Paul Kearney
Der Weg nach Babylon Fantasy-Roman
Ins Deutsche übertragen von Michael Ritz
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Paul Kearney
Der Weg nach Babylon Fantasy-Roman
Ins Deutsche übertragen von Michael Ritz
Dieses E-Book ist die elektronische Sicherungskopie eines Printmediums. Es ist nicht verkäuflich!
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Kurzbeschreibung: Michael Riven war ein gefeierter Fantasy-Autor und lebte auf der Sonnenseite des Lebens, bis er bei einem Ausflug in den Bergen abstürzte und seine geliebte Frau starb. Nach dem Unglück zog Riven sich allein in ein kleines Landhaus zurück — voller Zweifel an sich und der Welt. Plötzlich taucht ein seltsamer Fremder auf und führt Riven nach Minginish — in seine eigene Fantasy-Welt. Ein dunkler Schatten liegt über Minginish: Unwetter verheeren das Land, gefährliche Tiere jagen umher, und alles scheint dem Untergang geweiht. Michael Riven muß dieses Reich, seine eigene Schöpfung, retten, aber zuerst muß er seine Verzweiflung besiegen. Doch wie soll ihm das gelingen — in einem kalten, feindseligen Land voller Gefahren? Ein opulenter, hintergründiger Roman über ein wahrhaft phantastisches Land. Der Debütroman von Paul Kearney, der damit zu dem erfolgreichsten Newcomer in Großbritannien wurde.
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BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Band 20 234
Erste Auflage: Juli 1994 © Copyright 1992 by Paul Kearney All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1994 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: The Way To Babylon Lektorat: Elisabeth Rapp/Reinhard Rohn Titelbild: Paul Dämon Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: Fotosatz Schell, Hagen a.T.W. Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20234-1 obx 4
Für meinen Vater Mein Dank gilt: John Wylkinson für viel harte Arbeit und Ermutigung, Martin & Suzie für viele ausgezeichnete Abendessen und meiner Familie für ihre unermüdliche Unterstützung.
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ERSTES KAPITEL Im Rückblick konnte er sich kaum noch vorstellen, wie es gewesen war. Damals, in den sonnigen Tagen, als sein Körper und sein Geist noch intakt gewesen waren. Bevor seine Welt zusammengebrochen war. In einem einzigen furchtbaren Moment war ihm alles genommen worden, was er liebte. Und jetzt war er allein. Ja, irgend jemand da oben mußte eine verdammt merkwürdige Art von Humor haben. Ich hoffe wirklich, du hast dich über meine Aufführung amüsiert — die zerschmetterten Knochen, die unaufhörlichen Schmerzen und die langen Monate, in denen sie versucht haben, alles wieder zusammenzuflicken. Und die besorgten Freunde. Mein Gott, das war doch am lustigsten gewesen — ihre schmerzvollen Debatten, wann man mir sagen sollte, daß sie tot war. Zerschmettert. Wegen eines Seils, das ich einmal zu oft benutzt habe. Es war immer zu teuer gewesen, ein neues zu kaufen. Ist das nicht zum Lachen? Lach dich doch tot. Die Sonne schien warm auf sein Gesicht. Er öffnete die Augen und sah auf den Fluß und die Wälder, die sich jenseits der großen Rasenfläche erstreckten. Die Gestalten in den Bademänteln wirkten völlig fehl am Platz. 6
Ebenso wie die weißgekleideten Krankenschwestern. Sie stammten aus einer Welt jenseits der Heide und der Adler. Und der Berge. Es gibt kaum etwas Zivilisierteres als Berkshire. Gedankenverloren strich er über die Armlehne des Rollstuhls. Alle waren so verdammt alt hier! Alte Männer und alte Frauen, die auf dem Weg zu einem Liegestuhl in Bournemouth waren, aber vorher noch einmal gründlich durchgecheckt werden mußten. Damit sie nicht umkippten und ihren Eiskaffee verschütteten. Ein angenehmer Ruhestand. Genau das brauche ich. Ein langsames Dahindämmern, mit Pantoffeln und einem Neufundländer Sonntags vielleicht ein Spaziergang. Fast hätte er gelacht, aber der stechende Schmerz in seinem Kiefer durchzuckte seinen Kopf wie ein Stromschlag. Er fluchte lautlos und betastete die Metallstäbe, die man ihm ins Gesicht implantiert hatte. Es wirkte wie die schreckliche Karikatur einer Akupunktur. Der Mann mit der Eisenmaske, das bin ich. Der Schmerz ließ nach, und schließlich spürte er nur noch die Sonne auf seinem Gesicht. Ich weiß, ich bin ein Glückspilz. Normalerweise müßte ich tot sein nach einem Sturz von sechzig Metern. So wie sie. So tot wie man nur sein kann. Es ist nicht richtig, 7
daß Menschen so sterben müssen. Sie sollten Zeit haben für einen letzten Wunsch und all diese Dinge. Einen letzten Kuß ... O ja, da sind wir wieder beim Thema. Du verfluchter Narr. Er rieb sich die Augen, bis sie trocken waren. Sein Kopf schmerzte jetzt wieder. Was soll's, dann habe ich eben Kopfschmerzen. Das Leben ist ein Miststück. Und tausend Jahre entfernt antwortet eine lachende Stimme: >Und dann heiratest du auch noch eine!< Er schob die rechte Hand auf den Kontrollhebel. Der Elektromotor heulte auf, und der Rollstuhl setzte sich ruckartig in Bewegung. Er steuerte einen zügigen Zickzackkurs über den Hof, bemüht, einen Zusammenstoß mit anderen an den Rollstuhl gefesselten Patienten zu verhindern. Haltet eure Bettpfannen fest, ihr pensionierten Bankiers! Dann erschien eine weißgekleidete Gestalt vor ihm, und ein Tablett voller Flaschen und Pillendosen flog durch die Luft. Der Zusammenstoß wurde von dem verwirrten Schrei einer Frau begleitet. Verdammter Mist! Er stellte sich taubstumm und fuhr eilig davon. Tabletten lagen in den Falten seiner Decke, und er spürte irgendeine klebrige Medizin an seinem Hals. »Mr. Riven, kommen Sie sofort zurück. Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun?« Ich muß das Ding frisieren. Man kommt ja mit Krücken schneller voran. 8
Das Summen des Motors verstummte, und er wartete geduldig auf die stämmige Krankenschwester, die auf ihn zukam. Jesus, mit diesen Beinen hätte sie auch ein Bohrturm werden können! »Mr. Riven, ich habe Ihnen nicht erst einmal erklärt, was ich davon halte, daß Sie mit Ihrem Rollstuhl herumrasen. Hören Sie eigentlich nie zu? Es gibt hier noch andere Patienten, Mr. Riven, und die meisten davon sind alt und gebrechlich. Ist es Ihnen egal, was hätte passieren können, wenn Sie einen von ihnen angefahren hätten und nicht mich?« Erzähl mir was von Unfällen, du fette Kuh. Erzähl mir was von Verantwortung. »Ich werde Sie in den Park schieben. Da können Sie nichts anrichten. Seien Sie brav und genießen Sie die Sonne noch etwas. Sie sollten dankbar dafür sein, daß Sie sich hier draußen aufhalten können. Sie sind doch jemand, der sich gerne im Freien bewegt ...« Na klar. Laufen, Springen, Klettern. Nichts mache ich lieber. »Da sind wir. Sie können hier sitzen und die Sonne genießen. In einer Stunde gibt es Essen. Ich werde Sie dann abholen, und die frische Luft wird Ihnen einen schönen großen Appetit gemacht haben.« Sie rauschte davon. Mein Gott, kein Ruhestand kann so langweilig sein wie das hier. Er betätigte wieder den Kontrollhebel, aber der Motor war dem holprigen Rasen nicht 9
gewachsen. Der Rollstuhl bewegte sich nur einen Meter nach vorne und stoppte dann mit einem häßlichen Knirschen. Aua. Muß die Kupplung schon wieder vergessen haben. Ich frage mich, ob es diese Dinger auch mit Allrad-Antrieb gibt. Oder mit Ladefläche. Dann könnte ich meinen Neufundländer mitnehmen. ... Ich kann nicht einmal pfeifen. In theatralischer Pose blickte er finster vor sich hin, bis die Kopfschmerzen wieder einsetzten. Dann seufzte er und starrte auf seine Knie. Verkrümmt und dünn, sogar unter der Decke. Es war jetzt mehr Metall als Knochen in seinen Beinen. Das kriegen wir wieder hin, besser als vorher ... Nun, noch ein Stündchen in dieser herrlichen südlichen Luft, und Schwester Bisbee mit den haarigen Unterarmen, Die-derman-gehorchen-muß, wird mich hineinschieben. Zu einem Feinschmeckeressen aus kleingeschnittenen Würstchen und Stampfkartoffeln. Oder, falls der Koch heute experimentierfreudig ist, ein kleines Steak und Kidneybohnen mit einem schmackhaften Klecks Ketchup. Danach ziehen wir uns in den Salon zurück, nehmen ein paar Likörchen zu uns, werfen unsere Schmerztabletten ein und warten auf das Abendessen. Schließlich torkeln wir zufrieden ins Bett. Ein Leben nach Gutsherrenart. Moment mal, der verrückte alte Molesy kommt Hallo sagen. Er ist 10
nachgewiesenermaßen schwachsinnig und der einzige, der sich mit mir unterhält. Hey, Molesy, auf welchem Planeten befinden wir uns denn heute? Der alte Mann hatte ein rotes, zerfurchtes Gesicht, das aussah wie ein verschrumpelter Apfel, aber seine blauen Augen leuchteten daraus wie ein Gebirgssee bei Sonnenschein. Er schmatzte, hielt dann den Kopf schief und flüsterte: »Sie sind also noch nicht gegangen. Sie sind noch hier?« Aber nein, du alter Schwachkopf, ich bin nur eine Erscheinung. »Wissen Sie, ich frage nur, weil ich jeden Tag damit gerechnet habe, daß Sie verschwinden, weil Sie doch schon einmal dagewesen sind.« Er senkte seine Stimme noch mehr und blickte sich verstohlen um. »Nur Sie und ich wissen davon.« Der rhythmische Tonfall seiner rauhen Whiskystimme verriet seine Herkunft aus den schottischen Highlands. Dahinter verbarg sich noch ein anderer, unbestimmbarer Akzent. »Wir waren dort, und da ist es.« Eines Tages, lieber Molesy, verpasse ich dir eins auf deine große rote Nase. Du und deine zwielichtigen keltischen Geschichten. Du bist ein whiskygetränkter Spinner, der zu lange allein gelebt hat und dem der Nebel der Berge ins Hirn geraten ist. »Keine Angst. Ich weiß, daß Sie nicht darüber reden können. Ich weiß, daß Sie überhaupt nicht reden können. Darum reden auch die 11
anderen nicht mit Ihnen. Sie glauben, Sie hätten mit Ihrer Stimme auch ihren Verstand verloren. So wie sie glauben, ich hätte meinen Verstand verloren.« Er kicherte und wirkte dabei für einen Augenblick verblüffend pfiffig und irgendwie jünger. »Doch was soll's, wir behalten unser Geheimnis noch ein hübsches Weilchen für uns, nicht wahr, Mr. Riven? Wir haben Zeit, viel Zeit ...« Er verlor sich in Erinnerungen. »Ach, mir geht in letzter Zeit so viel durch meinen alten Kopf. Es war schöner auf Skye, ich wünschte, ich wäre zurück in Minginish. Ich vermisse den Wind und den Salzgeruch. Da war ich zu Hause, das ist mein Platz.« Ja, Chef. Vielleicht hast du da sogar recht. Aber du wirst nie wieder dort hinkommen. »Ich muß jetzt weg. Die verdammten Krankenschwestern ...« Und fort war er, ging auf unsicheren Beinen über den Rasen auf das Hauptgebäude zu. Wir haben Zeit, viel Zeit. Mit einer Mischung aus Motorkraft und den Bemühungen seiner gesunden Hand gelang es Riven, zurück auf den Hof zu gelangen. Als er ihn erreicht hatte, fühlte sich sein Kopf an, als müsse er jeden Moment explodieren. Geschafft, ihr Mistkerle! Bemüht euch bloß nicht, mir zu helfen, das könnte eure Geschwüre verstärken ... Verflucht, tut der Schädel weh. Ich wette, er ist immer noch gebrochen. 12
Viele Patienten waren jetzt auf dem Weg in die Gebäude zum Mittagessen. Die Herbstsonne schien warm. Unten am Fluß standen Weiden, deren Äste bis ins Wasser hingen. Sanft glitten ihre dünnen Blätter über die Wasseroberfläche. Er saß gerne an dem Kiesufer, wo die Sonne bis auf den Grund schien. Es war die Athmosphäre des Südens, friedlich und still. Er sah sich um und wünschte, er könnte jetzt dort sitzen. Aber der alte Mann hatte die Gedanken an den Norden wieder in ihm wachgerufen. Gedanken an Felsen, Farnkraut und Berggipfel. Das waren die schlimmsten Gedanken, denn in wenigen Augenblicken würde er sich wieder oben auf dem Sgurr Dearg befinden und auf das durchgescheuerte Seil starren. Im Unterhaltungsraum lief ein Radio. Für einen Moment hörte er mit verzerrtem Gesicht zu. Dann setzte sich der Rollstuhl in Bewegung, und er fuhr hinein. Innerlich pfiff er vor sich hin und dachte an andere Berge. Die Fleisch- und Gemüseportionen, die auf den Tellern der anderen Patienten fein säuberlich voneinander getrennt lagen, waren auf seinem Teller zu einem Einheitsbrei vermengt worden, den er vorsichtig in seinen schmerzenden Mund saugte. Um ihn herum fanden lebhafte Unterhaltungen statt. Der Raum war den mobileren Patienten vorbehalten. Die anderen aßen im Bett auf den Krankenstationen oder in ihren Zimmern. »Möchten Sie noch etwas, Mr. Riven?« 13
