ROTE Schlange - DIE DEUTSCHE AUSGABE erscheint monatlich bei Deutscher Kleinbuch-Verlag GmbH., Hamburg 1, Schopenstehl ...
18 downloads
616 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ROTE Schlange - DIE DEUTSCHE AUSGABE erscheint monatlich bei Deutscher Kleinbuch-Verlag GmbH., Hamburg 1, Schopenstehl 15. Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1951 für Deutschland und die Schweiz by Deutscher Kleinbuch-Verlag GmbH., Hamburg 1, Schopenstehl 15. — Satz und Druck: Union-Druckerei und Verlagsanstalt GmbH, Frankfurt a. M., Bockenheimer Landstraße 136. Die Serie darf nicht in Leihbüchereien verliehen, nicht in Lesezirkeln geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden.
1. Kapitel DER UMSCHLAG MIT DEN WERTPAPIEREN — Würden Sie die Güte haben, Sealwood, in mein Büro zu kommen, ehe Sie nach Hause gehen? — Einer der Männer, der in einer Gruppe mit anderen zusammenstand, trennte sich von seinen Kollegen und antwortete: — Sehr gern. — 5
Er folgte seinem Gastgeber und trat in eines der Zimmer ein, das auf die große Halle führte und als Büro eingerichtet war. Sealwood wartete schweigend. Der andere blieb stehen und sagte: — Ich habe heute morgen Wertpapiere bekommen, die ich nicht länger als unbedingt nötig in meinem Hause aufbewahren möchte. Morgen werde ich nicht zur Bank gehen. Ich werde sie Ihnen übergeben und möchte Sie bitten, die Wertpapiere in die Stahlkammer zu legen. — — Sehr gern, Herr Brighton. — Der Gastgeber trat an den Geldschrank, der sich am anderen Ende des Zimmers befand, öffnete ihn und nahm einen langen Umschlag heraus. Er übergab ihn Sealwood und sagte dabei: — Hier sind die Wertpapiere, und wenn ihr Volumen auch nicht sehr groß ist, so ist doch der Wert viel höher, als sie es sich überhaupt vorstellen können. — — Haben Sie keine Sorge, Herr Brighton, sobald ich morgen in die Bank komme, werde ich sie in die Stahlkammer legen. Wünschen Sie sonst noch etwas? — — Nein, danke Sealwood. Sie können gehen, wann es Ihnen beliebt. Gute Nacht! — — Gute Nacht, Herr Brighton. — Sealwood trat wieder in die Halle hinaus. Alle Eingeladenen waren bereits gegangen bis auf zwei, die sich gerade dazu anschickten. Einer von ihnen drehte sich um, als er die Tür des Büros gehen hörte. 6
— Hallo, Sealwood —, sagte er, — wohin soll ich Sie bringen? Ich habe meinen Wagen vor der Tür. — — Ich danke Ihnen bestens für Ihr Anerbieten, Leslie —, antwortete er, — aber ich möchte es nicht annehmen. Es ist eine herrliche Nacht, und ich ziehe es vor, zu Fuß zu gehen, um die Kühle zu genießen und die Beine ein wenig zu bewegen. — — Jeder nach seinem Geschmack, aber wenn Sie nun einmal die Laune haben … — Er wandte sich an den dritten. — Und Sie, Brand? Wollen Sie, daß ich Sie irgendwo hinbringe? — — Ich antworte Ihnen genau so wie Sealwood, Freund Leslie. Ich teile seine absonderliche Laune. Nach welcher Richtung gehen Sie, Sealwood? — — Nach der North-Avenue. Gehen Sie auch in der Richtung? — — Ein Stück, ja. Wenn Sie wollen, begleite ich Sie — Sealwood nickte mit dem Kopf. — Wir werden uns gegenseitig Gesellschaft leisten —, sagte er. Sie traten aus dem Hause. Die Nacht war wirklich sehr angenehm. Sealwood hatte gut gegessen und noch besser getrunken, nicht übermäßig, aber immerhin doch genügend, um sich in beschwingter, mit der ganzen Welt harmonischer Stimmung zu befinden. Die beiden Männer sprachen fast den ganzen Weg sehr lebhaft miteinander. Brand schien in der Finanzwelt sehr bekannt zu sein. Sealwood war Kas7
sierer einer großen Bank und fand die Unterhaltung sehr angenehm. Als sie um eine Ecke bogen, tanzte ein buntes Leuchtschild vor ihren Augen. — Colletti! — sagte Brand, — sind Sie niemals dort gewesen? — Sealwood schüttelte verneinend den Kopf. — Ein sehr angenehmer Ort —, meinte Brand, — gutes Essen, gute Getränke und ein ausgezeichneter Kundendienst. Aber das Beste an allem ist meiner Meinung nach der künstlerische Teil. Dieses Restaurant bietet seinen Gästen die besten artistischen Nummern des Kontinents. Augenblicklich tritt unter anderen auch ein klassisches Tanzpaar auf, das in Europa große Erfolge hatte und sie jetzt auch in Nordamerika hat. Wollen wir hineingehen? — — Es ist schon etwas spät —, meinte Sealwood, — meine Frau… — — Ihre Frau weiß, daß Sie im Hause Ihres Chefs zum Essen eingeladen sind und hat keine Ahnung, wann Sie zurückkommen werden. Sie wird sich zu Bett gelegt haben und Sie nicht erwarten. — Sealwood wußte, daß der andere damit recht hatte. Dennoch zögerte er. — Es ist die beste Stunde, um dorthin zu gehen —, meinte Brand, als er sah, wie der andere schwankte. — Jetzt wird es bei Colletti erst gemütlich. — Sealwood gab nach. — Schön, gehen wir hinein —, sagte er, — aber nur für ein Weilchen. Ich muß morgen früh aufstehen. — 8
Sie ließen ihre Hüte in der Kleiderablage. Im großen Saal herrschte Hochbetrieb, wie es Brand vorhergesagt hatte. Der Maitre d'hotel kam ihnen sofort entgegen und geleitete sie an einen freien Tisch in der Nähe der Tanzfläche, die die Mitte des Saales einnahm. Brand bestellte bei dem sich nähernden Kellner eine Flasche Champagner. Sealwood hatte nichts dagegen. Sie hatten sich gerade die Gläser vollgeschenkt, als die Lichter erloschen und nur einige Scheinwerfer die Tanzfläche erleuchteten. Eine Sängerin sang einen bekannten Schlager und erntete großen Applaus. Dann kamen das klassische Tanzpaar in seiner ersten Nummer und nach Zwischenpausen die anderen Künstler mit ihren ausgezeichneten Darbietungen. Das Tanzpaar tanzte dann wieder zwei Nummern, und nun kam eine längere Pause. Der Champagner tat nach den reichlichen Getränken beim Abendessen seine Wirkung. Sealwood und Brand befanden sich in allerbester Stimmung, besser gesagt: in dem Zustand, in dem man noch nicht die Herrschaft über sich verloren hat, sondern alles rosenrot und freudig sieht, an einem Punkt, wo aber zwei Gläser mehr zur vollständigen Betrunkenheit führen, Sie waren nicht allein. Zwei Künstlerinnen hatten ihre Einladung angenommen und saßen mit ihnen am Tisch. — Ihr könnt uns in den Spielsaal begleiten —, sagte plötzlich eine von ihnen. — Ich fühle mich heute in Form und glaube, daß ich die Bank sprengen werde. — Sealwood schaute sie mit offenem Munde an. 9
— Die Bank? — fragte er. Brand lachte. — Sie spricht vom Roulette —, erklärte er. — Es gibt oben einen sehr schönen Spielsaal, — — Ich dachte —, sagte Sealwood, — daß Glücksspiel verboten ist. — — Es ist auch tatsächlich verboten, aber was hat das in diesem Falle zu sagen? — — Aber wie kann man denn dann hier spielen? — — Genau so wie in anderen Lokalen dieser Art auch: heimlich. — — Das heißt also, daß diese Damen ein großes Risiko auf sich genommen haben und nicht sehr klug waren, uns davon zu sprechen, denn sie kennen uns doch gar nicht. — — Sie kennen mich —, versicherte Brand, — und nehmen an, daß Sie als mein Begleiter Vertrauen verdienen. In Wirklichkeit ist das Spiel hier ein öffentliches Geheimnis. Alle Welt weiß, daß hier gespielt wird, sogar die Polizei … Aber es genügt nicht, es zu wissen, man muß es auch beweisen. Und das ist schwieriger als man glaubt. — — Ich kann mir das nicht denken. — — Nein? Hören Sie Sealwood, der Spielsaal befindet sich im ersten Stock. Versuchen Sie, allein hinauszugehen und ihn zu finden. Ich wette mit Ihnen, daß Sie es nicht fertigbringen. Alle Vorsichtsmaßregeln dafür sind getroffen, mein Freund. Wollen Sie sich davon überzeugen? — — Ich habe nicht die geringste Absicht —, versicherte der andere überstürzt, — ich war nie in einer 10
Spielbank und habe auch kein Verlangen danach, eine zu besuchen. — — Warum? — fragte eines der Mädchen, — es ist doch sehr amüsant. — — Mein Freund —, mischte sich Brand ein, — hat seine schwerwiegenden Gründe, so zu sprechen. Ich bin der erste, der anerkennt, daß er solche Orte nicht besuchen darf. Aber —, fügte er hinzu und wandte sich an Sealwood, — in diesem Falle ist es anders. Es handelt sich nur darum, sich einmal einen Spielsaal anzusehen. Es ist nicht notwendig, daß Sie spielen… es sei denn, daß Sie zwei oder drei Dollar verlieren wollen, um es einmal praktisch probiert zu haben. Sie können zusehen wie die anderen spielen und … verlieren. — — Eine schöne Art, jemanden zu animieren —, rief eines der Mädchen aus. — Ich versuche gar nicht, ihn zu animieren, im Gegenteil, ich möchte ihm raten, nie zu probieren, die Bank sprengen zu wollen. Er wird Leute sehen, die gewinnen … für den Augenblick. Aber wenn er lange genug wartet, wird er sehen, wie der Gewinn und noch mehr sich wieder verflüchtet. Die Bank verliert nie und bekommt zum Schluß immer alles Geld der Spieler. Deshalb ist das ein ausgezeichnetes Geschäft… und es lohnt sich, das Geld mit vollen Händen auszugeben, um denen den Mund zu stopfen, die ihre Zunge nicht im Zaum halten können. — — Ich gebe Ihnen recht —, sagte Sealwood, — und es muß ganz interessant sein, einmal zuzuschauen. 11
Wenn für mich nicht das Risiko bestände, dort einen Kunden zu treffen… — — Das Risiko ist so klein, daß man es überhaupt nicht in Betracht zu ziehen braucht. Es wäre ein wirklich ganz unwahrscheinlicher Zufall. Und auch wenn es geschehen würde, so sehe ich nicht ein, was es Ihnen schaden kann. Sie schauen ja nur zu, Sie spielen ja nicht. Die Neugierde ist ja in diesem Falle noch kein Verbrechen. — — Neugierde —, entgegnete Sealwood, — ist oft das größte Unglück der Menschen. — Er war aber schon zu animiert, und die Neugierde hatte ihn so gepackt, daß er kein klares Urteil mehr besaß. Deshalb sagte er: — Ich werde das Risiko auf mich nehmen, und Gott möge geben, daß es mir nicht zum Unheil gereicht. — Sie riefen den Kellner und verlangten die Rechnung. Dann standen sie auf und schritten, von den Mädchen begleitet, zur Treppe, die zum Oberstock führte. Ein Mann, der an einem nahen Tische saß und ein Gast zu sein schien, grüßte Brand mit einem leichten Kopfnicken. — Die erste Schranke —, sagte jener, — haben wir bereits passiert. Der Mann hat unter dem Tisch einen Klingelknopf. Hätte er mich nicht gekannt, würde er darauf getreten und damit ein entsprechendes Zeichen nach oben gegeben haben. — Sie stiegen langsam die Treppe empor. Auf dem Gang oben grüßte ein Mann Brand und sah Sealwood forschend ins Gesicht. 12
— Die zweite Kontrolle —, sagte Brand. Sie kamen jetzt in eine Art Halle, in der verschiedene Stühle und ein Tisch mit Zeitschriften standen. Über der Tür, die auf einen breiten Korridor führte, las man: RESERVIERTE ZIMMER! Brand öffnete eine Tür, die zu einem dieser Zimmer führte, und machte seinen Begleitern ein Zeichen, ihm zu folgen. Es war ein kleiner Raum mit einem Tisch, einem Sofa und mehreren Sesseln und Stühlen. Der Tisch war mit einer Decke bedeckt, und in der Mitte stand eine Blumenvase, In einer der Wände gab es eine kleine Tür, die hinter dichten Vorhängen verborgen war. Durch sie hindurch gelangten sie in einen Ankleideraum mit einem hübschen Toilettentisch und einem großen Spiegel. In einer Ecke stand ein großer Kleiderschrank. Brand öffnete ihn und klopfte an die Wand. Die rhythmischen Schläge zeigten an, daß es sich um ein Signal handelte. In der Wand öffnete sich ein kleiner Ausschnitt, durch den ihnen helles Licht ins Gesicht fiel. Irgend jemand beobachtete sie. Die Prüfung mußte zufriedenstellend ausgefallen sein, denn gleich darauf öffnete sich die Wand weit und die vier traten in eine Halle. Derjenige, der geöffnet hatte, fragte Brand: — Kommt der Herr mit Ihnen? — Der Angeredete nickte bejahend und fügte hinzu: — Ich garantiere für ihn, er ist absolut vertrauenswürdig. — 13
Sie gingen durch einen anderen Gang, in dem sich verschiedene Türen befanden. Über der ersten stand ein Schild, das anzeigte, daß sich hier die Direktion befand. Sie öffneten die zweite Tür und traten ein. Jetzt befanden sie sich in einem geräumigen Saal, in dem in diesem Augenblick etwa dreißig bis vierzig Personen um zwei Tische standen oder saßen. Der eine Tisch war für Roulette, der andere für Trente et Quarante bestimmt. Niemand schien sich um die neuen Gäste zu kümmern. Der Saal war taghell erleuchtet. Man hörte das Klappern der Spielmarken, Unterhaltungsmurmeln und dazwischen die Stimme des Croupiers: — Faites votre jeu! — Brand führte Sealwood an einen Ort im Raum, wo er, seiner Meinung nach, den besten Überblick hatte. — Rien ne vas plus —, sagte der Croupier. Mit einer schnellen Fingerbewegung warf er die weiße Kugel ins Roulette. Deutlich hörte man das Klappern der tanzenden Kugel, die jetzt in eine Nummer fiel. — Neun, rot, ungerade! — sagte der Croupier an. Die Rechen begannen die verlorenen Spielmarken einzuziehen, und dann zahlte man die Gewinne aus. Sealwood betrachtete am Tisch stehend neugierig das Spiel. — Sie verstehen es nicht, nicht wahr? — murmelte Brand. 14
— Nicht ein Wort —, gab der Kassierer zu. — Es ist nicht so schwierig, wie es aussieht. Ich werde Ihnen die Kombinationen erklären, damit Sie sich eine Idee davon machen können. — Je nachdem nun die Kugel fiel, erklärte ihm Brand die Möglichkeiten des Spiels und wieviel man dabei gewinnen konnte. Eines der Mädchen streckte die Hand aus und setzte einen Dollar auf eine Nummer. Um beim Sichvorneigen nicht das Gleichgewicht zu verlieren, hielt sie sich mit der anderen Hand am Arm Sealwoods fest. Da geschah der Zwischenfall. Plötzlich schlug wenige Schritte von Sealwood entfernt eine helle Flamme auf. Dieser drehte sich erschreckt mit den anderen nach dem Lichtschein um, und in diesem Augenblick gingen sämtliche Lampen aus. Schrecken erfaßte die Mehrzahl der Spieler. Man hörte Angstschreie, hauptsächlich von Frauen. Jemand rannte nach der Tür und stieß Sealwood dabei in der Dunkelheit um. Plötzlich ertönte eine Stimme. — Bewahren Sie die Ruhe, meine Herrschaften! Es handelt sich nur um einen kleinen Kurzschluß. In zwei Minuten wird er in Ordnung sein, Craven, rufen Sie den Elektriker! — Die Gemüter beruhigten sich, und die Leute blieben auf ihren Plätzen, um die Einsätze zu bewahren. Einige zündeten Streichhölzer an. Ein Angestellter zog eine elektrische Taschenlampe hervor, die einen magischen Schein verbreitete. 15
Es dauerte nicht lange, und der Elektriker erschien. Ein Croupier mit einer Lampe in der Hand begleitete ihn. Der Blitz war scheinbar aus einer Nische gekommen, in der sich ein Telefon befand. Sofort machte sich der Elektriker an die Arbeit. In wenigen Augenblicken brannte das Licht wieder, und wieder hörte man das Klappern der Spielmarken. — Faites votre jeu! — Das Spiel ging weiter, als wäre nicht das geringste geschehen. Der Schreck aber hatte seine Wirkung getan, wenigstens bei Sealwood. Er hatte sich selbst wiedergefunden. Nun sah er ein, daß es überhaupt eine Verrücktheit gewesen war, den Spielsaal zu betreten. Deshalb sagte er zu Brand: — Es tut mir leid, mein Freund, aber ich muß jetzt gehen. Ich habe genug gesehen, meine Neugierde ist gestillt. Ich riskiere zu viel, wenn ich noch länger hier bleibe. — Brand schien das einzusehen und hatte nichts dagegen einzuwenden. Er ging mit Sealwood ins Restaurant hinunter. — Vielleicht —, sagte er, — trinken Sie noch einen Whisky, ehe Sie weggehen. Sie sind sehr aufgeregt, Sealwood. — — Danke. Ich ziehe vor, das nicht zu tun. Ich werde in der frischen Nachtluft schon ruhiger werden. Bleiben Sie noch hier? — — Nein, ich werde Sie nach Hause bringen. Ich fühle mich für Sie verantwortlich. Der kleine Zwischenfall 16
hat Sie mehr erregt, als es notwendig gewesen wäre. Aber so etwas kann ja mal vorkommen. — — Ich verstehe —, nickte Sealwood, — aber ich bin nicht daran gewöhnt, daß solche Dinge um mich her geschehen. — Sie nahmen ihre Hüte aus der Kleiderablage und traten auf die Straße. Sealwood schien ein Stein von der Brust zu fallen, als er sich wieder in der frischen Luft befand, die er tief einatmete. Brand schaute ihn neugierig an, machte aber keine Bemerkung. So schritten sie schweigend nebeneinander her. Dann begannen sie eine Unterhaltung. Brand versuchte ihn zu zerstreuen und den unangenehmen Zwischenfall vergessen zu machen. Es gelang ihm auch ziemlich. Als er sich von dem Kassierer an der Tür seines Hauses verabschiedete, war Sealwood wieder heiter und machte einige Witze über den plötzlichen Kurzschluß. Seine Frau hatte sich schon schlafen gelegt, wie er angenommen hatte. Er trat in sein kleines Arbeitszimmer, um dort bis zum Morgen den Umschlag zu verschließen, den ihm sein Chef mitgegeben hatte. Und da merkte er auf einmal das Furchtbare: Der Umschlag mit den Wertpapieren war verschwunden! *
* *
17
2. Kapitel EIN MERKWÜRDIGER BESUCH Joan Sealwood sah ihren Gatten erschreckt an, als er am nächsten Morgen an den Frühstückstisch trat. Er sah leichen-blaß aus und hatte tiefe Ringe unter den Augen. — Andrey! — rief die Frau aus, — was ist dir? — — Es ist nichts —, log der Mann, — etwas müde, das ist alles. Ich bin nicht daran gewöhnt, nachts lange aufzubleiben. Nach dem Mittagessen werde ich mich etwas hinlegen und heute abend zeitig schlafen gehen. Morgen ist alles wieder in Ordnung. — — Bist du sicher, daß es nichts anderes ist? — fragte die Frau und betrachtete ihn eingehend. — Hast du vielleicht Unannehmlichkeiten mit deinem Chef gehabt? — — Was soll ich mit ihm für Unannehmlichkeiten gehabt haben —, antwortete Sealwood. — Wir haben sehr gut gegessen, und … vielleicht ist es das … du weißt ja, ich bin nicht daran gewöhnt, zu trinken … und ich trank etwas mehr, als mir gut tut. Das und der wenige Schlaf erklären alles. Mach dir keine Sorgen. — Er versuchte zu lächeln. — Wo ist das Frühstück? Ich bin ein wenig zu spät aufgestanden und muß mich jetzt beeilen. — Er frühstückte schweigsam und bemerkte deutlich, daß seine Frau ihn nicht einen Moment aus den Augen ließ. Seine Antwort hatte ihr nicht ganz genügt. 18
Aber er war entschlossen, ihr bis zum letzten Augenblick nicht die Wahrheit zu sagen. Er wollte nicht, daß sie dieselbe Angst litt wie er. Es blieb ihm noch eine Hoffnung. Bankdirektor Brighton würde bis morgen die Bank nicht betreten, er würde also bis dahin keine Rechenschaft über die Wertpapiere abzulegen brauchen. Nach dem Essen würde er sich ausruhen, wie er es zu seiner Frau gesagt hatte. In der Nacht aber würde er unter irgendeinem Vorwand weggehen und das Restaurant Colletti aufsuchen. Vielleicht waren ihm die Wertpapiere aus der Tasche gefallen und man hatte sie gefunden. Er würde Brand aufsuchen … Brand? Aber wo konnte er ihn finden? Auf einmal merkte er, wie wenig er eigentlich von diesem Manne wußte. Er hatte Brand nur ein paarmal in seinem Leben gesehen und jedesmal im Hause seines Chefs. Aber er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er eigentlich wohnte oder welchen Beruf er hatte. Er war sympathisch und verstand gut zu plaudern. Er war ein angenehmer Gesellschafter, mehr wußte er nicht von ihm. Auf jeden Fall würde er, falls es notwendig war, seine Adresse von Herrn Brighton erfahren können. Der mußte ja wissen, wer er war, wenn er ihn in sein Haus lud. Er vertraute aber darauf, daß dieser Fall sich nicht als nötig erweisen werde. Man hatte ihn vorige Nacht in seiner Begleitung gesehen und würde ihm den Eintritt in den Spielsaal nicht verweigern, auch wenn er allein kam. Und dort mußte er die Wertpapiere verloren haben, denn er glaubte sich 19
daran zu erinnern, daß er den Umschlag im Restaurant noch in der Tasche gefühlt hatte. Er beendete sein Frühstück und stand auf. Seine Frau sah ihn angstvoll an. — Würde es nicht besser sein, du würdest dich hinlegen und heute nicht ins Büro gehen? — fragte sie. — Telefoniere zur Bank und.. , — Sealwood verschloß ihr den Mund mit einem Kuß. — Ich habe dir schon gesagt, daß es nichts ist, meine Liebe. Heute ist ein schlechter Tag, um in der Bank zu fehlen. Der Direktor kommt heute nicht und hat mich mit einigen wichtigen Dingen beauftragt, die nur ich erledigen kann. Mache das Essen zeitig fertig. Ich will mich sofort danach hinlegen. — Joan ließ ihren Gatten gehen. An diesem Morgen machte Sealwood seine Arbeit wie eine Maschine, er wußte kaum, was er tat. Niemals hatte er die Mittagsstunde so herbeigewünscht, niemals so das Kommen der Nacht. Kurz vor ein Uhr wurde er ans Telefon gerufen. Es war sein Chef. — Ah, Sealwood —, sagte er. — Ich habe Sie angerufen, um Sie um eine Gefälligkeit zu bitten. Erinnern Sie mich morgen früh, wenn ich komme, an die Wertpapiere. Ich nehme an, daß sie bereits in der Stahlkammer liegen, nicht wahr? — Sealwood würgte die Angst hinunter, die ihm in der Kehle saß und antwortete: — Jawohl, Herr Brighton. — — Schön, erinnern Sie mich also, daß wir gleich 20
