzählt hatten, daß bisher niemand gerettet worden war. Bis zum heutigen Tag war jeder Gekreuzigte bis zu seinem Tod an der Eiche hängen geblieben. Sie versicherten ihm aber voller Zuversicht, daß Bracht aufwachen würde, sobald Ahrd es wollte, auch wenn sie ihm nicht sagen konnten, wann das sein würde. Das Fest zog sich dahin, bis die Morgendämmerung nicht mehr fern war, und auch Calandryll sehnte sich nach Schlaf. Im Gegensatz zu den meisten anderen war es ihm gelungen, einigermaßen nüchtern zu bleiben, aber der Kopf schwirrte ihm von den endlosen Gesprächen, sein Magen fühlte sich berstend voll an, und so war er froh, als schließlich ein Mann namens Dachan zum neuen Anführer gewählt wurde und die Versammlung sich aufzulösen begann. Er erhob sich ein wenig unsicher und stieg die Leiter zu ihrem Wagen hinauf. Die Lampen waren gelöscht worden, und er konnte undeutlich die Silhouetten von Bracht und Katya im hinteren Teil des
Wagens erkennen. Der Kopf des Kerners ruhte auf dem ausgestreckten Arm der Kriegerin. Calandryll schlüpfte aus seiner Tunika, streifte die Stiefel ab, ließ sich dankbar in die Kissen sinken und schlief auf der Stelle ein. Fast genausoschnell wieder erwachte er wieder und starrte direkt in Brachts verwirrtes Gesicht. Calandryll öffnete den Mund, um etwas zu sagen, a ber eine schwielige Hand preßte sich auf seine Lippen, und Bracht deutete warnend in Richtung des Zimmers, wo Katya schlief, legte einen Finger an seine Lippen und winkte Calandryll zu, ihm zu folgen. Obwohl er überzeugt gewesen war – oder es sich ein geredet hatte –, daß sich Bracht erholen würde, schnapp te er sich doch aufgeregt seine Tunika und die Stiefel und kletterte dem Kerner hinterher in die perlgraue Stille der falschen Dämmerung hinaus. Nach der Hektik der letz ten Nacht schlief das Lager noch. Die Feuer waren nie dergebrannt, und die Luft war kühl. Calandrylls Er schöpfung war durch seine Freude, seinen Gefährten wach zu sehen, wie weggewischt, und er strahlte, als sie sich vor der Asche des Zentralfeuers niederkauerten. Er musterte Brachts Gesicht, schüttelte fassungslos den Kopf und lachte leise in sich hinein, konnte nicht umhin, die Hände des Kerners zu ergreifen und voller Staunen die unversehrten Handflächen zu betrachten. »Was ist passiert?« fragte Bracht mit gedämpfter Stimme und zu schmalen Schlitzen verengten Augen. »Ich erinnere mich noch an die Nägel … an die Schmer
zen…« Er preßte die Lippen zusammen. »Aber danach weiß ich nichts mehr.« »Ahrd hat dich gerettet«, erklärte Calandryll und er zählte ihm alles andere. Während er redete, untersuchte Bracht seine Hände, drehte sie hin und her, rieb sich neugierig über die Hand flächen und Handrücken, als könnte er nicht so recht glauben, was er mit eigenen Augen sah, daß er tatsäch lich überlebt hatte. Nachdem Calandryll geendet hatte, saß Bracht eine Weile schweigend da und versuchte, das Gehörte zu verdauen. Schließlich fragte er: »Dann hat Katya also Jehenne getötet, was? Und jetzt schicken die Geistersprecher die Nachricht aus, daß Daven Tyras getötet werden soll?« »Aye«, bestätigte Calandryll. »Obwohl Katya bezwei felt – und zu Recht, wie ich glaube –, daß sie damit Erfolg haben werden.« Bracht nickte. »Das sehe ich genauso«, sagte er. »Die Drachomannii von Cuan na'For haben viele Fähigkeiten, aber sie sind keine Hexer von Rhythamuns Kaliber. Wenn sie sich nicht zusammentun, glaube ich nicht, daß sie die Kraft haben, ihn aufzuhalten.« »Werden sie sich denn jetzt nicht zusammentun?« fragte Calandryll. »Wie?« Bracht zuckte die Achseln und deutete auf das schlafende Lager. »Dies ist kein kleines Lager, und trotz dem gibt es hier nur zwei Geistersprecher. Allein oder zu zweit dürften sie für Rhythamun keine ernstzunehmen
den Gegner sein.« Calandryll spürte seine ohnehin schwache Hoffnung schwinden, ihre Mission könnte hier in Cuan na'For ihr Ende finden. Er seufzte. »Hast du geglaubt, ein anderer könnte die Arbeit für uns erledigen?« Bracht lachte und schlug Calandryll herzhaft auch die Schulter. »So leicht wird es uns nicht gemacht, mein Freund. Aber einfacher. Jetzt können wir uns frei bewegen und brauchen uns nicht mehr vor den Lykardern zu verstecken. Und wahrscheinlich werden wir auf unserem Weg Informationen über Daven Tyras bekommen. Selbst wenn die Geistersprecher ihn nicht töten können, werden sie die Nachrichten doch von La ger zu Lager weitergeben und es uns damit leichter ma chen, ihn aufzuspüren.« »Es sei denn, er wechselt wieder die Gestalt«, warf Ca landryll ein. Sein Optimismus ließ etwas nach, und er dachte wieder praktisch. »Selbst dann«, behauptete Bracht. »Denn wenn er eine neue Identität annimmt, muß er die alte zurücklassen. Sobald sich die Nachrichten erst einmal verbreitet haben, wird sein neuer Körper bekannt sein, wenn der von Da ven Tyras entdeckt wird. Man wird irgendeinen Krieger vermissen, und wir werden seine Beschreibung in Erfah rung bringen können.« »Trotzdem hat er immer noch einen Vorsprung«, gab Calandryll zu bedenken. »Aye, aber die Geistersprecher sind wertvolle Ver
bündete.« Bracht ließ sich die gute Laune nicht verder ben. Es war, als hätte ihn die überstandene Kreuzigung oder der Eichensaft, der sich mit seinem Blut vermischt hatte, mit einer unerschütterlichen Zuversicht erfüllt. »Deshalb müssen wir an unserem ursprünglichen Plan festhalten, weiter nach Norden zum Cuan na'Dru reiten und versuchen, den Wald zu durchqueren und vielleicht vor Rhythamun die andere Seite zu erreichen.« Von seinen früheren Bedenken, den großen Zentral wald zu betreten, war nichts mehr zu spüren, und als Calandryll das Gesicht seines Gefährten betrachtete, konnte er zu seiner Überraschung dort keine Spur von Zweifeln entdecken, nur ein Lächeln. »Deine Einstellung hat sich gründlich verändert«, murmelte er. Bracht runzelte die Stirn, als wäre er seinerseits über rascht, und nickte nachdenklich. »Das ist wahr«, sagte er und zögerte einen Moment lang. »Ich weiß nicht, wieso, außer vielleicht…« Er hielt die Hände hoch und starrte auf seine Handflächen. Calandryll wartete schweigend. »Ahrd hat mir das Leben geschenkt«, fuhr Bracht schließlich langsam fort. »Die Geistersprecher behaupten, sein heiliger Saft würde jetzt durch meine Adern fließen. Also wird uns Ahrd bestimmt auch den Wald durchque ren lassen.« »Und die Gruagach?« fragte Calandryll. »Sie sind die Wächter des Cuan na'Dru.« Bracht zuckte
die Achseln, und ein Schatten seiner früheren Unsicher heit huschte über sein Gesicht. »Aber sie dienen Ahrd, und deshalb werden sie uns wahrscheinlich nicht zu rückweisen. Und wir haben nur eine Möglichkeit, das herauszu finden, was?« Seine gute Laune kehrte wieder zurück. Er stand auf, streckte sich und sah sich um, als betrachtete er eine völlig neue Welt oder eine, die er schon zu verlassen geglaubt hatte und die wiederzuentdecken ihm jetzt um so herrlicher erschien. Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln, und er sog die Luft tief in sich ein, genoß den Geruch, den die erloschenen Feuer, die Pferde und das allgegenwärtige Leder verströmten, in vollen Zügen. »Ich denke«, sagte er nach einer Weile, »daß wir so schnell wie möglich aufbrechen sollten. Du meinst, Katy as Wunden wären nicht allzu schlimm?« »Nur leichte Schnitte«, versicherte Calandryll. »Keine ernsthaften Verletzungen, und sie sind von den Geister sprechern versorgt worden.« Bracht nickte. »Sie besitzen große Heilkräfte. Und dei ne Schulter? Verheilt sie ebenfalls?« »Aye.« Calandryll spannte sie an, er hatte gar nicht mehr daran gedacht. »Deine Heilkünste sind auch be achtlich.« »Wir wollen hoffen, daß sie nicht wieder gebraucht werden.« Bracht grinste, vollführte eine Verbeugung und rieb sich über den Bauch. »Und jetzt würde ich gerne
etwas essen. Gibt es Lebensmittel im Wagen?« Calandryll nickte, erhob sich ebenfalls und kletterte hinter dem Kerner die Leiter hinauf. Die falsche Dämmerung war mittlerweile dem ersten wirklichen Schimmer des neuen Tages gewichen. Die Vögel stimmten ihr Morgenlied an, und von den Pfer chen klang das Schnauben und das Stampfen der erwa chenden Pferde auf. Im Osten zog sich ein rot glühendes Band über den Horizont, durchbrochen von goldenen Lichtbahnen der aufgehenden Sonne. Auch als sie den Ledervorhang hinter sich zufallen ließen, drang die Hel ligkeit in den Wagen. Katya bewegte sich im Schlaf und tastete blind über die Felldecken neben sich. Sie murmel te irgend etwas vor sich hin, und dann öffnete sie un vermittelt die Augen, setzte sich auf, und ihre suchende Hand fand instinktiv ihren Säbel. »Alles in Ordnung«, sagte Bracht. »Abgesehen davon, daß ich furchtbar hungrig bin.« Seine Stimme ließ die letzten Nachwirkungen des Schlafs von ihr abfallen. Sie warf die Decken zurück, schleuderte den Säbel von sich und sprang auf. Mit we hendem flachsblonden Haar und nur einem dünnen Hemd bekleidet, das ihre gebräunten nackten Arme und Beine nicht verbarg, warf sie sich dem Kerner entgegen und schlang die Arme so ungestüm um ihn, daß sie zu sammen in die Kissen fielen. Sie küßte ihn voller In brunst auf den Mund, und Brachts Reaktion ließ Ca landryll daran zweifeln, daß der Kerner seinen früheren
hehren Versprechungen treu bleiben würde. Doch dann löste sich Katya von ihm, strich sich das zerzauste Haar aus der Stirn, und ihre Augen leuchteten vor Freude und Verwunderung. Sie kniete sich neben ihn, ergriff seine Hände und betrachtete sie. »Warum hast du mich nicht geweckt?« fragte sie an klagend, aber ihr Lächeln strafte ihre vorwurfsvolle Stimme Lügen. Es war strahlend wie die aufgehende Sonne. »Du hast so fest geschlafen.« Bracht streckte einen Arm aus, berührte ihre Wange und strich ihr eine flachs blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und wie ich er fahren habe, hast du deinen Schlaf verdient.« Seine Worte ließen ihr Lächeln ein wenig verblassen, doch dann nickte sie und sagte ernst: »Wie du habe auch ich mein Versprechen gehalten.« »Auf Jehennes Kosten.« Bracht grinste. Die Tatsache, daß ein Mensch ums Leben gekommen war, bereitete ihm nicht annähernd die Gewissenskonflikte, unter de nen Katya gelitten hatte. »Und das hier?« Er berührte die Schnittwunden an ihrem Arm und ih rem Oberschenkel, die bereits wieder verheilten, wie Calandryll sah. Katya zuckte die Achseln. »Nicht der Rede wert«, sag te sie. »Nur ein paar Kratzer. Die Geistersprecher haben eine Salbe aufgetragen und geheimnisvolle Worte into niert. Aber du … Ich habe schon befürchtet, du würdest für immer schlafen.«
»Ich fühle mich vollkommen ausgeruht.« Bracht schmunzelte. »Und hungrig.« Katya blickte sich um, betrachtete die Fächer und Schränke, die die Wände säumten, und griff nach oben, um den erstbesten zu öffnen. Dabei rutschte ihr Hemd hoch und gab einen glatten braunen Oberschenkel frei. Calandryll sah verlegen weg, aber Bracht starrte sie be wundernd an, und als Katya seinen Blick bemerkte, schien ihr zum ersten Mal bewußt zu werden, wie wenig sie am Leib trug. Sie errötete, lächelte aber immer noch und zog das Hemd tiefer. »Du weißt wahrscheinlich besser als ich, wo hier die Lebensmittel verstaut sind«, murmelte sie. »Sieh zu, ob du etwas entdeckst, was dir gefällt, während ich mich anziehe.« »Mit dem größten Vergnügen«, gab Bracht zurück, der sie absichtlich mißverstand. Katya warf ein Kissen nach ihm, verschwand eilig im Schlafzimmer und zog den Vorhang hinter sich zu. Bracht durchstöberte grinsend die Schränke, förderte Wein, Zwieback, etwas Käse und ein bißchen geräucher tes Fleisch zutage. Er stellte alles auf dem Tisch ab, und obwohl die Lebensmittel nicht allzu frisch waren, ver zehrte er sie voller Genuß, während Calandryll, der auf das Erwachen des Lagers und ein wahrscheinlich appetit licheres Frühstück wartete, ihm dabei zusah. Katya kam bekleidet aus dem Schlafzimmer zurück und ließ sich auf den Kissen vor dem Tisch nieder. Sie lächelte immer
noch und betrachtete den hungrigen Kerner liebevoll, hatte aber ihre übliche Selbstbeherrschung wiederge wonnen. »Wann brechen wir auf?« Bracht spülte einen Mundvoll Zwieback mit einem großen Schluck Wein herunter und sagte: »Wahrschein lich werden die ni Larrhyn darauf bestehen, ein Fest zu unseren Ehren zu geben, sobald sie entdecken, daß ich wieder aufgewacht bin, und das zurückzuweisen, wäre eine Beleidigung. Also morgen?« »Mit jedem Tag trennen uns mehr Meilen von Rhythamun«, erwiderte Katya, »und ich bezweifle, daß die Geistersprecher ihn aufhalten können.« Bracht nickte. »Das hat Calandryll auch schon gesagt, und ich gebe dir recht. Aber trotzdem, sofort aufzubre chen würde bedeuten, die Ehre der Lykarder mit Füßen zu treten, und ein Tag könnte für die Geistersprecher ausreichen, um herauszufinden, wo Rhythamun zur Zeit steckt.« »Wie?« erkundigte sich Calandryll neugierig. »Sie sprechen über viele Meilen miteinander.« Bracht zuckte die Achseln, als wäre das so offensichtlich, daß es keiner weiteren Erklärung bedurfte. »Wie sie das tun, weiß ich nicht, nur daß sie es tun.« »Also könnten sie uns vielleicht sagen, wo er ist«, murmelte Katya. »Aber du glaubst nicht, daß sie in der Lage sind, ihn aufzuhalten oder gar zu töten.«
»Sie könnten es versuchen«, sagte Bracht, »aber ich glaube nicht, daß sie damit Erfolg haben werden.« »Und glaubst du, uns wird das gelingen?« wollte Ca landryll wissen. Bracht schmunzelte und hob die Schultern. »Anschei nend sind wir für diese Aufgabe ausgewählt worden«, stellte er fest, »und wir sind schon viel zu weit gekom men, um uns jetzt noch von Zweifeln abschrecken zu lassen. Wir ziehen weiter, und was passiert, das passiert eben.« »Aye.« Calandryll lächelte zurück. Der Enthusiasmus des Kerners war ansteckend. Brachts Vermutung, daß sein Erwachen mit einem Freudenfest begangen werden würde, erwies sich als richtig. Die Sonne war noch nicht viel höher geklettert, als das Lager erwachte und die Geistersprecher erschie nen, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen. Als sie ihn wach, gesund und guter Laune vorfanden, stimmten sie ein Loblied auf Ahrd an und erklärten, daß später am Tag ein Festessen stattfinden müßte. Sie waren derart von Ehrfurcht ergriffen, daß es eine Weile dauerte, bevor sie sich auch um Katyas Wunden kümmerten, und erst Brachts Drängen, das durch seinen neuen Status sehr ernst genommen wurde, erinnerte sie wieder daran, daß sie unbedingt die Nachrichten über Daven Tyras an die anderen Geistersprecher weitergeben mußten. Sie ver sprachen es, bestanden aber darauf, daß sich Bracht zu
erst den versammelten ni Larrhyn zeigen sollte. Eingerahmt von den Schamanen und in Begleitung Katyas und Calandrylls, wurde er zu dem Krieger ge bracht, der zu Jehennes Nachfolger gewählt worden war. Dachan ni Larrhyn begrüßte ihn als hochgeschätzten Gast, umarmte ihn und versprach, ihm jede erdenkliche Hilfe zu gewähren. Dann rief er eine Ehrenwache herbei, die Bracht zeremoniell auf einem Rundgang durch das Lager begleitete. Krieger – Frauen und Männer, die ihn noch vor kurzem sofort getötet hätten – kamen aus ihren Unterkünften hervor, um ihn zu begrüßen, Mütter hiel ten ihm ihre Kinder hin, damit er sie berührte, als würde sich dadurch Ahrds Segen auf sie übertragen, und Leute mit alten Verletzungen, die längst die Hoffnung auf eine Heilung aufgegeben hatten, baten ihn, ihre Entstellungen zu berühren. Bracht erfüllte die ihm zugewiesene Rolle gut, bedach te die Menschen mit einem strahlenden Lächeln, als wä ren sie nie Feinde gewesen, schüttelte Hände, hielt ki chernde Kinder in die Höhe, und Calandryll fühlte sich an die Siegerparaden erinnert, wie sie vor langer Zeit in Secca abgehalten worden waren, wenn irgendein erfolg reicher General durch die Straßen gezogen war. Als die Parade endlich vorüber war und man ihm ges tattete, sich in seinen Wagen zurückzuziehen, warf Bracht sich auf die Kissen und verkündete mürrisch, daß ihn solche Spektakel auslaugten und er jetzt erst einmal Wein und Ruhe bräuchte. Morgen würden sie auf jeden
Fall weiterziehen, versprach er, bevor ihre Mission durch die Gastfreundschaft des Clans in Gefahr geriet. Zuerst stand aber noch das Fest aus, und davor gab es Neuigkeiten von den Geistersprechern. Sie erschienen beinahe unterwürfig am späten Nach mittag, als bereits die Kochfeuer brannten und der Duft bratenden Fleisches die Luft erfüllte. Bracht saß zusam men mit Calandryll und Katya auf den Stufen des Wa gens und gab sich große Mühe, die ehrfürchtigen Blicke der Kinder zu ignorieren, die ihn aus einiger Entfernung beobachteten. Sie wagten es nicht, sich einem so bedeu tenden Mann weiter zu nähern, wollten ihn aber nicht aus den Augen lassen. Und auch Katya galt ihre Auf merksamkeit, wie Bracht mit großer Belustigung feststell te. Katya, die Kriegerin aus dem Norden, die Jehenne ni Larrhyn im Zweikampf besiegt hatte und schon bald zu einer Legende werden würde. Die Geistersprecher – sie hießen Morrach und Nevyn, wie die Gefährten mittlerweile erfahren hatten – ver beugten sich und blieben am Fuß der Leiter stehen. Bracht hieß sie höflich willkommen, bat sie einzutreten und bot ihnen Wein an, den sie mit einem gemurmelten Dank entgegennahmen. Als er keinerlei Anzeichen eines unnatürlichen oder überheblichen Verhaltens erkennen ließ und sich wie ein ganz normaler Krieger benahm, der begierig auf die Neuigkeiten wartete, die sie zu über bringen hatten, entspannten sie sich allmählich. »Der Schwarzmagier, der sich Daven Tyras nennt, um
rundet den Cuan na'Dru in einigem Abstand«, sagte Morrach. »Wahrscheinlich möchte er nicht riskieren, sich Ahrds Zorn zuzuziehen«, fügte Nevyn hinzu, worauf sich Ca landryll fragte, ob sie immer im Chor sprachen und der eine die Sätze des anderen vervollständigte, als würden sie sich einen Verstand und eine Stimme teilen. »Er reitet in westliche Richtung…«, fuhr Morrach fort. »… an den Ausläufer des Waldes entlang«, sagte Ne vyn. »… in Begleitung der sechs von Jehenne ausgewählten Krieger…«, präzisierte Morrach. »… immer noch in der Gestalt von Daven Tyras«, schloß Nevyn. »Wie groß ist sein Vorsprung?« wollte Bracht wissen. Die Geistersprecher wechselten einen Blick, und Mor rach antwortete: »Vierzig Tage oder mehr.« »Man hat ihn zuletzt in der Nähe eines Lagers der ni Brhyn gesehen«, sagte Nevyn. »Vor neun Tagen.« »Mittlerweile befindet er sich wahrscheinlich auf dem Territorium der Valaner…«, erklärte Morrach. »… und die Verständigung wird schwieriger für uns«, fügte Nevyn hinzu. »Aber die Drachomannii der ni Brhyn versuchen, Kon takt mit den Valanern aufzunehmen«, versicherte Mor rach. »Und sie werden uns benachrichtigen.« »Wir brechen morgen auf«, gab Bracht bekannt.
Morrachs Stirn legte sich in Falten, und Nevyn schürz te die Lippen. »Wenn die Geistersprecher der Valaner erfahren, was er ist, werden sie versuchen, ihn zu ergreifen«, sagte Morrach. »Sind sie dazu in der Lage?« fragte Bracht. Wieder wechselten die Schamanen einen Blick, und Nevyn bekannte: »Das wissen wir nicht.« »Aber sie werden es versuchen«, versprach Morrach. »Und aus dem Lager der ni Brhyn sind Reiter aufgebro chen und haben seine Verfolgung aufgenommen.« »Rhythamun ist mächtig«, sagte Bracht langsam und wählte seine Worte mit Bedacht, »Über die Jahrhunderte seines unrechtmäßig verlängerten Lebens hat er okkulte Kräfte erworben, wie sie nur wenige Hexer besitzen. Ich möchte die Fähigkeiten der Geistersprecher Cuan na'Fors nicht herabwürdigen, aber ich glaube nicht, daß einer von ihnen jemals einem Hexer wie Rhythamun begegnet ist. Und einfache Krieger haben erst recht keine Chance gegen ihn.« Morrach nickte, aber es war Nevyn, der antwortete. »Aber sie werden es – so Ahrd will! – trotzdem versu chen. Ob sie Erfolg haben oder nicht, das weiß nur unser Gott.« »Und ihr wollt Rhythamun aufhalten, nicht wahr?« fragte Morrach. »Wir werden es versuchen«, erwiderte Bracht ernst.
»Aber das ist eine Aufgabe, die uns vom Schicksal oder den Jüngeren Göttern auferlegt worden ist. Wir haben keine andere Wahl.« »Wir auch nicht«, sagte Nevyn. »Und die anderen Geistersprecher ebenfalls nicht«, fügte Morrach hinzu. »Wenn Ahrd will, daß die Valaner zustimmen, wird der Versuch unternommen werden.« »Dann bete ich, daß Ahrd ihnen Erfolg gewährt«, murmelte Bracht. »Aber wir drei müssen trotzdem mor gen weiterziehen.« »Welche Hoffnung habt ihr denn, ihn einholen zu können?« wollte Nevyn wissen. »Er hat vierzig oder auch schon fünfzig Tage Vor sprung«, sagte Morrach. »Er reitet um den Cuan na'Dru herum, richtig?« fragte Bracht. Er wartete, bis die beiden zustimmend nickten, dann erklärte er: »Wir reiten direkt zum Heiligen Wald.« Auf den Gesichtern der Geistersprecher zeichnete sich maßlose Überraschung ab. Morrach vollführte eine Schutzgeste. Nevyn war von Brachts ruhiger Ankündi gung wie gelähmt. »Ihr habt vor, den Wald zu durchqueren?« fragte Mor rach sehr leise. »Die Gruagach…« »… dienen Ahrd«, unterbrach ihn Bracht. »Sie sind seine Hüter. Dienen nicht auch wir drei dem Gott? Ihr behauptet, Ahrds Saft würde jetzt durch meine Adern fließen, nicht wahr? Werden uns die Gruagach dann die
Durchreise verweigern, wenn unser Ritt der Verteidi gung Ahrds und seiner Geschwister dient?« »Trotzdem«, flüsterte Nevyn. »Man sollte es nicht leichtfertig auf eine Begegnung mit den Gruagach an kommen lassen.« »Das tue ich auch nicht«, erwiderte Bracht ernst und warf einen Blick auf seine Hände. »Bevor Jehenne mir … diese Sache angetan hat…, hatte ich keine große Lust, dieses Risiko einzugehen. Ich hatte gehofft, Rhythamun noch vor dem Cuan na'Dru abzufangen. Jetzt aber … Wenn wir den Wald nicht durchqueren, werden wir Rhythamun wohl nie einholen können. Und wenn es den Geistersprechern nicht gelingt, ihn aufzuhalten, wird er entkommen.« »Es könnte sein, daß du es schaffst.« Morrachs Stimme klang skeptisch. »Der Saft ist in dir, aye, und das könnte deine Garantie für eine sichere Durchreise sein.« »Für dich«, schloß sich ihm Nevyn an. »Aber was ist mit deinen Gefährten?« Er drehte sich zu Calandryll und Katya um und musterte sie besorgt. »Dieses Risiko gehen wir ein«, sagte Calandryll. »Wie Bracht schon gesagt hat, unsere Reise dient Ahrds Schutz«, fügte Katya hinzu. »Werden seine Wäch ter das nicht verstehen?« »Vielleicht.« Morrach schien immer noch nicht über zeugt zu sein. Nevyn saß schweigend da, Zweifel um wölkten seine Stirn.