Er verdrehte die Augen und warf der jungen Krankenschwester einen Machen-Sie-WitzeBlick zu. Sie lachte. »Schon verstanden. Wenigstens können Sie nicht so auf uns losgehen wie Mr. Simpson.« Sie wandte sich ab. Gott, ich könnte ein Bier gebrauchen! Er hatte seit Monaten keinen Drink mehr gehabt. Die Medikamente, die unaufhörlich in seinen Körper gepumpt wurden, verboten es. Die Vorstellung, sich zu betrinken, schien ihm so angenehm wie abstoßend. Obwohl er zugeben mußte, daß es sich ohnehin erübrigte, soviel zu trinken, bis er nicht mehr auf den eigenen Beinen stehen konnte. Manchmal wünschte er sich zu trinken, bis er alles vergaß. Wünschte sich eine traumlose Dunkelheit, in der er das ausgefranste Seilende nicht mehr vor sich pendeln sehen würde. Dann fragte er sich wieder, ob durch das Trinken nicht alles wieder in seiner Erinnerung hochkommen würde und noch deutlicher vor ihm stehen würde, als jetzt schon. Er saugte die Reste seiner flüssigen Mahlzeit auf, ohne ihren Geschmack wahrzunehmen. Gegenüber saß ein Mann in den mittleren Jahre und aß bedächtig und sorgfältig. Er sah aus, als könne ihn selbst ein Erdbeben nicht aus der Ruhe bringen. Riven fühlte sich gefangen — von den Medikamenten, der Flüssignahrung, dem Alter der Leute um ihn herum. Er blickte sich um und sah schließlich 14
Doody, den Krankenpfleger, am anderen Ende des Raumes. Er winkte ihm zu. Doody war ein Schwarzer aus London. Er war wie Riven bei der Armee gewesen und außerdem im RAMC, dem Royal Army Medical Corps. Er hatte ein ausgesprochen unbekümmertes Naturell. »Hallo Sir, was liegt an?« Riven zog hilflos die Augenbrauen hoch und hielt einen Finger wie einen Pistolenlauf an die Schläfe. »Zum Teufel auch — so sieht's also aus? Damit kann ich nicht dienen. Warten Sie einen Moment, dann bringe ich Sie hier raus.« Er ging hinüber zu der aufsichtführenden Schwester und kehrte dann zurück. »Kommen Sie, wir lassen die alten Knacker sich die Bäuche vollschlagen und schnappen etwas frische Luft.« Er schob Riven wieder nach draußen. Goldenes Nachmittagslicht lag über dem Fluß. Sofort fiel Riven das Atmen wieder leichter. Das ewige Herumsitzen gab ihm das Gefühl, daß seine Lungen zusammenschrumpften. Früher war er viel gelaufen, viele Meilen, bis seine Lungen unendlich weit waren. All diese Ausdauer war am Fuße des verdammten Berges zurückgeblieben. »Hier, Sir, nehmen Sie das.« Doody reichte ihm ein Notizheft und einen Bleistift. »Sie haben es heute morgen liegengelassen, nicht wahr? Ich kann schon verstehen, daß Sie es manchmal nicht benutzen wollen.« 15
Manchmal macht es die Sache leichter, schrieb Riven schnell. Manchmal — er hielt inne. Manchmal ist mir alles scheißegal. Doody sah ihn mit ungewohntem Ernst an. »Das ist es Ihnen wirklich, was? Viele Leute sagen das, aber ich glaube, Sie sind der einzige Kerl, der weiß, was es heißt.« Der Bleistift blieb stumm. Doody beugte sich vor. »Es muß jetzt jeden Tag so weit sein, daß sie Ihnen die verfluchten Stahlschienen aus dem Gesicht nehmen, Sir. Dann können Sie wieder essen und reden und mich vollkotzen, wenn Sie Lust dazu haben.« Er richtete sich für einen Moment auf und sah sich um, als müsse er sich vergewissern, daß niemand in der Nähe war. »Und was viel wichtiger ist: Ich werde dann das eine oder andere Bier in ihren Hals schütten können.« Er lächelte, und sein Gesicht wurde dabei noch häßlicher, als es ohnehin schon war. Riven und er schlugen sich auf die ausgestreckten Hände. Du verdammter Zauberer. Ohne dich würde ich durchdrehen. Und ein gesunder Verstand ist eine fragile Sache. Ein schmaler Grat zwischen Licht und Finsternis. Er erinnerte sich daran, wie die Felsen an ihm vorbeigerast waren, an das Gefühl, daß ihm der Blick auf etwas gewährt wurde, das nur selten jemand sah, der nachher noch davon erzählen konnte. Der Tod. 16
Hier bin ich, hatte der Tod grinsend gesagt. Ich bin immer dagewesen, habe immer auf dich gewartet. Der ungeladene Gast. Und es war ihm egal gewesen. Ein leichtes Lächeln glitt unwillkürlich über sein Gesicht. Ich war glücklich, ihn zu treffen und ihm die Hand zu schütteln. Er brachte mich dahin, wo ich hinwollte. Der Schmerz der Erinnerung überwältigte ihn wieder, unbarmherzig wie immer. Es war ärgerlich, immer wieder unversehens von ihm überrascht zu werden. Würdelos. In den besten Geschichten — seinen eigenen — kam so etwas nicht vor. Es wird schnell langweilig, von Trauer zu hören. Er schüttelte den Kopf, soweit er dazu in der Lage war, befreite sich vom Nebel der Berge und dem Geruch der Heide. Er sah ein Gesicht vor sich: das einer dunkelhaarigen Frau mit buschigen Augenbrauen und einem ausgeprägten Kinn. Sie war sehr jung. Wer war sie? Vielleicht eine seiner Romanfiguren. Eine Jungfrau aus dem Reich der Träume und Geschichten. Es ist nicht immer einfach, eine grenzenlose Fantasie zu haben. Er wendete den Rollstuhl ruckartig. Doody sprach mit einer der Krankenschwestern. Ihr Gesicht sah dem der Frau aus Rivens Vorstellungswelt verdächtig ähnlich. Soviel zu der grenzenlosen Fantasie. Doody blickte herüber und winkte. 17
»Es sieht so aus, als hätten Sie eine Verabredung mit dem obersten Knochenflicker. Ich bringe Sie gleich hinüber.« Riven deutete ein Nicken an. Das Lächeln der Krankenschwester blieb unerwidert. Eine Verabredung. Und zweifellos galt es auch, Versprechungen einzuhalten. Bringt mir den Knochenflicker. Er bemerkte nicht, daß jemand ihn aus dem Schatten der Veranda beobachtete. Molesys Gesicht mit den berechnenden Augen wirkte für einen Moment wie das eines jungen Mannes. »Nun, Michael, es sieht so aus, als würden Sie Fortschritte machen ... noch ein letzter Stich ... das war's.« Er konnte nur das helle Licht über sich sehen. Er spürte, wie die geschickten Hände über sein Gesicht glitten und registrierte das leise Knirschen von Metall auf Knochen. Es war wie beim Zahnarzt. Merkwürdig, wie locker sein Unterkiefer war. Die Möglichkeit, ihn nach so langer Zeit wieder zu bewegen, war ungewohnt. »Sehr schön. Es werden kaum Narben zurückbleiben. Wenn die anderen Knochen genausogut verheilen, werden Sie bald darüber lachen ...« Der Chirurg brach ab und verzog das Gesicht. »Ich werde Sie jetzt den Kiefer bewegen lassen. Seien Sie erst einmal ganz vorsichtig. Keine plötzlichen Bewegungen. Da ...« 18
Es funktioniert. Verdammt noch mal, es funktioniert! »Ich kann sprechen«, sagte er mit belegter Stimme. Zum ersten Mal seit Monaten hörte er sich selbst sprechen. Er mußte mit den Tränen kämpfen. Die letzte Person, die seine Stimme gehört hatte, war sie gewesen. »Haben Sie irgendwelche Schmerzen oder Unannehmlichkeiten? Außer der allgemeinen Steifheit natürlich.« Er schüttelte den Kopf. Nicht mehr als sonst. Der Arzt beugte sich über ihn. Er hatte graue Haare und ein Raubvogelgesicht. Seine große Brille hatte eine schwarze Fassung. »Hey, Doc, vielleicht sind Sie doch nicht so häßlich, wie ich immer dachte.« Er grinste und ignorierte den stechenden Schmerz, der seinen Kiefer durchzuckte. »Das gleiche gilt für Sie. Sie sehen jetzt nicht mehr aus wie eine Fernsehantenne. Versuchen Sie mal, sich aufzusetzen.« Er tat es und spürte sofort, wie sein Unterkiefer nach unten klappte. Ohne die Metallschienen fühlte er sich wie ein Pendel an, das man an seinem Kopf befestigt hatte. Er spürte Speichelfäden am Kinn und wischte sich über den Mund. »Herrje, ich muß alles wieder von vorne lernen.« »Das wird nach ein oder zwei Tagen aufhören, wenn Sie sich daran gewöhnt haben, daß Sie jetzt wieder selbst dafür verantwortlich sind.« »Was ist mit dem Rest?« 19
Der Arzt schwieg für einen Moment. »Ich fürchte, das wird länger dauern. Es wird noch einige Zeit vergehen, bis Sie wieder laufen können. Aber der Arm sollte jetzt mit der Zeit immer kräftiger werden ...« Zeit. Kein Problem, davon habe ich jede Menge. Die Worte, die er von sich gab, waren unbeholfen und undeutlich artikuliert, so, als spräche er mit vollem Mund. Er trug nach wie vor sein Notizbuch mit sich herum — für den Fall, daß es ihm zu anstrengend war zu sprechen oder sein Gegenüber besonders schwer von Begriff war. Doody verstand natürlich jedes Wort, das er sagte, und schimpfte gelegentlich mit ihm, wenn er absichtlich nuschelte. »Nachdem man Ihnen diesen postmodernen Hutständer aus dem Gesicht entfernt hat, sollten Sie es mal bei Schwester Bisbee, der alten Kuh, probieren. Sie glaubt, daß Sie nicht ganz beieinander sind. Man kann sich prima mit ihr unterhalten. Sie hat nichts als Aspirin und Verbandszeug zwischen ihren Ohren.« Und zum ersten Mal seit langer Zeit lachte Riven, obwohl sein Gesicht dabei schmerzte. Die weiße Gestalt von Schwester Bisbee rauschte in den Raum wie ein Segelschiff in voller Fahrt. Doody verdrehte die Augen. »O je, jetzt gibt es was. Wahrscheinlich sollte ich gerade irgendwelche Hintern abwischen oder Fußböden sauberlecken.« 20
»Doody, sollten Sie zu dieser Tageszeit nicht woanders sein?« fragte Schwester Bisbee mit gerunzelter Stirn. »Zum Beispiel in der Wäschekammer?« »Aber ja, Massah, ich sein unterwegs«, antwortete Doody. Er nickte Riven zu und verschwand mit einem kurzen Winken. Schwester Bisbee warf ihm noch einen tadelnden Blick hinterher und begann dann mit der Arbeit. Sie brachte sein Bettzeug in Ordnung und bewegte ihn dabei wie ein Kind. »Nun, Mr. Riven, ich hoffe, Sie fühlen sich stark heute. Es ist Besuch für Sie gekommen. Ein wichtig aussehender Mann. Muß ein Rechtsanwalt oder so etwas sein. Wenn ich es Ihnen bequem gemacht habe, schicke ich ihn herein. Haben Sie Ihr Notizheft griffbereit? Gut. Ich werde ihn jetzt hereinbitten.« Ein Besucher für den neuerdings wieder sprechenden Michael Riven. Mist! Ein kleiner, untersetzter Mann in einem unauffälligen, aber schlechtsitzenden Anzug. Er hatte ein breites, rötliches Gesicht, und seine Haare waren fast militärisch kurz geschnitten. Wären seine weichen Augen nicht gewesen, hätte man ihn für einen Hufschmied oder einen Hauptfeldwebel halten können. Er warf Riven ein Lächeln zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Hallo, Mike.« Riven drückte sie ihm kurz. Der Anflug eines Lächelns glitt über sein Gesicht. »Hugh«, sagte er deutlich. Der Mann war sein Verleger, 21
Geburtshelfer der Geschichten, die er geschrieben hatte, als die Welt noch eine andere gewesen war. Der Mann namens Hugh nahm neben Riven Platz. Sein Stuhl scharrte über den Boden, als er ihn näher heranzog. Er schien Schwierigkeiten damit zu haben, Riven in die Augen zu schauen. Mein Gott, seh ich wirklich so schrecklich aus? Schließlich sah er Riven an. Er zuckte mit den Schultern. »Zum Teufel, man kann nicht viel dazu sagen, oder?« »Nein«, erwiderte Riven. Das Wort kam klar wie Glas aus seinem Mund. Hugh schlug sich auf das Knie. »Ich bin hier, um dir jede Menge Mitgefühl zu versichern und dann allmählich zur Sache zu kommen und nach deiner Schreiberei zu fragen.« Er grinste kurz wie ein Schuljunge. »Mein Mund ist so trocken wie altes Brot. Solche Sachen lassen sich besser unter dem zivilisierenden Einfluß von Alkohol besprechen. Aber der ist tabu, habe ich gehört.« Riven nickte. »Für ein Bier würde ich meine Seele verkaufen.« Jetzt, da das Eis gebrochen war, entspannte Hugh sich sichtlich. Er blickte sich um und fischte eine seiner stinkenden Zigaretten aus der Tasche. Genüßlich zündete er sie an. »Die Medikamente, ich weiß. Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Du mußt ja völlig high sein bei dem ganzen Zeug, das sie dauernd in 22