morgen früh die Überweisung vornehmen. Es ist ein Teil der Garantie, die einer unserer Kunden bei der Staatsbank hinterlegen muß. Es handelt sich um einen Regierungsauftrag und ist sehr wichtig. Ich glaube nicht, daß ich es vergessen werde, aber erinnern Sie mich bitte daran. — — Sie können sich darauf verlassen, Herr Brighton. — Sealwood legte den Hörer auf. Sein Herz war ihm in die Schuhe gerutscht. Am Morgen hatte er sich damit getröstet, daß ihm noch genügend Zeit blieb, um die Wertpapiere wiederzufinden. Er konnte so tun, als ob sie in der Stahlkammer wären, und es war nicht wahrscheinlich, daß er sie vorzuzeigen brauchte. Inzwischen konnte er durch diskrete Fragen herausbekommen, um welche Papiere und um welchen Wert es sich handelte. Und wenn es ihm nicht möglich war, sie sofort wiederzufinden, konnte er sich vielleicht an eine Detektiv-Agentur wenden, die ihm helfen würde, sie zu suchen. Der telefonische Anruf aber hatte seine ganzen Pläne zuschanden gemacht. Er verfügte nur noch über Stunden. Und trotzdem schätzte er sich noch glücklich, denn hätte ihn sein Chef nicht angerufen, würde er geglaubt haben, über mehr Zeit zu verfügen. Und wenn er die Wertpapiere in dieser Nacht nicht fand, dann hätte er morgen einen schönen Schreck ausstehen müssen. Jetzt wußte er wenigstens, an was er sich zu halten hatte. Wenn er die Wertpapiere nicht zur rechten Zeit zurückerhalten 21
würde, mußte er seinem Chef alles bekennen … und die Folgen tragen. Er schauderte, als er daran dachte. Brighton war die personifizierte Rechtlichkeit. Er hatte eine sehr hohe Meinung von der Berufsehre. Er würde niemals einen Moment der Schwäche bei seinem Kassierer begreifen. Er würde seinen Erklärungen keinen Glauben schenken und keine Entschuldigung für seine Anwesenheit in der Spielhölle finden. Und.. wie sollte er den Verlust ersetzen? Nein. Entweder fanden sich die Wertpapiere in dieser Nacht wieder, oder er mußte irgendeine andere Lösung des Problems finden. Er fühlte es genau, doch letzten Endes mußte er die Folgen seiner Dummheit tragen. Was ihm am meisten Sorgen dabei machte, war seine Frau. Und für sie mußte er alles nur menschenmögliche tun, um aus dieser Lage herauszukommen. Er ging nach Hause und blieb einen Augenblick vor seiner Tür stehen, um sich Mut zu machen und ein Lächeln vorzutäuschen. Joan erwartete ihn, und Sealwood küßte sie. — Ist das Essen schon fertig? — fragte er, ohne ihr Zeit zum Sprechen zu lassen. Sie nickte bejahend mit dem Kopf und sah ihren Gatten sorgenvoll an. — Andrey —, sagte sie … Sealwood ließ sie nicht ausreden. — Gehen wir essen, Joan, ich bin sehr müde. Ich wäre heute morgen fast schon in der Bank einge22
schlafen, und heute nachmittag habe ich noch eine Menge zu tun. — Er begab sich eilig ins Eßzimmer. Joan bediente ihn. Sealwood hätte am liebsten nichts gegessen, alles schien ihm im Halse steckenzubleiben. Aber er mußte so tun, als ob er Hunger hätte, um seine Frau zu beruhigen. Er aß alles, ohne daß Joan merkte, wie schwer es ihm fiel und welche Mühe es ihn kostete. Auf den Nachtisch verzichtete er und zog sich zurück. Er hatte nicht einen Augenblick daran geglaubt, Schlaf zu finden. Er wußte, daß es unmöglich war. Was er in Wirklichkeit wollte, war, nicht mit seiner Frau sprechen zu müssen. Er fühlte sich nicht fähig, noch lange Verstecken zu spielen. Er fürchtete, daß Joan etwas ahnen würde, und seine Ermüdung diente ihm als Entschuldigung, allein zu sein. Er zog die Jacke und die Schuhe aus und warf sich aufs Bett, bereit, eine schreckliche Zeit mit seinen Gewissensbissen zu verbringen. Aber er kam nicht dazu. Joan klopfte an die Tür, um ihm zu sagen, daß ein Besucher gekommen wäre. — Sage ihm bitte, Joan, er möchte zu einer anderen Zeit wiederkommen —, bat er seine Frau. — Morgen mittag, zum Beispiel oder heute abend. Ich bin sehr müde und habe keine Lust, jemanden zu empfangen. — — Ich habe es ihm schon gesagt, Andrey, aber er sagte, er müßte dich in einer äußerst dringenden Angelegenheit sprechen. — 23
— Dann muß er eben auf eine bessere Gelegenheit warten. Wer ist es denn? — — Ich kenne ihn nicht. Er sagte mir aber, daß du ihn empfangen würdest, wenn du den Zweck seines Besuches kennen würdest. Er kommt, sagte er, um mit dir über einige Wertpapiere zu sprechen. — Mit einem Satz sprang Sealwood auf. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Wertpapiere! Es konnte sich nur um die verlorenen handeln. Er zog sich schon die Schuhe an, als er sagte: — Führe ihn bitte in mein Arbeitszimmer, Joan, und sage ihm, daß ich sofort komme. — Die plötzliche Wandlung ihres Mannes erstaunte Joan außerordentlich. — Andrey —, begann sie.. , Der Mann packte sie bei den Schultern und schob sie sanft zur Tür. — Halte dich nicht auf —, sagte er, — und führe den Herrn in mein Arbeitszimmer. — Er knüpfte sich die Schuhbänder zu-recht, zog die Jacke an und sprang die Treppe hinab In seinem Arbeitszimmer erwartete ihn ein Unbekannter. — Bitte nehmen Sie Platz —, forderte er ihn auf, — mit wem habe ich die Ehre? — — Ich heiße Shadworth —, antwortete der Mann und setzte sich. — Aber Sie werden meinen Namen wohl noch nicht gehört haben. Ich glaube auch kaum, daß er Sie sehr interessieren dürfte. Die Hauptsache meines Besuches ist, daß ich mit Ihnen über etwas sprechen möchte was Sie möglicherweise sehr nahe angeht. — 24
— Über einige Wertpapiere? — fragte Sealwood und konnte seine Ungeduld kaum zügeln. — Ja, über einige Wertpapiere —, antwortete der andere. Sealwood setzte sich. — Ich höre —, sagte er. 25
— Gestern nacht —, begann der Unbekannte, — verloren Sie einen Umschlag, dessen Inhalt … — Sealwood stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Alles würde in Ordnung gehen. Es fiel ihm nicht einmal ein, den Mann zu fragen, woher er wußte, daß ihm die Wertpapiere gehörten, da doch auf dem Umschlag kein Name stand Er vergaß alles, als er daran dachte, daß der Umschlag wieder in seinen Besitz kommen und noch heute in der Stahlkammer der Bank liegen würde. — Ich bin Ihnen sehr dankbar —, sagte er — Sie glauben gar nicht, was ich inzwischen durchgemacht habe. — — Das kann ich mir denken —, antwortete Shadworth mit einem Lächeln, — mir an Ihrer Stelle wäre es genau so gegangen. — Der Mann hatte bis jetzt nicht das geringste unternommen, in die Tasche zu greifen und ihm den Umschlag zu überreichen. Deshalb sagte Sealwood: — Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verbunden, wenn Sie mir den Umschlag mit den Wertpapieren geben würden. Ich muß bald wieder in die Bank und … — — Es tut mir leid, Herr Sealwood, ich habe die Dokumente nicht bei mir. — Der Kassierer sah ihn erstaunt an. — Ich verstehe nicht —, sagte er, — wenn Sie wußten, daß die Papiere mir gehören … — — Ich bin ganz sicher, daß es die sind, die Sie verloren haben —, versicherte der Mann unbeweglich, — aber sie sind von einem sehr großen Wert und … — 26
— Ah, ich verstehe —, rief Sealwood aus, — Sie wollen damit sagen, daß Sie eine Belohnung haben wollen. Aber selbstverständlich. Welche Summe halten Sie für angemessen? — — Sie haben mich nicht ganz verstanden, Sealwood, ich möchte kein Geld von Ihnen. — Der Kassierer wurde rot, er hatte offenbar falsch gehandelt. Vielleicht hatte er den Mann beleidigt, aber seinem unveränderten Aussehen sah man nichts an. — Entschuldigen Sie mich, Herr Shadworth —. sagte er, — wenn ich Sie beleidigt habe. Es war nicht meine Absicht. Ihre Worte … — — … wurden von Ihnen falsch verstanden —, unterbrach ihn der andere. — Beunruhigen Sie sich nicht. Sie haben mich nicht beleidigt. Denn wenn ich auch nicht hierhergekommen bin, um Sie um Geld zu bitten, so möchte ich doch etwas dafür haben. Ich glaube, daß Sie mir für meine Gefälligkeit auch eine erweisen werden. — — Aber natürlich sehr gern —, beeilte sich Sealwood zu antworten, — immer, wenn es in meiner Hand liegt … — — Das, worum ich Sie bitte, können Sie mit Leichtigkeit erfüllen … und sogar noch Geld dabei verdienen — Sealwood sah ihn lebhaft und nicht ohne gewisse Besorgnis an. — Jetzt verstehe ich Sie noch weniger als vorher —, meinte er. 27
— Die Sache ist ganz einfach. Ich gebe Ihnen die Wertpapiere zurück, und Sie versprechen mir dafür, an dem Tage, an dem ich Sie darum bitte, mir ein paar Banknoten zu wechseln. — Der Kassierer sah ihn scharf an und sagte langsam: — Ich verstehe Sie immer noch nicht, Herr Shadworth. — — Ich werde versuchen, deutlicher zu sein, Herr Sealwood. — Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: — Es gibt Momente im Leben, mein Freund, in denen man durch gewisse Umstände in eine komplizierte Lage geraten kann. Manchmal zwingt eine ganz triviale Sache einen Mann, etwas Merkwürdiges zu tun. Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben, um Ihnen meinen Fall deutlicher zu machen. Nehmen Sie an, ein Mann möchte sich verheiraten. Gerade als die Ehe geschlossen werden soll, erfährt er, daß seine künftige Frau eine Abenteurerin ist, die sich nur deshalb mit ihm verheiraten will, um in den Besitz seines Geldes zu kommen. Was würden Sie in einem solchen Falle tun? — — Ich würde natürlich die Verlobung lösen —, antwortete Sealwood, der seinen Besucher immer noch nicht verstand. — Der Mann kann aber nicht beweisen, daß seine zukünftige Frau eine Abenteurerin ist, er hat auch keine Beweise für einen wirklichen Grund zur Auflösung der Verlobung. Wenn er also die Verlobung löst, 28
wird er sich in einen Prozeß wegen Nichteinhaltung des Eheversprechens verwickelt sehen. Sie kennen die Gesetze unseres Landes zur Genüge, um zu begreifen, daß die Abenteurerin den Prozeß gewinnen wird und der Mann ihr den größten Teil seines Vermögens aushändigen muß. — — Es ist möglich, daß Sie recht haben. — — Ganz gewiß, darüber gibt es keinen Zweifel. Aber es kommt noch schlimmer Stellen Sie sich vor, die Frau weiß etwas, was ihrem zukünftigen Mann großen Schaden zufügen könnte, und sie benutzt diese Waffe, um den Mann zu zwingen, daß er ihr den größten Teil seines Vermögens gibt oder sie heiratet, was auf die Dauer auf dasselbe herauskommt. Welche Lösung würden Sie in diesem Falle finden? — — Entschuldigen Sie, Herr Shadworth, das alles mag sehr interessant sein, aber ich sehe nicht, was das mit mir und den verlorenen Wertpapieren zu tun hat. — — Seien Sie nicht ungeduldig, mein Freund. Das alles hat sehr viel mit Ihnen zu tun. Ich wäre Ihnen deshalb dankbar, wenn Sie mir auf meine Frage antworten würden. — Sealwood zügelte seine Ungeduld und antwortete: — Ich sehe überhaupt keine Möglichkeit einer Lösung.. außer vielleicht, daß der Mann verschwindet, ohne die geringste Spur zu hinterlassen … — — Das ist wirklich die Lösung, aber unvollständig. — — Unvollständig? — 29
— Ja, vorher muß der Mann sein Vermögen abheben, um mit ihm zu verschwinden. — — Das kann er ja tun. — — In dem Fall, den ich anführte, hat es der Mann getan. Aber er hat nicht viel Glück dabei gehabt. Es ist nicht notwendig, Ihnen zu erklären, welcher Mittel sich die Frau bediente. Jedenfalls hat sie sich die Nummern der Banknoten besorgt. Sobald der Mann eine Note einwechseln will, wird er festgenommen. Er kann behaupten, daß es sein Geld ist, aber vielleicht wagt er es nicht. Und wenn er es tut, könnte sie Dinge aufdecken, die einem Diebstahl von mehreren tausend Dollar gleichkommen. Verstehen Sie? — — Bis zu diesem Punkt, ja. Nur verstehe ich nicht, was ich mit all dem zu tun haben soll. — — Sie sind Kassierer einer Bank. Es wird Ihnen nichts ausmachen, diese Noten gegen andere einzuwechseln. — — Das ist ja absurd! — rief Sealwood aus, — ganz unmöglich! — Shadworth stieß einen tiefen Seufzer aus und sagte: — Ich sehe, daß ich Ihnen die Sache auf andere Art verständlich machen muß. Ich erzählte Ihnen die Geschichte von der Abenteurerin, um Ihr Gewissen zu beruhigen. Jedenfalls kann ein Mann mit seinem Gelde machen, was er möchte. — — Die Erzählung von der Abenteurerin, Herr Shadworth, hat mich nicht überzeugt. Einmal baten Sie mich damit, einem Manne zu helfen, der irgendein schweres Delikt begangen hat. Das hätte mich zu 30
seinem Komplizen gemacht. Und zweitens kann ich mich auch, selbst für den besten Zweck, nicht dafür verwenden lassen, was Sie von mir fordern. Es wäre ein Vertrauensbruch, dessen ich nicht fähig wäre, zumal ich dabei meine Stellung verlieren kann, wenn nicht noch schlimmere Folgen eintreten. — — Und …? — fragte Shadworth, — Was glauben Sie, was geschehen wird, wenn man entdeckt, daß Sie die Wertpapiere verloren haben? — — Soll das eine Drohung sein? — — Nein, nur eine Warnung. — — Ich sagte Ihnen schon vorher, daß mich Ihre Erzählung nicht überzeugt hat, und ich wiederhole es jetzt. Es ist nicht die richtige Erklärung dessen, um was Sie mich bitten. — Der Mann seufzte wieder. — Ich wollte Ihnen die Sache schmackhaft machen und Ihnen Unannehmlichkeiten ersparen, ich wollte, daß Sie weiter in der besten aller Welten leben. Aber Sie lassen das offenbar nicht zu. Ich baue eine Mauer vor Ihnen auf und zeige sie Ihnen, aber Sie rennen mit dem Kopf dagegen an. Wenn Sie es durchaus wollen, so kann ich nichts dafür. Zum Schluß werden Sie der einzig Geschädigte dabei sein. — — Es kommt mir so vor, Herr Shadworth —, sagte Sealwood, — als hätten Sie nur sehr wenig gesagt, oder zu viel. — — In der Tat … In der Tat … — antwortete der andere. — Ich glaube daher, daß jetzt der Augenblick gekommen ist, klar zu sprechen. — 31
*
* *
3. Kapitel DAS ULTIMATUM Shadworth zog eine Zigarette hervor und zündete sie an. Sealwood über den Tisch gebeugt, betrachtete ihn aufmerksam. Die Erleichterung, die er im ersten Augenblick gespürt hatte, war verschwunden. Aber die Verzweiflung, die ihr gefolgt war, gab ihm die Kraft und eine scheinbare Beherrschtheit, sich zurückzuhalten und zuzuhören. Der Mann atmete tief den Zigarettenrauch ein und stieß ihn dann aus, während er den Kassierer scharf anblickte. Der Ton seiner Stimme aber veränderte sich nicht. — Unser Chef —, sagte er plötzlich, — ich sage absichtlich ,unser', denn von diesem Augenblick an ist es auch Ihrer, Sealwood, muß ab und zu ein paar Banknoten loswerden, deren Nummern bekannt sind und die die Polizei sucht. In Wirklichkeit braucht Sie der Chef eigentlich gar nicht so dringend. Er könnte auch ohne Ihre Dienste auskommen, ohne ein allzu großes Risiko dabei zu laufen. Aber etwas Risiko müßte er auf sich nehmen, und es gefällt dem Chef, besser ganz sicher zu gehen. — — Der Plan —, fuhr der Mann fort, nachdem er eine Weile schweigend geraucht hatte, — ist schon fix 32
und fertig. Die Banknoten mit den gefährlichen Nummern werden bei einem bestimmten Schalter in der Bank von Harrison & Peakman abgegeben. In dieser Bank ist es, wie in vielen anderen, Sitte, daß der Angestellte die Nummern der Banknoten, die er einnimmt und ausgibt, notiert. Diese Liste bringt ihm schon einer unserer Leute, der ihm die Banknoten übergibt, mit. Wenn diese Banknoten dann in Ihre Hände kommen, werden Sie zwei Sachen bemerken. Erstens, daß sie gebündelt sind und sich auf der Papierschleife zwei mit roter Tinte gemachte Kreuze befinden, zweitens werden Sie beim Durchzählen merken, daß die Bündel einen höheren Wert haben, als auf der Liste angegeben ist. Und zwar handelt es sich, um genau zu sein, um zehn Prozent zugunsten der Bank. Diese zehn Prozent sind aber nicht für die Bank bestimmt, sondern sind Ihr Verdienst für Ihre Mitarbeit. Sie werden natürlich diesen Betrag an sich nehmen, damit Ihr Kassensaldo stimmt. Sie werden diese Banknoten beiseite tun, damit sie nicht mit anderen verwechselt werden, die nicht unter eine Reklamation fallen. Diese Sache, die nur Sie vornehmen können, ist Ihre Mitarbeit, Freund Sealwood. — — Und … das ist die Bedingung, unter der ich die Wertpapiere zurückerhalte? — — Ja, das ist unumstößlich notwendig —, erklärte Shadworth, — aber es ist noch nicht alles. — — Was habe ich noch zu tun? — — Nur eine Kleinigkeit, die ebenso unwichtig ist wie die erste. Ihre Bank hat einen Kontokorrent-Kunden, 33
der alle Samstage eine bestimmte Summe für Lohnzahlungen benötigt. Ich meine die Firma Tadmore & Co. — — Ich erinnere mich nicht an den Namen. Es sind so viele … — — Sie können sich auch kaum daran erinnern —, unterbrach ihn der Besucher. — Bis jetzt sind die Operationen dieses Hauses nur sehr geringfügig gewesen, und das Kontokorrent-Konto ist unbedeutend. Das aber wird jetzt anders werden. — Er machte wieder eine Pause, während Sealwood schweigend wartete. — In Zukunft —, fuhr Shadworth fort, — wird es notwendig sein, daß der Beamte der betreffenden Firma, wenn er des Samstags in die Bank kommt, sein Geld für die Lohnauszahlungen bereits gebündelt vorfindet. Sie persönlich werden das übernehmen. Denn es ist notwendig, daß sich unter diesen Banknoten nicht eine einzige von den gefährlichen befindet. Haben Sie mich verstanden? — — Vollkommen. Und was soll ich mit den anderen Banknoten tun? — — Das überlasse ich ganz Ihnen, Freund Sealwood. Ich glaube, daß Sie von mir keine Instruktionen darüber benötigen. Die Banknoten müssen so schnell als möglich wieder in den Umlauf gelangen. Sie können sie langsam am Schalter ausgeben oder sie sonst irgendwo in den Verkehr bringen. Das ist uns vollkommen gleichgültig. Wie Sie sehen, verlangen wir nur sehr wenig, und dafür geben wir Ihnen nicht 34
nur Ihre Wertpapiere wieder, sondern beteiligen Sie auch noch mit zehn Prozent an allen Summen, die wir einzahlen. — — Aber Sie setzen mich der Gefahr aus, daß ich dabei erwischt werde. — — Wer soll Sie erwischen? Die Banknoten- mit der entsprechenden Nummernliste gehen nur durch die Hände eines bestimmten Schalterbeamten oder durch Ihre. — — Was natürlich bedeuten soll, daß dieser betreffende Beamte einer Ihrer Mitarbeiter ist. — Der andere nickte bejahend mit dem Kopf. — So ist es, er bekommt fünf Prozent, die er vorher entnimmt, ehe er Ihnen die Nummernliste aushändigt. — — Dieser Beamte hätte mich dann in der Hand. — — Haben Sie keine Angst, wir haben ihn genau so fest an der Kandare wie Sie. — Sealwood brauste auf. — Verzeihen Sie, daß ich Ihnen widerspreche, Shadworth, Sie haben mich überhaupt noch nicht. — — Und die Wertpapiere? — — Morgen früh habe ich eine Zusammenkunft mit meinem Chef. Ich werde ihm offen alles erklären, was geschehen ist. Ich werde ihm anbieten, solange ohne Gehalt zu arbeiten, bis der Verlust gedeckt ist, falls die Polizei die Wertpapiere nicht finden sollte … — — Und was glauben Sie wohl, was Ihr Chef dazu sagen wird? — — Was soll er sagen? Ich bin nicht der erste, der 35
etwas verloren hat, was ihm anvertraut wurde. Solche Dinge geschehen und… — — Aber wenn es in einer Spielhölle geschieht, dürfte es schwer zu beweisen sein, daß man das Geld nicht beim Spielen verloren hat. Schon allein die Tatsache, sich in einer Spielhölle zu befinden … — — Es ist ja gar nicht notwendig, daß er erfährt, daß es in einer Spielhölle war und, auch wenn ich es ihm sagte, braucht er ja nicht zu glauben, daß ich sie verspielt habe … oder daß ich nur mein gutes Geld verspielte. — — Sie sind ein großer Optimist. Mein Chef hat sich sehr genau über den Charakter des Herrn Brighton informiert. Sie wissen genau so gut wie ich.,. — Er wird nicht erfahren, daß ich die Wertpapiere in einem Spielsaal verloren habe. Ich kann ihm sagen … — Sie können ihm sagen, was Sie für richtig halten. Aber ziehen Sie dabei in Betracht, daß ein Kunde der Bank nachher bei Ihrem Chef vorsprechen wird. Er wird sich sehr erregt gebärden und erzählen, daß er gestern nacht den Bankkassierer in einer Spielhölle gesehen hat. Er wird außerdem versichern, daß Sie sehr hohe Summen setzten … viel höhere Summen als es ein Mann Ihrer Stellung tun kann, und er wird auch hinzufügen, daß er Sie andauernd verlieren sah. Er wird darauf bestehen, daß man der Sache auf den Grund geht. Es wird Ihnen dabei klar werden, Herr Sealwood, daß Sie danach Herrn Brighton nur sehr schwer davon werden überzeugen können, daß Sie die Wertpapiere nicht verspielt haben. — 36