»Wir werden es versuchen«, sagte Bracht mit fester Stimme. »Wir müssen es tun, sonst entwischt uns Rhythamun und überschreitet den Kess Imbrun nach Norden.« In seiner Stimme klang eine Entschlossenheit mit, der sich beide Geistersprecher widerspruchslos beugten. »Wir werden für euren Erfolg beten«, sagte Morrach. »Wie auch alle anderen Geistersprecher«, versprach Nevyn. »Dafür danken wir euch«, erwiderte Bracht. »Und man wird uns über alles informieren, was eure Kollegen erfahren haben? Über alles, was geschieht, sollten sie tatsächlich mit Rhythamun zusammentreffen?« Wieder nickten die Schamanen zustimmend, und Morrach sagte: »Man wird euch in jedem Lager bereitwil lig Auskunft geben.« »Was der eine weiß, wissen bald alle«, fügte Nevyn hinzu. »Ihr seid Ahrd gute Diener«, sagte Bracht. »Wir tun nur unsere Pflicht«, entgegnete Morrach. »Wenn wir nur mehr tun könnten«, schloß sich ihm Nevyn an. Bracht lächelte. »Ihr tut schon genug«, versicherte er. Der Tag verging, die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen, und irgendwann zog Bracht die Lederklappen des Wagens herunter und verschloß den Eingangsvor
hang. Calandryll entzündete die Lampen, und sie berei teten ihre Ausrüstung für den Aufbruch vor. Bald tauch te der Abend das Tal in sein blaues Licht, die Kochfeuer leuchteten heller, und der Duft von bratendem Fleisch erfüllte den Wagen. Trommeln wurden geschlagen, ein dröhnendes Geräusch, das ständig näher kam. Bracht seufzte, kämmte sein langes Haar und murmelte irgend etwas von wegen Zeremonien. Calandryll ging neugierig zum Vorhang, spähte hinaus und sah eine Menschen menge vor dem Wagen stehen, die von Dachan angeführt wurde, flankiert von Morrach und Nevyn. Die Geister sprecher hatten Trommeln über ihre Schultern gehängt, die sie mit langen polierten Holzschlegeln in einem lang samen Rhythmus schlugen. Hinter ihnen drängten sich eine Menge Lykarder mit erwartungsvollen Gesichtern. Der Trommelschlag wurde leiser, Dachan trat einen Schritt vor und rief mit lauter Stimme, die im gesamten Lager zu hören sein mußte: »Wir möchten Bracht ni Errhyn und seine Gefährten ehren. Wollt ihr mit uns feiern?« Calandryll fühlte eine Hand auf seiner Schulter, drehte sich um und sah Bracht hinter sich. Der Kerner schob sich aus dem Wagen, betrat die erste Stufe und antworte te formell: »Du erweist uns eine große Ehre, Dachan ni Larrhyn, die wir dankbar annehmen.« Über seine Schulter hinweg murmelte er: »Folgt mir. Tragt nur eure Dolche.« Calandryll fand, daß Bracht königlich wirkte, als er die
Treppe hinabstieg und Dachan umarmte. Ein Trommel wirbel klang auf und erstarb wieder. Die Leute drängten sich um Bracht, ergriffen seine Hand, hoben und schoben ihn in Richtung des Zentralfeuers. Auch Katya wurde unter Jubelrufen fortgeschleppt, und Calandryll kam sich ein wenig übersehen vor, als er seinen Gefährten folgte. Er war damit zufrieden, in Ruhe gelassen zu werden, denn das gab ihm im Gegensatz zum Vortag, als er im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatte, die Gelegen heit, das Geschehen in aller Ruhe beobachten und zuhö ren zu können. Jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit vor allen Dingen auf Bracht und Katya, und er konnte die Sitten und Gebräuche der Lykarder mehr aus der Positi on eines Forschers heraus verfolgen, während das Fest voranschritt. Es war ganz anders als die Festessen, an denen er in Secca teilgenommen hatte, und es gab kaum Formalitäten zu beachten. Ihnen wurde ein Platz zu Dachans Rechten angeboten, Morrach und Nevyn saßen zu seiner Linken. Die ältesten und wichtigsten Krieger vervollständigten den inneren Kreis um das Feuer, die unbedeutenderen Mitglieder saßen hinter ihnen. Bracht durfte als erster das Fleisch auswählen, bekam als erster Wein eingeschenkt, gefolgt von Katya und Calandryll. Calandryll blickte auf, als ein Weinschlauch die Runde machte und man ihm einen großen Teller mit saftigem Fleisch reichte, sah nur lächelnde Gesichter um sich her um, die vom Feuer angestrahlt wurden, und dachte, daß
diese Leute jetzt Vorbereitungen für einen Krieg mit Lysse treffen würden, wenn Jehenne ihren Willen hätte durchsetzen können, von Rhythamun zu einem blutigen Gemetzel überredet. Und alles, was er auf der Reise durch sein Heimatland gehört hatte, deutete darauf hin, daß Tobias den gleichen Weg einschlug. Sollte sein Bru der Erfolg haben, würden die Domms von Lysse einem Krieg mit Kandahar zustimmen, und das würde der Wiederauferstehung des Verrückten Gottes ebenso den Weg ebnen, wie es die Einmischung des Schwarzmagiers in die Angelegenheiten Cuan na'Fors beinahe getan hätte. Diese Gedanken ließen ihn in eine düstere Stimmung sinken, und wieder einmal grübelte er darüber nach, daß sie nur Figuren in einem undurchschaubaren Spiel wa ren, daß hier Kräfte am Werk waren, die über sein Ver ständnis hinausgingen. Sollten sie Rhythamun einholen können, war der Glaube an die rätselhaften Verspre chungen der Jüngeren Götter alles, worauf sie sich stüt zen konnten. Und manchmal, dachte er, war es sehr schwer, nicht den Glauben zu verlieren. »Ahrd, du siehst elend aus! Ist dein Wein sauer? Oder hast du nur einfach genug von diesen Feiern?« Calandryll drehte sich um, auf einmal verlegen über seine Verzagtheit, und sah Brachts grinsendes Gesicht vor sich. Die Lippen des Kerners glänzten von fettigem Fleischsaft; er hielt einen randvollen Krug in der Hand. Calandryll lächelte reumütig, schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich habe nur gerade an Rhythamun gedacht,
daran, was er alles tut.« »Schieb diese Gedanken einmal beiseite und genieß diese Nacht«, riet ihm Bracht. »Morgen setzen wir unsere Reise fort, aber heute nacht wollen wir uns vergnügen. Wir können eine neue Freundschaft festigen, und vor uns liegt jetzt ein einfacherer Weg. Laß uns darauf trinken.« Calandrylls Lächeln wurde breiter, und er sprach ein stummes Dankgebet für einen solchen Kameraden. »Aye«, sagte er. »Du hast recht.« Er leerte seinen Krug und rief nach mehr Wein. Es konnte nicht schaden, etwas mehr zu trinken, sagte er sich. Hier waren sie in Sicherheit, umgeben von Kriegern, die sie wahrscheinlich notfalls mit dem Einsatz ihres eigenen Lebens verteidigen würden, und da waren die beiden Schamanen, die mit ihren geheimnisvollen Fähig keiten Nachrichten weitergeben und Informationen über den Schwarzmagier einholen würden. Ihm wurde be wußt, daß sie an diesem Abend zum ersten Mal seit vie len Wochen wieder wirklich sicher waren, und er beschloß, Brachts Rat zu befolgen und sich zu entspan nen. Trotzdem hütete er sich davor, es zu übertreiben, und er sah, daß sich seine Gefährten genauso verhielten. Sie aßen herzhaft und tranken nicht wenig, aber auch nicht so viel, daß sie am nächsten Morgen darunter würden leiden müssen. Nicht so ihre Gastgeber. Noch lange nachdem von dem Hirsch nur noch die Knochen übrig waren, machten
die Weinschläuche weiter die Runden, und die Lykarder holten Trommeln und Flöten hervor. Die Barden des Clans komponierten Lieder, die wie die Funken aus den Feuern in den Nachthimmel aufstiegen. Sie sangen in der Sprache Cuan na'Fors, und Calandryll fragte sich, ob er Bracht tatsächlich erröten sah, als sie von dem Gottesur teil und der Mission des Kerners erzählten. Katya jeden falls wurde unverkennbar verlegen, als Bracht ihr die Verse übersetzte, die sie betrafen. Darin wurde sie als Retterin bezeichnet, als geheimnisvolle Kriegerin, die gekommen war, um Jehenne zu besiegen und so die ni Larrhyn vor Unehre zu bewahren. Ihm selbst, stellte Calandryll fest, wurden deutlich weniger Strophen ge widmet. Er spielte kaum mehr als die Rolle eines Beglei ters des von Ahrd erwählten Helden und der flachsblon den Frau. Das störte ihn nicht im geringsten, denn es gab Bracht nicht die Gelegenheit, sich später über ihn lustig zu machen. Trotzdem war Calandryll froh, als mit der Zeit andere Lieder angestimmt wurden, die frivolere Dinge zum Inhalt hatten, mit Refrains, die das ganze Lager mitsang. Es schien, daß die Lykarder vorhatten, die ganze Nacht zu trinken und zu singen, und einige waren be reits ziemlich mitgenommen vom Wein, hatten glasige Augen und lallten. Andere waren zusammengesunken und schnarchten vor sich hin. Mit der Zeit wurden die Barden heiser und hörten auf, immer neue Strophen zu erfinden. Allmählich verklangen die Lieder, und die Leute widmeten sich wieder ihren Gesprächen. Die Frau
en begannen, ihre widerspenstigen Kinder ins Bett zu scheuchen, und die Krieger schwelgten in Erinnerungen. Diese drehten sich häufig um Kämpfe mit den Asythern, aber Calandryll stellte fest, daß diese Geschichten auf eine kameradschaftliche Art erzählt wurden und der Mut der alten Feinde genauso wie der der eigenen Clanange hörigen gewürdigt wurde. Bracht beteiligte sich ohne erkennbare Verstimmung an den Erzählungen. Diese Leute besaßen eine natürliche Offenheit und Großzügig keit, die Calandryll in den zivilisierteren Gesellschaften Lysses oder Kandahars vermißt hatte. Er begann, sich zunehmend für sie zu erwärmen, und war froh, daß sie sich nicht länger als Feinde gegenüberstanden. Irgendwann teilte Bracht ihm leise mit, daß sie jetzt schlafen gehen könnten, ohne ihre Gastgeber zu beleidi gen. Calandryll nahm den Hinweis dankbar auf, erhob sich, verbeugte sich und bedankte sich bei Dachan und den anderen, die noch einmal versicherten, sie mit genü gend Proviant zu versorgen und ihnen zumindest für den ersten Teil des Weges eine Eskorte mitzugeben. Mor rach und Nevyn, die nicht gerade völlig nüchtern wirk ten, versprachen, noch vor dem Morgen einen weiteren Versuch zu unternehmen, Kontakt mit den Geisterspre chern der anderen Lager aufzunehmen. Die drei Gefähr ten verabschiedeten sich und kehrten zu ihrem Wagen zurück. Sie waren müde genug. Keiner konnte sich erinnern, in letzter Zeit so viel gegessen und getrunken zu haben.
Calandryll streifte seine Tunika ab, fiel in die weichen Kissen und zerrte sich benommen die Stiefel von den Füßen. Er fragte sich müßig, wo Bracht in dieser Nacht schlafen würde, und der Kerner beantwortete seine un ausgesprochene Frage, indem er höflich den Vorhang zum Schlafzimmer zur Seite zog, Katya hineinschob und ihr leise eine gute Nacht wünschte. Die Kriegerin nickte ihm lächelnd zu und schloß die Vorhänge hinter sich. Bracht löste seinen Gürtel mit einem herzhaften Seufzen. »Ahrd, ich bezweifle wirklich, daß ich noch viel mehr Gastfreundschaft dieser Art überstehen könnte«, brumm te er, während er sich die Stiefel auszog. Calandrylls Antwort beschränkte sich auf ein Gähnen. Er räkelte sich wohlig in den Kissen. Sie waren sehr weich, und er verspürte keine Lust auf ein weiteres Ge spräch, wollte nur noch schlafen. Ihn überkam eine an genehme Benommenheit, die Brachts leise Stimme zu einem undeutlichen Murmeln werden ließ. Er hörte, wie der Kerner sich ebenfalls hinlegte und kurz darauf zu schnarchen begann. Calandryll seufzte zufrieden und glitt in den Schlaf hinüber. Mitternacht war längst schon vorbei, als er erwachte, aber die Morgendämmerung war noch fern. Es war stockdunkel, und im Lager herrschte Stille. Bracht schnarchte leise neben ihm, ein gedämpftes Grollen, kaum lauter als das Plätschern des Baches. Calandryll grunzte und vergrub sich tiefer in die Kissen. Er hätte
lieber weitergeschlafen und wußte nicht, was ihn ge weckt hatte, bis er seine Blase spürte. Mit einem unter drückten Fluch stand er auf und tastete sich zum Ein gang des Wagens, blieb kurz stehen, als Bracht verschla fen vor sich hin murmelte, und erklärte ihm flüsternd, daß er austreten müsse. Bracht knurrte irgend etwas Unverständliches, drehte sich auf die Seite, und Ca landryll trat in die Nacht hinaus. Der Mond stand tief im Westen und war von Wolken fetzen verhangen, die ein sanfter, warmer Ostwind vor sich her trieb. Hinter den Wagen klang gelegentlich das schläfrige Schnauben der Pferde auf, irgendwo schrie ein Kind einmal kurz und verstummte wieder. Das Zentral feuer war ein großer rotglühender Fleck neben dem Bach, dessen mattes Licht auf die Körper derjenigen fiel, die zu betrunken gewesen waren, um nach Hause zu finden. Calandryll blinzelte. Seine Augen waren noch immer vom Schlaf verklebt, und er kletterte die Stufen mit über triebener Vorsicht hinunter. Er spürte das taufeuchte Gras unter seinen nackten Füßen, gähnte und machte sich auf den Weg zu den von den Lykardern ausgehobe nen Latrinen. Er war immer noch nicht richtig wach, als er sich von dem Druck seiner Blase erlöste, der ihn ge weckt hatte. Es schien, als hätten mittlerweile auch die robustesten ni Larrhyn die Feier beendet. Alle Wagen waren still und dunkel. Alle bis auf einen, bemerkte Calandryll, als er sich umdrehte und zu Jehennes Wagen zurückkehren wollte,
und der gehörte den Geistersprechern. In seinem Inneren brannte eine Lampe, gelbliches Licht fiel durch einen schmalen Spalt zwischen den Außenvorhängen. Ca landryll nahm an, daß die Schamanen ihren magischen Aufgaben nachgingen, und er wunderte sich über ihre Zähigkeit, denn sie hatten auf dem Fest nicht weniger als die anderen getrunken, und der Wein hatte auch bei ihnen seine Wirkung gezeigt. Vielleicht verfügten sie über einen magischen Trick, um die Müdigkeit und Trunkenheit zu überwinden, dachte er, und grinste schläfrig bei dem Gedanken, daß ein solcher Zauber eine äußerst nützliche Sache wäre. Würde er ihn beherrschen, bräuchte er jetzt nicht barfuß durch das Lager zu schlei chen. Er wurde langsamer, als das schmale Lichtband breiter wurde und sich ein dunkler Umriß davor abzeichnete. Dann schloß sich der Vorhang wieder, und ein Mann kletterte lautlos die Stufen hinab. Calandryll grinste wieder, als er dachte, daß auch ein Geistersprecher die gleichen natürlichen Bedürfnisse wie ein Normalsterbli cher nach einem Trinkgelage verspürte, und er nahm an, daß der Schamane ebenfalls die Latrine aufsuchen wür de. Die Entfernung war zu groß, und es war zu dunkel, als daß er hätte erkennen können, um welchen der Geis tersprecher es sich handelte. Und dann blieb er verwirrt stehen, denn jetzt fiel ihm auf, daß die Gestalt nicht zu den Toiletten ging, wie er erwartet hatte, sondern genau in die entgegengesetzte Richtung, und sich dabei allem Anschein nach verstohlen bewegte. Er fragte sich, was
den Mann dazu veranlaßte, wie ein Dieb mitten in der Nacht durch sein eigenes Lager zu schleichen, und au tomatisch verhielt er sich genauso verstohlen und beo bachtete den anderen wachsam, bevor ihm sein Verhal ten bewußt wurde und er sein Mißtrauen als unbegrün det abschüttelte. Diese Mission hatte ihn verändert, er begann bereits, Gespenster zu sehen und dort Mißtrauen zu verspüren, wo er Freundschaft erwarten durfte. Bestimmt mußte der Schamane eine Aufgabe erledigen, bei der Dunkelheit erforderlich war, oder eine dringende Angelegenheit mit Dachan besprechen. Calandryll schüttelte den Kopf und sagte sich, daß das Kribbeln in seinem Nacken nichts zu bedeuten hätte und wahrscheinlich nur vom Wind oder den Nachwirkungen des Trinkgelages verursacht wurde. Aber trotzdem hielt er sich auch weiterhin im Schatten, als er sich wieder auf den Rückweg machte, und wahr scheinlich lag es an seiner Müdigkeit, daß ihm nicht sofort auffiel, daß er und der Schamane die gleiche Rich tung eingeschlagen hatten. Calandryll schalt sich selbst einen Dummkopf. Er beo bachtete einen Mann bei irgendeiner harmlosen Erledi gung und vermutete sofort eine Gefahr dahinter. Die Müdigkeit und der reichlich getrunkene Wein mußten sein Gehirn benebelt haben und ihn Gespenster sehen lassen. Er blieb wieder stehen, fuhr mit einer Hand durch das feuchte Gras und rieb sich das Gesicht. Der kühle Tau vertrieb seine Schläfrigkeit endgültig.
Die Schläfrigkeit, aber nicht sein Mißtrauen, denn als sich sein Blick und sein Verstand klärten, wurde ihm bewußt, daß Dachans Wagen nicht in dieser Richtung, sondern auf der anderen Seite des Baches stand, und wenn der Geistersprecher vorhätte, irgendwelche Kräu ter zu sammeln, beispielsweise Nachtblumen, dann ver mutlich weiter außerhalb des Lagers, und dazu würde er bestimmt ein Pferd nehmen. Calandryll huschte jetzt ebenfalls vorsichtig wie ein Dieb durch die Dunkelheit, bemüht, kein Geräusch zu verursachen, und folgte dem Schamanen mit einer Mischung aus Neugier und Verle genheit, denn es gab mit Sicherheit irgendeine harmlose Erklärung für diesen nächtlichen Streifzug. Dann erkannte er, wohin der Mann unterwegs war, nämlich zu dem Wagen, in dem Katya und Bracht schlie fen. Calandryll schüttelte den Kopf und lachte leise über sein unbegründetes Mißtrauen. Die Drachomannii hatten sich an ihr Versprechen gehalten und die Nacht damit verbracht, mit ihren Kollegen in Verbindung zu treten. Sie hatten irgend etwas erfahren, und jetzt wollte einer von ihnen die drei Fremden benachrichtigen. Das war alles, Calandryll hatte Hilfsbereitschaft als Bedrohung interpretiert. Schuldbewußt beschleunigte er seine Schrit te und öffnete gerade den Mund, um seine Kameraden zu wecken… Doch dann machte er den Mund wieder zu, seine Au gen wurden schmal, und die Zweifel keimten von neuem in ihm auf. Bisher hatten die Geistersprecher immer alles
gemeinsam getan. Er hatte sie nie getrennt voneinander gesehen, sie sprachen sogar stets zusammen, als würden ihre Münder von einem einzigen Verstand gesteuert. Und doch war dieser Mann allein unterwegs. Warum, wenn er derart wichtige Informationen überbrachte, daß er nicht bis zum Morgen damit warten konnte? Calandryll sah, wie die Gestalt die Leiter erreichte, an ihrem Fuß verharrte und sich umblickte wie ein Mann, der fürchtete, beobachtet zu werden, nicht wie einer, der nur eine Botschaft überbringen wollte. Jetzt erschien ihm sein Mißtrauen nicht mehr grundlos; irgend etwas war ganz gehörig faul an dieser Heimlichtuerei. Er schlich leichtfüßig näher, wobei er sich weiter in den Schatten der umstehenden Wagen hielt. Der Schamane begann, die Leiter hinaufzuklettern, griff unter seine lange Robe und zog etwas darunter hervor. Mondlicht schimmerte auf Stahl, und der Schreck wischte Calandrylls letzte Bedenken beiseite. Ohne einen weiteren Gedanken an Vorsicht zu verschwenden, sprang er aus den Schatten hervor, stürzte auf den Mann zu, und sein Schrei zerriß die Stille der Nacht. In diesem Augenblick schob sich der Mond vollends hinter den Wolkenfetzen hervor, der Mann sprang zu Boden, und Calandryll erkannte Morrachs Gesicht und den Dolch, den der Geistersprecher umklammert hielt. Er bremste seinen Ansturm ab und kam schlitternd etwas gebückt zu stehen, die Arme abwehrend ausgebreitet, als sich das lange Messer auf seinen Bauch richtete. Mor
rachs Gesicht hatte sich unter der Farbmaske zu einer häßlichen Grimasse verzerrt, und in seinen Augen loder te ein unheiliges Feuer, das puren Haß ausstrahlte. Ca landryll konnte es regelrecht spüren, als der Blick des Schamanen heiß auf seine plötzlich kalt gewordene Haut fiel. Dieser Mann war nicht länger ein Freund und Ver bündeter, der seine merkwürdigen Kräfte einsetzte, um ihre Mission zu unterstützen, sondern eindeutig ein Feind, und genauso eindeutig war seine Absicht, Ca landryll umzubringen. Calandryll sprang zurück, als ihm das Messer entge genzuckte, hörte, wie ein tierisches Knurren über Mor rachs Lippen kam, und mußte erneut ausweichen, um den Hieben des nachrückenden Mannes zu entgehen. Seine Gedanken überschlugen sich, während er vor den Stößen der Klinge hin- und hertänzelte. Morrach schien besessen zu sein, von einer unbändigen Wut ergriffen. Er murmelte und knurrte unablässig vor sich hin, kämpfte nicht mit Bedacht, sondern ließ den Dolch mit einer sol chen Wildheit herumfahren und vorschießen, daß Ca landryll keine Gelegenheit fand, sich ihm zu nähern und sein Handgelenk zu packen. Er hatte genug damit zu tun, den ungestümen Angriffen zu entgehen. Wieder stieß er einen Schrei aus und hörte, wie ihm ein paar Stimmen, noch vom Schlaf benommen, antwor teten, die jedoch nicht sonderlich aufgeregt klangen. Wahrscheinlich, dachte er, als er erneut zurücksprang und den Bauch einzog, um einem geschwungenen Hieb
zu entgegen, glaubten die Lykarder, zwei Krieger wären aus ihrem Rausch erwacht und hätten, immer noch be trunken, Streit angefangen. Er verfluchte sie für ihre mangelnde Wachsamkeit und schrie erneut und noch lauter: »Bracht! Vorsicht, Magie!« »Aye, und zwar eine größere, als dieser Mensch von sich aus beherrscht!« Speichel spritzte von Morrachs Lippen, als er die Worte hervorpreßte, und der Dolch zuckte vor, blitzartig wie eine zustoßende Schlange. Calandryll keuchte auf, erstarrte beinahe vor Schreck, und nur die während seiner langen Reise erworbenen Reflexe ließen ihn dem tödlichen Stoß entgehen. Er wir belte herum, täuschte eine Bewegung nach links an und trat gleichzeitig nach Morrachs Messerhand. Der Geister sprecher machte keinen Versuch, dem Tritt zu entgehen, aber der Treffer zeigte auch keine Wirkung. Calandryll hatte das Gefühl, als prallte sein Fuß gegen totes Fleisch, das die Wucht des Trittes einfach absorbierte. Er verlor das Gleichgewicht, rutschte auf dem nassen Gras aus und kippte um. Morrach stieß einen schrillen Triumphschrei aus. Ca landryll rollte sich verzweifelt um die eigene Achse und bekam die Leiter des Wagens zu fassen, als sich der Geis tersprecher auf die Stelle warf, wo er eben noch gelegen hatte, und sich der Dolch tief in die Erde grub. Sofort sprang der Schamane wieder auf und wirbelte mit flie gender Tunika zu seinem Opfer herum. Calandryll spür te die hölzernen Stufen in seinem Rücken, versuchte nach
links auszuweichen, fand den Weg von Morrach ver sperrt, sprang nach rechts, aber Morrach war auch dies mal wieder schneller. »Du gehörst mir!« Die Stimme klang animalisch, als müßte die Macht, die den Körper des Geistersprechers beherrschte, gegen widerstrebende Stimmbänder an kämpfen. »Jetzt erlebst du dein Ende!« Der Dolch stieß von tief unten aufwärts vor, auf den Bauch knapp unterhalb des Brustkorbs gezielt. Ca landryll verdrehte den Körper, spürte, wie die Klinge ihm das Hemd aufschlitzte, und bekam das Handgelenk des Schamanen mit beiden Händen zu fassen. Er wurde von einer entsetzlichen Kraft zurückge schleudert, die viel größer war, als daß sie nur von dem drahtigen Körper des Geistersprechers hätte ausgehen können. Finger schlossen sich um seine Kehle, drückten ihm die Luftröhre zu, und er starrte voller Entsetzen in Augen, aus denen ihm Wahnsinn entgegenblitzte. In diesem Moment wurde ihm mit furchtbarer Gewißheit klar, daß er nicht Morrach, sondern Rhythamun vor sich hatte. Calandryll keuchte den Namen des Schwarzmagiers und hörte die triumphierende Antwort. »Aye, du Trottel! Hast du geglaubt, ich würde den Versuch dieser schwächlichen Kerle, sich gegen mich zu stellen, nicht bemerken? Hast du wirklich geglaubt, sie hätten die Kraft, jemanden wie mich aufzuhalten?« Calandryll stemmte sich gegen den Arm, der den
Dolch immer näher an seinen Bauch heranbrachte, roch den weingeschwängerten Atem seines Gegners. Er konn te Rhythamuns Haß in den starren Augen erkennen, als hätte sich der Hexer in Morrachs Schädel eingenistet und blickte ihm von dort aus entgegen, unangreifbar und voller Freude über seinen unmittelbar bevorstehenden Sieg. »Nur drei könnten es schaffen, du Trottel. Aber es werden nur noch zwei sein, denn du stirbst jetzt!« Calandryll spürte, wie die Dolchspitze seine Haut be rührte, wie seine Lungen brannten und es in seinem Kopf dröhnte. Das bemalte Gesicht verschwamm hinter einem roten Nebel, die Muskeln in seinen Schultern und Armen schmerzten, erlahmten unter dem unbarmherzigen Druck. Seine letzte Hoffnung schwand. Und urplötzlich wurde die scharfe Messerspitze von seinem Bauch zurückgezogen, füllten sich seine Lungen gierig mit frischer Luft. Er fiel gegen die Leiter, drückte sich zur Seite und erwartete den tödlichen Stoß. Statt dessen hörte er Stahl auf Stahl klirren, und als sich sein Blick klärte, sah er Bracht, nur mit einer Unterhose be kleidet, Morrach mit dem ausgestreckten Krummschwert gegenüberstehen. Er spürte Hände auf seinen Schultern und hörte Katyas drängende Stimme in seinem Ohr. »Calandryll, dein Schwert!« Er packte seine Waffe und stürzte vor. »Rhythamun!« krächzte er, während in den Wagen ringsumher Licht aufflammte. »Bracht, Rhythamun hat
ihn in seiner Gewalt!« »Dann wird Rhythamun in diesem Körper sterben«, erwiderte Bracht rauh. Ein wahnsinniges Lachen brach aus Morrachs Lippen hervor. »Glaubt ihr, daß das so leicht ist? Dann schlagt zu, versucht es!« Der Geistersprecher breitete beide Arme weit aus, forderte Bracht heraus, ihn anzugreifen. Er hüpfte wie verrückt mit einem furchtbaren Grinsen auf und ab und machte keinen Versuch, sich zu wehren, als der Kerner mit dem Krummschwert ausholte. Calandryll starrte ihn entgeistert an und wurde sich gleichzeitig bewußt, daß die Lykarder aus ihren Wagen sprangen. Sie hielten Fackeln in die Höhe, aufgeregte Stimmen schwirr ten durch die Luft, wollten wissen, was hier vor sich ging. »Nein!« schrie er so laut, wie es seine gequetschte Keh le zuließ, als er die Absicht des Schwarzmagiers durch schaute. Wahrscheinlich würde der gräßliche Zauber, den Rhythamun anwandte, Morrachs Körper auch noch nach dessen Tod beherrschen, und sollte es Bracht doch gelingen, ihn zu erschlagen, würde der Tod des Geister sprechers wahrscheinlich sämtliche ni Larrhyn gegen sie aufbringen. »Nein, töte ihn nicht!« Bracht zögerte verwirrt. Morrachs furchtbares Kichern hallte durch die Stille. Sein Gesicht wandte sich Ca landryll zu. »Du bist klug geworden, aber das wird dir auch nichts nützen. Einer von euch wird sterben, egal wer!«
Er sprang auf Bracht zu und stieß nach dessen Brust. Der Kerner lenkte den Stoß ab, trat einen Schritt zur Seite, zog sich aus der Reichweite der weitaus kürzeren Waffe zurück und riskierte einen kurzen verwirrten Seitenblick in Calandrylls Richtung. »Ihn nicht töten? Was dann?« Calandryll kam näher und rief den verblüfften Lykar dern mit heiserer Stimme zu, Abstand zu halten. Katya schob sich an ihm vorbei, nur mit ihrem Hemd bekleidet, den Säbel zum Schlag bereit erhoben. Zu dritt bildeten sie einen losen Kreis um den Schamanen. »Was ist hier los?« rief Dachan aus der Menge heraus. »In Ahrds Namen, Morrach, was geht hier vor sich?« »Er ist von Rhythamun besessen«, erwiderte Ca landryll. »Er beherrscht ihn durch irgendeinen Zauber.« »Er lügt! Sie lügen alle! Tötet sie, in Ahrds Namen!« »Morrach, wo ist Nevyn?« schrie Dachan. »Ist hier Magie im Spiel? Wer spricht die Wahrheit?« »Ich«, behauptete Rhythamun durch Morrachs Mund. »Ich«, sagte auch Calandryll. »Legt eure Waffen nieder!« befahl Dachan. »Niemand darf seine Hand gegen die Drachomannii erheben!« »Aye«, bekräftigte Morrach. »Darauf steht der Tod. Aber sie haben es getan … also tötet sie!« »Ich verstehe das alles nicht«, sagte Dachan hilflos. »Was gibt es da zu verstehen?« schrie Morrach. »Tötet sie!«
Dachan zögerte und sah unschlüssig von einem zum anderen. »Frag ihn, warum er zu dieser Stunde mit einem Mes ser in der Hand zu unserem Wagen gekommen ist«, verlangte Calandryll drängend. »Frag ihn, warum er allein gekommen ist.« Dachan runzelte die Stirn, seine Augen wurden schmal. »Sucht Nevyn!« befahl er einigen Männern aus der Menge. Und an die drei Gefährten gewandt: »Ich sage es noch einmal, legt eure Waffen nieder!« »Aye, legt sie nieder«, wiederholte Morrach. Der Ring der Lykarder zog sich etwas weiter zusam men. Im Licht der Fackeln schimmerten ihre Schwerter, die sie jetzt erhoben hatten. Vorsichtig ließ Bracht das Krummschwert sinken. Da stieß Morrach einen gräßlich schrillen Schrei voller Triumph aus, hechtete auf Bracht zu und hieb mit dem Dolch nach seiner Kehle. Das Krummschwert ruckte blitzschnell hoch, prallte mit einem lauten Klirren gegen den Dolch und riß ihn in die Höhe. Im gleichen Augenblick sprang Katya wie eine große blonde Katze vor und schwang den Säbel. Die Klinge schoß auf den Rücken des Schamanen zu. Dachan und seine Leute stießen einen einstimmigen Wutschrei aus. »Nein!« brüllte Calandryll, ließ das Schwert in einer kreisförmigen Bewegung herumfahren und blockte Ka tyas Schlag kurz vor dem Körper des Mannes ab.