dich hineinpumpen ...« Er brach ab und betrachtete seine Zigarette. »Es tut mir so leid, Mike. Leid für dich und ... für sie. Leid wegen dieser ganzen beschissenen Sache. Was soll ich sagen, was du nicht schon hundertmal gehört hast? Du weißt, wie sehr ich sie mochte. Ich habe sie bewundert. Sie war eine bezaubernde Frau. Es ist alles so sinnlos.« Riven nickte wieder. Trauer war nicht nur langweilig. Sie war auch banal. »Ich weiß«, sagte er rauh. Es klang, als würde seine Batterie leer werden. »Vergiß es, Hugh.« Hör auf davon. Sein Verleger deutete mit der brennenden Zigarette auf Rivens Hand. »Zum Glück bist du Linkshänder.« Riven runzelte die Stirn. Wie bitte? Dann begriff er. Mein einziges unversehrtes Körperteil. Meine Schreibhand. Das war doch lustig. »Ich schreibe nicht. Werde für eine ganze Weile nicht schreiben, Hugh.« Der stämmige Mann nickte verlegen. »Um ehrlich zu sein, ich habe nichts anderes erwartet. Du wirst Zeit brauchen. Es wäre nicht anständig von mir, jetzt über Fristen und den Fortgang der Arbeit zu reden ...« Er sah aus, als hätte er trotzdem nichts anderes lieber getan. »Das Wichtige ist, daß du Fortschritte machst. Letzte Woche konntest du noch nicht einmal sprechen. Die Ärzte sagen, du kommst wieder vollkommen in Ordnung ... Wir werden dich nicht drängen.« 23
Da kannst du Gift drauf nehmen. »Über eine Sache müssen wir trotzdem noch reden, Mike. Das dritte Buch. Alle Welt verlangt danach. Der letzte Band der Trilogie. Die Fans schreiben uns deswegen.« Riven begann zu seiner eigenen Verwirrung zu kichern. Fans! Ich habe Fans! Mein Gott! Hugh lächelte. »Ich weiß. Seit dem Unfall haben sich die Verkaufszahlen fast verdoppelt. Manchmal ist die menschliche Natur eine seltsame und befremdliche Sache. Eine Tragödie im wirklichen Leben, und plötzlich will jeder die erfundenen Geschichten lesen. Ich habe das nie richtig begriffen.« Rivens Lachen blieb ihm im Halse stecken. Seine Kehle war trocken, und am liebsten hätte er ausgespuckt. »Vielleicht sollte ich in meinem nächsten Buch darüber schreiben«, knurrte er. Eine Felswand auf Skye. Er saß an der Kante, und das schlaffe Seil schwang vor ihm. Er konnte den Schrei immer noch hören. »Es tut mir leid«, sagte Hugh. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl herum. Er sah auf die Uhr. »Ich werde jetzt gehen. Ich glaube, das ist dir auch lieber. Ruf mich an, wenn ... wenn du über alles nachgedacht hast.« Er stand auf, und für einen Moment schien es, als wollte er Riven die Hand hinstrecken, aber er überlegte es sich anders. »Ich geh dann jetzt«, wiederholte er. »Halt die Ohren steif, Mike.« Dann drehte er sich um und ging. Riven 24
fingerte am Kontrollhebel des Rollstuhls herum. Warum lösen diese Dinger eigentlich ein solches Unbehagen aus? Wenn man eine Weile in ihnen gesessen hat, verwandelt man sich in einen Metallzentaur, dem jeder aus dem Weg geht. Hier kommt Michael Riven mit seinem fantastischen Raketenschlitten. Er fuhr zum Fenster und blickte hinaus. Herbst. Herbst auf Skye. Das Farnkraut ist braun geworden. Auf den Cuillin-Bergen könnte der erste Schnee fallen. Aber der November kann da oben ausgesprochen mild sein ... »Ihr Besucher sah aber nicht besonders glücklich aus«, sagte Doody herzlich. Er schob einen Wäschewagen herein und rollte ihn neben Rivens Rollstuhl. »Bürokraten«, murmelte Riven abwesend. »Davon gibt es jede Menge.« »Ich dachte, das wüßten Sie mittlerweile, Sir. Es hat auch seine Vorteile, im Krankenhaus zu liegen.« Jawohl. Hat es. »Den wievielten haben wir heute, Dood?« »Zwölfter November. Zum Teufel, wie sehen denn diese Laken aus. Der verdammte Mr. Simpson hat wieder nicht aufgepaßt. Man sollte doch meinen, daß ein Handelsbanker seinen Hintern unter Kontrolle hat. Irgendwo hat es bei ihm einen Kurzschluß gegeben, wenn Sie wissen, was ich meine.« Ich bin seit vier Monaten hier. Jesus. 25
»Doody, wie oft habe ich seit meiner Einlieferung Besuch gehabt?« Doody hielt inne und dachte nach. »Oh, jede Menge. Zumindest ist oft jemand hiergewesen. Nicht, daß Sie jemanden zu Gesicht bekommen haben. Sie waren nur bei Ihnen, wenn Sie bewußtlos waren.« Er zog die Augbrauen hoch. »Und Sie haben nie gesagt, warum Sie niemanden sehen wollten.« Erinnerungen. Mitgefühl. Um Gottes willen. Er starrte wieder aus dem Fenster und beobachtete die Weiden unten am Fluß. Einmal hatte er den blauen Schatten eines Eisvogels dort unten gesehen. Ein EisvogelSommer ... Warum haben sie ihn zu mir gelassen? Natürlich, der weiße Wal. Was hatte sie gesagt? Wie ein Rechtsanwalt. Der Glanz der Respektabilität. Armer alter Hugh. »Wissen Sie, Sir, es klingt vielleicht bescheuert, aber Sie werden immer ruhiger in den letzten Tagen. Als Sie noch Ihr Notizbuch benutzt haben, haben Sie mehr erzählt als jetzt, da Sie wieder sprechen können.« Doody sah ihn scharf an. Das Bündel mit Kopfkissenbezügen in seiner Hand schien er vergessen zu haben. Riven sah ihn an. »Tja, Dood, Du weißt, woran das liegt, nicht wahr?« fragte er traurig. Doody schüttelte den Kopf. »Es sind die Alkoholentzugserscheinungen, du Weichbirne.« 26
»Aha!« Doody nickte weise und nahm seine Beschäftigung wieder auf. Er schob den Wäschewagen vor sich her. »Jetzt, da die Medikamente langsam abgesetzt werden, werde ich mal sehen, ob ich nicht die richtige Arznei für Sie besorgen kann, Mr. Riven, Sir ...«
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ZWEITES KAPITEL Das Beechfield-Center war ein privates Pflegeheim für Leute, die keine staatliche Einrichtung dieser Art in Anspruch nehmen wollten. Man konnte es nicht als >exklusiv< bezeichnen, aber es wurde doch Wert darauf gelegt, eine bestimmte Klientel anzusprechen. Hauptaufgabe des Centers war es, wohlhabende Mitglieder der älteren Generation auf die Unbilden des Alters vorzubereiten. Aus diesem Grunde standen Arthritis, Rheuma und geistige Verwirrung ganz oben auf der Liste der Krankheiten, die innerhalb seiner weißen Mauern behandelt wurden. Riven war eine Ausnahmeerscheinung, aber er war dennoch mit offenen Armen aufgenommen worden. In der Literaturwelt hatte er einen gewissen Namen. Er hatte zwei FantasyRomane geschrieben, die sich ganz gut verkauften und ihm ein ordentliches Einkommen garantierten, das er nur gelegentlich mit anderen Tätigkeiten aufbessern mußte. Seine Eltern hatten immer versucht, ihm einen >soliden< Beruf schmackhaft zu machen, und wenn sie auch von der Armee nicht begeistert gewesen waren, hatte sie dieses Kriterium wenigstens erfüllt. Doch Riven hatte die Armee als Leutnant 28
verlassen. Er hatte genug gesehen. Er hätte diese Erfahrung nicht missen mögen, aber es war keine Lebensaufgabe gewesen. Dennoch würde er immer stolz darauf sein, daß er Soldat gewesen war. Er hatte sich damit einen Kindheitswunsch erfüllt, und es hatte ihm Zeit zum Nachdenken gegeben. Im Beechfield-Center war man froh, ihn bei sich zu haben, wenn sein Verhalten auch manchmal einigermaßen exzentrisch war. Da war beispielsweise seine Weigerung, Besuch zu empfangen, oder die Tatsache, daß er einige Mitglieder des Pflegepersonals beharrlich ignorierte. Aber man mußte an die doppelte Tragödie denken, die ihn getroffen hatte: den Tod seiner Frau und seine eigenen schweren Verletzungen. So begegnete man ihm mit Nachsicht und würde das weiterhin tun, solange die Versicherung für seinen Aufenthalt bezahlte. Der Chefarzt, Dr. Lynam, ein freundlicher, stets lächelnder Mann, sah des öfteren nach ihm. Er war einer jener Männer, die mit vollendeter Inkompetenz Pfeife rauchen. Dennoch ließ er nicht davon ab; er wußte, daß er dieses Laster überwinden würde, wenn er erst im Ruhestand in seinem Haus in den Cotswoods leben würde. Er brachte seinen Patienten die gleiche gedankenverlorene Zuneigung entgegen wie seinem Hund. Das machte ihn nicht zu einem schlechten Arzt, löste bei den ihm anvertrauten Patienten aber das unangenehme Gefühl aus, mit ihren 29
Leiden das ruhige Gleichmaß seines Daseins zu beeinträchtigen. Es gab zwei Krankenschwestern: Schwester Bisbee und Schwester Cohen. Bisbee war ein Relikt vergangener Zeiten, man konnte sie sich gut in einem viktorianischen Klassenzimmer vorstellen. Sie war so warmherzig wie ein südamerikanischer Diktator. Ihr Gesicht glich einer mächtigen rosafarbenen Felswand, und ihr Haar war so straff nach hinten gekämmt und dort festgesteckt, daß Riven vermutete, ihr Gesicht würde abschlaffen wie das einer Dogge, wenn sie ihre Frisur einmal lösen würde. Schwester Cohen war das genaue Gegenteil. Sie war jung und zartgliedrig, hatte spitzbübische Augen und dunkles Haar, dessen Anblick Riven manchmal kaum ertragen konnte. Es gab noch einige andere Hilfskräfte sowie das Küchenpersonal. Doody betätigte sich sowohl als Pförtner als auch als Hilfspfleger, und manchmal machte er sich in der Küche nützlich. Niemand schien genau zu wissen, was genau sein Aufgabenbereich war. Als neunzehnjähriger Corporal bei den Rosshire Buffs hatte er freiwillig seinen vorzeitigen Abschied genommen, um ein Kriegsgerichtsverfahren zu vermeiden. Er hatte einen Offizier geschlagen. Es war in Irland gewesen. Die Patrouille, die er führte, war auf einen verdächtigen Lieferwagen gestoßen. Die Nachrichtenabteilung glaubte, er enthielte einen Sprengsatz, und so hatten sie auf einem 30
Hügel einen Beobachtungsposten eingerichtet, um die Gegend im Auge zu behalten. Dann erschien der Zugführer und verlangte von Doodys Spähtrupp, hinunterzugehen und den Lieferwagen zu durchsuchen. Als Doody sich weigerte, wurde er als Feigling und noch einiges andere beschimpft. Er hatte den Offizier niedergeschlagen. Einen Augenblick später war der Lieferwagen in die Luft geflogen. Doody hatte sich danach zum Royal Army Medical Corps gemeldet. Er machte seine Sache dort gut, aber der Offizier hatte weitreichende Beziehungen. Und so war Corporal David Doody mit zwanzig Jahren arbeitslos, nachdem ihm die Armee sowohl das Töten als auch das Heilen beigebracht hatte. Und das war das Logischste, das ihm in der Armee widerfahren war, pflegte er zu sagen. »Und so bin ich hier gelandet«, fügte er stets hinzu. »Wische den alten Krachern den Hintern ab und versuche, unserem Stalin in der weißen Uniform aus dem Weg zu gehen.« »Das Wetter ist herrlich«, schwärmte Schwester Cohen. Riven nickte. Sie schob ihn auf die Rasenfläche hinter dem Center. Er war gut eingepackt, eine Decke lag über seinen Beinen. Doch die Sonne schien hell und warm, und Stare umschwirrten die Weiden. Wie im Frühling. »Ich lasse Sie jetzt hier stehen und komme in zehn Minuten zurück, um nachzusehen, ob es 31
Ihnen nicht zu kühl wird. In Ordnung, Mr. Riven?« Er nickte wieder und rang sich ein Lächeln ab. Wie lang ihr Haar wohl wäre, wenn sie es offen trüge ...? Ach, verdammt. Er saß da und lauschte dem Murmeln des Flusses und den zankenden Staren. Der Himmel war klar, winterklar, und obwohl der Nachmittag noch nicht weit fortgeschritten war, neigte sich die Sonne bereits. Die Schatten wurden länger, und das Licht begann dämmerig zu werden. Ein Hand legte sich schwer auf seine Schulter, und er fuhr herum. Molesy. »Ah, Mr. Riven.« Er sah sich verstohlen um. »Ich habe gehört, Sie können wieder sprechen.« »Das stimmt.« Wenn du wieder mit diesem Unsinn über Skye anfängst, Molesy, fängst du dir eine. Krüppel oder nicht. Der alte Mann war alles andere als sauber, und der Geruch, der von ihm ausging — nach Schweiß und Erde — überraschte Riven. Im Beechfield-Center wurde peinlich genau auf Sauberkeit geachtet. Molesy schien der Aufmerksamkeit der Schwestern irgendwie entgangen zu sein. Überhaupt, er hatte den alten Mann noch nie zusammen mit einer der Schwestern oder einem anderen Angestellten gesehen. Riven spürte ein merkwürdiges Unbehagen. Als ob sie gar nicht wüßten, daß er hier ist?