— Ich werde ihm versichern, daß das alles nicht wahr ist. Ich werde meine vielen treuen Dienstjahre in die Waagschale werfen. Nichts beweist, daß mein Wort nicht mehr gilt als das des anderen. Ich werde verlangen, daß mein Ankläger Beweise für seine Behauptungen beibringt. — Shadworth lächelte schweigend. — Ich mache Sie schon jetzt darauf aufmerksam — , sagte er dann, — daß mein Chef ein kluger Kopf ist, der nichts dem Zufall überläßt. Als er beschloß, sich Ihrer zu vergewissern, arbeitete er einen ganz genauen Plan aus. Der betreffende Kunde wird unwiderlegliche Beweise für seine Behauptungen bringen. Hier haben Sie eine Probe dieses Beweises. — Er zog eine Karte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Sealwood schoß das Blut in den Kopf und wenige Sekunden später war er leichenblaß. Was er sah, war eine Fotografie, eine Fotografie aus dem Spielsaal Collettis. Man sah deutlich das Roulette mit seinem Tuch, wenn auch die Gesichter der Spieler nur undeutlich zu erkennen waren, mit Ausnahme von einem. Ganz vorn stand ein Mann von etwa vierzig Jahren, an dessen Arm sich ein Mädchen klammerte, die ganz offensichtlich über den Tisch gebeugt stand, um einen Betrag zu setzen. Und niemand hatte das Gesicht jenes Mannes mit dem kurzen Schnurrbart verwechseln können: es war Andrey Sealwood. Während einiger Augenblicke blieb der Kassierer wie erstarrt sitzen und schaute ungläubig auf die Fotografie. Dann verstand er plötzlich. 37
— Der Kurzschluß! — rief er mit verstörter Stimme aus. — Shadworth nickte bejahend mit dem Kopf. — — Sie werden erkennen —, sagte er, — daß die Sache sehr natürlich vor sich gegangen ist. Ohne Magnesium konnte man nicht fotografieren, und es war notwendig, daß Sie es nicht merkten. Einen Kurzschluß daraus zu machen, war eine geniale Idee … eine Idee würdig unseres Chefs. Alles war vorbereitet. Als Sie an der richtigen Stelle des Tisches standen und Ihre reizende Begleiterin Sie fest am Arm faßte, genügte ein Zeichen, um den Magnesiumblitz aufleuchten zu lassen, und gleich darauf löschte ein Mann das Licht vom Zähler her aus. Alle glaubten, daß es sich um eine Havarie handelte. Die Komödie mit dem Elektriker machte den Glauben perfekt. — Sealwood, der sich erhoben hatte, ließ sich nun wieder schwer in den Sessel fallen. Er war in die schlau gestellte Falle gegangen. Nicht zufällig hatte ihn Brand begleitet und bei Colletti Champagner bestellt. Er wollte, daß er nicht zu viel über etwaige Folgen nachgrübelte und bereitwillig in den Spielsaal ging. Von den Künstlerinnen mußte wenigstens eine mit im Bunde gewesen sein. Sie hatte ihn im Augenblick am Arm gefaßt, um die Fotografie noch kompromittierender zu gestalten. Und dann hatte man ihm den Umschlag mit den Wertpapieren fortgenommen. Der Stoß, den er in der Dunkelheit bekommen hatte, war kein Zufall gewesen. 38
Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und verbarg das Gesicht in den Händen. Er suchte einen Ausweg aus dieser fürchterlichen Lage, aber er fand keinen. — Es ist unnötig, daß Sie sich den Kopf zerbrechen —, sagte die Stimme Shadworths, — man hat an alles gedacht, Bradon. — Sealwoods Kopf schoß hoch, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. — Was haben Sie gesagt? — fragte er, als glaube er seinen Ohren nicht zu trauen. — Ich habe Ihnen gesagt, daß man an alles gedacht hat, Bradon —, antwortete der Mann und lächelte hämisch. Sealwood wollte sprechen, aber der andere unterbrach ihn mit einer Handbewegung. — Geben Sie keine Erklärungen ab —, sagte er. — Es genügt, wenn Sie wissen, daß ich Ihre wirkliche Persönlichkeit kenne und auch die Gründe, die Sie nötigen, sie zu verbergen. Sie haben nicht im Traum daran gedacht, daß nach so vielen Jahren einmal einer kommen und Sie mit Ihrem richtigen Namen anreden würde, nicht wahr? Ich wiederhole Ihnen noch einmal, daß der Chef keine Einzelheit außer acht läßt, Sie werden das tun, was man von Ihnen erwartet. Wenn Sie anders handeln, müssen Sie die Folgen tragen. Ihr Geheimnis, zusammen mit der Fotografie und den verlorenen Wertpapieren dürfte genügen, um nicht nur Ihre Stellung zu verlieren, sondern auch ein paar Jahre Zuchthaus zu bekommen. — 39
Er schwieg einige Augenblicke und betrachtete den unglücklichen Sealwood. Dann stand er auf. — Heute abend —, sagte er, — werde ich wiederkommen und mir Ihre Antwort holen. Der Chef gibt Ihnen diese Frist, um darüber nachzudenken, obgleich er nicht zweifelt, wie das Resultat ausfallen wird. Wenn Sie sich mit Ihrem Schicksal abfinden, mit uns zusammenarbeiten und demgemäß Ihre Einkünfte erhöhen, werden Sie die Wertpapiere zur rechten Zeit erhalten, um sie in die Stahlkammer legen zu können. Bis heute abend… und die Fotografie lasse ich Ihnen zur Erinnerung da. Der Chef hat das Negativ, um so viele Abzüge anfertigen zu können, wie er benötigt. — Er wartete nicht darauf, daß ihm der Kassierer antwortete. Er trat aus dem Arbeitszimmer und öffnete sich selbst die Tür zur Straße. Sealwood blieb noch eine Weile sitzen, vollkommen niedergeschlagen von dieser Katastrophe. Aber er wußte gleichzeitig auch, daß seine Frau jeden Augenblick ins Zimmer treten konnte. Er machte alle Anstrengungen, sich zu beherrschen und das Leid, das ihn quälte, zu verbergen. Die kompromittierende Fotografie steckte er in die Tasche, ohne daß er es merkte. Dann ging er in die Halle, gerade als Joan kam, um ihn zu erinnern, daß es Zeit wäre, wieder zur Arbeit zu gehen. Das diente ihm als Vorwand, um sofort das Haus zu verlassen. Er gab seiner Frau einen Abschiedskuß und versuchte ihr zuzulächeln, obgleich er den Tod in seinem Herzen spürte. 40
*
* *
4. Kapitel EIN AUFTRAG DES KAPUZENMANNES Dr. McKinley freute sich, sein Hospital war fertig. Die Werkstätten und Schulen, von denen er geträumt hatte, wurden langsam Wirklichkeit*. Diejenigen, die ihm den Palast in der Umgebung von Baltimore verkauft hatten, hätten ihn heute nicht wiedererkannt, nachdem er den Umbau vorgenommen hatte. Große, weite, gut ventilierte Säle voller Licht, nahmen die ehemaligen, engen Räume ein. Einige Betten waren schon besetzt, und eine Reihe von sauber gekleideten Krankenschwestern taten pünktlich und emsig ihren Dienst. Alle diejenigen, die das Hospital-Asyl besuchten, ergingen sich in Lobeserhebungen und gratulierten dem Direktor aus ganzem Herzen. Dr. McKinley hatte es außerdem fertiggebracht, daß die berühmtesten medizinischen Koryphäen seine Mitarbeiter wurden, und das neue Hospital versprach, eines der besten von ganz Amerika zu werden. Die gesamte Presse hatte sich des Projekts des Doktors angenommen und lobte seine Philantropie, die ihn angeregt hatte, sein ganzes Vermögen in dieses Unternehmen zu stecken. Auch viele andere *
•) Siehe „Rote Schlange" Band 7 „Händler des Schmerzes" und Nr. 8 „Blut und Perlen".
41
Menschenfreunde hatten das Ihre dazu beigesteuert, damit Dr. McKinley seine Träume verwirklichen konnte. Der Arzt war gerade dabei, die Ländereien zu besichtigen, die ihm der Multimillionär Drake geschenkt hatte. Die Bauten waren schon sehr weit fortgeschritten. Innerhalb zweier oder dreier Monate spätestens hoffte er, daß die ersten Werkstätten arbeiten würden und auch schon die ersten Gebäude für die Arbeitslosen fertig waren, die die Erde umbrechen und säen sollten. Langsam kehrte er nach dem Hauptgebäude zurück und träumte von den möglichen Auswirkungen seines großen Werkes, dessen Grundpfeiler bereits standen. In einem Flügel des Gebäudes hatte er ein paar Zimmer für sich reserviert, dessen eines sein Arbeitszimmer war. In dieses letztere trat er nun ein, und noch in seine Träumereien versunken merkte er nicht, daß er sieh nicht allein in diesem Raum befand, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. In einem Sessel, nahe am Tisch, saß ein Mann, ein schwarz gekleideter Mann, der eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte, die aber auch seine Hemdbrust bedeckte. Ein paar grünblaue Augen betrachteten ihn aufmerksam durch die Schlitze, die in die Kapuze geschnitten waren. Der Mann bewegte sich nicht, als er ihn eintreten sah, und auch den Arzt schien seine Anwesenheit nicht besonders zu erstaunen, denn er sagte nur: 42
— Ich habe Sie nicht zu sehen erwartet, Kapuzenmann. — — Stört Sie meine Gegenwart? — — Nein, im Gegenteil, ich freue mich, daß Sie gekommen sind. Ich muß Ihnen noch für die zahlreichen Geldspenden danken, die direkt oder indirekt von Ihnen an dieses Institut gekommen sind. Die Million, die Sie mir versprachen, kam an dem betreffenden Datum in meinen Besitz. Ich habe auch noch andere Zuwendungen bekommen. — — Ich erwarte nichts anderes von den Leuten, denen ich geraten hatte, Ihr Institut zu unterstützen —, antwortete der Kapuzenmann trocken. — Sind Sie zufrieden, Doktor? Gehen die Arbeiten so schnell vonstatten, wie Sie es wünschen? — — Ich bin sehr zufrieden. Die Arbeiten gehen sogar schneller voran, als ich gehofft hatte, aber doch nicht schnell genug, wie es mein Wunsch wäre. Ich hatte natürlich Lust, schon alles fertig zu sehen, alles Bisherige erscheint mir noch immer viel zu wenig. — Er nutzte einen Moment des Schweigens aus, um sich hinzusetzen. Da sagte sein Besucher ihm gegenüber plötzlich: — Doktor, haben Sie ein paar Minuten Zeit, um mich anzuhören? — McKinley lächelte. — Die Arbeit hat noch nicht sehr überhand genommen —, antwortete er, — und vor allem weiß ich ja, was ich Ihnen schuldig bin. Sprechen Sie, ich höre Ihnen zu. — 43
— Haben Sie einmal von einer geheimnisvollen Frau sprechen hören, die sich rot kleidet und die Rote Schlange genannt wird? — Der Arzt nickte bejahend mit dem Kopf. — Ja —, sagte er, — wer hat denn nicht von ihr sprechen hören? Und von ihr gelesen? Die Zeitungen schreiben ja viel über ihre Abenteuer. — — Aber sie sind ihr nicht gerecht geworden —, bemerkte der Kapuzenmann. — Die Polizei verfolgt sie, wie sie auch mich verfolgt. Aber ich kann Ihnen versichern, daß die Rote Schlange auf ihrem Wege nur Gutes gestiftet hat. — — Einige Blätter ließen das zwischen den Zeilen vermuten —, meinte Mac Kinley. — wenn die meisten sie auch nach wie vor bekämpfen — — Sehr richtig —, bemerkte der Kapuzenmann und schwieg wieder. — Es gab eine Zeit —, sagte er dann plötzlich, — in der ich ein vollkommen ungeordnetes Leben führte. Ich dachte an nichts anderes, als mich zu amüsieren, so gut als möglich zu leben und wußte fast nicht, was außerhalb meiner Sphäre vor sich ging. — — Damals lernte ich die Rote Schlange kennen. Sie rettete mir das Leben, und gleichzeitig rüttelte sie mein Gewissen wach. Sie machte mich sehend, daß ich ein vollkommen unnützes Leben führte, daß ich, der ich genug Mittel besaß, um Gutes zu tun, diese Gelegenheit nicht wahrnahm. In der Welt gibt es viele Tränen zu trocknen, Ungerechtigkeiten wiedergutzumachen und vieles Unglück zu lindern. Sie ließ mich 44
die menschliche Gemeinschaft fühlen und machte mich darauf aufmerksam, daß es zu einer der vornehmsten Eigenschaften des Wesens Mensch gehört, den Schmerz auszutilgen. Aber… warum soll ich noch ausführlicher werden? Sie werden verstehen, Doktor, was ich alles durchmachte, denn auch Sie fühlen für die Menschheit und beweisen es sichtlich zu jeder Zeit durch Ihr Werk. Seit diesem Augenblick, Doktor, wechselte ich vollkommen mein Leben. Eine Binde schien mir von den Augen genommen, und ich sah die Menschheit, wie sie wirklich war… alle ihre Gebrechen … all ihr Unglück… alles Schlechte, das ich, wenn auch nicht immer ganz austilgen, so doch bessern konnte. Die harte, gefühllose Schale meines Herzens wich. Ich begriff zum ersten Male, was meine Mission in der Welt war. Ich selbst fühlte mich als einen Teil der Menschheit und konnte nicht an fremdem Schmerz und fremder Freude mehr vorübergehen. Mein einziges Problem seit dieser Zeit ist: anderen, soweit ich in der Lage bin, zu helfen. Ich weiß, daß ich dieses Problem nicht immer sehr gut löste. Sie haben es bestimmt ungleich besser gelöst als ich. Trotzdem wählte ich unter allen Mitteln, die mir blieben, das, was mich in die beste Lage versetzte, um meine wirksame Hilfe den Bedrängten angedeihen lassen zu können … ohne daß das bedeuten soll, daß ich mich unter gegebenen Umständen nicht auch der anderen Mittel bediene, wenn sie mir zum Vorteil gereichen. Ich hoffe, daß mir meine 45
Übergriffe verziehen werden, obgleich sie immer nur auf gute Absichten zurückzuführen sind. Meine Methoden sind nicht orthodox, bestimmt nicht. Aber ist das ein Grund, meine Hilfe zurückzuweisen, wenn ich sie, ohne einen Vorteil davon zu haben, anbiete? Wenn ich bei einigen Gelegenheiten die menschlichen Gesetze verletzte, so habe ich doch niemals etwas begangen, das mir Gewissensbisse verursachen würde … — Er machte eine Pause. McKinley hatte ihm aufmerksam zugehört, ohne ihn auch nur im geringsten zu unterbrechen. Jetzt sagte er: — Warum erzählen Sie mir die ganze Geschichte, Kapuzenmann? Warum wollen Sie sich vor mir rechtfertigen? Ich habe Ihre Hilfe für mein Institut angenommen. Ist das nicht ein Beweis dafür, daß ich Sie nicht für so schlecht halte, wie manche Sie hinstellen möchten? — — Ja, Doktor, ja —, antwortete der Kapuzenmann, — aber ich habe aus einem bestimmten Grunde so gesprochen. Ich möchte vollkommen sicher sein, daß Sie meine Handlungsweise verstehen und möchte Sie davon überzeugen, daß die Rote Schlange ähnliche Gefühle leiten wie mich. Das Ganze war ein Vorwort zu dem, um was ich Sie bitten möchte. — — Eine Bitte? — rief der Arzt erstaunt aus. — Was kann ich denn für Sie tun? — — Sehr viel. Sie sind in näherer Beziehung zu denen, die leiden, als ich … und dieser Kontakt wird bei Fortschreiten Ihres Werkes noch größer werden. — 46
— Und …? — — Sie werden Fälle kennenlernen, in denen meine Hilfe von unberechenbarem Wert sein kann, Fälle, von denen ich normalerweise nichts höre … — — Und Sie wollen, daß ich Ihnen diese mitteile? — — Ja, das ist es —, entgegnete der andere. — Ich möchte mein Feld erweitern. Sie sind der geeignete Mann, der mir dabei helfen kann. — — Aber wie soll ich Ihnen denn diese Fälle mitteilen, wenn ich Ihre wirkliche Persönlichkeit nicht kenne und nicht weiß, wo ich Sie antreffen kann? — — Meine Persönlichkeit muß auch für Sie ein Geheimnis bleiben … wenigstens vorläufig. Ich glaube, wenn ich Sie darüber in Unkenntnis lasse, tue ich Ihnen damit einen Gefallen. Wenn nämlich einmal durch irgendeinen Umstand herauskommen sollte, daß Sie mit mir in Verbindung stehen, so können Sie, ohne meineidig zu werden, behaupten, daß Sie nicht die leiseste Ahnung hätten, wer ich sei. Es ist nicht mangelndes Vertrauen, was mich dazu veranlaßt. Ich bin sogar ganz gewiß, daß mein Geheimnis bei Ihnen sicher wäre., — — Wie also kann ich dann mit Ihnen in Verbindung treten? — — Ich bringe Ihnen das Mittel dazu mit —, antwortete der Kapuzenmann. Er bückte sich und hob einen Handkoffer auf, der bisher von dem Stuhle, auf dem er saß, verborgen gewesen war. Er setzte ihn auf die Knie und öffnete ihn. 47
— Das —, sagte er, — ist ein Sende- und Empfangsapparat. Er hat ein Mikrophon und einen Lautsprecher. Wenn Sie auf diesen Knopf drücken —, er deutete auf ihn, — wird alles das, was Sie vor dem Apparat sagen, gesendet. Vermittels dieses Apparates kann ich auch mit Ihnen sprechen … — — Aber —, meinte der Doktor, — was ich in den Apparat sage, kann auch von anderen gehört werden und … — — Nein. Dieser Apparat ist genau so konstruiert wie der Geheimsender im Kriegsfall. Alle Sendungen, die man mit ihm gibt, sind von einer Reihe von Tönen und Signalen unterbrochen. Man kann andere Apparate auf ihn einstellen, aber man wird dann nur Geräusche vernehmen. Nur ein einziger existiert, der diese Geräusche nicht aufnimmt und sie eliminiert, so daß man nur die Sendung hört, wie sie durchgegeben wird. Diesen einzigen Apparat besitze ich. Die beiden Apparate ergänzen sich. Ihrer kann nur die Sendungen aufnehmen, die von mir kommen, der meine nur die Ihren. Niemand kann unser Gespräch hören. Verstanden? — — Vollkommen. Ich habe schon von solchen Apparaten sprechen hören, aber zum ersten Male habe ich einen derartigen zu Gesicht bekommen. Sie müssen mir erklären, wie er funktioniert. — — Das ist sehr einfach. In einigen Minuten werden Sie es so gut können wie ich. Hören Sie … Er erklärte ihm eingehend alles, was über dieses Sende- und Empfangsgerät zu wissen war und endete dann; 48
— Wenn Sie mir etwas mitzuteilen haben, dann genügt es, daß Sie auf den Knopf drücken und sprechen. Das kann ein Wort oder auch ein Satz sein, das ist gleichgültig. Ein solches Wort oder ein solcher Satz wird dann von meinem Empfänger aufgenommen. — — Und wenn es sich um etwas Wichtiges handeln sollte und Sie sich nicht in der Nähe des Apparates befinden? Sie werden ja nicht dauernd neben ihm sitzen. — — Sie werden mich bestimmt niemals antreffen, wenn Sie mich anrufen. — — Und dann …? — — Das ist es ja gerade. Ich sagte Ihnen ja deshalb, Sie möchten irgendein beliebiges Wort oder einen Satz sprechen. Der Empfang dieses Wortes oder Satzes löst einen speziellen Mechanismus an meinem Apparat aus. Sie werden dann eine Stimme hören, die sagt: — Sie können schon sprechen. — Dann können Sie alles sagen, was Sie mir zu sagen haben. Ihre Worte werden dann auf ein magnetisches Band aufgenommen, und ich kann sie mir jederzeit abspielen lassen. Darüber brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen … Wie wichtig auch Ihre Nachricht sein mag, sie wird mich immer zur richtigen Zeit erreichen. Ich rechne da mit bestimmten Dingen, die zu erklären ich keine Zeit habe und die Sie auch nicht zu kennen brauchen. — Er schloß den Koffer, setzte ihn auf den Tisch und stand auf. 49
— Ich rechne damit, daß Sie mich benachrichtigen werden, sobald Sie einen Fall haben, von dem Sie glauben, daß ich ihn lösen kann. Auf Wiedersehen und vielen Dank im voraus, Doktor! — *
* *
5. Kapitel MILTON STUDIERT DEN FALL Als Doktor McKinley allein geblieben war, betrachtete er den Apparat mit kindlicher Freude. Ein Geheimnis wirkt ja auf die meisten von uns immer anziehend, und der Arzt war in diesem Falle keine Ausnahme von der Regel. Der Apparat erinnerte ihn nicht nur lebhaft an die rätselhafte Person, die ihn nun schon zum zweiten Male besucht hatte, sondern regte auch seine Einbildungskraft an. Als wäre er ein Junge von neun Jahren, träumte er von den phantastischsten Anwendungen dieses Apparates und nahm die Sache so ernst, daß er sich gleich an den Tisch setzte und überlegte, wo er ihn am besten aufstellen sollte, um den größt-möglichen Nutzen von ihm zu haben. Die Folge davon war, daß am nächsten Tage die Tischler kamen und seinen Schreibtisch nach seinen eigenen Anordnungen umbauten. Elektriker zogen 50
Kabel, ohne dabei zu wissen, welchem Zweck diese dienen sollten. Als diese Vorarbeiten fertig waren, benutzte McKinley die Stunden, in denen er ohne Zeugen arbeiten konnte, um den Apparat, den ihm der Kapuzenmann dagelassen hatte, in den Tisch einzubauen. Er selbst verband dann die Kabel mit dem Apparat, um ihn von verschiedenen Stellen aus bedienen zu können, damit er ihn jederzeit in Gang setzen konnte. In Wirklichkeit wußte er dabei nicht, wozu das alles dienen sollte. Vielleicht würde sich nie eine Gelegenheit bieten, ihn zu benutzen. In seiner Phantasie aber malte er sich die merkwürdigsten Situationen aus, die bestimmt niemals eintreten würden. Unterdessen führte der Kapuzenmann sein gewöhnliches Leben weiter und vertraute auf die Schritte, die er unternommen hatte, um neue Fälle zu finden, die seine Aufmerksamkeit verdienten. Trotzdem war es nicht Dr. McKinley, der ihm den ersten neuen Fall meldete, sondern sein Sekretär. William Garth, der kleine, schlanke, geschickte und starke Mann mit seinem lächelnden Gesicht und einem Gehabe, das dem des Multimillionärs in nichts nachstand, verdankte sein Leben und seine Stellung, wie unsere Leser schon wissen*, Milton Drake, und diese Schuld hatte er damit bezahlt, daß er auch seinem Chef das Leben rettete und sein treuester und enthusiastischster Mitarbeiter geworden war. Er war die einzige Person — wenn wir von der Roten *
*) Siehe „Rote Schlange" Nr. 6 „Das Gangsternest".