»Vielen Dank«, höhnte Rhythamun durch Morrachs Mund. Der Geistersprecher wirbelte genauso schnell wie Katya herum und stieß wieder mit dem Dolch nach Ca landryll. Calandryll blieb keine Zeit nachzudenken. Die Ab wehrbewegung war nicht mehr als ein Reflex. Dolch und Schwert prallten aufeinander, Funken sprühten, und plötzlich verwandelte sich das gehässige Grinsen auf Morrachs Gesicht. Überraschung schimmerte in seinen brennenden Augen auf, als er erneut zustieß. Wieder lenkte Calandryll den Angriff zur Seite, und diesmal stöhnte Morrach auf, als verspürte er Schmerzen. Da begriff Calandryll und schrie: »Gelobt sei Dera! Haltet ihn fest!« Er schmetterte einen weiteren Hieb ab, und gleichzei tig warfen sich Bracht und Katya auf den Schamanen und umklammerten seinen Arm. Morrach war noch immer besessen, noch immer von einer übernatürlichen Kraft erfüllt, die ausreichte, um den Mann und die Frau von den Füßen zu reißen, aber ihr gemeinsames Gewicht verlangsamte seine Bewegun gen und machte es ihm zumindest für den Augenblick unmöglich, seinen Dolch einzusetzen. Einen Augenblick war alles, was Calandryll brauchte. Dachan stieß einen Warnschrei aus, aber bevor die Ly karder ihn daran hindern konnten, hatte Calandryll das Schwert hochgerissen und schmetterte dem Schamanen die Breitseite der Klinge gegen das Handgelenk.
Morrach kreischte auf, seine Hand öffnete sich, und der Dolch fiel in das Gras. Calandryll trat einen Schritt näher und drückte ihm das Schwert gegen die Brust. Morrach wand sich, schleuderte Bracht und Katya um her, aus seinem verzerrten Mund drang ein hohes durchdringendes Heulen. Seinen Augen glühten jetzt nicht mehr voller Haß sondern vor Qual, als wäre die Klinge auf seiner Brust rotglühend geworden und würde sein Fleisch versengen. Calandryll nahm die Klinge von der Brust des Mannes und drückte sie ihm flach auf die Lippen. Unvermittelt verwandelte sich Morrachs Kreischen in ein schrecklich blubberndes Stöhnen. Sein Körper wurde plötzlich stocksteif, sein Mund und seine Augen öffneten sich weit. Aus seinen Lippen schoß ein roter Nebel her vor, der glühte, als würde er von einem Feuer in seinem Inneren erleuchtet, und wirbelte um die Klinge. Die vor rückenden Lykarder blieben stehen und starrten fas sungslos. Calandryll nahm intensiven Mandelgeruch wahr, rief Deras Namen wie einen Kriegsschrei und ließ das Schwert durch den Nebel fahren. Die roten Schleier wanden sich, zuckten vor dem Stahl zurück, strömten aus dem Mund des Geistersprechers heraus und zogen sich zu einem glühenden Ball über ihm in der Luft zu sammen, während gleichzeitig das Feuer in Morrachs Augen erlosch. Nachdem auch der letzte Rest den Körper des Schamanen verlassen hatte, hielt Calandryll das Schwert abwehrend erhoben, bereit zuzuschlagen, und einen Moment lang bildete sich in der Nebelwolke ein in
unaussprechlichem Haß verzerrtes Gesicht. Dann löste es sich auf und war verschwunden, und mit ihm verging der Mandelgeruch, wurde von einer leichten Brise da vongetragen. Morrach erschauderte, gab ein kurzes Stöhnen von sich, und sein Kopf sank auf seine Brust. Er erschlaffte und lag still. Calandryll starrte auf die Stelle, an der die Erschei nung in der Luft geschwebt hatte. Das Nachbild glühte noch immer vor seinen Augen, und er sagte sich, daß er gerade zum ersten Mal Rhythamuns wahres Gesicht gesehen hatte. Er ließ sein Schwert sinken, und dicht neben ihm sagte Dachan mit unheilverkündender Stim me: »Ahrd, wenn du ihn getötet hast…« »Das habe ich nicht.« Calandryll hob Morrachs Kinn, damit der Ketoman sehen konnte, daß der Schamane noch atmete. »Ich habe ihn gerettet. So Dera will, wird er wie der er selbst sein.« Dachan runzelte verwirrt die Stirn und gab einigen Männern Zeichen, den bewußtlosen Geistersprecher aufzuheben. »Das bedarf einiger Erklärungen«, sagte er, zwar nicht mehr so feindselig wie noch vor kurzem, aber immer noch nicht ganz überzeugt. »Du behauptest, er war von Rhythamun besessen?« »Aye«, erwiderte Calandryll. »Und Dera hat ihn geret tet. Ihn und uns.« Er betete stumm, daß das die Wahrheit war.
KAPITEL 18 Es wurde eng im Wagen der Geistersprecher, als sie Morrach zurückbrachten und Nevyn ausgestreckt inmit ten der verstreuten schamanischen Utensilien vorfanden. Eine häßliche Prellung zeichnete sich dunkel unter der blauen Gesichtsfarbe auf seiner Stirn ab. Morrach wurde auf die Kissen gebettet, wo er wie ein Baby schlief. Ne vyn stöhnte, als Dachans Unterführer versuchten, ihn mittels nasser Lappen und verbrannter Federn aufzuwe cken. Der verwirrte Ketoman rief Calandryll, Bracht und Katya zu sich, weitere Lampen wurden angezündet, und die ni Larrhyn drängten sich um sie. Alle wollten erfah ren, was für merkwürdige Dinge sich in dieser Nacht zugetragen hatten, und ob ihre Schamanen noch lebten. »Morrach und Nevyn müssen mit den Geisterspre chern der anderen Lager kommuniziert haben.« Ca landryll deutete auf die bewußtlosen Schamanen. Er sprach Envah, damit Katya alles verstehen konnte. »Wahrscheinlich hat Rhythamun das mitbekommen und irgendwie Kontrolle über Morrach erlangt. Ich habe euch gewarnt, daß er ein Hexer mit furchtbaren Kräften ist. Ich nehme an, daß er seinen Geist durch Zauberei hierherge schickt und Morrachs Körper in Besitz genommen hat. Dann hat er ihn dazu gebracht, Nevyn zu überwältigen,
und Morrach ausgeschickt, um uns zu töten. Oder zu mindest einen von uns, denn er hat gesagt, daß einer ausreichen würde, daß wir scheitern müßten, wenn wir nicht mehr zu dritt wären.« »Einen Geistersprecher beherrschen?« Dachan muster te Calandryll eine Weile beunruhigt. Er schien immer noch nicht völlig überzeugt zu sein. »Morrach zu seinem Werkzeug machen, zu einem Mörder?« »Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat«, erwiderte Ca landryll, »nur daß er es getan hat. Du hast selbst gesehen, wie sein Geist Morrachs Körper verlassen hat.« »Aye.« Die Erinnerung ließ Dachan erschaudern. »Und Morrach hat Bracht gedrängt, ihn umzubrin gen«, hakte Calandryll nach. »Was hättet ihr dann ge tan?« Dachan schwieg eine Weile, seine Augen verdüsterten sich, und sein dunkles Gesicht wurde plötzlich hart. »Wahrscheinlich hätten wir euch auf der Stelle getötet«, sagte er schließlich. »Oder wir hätten euch gefangenge nommen und später hingerichtet.« »Schon wieder«, murmelte Bracht, worauf der Lykar der beschämt lächelte. »Rhythamun ist äußerst gerissen, mein Freund.« »Und er wird vor nichts zurückschrecken, um uns aufzuhalten«, fügte Calandryll hinzu. »Allerdings kön nen wir von den Ereignissen dieser Nacht auch etwas lernen.«
Er wollte gerade näher erläutern, was er damit meinte, doch da rief eine Frau, daß Nevyn erwachte, und sofort richtete sich alle Aufmerksamkeit auf den Schamanen. »Ahrd!« Nevyn öffnete die Augen und setzte sich auf. »Was ist passiert?« »Morrach hat versucht, diese drei zu töten, oder zu mindest einen von ihnen.« Dachan deutete auf die Ge fährten. »Sie behaupten, er wäre von Rhythamun beses sen gewesen.« »Bei Ahrds heiligem Baum!« Nevyn schüttelte den Kopf und ächzte. Ein Mann hielt ihm einen Becher an die Lippen. Der Schamane trank ihn aus und betrachtete dann den anderen Geistersprecher, der reglos auf dem Rücken lag. »Morrach? Ist er tot?« »Calandryll hat den Geist des Schwarzmagiers aus ihm ausgetrieben – wenigstens hat es so ausgesehen.« Dachan zuckte erneut hilflos die Achseln. »Es gibt vieles, was ich nicht verstehe.« Nevyn blickte Calandryll fragend an, der sagte: »Dera hat mein Schwert vor einiger Zeit gesegnet und mir ver sichert, daß es Macht über Magie haben würde, und das hatte es auch.« Er schüttelte den Kopf, als Nevyns Blick zu Morrach zurückwanderte. »Nein, er ist immer noch am Leben. Ich habe ihn nur mit der flachen Seite der Klinge berührt, als ich begriffen habe, daß er besessen war.« »Er hat die Schneide nicht benutzt«, bestätigte Dachan. »Er behauptet, Rhythamun wäre in Morrach gefahren,
während ihr in Trance wart.« Nevyn seufzte, ergriff einen Stofflappen und drückte ihn sich auf die Stirn. »Wir haben versucht, unser Ver sprechen einzuhalten«, murmelte er. »Wir wollten mit unseren Kollegen sprechen und Nachrichten über Rhythamun einholen. Aye, so muß es passiert sein. Ahrd, wie mächtig er sein muß!« »Kannst du uns das genauer erklären?« bat Calandryll. Nevyn nickte, bedauerte die Kopfbewegung sofort wieder, zuckte zusammen und sagte: »Wir haben den Weg von Geistersprecher zu Geistersprecher nach Nor den geöffnet. Zwischen dem letzten Lager der Lykarder und dem ersten der Valaner kam es zu einer Unterbre chung, ist etwas Dunkles eingedrungen. Ahrd, das muß Rhythamun gewesen sein! Ich erinnere mich noch, daß die Dunkelheit gewachsen ist. Und sie war … böse. Ich habe versucht, den Kontakt abzubrechen, und als ich wieder sehen konnte, stand Morrach bereits. Ich habe mit ihm gesprochen, und da hat er zugeschlagen. Danach habe ich nichts mehr mitbekommen, bis jetzt. Rhytha mun muß in ihn gefahren sein, wie Calandryll sagt.« Er stöhnte, jedoch nicht vor Schmerzen, sondern vor etwas, das Angst sehr nahe kam. »Wenn er so etwas tun kann … von uns Besitz ergreifen kann…, was könnte er dann nicht tun?« »Er ist ein mächtiger Feind«, stimmte ihm Calandryll zu. »Aber trotzdem könnten wir das, was passiert ist, zu unserem Vorteil nutzen.«
»Wie das?« Nevyn hatte gesprochen, aber die Frage stand allen Anwesenden ins Gesicht geschrieben, und alle blickten Calandryll an. »Wir wissen jetzt, daß er die Geistersprecher gegen uns einsetzen kann«, sagte Calandryll langsam. »Durch das, was er Morrach angetan hat, hat er seine Fähigkeiten offenbart.« »Ein schwacher Trost«, murmelte Bracht. »Müssen wir jetzt einen Bogen um alle Lager machen, die auf unserem Weg liegen?« »Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, erwiderte Ca landryll. »Die Drachomannii können Botschaften mit einer Warnung vor Rhythamuns Fähigkeiten ausschicken, damit alle Geistersprecher Cuan na'Fors von seinen Schlichen erfahren. Vielleicht verfügt er über magische Möglichkeiten, um diese Botschaften abzufangen, oder er wird ohnehin damit rechnen, nachdem er hier versagt hat, aber ich nehme an, daß er sich jetzt von den Lagern fernhalten wird.« »Und statt dessen um so schneller reiten«, murmelte Bracht. »Aber wahrscheinlich ohne weitere Unterstützung«, gab Calandryll zurück. »Nachdem er weiß, daß Daven Tyras nicht mehr willkommen ist, wird er gezwungen sein, sich zu verstecken, weil er befürchten muß, daß sich alle Drachomannii gegen ihn zusammenschließen.« »Und das werden wir auch tun«, versicherte Nevyn.
»Nachdem wir jetzt wissen, daß er in der Lage ist, sich mit seiner Schwarzen Magie in unsere Köpfe einzuschlei chen, können wir uns auch gegen ihn schützen.« Calandryll nickte, und seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. »Seht ihr? Indem er seine Kräfte enthüllt, schwächt er sich selbst. Ich glaube, daß er jetzt allein reiten wird.« »Er hat wahrscheinlich noch die Krieger bei sich, die Jehenne ihm mitgegeben hat«, gab Dachan zu bedenken. »Und wenn er einen Geistersprecher beherrschen kann…« »Zumindest könnte er sich ihrer Pferde bedienen«, sagte Bracht. »Aber er kann nicht mehr auf die Gastfreundschaft der Lager zählen«, erklärte Calandryll. »Denn selbst wenn er wieder die Gestalt wechselt, muß er im Körper eines ni Larrhyn weiterreiten, nicht wahr? Nevyn, kannst du das alles übermitteln, sobald wir abgereist sind? Aber nicht vorher!« Der Schamane brummte eine Zustimmung. »Dann gib die Nachricht weiter, daß sich alle Lager vor den Reitern der ni Larrhyn in acht nehmen«, drängte er. »Sie töten?« Dachan zupfte mit finsterer Miene an ei nem Zopf. »Das wäre unehrenhaft.« »Nein.« Calandryll schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht, daß noch mehr Unschuldige wegen Rhythamun
sterben müssen. Sag ihnen nur, daß sie zurückgeschickt werden sollen. Sie sollen keine Hilfe, keine Pferde und höchstens so viel Proviant erhalten, daß sie zu dem letz ten Lager zurückkehren können, von dem sie aufgebro chen sind. Sollte trotzdem einer von ihnen versuchen, weiterzureiten, dann ist er entweder Rhythamun oder sein Werkzeug. So können wir ihm jede weitere Unter stützung versagen.« Dachan nickte. »Das wird geschehen«, sagte Nevyn. »Aber frühestens einen Tag nach unserem Aufbruch«, warnte Calandryll. »Ihr werdet jede Hilfe bekommen, die wir euch geben können«, versprach Dachan. »Ersatzpferde, Vorräte, eine Eskorte … was auch immer ihr wollt.« »Ich danke dir.« Calandryll neigte den Kopf. »Aber ich glaube, das ist nicht nötig. Wir müssen jetzt sehr schnell sein, und Packpferde werden uns nur aufhalten.« »Auch nicht mehr, als wenn wir jagen müßten«, warf Bracht ein. »Wir werden uns nicht damit aufhalten.« Calandrylls Grinsen wurde breiter. Die Wendung der Dinge bereitete ihm zunehmend mehr Vergnügen. »Wir werden unseren Proviant in den Lagern auf dem Weg zum Cuan na'Dru bekommen.« »Wo wir möglicherweise von Geistersprechern ange griffen werden könnten?« Brachts Stimme klang grim
mig. Calandryll wischte den Einwand mit einer Handbe wegung beiseite und grinste den Kerner an. »Paß auf, Rhythamun weiß – zumindest jetzt noch –, daß wir hier sind. Er weiß, daß wir noch leben und ihn deshalb weiter verfolgen werden. Die Geistersprecher entlang des We ges werden vor ihm und Jehennes Kriegern gewarnt sein, aber…«, er hob die Hand, um einem weiteren Einwand Brachts zuvorzukommen, »… wenn die Geistersprecher, mit denen wir zusammentreffen, keinen Kontakt mit den anderen aufnehmen, solange wir uns in ihrem Lager aufhalten, wenn sie nicht mitteilen, wo wir uns befinden und in welche Richtung wir reiten, dann kann auch Rhythamun nichts erfahren. Bestenfalls kann er heraus finden, wo wir gewesen sind, aber auch nicht mehr.« Bracht runzelte die Stirn und ließ sich Calandrylls Worte durch den Kopf gehen. Neben ihm schürzte Katya die Lippen und meldete sich zum ersten Mal zu Wort. »Ich gebe zu, daß das vernünftig klingt. Aber was, wenn Rhythamun den Geistersprecher eines Lagers unter seine Kontrolle bringt, bevor wir dort eintreffen? Dann könn ten wir direkt in die Arme eines Mörders laufen, der uns als Freund entgegentritt.« »Ich vermute, daß er seine Magie nur dann einsetzen kann, wenn die Geistersprecher die ihre anwenden«, sagte Calandryll und warf Nevyn einen fragenden Blick zu. Der Schamane nickte bestätigend und fluchte gleich darauf unterdrückt.
»Außerdem hatte ich den Eindruck, als hätte Morrach dagegen angekämpft«, fuhr Calandryll fort. »Obwohl Rhythamun seinen Willen gebrochen hatte, waren die Zeichen auf Morrachs Gesicht deutlich. Habt ihr seine Augen gesehen?« »Der Wahnsinn hat aus ihnen herausgeleuchtet«, sagte Katya leise. »Als hätte ein Dämon in seinem Schädel gesessen und durch seine Augen geschaut.« »Wie die Augen des Wolfungeheuers, das wir getötet haben«, meinte Calandryll. »Ich denke, solange Rhytha mun einen Menschen nicht vollständig in Besitz nimmt, indem er seinen alten Körper aufgibt und in den neuen schlüpft, strahlt seine Bösartigkeit wie ein Leuchtfeuer und kann deshalb erkannt werden.« »Da ist noch etwas«, warf Nevyn eifrig ein und zuckte zusammen. »Ahrd, tut mir der Kopf weh!« »Kannst du nichts dagegen tun?« fragte Dachan. »Noch nicht.« Der Schamane grinste wehmütig. »Bis die drei verschwunden sind, werde ich keine meiner Kräfte anwenden, weil ich befürchte…« Er warf einen vielsagenden Blick auf den immer noch bewußtlosen Morrach. »So lange werde ich die Schmerzen ertragen. Aber hört zu, ich glaube, daß Calandryll recht hat und ihr keine weiteren Angriffe von anderen Geisterspre chern zu befürchten habt. Hätte Rhythamun uns beide gleichzeitig beherrschen können, glaubt ihr nicht, daß er mich dann zusammen mit Morrach zu euch geschickt hätte?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte Ca landryll. »Aye.« Nevyn erinnerte sich im letzten Moment daran, nicht zu nicken. »Tun wir nicht immer alles gemeinsam? Gibt es irgendein Lager mit nur einem Geistersprecher?« Dachan und Bracht schüttelten einmütig die Köpfe. »Es gibt immer zwei von uns, mindestens«, sagte Ne vyn. »In den größeren Lagern sind es drei oder sogar vier, aber niemals nur einer. Begreift ihr nicht? Hätte Rhythamun Morrach und mich gleichzeitig kontrollieren können, dann hätte er uns mit Sicherheit beide losge schickt, um seine schmutzige Arbeit für ihn zu erledigen, aber das hat er nicht getan. Deshalb glaube ich, daß er dazu nicht in der Lage ist. Er kann immer nur einen steu ern.« »Aye.« Calandryll grinste. »Ich verstehe.« »Du hast eine schnelle Auffassungsgabe«, lobte Nevyn und wandte sich lächelnd den anderen zu. »Es gibt also mindestens zwei Geistersprecher in jedem Lager, und Rhythamun kann immer nur einen übernehmen. Das nächste Lager liegt fünf Tagesritte von uns entfernt und kann von uns informiert werden, bevor unsere Freunde dort eintreffen. Selbst wenn Rhythamun davon erfährt und einen der Geistersprecher in seine Gewalt bringt, würde der andere es mit Sicherheit bemerken. Diese Art der Magie kann man nicht heimlich ausüben.« »Und der Besessene kann überwältigt werden«, schloß Calandryll. »Gegen das ganze Lager kann selbst eine
Kraft, wie sie Morrach innegewohnt hat, nichts ausrich ten.« »Aye, man würde ihn festhalten, bis ihr eintrefft«, sag te Nevyn lächelnd. »Und wenn du wieder dein gesegne tes Schwert benutzt, kannst du Rhythamuns Geist aus treiben.« »Also können wir ungefährdet reiten«, stellte Ca landryll fest. »Es sei denn, Rhythamun denkt sich ein paar neue Hindernisse aus, die er uns in den Weg legen kann«, knurrte Bracht. »Was er zweifellos tun wird«, erwiderte Calandryll schmunzelnd, zufrieden mit sich selbst. »Aber werden wir uns davon abschrecken lassen?« »Nein«, sagte Bracht und begann ebenfalls zu schmunzeln. »Das werden wir nicht, bei Ahrd!« »Morrach wacht auf«, verkündete eine Frau. Alle Anwesenden drehten sich zu dem zweiten Geis tersprecher um und beobachteten ihn wachsam. Nevyn kniete sich ächzend neben ihn; Calandryll zog vorsorg lich das Schwert aus der Scheide. Aus Morrachs Lippen kam ein Geräusch hervor, das eine Mischung aus Seufzen und Stöhnen war. Seine Augenlider begannen zu flattern. Er blinzelte, und dann riß er die Augen weit auf und stieß einen Schrei voller Abscheu aus. Nevyn ergriff ihn an den Schultern und sprach leise und eindringlich in ihrer Muttersprache auf ihn ein. Morrach wimmerte. Er klammerte sich an seinem Partner fest wie ein Kind, das
gerade aus einem Alptraum erwacht ist und Schutz in den Armen seines Vaters sucht. Eine Weile zitterte er, seine Zähne schlugen wie im Fieber aufeinander, sein langes Gesicht war verzerrt, seine Augen wirkten glasig, als forschte er in seinem Inneren nach. Dann ließ sein Zittern allmählich nach und hörte ganz auf. Er biß die Zähne zusammen, atmete langsam tief ein, stieß die Luft mit einem pfeifenden Geräusch wieder aus, das beinahe wie eine Dankeshymne klang, und hob den Kopf. »Ahrd steh mir bei!« Er blickte sich um, sog den An blick des vertrauten Wagens und der vertrauten Gesich ter in sich auf. »Kann ich Wein haben?« Ein Mann füllte einen Becher. Der Schamane leerte ihn gierig, gab ihn zurück, wischte sich über den Mund, richtete sich auf und lehnte sich gegen die Seitenwand des Wagens. »Ahrd steh mir bei«, wiederholte er, diesmal auf En vah. »Gebe er, daß ich nie wieder etwas derart Entsetzli ches erleben muß. Lieber möchte ich sterben.« »Du lebst«, sagte Nevyn. »Dank Calandryll und der Göttin Dera.« Morrach starrte Calandrylls Schwert an, streckte bei nahe widerstrebend eine Hand aus und berührte die Klinge. Als seine vorsichtig tastenden Finger nichts als kalten Stahl spürten, seufzte er und brachte ein zaghaftes Lächeln zustande. »Ich stehe tief in deiner Schuld. Ahrd! Ich habe ver sucht, dich umzubringen.«
»Rhythamun hat versucht, mich umzubringen«, erwi derte Calandryll. »Oder irgendeinen von uns.« Morrach nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Ich habe ihn in mir gespürt.« Die Erinnerung ließ ihn erschaudern, seine Augen wurden leer. Dann wandte er sich zu Nevyn um. »Bist du verletzt, mein Bruder?« »Nur üble Kopfschmerzen.« Nevyn lächelte. »Das ist alles.« »Dafür sei Ahrd gelobt«, murmelte Morrach. »Und ist niemand sonst zu Schaden gekommen?« »Niemand«, beruhigte ihn Nevyn. »Willst du uns jetzt erzählen, was du weißt?« In Morrachs Augen war deutlich zu lesen, daß er das Erlebte lieber vergessen würde, aber er neigte den Kopf und berichtete: »Wir hatten uns in Trance versetzt. Wir haben mit Tennad von den ni Brhyn gesprochen, und auf einmal ist eine Dunkelheit gekommen, eine grauenhafte Verschleierung des Äthers, als wäre etwas Bösartiges über uns hereingebrochen … und dieses Böse ist in mich eingedrungen…« Er verstummte und erschauderte erneut. Nevyn rief leise nach einem weiteren Becher Wein und reichte ihn seinem Partner. Morrach leerte ihn in einem Zug und hielt ihn mit beiden Händen so fest umklammert, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Ich wußte, daß es Rhythamuns böser Geist war«, fuhr er fort, »ich habe dagegen angekämpft, aber er war zu stark. Ahrd, war er mächtig! Er hat mich überwunden
und mich zu seiner Marionette gemacht! Ich habe gese hen, daß du wußtest, was mit mir los war, und dich nie dergeschlagen. Vergib mir. Ich habe dich einfach hier zurückgelassen, ohne mich darum zu kümmern, ob du tot warst, und bin losgegangen, um diese drei aufzusu chen.« Er nahm kurz eine Hand von dem Becher, um auf Calandryll und dessen Gefährten zu deuten. »Ich habe gehofft – oder Rhythamun in mir hat gehofft –, sie schla fend vorzufinden, um ihnen allen die Kehlen durch schneiden zu können – oder zumindest einem. Aber dann hat sich Calandryll plötzlich auf mich gestürzt, und wir haben gekämpft. Dann waren sie alle drei da, und ich habe mich selbst Bracht zurufen gehört, er solle mich erschlagen, weil der böse Geist in mir geglaubt hat, daß Dachan befehlen würde, sie zu töten, sobald mir Bracht sein Schwert in den Leib bohren würde. Rhythamun weiß, daß drei erforderlich sind, um diese Mission durchzuführen. Dann hat Calandryll mich mit seinem Schwert berührt, und ich … Ahrd, was habe ich für Schmerzen verspürt! Es war, als würde Feuer durch meine Adern fließen.« Er starrte die Klinge voller Ver wunderung an, schüttelte den Kopf und lächelte. »Reini gendes Feuer, denn während ich gebrannt habe, habe ich gespürt, wie der Geist mich verlassen hat. Das nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, wie ich hier wieder aufgewacht bin.« »Ahrd sei gelobt, daß du wieder vollständig aufge wacht bist«, sagte Nevyn.