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Molesy sah sich wieder um, wachsam wie immer. Hatte er Angst, gesehen zu werden? Riven rutschte in seinem Rollstuhl herum. »Wie lange sind Sie schon hier, Molesy?« fragte er. Der alte Schotte ignorierte ihn. »Wir teilen ein Geheimnis, wir beide«, sagte er — und hinter seiner schottischen Mundart war da wieder dieser Akzent, den Riven nicht einordnen konnte. »Aber keine Angst, das Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben.« »Welches Geheimnis?« fragte Riven verärgert. »Aber, aber, Mr. Riven, machen Sie sich nicht lustig über mich. Sie kommen von Eileen A Cheo. Sie wissen, was in den Bergen über der See liegt, wo der Wasserfall sich herunter zum Kap des Wolfherzens ergießt.« Er ist nicht mehr bei Trost. Er ist so verrückt wie eine Scheißhausratte. Aber das paßte nicht zu dem verschmitzten Gesicht des alten Mannes und seinem konzentrierten Blick. Seine Gesichtsmuskeln schienen sich für Sekunden zusammenzuziehen. Riven hatte für einen Augenblick den Eindruck, daß Molesy nicht alt war. Aber dann war es wieder vorbei. »Wenn Sie Ihre Beine wiederhaben und man Sie wieder zusammengeflickt hat, denken Sie daran, nach Hause zu gehen. Wir alle müssen irgendwann nach Hause gehen«, sagte Molesy ernst. »Sie werden dort gebraucht — da, wo sich Berge und Meer treffen.« Seine blauen 33
Augen funkelten. »Da oben gibt es Dinge, die erledigt werden müssen.« Riven sah Schwester Cohen über den Rasen auf sie zukommen. Molesy folgte seinem Blick und zuckte zusammen. Er fluchte leise. »Zeit, daß ich mich verdrücke«, murmelte er. »Zeit, wieder auf der Straße des Nordens zu wandern. Erinnern Sie sich an den Geruch der See, Mr. Riven, und den Schrei des Brachvogels zwischen den Gipfeln der Black Cuillins? Vergessen Sie das nicht hier im Süden, wo die Luft voller Rauch ist und das Wasser schal. Denken Sie daran, wohin Sie gehen müssen.« Und er taumelte eilig über die Wiese davon, rempelte dabei einen anderen Patienten an. Schließlich verschwand er zwischen den Bäumen, und nur ein schwacher erdiger Geruch kündete noch von seiner Anwesenheit. »Alles in Ordnung, Mr. Riven?« sagte Schwester Cohen fröhlich. Sie nahm die Griffe des Rollstuhls. »Wer, zum Teufel, ist das?« fragte Riven sie. »Wer?« »Der alte Mann — der alte Schotte. Ist er ein Patient?« »Wir haben keine Schotten in Beechfield, Mr. Riven. Nur einen Iren, der jetzt zu Abend essen wird. Es wird langsam kühl, finden Sie nicht auch?« Ein leichter Schauder durchlief Riven. Doch das kam nicht von der Kälte.
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Es wurde jetzt sehr früh dunkel, und er verbrachte abends viel Zeit in dem Erholungsraum. Die Patienten sahen dort fern, spielten Karten oder stritten halbherzig miteinander. Riven las. Er versuchte, in der »Fantasy-Szene« auf dem laufenden zu bleiben, wie sein Verleger es nannte. Er fragte sich manchmal, ob er jemals wieder schreiben würde. Es gab da ein dunkles Gefühl der Vergeblichkeit, das ihn jedesmal verharren ließ, wenn sein Stift das Papier berührte, und das jedes Wort, das er schrieb, in Unsinn verwandelte, nutzlosen Unsinn. Und so verbrachte er die langen Abende des nahenden Winters wartend. Außer Hugh hatte er mit niemandem aus seinem früheren Leben gesprochen, seit er das Krankenhaus verlassen hatte. >Früher< war seine Bezeichnung für das Leben vor dem Unfall. Er konnte sich kaum vorstellen, daß es ein solches Leben wirklich gegeben hatte. Der lachende Zugführer in der Armee, der Liebhaber, der Ehemann, der Schriftsteller. Alles das war jemand anderer gewesen. Er blickte aus dem Fenster hinunter zum Fluß, der langsam in der Dämmerung versank. Dorthin, wo Molesy verschwunden war. Das wird wieder eine dieser Nächte. Nun, es ist nicht die erste, und es wird nicht die letzte sein. Wie lange ist es her, daß ich zum ersten Mal auf Skye war? Ein unvergeßlicher Besuch, als ich noch in der Armee war. Ein Winter vor langer, langer Zeit. 35
»Wissen Sie, Sir, manchmal glaube ich, wenn es mich nicht gäbe, würden Sie sich vielleicht ein Loch graben und sich darin verstecken. Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun? Sie sitzen herum und starren ins Leere.« Verwirrt drehte sich Riven vom Fenster weg. Vor ihm stand Doody und betrachtete ihn mißbilligend. Verlegen wendete er den Rollstuhl. »Was soll's, ich habe hier einen Auftrag zu erfüllen.« Doody ging hinter den Stuhl und packte die Griffe. »Wir machen einen Ausflug ins Zauberreich, alter Junge — aber falls jemand fragen sollte, ich bringe Sie auf die Latrine.« Er schob Riven aus dem Erholungsraum und weg vom Lärm des Fernsehapparats. Dann blickte er sich nach allen Seiten um, als sei er auf Patrouille, und schob Riven in einen Seitengang. Er pfiff leise vor sich hin. »Darf man fragen, wo es hingeht, oder handelt es sich um ein Staatsgeheimnis?« fragte Riven mürrisch. Doody lachte. »Heute abend, Sir, werden wir beide uns eine Dröhnung verpassen. Sie bekommen ja jetzt keine Medikamente mehr.« Schließlich hielten sie vor der Tür eines Vorratsraums. Doody zog strahlend ein Schlüsselbund aus der Tasche. Er öffnete die Tür und verbeugte sich tief. Riven rollte in den Raum. 36
»Ist das eine verdammte Schatzhöhle, oder nicht?« fragte Doody. Er schloß die Tür und machte das Licht an. Riven antwortete mit einem Lachen. Auf einem Tisch in der Mitte des vollgestellten kleinen Raumes befanden sich mehrere Sechserpackungen Bier und eine große Flasche irischen Whiskys. Zwei Bierund zwei Schnapsgläser glänzten daneben. »Sagen Sie nicht, ich hätte nicht an alles gedacht. Ich habe sogar das Bier vorher kalt gestellt.« Doody grinste. Zischend verspritzte etwas Bier, als Riven die erste Dose aufriß. »Musik in meinen Ohren«, sagte er und begann zu trinken. Doody tat es ihm nach. »Anne Cohen paßt für uns auf«, sagte er. »Wir brauchen also keine Angst vor dem alten Drachen zu haben.« »Wie, in aller Welt, hast du das hier reingebracht?« Doody nahm einen langen Schluck und schloß die Augen für einen Moment, bevor er antwortete. »Kein Problem. Ich schiebe den ganzen Tag Wäschekörbe herum. Wäschekörbe sind groß. Man kann eine Menge Sachen darin verstauen. Wahrscheinlich könnte ich eine ganze Ballettgruppe hereinschmuggeln, wenn ich wollte.« Mit einem Schluck leerte Riven das Glas zur Hälfte. Er legte den Kopf zurück und starrte an die Decke, an der eine einzelne Glühbirne hing. »Weißt du, Doody, heute abend werde ich total ...« »Ganz und gar«, warf Doody ein. 37
»Völlig.« »Hundertprozentig« »Versacken.« »Auf das Vergessen, Sir!« Und ihre Gläser stießen klirrend zusammen. Sie bewegten sich geräuschlos durch die Straße. Seine Augen glänzten aus dem mit Tarnfarbe beschmierten Gesicht. Er machte eine Abwärtsbewegung mit der Hand. Der Spähtrupp ging in Deckung. Vier Soldaten verschmolzen mit Türeingängen. Ihre Gewehre beschrieben sichernde Bögen. In der Dunkelheit sahen sie aus wie volle Müllsäcke, die man zum Abholen bereitgestellt hat. Vorsichtig gingen sie weiter. Das Funkgerät rauschte leise. Um sie herum starrten die leeren Fensterhöhlen und geschlossenen Türen sie feindlich an. Einige waren zugenagelt, in anderen glänzten zerbrochene Fensterscheiben. Ein Hund bellte, und in der Ferne hörte man schwach das Rauschen des nächtlichen Verkehrs. »Hallo Mike Eins Null, hier ist Null. Verständigungsprobe, Kommen.« Er betätigte die Sprechtaste und spürte den Druck des Kehlkopfmikrophons. »Hier Mike Eins Null Alpha, ich höre Sie gut, Kommen.« »Hier Null, verstanden, Ende.« Sie kamen zu einer Kreuzung, die vom fahlgelben Licht einer einzigen Straßenlampe erleuchtet wurde. Glasscherben bedeckten die 38
Straße, und ein ausgebranntes Auto, das am Tag zuvor Teil einer Barrikade gewesen war, lag schwarz und verbeult auf dem Asphalt. Einer nach dem anderen passierten sie die gefährlich helle Stelle und bezogen schweratmend Stellung in der Dunkelheit auf der anderen Seite der Kreuzung. Dann gingen sie weiter, eine dunklere, engere Straße entlang, in der sich zahlreiche verlassene Häuser befanden. Überall war Graffiti an den Wänden. Einer der Soldaten trat gegen einen Stein, der über die Straße polterte, und sie zuckten alle zusammen. Die drei anderen verfluchten den Mann. Dann wurde die Nacht von einem grellen Blitz zerrissen. Der Luftdruck riß sie von den Beinen und preßte ihnen die Luft aus den Lungen. Im nächsten Augenblick kam der Knall und mit ihm ein Hagel von Ziegelsteinen und eine Staubwolke. Der Soldat, der als erster gegangen war, verschwand in der Explosion. Riven wurde über die Straße geschleudert, und das Gewehr in seiner Hand ging los, obwohl es gesichert war. Er lag zwischen Ziegelsteinen in den Überresten eines kleinen Vorgartens und dachte: Jetzt ist es also passiert. Schüsse kamen aus einem Haus weiter unten in der Straße, und er hörte, wie um ihn herum Kugeln einschlugen. Er drückte die Sprechtaste des Funkgeräts. »Mike Eins Alpha, Feindberührung ...« 39
Er kroch in Deckung, als Einschläge den Asphalt unmittelbar vor ihm zerrissen. »Belsham! Johnson! George!« schrie er. Ihm fiel ein, daß Johnson der Mann an der Spitze gewesen war und wahrscheinlich nie wieder etwas hören würde. Gewehrfeuer ganz in der Nähe beantwortete sein Rufen. Dann ertönte eine Stimme: »Belsham hier, Sir. George hat es erwischt. Ich weiß nicht, wo Pete ist!« »Mike Eins Null, Feindberührung ...« Er sah sich um. »... Ecke Creggan und Wishingwell Street. Zwei Ausfälle. Sind unter Feuer von mindestens einem Gegner. Bitte um MET.« »Hier Null, verstanden. MET ist unterwegs. Ende.« Er spähte vorsichtig über die kleine Gartenmauer hinweg. Die Mündungsblitze waren verschwunden. Der Heckenschütze hatte sich davongemacht. »Belsham! Wo, zum Teufel, stecken Sie?« »Hier, Sir, hinter dem Schuppen.« Er rannte hinüber. Belsham kniete neben dem ausgestreckt daliegenden George und riß ihm die Kampfjacke auf. Riven war schlecht. »Wo hat es ihn erwischt?« »In der Brust, Sir. Ich kümmere mich darum.« »Okay, ich werde mal nach Pete sehen.« Er rannte zu der Stelle, wo die Explosion stattgefunden hatte. Ein Schutthaufen blockierte den Weg. Er stolperte über ein Gewehr mit verbogenem Lauf und fand dann 40
das, was von seinem Untergebenen übriggeblieben war. Er übergab sich, während das Sirenengeheul der mobilen Eingreiftruppe langsam lauter wurde. Die Glühbirne wurde heller, und der Stapel der geleerten Bierdosen wuchs in die Höhe. Ihr Gespräch wurde lauter. »Wie war es denn beim ersten Bataillon?« fragte Riven. »Locker. Und im dritten?« Riven rülpste. »Hochnäsiger Haufen. Hatten nichts übrig für irische Leutnants.« »Schon komisch, daß wir im selben Regiment waren, Sir.« »Ich war in Irland, als du in Belize warst.« »Warum haben Sie aufgehört?« »Hab geheiratet.« »Ach du Scheiße. Entschuldigen Sie, Sir.« Riven winkte ab. »Egal. Ist scheißegal.« Er grinste verzerrt. »Das Leben ist ein Miststück.« Er starrte in sein leeres Glas. »Ist egal«, murmelte er wieder. Doody füllte ihre Gläser, trank einen Schluck und schnüffelte verlegen. »Wie war Ihre Frau?« Riven starrte noch immer auf sein Glas. Sein Kopf schwankte leicht. »Meine Frau. Verflucht noch mal.« Er blinzelte. »Sie war schlank. Schlank und dunkel. Hübsches Mädchen. Ihre Augbrauen waren zusammengewachsen. Ich habe immer Hexe zur ihr gesagt.« Er lächelte bei der Erinnerung. »Auf jeden Fall hat sie mich verzaubert. Jennifer Mackinnon von der 41
Isle of Skye, Insel des Nebels auf gälisch ... ach ...« Er leerte das Glas in einer Serie von hastigen Schlucken. Das leere Glas schimmerte in dem künstlichen Licht. Dann schmatzte er laut. »Scheißbier, hat nicht lange gereicht, was?« Doody öffnete feierlich den Whisky, und sie prosteten sich laut zu, bevor sie ihn hinunterstürzten. Riven spürte, wie die lang entbehrte Flüssigkeit seine Kehle hinunterbrannte, und der Raum verschwamm für einen Moment vor seinen Augen. »Verdammt noch mal«, sagte er, als Doody die Gläser wieder füllte. »Guter Stoff ist das.« »Vom Feinsten«, bestätigte Doody. Er verschüttete Whisky auf den Tisch und warf der Flasche einen finsteren Blick zu. »Ist schlecht verarbeitet, das Mistding.« Wieder stürzten sie den Whisky hinunter, als tränken sie Wasser. Riven konnte nicht mehr deutlich sehen. Hinter Doodys Kopf war ein Fenster, durch das man den blauen Nachthimmel sehen konnte, aber er hätte schwören können, daß dort für einen Augenblick eine dunkle Silhouette zu sehen gewesen war — eine merkwürdige Gestalt mit spitzen Ohren ... Ach was, ich bin das Zeug einfach nicht mehr gewohnt. Doody begann leise zu singen. Es war ein Militärlied, dessen Vokabular nichts für empfindliche Ohren war. Riven fiel grölend mit ein. Lautstark schmetterten sie den Refrain. 42