51
Schlange absehen —, die die wirkliche Persönlichkeit des Kapuzenmannes kannte, und er hatte schon unumstößliche Beweise dafür, daß das Geheimnis bei ihm in guter Hut war. Die beiden Männer hatten sich vom ersten Moment an so aneinander angeschlossen, daß aus Sekretär und Chef zwei wirkliche Freunde geworden waren. Bill Garth hätte jedenfalls ohne weiteres sein Leben für seinen Chef geopfert. Da er früher sein Leben auf schlechte Art und Weise gefristet hatte, kannte er alle Geheimnisse der Unterwelt und unterhielt, im Einvernehmen mit dem Multimillionär, diese seine Verbindungen in Verbrecherkreisen, denen er vor Jahresfrist noch angehörte. Dank dieser Verbindungen lösten sich viele Fälle leicht, die dem Kapuzenmann anderenfalls eine Menge Schwierigkeiten bereitet hätten, und Milton lernte außerdem eine Unmenge Dinge, wie Geldschränke und alle Arten Schlösser zu öffnen, Fertigkeiten, die ihm sein Sekretär beibrachte. Bill war berechtigt, seinen Chef zu jeder Tagesund Nachtstunde aufzusuchen, und er hatte auch die Erlaubnis, alle Räume zu betreten, die zum Teil für die Dienerschaft verboten waren. Deshalb erstaunte es Milton Drake nicht, als der kleine Mann jetzt nach einem diskreten Anklopfen in sein Zimmer trat. Er fragte Garth nicht einmal, was es gäbe. Er wußte, daß sein Sekretär nichts ohne Verstand tat und auch sofort, daß es sich um etwas Wichtiges handeln mußte, wenn er nicht wartete, bis sein Herr zu ihm kam. 52
Garth steckte seine Hand in die Tasche und zog eine Karte hervor, die er Drake überreichte. — Sehen Sie sich das an, Chef —, sagte er. Milton sah sie an. Es war die Fotografie eines Spielsaales. — Und? — fragte Milton. — Sie werden bemerken —, sagte Garth, — daß alle Köpfe verwischt sind mit Ausnahme von einem. — — Sehr richtig —, bemerkte der andere, — und das Gesicht, das ich darauf sehe, ist mir nicht ganz unbekannt. — — Ihnen nicht und vielen anderen Leuten auch nicht —, antwortete Garth. — Alle Kunden der Bank von Harrison und Peakman kennen es zum mindesten. — — Ah —, murmelte Milton, — jetzt komme ich darauf. Es ist der Kassierer. — — Ja. — — Schlechte Sache! Der Kassierer einer Bank in einem Spielsaal … Ich glaube, daß die Kontokorrentkunden nicht sehr erbaut waren, wenn sie davon wüßten. — — Und die Direktion auch nicht. — — Natürlich wird der Mann verloren haben und hat dann die Gelder der Bank angegriffen. — — Nein, das ist ja eben das Merkwürdige. Er hat keinen Cent verloren. — — Er wird schon noch verlieren. Es fängt immer so an. Und dann … — — Er wird nicht verlieren —, sagte Garth und 53
schüttelte verneinend den Kopf. — Er war nur einmal in diesem Haus, kehrte nicht zurück und wird auch nicht mehr zurückkehren. — — Erpressung? — — Bis zu einem gewissen Grade, aber nicht in der Form, in der Sie annehmen. — — Verdient er Hilfe? — — Ich komme in seinem Namen, um sie von Ihnen zu erbitten. — — Es wäre besser, wenn Sie mir die ganze Geschichte erzählen würden. — — Das wollte ich gerade tun, Chef. Sie gestatten? — Er ließ sich in einen Sessel fallen und begann: — Andrey Sealwood beging in seiner Jugend eine Dummheit. Er wollte einem Freund helfen, der eine Kanaille war. Es lohnt sich nicht, Einzelheiten zu erwähnen. Jedenfalls kam es so, daß man ihn eines Verbrechens beschuldigte und anklagte, das sein Freund begangen hatte und dieser überließ ihn seinem Schicksal. Alles, was die Familie tat, um Sealwood zu retten, war nutzlos, oder wenigstens zum Teil nutzlos. Man behandelte ihn mit einem gewissen Wohlwollen, aber drei Monate mußte er trotz allem im Kerker verbringen. — — Und …? — — Als er wieder in Freiheit gesetzt wurde, verschwand er aus seiner Heimatstadt und änderte seinen Namen. Sealwood ist natürlich nicht sein richtiger Name. Er begann ein neues Leben, er war fleißig und 54
arbeitsam und machte seinen Weg. Im Laufe der Jahre bekam er den Vertrauensposten, den er heute einnimmt. — — Fahren Sie fort. — — Eines Tages, es ist noch nicht lange her, wohnte er einem Bankett bei, von dem er zusammen mit einem Freund wegging. Er war ein wenig angeheitert und dazu aufgelegt, über die Stränge zu schlagen. Der Freund hatte davon erfahren, daß Sealwood noch niemals in einem Spielsaal gewesen war. Er schlug ihm vor, einen zu besuchen, in dem er bekannt war, so daß man die beiden eintreten ließ. — — Und Sealwood ging darauf ein? — — Im Anfang widerstand er der Verlockung. Obgleich er etwas angeheitert war, wie ich schon sagte, merkte er doch, daß es für ihn und seine Stellung ein Wagnis bedeutete. Wenn zum Beispiel ein Kunde der Bank in dem Spielsaal anwesend war, würde dieser die Direktion benachrichtigen und er seine Stellung verlieren. Auch bestand die Möglichkeit, daß die Polizei auf die Spielhölle aufmerksam geworden war und gerade in dieser Nacht eine Razzia machte. Dann würde es ihm nichts nützen, wenn er behauptete, daß er nur in den Spielsaal gegangen war, um einmal zu sehen, wie es darin aussah. Die Bank würde ihn hinauswerfen, und es würde sehr schwierig für ihn sein, noch einmal von vorn zu beginnen. — — Aber zum Schluß gab er nach? — — Ja, er wurde schwach —, sagte Garth. — Der Freund lachte über seine Angst und zog alle Register, 55
um ihn zu überreden. Er bekam es fertig. Sealwood ging in den Spielsaal und dazu noch am Arm eines Mädchens. — — Und während er zusah, machten sie die Fotografie von ihm? — — Ja, Sie machten sie, ohne daß er es merkte. — Milton sah die Karte von neuem an. — Wie ist das möglich? — fragte er endlich. — Die Fotografie wurde doch Ihrer Erzählung nach in der Nacht gemacht. Da muß man Blitzlicht verwendet haben. Und er guckt doch direkt ins Objektiv. — — Es war eine gut gestellte Falle. Der angebliche Freund hatte ihn verkauft. Der fotografische Apparat war in einer Nische verborgen und so gut wie unsichtbar. Als der Magnesiumblitz losging, wandten alle die Köpfe nach der Richtung, wo er herkam. Sealwood stand ganz vorn, wie Sie sehen. Sein Bildnis wurde ausgezeichnet. Die Gesichter der anderen Personen wurden auf dem Negativ verwischt, ehe man einen Abzug machte. — — Was tat Sealwood, als er erfuhr, daß man ihn fotografiert hatte? — — Ich sagte Ihnen schon, daß er es nicht merkte. Es war an alles gedacht worden. Kurz nachdem der Magnesiumblitz aufgeflammt war, verloschen alle Lichter und eine Stimme rief: „Ein Kurzschluß! Rufen Sie den Elektriker!'' Alle Leute, auch Sealwood, waren davon überzeugt, daß es sich wirklich um einen einfachen Kurzschluß handelte. — — Die Komödie lief gut vom Stapel. Eine Stimme 56
befahl den Anwesenden, sich nicht von der Stelle zu bewegen, denn in Kürze würde die Havarie behoben sein. Ein Mann kam, der wie ein Elektriker aussah. Er trat mit seinem Werkzeug in die Nische. Einer der Saalangestellten leuchtete ihm dabei, und der Mann arbeitete oder tat wenigstens so, als ob er arbeitete. Niemand war hinter die Wahrheit gekommen, denn keiner nahm natürlich an, daß es sich um etwas anderes gehandelt hätte, als um einen Kurzschluß. — — Der Plan war tatsächlich gut ausgedacht —, gab Milton zu. — Wann erfuhr Sealwood die Wahrheit? — — Am nächsten Tage. Aber vorher waren schon verschiedene Dinge geschehen. Das Verschwinden der Wertpapiere zum Beispiel. — — Welche Wertpapiere? — — Diejenigen, die ihm sein Chef ausgehändigt hatte. — — Sie haben mir nicht ein Wort davon gesagt, Bill. — — Sie haben recht. Ich habe die Sache nicht so gut erzählt, wie ich es eigentlich hätte tun können. — — Warum fangen Sie nicht von Anfang an? — — Das ist eine gute Idee. Hören Sie zu, Chef. — Und Bill Garth erzählte noch einmal ausführlich alles, was von dem Augenblick an geschehen war, als Sealwood das Haus Herrn Brightons verließ, bis zum nächsten Tage, als er den Besuch Shadworths erhielt. — Und Sealwood mußte nachgeben? — fragte Milton. — Natürlich, es blieb ihm nichts anderes übrig. Er 57
war in eine Falle geraten, aus der er keinen Ausweg sah.., im Augenblick wenigstens nicht. — — Kam er nicht darauf, daß die Fotografie überhaupt keinen Wert hatte, denn der geheimnisvolle Chef würde niemals wagen, sie vorzuweisen? Er müßte dann nämlich sagen, in welchem Spielsaal dieses Bild gemacht war und wenn es dann auf die Polizei kam, war es für die Besitzer des Spielklubs ebenso kompromittierend wie für Sealwood. — — Oh, der Chef wußte genau, daß es Sealwood nicht darauf ankommen lassen würde. Aber trotzdem fiel Sealwood dieser Ausweg ein, als Shadworth ihn am Abend aufsuchte und er sagte es ihm. — — Und was entgegnete er? — — Das was er immer zu entgegnen pflegte: der Chef hatte bereits alles vorhergesehen. Wenn man ihn dazu zwang, die Fotografie vorzuzeigen, dann hatte er einen genau gleichen Spielsaal in einem der unbewohnten Häuser in der Vorstadt zur Verfügung, der dem von Colletti glich. Wenn die Polizei hinkam, würde sie die Tische finden, aber nicht einen einzigen Spieler. Und die Behörden würden nicht eine einzige Sache finden, die sie auf Colletti hinweisen würde. — — Sealwood gab nach, aber sein Besucher begnügte sich nicht damit. Er wollte ihn noch mehr in seiner Gewalt haben und ließ ihn einen Brief schreiben, in dem er sich verpflichtete, die Banknoten zu wechseln, die man ihm einreichte. Heute hat diese Bande zahlreiche Beweise gegen Sealwood in der Hand. — — Und Brand? Hat er ihn wiedergesehen? — 58
— Nein. Aber der Mann beunruhigte ihn. Er glaubte, den Bankdirektor vor ihm warnen zu müssen, aber er wußte nicht, wie er es tun sollte, ohne die ganze Wahrheit zu erzählen. — — Was tat er denn nun? — — Am folgenden Morgen, als er sich mit Brighton traf, bat er ihn, ihm die Adresse Brands zu geben, da er sich mit ihm angefreundet hätte und ihn gern wiedersehen möchte. Leider hatten sie sich so schnell voneinander verabschiedet, daß er vergessen hatte, ihn nach seiner Anschrift zu fragen. Er bat den Direktor, ihm doch die Adresse zu geben … vorausgesetzt, daß es sich um eine Vertrauensperson handele, denn ein Kassierer muß mit seinen Freundschaften natürlich sehr wählerisch umgehen. — — Und was antwortete ihm der Direktor? — — Daß Brand in New York lebte und er in Wirklichkeit eigentlich sehr wenig von ihm wüßte. Er hatte ihn eines Sommers in Miami kennengelernt. Er war ein Mensch von angenehmem Umgang und schien in Finanzdingen sehr erfahren. Er hatte ihm viele Aufmerksamkeiten erwiesen, so daß er Brand sein Haus anbot und ihn bat, ihn zu besuchen, wenn ihn der Weg einmal nach Baltimore führte. Brand vergaß die Einladung nicht, und jedesmal, wenn ihn Geschäfte nach Baltimore riefen, besuchte er Brighton. Er blieb nie länger als ein paar Tage. — — Das Bankett, dem Sealwood beiwohnte, war eines dieser Art, das Brighton jährlich seinen höchsten Angestellten und denen seiner Filialen gab. Das Da59
tum stimmte diesmal mit der Ankunft Brands überein und Brighton wollte es deswegen nicht verlegen. Scheinbar fuhr Brand am nächsten Tage wieder nach New York zurück. — — Das war alles, was Brighton ihm sagen konnte, und Sealwood wagte nicht, auf der Adresse zu bestehen oder irgendwelche Warnungen laut werden zu lassen, die er nicht stichhaltig erklären konnte. — — Wie hieß Sealwood früher? — — Bradon. — — Welche Beweise hat die Bande gegen ihn in der Hand? Ich meine konkrete Beweise, Dokumente. — — Einen Zeitungsausschnitt, ungefähr fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, in dem man von dem Falle Bradon spricht. Außerdem das Negativ dieser Fotografie und den Brief, den Sealwood unterzeichnete. — — Hm! Das Negativ und den Brief kann man zerstören. Aber die Zeitungsausschnitte kaum, denn man kann neue erhalten. Und wo lebte Bradon? — — In Kansas City, Missouri. — — Wie haben Sie das alles herausgefunden, Garth? — — Durch eine dritte Person, einen meiner Freunde, zu denen Sealwood genügendes Vertrauen hatte, um mit ihm offen darüber zu sprechen. Der Mann ist ganz verzweifelt. Er ist kein Verbrecher und möchte keiner sein. Wenn es nicht seiner Frau wegen wäre, dann hätte er der Bande widerstanden. Aber auch so wird er es vielleicht eines Tages tun, wenn er keine andere Lösung findet. — 60
— Haben Sie die Adresse von Brand in New York? — — Hier ist sie, — antwortete der kleine Mann und reichte ihm eine Karte. — Danke, Bill. Lassen Sie mich jetzt nachdenken. Ich verspreche nichts, weil ich im Augenblick noch keinen klaren Weg sehe. Aber ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht. — Garth erhob sich. — Wünschen Sie noch etwas von mir, Chef? — — Nichts, Bill. Ich werde Sie rufen lassen, wenn ich Sie brauche. — Der kleine Mann ging weg und Milton Drake blieb im Sessel sitzen und dachte nach. Er hatte einen Fall gesucht, um ein begangenes Unrecht wieder gut zu machen, aber nun, da er einen gefunden hatte, wußte er nicht, wie er es beginnen sollte. *
* *
6. Kapitel MILTON SPIELT ROULETTE In den ersten Nachmittagsstunden ließ Milton seinen Sekretär rufen. — Bill —, sagte er zu ihm, — ich habe darüber nachgedacht. — — Jawohl, Chef. — 61
— Aber ich weiß noch nicht, wie ich den Fall lösen soll, den Sie mir vorgeschlagen haben. — — Das ist böse, Chef. — — Trotzdem brauche ich Sie. Ich möchte heute abend das Terrain erforschen und dabei können Sie mir helfen. — — Bitte verfügen Sie über mich, Chef. — — Zuerst bitte ich Sie, mir diesen Brand so genau als möglich zu beschreiben. Wurde Ihnen gesagt, wie er aus- sah? — — Man gab mir eine ungefähre Beschreibung. Ich bat darum, falls Sie sie haben wollten. Sein Aussehen ist ziemlich gewöhnlich. Er ist zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt und würde in einer Menge kaum auffallen … wenn er nicht ein einziges Zeichen hätte, das ihn kenntlich macht. — — Was für ein Zeichen ist das? — — Eine Narbe über der linken Augenbraue. Sie scheint nicht sehr groß zu sein, und der Teil, der nicht vom Haar bedeckt ist, hat eine schwarzblaue Färbung. — — Das ist schon etwas. Vielleicht dient es uns. Sie sagten, daß Bradon vor fünfzehn Jahren in Kansas City vor Gericht gestellt und verurteilt wurde… Können Sie das Datum nicht genauer angeben? — — Nein, Chef, aber ich könnte danach fragen. — — Im Augenblick ist das nicht notwendig. Vielleicht brauchen wir das Datum überhaupt nicht. Doch sollte es notwendig sein, werde ich es Ihnen sagen. — — Schön. — 62
Eine Weile herrschte Schweigen. — Bill —, sagte der Multimillionär plötzlich, — ich möchte gern, daß Sie etwas herauszubekommen suchen. — — Worum handelt es sich, Chef? — — Ich möchte wissen, wer Colletti ist und alles, was sich auf ihn bezieht. Brand hätte die Falle nicht so gut vorbereiten können, wenn der Besitzer des Spielsaales nicht mit ihm im Bunde gewesen wäre. Verstehen Sie? Deshalb muß man hier mit der Untersuchung beginnen. — — Ich werde es probieren, Chef. Haben Sie sonst noch etwas für mich? — — Im Augenblick nicht. Heute nacht werde ich das Restaurant besuchen. Wir werden uns also wahrscheinlich bis morgen früh nicht sehen. Sehen Sie zu, daß Sie bis dahin irgend etwas herausbekommen. Ich erwarte Ihren Bericht morgen mittag um zwölf. — — Ich hoffe, bis dahin etwas zu wissen. —. Der kleine Mann zog sich zurück. Drake blieb einige Augenblicke nachdenklich zurück, dann nahm er den Telefonhörer ab und verlangte eine Verbindung nach New York. Es war schon spät, als er sie erhielt. Er sprach mit seinem Agenten in New York und gab ihm die Adresse und eine ungefähre Beschreibung von Brand. — — Es ist notwendig —, sagte er,— daß dieser Mann bewacht wird. Man darf ihn nicht einen Augenblick aus den Augen verlieren und muß mich über alles auf dem laufenden halten, was er tut. Ich möchte 63
alles über ihn wissen, was sich überhaupt erfahren läßt. Haben Sie verstanden? — — Vollkommen —, lautete die Antwort. — — Weiter nichts. Morgen nachmittag hoffe ich einen telefonischen Anruf von Ihnen zu erhalten. Wenn Sie mir aber etwas Wichtiges mitzuteilen haben, dann tun Sie es bitte früher. — Er verabschiedete sich von seinem Agenten und hängte den Hörer auf. Dann hob er ihn wieder ab und bat um eine Verbindung mit Kansas City. Diesmal bekam er das Gespräch schneller. — Ich wünsche —, sagte er zu seinem Gesprächspartner, — einige Daten. Vor fünfzehn oder sechzehn Jahren, wie ich glaube, sprach man in Ihrer Stadt viel von einem Diebstahl, nicht wegen der Höhe, die scheinbar nur unbedeutend war, sondern wegen der Person, die ihn ausführte. Das genaue Datum kenne ich nicht. Aber wenn Sie in den Zeitungsarchiven nachsehen, werden Sie sicher etwas darüber finden. — — Wie hieß der Schuldige? — fragte die Stimme. — Bradon, Melville Bradon, wenn ich mich nicht täusche. Wenn Sie … — — Einen Augenblick —, unterbrach ihn die Stimme. — Das ist viel einfacher, als Sie glauben. Vor einem Jahr hat man wieder von dieser Angelegenheit gesprochen. — — Man hat wieder davon gesprochen? — rief Milton überrascht aus. — Aus welchem Grunde? Ist etwas vorgefallen, was ein neues Licht auf diese Angelegenheit wirft? — 64
— Ja, und ob! Wissen Sie, wo Bradon sich im Augenblick befindet? — — Warum fragen Sie danach? — — Weil man ihn sucht. Man hat schon angefangen zu glauben, daß er tot ist, da er kein Lebenszeichen von sich gibt. — — Warum sucht man ihn denn? — — Man will ihm eine gute Nachricht zukommen lassen. Ich weiß nicht, ob Sie seinen Fall gut kennen …— — Nur oberflächlich. — — Er behauptete immer, unschuldig zu sein, aber das nützte ihm nichts. Man interessierte sich sehr für seinen Fall und die Familie besorgte ihm den besten Rechtsanwalt. Dieser aber konnte nicht viel für ihn tun, da Melville selbst nicht so mit ihm ging, wie er es hätte tun können. Vor einem Jahr ungefähr wurde hier ein Mann festgenommen, der des Mordes angeklagt war. Man wußte später, daß er früher ein Freund Bradons war. Man verurteilte ihn zum Tode. Und bevor er starb, entlastete er sein Gewissen. Er gestand, daß er damals der eigentliche Dieb war und Bradon also unschuldig gewesen sei. Aber er hatte alle Indizien so geschickt auf Bradon abgestellt, daß dieser verurteilt werden mußte. Die Zeitungen von Kansas brachten diese Nachricht in großer Aufmachung auf der ersten Seite, und die Behörden von Kansas suchen ihn, um ihn öffentlich zu rehabilitieren. Außerdem wird man ihm auch bestimmt eine größere Entschädigungssumme dafür 65