»Gelobt sei Ahrd – gelobt sei Dera! –, daß Calandryll ein solches Schwert trägt«, erwiderte Morrach. »Und daß er die Geistesgegenwart hatte, es auf diese Art zu benut zen. Ein Mann ohne einen so schnellen Verstand hätte mich in Stücke gehackt.« Calandryll schob das Schwert in die Scheide zurück, mittlerweile überzeugt, daß Rhythamuns Zauber endgül tig verflogen war. »Er hat versucht, dich zu benutzen«, sagte er, »aber dabei hat er einen Fehler gemacht.« Nevyn berichtete seinem Partner in knappen Worten alles, worüber sie gesprochen hatten, und als er geendet hatte, nickte Morrach. Sein Lächeln wurde fester. »Aye, das wird das Pendel des Schicksals bestimmt gegen ihn ausschlagen lassen«, stellte er fest. »Was, glaubt ihr, wird er jetzt tun?« »Er zieht immer weiter nach Norden zur Ebene von Jesseryn«, antwortete Calandryll. »Dort herrscht der Gott Horul, und deshalb ist es unwahrscheinlich, daß dort Tharns Grab liegt. Vermutlich versucht er, die Ebene zu durchqueren und anschließend auch noch den Borrhun maj zu überschreiten. Wir sind der Überzeugung, daß der Verrückte Gott jenseits davon begraben ist.« »Wie wollt ihr Rhythamun auf der Ebene von Jesseryn aufspüren?« wollte Morrach wissen. Sein Gesicht verzog sich vor Abscheu, als er hinzufügte: »Was ist, wenn er dort in einen anderen Körper schlüpft?« »So Ahrd will, werden wir vor ihm die andere Seite des Cuan na'Dru erreichen, und wie es scheint, erfordert
der Gestaltwechsel Zeit und Mühe. Ich denke, daß er noch eine Weile Daven Tyras' Körper benutzen wird, und den werden wir erkennen.« Calandryll verstummte einen Moment lang, als ihm plötzlich ein unerfreulicher Gedanke durch den Kopf ging, und fuhr zögernd fort: »Allerdings sind wir ohne die Hilfe von Geistersprechern aus dem Norden, die uns sagen können, wohin er gegan gen ist, auf reine Vermutungen angewiesen, welche Rich tung wir einschlagen müssen.« »Wenn er wirklich die Ebene von Jesseryn betreten will, gibt es nur sehr wenige Abstiege in den Kess Imbrun«, beruhigte ihn Dachan. »Und der allgemeinen Richtung nach zu schließen, in die er reitet, kommt ei gentlich nur einer in Frage.« »Der Daggan Vhe«, murmelte Bracht. »Die Straße des Blutes«, sagte er lauter, als Calandryll ihm einen fragen den Blick zuwarf. »Dort haben sich die Krieger von Cuan na'For der letzten Invasion der Jesseryter entgegenge stellt.« »Dann sollten wir am besten so schnell wie möglich zum Daggan Vhe reifen«, meinte Calandryll. Bracht nickte und wandte sich Dachan zu. »Dabei könnten wir eure Hilfe brauchen.« »Sagt mir, was ihr braucht«, verlangte der Ketoman. »Proviant, mit dem wir bis zum nächsten Lager kom men, und ein gutes Pferd für jeden von uns«, bat Bracht und erklärte an Calandryll gewandt: »Unsere Vorräte können wir so verteilen, daß kein Tier übermäßig belastet
wird. Wir werden hart reiten und dabei ständig die Pfer de wechseln. Auf diese Weise kommen wir schneller voran.« Calandryll bekundete sein Einverständnis und äußerte seinerseits eine Bitte. »Außerdem eine Eskorte von Krie gern, die die Männer kennen, die Jehenne mit Daven Tyras losgeschickt hat. Nur für den Fall, daß Rhythamun sie verhext hat und sie auf uns hetzt. Die Eskorte sollte uns mindestens bis zum Rand des Cuan na'Dru beglei ten.« »Ich bete zu Ahrd, daß kein ni Larrhyn sein Schwert gegen ein Mitglied der eigenen Sippe erheben muß«, murmelte Dachan, »aber, aye, ihr sollt alles bekommen. Wann werdet ihr aufbrechen?« Calandryll sah zum Eingang des Wagens hinüber und bemerkte plötzlich, daß auch der Rest der Nacht vergan gen war, während sie geredet hatten. Im Spalt zwischen den Vorhängen war ein schmales Lichtband zu erkennen, das den beginnenden Tag ankündigte. »Sofort«, sagte er. Katya und Bracht nickten zustimmend. Dachan bellte Befehle, worauf ein paar Krieger aus dem Wagen eilten. »Ich würde vorher gern baden, wenn wir noch so viel Zeit haben«, sagte Katya. »Ich habe so ein Gefühl, als würden wir lange nicht mehr dazu kommen.« »Aber schnell«, mahnte Bracht. »Wir baden, frühstü cken und brechen auf.« »Ich würde euch begleiten«, meldete sich Morrach zu
Wort, »wenn ich nicht fürchten müßte, daß meine Fähig keiten eher eine Gefahr als eine Hilfe für euch wären.« »Eben aus diesem Grund solltest du lieber hierblei ben«, stimmte ihm Calandryll zu und lächelte Morrach verständnisvoll zu. »Außerdem mußt du noch Botschaf ten für uns übermitteln, und ich bezweifle, daß Nevyn mit seiner Kopfverletzung jetzt schon wieder reiten könnte.« »Aye«, erwiderte Nevyn grinsend. »Das ist wahr.« »Wir werden zu Ahrd beten, daß er euch beschützt und zum Erfolg verhilft«, versprach Morrach. »Wir danken euch.« Calandryll stand auf und ver beugte sich. »Und sagen euch Lebewohl.« Er verließ den Wagen, gefolgt von Bracht und Katya. Die Lykarder, die sich draußen versammelt hatten, mach ten ihnen ehrfürchtig den Weg frei und riefen ihnen die besten Wünsche zu. Die drei Gefährten gingen zum Bach, badeten eilig und fanden das Frühstück bereits vor, als sie zurückkehr ten. Dachan erwartete sie mit ihren gesattelten Pferden und den drei Ersatztieren, die ebenfalls gesattelt waren und gefüllte Provianttaschen trugen. »Ich habe zwanzig Krieger ausgesucht, um euch zu begleiten«, erklärte ihnen der Ketoman, während sie aßen. »Sie alle kennen die Männer, die Jehenne geschickt hat, und sie haben Befehl, euch zu gehorchen. Sollte es nötig
sein, dann werden sie die anderen töten.« »So Ahrd will, wird es nicht dazu kommen«, sagte Bracht. »Ich habe das Gefühl, daß Rhythamun es jetzt sehr ei lig hat und keine Zeit mit einer Begleitmannschaft ver schwenden wird«, meinte Calandryll. Dachan nickte, in seinem schmalen Gesicht stand die Hoffnung geschrieben, daß Calandryll recht hatte. »Ich würde euch persönlich begleiten«, sagte er, »aber da Jehenne gerade erst ein paar Tage tot ist, halte ich es für besser, hierzubleiben.« Calandryll schluckte den letzten Bissen herunter und lächelte. »Du hast schon genug für uns getan«, versicher te er dem Lykarder. »Und dafür sind wir dir sehr dank bar.« »Nur eine Sache noch«, bat Bracht und stand auf. »Ich würde meinen Eltern gern ausrichten lassen, daß ich noch lebe und die Fehde beendet ist.« »Das wird erledigt«, versprach Dachan und gab ihnen nacheinander die Hand. »Die ni Errhyn werden es erfah ren. Ahrd, sobald die Barden ihre Kompositionen been det haben, wird ganz Cuan na'For davon erfahren! Möge der Gott mit euch sein, meine Freunde.« »Und mit dir«, erwiderte Bracht ernst. Dann grinste er seine Gefährten wild an. »Also, können wir jetzt aufbre chen? Wir haben noch eine Verabredung mit einem Ma gier.«
Jetzt erfuhr Calandryll, was es wirklich bedeutete, schnell zu reiten. Ohne die Notwendigkeit, mit den Kräf ten der Pferde hauszuhalten oder Begegnungen mit den Lykardern zu vermeiden, jagten sie über das Grasland. Während sie früher nach jedem Galopp eine ebenso lan ge Zeit im langsamen Trott geritten waren, hielten sie jetzt einen gleichmäßigen langsamen Galopp bei. Jeder führte ein reiterloses Pferd mit sich. Sobald das eine er müdete, wechselten sie auf das andere über, immer hin und her, genau so, wie es ein Kriegstrupp tat, der in feindliches Gebiet einfiel, erklärte Bracht. Sie aßen und tranken in den Sätteln, donnerten erbarmungslos nach Norden, scheuchten Wildpferdherden und Hunderudel auf, die jaulend vor einer so großen Gruppe flohen. Erst als die Sonne unterging und der Boden schlechter zu erkennen war, drosselten sie das Tempo und ritten im schnellen Schritt weiter, bis die Nacht völlig hereingebro chen war. Dann schlugen sie ihr Lager auf und aßen von den Vorräten, die Dachan ihnen mitgegeben hatte. Mit dem ersten Tageslicht brachen sie wieder auf und sichte ten bereits nach zwei Tagen das nächste Lager. Sie er reichten die Wagen, die auf der Windschattenseite eines kleinen Wäldchens standen, als die Sonne gerade hinter den Horizont sank. Man hieß sie voller Respekt und Neugier willkommen und brachte sie zu dem Ketoman Vachyr und den beiden Drachomannii Dewin und Pryth. Diese bestätigten, daß sie von Morrach und Nevyn über Rhythamun und dessen Hexereien informiert worden waren und die Nachrichten
weitergegeben hatten. Über den Hexer in der Gestalt Daven Tyras' konnten sie nur berichten, daß er schon vor vielen Tagen durch das Lager gekommen und keiner seiner Begleiter bisher zurückgekehrt war. Diese Nacht verbrachten sie in Vachyrs Lager und wa ren schon wieder unterwegs, als die ersten Bewohner erwachten. Nach fünf weiteren Tagen stießen sie auf eine Gruppe von ni Brhyn, die von einem Krieger namens Ranach angeführt wurde. Auch hier hieß man sie will kommen und bot ihnen den Wagen des Ketomans als Quartier an. Rachan zeigte sich beschämt über seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu Daven Tyras. In diesem Lager gab es drei Geistersprecher – Ovad, Telyr und eine Frau namens Rochanne –, die in etwa das glei che wie Dewin und Pryth berichteten. Kein Angehöriger ihrer Zunft hatte eine weitere Störung im Äther bemerkt oder wußte, wo sich Rhythamun zur Zeit befand. Es sah so aus, als wäre der Hexer einfach verschwunden. Seit er im Lager der ni Brhyn gewesen war, hatte ihn niemand mehr gesehen, weder im Gebiet der Lykarder noch in dem der Valaner. Es hatte fast den Anschein, als wäre er, seit er in Morrach gefahren war, vom Erdboden ver schluckt worden. »Bestimmt hat er den Kess Imbrun noch nicht er reicht«, sagte Bracht, als sie an Rachans Feuer saßen. »Nein, es sei denn, er hätte Zauberei eingesetzt«, er widerte Rochanne. »Mit Hilfe von Magie wäre das zwar möglich, aber er scheint es vorzuziehen, in menschlicher
Gestalt zu reisen.« »In einem gestohlenen Körper«, knurrte Ovad und verzog angewidert das faltige Gesicht. »Er hat mir einmal erzählt, daß er sich mit Hilfe von Magie an einen anderen Ort versetzen könnte«, warf Calandryll ein. »Aber nur, wenn er sein Ziel bereits kennt.« »Ein Gharan-evur wird durch die Wahl, die er getroffen hat, eingeschränkt«, erklärte Telyr. »Ein Magier, der über die Macht verfügt, einen solchen Zauber zu wirken, könnte leicht eine Gestalt annehmen, in der er schneller als ein Mensch vorankommt – zum Beispiel die eines Vogels oder eines Pferdes –, aber wenn er Daven Tyras' Körper verläßt, ist er so lange in seinem neuen Körper gefangen, bis er einen anderen findet.« »Und den zu übernehmen, kostet seine Zeit«, murmel te Katya. »Aye.« Telyr bedachte die Vanuerin mit einem neugie rigen Blick. »Du weißt etwas über diese Dinge.« »Die Heiligen Männer meines Landes haben mir etwas darüber erzählt«, erwiderte sie. »Aber ich weiß nur, daß der Gestaltwandler mit seinem Opfer vertraut sein muß, bevor er es übernehmen kann.« »Er hat einige Zeit mit Daven Tyras verbracht«, sagte Calandryll. »Und deshalb wird er wahrscheinlich dessen Körper vorläufig behalten«, behauptete Telyr. »In den Körper
eines Tieres zu schlüpfen ist zwar leichter, ihn aber wie der zu verlassen weitaus schwieriger.« »Es ist für einen Menschen einfacher, Magie auszu üben«, stimmte Ovad zu. »Ich glaube, daß er diesen Kör per behalten wird, bis er einen geeigneteren findet.« »Was ist mit seinem eigenen?« wollte Calandryll wis sen. Er erinnerte sich an das Abbild, das entstanden war, nachdem Rhythamuns Geist Morrachs Körper verlassen hatte. »In Dachans Lager habe ich sein Gesicht gesehen.« »Du hast sein Pneuma gesehen«, entgegnete Telyr. »Das Gesicht seines Geistes.« »Die Gharan-evur geben ihre natürliche Gestalt auf«, führte Rochanne aus. »Ihr körperliches Ich bleibt zurück, nachdem sie ihre schmutzige Magie gewirkt haben. Was du gesehen hast, war Rhythamuns wahres Gesicht, das sich im Äther manifestiert hat.« Ovad spuckte ins Feuer. Ihm war deutlich anzusehen, daß ihm das Gespräch Unbehagen bereitete. »Rhytha mun existiert nur noch als Pneuma«, sagte er. »Als ele mentare Kraft, als Geist. Der Körper, in dem er geboren wurde, ist längst schon zu Staub zerfallen, so daß seine körperliche Gestalt immer die seines letzten Opfers ist.« »Also wird er wahrscheinlich vorläufig Daven Tyras bleiben«, faßte Calandryll nachdenklich zusammen. »Bis er einen passenderen Körper findet – wahrscheinlich den irgendeines unglücklichen Jesseryters.« »Aye.« Ovad nickte. »Das nehme ich an.«
Die beiden anderen Geistersprecher bekundeten ihre Zustimmung. »Dann muß es so sein, wie ich vermutet habe«, sagte Calandryll. »Er macht einen Bogen um die Lager.« »Weil er annimmt, daß wir durch seine Zauberei auf merksam geworden sind«, bekräftigte Telyr. »Aye, ich schätze, so ist es.« »Dann haben wir immer noch einen Vorteil.« Ca landryll sah Bracht mit einem dünnen Lächeln an. »Er kann den Kess Imbrun noch nicht erreicht haben. Nicht, solange er in seiner menschlichen Gestalt unterwegs ist.« Bracht nickte und erwiderte das Lächeln. Wie ein Wolf, der den Geruch seiner Beute im Wind aufgefangen hat, dachte Calandryll. »Und er muß essen«, fügte der Kerner mit einem Blick auf die Geistersprecher hinzu. »Oder?« »Daven Tyras muß essen«, bestätigte Telyr. »Und er hat niemanden, der ihn mit Nahrung ver sorgt«, grübelte Bracht laut. »Alle Lager wurden vor ihm gewarnt und sind ihm verschlossen.« »Mittlerweile wird jeder Geistersprecher in Cuan na'For wissen, wer er ist«, sagte Rochanne. »Er wird nir gendwo zwischen dem Gann-Gebirge und dem Kess Imbrun oder vom Ostmeer bis zum Valt Aufnahme fin den.« Brachts Lächeln wurde breiter. »Dann frage ich mich, wie die Männer in seiner Begleitung darauf reagieren
werden, auf einmal Ausgestoßene zu sein.« »Dera, aye!« keuchte Calandryll. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Könnten sie sich gegen ihn wenden?« »Sollten sie versuchen, ein Lager zu betreten, werden sie erfahren, wer und was Daven Tyras wirklich ist«, sagte Telyr, »und wenn er sie nicht durch Zaubersprüche an sich gefesselt hat, werden sie sich gegen ihn stellen. Kein Krieger aus Cuan na'For würde gemeinsame Sache mit einem Gharan-evur machen.« »Aber sie werden ihn auch kaum überwältigen kön nen«, brummte Ovad skeptisch. »Ein Schwarzmagier, wie ihr ihn beschrieben habt, könnte leicht sechs Krieger umbringen.« »Und die Gestalt eines von ihnen annehmen«, spann Rochanne den Faden weiter. »Aber trotzdem wird er essen müssen«, sagte Bracht. »Und wenn er auf die Jagd gehen muß, wird ihn das zwangsläufig Zeit kosten.« »Und wenn uns Ahrd gestattet, den Cuan na'Dru zu durchqueren«, sagte Calandryll, »könnten wir wirklich noch vor Rhythamun auf der anderen Seite herauskom men. Wir können den Daggan Veh vor ihm erreichen, und dann – selbst wenn er in der Zwischenzeit ein ande res Gesicht hat – brauchen wir nur noch den einzelnen Mann aufzuhalten, der versucht, die Ebene von Jesseryn zu betreten.« »Und er wird nicht versuchen, den gleichen Weg wie wir zu nehmen?« erkundigte sich Katya. »Seid ihr euch
da sicher?« »Die Gruagach würden ihn den Wald nie betreten las sen«, behauptete Rochanne im Tonfall tiefster Überzeu gung. »Und ich bezweifle, daß selbst ein Magier wie Rhythamun gegen sie bestehen könnte. Nein, ich bin überzeugt, daß er den Wald umgehen wird.« »Es scheint, daß alles von Ahrd und den Gruagach ab hängt«, sagte Telyr. Bracht betrachtete seine Hände, und Calandryll glaub te, einen Schatten der Unsicherheit über das Gesicht seines Kameraden huschen zu sehen, aber die Stimme des Kerners klang fest, als er sagte: »Wenn wirklich der grüne Saft des Gottes durch meine Adern fließt, dann werden sie uns mit Sicherheit helfen.« »Es bleibt euch nichts anderes übrig, als es auszupro bieren«, murmelte Telyr. Bracht nickte, sein Lächeln wirkte entschlossen. »Aye, das werden wir.« »Und wir werden für euch beten«, versprach Rochan ne. Als sie das Lager an diesem Morgen verließen, lag Nebel über den Erlen des Wäldchens, der sich schon bald unter den Strahlen der Sonne auflöste, die den Beginn des Sommers ankündigte. Sie hielten das gleiche Tempo wie zuvor bei und jagten unaufhaltsam nach Norden, dem Cuan na'Dru entgegen. Meile und Meile schmolz
unter den trommelnden Hufen der Pferde dahin. Tage lang durchquerten sie eine leere, sonnendurchflutete Landschaft, doch als sie eines Morgens ihr Lager verlie ßen, sahen sie, wie sich im Norden riesige Gewitterwol ken auftürmten. Um die Mitte des Vormittags zwang sie der niederprasselnde Regen, das Tempo zu drosseln. Donner rollte über das Land, die herabstürzenden Was sermassen drückten das Gras platt. Die Bäche und Flüß chen, die sie überquerten, waren zu reißenden und to benden Strömen angeschwollen, aber von der Dringlich keit ihrer Mission angetrieben, ritten die Gefährten und ihre Eskorte so schnell, wie es die Umstände zuließen, um Rhythamun nicht den kleinsten Vorsprung zu ge währen. Es schien, als hätten sie jetzt zum ersten Mal eine echte Chance, zu ihm aufzuschließen, ihn am Kess Imbrun abfangen und ihm das Arcanum zu entreißen. Calandryll hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen sollten, und er war nicht gerade froh darüber, daß ihm der Sturm Zeit für derartige Überlegungen ließ. Der Wolkenbruch hatte das sonnige Grasland in eine dunkle und trostlose Land schaft verwandelt, die in düsteres, nur von den Blitzen erhelltes Zwielicht getaucht war. Die zwangsweise Dros selung des Tempos lenkte Calandrylls Gedanken nach innen, und seine Ungeduld über diese Verzögerung wuchs. Er versuchte, seine Zweifel zu verdrängen, aber die plötzliche Trostlosigkeit der Umgebung und die scheinbar unerschöpflich herabströmenden Wassermas sen ließen sie unerbittlich wieder in ihm aufsteigen. Er
zweifelte nicht daran, daß Ahrds merkwürdige Wächter ihnen die Durchreise durch den Cuan na'Dru gestatten würden. Jeder Geistersprecher, mit dem er sich unterhal ten hatte, war der Meinung, daß Brachts gescheiterte Kreuzigung den Kerner als Günstling des Gottes aus wies. Und war nicht Burash gekommen, um sie aus den Händen der Chaipaku zu retten und sie schneller, als irgend jemand zu hoffen gewagt hätte, über das Enge Meer zu bringen? War ihm Dera nicht auf der Straße nach Gannshold erschienen, um seinem Schwert eine Kraft zu verleihen, die Magie überwinden konnte? Viel leicht, dachte er, war das die Antwort. Vielleicht sollte er Rhythamun im Zweikampf gegenübertreten: sein von der Göttin gesegnetes Schwert gegen die Schwarze Magie des Hexers. Dieser Gedanke ängstigte ihn. Das wurde ihm erst richtig bewußt, als ein lauter Donnerschlag ertönte und sein Pferd furchtsam tänzelte. Er hatte Rhythamuns Macht schon mehrfach erlebt, und auch wenn die Magie des Magiers ihn bis jetzt noch nicht hatte besiegen oder seine Mission beenden können, verspürte er doch nacktes Entsetzen bei der Vorstellung, sich dem Schwarzmagier in einem offenen Kampf zu stellen. Vertrauen, beschwor er sich selbst und trieb das nervö se Pferd weiter an. Die Jüngeren Götter stehen auf unserer Seite. Wir werden bestimmt siegen. Bestimmt … Aber tief in seinem Herzen blieb ein Zweifel zurück, den er nicht völlig ausschalten konnte.
Aber das spielte keine Rolle. Er wischte sich den Re gen aus dem Gesicht und wußte, daß er gar keine andere Wahl hatte. Selbst wenn er in dem Kampf sterben sollte, seine Entscheidung stand unwiderruflich fest. Wenn er es sich jetzt anders überlegte, würde er seine Selbstachtung verlieren. Bracht hatte sich nicht davon abschrecken lassen, Cuan na'For zu durchqueren, obwohl ihm ein qualvoller Tod gedroht hatte, und Katya hatte alles zu rückgelassen, was ihr vertraut war, um ihr Ziel zu ver folgen. Deshalb durfte seine Entschlossenheit nicht hinter der seiner Gefährten zurückstehen. Er mußte voller Ver trauen weiterziehen, zum Cuan na'Dru und darüber hinaus zum Kess Imbrun. Zur so passend genannten Straße des Blutes, wo diese lange Reise vielleicht ihr Ende finden würde. Als wollte sie ihn in seiner Entschlossenheit bestärken, sah er die Sonne genau in diesem Moment zwischen den schwarzen Wolken hervorschauen. Ein breiter, leuchten der Strahl fiel auf das Grasland. Es war wie damals auf der Straße nach Gannshold, als ein Sonnenstrahl Dera in goldenes Licht getaucht hatte. »Aye, Vertrauen«, sagte er, ohne sich bewußt zu wer den, daß er laut gesprochen hatte. Ein letzter Donnerschlag erscholl über ihm, und dann verzog sich der Regen nach Süden. Die Wolken brachen auf, der Himmel erstrahlte in reinem Blau, und der Wind wurde wieder warm. Vögel begannen zu singen, das nasse Gras duftete frisch und begann, unter den wär
menden Strahlen der Sonne zu dampfen. Am späten Nachmittag wuchs eine Hügelkette vor ih nen auf, eingehüllt in den Dunst des trocknenden Grases. Sie erreichten den Kamm, und ohne, daß ein Wort fiel, hielten sie alle an. Calandryll starrte ehrfürchtig auf das, was vor ihnen lag. Der grasbewachsene Hügel fiel sanft ab. Die ebene Grassteppe, die sich dahinter anschloß, endete vor einer Wand aus dunklem Grün, die sich so weit über die Prärie erstreckte, wie das Auge reichte. Von Osten nach Westen und bis zum nördlichen Horizont schien ein Schatten über dem Gras zu liegen, als bildete diese dunkle Fläche die nördliche Grenze Cuan na'Fors, ein dunkles, stilles, schwarzes Meer. »Der Cuan na'Dru«, hörte Calandryll Bracht leise und ehrfürchtig sagen. Sein Blick war wie gebannt, eingeschüchtert von den gewaltigen Ausmaßen. Die Wälder Kandahars waren ihm schon groß vorge kommen, aber verglichen mit diesem riesigen Wald, der sich scheinbar endlos erstreckte, waren sie nicht viel mehr als Bauminseln. Schweigend folgte er Bracht den Hügel hinunter. Die untergehende Sonne tauchte die Baumkronen in goldenes Licht, so daß der riesige Wald zu glühen schien. In dieser Nacht lagerten sie noch in der Grassteppe neben einem kleinen Bach, der sich leise gluckernd da hinschlängelte, und ritten mit Anbruch des Morgens zügig weiter. Calandryll bemerkte, daß die Gesichter ihrer Begleiter ernst waren, als fürchteten sie die Nähe
dieses heiligen Ortes, und tatsächlich konnte er die Ge genwart des Waldes geradezu körperlich spüren, als würde der dunkle Streifen, der den gesamten Horizont ausfüllte, einen geistigen Schatten weit in das Land hi neinwerfen. Gegen Mittag, als sie nur noch rund drei Bogen schußweiten vom Waldrand entfernt waren, verlangsam te die Eskorte das Tempo, und Nychor, ihr Anführer, lenkte sein Pferd neben die drei Gefährten. »Mit eurem Einverständnis würden wir lieber nicht näher an den Cuan na'Dru heranreiten«, erklärte er. »Ohne die Fürsprache der Drachomannii…« Bracht nickte verständnisvoll und brachte sein Pferd zum Stehen. »Wartet hier«, bat er. »Zumindest so lange, bis wir den Wald betreten haben.« Nychor lächelte dankbar. »Wir werden euch beobach ten«, versprach er. »Und sollten euch die Gruagach den Zutritt gestatten, warten wir noch bis zur Morgendäm merung.« Sein Tonfall und die Art, wie er den Wald beäugte, legten die Vermutung nahe, daß er die Erlaubnis der Gruagach bezweifelte. Bracht lächelte, ebenfalls alles andere als entspannt, und übergab Nychor die Zügel des Ersatzpferdes. »Bring die Pferde Dachan zusammen mit unserem Dank zurück.« Er drehte sich zu Calandryll und Katya um. »Kommt.« Er wartete ihre Antwort nicht ab, als hätte er es eilig, ohne jede weitere Verzögerung eine Prüfung hinter sich
zu bringen, stieß dem schwarzen Hengst die Fersen in die Weichen und galoppierte los. Seine Gefährten warfen den nervösen Lykardern die Zügel ihrer Auswechsel pferde zu und preschten ihm hinterher. Calandryll hatte den Eindruck, als würde es immer stiller werden, je weiter sie sich dem Cuan na'Dru näher ten. Insekten schossen über das Gras, Vögel flogen durch die Luft, aber die Laute, die sie verursachten, schienen gedämpft und von der Stille des Waldes verschluckt zu werden. Ein schwacher Wind wehte, aber das ständige Rascheln des Grases war kaum zu hören, selbst das Trommeln der Pferdehufe klang leise, als saugten die Bäume, die jetzt Calandrylls gesamtes Blickfeld ausfüll ten, sämtliche Geräusche auf. Ebereschen, Schlehdorn, Holunderbüsche und Eschen wuchsen am Rand des Waldes, wie Außenposten der größeren Bäume, die sich hinter ihnen erhoben. Die Eichen überwogen, die ersten waren noch junge Bäume, aber schon etwas tiefer wal deinwärts hatten sie gewaltige Stämme und streckten mächtige Äste gebieterisch aus. Ihre Blätter schimmerten wie grüne Juwelen. Sie waren majestätisch, und Ca landryll konnte die ihnen innewohnende Kraft spüren. Bracht ließ den Hengst in Schritttempo fallen und hielt schließlich an. Calandryll und Katya folgten sofort sei nem Beispiel. Keiner sprach, als sie aus den Sätteln glit ten und die Pferde langsam an den Zügeln weiterführten, bis der Kerner eine Hand hob und sie aufforderte, ste henzubleiben.