Mit einer heftigen Bewegung seines gesunden Arms warf Riven sein Glas auf den Boden, wo es zersplitterte. Verdutzt sahen sie auf die Scherben. Dann klopfte es an der Tür, und die beiden blickten sich an. »Ich bin nur ein Krüppel!« protestierte Riven. »Er hat mich verführt!« Die Tür öffnete sich, und Schwester Cohen kam herein. »Sind Sie beide immer noch hier? Können Sie nicht etwas leiser sein?« Doody starrte sie für einen Augenblick verständnislos an, dann begriff er. »Es ist unser Schutzengel, unser Wachposten. Ist die Luft rein, Anne?« »Sie sind ja beide total betrunken«, flüsterte Schwester Cohen. »Kann man wohl sagen«, bestätigte Riven abwesend. »Doody, um Himmels willen, mußten Sie ihn so abfüllen? Die alte Bisbee macht spätestens in einer Stunde ihre Runde. Mit den Hilfspflegern werde ich schon fertig, aber nicht mit ihr. Wir müssen ihn in sein Zimmer bringen.« Doody salutierte. Ein seliges Lächeln erschien auf seinem häßlichen Gesicht, und dann fiel er langsam vornüber. Schwester Cohen fluchte leise, ging hinüber zu Riven und riß ihm das Glas aus der Hand, das er sich genommen hatte. »Kommen Sie, bringen wir wenigstens Sie aus der Schußlinie.« Sie warf dem vor sich hinmurmelnden Doody einen letzten 43
verzweifelten Blick zu und schob Riven dann aus dem Raum. »Schwester«, sagte Riven bekümmert. »Schwester ...« »Was gibt's denn?« zischte sie und blickte sich um. »Ich muß mal pinkeln, Schwester ...« »O Gott, das soll wohl ein Scherz sein.« Riven schüttelte stumm den Kopf. Sie schob ihn zu den Toiletten, die die gehfähigen Patienten des Centers benutzten, und stellte sich vor ihn. »Ich werde Ihnen helfen müssen. Kommen Sie.« Sie hob Riven mit Leichtigkeit aus dem Rollstuhl. Er war erschreckend dünn geworden. Sie geleitete ihn zu den Urinalen und stützte ihn, während er sich erleichterte. »Das ist das erste Mal seit Monaten, daß ich auf meinen Beinen stehe«, sagte er. Aber die Gegenwart der Frau, die ihn stützte, wurde ihm plötzlich schmerzhaft bewußt. Die Berührung ihres Körpers, der Geruch ihres Haars. Er biß die Zähne zusammen und nickte, als sie ihn fragte, ob er fertig war. Sie brachte ihn zurück zum Rollstuhl und setzte ihn hinein wie ein kleines Kind. »So. Jetzt kann ich Sie ins Bett bringen.« Sie lächelte ihm zu und schob eine Haarsträhne unter ihr Häubchen. Er blickte zur Seite und flüsterte: »Es tut mir leid.« Sie lachte und begann, ihn den Korridor hinunterzuschieben. »So sind die kleinen Jungs nun mal. Aber Ihr Kopf wird Sie morgen früh hassen, Mr. Riven.« Sie half ihm ins Bett und deckte ihn zu. »Ich 44
glaube, Sie werden es überleben. Aber lassen Sie sich nicht so bald wieder dabei erwischen. Schlafen Sie jetzt. Ich muß mich um diesen Idioten Doody kümmern.« Der Hagel peitschte aus der Dunkelheit und brannte in seinem Gesicht. Der Eispickel lockerte sich ein Stück. Er schlug ihn tiefer ein, zog sich hoch und suchte nach Halt. Die scharfen Felsvorsprünge waren eiskalt. Seine Hände bluteten. Der Sturm war so stark geworden, daß er seine Augen schließen mußte. Er tastete sich langsam vorwärts. Warum? Warum mache ich das? Er zog den Stiefel hoch, suchte einen Spalt in der eisverkrusteten Felswand. Schnee bedeckte ihn, sammelte sich in jeder Falte seiner Kleidung, verstopfte seine Ohren. Ich will es so. Weil ... Er rutschte aus. Blitzschnell versuchte er, das Gleichgewicht wiederzufinden. Ein Stöhnen kam über seine Lippen. Er grinste verzerrt in seiner hilflosen Wut. Dann hatte er wieder sicheren Halt gefunden. Vom Sturm gebeutelt, aber in Sicherheit. Weil ich ein sturer Hund bin. Das Gesicht, das er anstarrte, war bleich und schmal. Die Wangenknochen traten stark hervor, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen. Ruhige, graue Augen. Blondes Haar fiel in die vernarbte Stirn, und ein Bart in der 45
gleichen Farbe wucherte im unteren Teil des Gesichts. Eine Hand strich ihn nachdenklich. Herr im Himmel! Das ist also mein neues Ich. Wo ist der breitschultrige Soldat geblieben? Er drehte den Rollstuhl weg vom Waschbecken und dem Spiegel darüber und rollte zur Tür. Ich war nie besonders groß, aber ich war stämmig. Jetzt sehe ich aus wie eine Vogelscheuche. Das Wetter war kalt und schön. Ein leichter Nebel stieg vom Fluß auf. Er würde mittags verschwinden. Riven blickte über die Wiese zu den Weiden. Der Fluß glitzerte zwischen ihren überhängenden Ästen. Eines Tages werde ich darin paddeln, und wenn es das letzte ist, was ich tue. »Was macht Ihr Kopf, Mr. Riven?« fragte Schwester Cohen, die plötzlich hinter ihm stand. »Es ging ihm schon besser, aber andererseits war es auch schon viel schlimmer ... Wie geht's Doody?« »Er hat sich heute frei genommen. Hat eine Magenverstimmung.« »Aha! Ich hoffe, es ist nicht ansteckend.« »Da habe ich so meine Zweifel.« »Sie haben doch keinen Ärger gehabt, oder?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe einfach den Lagerraum abgeschlossen und Doody dort seinen Rausch ausschlafen lassen. Zum Glück hat er sich nicht übergeben. Als ich ihn heute morgen herausgelassen habe, ist er wie ein geölter Blitz Richtung Toilette verschwunden. 46
Ich hatte den Eindruck, er saß schon seit ein paar Stunden mit verschränkten Beinen da und hat um Erlösung gebetet.« Für einen Moment legte sie ihm die Hand leicht auf die Schulter. Dann war sie verschwunden. Riven saß ruhig da. Er spürte die kalte Luft auf seinem Gesicht und beobachtete die Stare, die das Vogelbad in der Mitte der Rasenfläche umschwirrten. Dann setzte er den Rollstuhl in Bewegung und ratterte über den Hof. Holpernd fuhr er auf den Rasen. Der Motor seines Kampfrosses heulte protestierend auf, und er drosselte die Geschwindigkeit etwas. Der Stuhl schlingerte und bockte. Der Rasen war nicht so eben, wie es den Anschein hatte. Das Gefährt schwankte bedenklich und fuhr sich schließlich unmittelbar vor dem letzten steilen Abhang, der zum Fluß hinunterführte, fest. Das unwürdige Ende eines Ausflugs. Der Rollstuhl neigte sich langsam über die Kante des Abhangs. Riven fluchte und lehnte sich so weit wie möglich zurück, aber es war zu spät. Er kippte vornüber und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Ein stechender Schmerz durchzuckte seine Beine. »Verdammter Mist!« Er spürte das taunasse Gras an seiner Wange und roch die Erde vor seiner Nase. Er schob sich unter dem Rollstuhl hervor, und es gelang ihm, sich aufrecht zu setzten. Gesicht und Hände waren dreckverschmiert. Seine Beine hatten sich mit der Decke zu einem 47
unförmigen Knäuel im Schottenmuster verwickelt. Du Arschloch, Riven. Du gewöhnst dir solche Aktionen wirklich an, was? Er sah sich um. Vom Center aus konnte man ihn nicht sehen, die Böschung versperrte die Sicht. Der Fluß war hinter den Bäumen, etwa hundert Meter entfernt. Seine Beine und Arme schmerzten höllisch. Er versuchte, den Rollstuhl aufzurichten, aber der stand auf dem Kopf und war zu schwer. Oder vielmehr war er zu schwach. Seine Schwäche machte Riven wütend. Er schlug mit der Faust auf das Gras. Du Bastard! Du nichtsnutziger Bastard! Zu allem Überfluß begann es jetzt auch noch zu regnen. Zuerst wehte eine leichte Brise von den Weiden herauf, strich ihm durchs Haar. Dann umhüllte ihn ein feines Nieseln, das schließlich in einen Regenschauer überging. Das Wasser lief ihm über das Gesicht und durchtränkte sein Hemd. Der Wind frischte auf. Er begann zu lachen. Das war wieder verdammt typisch! Er fing an zu kriechen, zog sich mit einem Arm über den feuchten Boden. Es konnten keine zweihundert Meter bis zum Center sein. Jesus, in Sandhurst bin ich zehnmal so weit gekrochen, mit voller Ausrüstung, während sie mit einem Maschinengewehr scharf über uns hinwegschossen. Los jetzt, Riven, du Memme, bist du ein Mann oder eine Maus? 48
Keuchend blieb er liegen, als er oben auf der Böschung angelangt war. Kleine Regenbäche suchten ihren Weg den Hang hinab. Er war völlig durchgefroren. Er blickte empor zu dem düsteren, wolkenverhangenen Himmel und dann durch den Regen in Richtung des Centers. Er winkte den Gestalten zu, die er durch die Fenster sehen konnte. Na los, ihr senilen alten Knacker. Einer von euch muß mich sehen. Sein Kopf sank auf den schlammigen Boden. Das ist nicht zu glauben. Ich kann doch nicht hier in dem verdammten Berkshire erfrieren. Da schäme ich mich vorher zu Tode. Er begann wieder zu kriechen. Er konzentrierte sich darauf, das Vogelbad zu erreichen, und vermied es, zu den Gebäuden zu blicken. Er spürte, wie seine Arme und Beine langsam gefühllos wurden. Der Regen ging in Schneeregen über. Der Winter hat sich für seine Ankunft wirklich den günstigsten Augenblick ausgesucht! Dann erschien ein Paar weißer Schuhe auf dem matschigen Boden neben ihm, und starke Hände griffen nach ihm. »Was haben Sie denn nun schon wieder angestellt, Mr. Riven?« Er wurde hochgehoben und blickte in das Gesicht von Schwester Cohen. Er lächelte schwach. »Sie haben sich verdammt viel Zeit gelassen.« Sie hatte ihr Häubchen verloren, und nasse 49
Haarsträhnen klebten in ihrem Gesicht. Er schloß die Augen. Ein Gesicht erschien über ihm, umrahmt von dunklem Haar. Dahinter war helles Sonnenlicht, reflektiert vom Schnee. Seine Augen wurden feucht, er blinzelte und versuchte, das Gesicht klar zu sehen. Graue, ernste Augen und ein lächelnder Mund. Schulterlange, rabenschwarz schimmernde Haare. »Wie fühlen Sie sich?« Eine tiefe Stimme mit dem Akzent der Highlands. Er lag in einem Bett, umhüllt von bunten Decken. Hinter dem Kopf des Mädchens konnte er durch ein Fenster den knallblauen Himmel sehen. Er hörte, wie der Wind durch die Dachbalken pfiff. »Ich ... gut, glaube ich. Wo bin ich?« »In der Nähe von Glenbrittle«, antwortete sie mit ihrer melodischen Stimme. »Wir haben Sie am Westhang des Sgurr Dearg gefunden, bewußtlos und völlig zerschunden. Ihre Taschenlampe brannte neben Ihnen, sonst lägen Sie jetzt noch da.« Er betastete den Verband an seinem Kopf und stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich erinnere mich. Ich habe ein Steigeisen verloren und bin den Berg runtergeflogen.« Er schüttelte sich. »Wie, in aller Welt, habe ich das überlebt?« »Sie sind übel verschrammt und haben eine Platzwunde am Kopf, aber abgesehen davon sind sie so gesund wie ich. Ein bißchen blaß 50
um die Nase vielleicht, aber sonst gut in Schuß.« Er zog die Augenbrauen hoch und setzte sich mühsam auf. Das Mädchen half ihm. Er verzog das Gesicht, die Hautabschürfungen brannten wie Feuer. »Ich schätze, ich habe Glück gehabt.« »Das war schon mehr ein Wunder als Glück«, gab sie zurück. Sie half ihm aus dem Bett. Verlegen bemerkte er, daß er mit einem altmodischen Nachthemd bekleidet war. »Das war das einzige, was wir Ihnen überziehen konnten«, sagte sie mit einem spitzbübischen Lächeln. Er wurde rot und stand auf. Das Mädchen schlang den Arm um seine Hüfte und stützte ihn. Sie war genauso groß wie er. Er schwankte, und sie lehnte sich gegen ihn. Er roch den Duft ihres Haars. Er hatte Lust, sie zu küssen, begnügte sich aber damit, nach ihrem Namen zu fragen. »Jennifer Mackinnon. Mein Vater ist Calum Mackinnon. Wir wohnen hier.« »Ich bin Michael Riven. Danke.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir konnten Sie ja nicht da oben liegenlassen. Kommen Sie, sehen Sie sich einmal an, wo Sie runter gesegelt sind.« Sie führte ihn ans Fenster. Die Landschaft draußen war von blendend weißem Schnee bedeckt. Vor ihm ragte der Berg finster und mächtig empor. Schwarze Granitfelsen waren an einzelnen Stellen der steilen Wand zu sehen, dort wo der Wind den 51
Schnee weggefegt hatte. Er betrachtete den zerklüfteten, geröllübersäten Hang. Da war er hinuntergestürzt. »Und das habe ich überlebt?« »Aye,« sagte sie leise. »Das haben Sie. Ich glaube, jeder andere hätte sich den Hals gebrochen. Warum sind Sie überhaupt bei diesem Sturm geklettert? Verfolgt Sie jemand?« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Vielleicht. Jemand, der schon den ganzen Weg aus dem Süden hinter mir her ist.« Und den ich immer noch nicht abgeschüttelt habe. »Das ist wirklich eine Schande. Tausendmal hat man Ihnen gesagt, daß Sie nicht mit dem Rollstuhl auf den Rasen fahren sollen. Jetzt muß ein Elektriker kommen, um ihn zu reparieren. Bis dahin müssen Sie im Bett bleiben — hoffentlich wird Ihnen das für die Zukunft eine Lehre sein. Denken Sie eigentlich nie an die Leute, die hier im Center arbeiten, Mr. Riven? Ihr Verhalten ist unbegreiflich. Sie sollten es schleunigst ändern, oder ich werde mit dem Vorstand darüber reden müssen, ob Ihr Aufenthalt hier noch zu verantworten ist.« Schwester Bisbee hielt inne. »Haben Sie gar nichts dazu zu sagen?« Riven blickte weiter aus dem Fenster in die Dunkelheit. Regentropfen trommelten gegen das Glas. »Nun, ich werde nicht noch mehr Zeit mit Ihnen verschwenden. Andere Patienten brauchen mich nötiger als Sie, Mr. Riven.« 52
Wutschnaubend verschwand sie. Zurück blieb eine Wolke selbstgerechter Entrüstung. Er legte sich nieder und blickte an die Decke. Er konnte nicht vergessen, wie Schwester Cohen sich um ihn gekümmert hatte. Die Berührung ihrer Hände. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Anfall von Liebeshunger. Die Fensterläden klapperten im Wind. Er schloß die Augen und hörte den Sturm in den Cuillin-Bergen, den schrillen Schrei der Brachvögel und die See. Ich bin seit vier Monaten nicht hier herausgekommen. War nicht einmal bei der Beerdigung. Ich lag bewußtlos in einer Klinik, wo sie mich zusammenflickten. Der Rollstuhl war fast eine Woche lang nicht zu gebrauchen. Riven lag in dieser Zeit im Bett und kämpfte unablässig mit den Erinnerungen. Ab und zu schaute Doody vorbei und machte Witze über die Folgen übermäßigen Alkoholkonsums und über Rollstuhlakrobaten. Schwester Cohen bekam Riven nur selten zu Gesicht. Meistens versorgte Schwester Bisbee ihn. Sie schwieg dabei verbissen, machte allenfalls einmal eine belanglose Bemerkung über das Wetter. Manchmal sprach sie von Weihnachten, das langsam näherrückte. Riven haßte sie dafür. Seine Erinnerungen an das letzte Weihnachtsfest waren noch zu frisch. Man brachte ihn zu Dr. Lynam, der die Heilung seiner Beine überwachte. Er 53