zahlen, daß er ungerechter Weise drei Monate im Gefängnis verbrachte. Wenn Sie wissen, wo er sich aufhält, bringen Sie ihm alles zur Kenntnis. Es wird eine große Freude für ihn sein, daß nach so vielen Jahren seine Unschuld endlich doch ans Tageslicht gekommen ist. — — Ich werde es tun. Inzwischen bitte ich Sie, mir alle Zeitungen von vor fünfzehn Jahren zu besorgen und auch die, in denen man ihm jetzt Gerechtigkeit widerfahren läßt. Schicken Sie mir alles per Flugpost und so schnell wie möglich. — Er hängte den Hörer auf. Eins der schwierigsten Probleme hatte sich von allein gelöst. Jetzt blieben noch zwei, die er klären mußte, damit Sealwood wieder frei atmen konnte: die Geschichte mit der Fotografie und dem Brief, den man ihn zu schreiben gezwungen hatte. Nachdem die Gespräche zu Ende waren, rief Milton seinen Mayordomo und teilte ihm mit, daß er heute nicht im Hause das Abendessen einnehmen würde. Dann zog er sich den Frack an, holte seinen Wagen aus der Garage und fuhr zu Colletti. Wie immer war das Restaurant sehr besucht. Es gab nur wenige freie Tische, aber Milton Drake war zu bekannt und zu reich, als daß er nicht immer einen freien Platz für sich gefunden hätte. Er bat um die Speisekarte und wählte sorgfältig seine Speisen und Getränke aus. Er mochte schon eine Viertelstunde da sein, als plötzlich ein Mann an seinem Tische stehen blieb und sagte: 66
— Halloh, Milton! Du bist hier! — Der Multimillionär hob den Kopf. — Halloh, Charley! — antwortete er, — setz' dich! — — Ich sitze da drüben, am anderen Ende, mit ein paar Freunden. Ich sah dich von weitem. Aber es war notwendig, dich von der Nähe zu sehen, um glauben zu können, daß du es seist. Denn ich habe dich hier in der letzten Zeit nie angetroffen … und sehr selten an einem anderen Platz wie diesem hier. — — Und trotzdem besuche ich sie öfter, als du glaubst —, antwortete Milton. — Wenn ich auch meist nur kurze Zeit bleibe. Heute aber mache ich eine Ausnahme. Ich langweilte mich wie eine Auster. Ich bin hierhergekommen, um mich ein wenig zu zerstreuen, obgleich ich bezweifle, daß es mir gelingen wird. — — Komm' mit an meinen Tisch —, lud ihn der andere ein. — Du kennst ja schon die Leute, die bei mir sind: Johnny Price, Leslie Cotter und Peter Sully… sie sind alle sehr lustig und werden dir schon deine Langeweile vertreiben. — — Du bist nicht mein Freund, Charley —, sagte Milton mit gespieltem Ernst zu dem anderen. — Ich bin hierhergekommen, um der Gesellschaft, die mich langweilt, zu entfliehen, und du willst mich wieder in Gesellschaft schleppen. Die Lustigkeit dieser Jungen wirkt nicht ansteckend, wenigstens nicht auf mich. — — Wie willst du dir denn dann die Zeit vertreiben? — fragte der sogenannte Charley und ließ sich in einen Sessel fallen. 67
— Wenn ich es wüßte, dann würde ich dich nicht um Rat tragen. Ich dachte, daß die Variete-Nummern mich ein wenig amüsieren würden, aber jetzt bin ich davon überzeugt, daß ich mir umsonst Illusionen machte, Aber … ja, vielleicht ist etwas Wahres daran, ich hörte gerüchtweise, daß hier gespielt wird. Stimmt das? — Charley lachte. — Du bist vielleicht der einzige in ganz Baltimore, der das nicht weiß —, antwortete er. — Natürlich spielt man hier, und manchmal sogar sehr hoch. In diesem Spielsaal gibt es keinen Höchstsatz. Hast du dich jetzt darauf verlegt, dein Geld zu verspielen? — — Ich weiß es eigentlich nicht, aber vielleicht ist es das einzige, was mich ein bißchen aus meiner Lethargie aufrüttelt. Sehr viele Leute finden großen Anreiz am Spiel. Ich weiß nicht, ob es mir auch so gehen wird … bisher ist es jedenfalls nicht so gewesen. Aber sei es wie es sei, ich will es versuchen. Wer führt mich aber ein? Du vielleicht? Ich nehme an, daß man nicht jeden so einfach in den Spielsaal hinein läßt. — — Es gibt keinen Spielsaal, der besser geschützt wäre, als dieser hier. Man hat alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, um dem Unternehmen und seinen Kunden Überraschungen zu ersparen. Das bedingt natürlich, daß man nicht jeden hineinläßt, der Lust dazu hat. Bei dir ist das etwas anderes. Wenn du willst, stelle ich dich vor, obgleich du es nicht notwendig hast, daß ich dich besonders einführe. Du bist 68
ohnedies bekannt. Kein Spielsaal wird einem Milton Drake den Eintritt verweigern. Die Millionäre sind sehr beliebt, denn sie lassen am meisten Haare. Ich bin fest überzeugt, daß man schon im ganzen Hause weiß, daß du hier bist. Und alle die Künstlerinnen hier, die in Wirklichkeit nichts anderes sind als Köder des Unternehmens, sind schon bereit, sich auf dich zu stürzen. Wahrscheinlich aber hat man es ihnen verboten, bis du mit dem Essen fertig bist. Aber wenn man dir den Nachtisch serviert, wirst du bereits Gesellschaft haben. Und du wirst sehen, wie sie dir vorschlagen werden, dein Glück zu versuchen und dich dann auf die Schlachtbank schleppen. — — Ich werde mich sehr gern dorthin bringen lassen —, antwortete Milton, — und da du dessen so sicher bist, will ich dich gern von der Verantwortung entbinden, mich vorzustellen. Ich will dir die Nacht nicht verderben, wenn du dich so gut amüsierst. — Charley hatte sich in seinen Vorhersagen nicht getäuscht. Kaum wurde der Nachtisch für den Multimillionär aufgetragen, da bat eine junge Künstlerin um die Erlaubnis, an seinem Tisch Platz nehmen zu dürfen unter dem Vorwand, daß alle anderen Plätze besetzt seien. Als zwischen den Variete-Nummern Tänze für das Publikum eingelegt wurden, bat Milton seine aufgezwungene Begleiterin um einen Tanz. Nach wenigen Minuten sprachen die beiden miteinander, als kennten sie sich schon das ganze Leben, und eine halbe Stunde später äußerte das junge Mädchen den Wunsch, ihr Glück im Spielsaal zu probieren. 69
— Ich habe ein todsicheres System —, sagte sie. Als sie das Lächeln Miltons sah, fügte sie hinzu: — Das heißt … fast todsicher. Meistens gewinne ich damit, und ich bin überzeugt, daß heute mein Glückstag ist. Du wirst mich entschuldigen, nicht wahr, oder willst du mit mir hinaufkommen? — — Ich würde es ganz gern tun —, antwortete Milton, — aber glaubst du, daß man mich hineinlassen wird? —
70
— Dir verbietet man nirgends den Eintritt —, antwortete sie, — und wenn du mit mir gehst, erst recht nicht. Und wenn du erst einmal dagewesen bist, kannst du immer wiederkommen, wann du willst. — Milton verlangte die Rechnung und erhob sich. — Das Traurige wäre nur —, murmelte er, — wenn gerade in dieser Nacht eine Razzia stattfände. Es würde mir nicht gefallen, von der Polizei in einem Spielsaal überrascht zu werden. — — Hier ist es ganz unmöglich, daß sie dich überrascht. Alles ist vorher bedacht. — Sie gingen jetzt auf die Treppe zu, und Milton betrachtete neugierig den Mann, der in der Nähe davon an einem Tisch saß. Er begriff, was dieser zu tun hatte, auch ohne daß das Mädchen ihm eine Erklärung gegeben hätte. Niemand verlegte ihnen den Weg, und sie gelangten ohne jede Schwierigkeit in den Spielsaal, der ebenfalls ziemlich besucht war. — Das ist noch gar nichts —, sagte das Mädchen. Es ist noch zu früh. Von Mitternacht an ist erst der richtige Betrieb, und gegen drei Uhr ist es so voll, daß man sich kaum bewegen kann. — Milton sah sich neugierig um. Der Saal war sehr elegant. Genau in der Mitte stand ein großer Tisch, weiter drüben stand ein anderer quer, so daß die beiden eine Art ,T' bildeten. Der Tisch in der Mitte war für Trente et Quarante. Der Querbalken vom ,T' war das Roulette. Natürlich waren die beiden Tische nicht aneinandergelehnt. 71
Etwas bemerkte der Multimillionär sofort: die gepolsterten Stühle, auf denen die Croupiers und die Kunden saßen, glichen eher dem eines Speiseals eines Spielsaals. In der Wand, im Hintergrund, in der Nähe des Roulette-Tisches, sah er auch eine geschlossene Nische, die als Telefon-Kabine diente, und wo sich nach dem Bericht Garths der angebliche Kurzschluß ereignet hatte. An einem Ende des Tisches, direkt an der Wand, so daß man an dieser Seite nicht vorbei konnte, befand sich ein kleines Podium mit einem Flügel: ein vollkommen überflüssiges Möbel, das eher störte, als sonst einen Zweck zu erfüllen schien. Etwas weiter befand sich eine Tür, die in einen kleinen Raum führte. Er bemerkte, daß es der Raum war, in dem man die Spielmarken einwechselte. In der Nähe davon sah er einen Gang, auf den verschiedene Türen mündeten. — Ich gehe ans Roulette —, sagte das Mädchen, — was ziehst du vor? — — Ich weiß es nicht, aber vielleicht ist das Roulette das Anziehendste, gehen wir also hin. — Sie näherten sich dem Tisch. Milton warf eine Hundert-Dollar-Note auf den Tisch und bat um Spielmarken. Er hatte sich auf die rechte Seite des Tisches gestellt. Der Croupier zog die Note mit dem Rechen ein und ließ sie durch einen der Schlitze gleiten, die vor ihm im Tisch waren. Dann gab er dem Multimillionär die hundert Dollar in Spielmarken. 72
Dieser teilte fünfzig Dollar davon ab und gab sie dem Mädchen, das ihn begleitet hatte. — Nimm —, sagte er, — und spiele für deine Rechnung. Vielleicht bringen wir uns gegenseitig Glück. — Vorsichtig begann Milton zu spielen. Er schien ganz in das Spiel vertieft zu studieren, welche Nummern herauskamen. In Wirklichkeit aber beobachtete er die Spieler und die Croupiers. Trotz seiner Vorsicht verschwanden die fünfzig Dollar, die er behalten hatte, im Handumdrehen. Er wechselte wieder hundert Dollar und spielte im Augenblick nur auf Farbe. Das Mädchen dagegen hatte mehr Glück gehabt. Nachdem es zehn oder zwölf Dollar verloren hatte, begann es zu gewinnen, und als Milton das zweite Billet wechselte, hatte es schon über hundert Dollar in Spielmarken. Dank dessen schien es seinen Begleiter im Augenblick vollkommen vergessen zu haben. Die zweite Banknote ging nicht so schnell verloren wie die erste. Milton gewann mehrmals, dann verlor er wieder und gewann von neuem. Wie das Mädchen gesagt hatte, wurde es im Saal immer lebhafter, je weiter die Zeit vorrückte. So gegen ein Uhr nachts trafen die richtigen Spieler ein. Die Einsätze stiegen jetzt bedeutend. Ein Mann wechselte eine Note von tausend Dollar und ließ sich dafür zehn Spielmarken zu je hundert Dollar aushändigen. Neun davon setzte er auf volle Nummern und verlor sie alle. Er wechselte zehn neue und verspielte wiederum neun davon auf dieselbe Weise. Zum dritten Mal wechselte er zehn und verlor sechs davon, die sie73
bente gewann und brachte ihm sechsunddreißig Spielmarken zu hundert Dollar ein. Dann verlor er wieder alle hintereinander und noch drei dazu, so daß ihm von den dritten zehn Spielmarken wiederum nur eine übrig blieb. Jetzt schien er für diese Nacht genug verloren zu haben. Er ging an die Kasse, wechselte die drei ihm verbliebenen Spielmarken und verließ den Saal. Auch Milton verlor alle seine Spielmarken. — Wie geht's dir mit dem Spiel? — fragte er das Mädchen, das ihn begleitete. — Ich habe bis jetzt zweihundertfünfzig Dollar gewonnen, und du? — — Ich habe für diese Nacht alles verloren, was ich im Roulette zu verlieren gedachte. Ich will jetzt einmal an dem Trente-et-Quarante-Tisch mein Glück versuchen. — — Du wirst entschuldigen, daß ich dich nicht begleite, nicht wahr? — fragte das junge Mädchen ängstlich. — Ich habe heute nacht Glück und möchte die Serie gern ausnutzen. — — Mach dir keine Sorgen deswegen. Du kannst spielen, wie du willst. Ich werde doch bald weggehen —, antwortete der Multimillionär. Er wechselte den Tisch. Bei Trente et Quarante spielte man jetzt sehr hoch. Es gab ein paar Spieler, die sich vorgenommen zu haben schienen, die Bank zu sprengen. Milton beobachtete sie, während er weitere zweihundert Dollar verlor. Als er keine Spielmarken mehr hatte, ging er 74
zur Garderobe hinunter, stieg in seinen Wagen und fuhr nach Hause. Er hatte sich die Nacht nicht umsonst um die Ohren geschlagen. Er mußte sich schon sehr täuschen, wenn er nicht eine wichtige Entdeckung gemacht hatte. In der nächsten Nacht würde er das feststellen können. *
* *
7. Kapitel DER STURM AUF DEN SPIELSAAL Milton mußte sich um elf Uhr morgens erheben, um einen telefonischen Anruf entgegen zu nehmen. Man verlangte ihn aus New York. Die Nachricht, die er von dort erhielt, war nicht gerade sehr gut. Brand wohnte nicht an der Adresse, die auf seiner Visitenkarte angegeben war. Nicht unter dem Namen Brand und auch nicht unter einem anderen. Zumindesten wohnte dort kein Mann, auf den seine Beschreibung gepaßt, oder der die entsprechende Narbe gehabt hätte. Der New Yorker Agent hatte alles getan, um die Wohnung dieses Mannes herauszufinden, aber alle seine Mühen waren bisher vergeblich. Der Multimillionär bedankte sich und hängte den Hörer wieder auf, nachdem er seinem Agenten empfohlen hatte, scharf Umschau zu halten und ihn sofort anzurufen, sobald er etwas entdeckt hätte. Er 75
hatte zwar keine Hoffnung, daß es ihm gelingen würde. Shadworth hatte Sealwood also nicht getäuscht, als er ihm sagte, daß der Chef stets alles vorhersähe. Er nahm ein Bad, kleidete sich an und bestellte ein leichtes Frühstück. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Rückkehr Garths zu warten, in der Hoffnung, daß dieser vielleicht etwas entdeckt hatte. Zwölf Uhr war schon vorbei, aber er war immer noch nicht gekommen. Um eins erhielt er eine Nachricht von Garth, daß er ihn vor vier Uhr auf keinen Fall erwarten sollte. Und dann wurde es fünf, bis er eintraf. Milton fragte ihn, ob er bereits gegessen hätte. — Genügend, um bis zum Abendbrot auszuhalten, Chef —, antwortete der kleine Mann. — Bringen Sie Nachrichten? — — Einige. — — Gehen wir in die Bibliothek und sagen Sie Jennings, er soll uns etwas zu trinken bringen. — Einige Augenblicke später saßen sie in tiefen Sesseln und tranken einen Cocktail. — Haben Sie etwas über Colletti herausbekommen? — fragte Milton. — Colletti —, antwortete Garth, — existiert nicht. — — Er existiert nicht? — — Haben Sie ihn einmal gesehen? Hat man Ihnen je von ihm gesprochen? Kennen Sie jemanden, der ihn gesehen hat? — — Nein, aber… — 76
— Es handelt sich —, erklärte der Sekretär, — um einen simplen Firmennamen. Colletti ist eine Aktiengesellschaft. — — Haben Sie herausbekommen können, wer die Aktieninhaber sind? — — Ich bin auf dem Registeramt gewesen. Colletti gehört der Firma Babbington Inc., welche in verschiedenen Städten des Kontinents ähnliche Unternehmen wie Colletti besitzt. Ich bringe Ihnen hier eine vollständige Liste davon mit. — — Und wer sind die Teilhaber von Babbington Inc.? — — Es scheint nur einen einzigen zu geben… der gleichzeitig leitender Direktor ist. — — Wer ist es? — — Brand. — Milton stieß einen leisen Pfiff aus. — Und wo befindet sich das Büro dieses Hauses? — — Auf dem Franklin-Platz. — — Dann lebt also Brand in Baltimore? — Garth zuckte mit den Schultern. — Wer weiß das? — antwortete er. — Zuerst als die Gesellschaft gegründet wurde, gab er als seine Adresse die in New York an, die Sie ja kennen. — — Diese Adresse stimmt nicht. Dort kennt ihn niemand, weder nach der Beschreibung noch nach seinem Namen. — — Das war eigentlich anzunehmen —, meinte Garth. — Wenn er weiß, was wir von ihm wissen, dann ist es nicht verwunderlich, daß er alle Vorkeh77
rungen getroffen hat, daß man ihn nicht auffinden kann, wenn es ihm nicht gefällt. — — Haben Sie das Büro am Franklin Platz besucht? — Der kleine Mann nickte bejahend mit dem Kopfe. — Ich habe Nachforschungen angestellt. Das Büro besteht nur aus zwei kleinen Zimmern, die in einem Geschäftshaus gemietet sind. Niemand ist dort, es scheint überhaupt nie jemand dorthin zu kommen. Es ist nur eine Art Aushängeschild. Ab und zu scheint jemand dort Post abzuholen, aber nur sehr selten. — — Haben Sie noch etwas entdeckt? — — Nichts weiter. Da das Büro mehr oder weniger verlassen schien, entschloß ich mich einzudringen und es eingehend zu durchsuchen. — — Fanden Sie etwas, das uns helfen kann? — — Nicht das geringste, denn es gab nichts, kaum ein paar Möbel. — Milton schwieg einen Augenblick. Dann fragte er: — Haben Sie herausbekommen können, um welche Stunde dort die Post abgeholt wird? — — Bis jetzt ist das immer am Morgen geschehen. — — In diesem Falle können wir nichts anderes tun, als jeden Vormittag zu warten, bis jemand dorthin kommt. Machen Sie das, und wenn jemand kommt, dann folgen Sie ihm. Ich glaube nicht, daß Sie weitere Instruktionen von mir brauchen. Sie wissen schon, was mich interessiert. — — Gut, Chef, und was soll ich sonst noch tun? — 78