»Wartet hier.« Er übergab Katya die Zügel, und einen Moment lang umklammerte sie seine Hand. Calandryll sah, daß Brachts Gesicht ernst und feierlich war. Dann nickte er einmal kurz, loste seine Hand aus der ihren und näherte sich dem Wald. Fast so, wie er zu seiner Hinrichtung gegangen war, dachte Calandryll. Die Sonne stand mitt lerweile im Zenith, der Wald leuchtete grün, der Boden zwischen den ersten Bäumen, denen sich Bracht jetzt näherte, war mit einem sich ständig verändernden Schat tenmuster übersät. Calandryll sah, wie er ein Schleh dorngebüsch umrundete und vorsichtig zu der ihm nächsten Eiche ging. Er erreichte den Baum, der noch ziemlich jung, aber trotzdem schon massig war, und fiel auf die Knie, die Arme ausgebreitet, die Finger beider Hände weit gespreizt. Er war zu weit entfernt und sprach zu leise, als daß Calandryll ihn hätte verstehen können. Nach einer Weile stand er auf und legte beide Hände auf die gefurchte Rinde. Den Kopf hielt er gesenkt. Lange Minuten stand er so da, dann drehte er sich um und kehrte zu seinen Gefährten zurück. Sein Gesicht war immer noch ernst, unbewegt und verschlossen. »Ich weiß nicht, ob sich Ahrd dazu herabgelassen hat, mich anzuhören«, sagte er mit gedämpfter Stimme, die zu seinem Gesichtsausdruck paßte. »Wir müssen war ten.« »Wollen wir den Wald nicht betreten?« fragte Katya,
worauf Bracht sie mit einem beinahe wütenden Blick bedachte. »Ohne Erlaubnis?« Er schüttelte den Kopf. »Das wür de den sicheren Tod bedeuten.« Er drehte sich um und deutete wortlos hinter sich. Ca landryll folgte dem ausgestreckten Arm mit den Blicken und entdeckte, im dichten Unterholz und dem hohen Gras fast verborgen, weißliche Knochen und stumpf schimmerndes Metall. Nachdem er erst einmal darauf aufmerksam geworden war, erkannte er, daß der Wald rand ein Friedhof war. Überall lagen die sterblichen Ü berreste von Menschen. Sie waren von Wurzeln um schlungen, so daß sie Teil des Waldes geworden waren. Hier ragte ein Brustkorb aus dem Gestrüpp hervor, dort hatten Brombeerranken einen Totenschädel mit einer Dornenmaske überzogen. An einem Holunderstrauch baumelte ein Skelett, ein Ast war durch eine der Augen höhlen gewachsen. In einem Schlehdorngebüsch hingen weitere menschliche Überreste. Calandryll spürte, wie ihn düstere Zweifel befielen, die sich auf seinem Gesicht widerspiegeln mußten, denn Bracht sagte: »Einige sind von den Gruagach getötet wor den, andere wurden geopfert.« Er schüttelte den Kopf, als Calandryll entsetzt aufkeuchte, und erklärte: »Nicht in letzter Zeit. Das ist sehr lange her. Jetzt werden hier nur noch diejenigen getötet, die dumm genug sind, den Wald ohne Erlaubnis zu betreten.« »Von den Gruagach«, flüsterte Calandryll.
»Aye.« Ein flüchtiges, freudloses Lächeln huschte über Brachts Gesicht. »Verstehst du jetzt, warum ich so lange gezögert habe, den Cuan na'Dru zu betreten?« »Allerdings«, murmelte Calandryll. »Und jetzt?« »Jetzt können wir nur noch warten«, erwiderte Bracht. »Wenn wir den Cuan na'Dru durchqueren wollen, brau chen wir unbedingt die Erlaubnis der Gruagach.« »Woher sollen wir wissen, daß sie uns die Erlaubnis geben?« erkundigte sich Katya. »Wir werden es erfahren«, sagte Bracht. »Sie werden kommen, um uns Bescheid zu sagen.« »Wann?« fragte die Kriegerin. »Wie lange werden wir warten müssen?« Bracht zuckte die Achseln. »Bis sie kommen.« »Und wenn sie nicht kommen?« wollte Katya wissen. »Dann haben wir einen langen Ritt vor uns. Nychor und seine Männer werden bis zum Morgen auf uns war ten. Ich glaube, daß die Gruagach schon vorher kommen werden, aber wenn nicht…« »Dann müssen wir da herumreiten?« Katya deutete auf den riesigen Wald, der sich vor ihnen ausbreitete. »Wenn wir gezwungen werden, einen solchen Umweg zu machen, dann wird Rhythamun uns mit Sicherheit entkommen.« Bracht nickte. Das Gesicht der Kriegerin verdüsterte sich vor hilfloser Enttäuschung. »Sollte es dazu kommen, werden wir genau das tun
müssen«, sagte er. Katyas graue Augen wurden schmal. Sie schürzte die Lippen, als wollte sie ihm widersprechen, aber Bracht kam ihr zuvor. »Hör mir zu«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Ich werde nicht zulas sen, daß du ohne die Erlaubnis der Gruagach da hinein gehst. Ich möchte nicht, daß deine Knochen neben denen der anderen verbleichen, die dumm genug waren, das zu versuchen.« »Du würdest mich davon abhalten?« fragte sie und be trachtete nachdenklich sein entschlossenes Gesicht. »Mit Gewalt?« »Allerdings«, erwiderte Bracht. »Du bedeutest mir zu viel, als daß ich dich so sinnlos sterben lassen würde.« »Dann nehme ich an«, sagte Katya, und ihre Lippen verzogen sich zu einem resignierten Lächeln, »daß wir wohl warten müssen.« Sie nutzten die Gelegenheit, um etwas zu essen. Es war eine kalte Mahlzeit, denn sie wollten den Gott nicht beleidigen, indem sie Brennholz in seinem Wald sammel ten. Nach dem Essen beschäftigten sie sich damit, die Pferde zu versorgen und ihre Ausrüstung zu überprüfen. Es war eine eigentlich überflüssige Arbeit, die nur dazu diente, ihnen die Zeit zu vertreiben. Die Stunden schleppten sich zäh dahin. Nichts wies darauf hin, ob Brachts Gebete erhört worden waren. Sie warteten schweigend, denn anscheinend war es unvermeidlich,
daß ihre Gespräche immer wieder darauf hinausliefen, daß sich Rhythamuns Vorsprung mit jeder weiteren Stunde vergrößerte, woraufhin ihre Enttäuschung wuchs, und Bracht tat alles, um solche Bemerkungen zu vermei den, aus Angst, daß Ahrd daran Anstoß nehmen und ihnen seine Hilfe verweigern könnte. Im Süden konnten sie sehen, wie die Lykarder ihr Nachtlager vorbereiteten. Die Pferde grasten zufrieden, die Krieger aber warfen immer wieder nervöse Blicke zum Waldrand hinüber. Sie warteten genauso gespannt wie die drei Abenteurer darauf, was bei diesem beispiellosen Versuch heraus kommen würde. Die Sonne sank dem Horizont entgegen, und im Osten ging der Mond auf. Bläuliches Zwielicht senkte sich über das Land, die Vögel flatterten zu ihren Schlafplätzen in den Bäumen. Und dann stieß Brachts Hengst ein war nendes Wiehern aus, stampfte und warf den Kopf zu rück, die Ohren flach angelegt. Auch der Braune und der Grauschimmel begannen, unruhig zu werden. Bracht war blitzschnell auf den Beinen. Calandryll stand ebenfalls auf, Katya kam zu ihnen gerannt, und gemeinsam starrten sie gebannt in den Wald. Mittlerweile war der Cuan na'Dru in Schatten gehüllt, gespenstisch und unheimlich in seiner Unermeßlichkeit. Gespenstisch waren auch die Schemen, die sich in der Dunkelheit bewegten und trotz der vertrockneten Zwei ge und Blätter, die den Waldboden bedeckten, lautlos
von Baumstamm zu Baumstamm huschten. Sie waren nicht genau zu erkennen, bewegten sich zu verstohlen. Calandryll sah nur, daß sie riesige Augen und längere Gliedmaßen als ein Mensch hatten und sich mit einer übernatürlichen Gewandtheit bewegten. Er hatte halbwegs damit gerechnet, daß ein Byah er scheinen und sie auffordern würde, den Wald zu betre ten. Diese Manifestation Ahrds wäre nicht so furchtein flößend gewesen, denn er hatte bereits eine gesehen. Diese Wesen dagegen wirkten weitaus bedrohlicher. Er spürte seine Haut kalt werden, während er die Gestalten deutlicher zu erkennen versuchte. Es gelang ihm nicht, obwohl sie jetzt näher kamen und sich an den Eichen vorbei in den Gürtel aus Holunder sträuchern und Ebereschen schoben, wo die Knochen lagen. Es war, als würden sie ständig gerade am Rand seines Blickfeldes bleiben, sich so schnell und unvermit telt bewegen, daß er die Augen nie direkt auf sie richten konnte. Aber jetzt konnte er sie hören, während sie im mer näher huschten. Es war keine richtige Sprache, mit der sie sich verständigten, sondern ein leises Pfeifen, Seufzen und Murmeln; Geräusche, wie sie auch die Bäume machten, wenn der Wind durch ihre Äste strich. Calandryll mußte an die Syfalheen aus Gessyth den ken, an Yssym und dessen Sippe, die ihm zuerst sehr fremdartig erschienen waren, sich dann aber als aufrich tige Freunde erwiesen hatten, und er sagte sich, daß diese Geschöpfe hier die Gruagach, daran zweifelte er nicht
einen Moment lang nicht seltsamer und auch nicht ge fährlicher waren. Aber dann erinnerte er sich wieder an die Knochen und fragte sich, ob er nicht nur versuchte, sich selbst zu beruhigen. Unwillkürlich fiel seine Hand auf den Schwertgriff, als eine der Gestalten noch näher herankam, sich leichtfüßig durch die Schlehdorndickichte schob und im Schatten der Büsche stehenblieb. Sie hob einen Arm und krümmte lange Finger mit seltsam angeordneten Gelenken in einer unmißverständlichen Geste. »Kommt«, sagte Bracht leise und beinahe zögernd. Calandryll spürte, daß sein Mund voller Speichel war, spuckte aus und ergriff die Zügel seines Pferdes. Er hör te, wie Katya neben ihm den Atem in einem langen Seuf zer ausstieß, als sie Bracht wachsam in Richtung der wartenden Gestalt folgte. Der Kerner führte seinen Hengst bis zum Waldrand, blieb dort stehen und rief: »Gewährst du uns Zutritt in Ahrds heiligen Wald?« Der Gruagach winkte sie zu sich, und im schnell erlö schenden Tageslicht sah Calandryll, daß die langen Fin ger in scharfen Krallen endeten. Im Zwielicht fiel es schwer, Einzelheiten zu erkennen, aber Calandryll glaub te, daß die Haut des Wesens wie die Rinde eines alten Baumes aussah, ein Gemisch aus Grün und Grau, und als es den Mund öffnete, sah er eine Doppelreihe gezackter Zähne, die wie das Gebiß eines Hais wirkten. Die Augen waren riesig und blaß, die Pupillen vertikale Schlitze,
überragt von Knochenwülsten, die in eine fliehende breite Stirn übergingen. Die Nase war nur rudimentär ausgebildet, ein flacher Höcker mit großen Nasenlöchern. Das Wesen sprach, oder zumindest schien es so. Es gab einen vibrierenden Pfeifton von sich und gestikulierte wieder. Bracht richtete die Schultern auf, als er, den Hengst am Zügel führend, auf das fremdartige Geschöpf zuging. Der Gruagach blieb reglos stehen, bis der Kerner ihn er reicht hatte, hob dann einen seiner langen Arme und deutete auf Brachts rechte Hand. Bracht hielt ihm den Arm entgegen. Der Gruagach ergriff die Hand, führte sie dicht vor seine Augen, drehte sie hin und her, schnüffelte daran und berührte die verheilte Haut behutsam mit einer Klaue. Dann stieß er einen Pfiff aus, der von einem Chor ähnlicher Pfiffe aus der Dunkelheit beantwortet wurde. Er ließ die Hand los und entfernte sich ein Stück chen. Bracht trat einen Schritt vor, und der Gruagach wich weiter zurück, als wollte er jetzt, nachdem seine Neugier befriedigt war, eine größere Entfernung zwischen sich und den Menschen legen, um nicht mehr so deutlich gesehen zu werden. Er bewegte sich mit einer solch an mutigen Geschmeidigkeit, daß er nicht zu gehen, son dern zu gleiten schien, verließ den Schutz des Dickichts, blieb wieder unter einem Holunderbusch stehen und winkte den Menschen zu. Bracht folgte ihm, und Calandryll kam es so vor, als würde sich die Schlehdornhecke teilen und einen schma
len Pfad in den Wald hinein bilden. Der Kerner führte sein Pferd in die Schneise, gefolgt von Katya. Calandryll bildete den Abschluß. Als er sich noch einmal umblickte, sah er das Lagerfeuer der Lykarder als fernen Lichtfun ken auf dem offenen Grasland, bevor sich die Hecke wieder zu einer undurchdringlichen Mauer schloß. Vor ihnen erhoben sich Eschen und Ebereschen, in denen undeutlich die Umrisse der anderen Gruagach zu sehen waren. Ihr Führer geleitete sie immer tiefer durch den Ring der äußeren Bäume zu den großen Eichen, die den eigentlichen Wald bildeten. Dort blieb das Geschöpf unter den ausladenden Ästen einer gewaltigen Eiche stehen, so reglos, daß es unsichtbar wurde und nicht mehr als ein Auswuchs des großen Baumes zu sein schien, bis es mit seinen langen Armen winkte und ein paar Flötentöne ausstieß, die wie der Ruf eines Nachtvo gels klangen. Seine Sprache war unverständlich, und es schlug ent täuscht die spitzen Zähne aufeinander, als es sah, daß die Menschen nicht begriffen, deutete auf sie und dann auf ihre Pferde. Bracht musterte es einen Moment lang und setzte dann versuchsweise einen Fuß in den Steigbügel. Der Gruagach nickte eifrig, woraufhin sich der Kerner in den Sattel schwang und sich bückte, um nicht mit dem Kopf gegen die Äste der Eiche zu stoßen. »Wie sollen wir da durchreiten?« Katya deutete mit dem Kinn auf den vom Mondlicht beschienenen Wald. »Bei Tageslicht, vielleicht, aber nachts?«
Der Gruagach pfiff, das Geräusch erklang irgendwie gereizt, und Bracht sagte: »Tu, was er verlangt.« Katya zuckte die Achseln und stieg in den Sattel, Ca landryll folgte ihrem Beispiel. Er sah, daß der Gruagach zustimmend nickte, ihnen zuwinkte, ihm zu folgen, sich umdrehte und loslief. Er rannte so schnell wie ein Pferd, lief auf allen vieren und ließ ihnen keine andere Wahl, als ihre Pferde anzu treiben und zu beten, daß sie nicht von tiefhängenden Ästen aus den Sätteln geschleudert werden würden. Und das geschah auch nicht. So, wie sich die Schleh dornhecke am Waldrand vor ihnen geteilt hatte, schienen auch die Eichen vor ihnen zurückzuweichen und einen sicheren Weg in den Wald hinein freizugeben, und nach einer Weile wuchs die Zuversicht der Reiter. Sie nahmen wieder eine aufrechte Haltung in den Sätteln an und jagten dem rennenden Gruagach immer tiefer ins Herz des Cuan na'Dru hinein hinterher. Das Wesen behielt einen gleichmäßigen Abstand bei. Es war immer gerade noch sichtbar, während seine Art genossen schon bald verschwunden waren und nur hin und wieder im Mondlicht als huschende Schatten kurz auftauchten. Calandryll bemerkte, daß sie sich gewandt von Baum zu Baum schwangen und nur selten einmal den Boden berührten. Er nahm an, daß es sich um Baum bewohner handelte, und er fühlte sich an die Affen erin nert, die er in den Dschungeln von Gash gesehen hatte. Derjenige, dem sie folgten, war ausgewählt worden,
ihnen den Weg zu weisen … Zu Ahrd? Er nahm es an, denn es schien unmöglich, daß sie ohne göttliche Hilfe so schnell hätten vorankommen können. Die Pferde zeigten jetzt keinerlei Anzeichen mehr von Nervosität, sondern galoppierten so unbekümmert dahin, als durchquerten sie die offene Steppe. Sie spürten, was den Augen ihrer Reiter verborgen blieb. Die Eichen standen dicht, und auch wenn ihre weitausladenden Äste und die dicken Wurzeln nur wenig Pflanzenwuchs auf dem Waldboden zuließen, war es doch eigentlich unmöglich, ein solches Tempo beizubehalten, ohne daß es zu einem Unfall kam. Sie ritten hintereinander, Calandryll am Schluß, aber trotzdem konnte er sehen, daß vor Bracht Bäume direkt in ihrem Weg standen, mit so tiefhängenden Ästen, daß sie selbst den Pferden ein Durchkommen unmöglich hätten machen müssen. Doch der Gruagach rannte ein fach weiter, und sie folgten ihm, ohne auf ein Hindernis zu stoßen, obwohl es schien, daß sie direkt auf eine Wand aus massiven Baumstämmen und ineinander ver flochtenen Ästen zujagten. Es war, als würden sich die Eichen vor ihnen auflösen, auf flinken hölzernen Beinen zur Seite gleiten. Calandryll warf mehrmals einen kurzen Blick zurück und sah auch hinter sich nur undurchdring lich dicht stehende Bäume. Zuerst war er so sehr auf den Ritt konzentriert, daß er die immer intensiver werdende Atmosphäre von Frieden und überwältigender Stille gar nicht registrierte, doch schließlich nahm sie ein solches Ausmaß an, daß sie kör perlich fühlbar wurde. Erst dann wurde ihm bewußt, daß
er am Anfang die natürlichen nächtlichen Geräusche des Waldes wahrgenommen hatte, das Rascheln der Blätter im Wind, das Trällern der Nachtvögel, die leisen Schreie kleiner Tiere, das Trommeln der Hufe auf dem Boden. Jetzt hatte sich Stille breitgemacht, nicht wie das unheim liche Schweigen am Waldrand, sondern eine ehrfurcht gebietende Ruhe, eine Stille, wie sie in Tempeln herrsch te. Es war, als würde sich der natürliche Ablauf der Zeit verändern. Die Bewegungen des Pferdes unter ihm schienen sich zu verlangsamen, obwohl Calandryll ir gendwie wußte, daß er noch immer in einem unmöglich schnellen halsbrecherischen Tempo dahinjagte. Der Ritt wurde zu einem sanften Schaukeln wie in einem Boot, das gemächlich auf einem ruhigen See dümpelte. Um ihn herum verschwammen die Bäume zu undeutlichen Schemen, als hätte sich eine Wasserschicht über seine Augen gelegt. Hier und da fielen Bahnen von Mondlicht durch die Äste, die zu einer unhörbaren Musik tanzten und schwankten. Wie in einem Traum, dachte er. Das ist kein Traum, klang eine merkwürdig vertraute Stimme in seinem Kopf auf. Wolltest du nicht meinen Wald durchqueren? »Aye«, erwiderte Calandryll, und der Fahrtwind des unnatürlich schnellen Rittes riß das Wort von seinen Lippen. Und hast du gedacht, ich würde euch zurückweisen, obwohl Bracht mich um Erlaubnis gebeten hat? Habe ich ihm nicht schon zweimal meine Gunst bewiesen? Einmal in Lysse und
dann noch einmal, als ich seine Wunden geheilt habe? »Das hast Du«, erwiderte Calandryll, und jetzt erkann te er die Stimme, erinnerte sich wieder an den Byah, der sie vor Rhythamuns Verrat gewarnt hatte. Wie sollte ich mich sonst gegenüber denjenigen verhalten, die mich verteidigen, außer ihnen die Hilfe zu gewähren, die in meiner Macht steht? Die Gruagach werden euch sicher auf die andere Seite des Waldes geleiten. »Werden wir Rhythamun dann also finden? Werden wir vor ihm ankommen?« Dieses Wissen ist mir versagt. Calandryll spürte ein Zö gern in der Stimme des Gottes. Er hat den Cuan na'Dru nicht betreten, und das wird er auch nicht tun, denn selbst er kann nicht gegen meine Wächter bestehen oder ungefährdet in mein Reich eindringen. »Dann werden wir ihn bestimmt überholen.« Vielleicht. Ich hoffe es, in eurem und meinem eigenen Inte resse. »Er kann die Lager nicht mehr betreten und ist ge zwungen, seine Nahrung zu jagen, was ihn mit Sicherheit Zeit kosten wird. Die Männer, die ihn begleiten, werden bestimmt herausfinden, wer und was er ist, und sich von ihm abwenden.« Aye, denn sie sind nur fehlgeleitet worden. Aber auch, wenn sie sich gegen ihn wenden, er ist immer noch mächtig genug, um sie zu überwältigen. »Hat er sie ermordet? Ihnen die Pferde gestohlen?«
Das und wahrscheinlich noch mehr. Diesmal glaubte Calandryll, tiefes Bedauern aus der lautlosen Stimme herauszuhören, und eine grauenhafte Ahnung ließ seine Haut prickeln. »Was meinst Du da mit?« wollte er wissen. Daß jemand wie Rhythamun sämtliche Grenzen überschrei tet, ein Leben jenseits von Mitleid und menschlichen Gefühlen führt. Daß sechs Leben für ihn nicht mehr als sechs Schritte auf seinem verwerflichen Weg sind. Daß sich jemand wie er nicht nur ihrer Pferde bedient, sondern daß sechs Menschen für ihn auch eine Fleischquelle darstellen. »Er ist zum Kannibalen geworden?« fragte Calandryll leise und entsetzt über diese Vorstellung, nicht so sehr, weil der Schwarzmagier auf diese Weise schneller vo rankommen würde, sondern vor Abscheu über die Tat selbst. Ich sage nur, daß es möglich wäre. Ich kann es nicht mit Si cherheit wissen, aber ich weiß, daß Rhythamun eine so dunkle Existenz führt, wie es nur wenige Menschen wagen würden. »Dann müssen wir ihn abfangen, bevor er den Kess Imbrun erreicht, bevor er die Ebene von Jesseryn betreten kann.« Ich gebe euch jede Hilfe, die in meiner Macht steht, und meinen Segen dazu. Mehr kann ich nicht tun. Aber seid versi chert, daß wir Jüngeren Götter alle mit euch sind. Ahrds Stimme verklang raschelnd, als würde der Wind, der durch das Laub fuhr, einschlafen. Calandryll saß wie betäubt in seinem Sattel und überließ es dem
Braunen, den Weg hinter Katyas Grauschimmel zu fin den. Konnte selbst Rhythamun so tief sinken? Er wußte die Antwort schon, als er die Frage lautlos formulierte, und spuckte aus. Der bloße Gedanke an eine derart ruch lose Tat schien seinen Mund vergiftet zu haben. Bei allen Göttern, Rhythamun hatte wirklich den Tod verdient. Daß seine Gefährten den Gott ebenfalls gehört und ein ähnliches Gespräch geführt haben mußten, erkannte er, als Katya sich mit bleichem Gesicht zu ihm umwandte, die Augen voller Entsetzen geweitet. Vor ihr sah er Bracht wütend gestikulieren und hörte ihn einen Fluch ausstoßen. Ohne ein Wort zu wechseln, trieben sie ihre Pferde noch schneller an, preschten mit donnernden Hufen durch das Herz des Cuan na'Dru, ohne einen Gedanken an tückische Löcher im Boden oder Hinder nisse auf ihrem Weg zu verschwenden, völlig überzeugt davon, daß Ahrd ihre Mission mit seiner göttlichen Hilfe unterstützte und sie nicht zu Schaden kommen lassen würde, solange sie sich in seinem Reich aufhielten. Wie lange ihr Ritt dauerte, war unmöglich zu sagen, denn die Zeit hatte ihre Gültigkeit verloren, und der Gott verlieh ihnen eine unmögliche Geschwindigkeit, so daß sie mit Anbruch der Morgendämmerung bereits das Ende des Waldes vor sich sahen. Helle Sonnenstrahlen fielen durch Lücken im Laubdach des nördlichen Wald gürtels. Dort blieb ihr Führer stehen, winkte ihnen noch ein mal zu und verschmolz dann wieder mit dem Gehölz.
Die Gefährten setzten ihre Reise nach Norden ohne Rast fort; die Pferde waren ausgeruht und jagten bereitwillig weiter, als wären sie nicht die ganze Nacht lang galop piert. Nichts deutete darauf hin, daß sie mehr Meilen zurückgelegt hatten, als es in einer so kurzen Zeit mög lich war. Alle drei dankten Ahrd stumm für seine Hilfe, aber gleichzeitig wuchs in ihnen wieder die schreckliche Furcht, daß Rhythamun trotz all ihrer Anstrengungen noch vor ihnen den Kess Imbrun erreichen, den Daggan Vhe in die große Schlucht hinabreiten und sich in dem unbekannten Land verlieren könnte, das die Ebene von Jesseryn war.