konstatierte »ganz ordentliche« Fortschritte. Dann klopfte der gute Mann seine Pfeife aus und empfahl Riven, seine Beine in ein paar Tagen einmal auszuprobieren und festzustellen, wie er mit ihnen zurechtkam. Ganz so, als handele es sich um ein neues Auto. Doody und Schwester Cohen nahmen es auf sich, Riven aus dem Bett zu hieven und ihm einen Gehrahmen zu besorgen, mit dem er auf dem Flur die ersten unbeholfenen, von Schmerzen und Beinah-Stürzen begleiteten Gehversuche unternahm. Nach zwanzig Metern — Riven hatte darauf bestanden, so weit zu gehen — sah er alles durch einen roten Schleier. Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Sie mußten ihn in den Rollstuhl setzen, um ihn wieder in sein Zimmmer zu bringen. »Machen Sie sich keine Sorgen, Sir«, sagte Doody. »Diese Stadt, wie hieß sie noch gleich, wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Wenn Sie Lust haben, probieren wir es morgen noch einmal.« Riven nickte schwach. Schwester Cohen deckte ihn zu. »Wir können auch morgen eine Ruhetag einlegen, wenn Ihnen das lieber ist. Ganz, wie Sie wollen.« Er schaffte es, ihr zuzulächeln. Ich bin so schwach wie ein halb ertrunkenes Kätzchen. Meine Beine sind im Eimer. Wie, in 54
aller Welt, soll ich wieder so werden, wie ich einmal war? Er mußte an seine Armeezeit denken, als er gerannt und gesprungen und gekrochen und marschiert war. Warum erforderte alles, was für ihn wichtig war, Mobilität? All diese Wanderungen durch die Highlands, die Klettertouren. Früher hatte er immer die Vorstellung gehabt, er könne sich auf das Schreiben zurückziehen, wenn seine Beine eines Tages nicht mehr mitmachten. Aber das war jetzt ... vorbei. Das war kein Ausweg mehr. Allein. Wie ich es am Anfang war. Ich habe soviel gehabt und so viel verloren; jetzt bin ich wieder da, wo ich am Anfang war. Der Schatten einer anderen Welt. Eine Zuflucht vielleicht, oder ein Handikap. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er seine Welt, die Romanwelt, jederzeit zum Leben erwecken konnte. Er konnte mühelos einen leeren Raum mit Personen füllen, die ihm zulachten. In dieser Welt gab es einfache, offene Menschen, für die es im Leben nur schwarz oder weiß gab, keine Zwischentöne. Aber in Geschichten ist immer alles viel einfacher. Seine Bücher handelten von einer Welt, die ringsum von Meer und Bergen umgeben war, die Raum genug bot für Geheimnisse — und vielleicht sogar für Zauberei. Es war ein wenig wie auf Skye. Felsen und Farn und klare Luft. Genau wie Molesy gesagt hatte. Und großartige Märchengestalten — Menschen, die 55
beherrschten, was er beherrschte, so sicher, als führen sie Auto, spielten Squash oder betränken sich in der echten Welt. Er hatte alles getan, um so zu sein wie sie. Sie waren der Grund dafür, daß er Soldat geworden war, und sie hatten ihn in die Berge getrieben, so lange, bis er gestürzt war und am Fuß eines Berges das Mädchen getroffen hatte, das seine Frau werden sollte. Er hatte versagt, aber er hatte weiterhin ihre Geschichten erzählt — Sagen von Kämpfen und Ehre, von ruhmreichen Heldentaten mit blitzenden Schwertern. O ja. Aber irgendwie hatte er sie betrogen, als er seine Liebe jemandem aus seiner eigenen Welt schenkte. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn jetzt noch haben wollten, jetzt, da er zerschunden und blutig war von dem Verlust, der so groß war, daß er ihn mit nichts als diesen Geschichten und den Personen in diesen Geschichten zurückgelassen hatte. Anfangs waren sie alles gewesen, was er jemals hatte haben wollen, aber jetzt wußte er es nicht mehr. Er wollte jetzt, daß die Welt einfacher und sauberer war, und er hatte das Gefühl, daß er das, was in seiner Vorstellungskraft entstanden war, beschmutzt hatte. Er konnte nicht mehr schreiben. Es waren keine Geschichten in ihm zurückgeblieben. Riven war noch nie der Geduldigste gewesen, und obwohl der Fortschritt, den seine Beine machten, von seinen Trainern, Doody und Schwester Cohen, gerühmt wurde, hatte er das 56
Gefühl, einen Berg mit einem Löffel abzutragen. Er tobte wie nie zuvor. Es dämmerte ihm, daß sich seine Zeit in Beechfield ihrem Ende näherte. Der Gedanke ließ ihn frösteln. Er wußte nicht, wie es danach weitergehen würde. Kümmere dich nächstes Jahr darum. Dieses ist fast vorüber. »Vor Weihnachten werden wir Sie so weit haben, Sir, daß Sie einen verdammten Marathon laufen können. Dann können Sie die Schwestern abhängen, die hinter Ihnen her sind.« Doody beobachtete ihn dabei, wie er mit dem Gehrahmen den Flur entlang polterte. »Obwohl ich glaube, daß Anne sie schon von Ihnen fernhält«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. Riven drehte sich um und warf ihm einen scharfen Blick zu. »Komm mir nicht mit so einem Mist, Doody. Ich bestehe nur noch aus Haut und Knochen, kaputten Knochen, und ich werde mich daran gewöhnen müssen.« Doody schüttelte den Kopf. »Ihre Augen haben wohl bei dem Sturz auch gelitten, was?« Riven schob den Rahmen heftig weiter und zog seine schwankenden Beine nach. »Ich ... ich kann es nicht, Dood.« Doody zog die Augbrauen hoch. »Dann müssen wir beide wohl mal wieder einen kräftigen Schluck zu uns nehmen, Sir. Sie sind noch nicht so weit, daß Sie eine Nacht durchtanzen können.« Werde ich das jemals wieder können? 57
Und er setzte den Gehrahmen krachend ein Stück nach vorne und zwang seine Füße, ihm zu folgen. Die Schneewehen breiteten sich vor ihnen aus, so weit das Auge reichte. Auf der einen Seite fielen sie ab zur blauen See. Die Wintersonne schimmerte auf der ruhig daliegenden weißen Fläche. Er atmete die eisige Luft ein. Seine Abschürfungen schmerzten noch immer. Nur das Knirschen des Schnees unter seinen Füßen durchbrach die Stille. »Bla-Bheinn, Sgurr Alisdair, Sgurr nan Gillean ...« sagte das Mädchen neben ihm mit ihrer singenden Stimme. Mit ihrer behandschuhten Hand wies sie dabei auf die monolithischen, zackigen Berge ringsum. Die Aufzählung der Namen klang wie eine heidnische Litanei. Er sah sie an. Sie hatte von der frischen Luft eine gesunde Gesichtsfarbe bekommen, und ihre Augen funkelten. Die Lippen waren leicht geöffnet. Sie wurde sich plötzlich seines Blicks bewußt und errötete sofort. »Es gehört sich nicht, jemanden anzustarren, oder?« Sie lächelte. »Vielleicht«, sagte er ruhig. »Aber die Gegend gefällt mir eben.« Sie lachten beide, und nur die Berge konnten sie hören. Er wollte ihr Gesicht berühren, wandte aber schließlich seinen Blick ab, um nicht die Kontrolle über seine Gefühle zu verlieren. 58
»Das gefährliche, hektische Belfast ist ganz schön weit weg«, sagte er mit dampfendem Atem. »Aye«, erwiderte sie. »Ich hasse Städte, sogar Edinburgh. Und vor allem London. Mir liegen das Meer und die Berge im Blut. Ich bin durch und durch ein Skye-Mädchen.« »Ein Skye-Mädchen,« wiederholte er, ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. Es klang gut. Der Schnee knirschte, als sie sich umdrehte und nach Osten zeigte. »Sehen Sie Bla-Bheinn. Er ragt über der Glen Sligachan-Schlucht, die quer durch die Cuillins verläuft. Dort, wo die Schlucht am Meer endet, liegt Camasunary. Da sind schon lange die Sommerhütten der Schäfer. Mein Vater hat ein kleines Häuschen dort. Es ist das schönste Fleckchen Erde, das man sich vorstellen kann. Es geht keine Straße dorthin, nur ein Pfad, der über den Kamm nach Torrin führt. Ich habe einige Sommer dort verbracht.« »Ich habe es gesehen. Ich habe dort kampiert, als ich die Küste entlang nach Glenbrittle marschiert bin.« Er lächelte schief. »Als ich dort war, peitschte der Wind den Regen waagerecht durch die Luft, und wenn man seewärts blickte, konnte man nicht atmen.« Sie lächelte. »Aye. Nun, Sie müssen für die Schönheit hier oben auch die Rauheit in Kauf nehmen.«
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Der Impuls, sie zu berühren, war zu groß, und er hob die Hand und streichelte ihre Wange, strich ihr über das Haar. »Ich wünschte, ich würde hier leben und müßte nicht in den Süden zurück.« Sie sah ihn aufmerksam an, mit dem Lächeln, von dem er gewußt hatte, das es kommen würde. Geheimnisvoll, verschwörerisch. Einen Mundwinkel zog sie dabei weit nach oben. Sie strich über den Verband an seinem Kopf. »Dann bleiben Sie eine Weile«, sagte sie. In Beechfield verstrichen die dunklen Wintertage, und Weihnachten rückte näher. Etwas wie Feiertagsstimmung kam in den Stationen auf. Riven hielt sich von den Vorbereitungen fern. Er beobachtete mit tiefer Abneigung das Schauspiel alter Leute, die Papierketten anfertigten. Er saß jetzt oft stundenlang an den Fenstern, durch die man den Rasen und den Fluß sehen konnte, ein ungelesenes Buch auf dem Schoß. Den gutgemeinten Versuchen der Belegschaft, ihn mit einzubeziehen, verschloß er sich. Auch Doodys. Um die Gedanken an Sgurr Dearg aus seiner Erinnerung zu verdrängen, dachte er an höhere Berge, Berge seiner Romane: Im Osten der westlichen Berge, nördlich des Meeres, erstreckten sich Heide und Moor in hügeliger Landschaft. In den Tälern ließen die Hirten ihre Schafe und Rinder grasen, und es gab kleine Gerstenfelder für Brot und Bier. Die 60
Menschen lebten weit verstreut. Sie kamen nur zusammen, um Markt zu halten oder im Winter zur Abwehr von Wölfen und anderen Tieren, die ausgehungert aus den Bergen herunterkamen. Alte Festungen standen im Herzen der Täler, an Flußübergängen oder da, wo der Boden besonders fruchtbar war. Die ersten Menschen, die einst aus dem Norden gekommen waren, hatten sie errichtet und mit grasbewachsenen Erdwällen und Steinmauern umgeben. Dies waren die Rorims der Völker aus den Dales, den Tälern des Landes. Die Krieger lebten dort mit ihren Anführern und sorgten für den Schutz ihrer Völker. Sie kämpften gegen die Wölfe und gegen die Riesen aus dem Eis und gegen andere Kreaturen, die nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen haben, außer vielleicht als einen nächtlichen Schatten vor dem Fenster ... Riven blinzelte. Er hatte die Passage aus einem seiner Bücher fast wortwörtlich aus seinem Gedächtnis abgerufen. Für ihn klang es so hoheitsvoll wie eine Bibel, und er sah durch das Fenster in die Nacht hinaus, als spähe er vom Turm einer Festung hinunter. War Molesy jetzt dort draußen? Er war kein Patient hier, soviel war sicher. Irgend etwas bewegte sich unten bei den Weiden am Fluß — ein dunkler Umriß, der sich von einem Schatten in den nächsten schlich. Riven zuckte zusammen. Ein 61
streunender Hund, der hier etwas zu fressen suchte. Da war er wieder — nein, das war ein anderer. Er war sicher, daß da draußen zwei von ihnen waren, die sich jetzt in die tiefe Dunkelheit unter den nackten Ästen der Bäume zurückgezogen hatten. Er spürte wie seine Nackenhaare sich sträubten. Hunde, nur Hunde. Aber er spürte ihre Augen. Sie saßen geduldig auf ihren Hinterläufen in der Nacht und starrten unablässig auf die hellerleuchteten Fenster der Pflegestation. Hunde — ja. Aber sie erweckten eine alte, lang vergessene Furcht in ihm. Ich bekomme langsam den Tatterich von dem ganzen Rumsitzen, genau das wird es sein. Hunde — aber sie hatten ausgesehen wie Wölfe! »Das Weihnachtsfest steht vor der Tür, aber Sie sind eine von den Gänsen, die keine gute Weihnachtsgans abgeben würde«, sagte Schwester Cohen hinter ihm. Sie kam vor und musterte seinen abgemagerten Körper mißbilligend. »Wir müssen zusehen, daß Sie etwas zunehmen, vor allem jetzt, da Sie wieder herumlaufen.« »Herumlaufen!« rief Riven. »So hat das wirklich noch keiner genannt. Ich bin auch noch nie so herumgelaufen.« »Es ist ein Anfang, Mr. Riven, und Sie machen das schon sehr gut. Ich sehe doch, daß Sie Weihnachten genießen wollen.« 62
Riven senkte den Kopf. »Verlassen Sie oft das Center, wenn es schon dunkel ist?« fragte er sie und kam sich dabei töricht vor. Sie wirkte verwirrt. »Aus welchem Grund sollte ich in einer so kalten Nacht wie heute hinausgehen? Normalerweise gehe ich nur zu meinem Wagen, wenn meine Schicht vorbei ist, und sehe zu, daß ich nach Hause komme. Warum fragen Sie?« Er blickte finster. »Nur so.« Aber er wollte dort draußen sein, in der Kälte der Nacht, unten am Fluß. Es war fast so, als würde er gerufen. Und im gleichen Moment wußte er, daß er um nichts in der Welt allein da hinausgehen würde. Was ist dort? Meine Fantasie? Nichts. Vergiß es. Sei kein Narr. Schwester Cohen legte die Hand leicht auf seinen Nacken. Ihre Finger waren kühl. Er roch ihren frischgewaschenen Schwesternkittel und erstarrte. Seine Kiefermuskeln zuckten. Ihr Gesicht war plötzlich das des jungen, dunkelhaarigen Mädchens, das er vor einigen Tagen vor sich gesehen hatte. Er entzog sich ihrer Hand, und sie seufzte leise und klopfte ihm auf die Schulter. »Sitzen Sie nicht zu lange allein herum. Warum kommen Sie nicht und schließen sich den anderen an? Es ist ganz lustig mit ihnen, jetzt, kurz vor Weihnachten. Sie freuen sich wirklich wie die Kinder.« Er schüttelte den Kopf leicht, und nach einem Augenblick ging sie davon, zurück zu 63
dem Licht und Erholungsraums.