— Für den Augenblick sehe ich keine andere Beschäftigung für Sie. — Er stand auf. — Ich will nachdenken —, sagte er. — Sealwood zu helfen wird nicht so ganz einfach sein, wie es im Anfang aussah. — Garth faßte das als Verabschiedung auf und zog sich zurück. Aber nach kurzer Zeit ließ Milton ihn wieder rufen. — Bill —, fragte er, — welche Möglichkeit gibt es, der Polizei einen Wink zu geben, ohne daß die Sache auffällt? — — Ich glaube nicht, daß das sehr schwierig sein dürfte —, meinte der kleine Mann. — Schön, dann sollen Sie das übernehmen. Es ist notwendig, daß der Spielsaal von Colletti diese Nacht überholt wird. — — Es ist nicht das erstemal, daß man das getan hat, aber man hat nie etwas gefunden. — — Und ich nehme an, daß es diese Nacht genau so sein wird. Aber das ist gleichgültig. Ich möchte, daß man es heute tut, besser gesagt in der Frühe. Die Polizei darf nicht vor vier Uhr erscheinen, verstanden? — — Vollkommen. — — Wie gedenken Sie das zu machen? — — Ich werde ihr den Wink nicht vor einhalb vier Uhr geben. Auch wenn sich die Polizei noch so beeilt, wird sie nicht vor vier Uhr dort sein können, falls sie es überhaupt tut. — 79
— Was soll das heißen? — — Ganz einfach, weil, wie schon gesagt, die Polizei bereits verschiedene Razzien vergeblich auf diesen Spielsaal gemacht hat. Vielleicht wollen sie es nicht noch einmal versuchen. — — Probieren Sie es auf jeden Fall. — — Ich werde mein möglichstes tun. — Milton ging an diesem Abend nicht vor Mitternacht zu Colletti. Als er hinkam, war der Saal fast voll. Er beobachtete die Spieler, die am höchsten spielten. Zwei von ihnen spielten genau wie am vergangenen Abend, das heißt, sie verspielten alle Spielmarken mit Ausnahme einer und wechselten dann neue ein. Dabei spielten sie so dumm und verrückt, daß kein Zweifel darüber bestand, daß sie alles verlieren mußten. Auch etwas anderes bemerkte er wieder, was ihm schon in der vorigen Nacht aufgefallen war. Wenn die beiden Leute dem Croupier eine Banknote überreichten, dann steckte er sie in den rechten Schlitz vor sich, während alle anderen Banknoten in den linken Schlitz gesteckt wurden. Wie gesagt, er hatte das schon in der vorigen Nacht bemerkt, aber er war noch nicht ganz sicher darüber, ob das mit der Höhe der Banknoten zusammenhing. Er machte die Probe, indem er gleichfalls einen Tausender wechselte, aber auch dieser wanderte in den linken Schlitz wie die Hunderter. Einen Augenblick später wurden die beiden Stahlkassetten, da sie voll zu sein schienen, hervorgezogen. Jede von ihnen hatte oben einen Schlitz, der mit 80
dem auf dem Tisch übereinstimmte. Die linke Stahlkassette war rot angestrichen, die rechte schwarz. Warum machte man diesen Unterschied? War es nur ein Schmuck? Oder verfolgte man damit einen bestimmten Zweck. Das Merkwürdigste dabei war, daß ein Angestellter zwei neue Kassetten brachte, die an die Stelle der alten gerückt wurden und zwar wieder eine rote links und eine schwarze rechts. Er beobachtete genau und stellte fest, daß jedesmal, wenn eine Banknote in den linken Schlitz gesteckt wurde, sich unter den überreichten Spielmarken stets eine befand, die genau so wie die anderen auszusehen schien, aber aus einem anderen Haufen genommen wurde. Er stellte sich dicht hinter einen der Spieler und versuchte die Marken zu sehen. Er konnte es aber nicht mit der nötigen Aufmerksamkeit tun, um keinen Verdacht zu erregen. Doch glaubte er zu bemerken, daß diese Spielmarken irgendein Zeichen hatten, das auf den anderen nicht vorhanden war. Es fehlte ihm nur noch eine Einzelheit, um festzustellen, daß die Theorie, die er sich gebildet hatte, richtig war und versuchte sie nun herauszubekommen. Als einer der verdächtigen Spieler sich zurückzog, nahm Milton die Spielmarken, die ihm noch verblieben und schlenderte langsam hinter ihm zur Kasse. Er sah, wie der Mann, für die fünf oder sechs Spielmarken, die er abgab, ein dickes Bündel Banknoten erhielt, die in gar keinem Verhältnis zu dem Wert der Marken standen. Er wartete, bis er an die Reihe kam, wechselte sei81
ne Marken ein und begab sich zum Restaurant hinunter, um sich etwas zu essen zu bestellen. Er wußte jetzt genau, was vor sich ging. Dabei bewunderte er den Geist des Mannes, der sich eine solche Sache ausgedacht hatte. Die Möglichkeiten, die der Spielsaal von Colletti den Übeltätern bot, mußten in der ganzen Unterwelt bekannt sein. Wer gestohlene Banknoten besaß, deren Nummernverzeichnis er im Besitz der Polizei glaubte, brauchte nur in den Spielsaal zu gehen, dem Croupier ein bestimmtes Zeichen zu geben und ihm dabei eine der „heißen" Noten zu überreichen, die die nordamerikanische Verbrecherwelt so nennt, weil man sich mit ihnen die Finger verbrennen kann, da derjenige, der eine solche Note einwechselt, sich einer sofortigen Verhaftung aussetzt. Der Croupier gab dann dem betreffenden Individuum den wirklichen Wert der Banknote in Spielmarken, aber eine der Spielmarken hatte ein bestimmtes Zeichen. Der Dieb mußte alle Spielmarken auf dem Tisch verlieren, mit Ausnahme der gezeichneten. Aber auch wenn er sie nicht verlor, man würde ihm immer nur die gezeichneten einlösen. Die gewöhnlichen Spielmarken zahlte man nur an den aus, der keine gezeichnete besaß. Der Wert dieser gezeichneten Marke mochte vielleicht tausend Dollar betragen, aber so viel Milton beobachtet hatte, machte man dem Mann einen Abzug, der vielleicht dreißig Prozent betragen mochte. Der Inhalt der roten Stahlkassette ging dann wahr82
scheinlich an die Bank von Harrison und Peakman, wobei der Kassierer und der Schalterangestellte fünfzehn Prozent erhielten. Für Colletti war das ein gesundes, einträgliches Geschäft, und für die Verbrecher war diese Kombination geradezu ideal. Sie brauchten sich mit niemandem ins Einvernehmen zu setzen, nicht jemanden vorher zu benachrichtigen, sich nicht an Hehler zu wenden, und überhaupt kein Risiko zu laufen. Dem Verbrecher genügte es, das Zeichen zu kennen, um sich ganz offen die Noten vom Halse zu schaffen, die ihn kompromittieren konnten. Der Multimillionär beendete seine Mahlzeit und kehrte in den Saal zurück. Es war schon drei Uhr vorbei, und er wollte sich im Spielsaal befinden, wenn die Polizei kam, vorausgesetzt, daß sie überhaupt kam. Das Spiel an sich interessierte ihn nicht sonderlich, aber er spielte, um die Zeit totzuschlagen. Es war ein Viertel nach vier Uhr morgens, als das Gesicht des Bankiers, vom Trente-et-Quarante-Tisch sich plötzlich verfärbte. Milton, der ziemlich nahe bei ihm stand, sah, daß die Röte in seinem Gesicht von einer Lampe ausstrahlte, die plötzlich rot aus dem Tisch heraus aufleuchtete. Dasselbe mußte auch am anderen Tisch geschehen sein, denn die Angestellten, die an beiden Tischen saßen, sprangen plötzlich alle auf. — Meine Herrschaften —, sagte einer mit lauter Stimme, — die Polizei ist unten, gehen Sie bitte alle in den Gang. — 83
Es brach keine Panik aus. Die Mehrzahl der Spieler mochte sich wohl schon in einer ähnlichen Situation befunden haben. Alle gingen nach dem Korridor hinüber. Milton mischte sich unter die letzten und betrachtete neugierig seine Umgebung. Während der eine Angestellte die Warnung gegeben hatte, waren die anderen nicht müßig gewesen. Der Bankier am Trente-et-Quarante-Tisch hatte auf eine Feder gedrückt. Der Tisch teilte sich längsseits in der Mitte und beide Teile schwangen herum, so daß eine glatte Oberfläche zum Vorschein kam. Die beiden Hälften paßten so gut ineinander, daß man nicht den geringsten Riß bemerkte. Ein schmückender Armleuchter wurde daraufgestellt, die freien Stühle ringsum aufgestellt. Der andere Tisch machte eine noch kompliziertere Wandlung durch. Das Roulette senkte sich. Zwei Platten deckten sich darüber, aber ihre Oberfläche war wie ein gewöhnlicher Fußboden, den man sehr oft betreten hatte. Die Beine schienen einzuknicken und niedriger zu werden, als wenn sie im Bauche des Tisches verschwänden, der jetzt den Boden berührte. Er befand sich jetzt auf derselben Höhe mit dem Podium, auf dem der Flügel stand, als wäre er ein Teil dieses selben Podiums. Es war jetzt nur noch notwendig, den Flügel ein wenig vorzurücken, so daß er in der Mitte zu stehen kam. Die letzten Überreste, die an einen Spielsaal erinnerten, waren verschwunden. Es glich jetzt einem Eßsaal mit einem Musikpodium für die Kapelle. Und 84
die Verwandlung war so schnell vor sich gegangen, daß Milton, der am Ende der Gäste ging, noch nicht einmal bis zum Korridor gelangt war. Auch alle Angestellten hatten sich in den Gang zurückgezogen, nachdem die Vorbereitungen beendet waren. Das Geld und sämtliche Spielmarken aus dem Raum des Kassierers hatten sie mitgenommen. Nur der Mann blieb zurück, der die Eingangstür bewacht hatte. Der Multimillionär folgte den anderen an das Ende des Ganges, wo sie alle in einen Raum traten, der wie ein Büro eingerichtet war und eine Geheimtür hatte, durch die die Spieler verschwanden. Der Bankier vom Trente et Quarante hatte sich an den Tisch gesetzt und auf einen Knopf gedrückt. Der letzte Angestellte schloß die Tür des Büros ab und reichte den Schlüssel dem Bankier. Außer den Angestellten war Milton der letzte, der im Raum verblieb. Um Zeit zu gewinnen, wandte er sich an den Bankier und fragte: — Wird heute nicht mehr gespielt? — — Nein, Herr Drake —, antwortete er, — das wäre unklug. Aber machen Sie sich keine Sorge darüber, man wird nichts bemerken. Morgen geht es in alter Frische weiter. — Plötzlich ertönte eine klare, aber leise Stimme, die fragte: — Was wünschen Sie? Wer sind Sie? — Milton merkte, daß sie aus einem Lautsprecher kam, der hinter einem Bild angebracht war. In Wirk85
lichkeit kam die Stimme aus dem Saal, den sie eben verlassen hatten, und es war der Angestellte, der dort geblieben war, welcher sprach. Ein Croupier sagte: — Gehen Sie, Herr Drake, alle sind schon weg und in wenigen Minuten wird die Polizei hier sein. — Und gleich darauf klang es wie ein Echo aus dem Lautsprecher: — Die Polizei! Ich stehe zu Ihrer Verfügung, meine Herren, obgleich ich nicht weiß, was Sie hier suchen. — Milton hörte nicht mehr. Schnell schritt er, gefolgt von den Angestellten, durch die Geheimtür. Nur der Bankier blieb zurück. Durch einen kleinen Raum gelangte Milton auf einen Gang. Scheinbar befand er sich in einem um diese Zeit vollständig verlassenen Bürohaus. Auf beiden Seiten des Ganges waren alle Türen verschlossen. Es gab keine andere Beleuchtung, als die Taschenlampen, die die Angestellten angeknipst hatten. Die Haupttreppe des Gebäudes befand sich auf der rechten Seite, aber alle Spieler waren nach der entgegengesetzten Seite gegangen. Sie kamen bis zum Ende des Korridors und stiegen jetzt die Dienstbotentreppe hinab, ohne jemanden zu begegnen. Entweder gab es keinen Wachmann, oder dieser stand im Solde Collettis und hörte und sah nicht, was des nachts dort geschah. Einer der Angestellten zog einen Schlüssel hervor und öffnete eine kleine Tür. Nachdem er als erster 86
hindurchgeschaut und sich vergewissert hatte, sagte er, daß es keine Gefahr gäbe. Sie traten auf eine kleine Seitengasse hinaus und begaben sich in Gruppen zu zweien und dreien, wie es ihnen der Bankier geraten hatte, ins Freie. Nirgends sah man eine Menschenseele. Milton machte einen Umweg zu seinem Wagen. Eine Stunde später lag er schon in seinem Hause im Bett. *
* *
8. Kapitel ALARM BEI COLLETTI Wie der Bankier es vorhergesagt hatte, war das Spiel in der folgenden Nacht wieder wie gewöhnlich im Gange. Die Polizei war wieder einmal an der Nase herumgeführt worden. Jetzt würde es voraussichtlich eine ganze Weile dauern, bis sie eine neue Razzia auf das Unternehmen machte. Sie würde vorläufig genug haben von den bisherigen mißglückten Versuchen. Milton kam erst sehr spät. Er hatte bemerkt, daß der Hauptbetrieb erst zwischen drei und vier Uhr morgens einsetzte und wählte diese Stunde aus, um die nächste Etappe seines Planes durchzuführen. Er spielte eine Weile mit ziemlichem Glück. Dann 87
gelang es ihm, während des Hochbetriebes in den Gang zu schlüpfen, ohne daß es jemand bemerkt hatte. Die Beleuchtung darin war verlöscht, aber das Licht, das aus dem Spielsaal hineinfiel, erleuchtete den ersten Teil. Er konnte die gefährliche Strecke durcheilen, ohne daß ihn jemand gewahrte. Als er dann in dem dunklen Teil war, fühlte er sich sicherer, besonders, als er um die Ecke bog, die der Korridor bildete. Er gelangte bis ans Ende und fand tastend die Tür, die ins Büro führte, in dem sich der geheime Ausgang befand. Er klinkte sie auf, sie war nicht verschlossen. Nun trat er ein und schloß sie wieder hinter sich. Das erste, was er tat, war, seine schwarze Kapuze aus der Tasche zu ziehen und sie sich überzustülpen. Dann zog er eine Taschenlampe hervor und sah sich um. In der vorigen Nacht hatte er einen Geldschrank gesehen, der in die Wand eingelassen war. Er fand ihn auch sofort. Dank des Unterrichts von Garth, der eine meisterhafte Geschicklichkeit besaß, alle Schlösser zu öffnen, hoffte er, den Geldschrank in kürzester Frist offen zu haben, ohne die Kombination zu kennen. Die Sache war aber schwieriger als er geglaubt hatte, oder er besaß weniger Geschicklichkeit, als er sich vorstellte. Wie es auch immer war, nach einer halben Stunde hatte er den Geldschrank tatsächlich geöffnet. Aber es war eine vergebliche Arbeit gewesen, der Geldschrank enthielt überhaupt nichts Interessantes. Aus seiner Tasche zog er einen biegsamen Stahl88
draht und arbeitete unentwegt weiter. Ein Fach nach dem anderen ging auf, aber er fand nicht das geringste, was überhaupt dazu berechtigte, den Geldschrank zu verschließen. Nur ein Fach blieb ihm noch, das letzte, ganz am Boden, auf der rechten Seite in der Nähe der Wand. Er öffnete es, versicherte sich, daß es nichts von Wichtigkeit enthielt und schloß es wieder. Und in diesem Augenblick, als er gerade fertig war und in den Saal zurückkehren wollte, widerfuhr ihm das Mißgeschick. Er hatte nicht einmal Zeit, sich aufzurichten. Plötzlich ging das Licht des Büros an, und als er den Kopf aufhob, sah er sich dem Laufe eines Revolvers gegenüber, der keine zwei Zentimeter von seiner Nase entfernt war. — Bewegen Sie sich nicht —, befahl eine Stimme, — was tun Sie hier? — Es war der Gehilfe des Bankiers vom Trente-etQuarante-Tisch. Er hatte gerade die eben gehörten Worte gesprochen, als er bemerkte, daß sein Gefangener eine Kapuze trug, die sein Gesicht bedeckte. — Ein Kapuzenmann! — rief er aus. — Ist das vielleicht der wirkliche Kapuzenmann? — Milton überlegte mit Blitzesschnelle. Er befand sich in einer verteufelten Lage, darüber gab er sich keinem Zweifel hin. Und das schlimmste war, daß er nicht wußte, wie er aus ihr herauskommen sollte. In die Ecke zwischen dem Tisch und die Wand gedrückt, konnte er nicht entfliehen. Es war ihm auch 89
ganz unmöglich, die Pistole aus dem Ärmel zu ziehen, die er dort verborgen hatte. Die geringste Bewegung seinerseits, und der andere schoß. Das las er in dessen Augen. — Ja, ich bin der Kapuzenmann —, antwortete er langsam und nur mit dem Zweck, Zeit zu gewinnen. — Ich sehe, daß ich in eine Falle geraten bin, und in eine dumme Falle. Ich glaubte hier, das Geld der Spielbank zu finden. Aber ich hätte später kommen müssen; ich habe nichts gefunden. — Und während er sprach, fand er die Lösung, die einzige vielleicht, obgleich sie nicht ohne Risiko war. Auf dem Tisch stand eine Lampe. Die Schnur ging auf den Boden hinab und führte zu einem Stecker nahe am Boden, nur wenige Zentimeter von seiner rechten Hand entfernt, in der er noch den Stahldraht hielt, mit dem er die Fächer des Geldschranks geöffnet hatte. Wenn man ihm noch die Zeit gab, seinen Plan in die Tat umzusetzen… — Ich glaube, mein Freund —, sagte er und bewegte langsam die Hand nach dem Stecker hin, — es ist nicht notwendig, mir die Pistole so nahe unter die Nase zu halten. Ich kann nicht entfliehen. Ich bin Ihnen ausgeliefert bei der kleinsten Bewegung, die ich mache. Warum wollen Sie sich dem Risiko aussetzen, daß Ihnen die Pistole bei der kleinsten nervösen Bewegung, die ich mache, losgeht? — Er hatte schon die Hand über dem Stecker und versuchte jetzt den Stahldraht zwischen beide Pole des Steckers zu schieben. 90
— Es würde mir keine Gewissensbisse verursachen, Kapuzenmann, wenn Sie einem Unglücksfall zum Opfer fallen sollten — sagte der andere. — Auch die Polizei würde mich nicht stören… sie würde mir höchstens noch eine Belohnung geben. Sie werden mir jetzt aufs Wort gehorchen. Und passen Sie auf, daß Sie auch nicht ein Haar anders bewegen dürfen, als ich Ihnen befehle, sonst schieße ich, ohne es mir zweimal zu überlegen. Zunächst… — Weiter kam er nicht. Der Stahldraht hatte die beiden Pole des Steckers berührt. Der Kapuzenmann hielt den elektrischen Schlag ohne weiteres aus, und als die Stichflamme aufschlug und das Licht erlosch, warf er sich mit einem scharfen Ruck nach links, gerade noch rechtzeitig genug, um nicht den Schuß des Gehilfen des Bankiers in die Stirn zu bekommen. Wie von einer Feder geschnellt, sprang er an der anderen Seite des Tisches hervor und rannte seinen Kopf mit voller Wucht dem anderen in den Bauch, ehe dieser ein zweites Mal schießen konnte. Der plötzliche Angriff warf den anderen mit einem Schmerzensschrei zu Boden, aber auch der Kapuzenmann wäre von dem Anprall beinahe ohnmächtig geworden. Wenn er auch stark benommen war, so durfte er doch nicht warten, bis er wieder völlig Herr seiner Sinne wurde. Im Spielsaal hatte sich beim Erlöschen des Lichtes ein Tumult erhoben, und er wußte auch nicht, ob der Schuß gehört worden war. Ohne einen einzigen Augenblick zu verlieren, sprang er aus dem Büro in den Gang und riß sich schnell die Kapuze 91
herunter. Ganz in der Nähe des Saales drückte er sich an die Wand, um niemanden anzurempeln, der etwa in entgegengesetzter Richtung lief. Dann mischte er sich unter die Spieler, die viel zu aufgeregt waren, um zu merken, ob ihnen jemand von der falschen Seite entgegenkam.