KAPITEL 19 Cennaire betrachtete die beiden Männer mit einem rät selhaften Lächeln und in der Gewißheit, daß sie ihr Le ben in ihren schmalen Händen hielt. Auch wenn sie in den Gürteln die von den Kernern bevorzugten langen Dolche trugen, ihre Schwerter in Griffweite gelegt hatten und muskulös waren, war sie doch zuversichtlich, sie töten zu können, sollte das erforderlich werden. Viel leicht wäre das sogar die schnellste Methode gewesen, die Informationen zu erhalten, die sie suchte: den einen kampfunfähig zu machen und den anderen vor den Augen seines Bruders abzuschlachten, als Demonstration ihrer Macht. Aber trotzdem, ohne recht zu wissen, warum, zögerte sie. Vielleicht entwickelte sie ein Gewissen. Vielleicht lag es an der Loyalität, die sie in ihnen spürte und die so greifbar war wie der Geruch des Verlangens und der Neugier, den sie verströmten. Es hatte Cennaire keine Mühe gemacht, die beiden zu finden, denn noch immer machten die Geschichten von dem Scharmützel, das sie ausgetragen hatten, und dem Trick, den sie den Bracht feindlich gesonnenen Kernern gespielt hatten, die Runde in Gannshold. Auf irgendeine seltsame Art, die sie nicht
völlig verstand, waren diese beiden Brüder mit Bracht verwandt. Sie hießen Gart und Kythan ni Morrhyn, und Cennaire hatte sich mit ihrem verführerischen Lächeln und geheuchelten Versprechen bis zu dieser Gaststätte mit dem Namen Herberge zum Reiter, in der sie wohnten, durchgefragt. Zuerst waren sie mißtrauisch gewesen, aber sie hatte sie mit ihrem kurtisanenhaften Charme betört, und so hatte es nicht lange gedauert, bis sie mit ihrer Rolle bei der Flucht der Gesuchten geprahlt hatten. Es gab nur wenige Männer, die ihr hätten widerstehen können, wenn sie sie mit ihren riesigen braunen Augen ansah, gebannt jedem ihrer Worte lauschte und sich dabei weit genug vorbeugte, um ihnen einen Blick auf den Ansatz ihrer Brüste zu gewähren, und diese beiden hatten darin keine Ausnahme gebildet. Trotzdem verrieten ihr ihre übernatürlichen Sinne, daß die beiden irgend etwas ver schwiegen. Daß die drei, die sie suchte, nach Gannshold gekommen waren und die Festungsstadt wieder verlas sen hatten, hatte sie schnell genug erfahren, doch was ihr Ziel war, wurde ihr vorenthalten, und genau das war es, was ihr Herr und Gebieter von ihr erfahren wollte. Sie hatte überlegt, mit welcher Methode sie ihnen die ses Geheimnis am schnellsten entlocken könnte, und während sie mit ihnen zusammengesessen und ihre Fähigkeiten eingesetzt hatte, war sie zu dem Schluß ge kommen, daß brutale Gewalt bei diesen Männern nicht der richtige Schlüssel war. Hinter ihren Prahlereien und
ihrem Verlangen nach ihr hatte sie noch ein größeres Anliegen und die Gewißheit spüren können, daß sie eher sterben würden, als dieses Geheimnis zu verraten. Ihre Loyalität überwog ihr körperliches Verlangen, und ihr war ohne jeden Zweifel klar geworden, daß beide bis zum Tod kämpfen oder das Leben des Bruders opfern würden, bevor sie die Ehre beschmutzten, die den Kern ihres Daseins bestimmte. In dieser Beziehung waren sie ganz anders als Männer wie Darth, und zu ihrer Überra schung hatte sie das irgendwie berührt und Zweifel in ihr geweckt. Es war eine Art von Stolz, aber eine andere als die, die von Menelian ausgegangen war, eine Loyali tät und Standhaftigkeit, die sie nicht genau hätte be schreiben können, aber irgendwie tief in ihrem Innern spürte. Das hatte eine verborgene Saite in ihr angeschla gen und sie verunsichert. Es war ein Dilemma, denn sie mußte das, was die bei den wußten, in Erfahrung bringen, oder sie würde sich Anomius' Zorn zuziehen, und so hatte sie die Männer mit dem Versprechen verlassen, daß sie später am Tag wiederkommen würde, und sich ein wenig Zeit gegönnt, um ihre beunruhigenden Gedanken zu ordnen. Sie hatte eine Lösung gefunden, die zumindest eine Alternative zu ihrem Tod darstellte, und war in die Her berge und das Privatzimmer zurückgekehrt, das die Brüder für ihr Stelldichein besorgt hatten. Jetzt fragte sie sich, ob sie es damit versuchen oder lieber die direktere Methode anwenden sollte.
Die beiden Männer hatten gebadet und frische Klei dung angezogen, die nicht ganz so stark nach Pferden roch, und das gefiel ihr. Ebenso gefiel ihr, daß sie sie nicht wie irgendeine Dirne behandelten, die man kaufte und dann benutzte, sondern wie eine Frau von vorneh mer Herkunft. Natürlich auch eine, die sie begehrten, dieser besondere Geruch drang intensiv unter dem der Seife und der Öle hervor, mit denen sie sich eingerieben hatten. Und der Geruch von brennender Neugier und einer Wachsamkeit, wie er von einem Tier ausging, das noch nicht völlig zufrieden mit dem ersten Eindruck ist, den es von einem Fremden erhalten hat. Sie hofften – das war nur zu offensichtlich –, sie ins Bett zu bekommen, aber sie trauten ihr noch nicht so ganz. Würden sie he rausfinden, daß sie eine Wiedererweckte war, die die drei Abenteurer jagte, dann würden sie sich ihr – davon war sie überzeugt – mit allem widersetzen, was in ihren so zerbrechlichen menschlichen Körpern steckte. Die Vorstellung, daß die beiden mit ihr kämpfen und sterben würden, sobald sie sich ihnen offenbarte, belus tigte sie. Eine solche Macht zu besitzen, war berau schend, aber da war auch noch dieses andere, unge wohnte Gefühl. Respekt? Sie war sich nicht sicher, wußte nur, daß es ihr auf eine merkwürdige Art widerstrebte, ihnen das Leben zu nehmen, ein Zögern, das sie bei Me nelian und Darth nicht verspürt hatte, und das beunru higte sie. Ihre Entscheidung hatte sie unbewußt gefällt, aus ei
nem Instinkt und Gefühlen heraus, die sie selbst nicht verstand. Sie leerte eine Flasche Wein mit den Brüdern, stand dann auf und bat sie, sitzenzubleiben, während sie in der Rolle der Gastgeberin zum Tisch am Fenster ging, auf dem weitere Flaschen standen. Unbemerkt öffnete sie das kleine Röhrchen mit der Lösung, die sie gekauft hatte, und schüttete den Inhalt heimlich in den roten Wein, mit dem sich die farblose Flüssigkeit sofort vermischte. Sie kehrte mit der Flasche zurück, füllte die drei Becher und nahm einen großen Schluck. Das Mittel würde keine Wirkung auf sie haben, im Gegensatz zu den beiden Brüdern, die noch schneller als Cennaire tranken. Schon bald war die Flasche leer. Die beiden Kerner strahlten benommen und beobachteten sie aus glasigen und lüsternen Augen. »Ahrd, was ist das für ein starker Wein.« Garts Stim me klang undeutlich. »In meinem Kopf dreht sich alles.« Kythan kicherte und rekelte sich in seinem Stuhl. Er drohte beinahe damit umzukippen, als er sich zu seinem Bruder hinüberbeugte und ihn freundschaftlich in die Seite stieß. »Du willst doch bestimmt nicht diese Dame beleidigen«, nuschelte er und prostete Cennaire mit sei nem leeren Becher zu. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und sagte: »Erzählt mir von Bracht und seinen Begleitern. Wo wol len sie hin? Wieso unternehmen sie eine so lange und gefährliche Reise?«
Die Nacht war schon vorüber, als Cennaire die Läden vor den Fenstern ihres Zimmers schloß und trotz des Tages lichts draußen zwei Kerzen anzündete. Auch hier in den Bergen wurden die Tage mittlerweile warm. Nachdem sie überprüft hatte, daß die Tür verriegelt war, packte sie den verzauberten Spiegel aus, polierte die Oberfläche und betrachtete geistesabwesend ihr Abbild, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Noch war sie nicht bereit, die Worte auszusprechen, die ihr Gesicht auf dem Spiegel verschwinden und statt dessen Anomius' Antlitz erscheinen lassen würden. Erst mußte sie über das Un glaubliche nachdenken, das sie erfahren hatte, und über legen, was es für sie bedeutete. Als Kind hatte sie die uralten Legenden über die Göt terkriege gehört, die Geschichten, wie Tharn in seinem eifersüchtigen Stolz mit seinem Bruder gekämpft hatte, bis die Welt in Trümmern gelegen hatte, wie der Gott dem Wahnsinn verfallen war und seine Eltern und Schöpfer – Yl und Kyta – ihn zusammen mit seinem Bruder in ein Traumzwischenreich verbannt hatten, um die Jüngeren Götter ihren Platz einnehmen zu lassen. Wie das bei Kindern meistens der Fall ist, hatte Cennaire vergessen, daß in solchen Legenden oft ein Körnchen Wahrheit steckt. Als Erwachsene hatte sie nicht mehr über diese Dinge nachgedacht und sich mehr mit ihren eigenen Angelegenheiten als mit solchen theologischen Fragen und Mythen beschäftigt.
Nun schien das Körnchen Wahrheit in diesen alten Legenden aufzubrechen und wieder voll aufzublühen – wenn das, was sie von Gart und Kythan erfahren hatte, der Wahrheit entsprach. Einen Moment lang runzelte sie die Stirn, dann verschwanden die Falten wieder, und sie schürzte die Lippen. Sie hatte kaum einen Zweifel daran, wie Anomius auf diese verblüffenden Neuigkeiten rea gieren würde; er würde das Buch, das Arcanum, haben wollen. Welche Auswirkungen das jedoch auf sie haben würde, darüber konnte sie nur Vermutungen anstellen. Der häßliche kleine Hexer hielt ihr Herz unter Verschluß und hatte sie damit in seiner Gewalt, konnte ihr jederzeit mit dem Tod drohen. Sie zweifelte nicht daran, daß er ihr befehlen würde, Calandryll und seinen Gefährten zu folgen, ebensowenig, daß er immer noch nach Rache dürstete. Aber wenn sie ihm das Arcanum besorgte … was dann? Würde er, wie dieser andere Ma gier, versuchen, Tharn wiederzuerwecken? Wollte sie das? Es war ein seltsames Gefühl, über diese Dinge nach zudenken, es war, als läge das Schicksal der Welt in ihren Händen. Diese Welt kannte sie, die Welt aber, die Tharn nach seiner Wiederauferstehung daraus machen würde, würde mit Sicherheit ganz anders aussehen. Und war der Gott überhaupt fähig, Dankbarkeit gegenüber denjenigen zu empfinden, die ihn ins Leben zurückgebracht hatten? Sie lächelte schief und sagte sich, daß ein Priester diese Fragen wohl besser beantworten könnte als eine herzlose
Kurtisane, eine durch Schwarze Magie erschaffene Wie dererweckte. Allerdings würde ein Priester, ob er Burash, Dera oder dem Baumgott Ahrd diente, sie wahrschein lich auf der Stelle verdammen, auch wenn ihre Existenz Anomius' Werk war und sie gar keine andere Wahl hatte, als ihm zu gehorchen. Doch dann fragte sie sich, was sie die Welt scherte, und ihr Lächeln erlosch. Die Welt hatte sie schlecht ge nug behandelt, warum also sollte sie zögern, ihrem Herrn und Gebieter mitzuteilen, daß die Suche der von ihr Gejagten dem Arcanum galt? Aber trotzdem tat sie es, aus Gründen, die sie sich selbst nicht genau erklären konnte. Jetzt besaß sie das Wissen, aber was sollte sie damit tun? Noch hatte Anomius ihr Herz unter Verschluß, und auch wenn er zur Zeit mit der Armee des Tyrannen un terwegs war und nicht ohne die Erlaubnis der Hofhexer nach Nhurjabal zurückkehren konnte, würde es doch eines Tages geschehen. Und wenn sie ihm die Wahrheit vorenthielt, würde er ihr Leben garantiert ohne jedes Mitleid auslöschen. Aber wenn sie ihm alles berichtete, würde die Welt, die sie kannte, dann enden? Würde er immer noch Verwendung für sie haben, wenn sie ihm das Arcanum überbrachte, oder sie vernichten, weil sie überflüssig für ihn geworden war? Es war ein schier unlösbares Problem, eine Frage von Moral und Ethik, und auf diesem Gebiet kannte sie sich nicht aus. Für Cennaire bestand der Sinn des Lebens
ganz einfach darin, sich Vergnügen zu verschaffen und Leid zu vermeiden, und sollte der Verrückte Gott wie dererweckt werden, wußte sie nicht, was die Überhand gewinnen würde, das Vergnügen oder das Leid. Sie war sich nur in drei Punkten sicher: daß Anomius das Arcanum für sich würde haben wollen, daß er verrückt war, und daß es wahrscheinlich unmöglich sein würde, ihn zu täuschen. Und in einem vierten Punkt, dachte sie. Sie legte das Seiden tuch weg, mit dem sie das Glas poliert hatte, und starrte in den glänzenden Spiegel. Anomius hat mein Herz, und deshalb muß ich äußerst vorsichtig sein. Langsam intonierte sie die Worte, die er ihr beige bracht hatte. Der Spiegel verdunkelte sich, überzog sich mit wech selnden Farben, und süßlicher Mandelgeruch erfüllte die Luft. Die Farbwirbel schillerten wie Öl auf einer Wasser oberfläche und verfestigten sich dann zu dem bläßlichen Gesicht des Magiers, das von der warzigen Knollennase und den fragenden blassen Augen beherrscht wurde. Seine Stimme war nur ein Flüstern, und Cennaire beugte sich tief über den Spiegel, um ihn besser verstehen zu können. »Was hast du erfahren?« »Eine Menge«, erwiderte sie. »Die Dinge haben eine neue Wendung bekommen.« »Erzähl es mir.« Die Stimme klang gebieterisch, obwohl sie nur
schwach und rauschend zu vernehmen war. Cennaire zögerte einen kurzen Moment, ihre rosafarbene Zunge glitt über ihre vollen Lippen, dann sagte sie: »Die drei haben Gannshold verlassen und sind nach Cuan na'For aufgebrochen. Sie verfolgen noch immer Daven Tyras, aber er ist nicht Daven Tyras.« »Ich weiß. Er ist Varent den Tarl, oder er war es.« »Nein. Davor war er Rhythamun. Er ist uralt…« – fast hätte sie gesagt: ›Sogar noch älter als Ihr‹, doch im letzten Augenblick verschluckte sie die Worte und sagte statt dessen: »… jahrhundertealt, und das Zauberbrevier ist kein Zauberbrevier.« »Soll das ein Rätsel sein? Drück dich gefälligst klarer aus, Frau, sonst lernst du meinen Zorn kennen.« »Dieser Rhythamun ist in Varent den Tarls Körper ge schlüpft, um an eine Landkarte in den Archiven von Lysse zu gelangen. Er hat Calandryll und Bracht mit einem Trick nach Tezin-dar geschickt, um das Arcanum zu holen…« »Das Arcanum?« Die Überraschung verlieh der Stim me des Zauberers einen scharfen Unterton. Sein Gesicht näherte sich dem Spiegel, seine wäßrigen Augen waren geweitet und wurden gleich darauf schmal. »Willst du mir sagen, daß sie dem Arcanum hinterherjagen?« »Ihr kennt es?« »Selbstverständlich! Welcher Hexer hat noch nicht von diesem Buch gehört? Bei allen Göttern, das ist die ges taltgewordene Macht! Erzähl weiter.«
»Er, Rhythamun, hat es ihnen abgenommen und ist damit nach Lysse zurückgekehrt. Sie sind ihm gefolgt…« »Diese Vanuerin, ist sie bei ihnen?« »Katya, aye. Sie ist mit ihnen nach Cuan na'For gerit ten.« »Also findet dieses Rätsel seine Lösung.« Anomius' Spiegelbild nickte. Er rieb sich die Nase. »Zweifellos haben die Oberpriester Vanus bemerkt, was vor sich geht, und sie ausgesandt. Aber wieso nur diese drei? Und sie wollen nach Cuan na'For?« »Aye. Und Rhythamun im Körper von Daven Tyras hat einen großen Vorsprung vor ihnen.« »In dieser Gestalt fällt es ihm leichter, die Grassteppe zu durchqueren. Und sie reiten nach Norden?« »Das hat man mir jedenfalls gesagt.« »Wer hat dir das gesagt.« »Zwei Kerner aus Brachts Clan, Gart und Kythan.« »Woher haben sie das gewußt?« »Bracht hat ihre Hilfe gebraucht.« Cennaire berichtete alles, was die Brüder ihr erzählt hatten, von Jehenne ni Larrhyns Racheschwur und der Hilfe, die sie Bracht geleistet hatten. Als sie geendet hat te, grunzte Anomius und sagte: »Bist du dir sicher?« Sie nickte. »Ich habe ein Mittel benutzt, um ihre Zun gen zu lockern. Ein Mittel, das es ihnen unmöglich macht zu lügen. Sie werden sich hinterher an nichts erinnern können.«
»Du hast sie leben lassen?« Anomius klang überrascht. Cennaire nickte wieder. »Ich habe keinen Nutzen dar in gesehen, sie zu töten. Außerdem bin ich zusammen mit ihnen gesehen worden. Hätte man sie tot aufgefun den, wären vielleicht Fragen nach mir gestellt worden.« Anomius knurrte und zupfte eine Weile an den Haa ren, die in Büscheln aus seinen Nasenlöchern sprossen. Cennaire wartete. »Also, sie sind nach Cuan na'For gegangen, um diesen Rhythamun zu verfolgen, sagst du?« »Soviel habe ich gehört.« »Nach Norden«, murmelte Anomius nachdenklich. »Das Arcanum befindet sich in Rhythamuns Händen, und die drei sind ihm auf den Fersen. Zweifellos hat Rhythamun vor, den Verrückten Gott wiederzuerwecken und sich bei ihm einzuschmeicheln. Nun, das wird ihm nicht gelingen! Nein, das steht mir zu!« »Wie wollt Ihr an das Arcanum kommen?« fragte Cennaire. »Cuan na'For ist riesig.« »Cuan na'For ist nur ein Schritt des Weges.« Der Blick des Zauberers war in die Ferne gerichtet, während er nachdachte. »Aye, und auch die Ebene von Jesseryn. Wenn dieser Rhythamun versucht, Tharn wiederaufer stehen zu lassen, dann muß er einen Ort jenseits der Gegenden aufsuchen, die den Menschen bekannt sind. Ich wage die Vermutung, daß er zum Borrhun-maj und über die Berge hinaus will.«
»Aber der Borrhun-maj ist doch die Grenze der Welt.« »Was weiß denn ein Geschöpf des Schlafzimmers von solchen Dingen?« Anomius lachte zynisch und wischte ihren Einwand mit einer verächtlichen Handbewegung beiseite. »Die Grenze einer Welt ist nur der Beginn der nächsten. Aye, ich vermute, daß das sein Ziel ist und die drei ihm folgen.« »Wenn sie die Rache dieser Lykarderin überleben.« »Sie haben das Glück der Götter. Wie hätten sie mich sonst überlisten können? Ich bin überzeugt, daß sie es schaffen werden, aber jetzt weiß ich, worum es wirklich geht, und kann mein Blatt besser ausspielen.« »Wie wollt Ihr das tun?« erkundigte sich Cennaire schnell. »Kommt Ihr nach Lysse oder Cuan na'For, um die Jagd aufzunehmen?« Bei ihrer Frage verdunkelte sich das häßliche Gesicht des Zauberers. Er hob die Arme mit den stumpf glän zenden Armreifen um den Handgelenken und schüttelte sie. »Das kann ich nicht, solange ich diese verdammten Dinger trage.« »Wo seid Ihr jetzt?« fragte Cennaire, bevor er fortfah ren konnte. »Wir marschieren von Kesham-vaj aus nach Osten«, antwortete Anomius mürrisch. »Der Tyrann möchte zuerst die Küste zurückerobern, bevor wir die FayneFestung angreifen. Das soll unser letzter Feldzug werden, und bevor wir gegen die Festung marschieren, müssen wir Mherut'yi und die anderen Küstenstädte einneh
men.« Und deshalb kannst du nicht nach Nhurjabal zurückkehren, dachte Cennaire, wo mein Herz in deinem magischen Käst chen schlägt. Laut fragte sie: »Was soll ich dann tun?« »Folge ihnen«, sagte Anomius. »Nicht Rhythamun?« »Nein. Allmählich fange ich an, ein Muster in dieser Angelegenheit zu entdecken. Burash! Könnte ich nur die Bibliotheken von Nhurjabal aufsuchen…« Er zögerte und bohrte sich in der Nase. »Aber egal, ich schätze, daß es unseren drei Freunden vorherbestimmt ist, Rhythamun zu jagen, und daß sie deshalb die besten Aussichten haben, ihn zu finden.« Er schwieg eine Weile, blieb in seine Gedanken versunken. Cennaire glaubte, ihn noch nie so verunsi chert gesehen zu haben. Sie spürte, daß er seine Pläne umstellte, um sie den neuen Informationen anzupassen. Geduldig wartete sie darauf, daß er weitersprach. Schließlich nickte er, murmelte vor sich hin und sagte dann lauter an sie gewandt: »So muß es sein, das erklärt auch die Anwesenheit der Vanuerin. Aye, vermutlich haben sie die Aufgabe, Rhythamun das Buch abzujagen, und wenn das der Fall ist, dann haben sie wahrscheinlich die größeren Erfolgsaussichten. Zumindest was das Auf spüren Rhythamuns betrifft.« »Aber nicht, ihm das Buch abzunehmen?« fragte Cen naire. Anomius kicherte. Es war ein grauenhaftes, blubbern
des Geräusch. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Rhytha mun muß über mächtige Magie verfügen, wenn er so weit gekommen ist, und wenn sie ihm gegenübertreten, ist der Ausgang der Auseinandersetzung offen. Aber was auch passiert, es nützt unserer Sache.« »Wie das?« Anomius spuckte verächtlich aus. »Weil die drei jetzt wichtig für mich sind, du Trottel! Wenn ihre Aufgabe vorherbestimmt ist, dann würde ich einen größeren Preis verspielen, indem ich sie töten lasse. Ich möchte das Arcanum haben, und jetzt sieht es so aus, als würden sie mich zu ihm führen. Aye, sie sind zu meinen Verbünde ten in diesem Spiel geworden, wie Jagdhunde, die mir zeigen, wo das Wild versteckt ist.« »Aber sie werden Euch doch bestimmt nicht helfen, oder?« Anomius' Spiegelbild biß die gelben Zähne zusam men. »Bei allen Göttern!« fauchte er. »Bin ich denn nur von Idioten umgeben? Natürlich würden sie mir nicht helfen, wenn sie wüßten, was ich von ihnen will. Aber unwissentlich werden sie es eben doch tun.« Cennaire fühlte Verärgerung über seine Beleidigungen in sich aufsteigen, verbarg ihn aber durch die lange Ü bung in ihrem Gewerbe erfolgreich. Ihr Gesicht blieb unbewegt. »Hör mir zu«, verlangte Anomius. »Calandryll, Bracht und die Vanuerin scheinen irgendeinen Hinweis auf die Richtung zu haben, die Rhythamun eingeschlagen hat.
Wenn ich richtig vermute, sind sie ihm auf der Spur und haben bessere Aussichten als du, ihn zu finden. Wenn er die Ebene von Jesseryn erreicht, wird er wahrscheinlich eine andere Gestalt annehmen und dann um so schwerer aufzuspüren sein. Also ist es jetzt deine Aufgabe, dich den drei anzuschließen.« »Mich ihnen anzuschließen?« Cennaire konnte ihre Überraschung nicht verbergen. »Ich dachte, Ihr wolltet, daß sie sterben.« »Das wollte ich auch«, erwiderte der Hexer, »vor die sen Neuigkeiten. Irgendwann werde ich meine Rache vollziehen, aber vorläufig sind sie nützlich für mich. Nein, du wirst sie nicht umbringen, sondern ihnen statt dessen helfen. Finde sie und schließ dich ihnen an. Bleib bei ihnen, bis sie Rhythamun gefunden haben, und dann nimm das Buch an dich. Das hat Vorrang vor allem ande ren! Wenn du sie umbringen mußt, um an das Buch zu kommen, dann tu es. Aber das Buch ist die Hauptsache! Bring es mir, und ich werde unvorstellbare Macht besit zen. Wenn es sein muß, dann laß sie am Leben, solange du mir nur dieses Buch bringst!« Seine Aufregung war geradezu körperlich spürbar, so intensiv, daß Cennaire meinte, sie trotz der unzähligen Meilen, die zwischen ihnen lagen, durch den Spiegel riechen zu können. Sie sah, wie er sich Speichel von den fleischigen Lippen wischte und jetzt lächelte wie ein Geizkragen, der seine Schätze begutachtete, oder wie ein Ghul, der ein Grab betrachtete.
»Sie sind schon vor langer Zeit nach Cuan na'For auf gebrochen«, gab sie vorsichtig zu bedenken. »Wie soll ich sie finden? Wie soll ich sie einholen?« »Sie reiten nach Norden«, antwortete der Hexer, »über die Steppe. Wenn diese Lykarderin sich an Bracht rächen will, werden sie vorsichtig sein müssen, und das wird sie mit Sicherheit aufhalten. Ich werde dir ein Pferd besor gen, das schneller als der Wind ist. Und um sie zu fin den…« Er verstummte und nagte an seiner Unterlippe. Dann nickte er und kicherte vor sich hin. »Aye, sie ziehen nordwärts zur Ebene von Jesseryn, also müssen sie den Kess Imbrun überqueren. Diese Schlucht hat nur wenige Übergänge, also werden sie – genau wie Rhythamun – zum nächsten und einfachsten reiten, und das ist der, den die Kerner die Straße des Blutes nennen, den Daggan Veh. Dorthin wirst du gehen und, so die Götter wollen, vor ihnen dort sein.« Cennaire bezweifelte, daß die Götter bereit sein wür den, einen Plan zu unterstützen, der wahrscheinlich ihre Vernichtung zur Folge hätte, aber das behielt sie für sich. »Ich weiß so gut wie nichts über Cuan na'For«, sagte sie, »nur daß es dort weder Straßen noch Städte gibt. Wie soll ich diesen Daggan Veh finden, ohne Zeit zu verlieren und Leute zu befragen, die mir wahrscheinlich nicht freundlich gesonnen sein werden? Und wie soll ich die drei überreden, mich mitzunehmen?« »Sie zu finden, kannst du mir überlassen, sie zu über reden, überlasse ich dir. Burash, Frau, warst du nicht eine
Kurtisane?« Anomius machte eine ungeduldige Hand bewegung. »Hast du ein Pferd? Wenn nicht, dann besorg dir eins. Die Zeit steht jetzt gegen uns, und ich möchte sie nicht verschwenden. Hör mir gut zu! Nimm nur das mit, was du brauchst, nicht mehr, als in die Satteltaschen paßt, und zwar sofort. Reite über den Gannpaß nach Norden, und sobald dich niemand mehr beobachten kann, benutzt du noch einmal den Spiegel. Hast du ver standen?« »Ich habe verstanden«, bestätigte Cennaire und wollte noch etwas sagen, aber der Hexer bedeutete ihr mit einer Handbewegung, den Mund zu halten, und beendete die magische Verbindung mit einer abrupten Geste. Cennai re konnte nur zusehen, wie sein Abbild waberte. Wieder erfüllte Mandelduft die Luft, als sein Gesicht ver schwand, und dann war der Spiegel nur noch ein harm loser Gegenstand mit einer silbern schimmernden Ober fläche. Cennaire saß noch eine Weile in ihre Gedanken versunken da. Dann zuckte sie die Achseln und verstaute den Spiegel wieder in seiner Schutzhülle. Es schien ihr unmöglich, die Gesuchten jetzt noch einzuholen, aber Anomius hatte offenbar keinen Zweifel daran, Cennaire mit Hilfe seiner Zauberkräfte zu ihnen bringen zu kön nen. Sie fragte sich, wie er das bewerkstelligen wollte, während sie die Dinge zusammenpackte, die ihr für ihre Reise notwendig erschienen.