der
Wärme
des
In dieser Nacht hatte er zum ersten Mal einen Traum. Es war eisig kalt, und eine dicke Schneeschicht bedeckte den Boden. Die Flüsse waren hart und grau wie Schwertklingen in den Schatten der Berge geworden. Und die Riesen waren hier draußen; zum ersten Mal seit Generationen kamen sie wieder aus dem Hochgebirge herunter. Sie waren drei Tagesreisen von dem Rorim, der Festung im Tal, entfernt, als der Schneesturm sie erwischte und die Welt in einen Wirbel von Schneeflocken verwandelte, durch den man keine zwei Schritte weit sehen konnte. Sie suchten auf der Leeseite des Berges Schutz und fanden schließlich eine Felsspalte, die das Schlimmste des Sturmes von ihnen abhielt. Der Schnee häufte sich um ihre Unterschenkel, und langsam drang die betäubende Kälte durch ihre Winterfelle. Sie waren zu dritt. Einer war schlank und dunkel, der zweite war stämmig und hatte einen roten Bart, und der dritte hatte überall Narben und hinkte. Es war der dunkle Mann, der es zuerst bemerkte. Er riß den Kopf hoch und kniff die Augen zusammen, um durch den Vorhang aus tanzenden Schneeflocken etwas erkennen zu können. 64
»Was ist los?« fragte der rotbärtige Mann sofort. »Was hast du gesehen?« Der dunkle Mann verzog das Gesicht. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht war es nichts. Ein Schatten ...« Doch jetzt versuchten sie alle, mit ihren müden Augen den Blizzard zu durchdringen. »Wie sah es aus?« fragte Riven. Er rieb seine schmerzenden Beine. »Es war groß«, antwortete der dunkle Mann kurz, und Riven fluchte. Sie hörten das Knirschen im Schnee alle im gleichen Augenblick und erstarrten. »Hört!« sagte Riven drängend. »Sei still!« zischte der dunkle Mann. Mit pochenden Herzen warteten sie, verhielten sich absolut geräuschlos. Der Wind hatte ein wenig nachgelassen, aber der Schnee fiel immer noch in dicken Flocken. Dann hörten sie wieder das Geräusch — ein großer Körper schob sich durch die Schneewehen unterhalb von ihnen. Vielleicht auch ein rauhes Atemgeräusch. »Wo ist es?« fragte der Mann mit dem roten Bart. Hinter ihnen polterten Steine, und wie auf ein Kommando drehten sie sich um, wühlten sich durch den Schnee, der ihre Deckung umgab. Plötzlich ragte etwas wie eine graue Mauer vor ihnen aus dem Schnee: eine eisfahle, drei Meter große Gestalt. Ihre Augen brannten wie blaue Feuerbälle in dem ungeschlachten 65
Gesicht. Schattengleich fegte ein mächtiger Arm heran und fegte den rotbärtigen Mann zehn Meter weit durch die Luft. Riven schrie vor Angst. »Hau ab!« rief der dunkle Mann ihm zu und versuchte sein Schwert zu ziehen, aber Riven konnte sich nicht bewegen. Um seine Knie herum war der Schnee zu Eis gefroren, und er konnte die Beine nicht herausziehen. Er sah, wie der dunkle Mann wie eine zerbrochene Puppe zur Seite geschleudert wurde. Dann richtete sich das blaue Feuer in den Augen des Riesen auf ihn. Sie kannten ihn. »Heirate niemals eine Frau, deren Augbrauen zusammengewachsen sind«, sagte der Riese mit Jennys Stimme. Dann lachte er, die glockenhelle Stimme perlte durch den fallenden Schnee. Riven schrie. Die Nacht war still. Hatte er geschrien? Alles, was er hören konnte, war das Rauschen seines Blutes in den Ohren. Sein Herz raste. Die Decken hatten sich um seine Beine gewickelt. Der Mond warf ein seltsam fahles Licht durch das Fenster. Riven setzte sich auf und rieb sich die vernarbten Schläfen. Die Tür seines Zimmers war geschlossen. Wenn er geschrien hatte, hatte ihn vielleicht niemand gehört. Oder doch, die Nachtschwester würde es gehört haben. Nur ein Traum, um Himmels willen. 66
Aber der Riese war direkt einem seiner Bücher entsprungen, war eines seiner Hausmonster. Und seine beiden Begleiter ... Er kannte sie irgendwoher. »Verdammt verrückt«, murmelte er. Der Traum hatte einen unangenehmen Geschmack in seinem Mund zurückgelassen, als wäre irgendwo etwas nicht in Ordnung. Er fühlte ein durchdringendes Unbehagen, das zwar mit dem Schmerz und der Trauer in Verbindung stand, gegen die er ununterbrochen zu kämpfen hatte, aber doch davon verschieden war. Abwesend überlegte er, ob das Wetter oben bei der Hütte gut war. In einer Nacht wie dieser würde die See leuchten wie eine Lampe und kleine Wellen würden leise auf den Kieselstrand plätschern. Ach Mist. Er schwang seine Beine aus dem Bett und griff nach dem Bademantel und den Krücken. An Schlaf war vorerst nicht zu denken. Der kalte Fußboden unter seinen Füßen fühlte sich an wie Eis. Er schüttelte den Kopf. Träume von Riesen. Was würde als nächstes kommen? Die Krücken stapften über den Linoleumboden, als er sich mühsam zum Fenster begab und dort in einen Stuhl sinken ließ. Draußen hatte sich der Park in einen silbrig-grauen Irrgarten verwandelt. Die Bäume warfen Schatteninseln, und der Fluß glitzerte kalt im Mondlicht. Ein wenig ängstlich blickte er zu den dunklen Schatten, aber heute 67
waren dort keine Hunde. Und auch keine verdammten Wölfe, was das anging. Er lächelte. Fantasie ist eine Sache, aber Verfolgungswahn eine ganz andere. Er schob die Erinnerungen beiseite, die schon wieder auf ihn eindrangen, und versuchte, an etwas anderes zu denken. Seine Bücher. Ihm fiel ein, daß es in seinem zweiten Buch zwei Charaktere gab, die denen aus seinem Traum glichen, aber ihm fielen ihre Namen nicht ein. Ärgerlich. Und die Riesen aus den Bergen, Eisriesen, Kreaturen aus den Gletschern, die in den härtesten Wintern zu ihren Raubzügen in die Ebenen aufbrachen ... Das Mondlicht hatte den Rasen in eine makellose Schneefläche verwandelt, und er zuckte zusammen. Winter. Er spürte, daß er nie davon frei sein würde. So viele Türen waren in seinem Kopf zugefroren und ihm verschlossen. Seine Vorstellungskraft war eisverkrustet. Mein Lebensunterhalt, dachte er verdrossen und erinnerte sich an Hughs Worte. Die Fans lechzten also nach dem letzten Band der Trilogie. Nun, vielleicht würde es genügen, wenn er sich irgend etwas abrang. Aber Jenny war dort, in dieser Welt der Berge, der Riesen und der verzweifelten Krieger. Er schob diesen Gedanken beiseite. Die Zeit heilt alle Wunden, erinnerte er sich bitter. Aber wann werde ich den Mut haben, endlich nach Hause zu gehen? Er mußte an Molesys Geschwätz denken. »Denken Sie daran, wohin 68
Sie gehen müssen«. Leichter gesagt als getan, du alter Wirrkopf. Er schlug auf die Stuhllehne. Nimm dich zusammen, Riven! Wo ist der Soldat in dir geblieben? In Oxford hatte er einen Offizier gekannt, einen unglaublich gutmütigen Gentleman, der einmal, während er seinen Zug zum Angriff führte, ein altes angelsächsisches Kampflied gesungen hatte, Battle of Maldon. Irgendwie hatte sich damit der Kreis geschlossen — der Mythos begegnete der Realität und verschmolz auf eine merkwürdige Art mit ihr. Darum habe ich angefangen zu schreiben. Um meinen eigenen Mythos zu schaffen. Aber die harten Fakten des realen Lebens hatten die Angewohnheit, sich über so etwas lustig zu machen. Die Tür öffnete sich, und er zuckte zusammen wie ein angeschossener Hase. Fast hatte er erwartet, daß ein gigantisches Monster mit brennenden Augen hereinkam. Doch es war nur Schwester Cohen. Durch das Mondlicht auf ihrem weißen Kittel wirkte sie wie ein Geist. »Mr. Riven, warum sind Sie noch auf?« Er zuckte die Schultern. »Konnte nicht schlafen.« Sie legte eine Hand auf seinen bloßen Arm. Er spürte die Wärme ihrer Finger. »Sie frieren ja! Kommen Sie, ich bringe sie wieder ins Bett.« Er schüttelte den Kopf. »Ist schon in Ordnung. Mir geht's gut.« 69
Sie stand im Schatten neben dem Fenster, warf ihm einen langen Blick zu. »Schlecht geträumt?« »Vielleicht. Woher wissen Sie das?« Er meinte, ein leichtes Lächeln gesehen zu haben. »Ich sehe ab und zu einmal bei Ihnen hinein, wenn Sie schlafen. Das ist mein Job. Sie schreien manchmal im Schlaf, Mr. Riven.« Riven stieß einen kurzen Fluch aus und drehte sein Gesicht wieder dem hellen Fenster zu. »Mein Schlaf ist kein verdammter Zuschauersport, finden Sie nicht?« »Es tut mir leid.« »Allen tut es immer leid. Ich will kein Mitleid, von niemandem. Ich will nur in Ruhe gelassen werden.« Er schloß die Augen. »Tut mir leid.« »Alle entschuldigen sich immer«, sagte sie ruhig. »Es tut mir wirklich leid. Ich bin manchmal ein wahre Plage.« Er schwieg für einen Moment. »Mit einer schlechten Ausdrucksweise.« Jenny hatte es gehaßt, wenn er fluchte. »Das macht nichts«, sagte sie und setzte sich auf das Fensterbrett. Das Mondlicht umrahmte sie mit einem Silberkranz, und ihr Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Riven ertappte sich bei der Frage, wie alt sie wohl war. »Werden Sie je wieder schreiben?« fragte sie unerwartet. Er antwortete nicht, und sie fügte hinzu: »Ich habe Ihre Bücher gelesen. Sie sind wunderbar. 70
Berge, Pferde und starke, schweigsame Männer.« Trotz allem mußte er lachen. »Werden Sie die Geschichte zu Ende bringen? Werden Sie den dritten Band schreiben?« Er konnte nicht reden. Die Geschichte hat mich zu Ende gebracht. Meine Rolle darin ist vorüber. Und Jennys. Es sind jetzt andere Charaktere darin. Und er spürte, wie ihm die Tränen in die Augen traten. »Scheiße«, murmelte er. »Ist schon gut«, sagte sie. »Hören Sie, ich wollte nicht ... ach verdammt.« Sie beugte sich zu ihm hinüber und umarmte ihn plötzlich so fest, daß seine Tränen ihren Hals benetzten. Er biß die Zähne zusammen. Nimm dich zusammen, Mann. Er spürte den weichen Druck ihrer Brüste unter dem Kittel. Sie richtete sich wieder auf, ließ ihn in trostloser Verwirrung zurück. »Ich gehe jetzt besser«, sagte sie. »Man wird mich sonst vermissen. Sind Sie in Ordnung?« Er nickte stumm. Sie sah ihn etwas unsicher an, lehnte sich dann vor und küßte ihn auf die zernarbte Stirn. »Gehört das zur üblichen Pflege?« »Es gibt verschiedene Arten von Pflege, Mr. Riven.« Sie stand auf. »Und denken Sie daran, wenn Sie mich brauchen, drücken Sie auf den Summer.« »Ist bequemer, als zu pfeifen«, sagte er mit einem schwachen Lächeln. 71
»Und sitzen Sie nicht mehr so lange hier in der Kälte herum. Ich werde später noch einmal nach Ihnen sehen, und ich möchte, daß Sie dann im Bett liegen. Gute Nacht.« Er sah ihr nach. »Gute Nacht, Mädchen«, flüsterte er. »Ich muß bald los, Jenny.« Das Feuer knisterte, die Torfkloben verschoben sich ein Stück, und die auflodernde Flamme warf große Schatten an die Wand hinter ihnen. »Ich bin seit zehn Tagen weg.« Der Wind heulte wieder um das Haus. Er strich von den Bergen herunter und ließ die Fensterläden klappern. Er kam von den Höhen des Sgurr Dearg, über dessen Hänge er hier hingekommen war, zerschunden und blutend. Der Berg war abwechselnd launisch, tobend und ruhig. »Vermißt dich jemand?« fragte sie ruhig. Sie blickte in das Feuer. Ihr Haar glänzte in dem rot flackernden Licht. Er lachte bitter. »Das bezweifle ich, aber ich habe dort zu tun. Ich kann nicht für immer hierbleiben.« Er drehte den Kopf und betrachtete ihr zartes, dunkles Profil. »Obwohl ich das gerne tun würde.« Ohne ihn anzusehen, schob sie ihre Hand auf seine und ließ sie dort liegen. »Möchtest du wirklich zurückgehen, Michael?« 72
»Ich muß. Mein Urlaub ist in zwei Wochen vorbei.« »Du könntest hierbleiben. Du paßt gut hierher, und ich weiß, daß Dad dich mag.« Er antwortete nicht. Nebelhafte Wunschträume stiegen aus dem Feuer und schwebten vor ihm, quälten ihn. Wie oft hatte er von so etwas geträumt? »Noch zwei Wochen«, sagte er. Jenny lächelte und neigte den Kopf, um dem Wind zu lauschen. »Nun, ich glaube, das ist genug Zeit ...« Riven schlief, tief und traumlos. Draußen schien der Mond durch die Wolkenfetzen, ließ ihre Ränder hell aufleuchten. Im Schatten der Bäume saß jemand, geduldig wartend. Zwei Wölfe saßen neben ihm. Es waren Winterwölfe, gespenstisch grau im Mondlicht und voll ausgewachsen.