92
Er hatte noch die Taschenlampe in der Hand, die er jetzt am Roulette-Tisch anknipste und fragte: — Was ist geschehen? Kommt die Polizei wieder? — Der Croupier, an den er die Frage gerichtet hatte, erkannte ihn im Schein seiner eigenen Lampe gerade noch rechtzeitig genug, um ihm nicht eine ungezogene Antwort zu geben, die er auf den Lippen hatte. — Es ist nichts, Herr Drake, ein gewöhnlicher Kurzschluß, der in wenigen Minuten behoben sein wird. Ich sage es schon dauernd, aber ich weiß nicht, was heute in die Herrschaften gefahren ist. — Und der Kurzschluß wurde tatsächlich schneller behoben, als Milton es für möglich gehalten hätte. Plötzlich brannten die Lichter wieder, und obgleich der Bankier unruhige Blicke nach dem Gang warf — ein Zeichen, daß er den Schuß gehört haben mußte — kündete er schon wieder: — Setzen Sie, meine Herrschaften, setzen Sie! Fertig…? Es geht nichts mehr. — Das Roulette drehte sich wieder und die Elfenbeinkugel tanzte ihren wilden Tanz. Die Spieler vergaßen allmählich ihre Aufregung und konzentrierten ihre Aufmerksamkeit wieder auf das grüne Tuch mit den Nummern. Der Multimillionär aber, der so tat, als interessiere ihn nur das Spiel, bemerkte, daß eine Gruppe von Männern mit Verbrechergesichtern durch den Saal kam und in den Gang trat. Es dauerte eine Weile, bis der Gehilfe des Bankiers vom Trente-et93
Quarante-Tisch wieder auftauchte. Und als er erschien, merkte man seiner gelben Farbe noch den furchtbaren Stoß an, den er in die Magengrube erhalten hatte. Mochten die Ergebnisse der Untersuchung des Ganges und des Büros, die die Männer vorgenommen hatten, sein, wie sie wollten, mochten sie sich über den Kapuzenmann und seinen Verbleib diese oder jene Gedanken machen, den Spielern gegenüber verlor man kein Wort davon. Das wichtigste in diesem Etablissement war offenbar, die Gäste auf keinen Fall zu erschrecken. *
* *
9. Kapitel EIN ÜBERRASCHENDES ENDE Ein Windstoß schlug plötzlich Sealwood in seinem Arbeitszimmer ins Gesicht und unbewußt hob er den Kopf. Das Fenster seines Zimmers hatte sich geöffnet und neben ihm stand im Schatten eine schwarze Figur. Er wollte gerade einen Überraschungsschrei ausstoßen, aber der Reflex des bläulichen Pistolenlaufes, den der Unbekannte auf ihn gerichtet hielt, gebot ihm, zu schweigen. Der Schatten trat langsam in den Lichtschein der 94
Tischlampe, die allein in diesem Zimmer brannte. Jetzt konnte der Kassierer sehen, daß der Unbekannte eine Kapuze trug, die sein Gesicht verhüllte. — Der Kapuzenmann! — rief er aus. — Der bin ich! — lautete die Antwort, — aber ich komme in friedlicher Absicht. Die Pistole hatte ich nur deshalb auf Sie gerichtet, damit Sie im Augenblick der Überraschung nicht schreien. Wir müssen eine Weile miteinander reden. — — Es wird uns niemand stören —, versicherte Sealwood. — Meine Frau ist bereits schlafen gegangen, ich bin noch aufgeblieben, um einige wichtige Dinge zu erledigen. — — Trotzdem —, meinte der Kapuzenmann, steckte die Pistole ein und ging zur Tür, — wird es besser sein, alle Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. — Er schob den Riegel vor und setzte sich dann an den Tisch. — Herr Sealwood —, sagte er, — ich bin Ihr Freund, — — Ich weiß es —, antwortete der Mann. — Man hat mir gesagt, daß Sie mir helfen wollten. — — Haben Sie Vertrauen zu mir? — — Vollkommenes. — — Um so besser, denn, obgleich ich Ihnen einesteils eine gute Nachricht bringe, muß ich Sie gleichzeitig bitten, ein Risiko auf sich zu nehmen. — — Ich bin davon überzeugt, daß dies notwendig ist, wenn Sie mich darum bitten. — Der Kapuzenmann antwortete nicht darauf, son95
dern zog ein Paket aus der Tasche und legte einige Zeitungsausschnitte auf den Tisch. — Lesen Sie das —, sagte er. Sealwood schaute sie oberflächlich an. — Haben Sie sie dem geheimnisvollen Chef weggenommen? — wollte er wissen. — Nein, ich erhielt sie direkt aus Kansas City. — — Der Mann, der mich bedroht, scheint ähnliche Ausschnitte zu besitzen. — — Ja, aber er hat diese hier nicht… oder jedenfalls hat er Ihnen davon nichts gesagt. — Er überreichte ihm mehrere Blätter, auf denen er einige Abschnitte mit einem roten Bleistift angestrichen hatte. Sealwood las sie begierig und mit Windeseile. Als er den Kopf wieder hob, leuchtete die Freude aus seinen Augen. — Endlich ist meine Unschuld an den Tag gekommen! — rief er aus. — Vollkommen! — bestätigte der Kapuzenmann. — Es ist notwendig, daß Sie sich mit den Behörden von Kansas City in Verbindung setzen, und zwar so schnell als möglich, nicht nur um öffentlich wieder vollkommen rehabilitiert zu werden, sondern auch, um in den Besitz der Entschädigungssumme zu kommen, die man Ihnen zahlen wird, und die Sie verdienen. — — Ich werde es tun, zweifeln Sie nicht daran —, erwiderte Sealwood. — Es wundert mich nicht, daß man mich nicht gefunden hat. Ich habe dafür Sorge 96
getragen, meine Spur vollkommen zu verwischen, und ich habe nie eine Zeitung aus Kansas City gelesen, seit ich von dort weg bin. Ich lese ja kaum die hiesigen Zeitungen. Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin…— — Sie haben mir gar nichts zu danken. Ich habe Ihnen zuerst die gute Nachricht überbracht, jetzt werde ich Ihnen eine unangenehme mitteilen. Es dürfte sehr schwierig sein, daß ich die anderen beiden Beweise gegen Sie in die Hand bekomme. — — Warum? — fragte der Kassierer, dessen eben noch so große Freude sichtlich abnahm, — Weil ich immer noch nicht weiß, wer dieser geheimnisvolle Chef ist, und ich habe auch nicht die geringste Idee, wo man ihn finden könnte. — Sealwood schwieg einen Augenblick, dann sagte er: — Ich kann die Situation, in der ich mich befinde, nicht mehr lange ertragen. Wenn Sie mir nicht helfen können, werde ich eines Tages zur Polizei gehen und alles erzählen … auch wenn man mir nicht glauben sollte. — — Sagen Sie das im Ernst? — — In vollkommenem Ernst. Im ersten Augenblick wollte ich alles opfern, um meiner Frau willen, aber jetzt glaube ich, daß ich ihr etwas Schlechteres antue, wenn ich schweige, denn eines Tages wird sie davon erfahren und je später es ist, desto schlimmer. — — Das war es, was ich wissen wollte. Es besteht die Möglichkeit, daß Sie nicht bis zu diesem Extrem gehen müssen. Alles hängt davon ab… Aber das Ri97
siko besteht, daß zum Schluß nichts anderes übrig bleibt. Deshalb bereite ich Sie vor. — — Ich bin bereit, dieses Risiko auf mich zu nehmen. — — Sie müssen genau meinen Anordnungen folgen. — — Das werde ich tun. — — Wieviel gefährliches Geld haben Sie zur Zeit in der Stahlkammer der Bank? — — Etwa zehntausend Dollar höchstens. Ich hatte schon mehr, aber ich konnte es loswerden. — — Wann pflegen die Leute auf das laufende Konto von Tadmore & Co. einzuzahlen? — — Donnerstags, manchmal kommen sie aber auch an anderen Tagen, Donnerstag aber bestimmt. — — Und heute ist Dienstag. — — Ja, Herr. — — Wer ist dieser Schalterbeamte, der die Einzahlungen von Tadmore entgegennimmt? — — Ein Unglücklicher wie ich. Ich habe mit ihm über die Angelegenheit sprechen können. Er möchte ebenso gern aus dieser Lage heraus wie ich. — — Würde er bereit sein, die Anordnungen zu befolgen, die Sie ihm geben, auch wenn er dabei ein gewisses Risiko laufen würde? — — Wenn er wüßte, daß diese Anordnungen von Ihnen kommen, würde er sie blind befolgen. Er war es, der mir riet, mich mit dem Kapuzenmann in Verbindung zu setzen. — — Dann hören Sie genau zu. Donnerstag, wenn 98
der Mann mit dem Geld kommt, muß er angezeigt werden. — — Wie? — rief Sealwood aus und sprang in seinem Stuhl hoch. — Wissen Sie, was das bedeutet? Wenige Minuten später… — Er unterbrach sich jäh und wurde rot. — Sie entschuldigen —, sagte er, — ich versprach, Ihren Anordnungen zu folgen und ich werde ihnen folgen. Wenn Sie es für notwendig halten … — — Es ist notwendig. Aber Sie müssen es so machen, wie ich es Ihnen sage, dann werden Sie weniger Gefahr laufen und keine so unmittelbare wie Sie glauben. — — Ich höre. — — Telefonieren Sie morgen an die Polizei. Aber nicht von hier aus, denn man weiß nicht, ob Ihr geheimnisvoller Chef nicht Ihren Apparat überhören kann, um zu wissen, mit wem und über was Sie sprechen. Es ist viel weniger gefährlich, ein öffentliches Telefon zu benutzen. Verstehen Sie? — — Vollkommen. — — Verlangen Sie, mit Hauptmann Rawlings selbst verbunden zu werden. Sagen Sie ihm, wer Sie sind. Sagen Sie ihm, daß Sie unter den Eingängen der letzten Tage mehrere Banknoten gefunden haben, die von der Polizei gesucht werden. Sagen Sie, Sie hätten keine absolute Sicherheit, von wem diese Beträge eingezahlt wurden, aber, daß Sie glauben es zu wissen. Besagter Mann wird am Donnerstag neue Einzahlungen machen. Es ist notwendig, daß Raw99
lings zwei Agenten in die Bank schickt… zwei Agenten, die keine zu sein scheinen, um jeden Verdacht zu vermeiden. Sie sagen ihm dann, an welchem Schalter der Mann einzuzahlen pflegt. Der Beamte wird ein Zeichen geben, wenn die Banknoten, die der Betreffende einzahlt, aus einem Raub stammen sollten. Dann kann ihm der eine der Agenten folgen und der andere das Geld am Schalter beschlagnahmen. Verstehen Sie? — — Ja, Herr. Aber wenn sie ihn in der Bank festnehmen …? — — Wenn Sie die Sache so machen, wie ich Ihnen sage, werden sie ihn nicht festnehmen. Rawlings hat vielleicht seine Fehler, aber ein Dummkopf ist er nicht. Ihn wird es viel mehr interessieren zu wissen, wo die Banknoten herkommen, als den zu verhaften, der sie überbracht hat. Er wird ihn verfolgen lassen, um zu sehen, mit wem er sich trifft. Er wird nicht daran denken, ihn zu verhaften, ehe er ganz sicher ist, daß er nichts mehr davon hat, wenn er ihn weiter frei herumlaufen läßt. — — Ich glaube, Sie haben recht. Und was soll ich noch tun? — — Nur eine Kleinigkeit, und die müssen Sie auch morgen erledigen. — — Worum handelt es sich? — Sie müssen alle Noten, die reklamiert sind, aus der Bank zurückziehen und sie hier in einem Paket in Ihrem Hause deponieren, damit sie derjenigen Person ausgehändigt werden, die ich Ihnen schicke. Das ge100
schieht deshalb, damit Sie nicht in die Angelegenheit verwickelt werden. Sie haben gesagt, daß es nicht mehr als zehntausend Dollars sind? — — Ja, Herr. — — Sind Sie dessen ganz sicher? — — Ich bin ganz sicher, daß es nicht mehr ist, es kann sogar weniger sein. — Der Kapuzenmann griff in die Tasche, zog ein Bündel Banknoten heraus und zählte zehntausend Dollar ab, die er Sealwood reichte. — Hier haben sie zehntausend gute Dollar —, sagte er, — die Sie mit den anderen austauschen können. — — Aber Sie werden sie verlieren…? Es ist nicht gerecht, daß Sie … — — Machen Sie sich keine Sorge. Ich werde sie nicht verlieren. — — Wir haben noch etwas vergessen. Der Mann wird mehr Noten bringen, als in der Eingangsliste verzeichnet sind, nämlich die, die meine zehn Prozent und die fünf Prozent des Schalterbeamten ausmachen. — — Ich habe daran gedacht. Werden Sie Rawlings nicht sagen, daß sie unter den Eingängen reklamierte Noten gefunden haben? — — Ja. — — Dann haben Sie hier die Erklärung. Sie überreichen ihm die überzähligen Noten und sagen, daß es die wären, von denen Sie ihm am Telefon sprachen. Die Bank aber verliert dabei nichts, denn sie erscheinen ja nicht in der Abrechnung. Und selbst wenn sie 101
auch in der Abrechnung erscheinen, so wird die Polizei das Konto von Tadmore beschlagnahmen und auf Rechnung dieses Kontos gehen dann alle reklamierten Noten. — — So ist es. Darauf bin ich gar nicht gekommen. — — Wir bleiben also dabei. Bringen Sie morgen früh die reklamierten Noten nach Hause und am Nachmittage telefonieren Sie an die Polizei. — — Habe ich sonst noch etwas zu tun? — — Sie müssen den Schalterbeamten einweihen. Alles geschieht ja nur, um Ihnen beiden die verlorene Ruhe wiederzugeben, und daß die Polizei auch ihrerseits etwas entdeckt. Mein eigener Plan ist ganz unabhängig davon. — Er stand auf. — Folgen Sie meinen Anordnungen aufs Wort und haben Sie keine Angst. Wenn die Sache schlecht ausgehen sollte, werde ich Sie nicht im Stich lassen. Und ich glaube, daß ich Sie herausreißen kann, auch wenn es ungünstiger kommt, als ich annehme. Gute Nacht und viel Glück. — Er streckte ihm die Hand hin, die der andere herzlich drückte. — Ich weiß nicht, ob Sie es mir glauben werden, Kapuzenmann —, sagte er, — aber ich habe so großes Vertrauen zu Ihnen, daß ich heute nacht endlich wieder ruhig schlafen werde, zum ersten Male ruhig, seit Beginn dieses fürchterlichen Spiels. — Man sah, daß er im Ernst sprach. Der Plan des Kapuzenmannes war sehr einfach, 102
aber sein Erfolg hing davon ab, ob er die Mentalität der Leute richtig beurteilt hatte, mit denen er in Verbindung getreten war, und ob auch seine Wahrnehmungen stimmten. Es war der Plan eines Spielers. Er setzte alles auf eine Karte. Jetzt wollte er die Jagd anblasen. Wenn der Versuch fehlschlug, dann würde es wohl keine zweite Gelegenheit geben, und Sealwood würde sich der Polizei stellen und die Wahrheit bekennen müssen. Donnerstag mittag nahm er den Hörer ab und stellte eine Verbindung mit Hauptmann Rawlings her. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, ob und welche Wirkung die Anzeige Sealwoods gehabt haben mochte. Es interessierte ihn auch nicht besonders. Er wollte so handeln, als ob eine derartige Anzeige überhaupt nicht erfolgt wäre. Rawlings befand sich auf der Polizeidirektion und kam sofort an den Apparat. — Ich möchte Ihnen mitteilen —, sagte Milton, — daß eine große Organisation besteht, die ein ungesetzliches Geschäft betreibt, von dem die Polizei nicht die geringste Ahnung hat. — — Wer sind Sie? — fragte Rawlings. — Das werden Sie erfahren, wenn ich Ihnen alles erzählt habe. Zuerst rate ich Ihnen, mich bis zum Ende anzuhören und versuchen Sie nicht herauszubekommen, von wo ich Sie anrufe. Sie würden nur Zeit dabei verlieren. — — Um welches Geschäft handelt es sich? — — Handel mit gestohlenen Banknoten. — 103
— Was haben Sie gesagt? — fragte Rawlings kurz. — Sie haben mich schon verstanden. Aber wenn Sie Zeit dadurch verlieren wollen, daß Sie mir Fragen stellen und unnötige Kommentare machen, werde ich anhängen und Sie so lange warten lassen, bis es mir wieder einfällt, Sie anzurufen. — Diese Worte schienen ihre Wirkung nicht zu verfehlen, denn Rawlings sagte: — Sprechen Sie, ich garantiere Ihnen, Sie bis zum Schluß anzuhören. — Milton erzählte ihm nun, wie sich die Diebe im Spielsaal von Colletti ihrer Banknoten entledigten und wie Colletti wiederum die Banknoten bei der Harrison und Peakman-Bank einzahlte. Als er endete, antwortete Rawlings in offensichtlich schlechter Laune: — Seit einiger Zeit werden immer wieder Anzeigen gegen Colletti laut, was bereits verdächtig ist. Man spricht immer von einem Spielsaal, aber keiner kann mir sagen, wo er sich befindet. — — Ich weiß, daß Sie ihn nicht gefunden haben —, antwortete Milton, — aber ich werde Ihnen sagen, wie Sie ihn finden können. Ich glaube, daß Sie bereits vor ganz kurzer Zeit dort gewesen sind … — — Woher wissen Sie das? — — Ich weiß sehr viele Dinge, Hauptmann. — — Erinnern Sie sich an den Bankettsaal, in den Sie traten —, fuhr er fort, — und dort einen Klavierspieler unterbrachen, der gerade übte? — — Natürlich. — 104
— Das ist der Spielsaal. Hauptmann Rawlings. Sie standen mitten drin und wußten es nicht. — — Aber … — — Unterbrechen Sie mich nicht. Gehen Sie heute nacht wieder hin und nehmen Sie ein paar Äxte mit. Der Eßtisch ist ein Trente-et-Quarante-Tisch der sich öffnet, wenn man die Feder kennt. Aber quälen Sie sich nicht damit ab, sie zu suchen. Nehmen Sie die Lampe in der Mitte weg und öffnen Sie den Tisch mit Beilhieben. Sie werden dann schon das grüne Tuch darunter finden. Und dann schieben Sie den Flügel bis an die Wand. Einige Beilschläge gegen das Podium werden Sie dann davon überzeugen, daß es sich um einen zusammenlegbaren Roulette-Tisch handelt, mit zwei schönen, grünen Tüchern und einem hervorragenden Roulette. Wissen Sie jetzt genug? — — Wenn es stimmt, was Sie sagen, dann genügt es mir reichlich. — — Ich habe nie jemanden betrogen, Hauptmann. — — Aber wer zum Teufel sind Sie denn? — — Ihr Freund, der Kapuzenmann. Grüßen Sie bitte Inspektor Grimm von mir! — — Der Kapuzenmann! — — Ja, und machen Sie Ihre Razzia zwischen elf und zwölf Uhr heute abend, wenn Sie einen guten Erfolg haben wollen. — Ohne noch eine weitere Antwort abzuwarten, hängte Milton den Hörer an. Trotz des Rates, den der Multimillionär gegeben 105
hatte, machte er sich schon früh auf den Weg und befand sich bereits um zehn Uhr an jener Stelle, von der aus er sehr gut die kleine Seitengasse beobachten konnte, auf die der Notausgang aus der Spielhölle führte. Er wollte nicht das Risiko eingehen, daß ihm die Polizei zuvorkam und seine Pläne störte. Er hatte elf Uhr vorgeschlagen, weil um diese Zeit schon eine Menge Leute anwesend sein mußte, so daß einer mehr oder weniger nicht auffiel. Außerdem hatte er Rawlings nichts von dem Geheimausgang erzählt, denn für seinen Plan war es notwendig, daß die Polizei nichts davon wußte. Er mußte lange warten, denn Rawlings hörte mehr auf die Worte des Kapuzenmannes, als dieser es für möglich gehalten hätte. Um halb zwölf hörte man die ersten Anzeichen, daß die Polizei in Aktion getreten war. Aus der Seitenstraße kamen Gruppen von Personen heraus, die sich schnell zerstreuten: die Spieler flüchteten bereits. Jetzt sah Milton auch die Angestellten kommen, aber der Bankier vom Trente-et-Quarante-Tisch war nicht darunter. Damit hatte er gerechnet. Dieser Mann würde im Büro des Spielsaales sein und am Lautsprecher abhören, was sich dort ereignete. Milton mußte sich sehr täuschen, wenn der Mann dann nicht sofort zu Brand lief und ihn benachrichtigte, sobald er bemerkte, das alles entdeckt war. Milton wollte ihm dann folgen, um herauszubekommen, wo der geheimnisvolle leitende Direktor von Babbington Inc. seinen Schlupfwinkel hatte. 106
Weniger als eine Viertelstunde später erschien der Bankier am Ausgang der Seitengasse. Sein Gesicht war erregt und er lief, daß er ganz außer Atem geriet. Der Multimillionär hatte sein Auto in der Nahe gelassen, um ihm sofort folgen zu können, wenn der Mann ein Taxi nahm. Aber er brauchte es nicht zu benutzen. Der Bankier hatte es offenbar nicht weit, denn er setzte seinen Weg zu Fuß fort. Um diese Zeit waren noch viele Leute unterwegs, aber es wäre gleichgültig gewesen, wenn es auch weniger gewesen wären. Der Mann war so erregt, daß er keine Zeit hatte, auf seine Umgebung zu achten. Fünf Minuten später bog er um eine Ecke und blieb vor dem Gartenzaun eines Privathauses stehen. Er läutete, aber Milton wartete nicht, bis man ihm öffnete. Er hatte eine Stelle entdeckt, wo er leicht in den Garten springen konnte, und im Schutz der Nacht begab er sich dorthin. Als dem Bankier ein Lakai öffnete, befand sich der Multimillionär bereits im Garten und hatte gegen eine mögliche Überraschung seine Kapuze aufgesetzt. Er wartete, bis sich die Tür des Hauses hinter dem Diener und dem Besucher geschlossen hatte und näherte sich dann dem Gebäude. Im vorderen Teil sah man Licht. Es war das Fenster eines Büros, und da es sehr warm war, stand es offen. Im Zimmer sah man einen Mann an einem Tisch sitzen, der den Rücken dem Fenster zukehrte. Es klopfte an der Tür, ein Diener trat ein. — Herr Treadling möchte Sie in einer sehr wichti107
gen Angelegenheit sofort sprechen —, sagte er. — Treadling! — rief der Mann aus, — was will er denn um diese Zeit? — Der Diener antwortete nicht. — Er soll hereinkommen! — befahl sein Herr. Einige Augenblicke später ging die Tür wieder auf und der Bankier vom Trente-et-Quarante-Tisch trat ein. Der Hausherr wartete, bis sich der Diener zurückgezogen hatte. Dann wandte er sein Gesicht dem Besuch zu. Milton sah jetzt dieses Gesicht zum ersten Male und fühlte sich sehr enttäuscht. Der Mann war nicht Brand, wie er geglaubt hatte, aber das Gesicht mußte er schon einmal gesehen haben, wenn er auch im Augenblick noch nicht wußte wo. — Was wollen Sie um diese Zeit, Treadling? — fragte er. — Die Polizei —, antwortete er, — hat den Spielsaal gestürmt. — — Schön und was? — wollte der andere wissen, — deswegen belästigen Sie mich? Sind nicht alle Vorkehrungen getroffen? Wie oft habe ich Ihnen gesagt … — Der Mann ließ ihn nicht ausreden. — Diesmal haben sie alles entdeckt! — sagte er. Der Hausherr sah ihn ungläubig an. — Was haben sie entdeckt? — rief er aus. Und dann setzte er voller Wut hinzu. — Und was zum Teufel habt Ihr inzwischen getan? — — Wir haben alle Vorkehrungen getroffen, Chef —, antwortete Treadling beinahe weinerlich. — Aber es 108