Die Sonne hatte ihren Zenith gerade überschritten, als Cennaire auf ihrem neuerworbenen Pferd durch die Stadttore Gannsholds ritt. Die Soldaten warfen ihr be wundernde Blicke zu, aber sie ignorierte sowohl ihre unzweideutigen Bemerkungen wie ihre Warnungen, daß sich eine einzelne Frau – besonders eine so hübsche – nicht ohne Begleitung nach Cuan na'For wagen sollte. Sie war froh, daß sie vor ihrem Aufbruch noch Reiseklei dung gekauft hatte – eine Reithose aus weichem, brau nem Leder und eine dazu passende Tunika –, denn so konnte sie breitbeinig auf dem Rotschimmelwallach reiten. Sie hatte, das Reiten als Kind auf einem Bauernhof gelernt, und sie bezweifelte, daß sie in der Lage gewesen wäre, eine längere Strecke im für Frauen üblichen Da mensitz zurückzulegen. Überhaupt blickte sie dem Ritt nicht gerade mit Begeisterung entgegen, denn auch wenn sie den meisten Unannehmlichkeiten gegenüber immun war, unter denen Menschen zu leiden hatten, in deren Brust ein lebendiges Herz schlug, empfand sie doch das ständige Schlagen des Sattels gegen ihr Hinterteil als störend, als sie den Wallach durch den Paß lenkte. Auf beiden Seiten stiegen glatte graue Felswände in die Höhe, an deren Rändern struppiges Gebüsch wuchs. Der schmale Streifen des Himmels über ihr war mit Zir ruswolken überzogen, vor denen die dunklen Silhouetten von Vögeln ihre Kreise zogen. Cennaire trieb den Rot schimmel zu einem langsamen Galopp an, ließ die nörd lichen Stadttore hinter sich zurück und folgte der flachen Straße, bis die Schlucht anzusteigen begann und Ganns
hold in der Ferne verschwunden war. Um diese Tages zeit waren kaum Reisende unterwegs, und sie ignorierte die wenigen, denen sie begegnete. Schon bald hatte sie einen schmalen Hohlweg erreicht, der um den Fuß eines kleineren Berggipfels herumführte. Dort ließ sie ihr Pferd, das in der Höhenluft zu keuchen begann, die letzte Meile bis zum Ende der Schlucht im Schritt gehen, ob wohl sie selbst keinerlei Schwierigkeiten verspürte. Die Straße verbreiterte sich wieder und mündete auf eine Bergwiese, um die ein rauschender Bach herumfloß. Sie erkannte den Ort aus Garts und Kythans Berichten, ent deckte hier und da stumme Zeugen des Kampfes im aufgewühlten Boden und zerbrochene Pfeile, die immer noch im Gras verstreut lagen. Dieser Ort, entschied sie, war so gut wie jeder andere, um anzuhalten und den Befehl ihres Gebieters zu befolgen. Sie dirigierte den Wallach zum Bach hinüber, band ihn an einer Lärche fest und holte den Spiegel aus einer der Satteltaschen. Einen Moment lang verharrte sie und lauschte. Ihre übernatürlich geschärften Sinne verrieten ihr, daß sie allein war, aber trotzdem ging sie vorsichts halber in den kleinen Hain hinein, bevor sie den Spiegel hervorzog und den Zauberspruch aufsagte. Mandelgeruch mischte sich mit dem harzigen Geruch der Lärchen, als sich der Spiegel mit Farbwirbeln über zog, die sich zu Anomius' abstoßendem Gesicht verfes tigten, das vor Ungeduld und Verärgerung verzerrt war. »Du hast dir eine Menge Zeit gelassen, Frau.« In der
Stille der Berge klang seine Stimme lauter als sonst. »Ich mußte ein Pferd kaufen und aus der Stadt reiten«, verteidigte sich Cennaire. »Wo bist du jetzt?« »Auf dem Paß, hoch oben auf einer Bergwiese.« »Bist du allein?« »Aye. Und soweit ich es hören kann, ist auch niemand in der näheren Umgebung.« »Gut. Halt den Spiegel hoch und dreh dich herum, damit ich alles sehen kann.« Cennaire stand auf und drehte sich langsam einmal im Kreis. Sie hatte nicht gewußt, daß Anomius mehr als ihr Gesicht durch den Spiegel sehen konnte, und speicherte die neue Erkenntnis wie all die anderen kleinen Informa tionen ab, die sie erhielt, um sie später vielleicht einmal benutzen zu können. »Das wird gehen«, klang die Stimme des Hexers auf. »Sieh jetzt mich an.« Cennaire hielt den Spiegel wieder vor ihr Gesicht. »Hast du irgendeine Klinge?« fragte Anomius. Sie nickte und berührte den Dolch, der in seiner Schei de in ihrem Gürtel steckte. »Ein Messer«, antwortete sie. »Zeig es mir.« Sie zog den Dolch und hielt ihn hoch. Anomius nickte. »Ich muß dir jetzt einen weiteren Zauberspruch beibringen«, sagte er. »Hör mir genau zu.«
Mit langsamer Stimme begann er, Silben aufzusagen, gutturale Wörter, die tief aus seiner mageren Brust her vordrangen, und während er sprach, wurde der Mandel geruch intensiver. Cennaire hörte ihm aufmerksam zu und wiederholte auf seine Aufforderung hin jedes Wort. Sie waren schwer auszusprechen, als entstammten sie einer Sprache, die nicht für menschliche Zungen gedacht war, und sie brauchte eine Weile, bis sie sie richtig be herrschte und Anomius sich zufrieden zeigte. Danach ließ er sie die einzelnen Sätze vollständig wiederholen, einen nach dem anderen, so oft, bis sie sie fließend her vorbrachte, auch wenn sie für sie nur ein bedeutungslo ses Gestammel blieben. »Das ist gut genug«, stellte er schließlich fest und ki cherte tückisch. »Wenn nicht, hast du einen langen Fuß marsch vor dir. Bring jetzt dein Pferd an eine Stelle, wo ich es sehen kann.« Cennaire verkeilte den Spiegel zwischen einem tief hängenden Ast und dem Stamm einer Lärche und holte den Wallach. Sie führte ihn direkt vor den Spiegel und wartete auf die nächsten Anweisungen ihres Gebieters. »Zieh dein Messer«, befahl er, und sie gehorchte. Der Wallach schnaubte und stampfte nervös, als spür te er, daß ihm irgend etwas bevorstand. »Halt ihn fest und sag den Zauberspruch auf«, fuhr Anomius fort. Cennaire begann, die Wörter zu rezitieren. Der Man delgeruch wurde noch stärker, bis er den harzigen Duft
der Bäume und den Schweißgeruch des Pferdes überla gerte. Anomius' Spiegelbild sprach gleichzeitig mit ihr; das Echo seiner Stimme schien dem Zauberspruch Kraft zu verleihen. Der Wallach hörte auf, ängstlich zu tänzeln, und ließ den Kopf sinken, als wären die fremdartigen Silben eine Art Schlafmittel. »Töte ihn«, sagte der Hexer. »Schneide ihm die Kehle durch und wiederhole dabei den Zauberspruch.« Sie hielt den Wallach am Halfter fest, stieß dem Tier das Messer tief in den Hals und intonierte erneut die Wörter, während sie ihm die Hauptarterie durchschnitt. Das Pferd erschauderte und stieß den Atem pfeifend durch die geblähten Nüstern aus. Cennaire zog das Mes ser zurück, und Blut spritzte in einem langen dicken Strahl aus der Wunde hervor, aber der Wallach blieb stehen und zitterte nur, während Cennaire den Zauber spruch vollendete. »Das hast du gut gemacht«, stellte Anomius fest. »Warte jetzt.« Cennaire bückte sich und wischte die Klinge am Gras ab. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie, daß der spru delnde Blutstrahl dünner wurde und in ein Tröpfeln überging. Das Pferd stieß einen Seufzer aus, sank zu Boden und rollte schwerfällig auf die Seite. Eine Zeitlang blieb es reglos liegen. Fliegen umschwirrten geschäftig die dunkelrote Blutpfütze und sammelten sich auf dem Hals des Tieres. Plötzlich erschauderte es wieder, seine Brust schwoll unter einem Atemzug, es öffnete die Au
gen und stand schwankend auf. Dort, wo das Messer in seinen Hals eingedrungen war, schien sich die Haut zu kräuseln und schloß sich über der Wunde, bis nur noch ein vertrocknender Blutfleck zu sehen war. Die Fliegen ließen vom Hals des Pferdes ab und stürzten sich auf die große Blutpfütze. »Jetzt hast du ein Transportmittel«, verkündete Ano mius. »Und zwar eins, das dich zum Daggan Veh brin gen wird. Reite los!« Cennaire zögerte einen Augenblick. »Was ist, wenn ich mich mit Euch in Verbindung setzen muß?« fragte sie. Im Spiegel legte sich Anomius' häßliches Gesicht in Falten. »Ruf mich nur, wenn du unbedingt mußt«, sagte er. »Es gibt in Cuan na'For Schamanen, die die Fähigkeit besitzen, eine solche Verbindung zu spüren, und denen solltest du nach Möglichkeit aus dem Weg gehen. Geh überhaupt allen Leuten aus dem Weg, und ruf mich nur in den dringendsten Fällen. Nimm erst wieder Verbin dung mit mir auf, wenn du den Daggan Veh erreicht hast und es sicher ist. Und laß die drei vor allen Dingen nicht wissen, daß ich dein Herr bin.« »Und wenn sie Rhythamun finden, während ich bei ihnen bin?« Eine kaum verhüllte Drohung schwang in seinen Wor ten mit. »Benutz deinen Verstand. Rhythamun könnte dich durchaus als Wiedererweckte erkennen. Aber wenn ich dieses Spiel richtig durchschaue, verfügen die drei
über die Mittel, um ihn zu besiegen. Laß sie es tun, und nimm ihnen dann das Arcanum ab.« »Glaubt Ihr, daß sie das zulassen?« Anomius' Spiegelbild verzog sich in einem böses La chen. »Das bezweifle ich«, kicherte er, »aber du wirst schon einen Weg finden. Wie, das überlasse ich deinem Verstand und deiner Listigkeit, aber besorg mir das Buch. Sag mir Bescheid, sobald du es hast. Und jetzt reite los!« Der Mandelgeruch verwehte, als er den magischen Kontakt abbrach, und im Spiegel waren nur noch die Lärchen, der blaue Himmel und Cennaires Gesicht zu sehen. Sie betrachtete sich einen Moment lang und strich ein paar Strähnen ihres rabenschwarzen Haars zurecht. Dann verstaute sie den Spiegel in seiner Schutzhülle und drehte sich zu ihrem Pferd um. Es stand fügsam da und peitschte träge mit dem Schwanz, wahrscheinlich mehr aus Gewohnheit, als um die lästigen Fliegen zu verscheuchen. Als sie in seine Augen blickte, sah sie, daß sie trübe und ohne jedes Le ben waren. Das schien eine Spezialität von Anomius zu sein; ihr Leben und das des Pferdes gehörten jetzt ihm, und sie fragte sich, ob ihm das eine mehr als das andere bedeutete. Er hat noch immer mein Herz, rief sie sich wie der ins Gedächtnis zurück, und solange es in seinem Besitz ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu gehorchen. Sie stieg in den Sattel und wendete den Wallach in Richtung des Passes.
Als sie ihm die Fersen in die Flanken stieß, erlebte sie eine Überraschung. Der Rotschimmel schnaubte und fiel übergangslos in einen Galopp, der sie fast aus dem Sattel warf. Sie ließ die Zügel los und klammerte sich am Sat telknauf fest, mehr damit beschäftigt, nicht den Halt zu verlieren, als das Tier in die richtige Richtung zu lenken, was anscheinend auch nicht erforderlich war. Es jagte über die Wiese, ignorierte einen kleineren Seitenpfad und blieb auf der größeren Straße, die durch einen tiefen Einschnitt in dem zentralen Gebirgskamm führte. Seine Hufe donnerten laut auf dem Felsboden, als würde es sich mit einer Geschwindigkeit, die kein normales Tier hätte beibehalten können, direkt in eine Schlacht stürzen. Aber es war ja auch kein normales Pferd mehr, und es raste ohne jedes Zögern den Paß entlang, so daß Cennai re die Zügel nach einer Weile um den Sattelknauf schlang und sich damit begnügte, beide Hände fest in das Leder zu verkrallen. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht und ließ ihr Haar wie eine Fahne flattern. Die Felswände huschten so schnell an ihr vorbei, daß sie vor ihren Augen ver schwammen, das Echo der trommelnden Hufe hallte hinter ihr von den Hängen wider. Schon bald wuchs ihre Zuversicht. Trotz seiner unnatürlichen Geschwindigkeit bewegte sich das Pferd so gleichmäßig, daß sie nicht länger fürchtete, aus dem Sattel zu stürzen. Anscheinend hatte Anomius' Hexerei dem Rotschimmel eine Ge wandtheit und Sicherheit verliehen, die seiner Schnellig keit und Ausdauer entsprachen, denn selbst als der Un
tergrund uneben wurde und mit Geröll und umgestürz ten Bäumen übersät war, hielt der Wallach das Tempo bei, jagte um die Hindernisse herum oder sprang über sie hinweg. Cennaire mußte sich nur am Sattel festhalten, was ihr durch ihre eigenen magisch gesteigerten Kräfte keine Probleme bereitete, und nach einer Weile begann sie, den rasenden Ritt zu genießen. Am späten Nachmittag, als die sinkende Sonne lange Schatten auf den Abstieg nach Cuan na'For warf, hatte sie die Hochlagen des Gannpasses hinter sich gebracht, und mit Einbruch der Abenddämmerung befand sie sich bereits im Vorgebirge. Gegen Mitternacht erreichte sie die Grassteppe, und noch immer galoppierte der wieder erweckte Wallach in halsbrecherischem Tempo dahin. Die Dunkelheit hielt ihn genausowenig auf, wie es der steile Abstieg oder die Hindernisse auf dem Weg getan hatten. Unermüdlich jagte er dahin, geleitet von irgendeinem unheimlichen Instinkt, mit dem Anomius' Zauber ihn versehen hatte, änderte die Richtung aus eigenem An trieb und schwenkte von Nord auf Nordwest um. Wilde Hunde kläfften aufgebracht, als er durch ihre Lager don nerte, und Wildpferde, urplötzlich aus dem Schlaf geris sen, wieherten erschreckt. Mehrmals sah Cennaire Lager feuer in der Ferne, und zweimal kam sie nahe genug heran, um im Schein der Flammen die Umrisse großer Lederzelte erkennen zu können, die auf Wagen errichtet
worden waren, und falls irgend jemand sie bemerkt hatte, war sie viel zu schnell wieder verschwunden, als daß die Bewohner der Lager ihre Pferde hätten besteigen können, um sie zu verfolgen. Die Meilen schmolzen dahin, die Tage vergingen, die Sonne zog ihre Bahn über den Himmel, wurde vom Mond abgelöst, Tage und Nächte wechselten sich ab, und die Zeit verlor ihre Bedeutung. Cennaire flog weiter über die Grassteppe, genauso unermüdlich wie ihr Pferd. Sie wußte nicht, wieviel Tage seit ihrem Aufbruch aus Gannshold vergangen waren, und es spielte auch keine Rolle; sie wußte nur, daß sie die endlosen Weiten Cuan na'Fors mit einer Geschwindigkeit durchmaß, die kein sterbliches Geschöpf je zu erreichen hoffen durfte, und daß kein Zweifel daran bestehen konnte, daß sie den Kess Imbrun vor Calandryll und seinen Gefährten errei chen würde, denn die drei waren normale Sterbliche und damit, im Gegensatz zu ihr, den Bedürfnissen eines jeden Menschen unterworfen, Bedürfnissen, die ihr Voran kommen verzögerten. Eines Tages, als sich gewaltige Kumuluswolken hoch im Himmel auftürmten, erblickte sie vor sich eine Barrie re, die breit und dunkel von Osten nach Westen verlief und sich weiter nach Norden erstreckte, als Cennaires Auge reichte, so weit, daß sie die ganze Welt auszufüllen schien. Sie war wie eine See, ein Ozean, der vom Wind aufgewühlt wurde. Der Wallach schwenkte weiter nach Westen, als wollte er diesem riesigen Schatten, der das
Herz der Grassteppe bedeckte, nicht zu nahe kommen. Cennaire machte keine Anstalten, den neuen Kurs zu korrigieren, denn jetzt erkannte sie, daß es sich um einen Ozean aus Bäumen handelte, und sie begriff, daß es der Cuan na'Dru war, der heilige Wald, die Heimat des Got tes Ahrd. Aus irgendeinem Grund wußte sie, daß das Betreten des Waldes ihren Tod bedeuten würde, welche Zauber Anomius auch wirken mochte, um ihr Leben zu bewahren. In diesem Augenblick keimte ein Anflug von Angst in ihr auf, und sie drehte sich im Sattel, um den unermeßlichen Wald zu betrachten. Sie konnte seine Nähe regelrecht fühlen, als lauerte dort eine Wesenheit, die sich aus den Abertausenden von Bäumen zusammen setzte, die dort wuchsen. Und tief in ihrem Inneren, in dem, was sie ihre Seele genannt hätte, hätte sie noch eine besessen, spürte sie, daß jeder einzelne dieser Bäume sich gegen sie und die Aufgabe, die ihr auferlegt worden war, wehren würde. Jetzt fiel ihr auch auf, daß ihr Pferd jedem Wald, der auf seinem Weg gelegen hatte, ausgewichen war, jedem kleinen Hain und sogar jedem Gebüsch. Bisher hatte sie angenommen, daß das zugunsten der Schnelligkeit ge schehen war, weil die Steppe ein leichteres Vorankom men bot und die Wälder, wie klein sie auch gewesen sein mochten, den Lauf des Wallachs unvermeidlich verlang samt hätten. Jetzt aber überlegte sie, daß der Gott wahr scheinlich in jedem Baum präsent war. Vermutlich hatte der Zauber, mit dem Anomius das Tier belegt hatte, darauf reagiert und es jedem Baum und damit Ahrds
Einflußbereich ausweichen lassen. Daraufhin beäugte sie den Wald noch wachsamer und überließ es dem Pferd, seinen Weg selbst zu wählen. Ahrd würde wenig für jemanden übrighaben, der damit beauftragt war, das Arcanum an sich zu bringen, und dieser Gedanke zog einen anderen nach sich, nämlich den, daß Ahrd und all die anderen Jüngeren Götter diejenigen mit Wohlwollen betrachten würden, die versuchten, diese Bedrohung ihrer Existenz zu beenden. Aye, dachte sie, während der Wald an ihr vorbei huschte und sich der Tag dem Abend näherte, bestimmt würden die Jüngeren Götter ihren Rettern einen Gefallen erweisen, und mit Sicherheit stand es in ihrer Macht, einem Wiedererweckten ein neues Herz zu schenken. Wer ihnen einen solchen Dienst leistete, dem würden sie auch frühere Verfehlungen vergeben. Aber noch besaß Anomius ihr Herz. Noch immer ruh te es verzaubert in dieser Schatulle in Nhurjabal, und auch wenn die Fesseln, die die Hexer des Tyrannen ihm angelegt hatten, es ihm verwehrten, den Palast zu errei chen, bevor der Krieg in Kandahar beendet war, würde er doch eines Tages dorthin zurückkehren. Und was dann? Dann würde er ihr Leben wieder in der Hand haben. Er war verrückt, er war ihr Herr und Meister, und er würde sie mit einem Wort auslöschen können. Aber vielleicht gab es hier eine Möglichkeit, etwas da gegen zu unternehmen, einen ersten Schritt in Richtung ihrer Rettung zu tun, sobald sich eine Gelegenheit dazu
ergab. Sie speicherte den Gedanken ab, als die Sonne unterging und sich die Dunkelheit über den Cuan na'Dru senkte. Eine weitere Nacht und ein weiterer Tag vergingen, und noch immer lag der riesige Wald zu ihrer Rechten, gewaltig und undurchdringlich, ein hölzerner Wall, der von der Sonne in unzählige Grüntöne getaucht wurde und vor dem ihr untotes Pferd einen respektvollen Ab stand bewahrte. Sie hatte den Eindruck, Ahrds Präsenz beinahe spüren zu können. Entlang des Waldrandes herrschte Stille, eine feierliche Ruhe. Cennaire wurde von einer wachsenden Nervosität ergriffen und fragte sich, ob der Gott sie vielleicht aus seinem Wald heraus beobach tete. Gegen Mittag wurde sie von einem seltsamen Anblick abgelenkt. Im Gras vor sich entdeckte sie die Spuren eines Lagers, wie es nicht ein großer Clan hinterlassen würde, sondern eher eine kleinere Reisegruppe. Das Gras war in einem großen Kreis niedergedrückt, und in der Mitte konnte sie die Überreste eines längst erloschenen Lagerfeuers erkennen. Das allein hätte nicht viel zu be deuten gehabt, aber als der Wallach sie näher herantrug, erblickte sie die Spuren eines Kampfes und Leichen, an denen sich wilde Hunde und Aasgeier zu schaffen ge macht hatten. An einer Stelle sah sie einen großen rostro ten Fleck im Gras, wo Blut getrocknet war, als wäre dort irgend etwas – oder irgend jemand – geschlachtet wor den. Sie entdeckte zwei Köpfe, die ein Stückchen von den
dazugehörigen Körpern entfernt lagen, und einen Torso, dem sämtliche Gliedmaßen fehlten. Die Amputationen erschienen ihr seltsam, denn sie wirkten zu präzise, als daß die Wildhunde sie mit ihren Zähnen hätten bewerk stelligen können. Vielleicht hatte hier ein Kampf stattge funden, überlegte Cennaire, und die Unterlegenen waren rituell verstümmelt worden. Sie verdrängte die Gedan ken, fühlte sich aber merkwürdig erleichtert, als der Schauplatz des Gemetzels hinter ihr zurückblieb. Der Wallach jagte weiter und wechselte nach Einbruch der Nacht erneut die Richtung. Im silbernen Mondschein konnte Cennaire sehen, daß sie den westlichen Rand des Cuan na'Dru erreicht hatten und sich der Wald jetzt nach Norden erstreckte. Wie weit er reichte, konnte sie nur vermuten, denn als die Sonne aufging, erschien er immer noch endlos, und trotz der übernatürlichen Geschwin digkeit ihres Pferdes hatte sie das Gefühl, bis in alle E wigkeit an den bedrohlich wirkenden Bäumen entlang galoppieren zu müssen. Es dauerte noch einen Tag und noch eine Nacht, und dann, kurz vor Einbruch der Morgendämmerung, be merkte sie, daß die Bäume weiter auseinandertraten. Die gewaltigen Eichen wurden spärlicher und machten Ho lunderbüschen, Ebereschen und Schlehdorndickichten Platz, die weit aus dem Wald herauswucherten, als woll ten sie der Prärie die Herrschaft über das Land streitig machen. Bei Sonnenaufgang sah Cennaire, daß der Cuan na'Dru endgültig hinter ihr lag und sich vor ihr wieder
das große Grasmeer ausbreitete, das im Wind schwankte und raschelte. Ihre Stimmung hob sich in dem Maß, in dem der Wald zu einem Schatten im Süden zusammen schrumpfte. Und doch bewahrte sie die Überlegungen, die sie während des Ritts um Ahrds Herrschaftsbereich angestellt hatte, in einem versteckten Winkel ganz tief in ihrem Innern sorgfältig auf. Die Sonne stand im Zenit, als Cennaire einen weiteren Schatten in der Landschaft vor sich auftauchen sah, eine gewundene schwarze Linie, als würde sich dort ein ge waltiger schwarzer Fluß durch die Prärie schlängeln. Zuerst war sie verwirrt und fragte sich, welches neue Hindernis da auf ihrem Weg lag und warum der Wallach keine Anstalten machte, die Richtung zu wechseln, son dern direkt darauf zugaloppierte. Doch im Laufe des Nachmittags begriff sie, daß sie den Kess Imbrun erreicht hatte. Was wie ein dunkler Fluß aussah, war eine riesige düstere Felsschlucht. Der Wallach bremste seinen Lauf erst wenige Schritte vor dem Rand der Schlucht ab, genauso unvermittelt, wie er seinen verzauberten Galopp begonnen hatte. Cennaire wurde nach vorn und fast aus dem Sattel geschleudert. Sie klammerte sich am Hals des Tieres fest und starrte aus geweiteten Augen in den Abgrund hinab. Auf einmal stieg ihr Verwesungsgestank in die Nase, und sie verzog das Gesicht. Im gleichen Moment fühlte sie das Pferd unter sich erzittern und richtete sich wieder im Sattel auf.
Der Gestank ging von dem Pferd aus. Sie glitt mit gerun zelter Stirn aus dem Sattel und sprang zurück, als das Tier die Lippen zurückzog und ein Klumpen gelblicher, sich windender Maden aus seinem Maul ins Gras fiel. Der Verwesungsgestank wurde stärker. Eilig schnallte Cennaire die Satteltaschen los und schleppte sie ein paar Schritte weiter, bevor sie stehenblieb und den Rotschim mel anstarrte. Jetzt, nachdem das Tier seinen Zweck erfüllt hatte, schien es nicht mehr durch Anomius' Zauberspruch geschützt zu werden. Es zerfiel vor ihren Augen. Sein Fell schrumpfte zusammen, spannte sich straff über den Knochen, die Augen verflüssigten sich und rannen in zähen Tränen über die eingefallenen Wangen. Die Wun de in seinem Hals platzte auf und ließ schwärzliches Fleisch sichtbar werden, aus dem weitere Maden hervor quollen. Dann knickten seine Beine ein, und der verwe sende Körper fiel zu einem unansehnlichen Haufen ins Gras. Knochen ragten aus dem aufplatzenden Fell her vor, der Gestank der verrottenden Innereien wurde bei nahe unerträglich. Einen kurzen Moment lang nahm Cennaire einen Hauch von Mandelduft in dem Gestank wahr, und dann war beides verschwunden, der Kadaver des Wallachs war vertrocknet, als läge er bereits seit Tagen dort. Cennaires Magen rebellierte. Sie wandte sich ab und sog die Luft in tiefen Zügen ein, bis ihre Nase wieder frei war. Dann sah sie sich um. Nach Süden, Osten und Wes
ten breitete sich die Grassteppe bis zum Horizont aus, die nördliche Grenze Cuan na'Fors. Im Norden erstreckte sich der Kess Imbrun, eine Barriere, genauso dramatisch und unüberschaubar wie der Cuan na'Dru. Cennaire näherte sich vorsichtig seinem Rand und ließ sich kurz vor der Abbruchkante auf Hände und Knie nieder. Sie hatte das Gefühl, als würde die Schlucht ihr etwas zuru fen. Es wirkte wie ein verführerischer Sirenengesang, der drohte, sie herabzuziehen, sie drängte, sich einfach in die Tiefe zu stürzen und sich fallen zu lassen. Cennaire legte sich flach in das Gras. Die gewaltigen Ausmaße des Ab grunds ließen sie schwindlig werden, als sie über die glatte Wand aus dunkelrotem Fels hinabspähte. Ganz tief unten auf dem Grund sah sie ein dünnes, glitzerndes blaues Band, das sie für einen Fluß hielt. Das andere Ende der Schlucht war nur undeutlich auszumachen, etliche Bogenschüsse entfernt, von Ausbuchtungen und Einkerbungen zerrissen, unendlich majestätischer als jedes von Menschenhand geschaffene Bauwerk. Ganz Nhurjabal würde in diesem Abgrund verschwinden können, dachte Cennaire, wie ein Spielzeughaus, daß ein Kind in einen Brunnen warf. Etwas östlich von ihrer Position erblickte sie einen Riß in der diesseitigen Fels kante, einen engen Spalt mit senkrechten Wänden, der steil in die Tiefe führte, sich dann verbreiterte und in einen breiten Felssims überging, der einen natürlichen Gesteinspfeiler überspannte. Dahinter entdeckte sie so etwas wie einen Pfad, der sich schwindelerregend steil abwärts wand. Der Daggan Veh, nahm sie an.