nütze nichts. Sie haben die Tische mit Beilhieben geöffnet. — Der andere stieß einen Fluch aus. — Jemand hat uns verraten —, sagte er, — sonst wäre es nicht möglich. — Er schien plötzlich eine Idee zu haben und fuhr seinen Besucher wie einen Tiger an. — Idiot! — rief er, — wie sind Sie darauf verfallen, hierher zu kommen? Wenn Sie das Geheimnis der Tische kannten, dann kannten sie wahrscheinlich auch den Geheimgang! Sind Sie sicher, daß man Ihnen nicht gefolgt ist? — — Nein, den Geheimausgang kannten sie nicht, Chef. Wenn sie ihn gekannt hätten, dann wären sie durch ihn hineingekommen oder hätten ihn umstellt, um die Gäste festzunehmen, die heraus kämen. Außerdem ist mir niemand gefolgt, ich schwöre es Ihnen — log er vor Angst vor dem anderen. — Ich habe mich genau umgesehen, ehe ich hierher gekommen bin. — — Es ist möglich, aber ich traue Ihnen trotzdem nicht. — Er klingelte, — Paulton —, sagte er, als der Diener erschien, — gehen Sie mit Timmings hinaus und suchen Sie den Garten ab. Wenn Sie jemanden finden, bringen Sie ihn hierher. Und gucken Sie auch auf die Straße, ob jemand das Haus beobachtet. — — Jawohl Herr. — — Und jetzt, Treadling —, fragte er, als sie wieder 109
allein waren, — was gedenken Sie nun zu tun? In meinem Hause will ich Sie nicht haben, Sie sind ein gefährlicher Mann. Die Polizei wird Sie suchen. Ich habe alle Vorkehrungen getroffen, daß man mich mit diesem Geschäft nicht in Zusammenhang bringen kann, und ich möchte durch eine Dummheit ihrerseits nicht alles mit einem Schlage verderben. — — Ich werde sofort von Baltimore wegmüssen, Chef! — rief Treadling aus, — wenn ich hierbleibe… — — Wenn Sie hierbleiben, wird man Sie festnehmen und dann sind Sie fähig, alles auszuschwatzen, was Sie wissen, Ich müßte… — Er sah seinen Untergebenen so drohend an, daß diesen ein Schauer überlief. — Nein, nein, Chef! — seufzte er, — ich schwöre Ihnen, daß ich Sie nicht verraten werde. Eher lasse ich mich vierteilen. — Der Chef sah ihn verächtlich an. Dann steckte er die Hand in die Tasche, zog ein Bündel Banknoten hervor und gab es ihm. — Da, nehmen Sie —, sagte er, — machen Sie, daß Sie fortkommen und nehmen Sie den ersten Zug nach New York. Wenn Sie dorthin kommen, suchen Sie Brand auf. Ich werde Ihnen Instruktionen schicken. Haben Sie verstanden? — — Ja, Herr, aber seine Adresse…— — Sie müssen sie im Kopf behalten. Ich will nicht, daß Sie sie aufschreiben, falls etwas passiert…— Er sagte ihm die Adresse und Milton hatte sie sich schneller gemerkt als der andere. Es war nicht die, 110
die er von Sealwood erhalten hatte und auch nicht die, die im Register stand. Dem Kapuzenmann war es jetzt nicht möglich, ins Zimmer zu schauen, denn als der Diener den Auftrag erhalten hatte, den Garten abzusuchen, hatte er sich unterhalb des Fensters unter einen Busch geworfen. Er wußte nicht eher, daß der Diener ins Büro zurückgekehrt war, bis er seine Stimme hörte. — Es ist niemand im Garten, Herr, und niemand auf der Straße, der das Haus bewacht. — — Gut, Paulton. Herr Treadling muß Baltimore verlassen. Sagen Sie Timmings, er soll den Wagen vorfahren und ihn zum Bahnhof bringen. Haben Sie mich verstanden? — — Jawohl, Herr —, antwortete der Diener. — War dieser Befehl wörtlich zu verstehen …? Oder lag in diesem ,Haben Sie mich verstanden?' irgendeine versteckte Bedeutung? Milton hätte gern das Gesicht des Mannes gesehen, als er diesen Ausspruch tat. — — Treadling, gehen Sie mit Paulton, und vergessen Sie meine Instruktionen nicht. — — Ich werde sie nicht vergessen, Herr Brighton. — Milton mußte sich gewaltig zusammennehmen, um nicht einen Ausruf des Erstaunens auszustoßen. Brighton! Der Direktor der Bank von Harrison und Peakman! Er begann auf einmal die Dinge klar zu sehen, die ihm bisher unverständlich waren. Brighton selbst hatte die Falle gestellt, in die Sealwood gegangen war. Er selbst hatte ihm die Wertpapiere gege111
ben, damit sie ihm abgenommen wurden. Er hatte Brand und den Angestellten des Spielsaals seine Instruktionen gegeben. Dann hatte er am nächsten Tage an Sealwood telefoniert, um ihn zu zwingen, eine schnelle Entscheidung zu fällen. Jetzt hörte man wieder die Stimme Brightons. Der Diener war noch nicht aus dem Zimmer. — Paulton —, sagte er, — Sie können sich zurückziehen, wenn die Angelegenheit erledigt ist. Ich werde morgen schon davon hören. Jetzt will ich schlafen gehen. — — Schön, Herr. — Einige Sekunden später erlosch das Licht im Büro, man hörte eine Tür schlagen und Schritte, die sich entfernten. Milton wartete genau zehn Minuten, bis er wagte, sich zu bewegen. Dann stand er auf, horchte eine Weile und kletterte durch das offene Fenster ins Haus. Nur die Ereignisse der letzten Minuten konnten es erklären, daß ein so vorsichtiger Mann wie Brighton das Fenster geöffnet stehen ließ, bevor er sich zurückzog. Paulton würde es später schon schließen, aber vorläufig glaubte Milton nicht, daß dieser kommen würde. Er knipste seine Taschenlampe an und nahm sich dabei in acht, daß der Schein weder in den Garten noch unter der Tür hindurch sichtbar wurde. Er hatte in der Ecke einen Geldschrank entdeckt und wollte ihn öffnen. Er brauchte dazu viel weniger Zeit als bei dem Safe im Büro Collettis. Und die Arbeit war der Mühe wert. In einem Fach fand er Umschläge mit 112
verschiedenen Namen, unter ihnen auch eins mit dem Namen Sealwood. Er stellte fest, daß es sich um den unterschriebenen Brief, die Zeitungsausschnitte und das Negativ der Fotografie handelte. Er steckte alles zusammen mit den anderen Umschlägen in die Tasche. Im Geldschrank befanden sich außerdem eine große Menge von Banknoten. Er nahm sie alle heraus, verteilte sie in seine Taschen und legte dafür die reklamierten Noten hinein, die er am Vortage von Sealwood hatte abholen lassen. In einem verschlossenen Fach fand er eine Reihe sehr interessanter Dokumente. Eins davon war ein Brief von Brand, in dem dieser anerkannte, daß er in allen Geschäften, in denen er als Besitzer figurierte, nur der Beauftragte von Brighton war. Brighton hatte sich dieses Dokument ausstellen lassen, damit ihm Brand nicht eines schönen Tages dieses oder jenes Geschäft unter dem Vorwand, dessen Besitzer zu sein, wegnehmen konnte. Man sah, daß er auch seinen getreuesten Komplizen nicht traute. Alle diese Dokumente steckte er ein und schloß erneut den Geldschrank. Hier hatte er alles getan, was er tun konnte. Er sprang aus dem Fenster und kletterte wieder an derselben Stelle über den Zaun. Dann nahm er seine Kapuze ab und begab sich eilig an den Ort, wo er sein Auto gelassen hatte, mit dem er sofort nach Hause fuhr. In den ersten Morgenstunden erhielt Sealwood einen Umschlag, in dem alle Beweise gegen ihn lagen. 113
Die beigelegten Zeilen besagten, daß er sofort alles vernichten müsse. Darunter befand sich die Zeichnung einer Kapuze. Der Schalterbeamte erhielt einen gleichen Umschlag mit einem ähnlichen Schreiben. Und auch ein halbes Dutzend weiterer Personen, die ähnliche Umschläge und Schreiben erhielten, fanden ihre Ruhe an diesem Tage wieder, wobei sie tiefinnerlichst dem Manne dankten, auf dessen Kopf die Polizei einen Preis ausgesetzt hatte. Auch die Behörden erhielten Nachricht vom Kapuzenmann: nämlich die im Geldschrank von Brighton gefundenen Dokumente. Und als die Polizei darauf zu seiner Verhaftung schritt, fanden sie in seinem Geldschrank zehntausend Dollar in Banknoten, die aus Diebstählen herstammten. Ganz böse wurde die Sache für den ehemaligen Direktor der Harrison und Peakman Bank allerdings erst, als in der Umgebung Baltimores die Leiche Treadlings gefunden wurde und Timmings zugab, den Mord im Auftrage seines Herrn begangen zu haben. Aber alles dies wußte der Kapuzenmann im Augenblick noch nicht, er erfuhr es erst später. Er war nämlich nach seiner abenteuerlichen Nacht so müde, daß er fest und traumlos schlief und dabei sein gutes Gewissen als sanftes Ruhekissen benutzen durfte. ENDE
114
1. Kapitel DIE HERREN DER STADT Roscoe Turner zündete langsam die dicke HabanaZigarre an, die er zwischen den Lippen hielt. Dabei drehte er sie, um sie von allen Seiten der Liebkosung der Streichholzflamme zugänglich zu machen, und schließlich stieß et eine dichte Rauchwolke gegen die Petroleumlampe aus, die über dem Tische hing.
Die guten Zigarren waren eine der größten Schwächen, die man an Turner kannte. Sie wurden speziell auf der Insel Cuba für ihn angefertigt, und auf jeder Bauchbinde befand sich sein Bild. Viele Jahre später — so um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts herum — sollten die Turner-Zigarren die Lieblingszigarren mehrerer englischer Lords und zahlreicher europäischer Aristokraten werden, die die Gegenwart Roscoe Turners wohl niemals in ihrem Hause geduldet hätten. Denn im Jahre 1950 versteht man unter ,Turner' eine erstklassige Habana-Zigarre, während Roscoe Turner im Jahre 1870 eine der finstersten Gestalten des damaligen San Franzisko war. Als Roscoe diese Welt verließ, mußte der Fabrikant andere Kundschaft in Europa und New York, Chicago und Boston suchen. Er hatte viele Tausende von Bauchbinden gedruckt und benutzte sie weiter mit gutem Erfolg. Die Marke erwarb sich Vertrauen auf dem Markt, und die Erben des Tabakfabrikanten sahen keinen Grund, sie nicht weiter herauszubringen. Deshalb ist eine ,Turner' heute das Beste vom Besten. Wer sie nicht probiert hat, weiß nicht, wie eine gute Zigarre schmeckt. Und wenn der Mann, dessen Bild weiter auf der Bauchbinde prangt, auch niemals davon zu träumen gewagt hätte, in irgendeinem anständigen Hause empfangen zu werden, so war sein Bild doch bis in die königlichen Paläste und Adelshäuser, in die Gesandtschaften und Luxushotels vorgedrungen. Manchmal fragte jemand, wer wohl der Mann wäre, der da auf den Bauchbinden abgebildet
sei. Die Antwort war dabei immer dieselbe: — Es muß sich um den Großvater des Fabrikanten handeln. — Nur wenige haben sich ein richtiges Bild von der wirklichen Persönlichkeit Roscoe Turners machen können. Um seinen Namen schwebt ein Geheimnis, das man nur lösen kann, wenn man die verstaubten und vergilbten Archive in den Büros der Firma ,Söhne und Enkel Delmiro Rodrigez' in Habana überprüft. Roscoe Turner war von mittlerer Statur, hatte ein asiatisches Gesicht, war stark und untersetzt, mit breiten Händen und kurzen, spatelförmigen Fingern. Sein Mund war groß, die Lippen fleischig und sinnlich. Seine geschlitzten, schwarzen Augen pflegten zu lächeln. Trotzdem war sein Lächeln nicht immer angenehm. Manchmal konnte man es wohl sanft nennen, aber gewöhnlich glich es dem einer Hyäne. Sein dichtes Haar war glatt zurückgekämmt, als wolle er mit Gewalt die niedrige Stirn ein wenig höher erscheinen lassen. Turner trug immer einen schwarzen Rock, eine breite Krawatte und einen eleganten Zylinderhut. Er war sehr gepflegt, sowohl in der Kleidung wie auch in seiner Person. Daisy Lorillard, die letzte Frau, die man in seinem Leben kannte, sagte manchmal zu ihm: — Wenn du nicht so gepflegt und peinlich sauber wärest, würdest du wie ein Stromer am Hafen aussehen. — Im Augenblick, da diese Geschichte beginnt, befand sich Roscoe Turner, umgeben von seinen Freunden und Mitarbeitern, in seinem geräumigen Arbeitszimmer. Einige Minuten lang betrachtete er den
Rauch, der um die Petroleumlampe schwebte. Dann senkte er den Blick auf die Zigarre, die er gerade angezündet hatte, und begann: — Wenn ein Seemann im Spiel fünfhundert Dollar verloren hat, ist er ruiniert und muß auf sein Schiff zurückkehren oder sich auf die Goldsuche in die Berge begeben. Wenn dagegen ein großer Herr zehntausend Dollar verloren hat, kann man sagen, daß er jetzt erst richtig zu spielen beginnt. Wir wissen, was die Seeleute und die kleinen Fische in unseren Händen lassen, aber … — Roscoe Turner unterbrach sich, um einen neuen, langen Zug aus seiner Zigarre zu tun, und fuhr dann fort: — …uns interessieren am meisten die dicken Fische. Vor drei Jahren hatte ich einen kleinen Spielsaal im Hafenviertel. Gezeichnete Karten, ein schief hängendes Roulette, Würfel mit Blei gefüllt. Nur so konnte ich das nötige Geld verdienen, um nach dem vornehmsten Teil der Stadt zu übersiedeln. Jeder kann irgendeine gewöhnliche Spielhölle aufmachen, um den Vögelchen, die dorthin kommen, die Federn auszurupfen. In diese Lokale kommt jedoch niemals ein Adler oder Schwan. Die großen Vögel lassen aber die meisten Federn. Deshalb sind wir hierhergekommen. In einem Jahr haben wir zehnmal mehr verdient als im Hafenviertel, aber wir würden noch mehr verdienen, wenn … wir allein wären, statt uns mit anderen in die Kundschaft teilen zu müssen. — — Dem Publikum würde es nicht gefallen, nur einen einzigen, eleganten Spielsaal aufsuchen zu können —, bemerkte der jüngste der Versammelten.
— Warum würde es ihm nicht gefallen, Nat? — fragte Turner und wandte sich nach Nathaniel Moorsom um. Dieser war ein Mann von etwa achtundzwanzig Jahren, sehr groß und gut proportioniert, denn sein Knochengerüst war mit muskulösem Fleisch bedeckt, das keine Spur von Fett aufwies. Sein energisches Kinn, seine Lippen, die weder dünn noch fleischig waren, die hohe Stirn, die gerade Nase und das leicht gewellte, kastanienbraune Haar ließen auf eine Charakterstärke schließen, die die Tatsachen bestätigt hatten. In der ersten Jugendzeit verdiente er sich seine Studien mit harter Arbeit. Drei Jahre vorher hatte ihm das Geld Turners ermöglicht, leicht und glänzend sein Schlußexamen abzulegen und die Laufbahn eines Anwaltes zu ergreifen. Seine Treue zu Roscoe war sprichwörtlich, und die Hilfe, die er ihm durch seine Ratschläge erteilte, war für einen Mann wie Turner, der oft scharf am Rande des Gesetzes wandelte, äußerst nützlich. Auch Nathaniel Moorsom rauchte Zigarren. Turner versorgte ihn reichlich mit seiner Hausmarke. Nur diejenigen, die Roscoe Turner mit Leib und Seele zugetan waren, konnten eine ,Turner' rauchen. Nat sah seinen Chef durch den sanften Nebel des Zigarrenrauches an und antwortete: — Das Publikum mag es nicht, daß man es zu etwas zwingen will, selbst wenn es sich um etwas handelt, das ihm gefällt. Sobald es sich dazu gezwungen sieht, rebelliert es. Jetzt kommt es freiwillig hierher,
um zu spielen. Wenn dies aber der einzige elegante Spielsaal von San Franzisko wäre, dann würde es störrisch werden, und gerade jene üblichen Spielhöllen aufsuchen, von denen du vorhin gesprochen hast. — — Mag sein —, antwortete Turner, dem es nicht gefiel, wenn man seine Ideen kritisierte. Nathaniel nahm eine chinesische Vase zur Hand, die auf einem Regal stand, und fragte, sich an Turner wendend: — Glaubst du, daß diese Vase, die, wenn mich nicht alles täuscht, hundert Dollar gekostet hat, zerbricht, wenn wir sie auf den Boden fallen lassen? — — Natürlich wird sie zerbrechen —, antwortete Turner. — Ich glaube nicht,—, sagte Nat. — Und um zu sehen, wer von uns beiden recht hat, werde ich sie fallenlassen. — — Sei nicht verrückt! — rief Turner. Aber es war schon zu spät. Nat Moorsom hatte sie auf den Boden fallen lassen, und das prächtige Exemplar der Chinesischen Keramik zersprang, wie Roscoe Turner es vorhergesagt hatte, in tausend Stücke. — Was soll diese Dummheit? — brüllte Turner und rollte wütend die Augen. — Es tut mir leid —, antwortete Moorsom. — Ich war sicher, daß sie nicht zerbrechen würde. Trotzdem hat die Vase eigentlich bewiesen, daß du recht hattest. Es ist bloß bedauerlich, daß man sie nicht mehr zusammensetzen kann… —
Daisy Lorillard erhob ihre melodische Stimme, um zu sagen: — Ich glaube zu verstehen, was Nat beweisen wollte, Roscoe. Wenn das, was er über das Monopol der Spielhäuser sagt, richtig ist, wird es zu spät sein, noch etwas zusammensetzen zu wollen, was du zerbrochen hast. — — Du stellst dich wieder auf seine Seite? — brummte Turner, während er sich an seine Freundin wandte. — Du bist der einzige, der einen Vorteil davon haben wird, wenn dir rechtzeitig die Augen geöffnet werden —, antwortete Daisy. — Es ist tatsächlich so, Turner —, fuhr Nat fort. — Alle anderen Spielhöllenbesitzer zwingen zu wollen, ihre Betriebe zu schließen und dir freie Hand zu lassen, kann für deinen Stolz zwar vorteilhaft, aber für deine Brieftasche sehr nachteilig sein. Du bist stark genug, um jene Bedingungen durchzudrücken, die dir passen. Wenn mein Nachbar eine Henne besäße, die goldene Eier legte, so würde ich mich jedoch schwer hüten, sie zu töten. Ich würde meinen Nachbar nur dazu zwingen, mir wöchentlich zwei Eier von den sieben abzugeben. Fünf würde ich ihm lassen und wäre sicher, daß er noch sehr glücklich darüber ist. — Roscoe Turner lachte breit und schlau. Er hatte verstanden, was sein Advokat ihm beibringen wollte, wobei er ihm die Gelegenheit offen ließ, den Gedanken als eigenen aufzunehmen und so das Ansehen vor seinen Leuten zu wahren.
— Die Idee ist nicht schlecht —, meinte er, — aber bevor wir den Kerlen die Gelegenheit geben, weiterzuleben, müssen wir ihnen zeigen, daß ihr Dasein nur von unserer Gnade abhängt. — — Das ist richtig —, gab Moorsam zu. — Sobald wir damit beginnen, die Stärksten zu überzeugen, werden die Schwächeren sofort klein beigeben. Wir werden am besten mit Eliab Harvey anfangen. — Parkis Prynn, der links von Turner saß, fragte: — Ist dieser Bissen als erster nicht etwas zu groß? — — Wenn wir einen Löwen verschlingen, werden wir sofort alle Wölfe überzeugen, daß wir stärker sind als sie —, antwortete Turner, der bereits jetzt davon überzeugt schien, daß er diesen Plan erdacht hatte, — Wenn wir aber neun Wölfe verschlingen, werden wir keinen Löwen überzeugen, daß wir auch ihn fressen können. Eliab Harvey ist der Löwe. Robert Swaine ist der Tiger, die anderen neun sind nichts als Feiglinge, die sich sofort ergeben werden, wenn sie sehen, daß wir mit den anderen beiden fertig geworden sind. Wir müssen mit Harvey beginnen. Und wenn du keinen Mut hast, ihm gegenüberzutreten, Parkis, werde ich andere finden, die es wagen. — — Was soll ich also tun? — fragte Parkis Prynn. Roscoe Turner lächelte. Das waren jene Antworten, die ihm am besten gefielen. — Du wirst Eliab Harvey aufsuchen und ihm unseren Schutz anbieten, den Schutz der Herren der Stadt
von San Franzisko. Falls er klug ist, wird er nicht ablehnen. Wenn er jedoch dumm ist… dann weißt du wohl, was man mit dummen Leuten zu tun hat… — Nathaniel Moorsom erhob sich und sagte mit gleichgültiger Stimme: — Ich glaube, daß ihr mich hier nicht länger braucht. Ich will jetzt einen kleinen Spaziergang machen. — Roscoe Turner begriff sofort. Moorsom wollte die genauen Pläne nicht erfahren, weil er innerlich damit vielleicht nicht einverstanden wäre. Auf der anderen Seite aber war Nat ihm Treue schuldig und wollte nicht eine ihm widersprechende Meinung zum Ausdruck bringen. — Nein, für den Augenblick benötige ich dich nicht. Du kannst deinen eigenen Angelegenheiten nachgehen —, sagte Roscoe. — Mich wirst du auch nicht mehr benötigen —, meinte Daisy Lorillard und erhob sich. — Die Sachen, die ihr jetzt besprecht, interessieren ja doch nur Männer. — — Natürlich —, pflichtete ihr Roscoe bei, — aber gehe nicht weit weg. — Als Daisy und Moorsom das geräumige Büro Turners verließen, folgte ihnen Parkis Prynn mit mißtrauischen Blicken. Dann wandte Parkis den Kopf und sah die Augen Roscoe Turners hart und drohend auf sich gerichtet. Parkis fühlte ein Schaudern. Hatte Turner seine geheimsten Gedanken erraten…?
Lesen Sie bitte die Fortsetzung im Coyote, Band 26, den Sie bei jedem Buch- und Zeitschriftenhändler erhalten.