Vorsichtig schob sie sich rückwärts, und erst, als sie mehrere Schritte von der Kante des Abgrunds entfernt war, stand sie wieder auf und überdachte ihre Situation. Sie war allein und ohne Pferd. Essen und Trinken hat ten keine Bedeutung für ein Geschöpf ihrer Art, stellten für sie nicht mehr als beiläufige Annehmlichkeiten dar, auf die sie ebensogut verzichten konnte, aber sich zu Fuß fortbewegen zu müssen, bereitete ihr Sorgen. Hatten die Gesuchten diesen verlassenen Ort bereits erreicht? Und wenn ja, was sollte sie dann tun? Sie lief zu ihren Sattel taschen, kramte hastig darin herum, bis sie den Spiegel gefunden hatte, und sagte den Zauberspruch auf, mit dem sie Anomius rufen konnte. Der Mandelgeruch erin nerte sie wieder an das verwesende Pferd. Sie zog ein parfümiertes Taschentuch unter ihrer Tunika hervor, hielt es sich vor die Nase und zuckte zusammen, als die Stimme des Zauberers aufklang. »Hast du den Kess Imbrun erreicht?« »Aye, und das Pferd ist tot!« »Es war längst schon tot.« Der Hexer kicherte. »Es hat seinen Zweck erfüllt, obwohl seine Überreste immer noch hilfreich sein werden.« »Ich bin allein!« »Ah, aber nicht mehr sehr lange.« Anomius schien ihre Zwangslage überhaupt nicht zu stören, er wirkte ganz im Gegenteil höchst zufrieden. »Wenn meine Berechnungen richtig sind, dann sind die drei, die du suchst, noch nicht gekommen. Wenn sie dort eintreffen, werden sie dich
schon finden.« »Wie könnt Ihr Euch da sicher sein?« Cennaire sah sich um. Die leere Weite lastete wie ein körperliches Gewicht auf ihr. Anomius knurrte, ein kur zer Wutanfall ließ seine Knollennase beben. »Zweifelst du an mir?« »Nein.« Cennaire schüttelte nervös den Kopf. »Aber seid Ihr Euch wirklich sicher?« »Soweit es meine Zauberkräfte zulassen, aye. Hat das Pferd, das ich dir gegeben habe, die Steppe nicht schnel ler überquert, als es jedes lebendige Tier hätte tun kön nen? Hat es dich nicht zum Daggan Veh gebracht?« »Aye, wenn der Daggan Veh ein Pfad ist, der in die endlose Tiefe hinabführt. Aber es ist ein Pfad für Ziegen und Fliegen, nicht für Menschen.« »Und doch wird er von Menschen benutzt.« Anomius kam einem weiteren Einwand Cennaires mit einer schnellen Geste zuvor. »Hör zu, du brauchst nichts ande res zu tun, als zu warten. Sie werden kommen.« Cennaire musterte sein abstoßendes Gesicht. Ihre Zweifel mußten sich deutlich in ihren Zügen widerspie geln, denn er sagte: »Ich habe das alles mit Hilfe magi scher Methoden vorausgesehen, die du nicht verstehen könntest, und ich versichere dir, daß du sie überholt hast, wie groß ihr Vorsprung auch gewesen ist. Rhythamun wird den gleichen Weg genommen und die Ebene von Jesseryn wahrscheinlich bereits erreicht haben, aber die drei, die du suchst, werden noch kommen.«
»Also soll ich einfach warten?«
»Du tust das, was ich von dir verlange.«
Sein Tonfall war herrisch und duldete keinen Wider
spruch. Cennaire stellte überrascht fest, daß ihre Augen feucht waren. Sie betupfte sie mit ihrem Taschentuch und murmelte: »Dies ist eine sehr einsame Gegend.« Im Spiegel sah sie, wie Anomius schnaubte. »Entwi ckelst du jetzt Gefühle?« fragte er verächtlich. »Vergiß nicht, daß ich dein Herz besitze und du zu tun hast, was ich dir befehle.« Cennaire nickte, zerknüllte das Taschentuch in der Faust und sagte leise: »Aye.« »Gut. Also wirst du einfach warten, und wenn sie auf tauchen, werden sie eine arme unglückliche Frau vorfin den, deren Pferd gestorben ist und die ganz allein in der Wildnis festsitzt.« »Und was, soll ich ihnen erzählen, habe ich hier drau ßen gemacht? Sie werden mich kaum für eine Kernerin halten.« »Aye, das ist richtig, aber dazu habe ich mir auch schon etwas einfallen lassen«, erwiderte Anomius sorg los. »Es kommt vor, daß Handelskarawanen aus Lysse so weit nach Norden reisen, und diese Geschichte wirst du ihnen erzählen. Du wirst behaupten, daß du eine solche Expedition begleitet hast. Die nördlichen Clane hatten etwas dagegen, und es ist zu einem Kampf gekommen. Dir ist als einziger die Flucht gelungen, und du bist gerit ten, bis dein Pferd gestorben ist.«
»Und werden sie mir das glauben?« fragte Cennaire. »Warum sollten sie nicht?« fragte der Hexer zurück. »Du bist da, und die Überreste deines Pferdes ebenfalls. Wie hättest du sonst zu diesem Ort kommen sollen? Hab Vertrauen, Frau! Das sind ehrenhafte Leute, mit denen wir es zu tun haben. Sie werden Mitleid mit dir haben und versuchen, dir aus deiner Notlage herauszuhelfen.« Er sprach das Wort ›ehrenhaft‹ voller Verachtung aus. Cennaire nickte wieder und fragte: »Und was, wenn sie mich zurück nach Süden schicken?« »Dann werde ich mir eine andere List ausdenken müs sen«, erwiderte Anomius. »Aber ich glaube, daß sie ohne Begleitung reiten, und ihr Ehrgefühl wird von ihnen verlangen, dir zu helfen. Aye, ich denke, sie werden dich auf die Ebene von Jesseryn mitnehmen. Und auf dem Weg dorthin solltest du dich besser unentbehrlich für sie machen.« Er bedachte sie mit einem obszönen Blick und kicherte anzüglich. »Schließlich sind es zwei Männer und nur eine Frau. Wenn sie sich die Vanuerin nicht gerade teilen, wird einem von ihnen deine Begleitung bestimmt angenehm sein…« Er unterbrach sich, wandte den Blick ab, als hätte ihn irgend etwas abgelenkt, was Cennaire im Spiegel nicht sehen konnte, und sagte: »Aye, nur noch einen Augenblick.« Dann fuhr er, nun wieder an Cennai re gerichtet, fort: »Ich werde gerufen. Unser glorreicher Tyrann verlangt nach mir. Tu, was ich dir aufgetragen habe, und melde dich wieder, sobald du unbeobachtet mit mir sprechen kannst.«
Er brach die Verbindung mit einem Zauberspruch ab, und sein Antlitz verblaßte zusammen mit einem Hauch von Mandelduft. Cennaire seufzte und starrte ihr Spie gelbild an. Die Reise zu diesem Ort hatte ihre Spuren hinterlassen. Ihre Kleidung war staubig und ver schmutzt, ihr Haar zerzaust. Sie widerstand dem instink tiven Bedürfnis, sich ordentlich herzurichten, und be nutzte statt dessen ihr Taschentuch, um sich die letzten Reste Schminke aus dem Gesicht zu wischen. Wenn sie schon in die Rolle einer Reisenden schlüpfte, die über stürzt hatte fliehen müssen, dann sollte sie auch besser so aussehen. Danach wartete sie. Im Augenblick fiel ihr die Rolle der Gestrandeten nicht schwer, denn sie schien der einzi ge Mensch in dieser endlosen Weite zu sein, und sie verspürte von neuem die Leere auf sich lasten. Cennaire sah zu, wie die Sonne unterging, die Vögel durch den rotglühenden Himmel nach Süden flogen und ein blasser zunehmender Mond im Osten über den Horizont stieg, begleitet von funkelnden Sternen. Die Hitze des Tages ließ nach, der Wind war kühl und sanft und trug den Geruch von Staub und Steinen aus den dunklen Abgrün den des Kess Imbrun mit sich. In der Ferne klang leise das Heulen der Windhunde auf, und Cennaire wurde bewußt, daß nur wenige Lebewesen in die Nähe der großen Felsschlucht kamen, als stellten allein seine riesi gen Ausmaße und seine Leere eine unsichtbare Barriere dar. Um ihr Unbehagen ein wenig abzumildern, beschloß sie, etwas zu schlafen, rollte sich im tiefen Gras zusam
men und döste vor sich hin. Sie erwachte, als der Nachthimmel verblaßte, zuerst einen perlgrauen Farbton annahm, dann silbern schim merte und allmählich heller wurde. Ein goldenes Band erschien über dem östlichen Horizont, und dann, als würde ein Vorhang zur Seite gerissen, wurde der Him mel plötzlich blau, von hellen Strahlen der majestätisch aufgehenden Sonne durchzogen. Cennaire führte eine flüchtige Morgentoilette durch, indem sie mit den Hän den über das taufeuchte Gras strich und sich notdürftig das Gesicht wusch. Sie erhob sich, beobachtete ihre Um gebung und fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis ihre Jagdbeute auftauchte, verdrängte die Gedanken, was sie tun sollte, wenn die drei nicht kämen. Und dann hörte sie den dumpfen Klang von Pferdehufen. Noch war es ein fernes, leises Trommeln, aber ihre übernatürlich geschärften Sinne verrieten ihr, daß es sich ihr beständig näherte. Sie lauschte eine Weile und runzelte die Stirn, denn was sie da hörte, waren nicht drei Pferde, wie sie erwartet hatte, sondern nur eins. Sie entfernte sich vor sichtshalber ein Stückchen vom Zugang zum Daggan Veh und kauerte sich nieder, so daß sie vom hohen Gras verborgen wurde. Das Hufgetrappel kam noch näher, und jetzt konnte sie einen einsamen Reiter erkennen, dessen Pferd sich müde dahinschleppte, als wäre es bis zur Grenze seiner Ausdauer angetrieben worden. Dann kamen Pferd und Reiter voll in ihr Blickfeld, und Cennaire keuchte auf.
Sofort unterdrückte sie den Laut wieder und musterte das Gesicht des Mannes. Er hatte sandfarbenes Haar, eine etwas gekrümmte und breite Nase, die verriet, daß sie vor langer Zeit gebrochen worden war, und braune Au gen. Daven Tyras, dachte sie mit einer Mischung aus Ver wirrung und Erschrecken. Rhythamun! Was soll ich tun? In einem ersten Impuls hätte sie beinahe ihren Spiegel hervorgeholt, um Anomius um Rat zu fragen, doch dann sagte sie sich, der der Schwarzmagier die Kontaktauf nahme wahrscheinlich spüren und seine Kräfte gegen sie richten würde, und Anomius hatte angedeutet, über welche Macht Rhythamun verfügte – mehr als genug, um Cennaire auszulöschen. Also entschied sie sich zur Vor sicht, ließ sich noch tiefer in das Gras sinken und be schränkte sich darauf, ihn zu beobachten. Der Mann ritt bis dicht an den Abgrund heran, brachte das Pferd zum Stehen und glitt steifbeinig aus dem Sat tel, als hätte er einen langen und beschwerlichen Ritt hinter sich. Sein Pferd atmete in keuchenden Stößen und hielt den Kopf gesenkt. Das Fell glänzte vor Schweiß, seine Schultern zitterten; es war völlig erschöpft. Der Mann ließ die Zügel fallen und ging bis zum äußersten Rand der Abbruchkante. Cennaire sah zu, wie er die Arme hob und fremdartige Wörter rief, die die Morgen stille zerrissen. Sie beglückwünschte sich dazu, sich ver steckt zu haben, denn seine Stimme schien die Felswände in Schwingungen zu versetzen, hallte von ihnen wider,
erfüllte die Luft mit einer knisternden, unsichtbaren Macht und schwerem süßlichen Mandelduft. Die Stärke seiner Magie schien die Ränder der Schlucht schimmern zu lassen und selbst das Licht zu verzerren. Cennaire spürte ihre Kopfhaut prickeln, preßte sich flach auf den Boden und verlor den Mann für eine Weile aus den Au gen, während sie gegen ihre Angst ankämpfte. Diesem Mann, dachte sie – wußte sie! –, würde sie nicht gegenübertreten. Die okkulte Macht, die er be herrschte, war viel zu groß. Sie konnte sie in ihren Kno chen und ihrem Fleisch fühlen und verspürte die furcht bare Gewißheit, daß Anomius' Einschätzung richtig ge wesen war: Nur die drei, die sie suchte, besaßen den Schlüssel zu seiner Niederlage. Lautlos vor sich hin zit ternd, sah sie zu, wie er die Arme sinken ließ, und emp fand Dankbarkeit, als der wie ein Gewicht auf ihr lasten de Druck seiner Magie nachließ und wieder Stille ein kehrte. Rhythamun kehrte zu seinem erschöpften Pferd zu rück, kramte in den Satteltaschen herum und holte das Zubehör für ein Lagerfeuer hervor, eine Zunderdose und getrockneten Dung. Er schichtete den Mist auf und ent zündete ihn. Als er dann sein Essen zubereitete, mußte sich Cennaire trotz allem, was sie in ihrem Leben gese hen hatte, fest auf die Fingerknöchel der zur Faust geball ten Hand beißen, um den Würgreiz zu unterdrücken. Jetzt begriff sie, warum den Leichen, die sie gesehen hatte, die Gliedmaßen gefehlt hatten, als wären sie von
einem Schlachter zerlegt worden, denn genau das war mit ihnen geschehen. Sie sah, wie Rhythamun ein menschliches Körperteil so ungerührt briet, als wäre es eine Wildkeule oder das Rippenstück von einem Rind. Das süßliche, an Schwei nebraten erinnernde Aroma brutzelnden Menschen fleischs überlagerte den Grasgeruch, und Cennaire kämpfte mühsam gegen das Bedürfnis an, sich zu über geben. Was auch immer sie selbst getan hatte, dachte sie wild, was auch immer Anomius aus ihr gemacht hatte, es gab noch immer eine Stufe, auf die sie nie herabsinken würde – nicht herabsinken könnte! Ein furchtbares Ekel gefühl ergriff sie, und damit kam die Erkenntnis, daß es Grenzen gab, die kein Mensch überschreiten durfte, was auch immer sein Ziel sein mochte, Grenzen, die jenseits aller Vernunft und Entschuldbarkeit lagen. Sie schluckte die bittere Magenflüssigkeit hinunter, die in ihrer Kehle aufstieg, als sie sah, wie Rhythamun sein gräßliches Mahl beendete und einen blankgenagten Kno chen wegwarf. Er erhob sich, schlenderte zum Rand des Abgrunds und spähte hinab, als wartete er auf irgend jemanden. Was auch immer er gerufen hatte, es erschien nicht mehr an diesem Tag und auch nicht in der darauffolgen den Nacht, die Cennaire im Gras liegend verbrachte. Zum ersten Mal, seit Anomius sie zu dem gemacht hatte, was sie jetzt war, verspürte sie echte Angst. Was Rhythamun herbeigerufen hatte, erschien erst gegen
Mittag des nächsten entsetzlichen Tages. Durch den in der Hitze flirrenden Dunst, der über dem Rand des Kess Imbrun lag, entdeckte sie ein paar Reiter den Daggan Vhe heraufkommen. Es waren fünf Männer auf kleinen struppigen Pferden, die eine aus Baumwollstoff, Leder und Kettenpanzern bestehende Kleidung trugen. Kurze, stark gebogene Schwerter hin gen an ihren Hüften. Hinter jedem Sattel war ein Bogen in einer Ledertasche festgeschnallt und davor steckten Lanzen in ihren Halterungen. Die Waffen klapperten und rasselten, als die Reiter aus der Tiefe hervorstiegen und ihre Pferde zügelten. Ihre Köpfe hingen herab, ihre Au gen waren leer und blicklos. Cennaire registrierte, daß sie klein waren. Rhythamun bellte einen Befehl, woraufhin der für Magie so charakte ristische Mandelduft die Luft erfüllte, und als die Männer von ihren Pferden stiegen, bemerkte Cennaire ihre OBeine. Sie trugen konische Helme, vor denen mit Seh schlitzen versehene Kettentücher hingen. Unter den Helmen baumelten geölte Haarlöckchen hervor. Wie Schlafwandler hoben sie alle die schützenden Kettentü cher, und jetzt konnte Cennaire ihre Gesichter sehen, die breit und flach waren, mit hohen, steil zu den geschlitz ten Augen abfallenden Wangenknochen. Die Augen waren gelblich, so daß sie beinahe katzenhaft wirkten. Ihre Haut erinnerte an altes geöltes Leder. Sie war dunk ler als die der Kerner und wies tiefe, von den Augen und den Mundwinkeln ausgehende Falten auf, wodurch ihr
Alter unbestimmbar war. Drei von ihnen trugen dünne gewichste Schnurrbarte, die bogenförmig bis zum Kinn reichten, die beiden anderen hatten zusätzlich Kinnbärte – dünne, steife blauschwarze Dreiecke, die ihren Trägern trotz ihrer wackeligen und traumwandlerischen Haltung ein stolzes Aussehen verliehen. Cennaire beobachtete, wie Rhythamun jeden Mann sorgfältig inspizierte, so wie ein Mann ein Pferd untersu chen würde, das er zu kaufen beabsichtigte, indem er den Körperbau und die Muskeln des Tieres begutachtete und versuchte, daraus auf seine Ausdauer, Stärke und Schnelligkeit zu schließen. Dann hörte sie den Zauberer erneut sprechen. Wieder trug der warme Wind den Mandelgeruch zu ihr herüber, und wieder mußte sie einen überraschten Aufschrei unterdrücken, als die Krie ger plötzlich ihre Schwerter aus den Scheiden rissen und zu kämpfen begannen. Es war ein kurzes und blutiges Gemetzel, das nur ei ner überlebte. Die anderen lagen blutüberströmt im Gras. Auch der Überlebende hatte Hieb- und Schnittwunden davongetragen, allerdings keine ernsthaften Verletzun gen. Sein Schwert war vom Griff bis zur Klingenspitze mit trocknendem Blut überzogen, ebenso das Messer mit der breiten Klinge, das er zusätzlich benutzt hatte. Rhythamun stieß ein obszönes und anerkennendes La chen über den Sieg des Jesseryters aus, fuhr mit den Händen durch die Luft und intonierte gutturale Worte, worauf sich die Wunden des Mannes schlossen und der
Jesseryter die Getöteten ergriff und einen nach dem an deren in den Kess Imbrun warf. Ein weiterer Befehl, ein weiterer Schwall von Mandelduft, und die Pferde folgten den Männern, stürzten sich überschlagend in die Tiefe, bis sie außer Sicht verschwunden waren. Rhythamun winkte den überlebenden Jesseryter zu sich. Cennaire sah, wie der Schwarzmagier die Hände fest um die Schultern des Mannes schloß. Der Mandelduft wurde noch intensiver und löschte alle anderen Gerüche aus, als Rhythamun sprach. Jedes Wort schien die Luft brennen zu lassen. Zwischen seinem Mund und dem des Jesseryters entstand ein immer feuriger werdendes rotes Glühen, das seine Macht spürbar werden ließ, wie die Spannung eines sich zusammenbrauenden Gewitter sturms. Dann wurde das Gras in einem Umkreis um die beiden Männer herum von einem magischen Wind zu Boden gedrückt, und Cennaire duckte sich ängstlich tiefer. Sie hatte keinen Zweifel daran, daß dieser Zaube rer stärker als Anomius war. Wenn er ihre Anwesenheit spürte, würde sie den Tod erleiden … oder Schlimmeres. Trotzdem konnte sie den Blick nicht abwenden, und so sah sie den plötzlichen Ausbruch einer unbeschreibli chen Macht, die von Rhythamun in sein Opfer floß, als der geheimnisvolle Sprechgesang endete. Der Magier hatte seinen neuen Körper in Besitz genommen. Was einmal Daven Tyras gewesen war, fiel wie eine Marionette, deren Fäden durchtrennt worden waren, ins
Gras. Eine Weile stand der Jesseryter mit hängendem Kopf da, Speichel tropfte von seinen Lippen, seine gelben Augen waren leer. Dann hob er ruckartig den Kopf, und sein Blick wurde klar. Er lachte, und die Obszönität des Geräusches ließ Cennaire zusammenzucken. Rhythamun wischte sich den Speichel vom Mund, betrachtete ki chernd Daven Tyras' Leiche, bückte sich und zog ein kleines schwarzes Buch unter dessen Hemd hervor. Es war ein dünner Band, unscheinbar, wäre nicht das Ge fühl einer gewaltigen Macht von ihm ausgegangen, einer Aura, die Cennaires Haut prickeln ließ, so daß sie die Zähne zusammenbiß. Sie wußte mit absoluter Sicherheit, daß es das Arcanum war, und einen flüchtigen wilden Augenblick lang wollte sie aufspringen, vorstürmen und es dem Schwarzmagier aus der Hand reißen. Aber was dann? Er würde sie auslöschen, daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Vor seiner Magie würden weder Anomius noch ihre eigenen Kräfte als Wiedererweckte sie schützen können. Sie zwang sich zur Ruhe und sah zu, wie Rhythamun die Leiche zum Rand des Abgrunds schleifte und sie hinabwarf. Dann bestieg er das verblie bene Pferd und machte sich an den Abstieg in den Dag gan Veh. Cennaire blieb, wo sie war, bis auch das letzte Echo der klappernden Hufe in der bedrückenden Stille der gewaltigen Schlucht verklungen war, und dann wartete sie noch etwas länger, um nicht das Risiko einzugehen, zum Schluß doch noch entdeckt zu werden. Sie war ü berzeugt, daß Rhythamun auch noch aus den Tiefen der
Schlucht heraus würde zuschlagen können. Irgendwann kroch sie langsam und vorsichtig zur Abbruchkante und spähte hinab. Ganz tief unter sich entdeckte sie einen spielzeuggroßen Reiter, eine dunkle Silhouette vor der sonnenüberfluteten Felswand, die wie eine Spinne in die Tiefe kroch. Sie blieb auf ihrem Beobachtungsposten, bis der Mann und das Pferd zu einem verschwommenen Fleck zusammengeschrumpft waren und dann in den Schatten der überhängenden Klippen verschwanden. Langsam und nicht mehr so verängstigt, aber immer noch verunsichert, zog sie sich vom Rand der Schlucht zurück, setzte sich ins Gras und überdachte alles, was sie gesehen und erfahren hatte. Sie war der einzige Mensch auf der Welt, der Rhytha muns neues Aussehen kannte. Cennaire warf einen kur zen Blick auf die Satteltasche, in der der verzauberte Spiegel steckte. Sollte sie Kontakt mit Anomius aufnehmen und ihm erzählen, was sie wußte? Was würde er ihr dann befeh len? Rhythamun zu verfolgen? Das war ein Gedanke, der ihr überhaupt nicht behag te. Und außerdem, überlegte sie, hatte ihr Anomius nicht selbst gesagt, daß nur die drei Abenteurer den Schlüssel zur Niederlage des Gestaltwandlers besaßen? Mehr noch! Ihre Gedanken begannen sich zu über stürzen. War dieses Wissen nicht etwas, das sie zu ihrem
eigenen Vorteil einsetzen konnte? Sie allein kannte Rhythamuns Gesicht als Jesseryter, und das mußte ihr helfen, sich mit seinen drei Verfolgern zu arrangieren. Schließlich hatte Anomius ihr ja befohlen, sich ihnen anzuschließen. Und da gab es noch einen weiteren Punkt. Wenn sie über Zauberkräfte verfügten, mit denen Rhythamun besiegt werden konnte, war es dann nicht möglich, daß sie auch die Mittel besaßen, ihr Herz zu befreien, Ano mius' Macht über sie zu brechen? Als Gegenleistung für das, was sie ihnen jetzt anbieten konnte, würden sie ihr bestimmt helfen. Sie nickte vor sich hin, starrte ohne zu blinzeln in die hoch am Himmel stehende Sonne und traf ihre Entschei dung: Sie würde den Spiegel in der Satteltasche lassen und ihren Gebieter nicht benachrichtigen, sondern versu chen, ihr Wissen zu ihrem eigenen Vorteil einzusetzen, indem sie es nur den Abenteurern mitteilte, dabei aber ganz vorsichtig blieb. Sie würde ihre Rolle beibehalten und versuchen, die Ereignisse so zu steuern, daß sie zu ihren Gunsten ausschlugen. Cennaire machte es sich bequem. Sie war zufrieden mit ihrem Entschluß und wartete. Als sie die drei Reiter näher kommen sah, verspürte sie aufrichtige Dankbarkeit, daß man sie gefunden hatte, als wäre sie wirklich im Niemandsland gestrandet. Sie beobachtete sie, verborgen im hohen Gras, bis sie sicher
war, daß es sich nicht um Clankrieger handelte. Dann stand sie auf, winkte und rief. Die drei kamen im langsamen Galopp auf sie zu. Eine schöne Frau mit flachsblondem Haar, das im Wind flat terte und in der Morgensonne glänzte. Sie ritt einen Schimmel. Ein dunkelhäutiger Kerner auf einem schwar zen Hengst. Er hatte das schwarze Haar zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein harter Aus druck erschien in seinen blauen Augen, als er sie ent deckte. Ein jüngerer Mann, dunkel gebräunt, doch seinen Gesichtszügen und dem sonnengebleichten Haarschopf nach zu schließen, den er wie ein Kerner trug, ein Lyssi aner, der sie verblüfft betrachtete. Cennaire rannte ihnen entgegen. Die drei Reiter zügel ten ihre Pferde, musterten neugierig die fremde Frau, legten die Hände leicht auf die Griffe ihrer Schwerter und blickten sich wachsam nach allen Seiten um, als rechneten sie mit einem Trick, mit einem Hinterhalt. »Gelobt seien alle Götter, daß Ihr gekommen seid!« rief sie. »Ich heiße Cennaire!«
ENDE DES ZWEITEN BUCHES