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DRITTES KAPITEL Riven hatte keine weiße Weihnacht erlebt, solange er sich erinnern konnte. Der Dezember war kalt und trüb, mit Regenschauern, die durch die Äste der Weiden peitschten und die Oberfläche des normalerweise ruhig dahinfließenden Flusses kräuselten. In den Stationen des Heims war überall Lametta, und auch ein paar tapfer geschmückte Bäumchen tauchten auf. »Als nächstes werde ich mich als Weihnachtsmann verkleiden müssen.« Doody grinste. Wenn Riven das morgendliche Fegefeuer seiner Gehübungen hinter sich gebracht hatte und er erschöpft genug war, um für eine Weile ruhig im Bett zu liegen, zeichnete er manchmal ein wenig — meistens Pferde und Landschaften. Manchmal hing er einfach seinen Gedanken nach. Es tat gut, sich in diese andere Welt zurückzuziehen, deren grüne Weite sich zwischen den Bergen erstreckte. Ein Platz, an dem alles so ablief, wie es ihm am besten gefiel. Es war gut, seinen malträtierten Körper für eine Weile zu vergessen und die weiten Täler dieses Landes, die Dales, mit Beinen zu durchstreifen, die gehorchten. Oder auf dem Rücken eines 74
fügsamen Pferdes, nur in Begleitung seiner Fantasiegestalten. Davon gab es viele, und sie waren sehr verschieden. Wie ein Pilgerer teilte er die Straße mit anderen, die er sich vorstellte und wieder vergaß. Sie begleiteten ihn ein Stück des Weges, schlugen dann eine andere Richtung ein und verschwanden wieder. Es gab Farmer und Schäfer, Hausierer und Spitzbuben, hübsche Damen und Soldaten mit harten Gesichtern. Sie erschienen in voller Größe in seiner Vorstellungswelt, gekleidet in Leder und Leinen, rochen nach Erde und Schweiß oder dufteten nach Parfüm und Kräutern. Ihre Farbenpracht beschämte die trüben Dezembertage. Er ritt kreuz und quer durch die fruchtbaren Dales, die von steinernen Festungen beherrscht wurden, wo Krieger mit prächtigen Schärpen auf den Schutzwällen patrouillierten. Er rastete in Schenken, in denen das Bier so stark war wie Wein und der Branntwein ihm feurig durch die Kehle rann. Er lachte über die wilden Geschichten, die andere Reisende von fernen Ländern jenseits der Berge berichteten, erzählte aber selbst keine. Ihm war keine zum Erzählen übriggeblieben. Statt dessen hörte er staunend zu und beobachtete. Er verbrachte Tage bei einem Gastwirt namens Gwion, der sich um seine Gäste kümmerte, als wären sie Kinder, und dessen Glatzkopf das abendliche Kerzenlicht reflektierte wie ein Spiegel. Er betrank sich mit dem rotbärtigen Mann aus 75
seinem Traum und lernte ihn als eine unerschöpfliche Quelle selbstgestrickter Lebensweisheiten mit einem unübertrefflichen Sinn für Humor kennen. Er hieß Ratagan. Und es gab noch viele andere. Ein junger Mann mit blauen Augen und einem strengen Zug um den Mund betrachtete ihn, ohne zu lächeln, und rieb die Ohren von zwei zahmen Wölfen, die sich stets an seiner Seite befanden. Es war Murtach, Murtach der Gestaltenwandler. Und die bezaubernde Lady, die reiten konnte wie der Teufel. Sie kleidete sich in schwarz — nun ... und hier versiegten die Tagträume, und er starrte in den sanften Regen, der am Fenster hinunterlief. Er wunderte sich, denn es waren Gestalten aus seinen Büchern, aber in seinen Tagträumen nahmen sie ein eigenes Leben an und hatten eigene Geschichten zu erzählen. Sie wurden seine Gefährten, und ihre Gesichter waren ihm schließlich so vertraut wie die von Doody oder Schwester Cohen. Sie hielten die dunklen Erinnerungen in Schach, und erst wenn sie ihn abends verließen, kroch die Verzweiflung wieder in ihm hoch und peinigte ihn mit den schon vertrauten Erinnerungen. »Sie sind schon wieder dabei, Sir«, sagte Doody zu ihm. »Wobei?« »Beim Träumen.« Riven rieb sich die Augen. »Das ist wenigstens eine Beschäftigung.« 76
»Ich werde Sie schon beschäftigen.« »Kein verdammtes Weihnachtsschmuckbasteln mit den anderen. Das hing mir schon mit zwölf zum Hals heraus.« Doody schüttelte den Kopf. »Es wird immer schlimmer mit Ihnen.« Riven blickte düster vor sich hin. »Der Weihnachtsmann kann mir auch nicht bringen, was ich mir wünsche.« Es entstand eine Pause. »Das weiß ich, Sir ... aber so bringen Sie sie auch nicht zurück. Kommen Sie, Sie können doch nicht mit der ganzen Welt brechen.« Nach einem Moment lachte Riven. »Vielleicht hast du recht. Mein Bedarf an Brüchen ist eigentlich gedeckt.« Er klopfte Doody auf den Arm. »Es tut mir leid, Kumpel. Das nächste Mal, wenn ich in dieser Stimmung bin, prügelst du mich einfach über den Flur.« »Das klingt schon besser. Aber denken Sie daran, ich habe schon einmal Ärger bekommen, weil ich einen Offizier geschlagen habe.« Die Weihnachtsfeier war in erster Linie für die älteren und weniger mobilen Patienten des Centers. Man hatte sich alle Mühe gegeben, eine traditionelle Feier abzuhalten, und am Morgen hatte es für diejenigen, die darauf Wert legten, einen Gottesdienst gegeben. Riven legte keinen Wert darauf. Immerhin raffte er sich dazu auf, zwei Weihnachtskarten zu malen, für 77
Doody und Schwester Cohen. Merkwürdigerweise konnte er immer noch annehmbar malen. Es war das Schreiben, die weniger instinktabhängige Begabung, das ihm Schwierigkeiten machte. Das Gehen fiel ihm mittlerweile leichter. Die Fortschritte waren nicht sprunghaft erfolgt, sondern in kleinen Etappen. Er verzichtete nun auf den Gehrahmen und kämpfte sich mit einer einzelnen Krücke vorwärts. Er war achtundzwanzig Jahre alt, aber durch den Bart, die Krücke und seine gebeugte Haltung wirkte er wie vierzig. Mit jedem Tag starrte ihm ein grimmigeres Gesicht aus dem Spiegel entgegen. Tiefe Falten hatten sich um seinen Mund gegraben. Die Nägel in seinen Armen und Beinen würde die Metalldetektoren bei Flughafenkontrollen für den Rest seines Lebens durcheinanderbringen, und seine Narben würden niemals völlig verschwinden. Aber sein Körper kämpfte um Genesung und Gesundheit, ob er es wollte oder nicht. Die Kopfschmerzen traten nur noch selten auf und waren dann weniger stark, und die Schmerzen in seinen Beinen wichen allmählich einem Schwächegefühl. Zu Weihnachten schenkten ihm Doody und Schwester Cohen zusammen eine Feldflasche voll Whisky. »Der hält Sie in den kalten Winternächten warm, Sir«, sagte Doody mit einem Zwinkern. Riven schienen seine Wasserfarbengemälde ein unangemessenes 78
Gegengeschenk zu sein, aber die beiden waren entzückt darüber. Der Weihnachtstag; das gemeinsame Essen und der langweilige Nachmittag mit der Fernsehansprache der Queen, als die meisten Patienten schon vor sich hindösten. Dann kam der lange dunkle Abend, wurde zur Nacht, und es war vorbei. Eines der Ereignisse, vor denen er sich gefürchtet hatte, war für dieses Jahr überstanden. In dieser Nacht lag er unbeweglich in seinem Bett und kämpfte gegen die anstürmenden Erinnerungen an. Er schob sie weit von sich, in eine dunkle Ecke seines Bewußtseins. Am nächsten Morgen war er müde und zerschlagen. Es folgten die ereignislosen Ferientage bis Silvester. Doody und Schwester Cohen nahmen ihren wohlverdienten Urlaub. Riven sah, wie sie zusammen wegfuhren: Schwester Cohen nahm Doody mit bis zum Bahnhof. Damit war er dem zärtlichen Mitgefühl von Schwester Bisbee ausgeliefert. Es machte ihm nichts aus. Die beiden waren diejenigen, die versuchten, ihn in ein normales Leben zurückzubringen, und das wollte er noch nicht. Er hatte Weihnachtskarten von alten Freunden erhalten, die er fast alle aus seiner Zeit in Oxford kannte. Einige waren auch von Kameraden aus der Armee. Er brütete stundenlang über den Karten, fragte sich, was diese Leute von ihm wollten. Die Außenwelt war eine Rasenfläche und ein weidengesäumter Fluß, sonst nichts. Wenn er 79
über Dinge jenseits dieser Begrenzung nachdachte, bröckelte der Schutzwall ab, mit dem er die Vergangenheit umgeben hatte, und die schwarzen Erinnerungen holten ihn ein. An einem regnerischen Morgen, als er auf einer Expedition zur Toilette durch den Erholungsraum humpelte, entdeckte er wahrhaftig einen Patienten, der in einem seiner Bücher las. Er war einen Moment lang stolz und erfreut, verspürte dann aber eine merkwürdige Panik. Es war, als würde jemand in seine Schutzzone eindringen, als würde er einen Teil seiner Verkleidung verlieren. Die Welt, die ihn früher angetrieben und ausgefüllt hatte, wurde von anderen hierhergebracht. Es verfolgte ihn sogar hier. Erst Schwester Cohen und dann das. Wie konnte er so Vergessen und Heilung finden? Jenny war in dieser Welt, in jedem Wort, das er geschrieben hatte, so deutlich, als lächle sie ihn hinter jedem Satz an. Er nahm das Buch an sich, als der alte Mann zum Essen ging, und ging damit in sein Zimmer. Flame of Old. Sein erstes. Das, das er als Junge begonnen und abgebrochen hatte; bis er sie getroffen hatte. Das optimistische. Die Geschichte, die an ein Happy-End glaubte. Das Land war rauh, aber gut. Es gab reiche Böden in den Dales, in den geschützter gelegenen Gebieten fruchtbar genug für Gerste. Dort wuchs auch Kohl, und weithin leuchteten die Weizenfelder. Aber überall schoben sich die Berge in das Tal, griffen danach wie wilde 80
Brecher aus Granit, die in dichtgestreute Felsblöcke ausliefen. Moosbewachsene Felsen, umwuchert von Farn und Büscheln von gelblichem Gras. Knorrige, dornige Bäume duckten sich unter dem eisigen Hauch des Nordens, den die Menschen Wind nannten. Sie glichen verkrüppelten Männern, hart wie die Felsen, an denen sie standen. Und da war der Rorim. Ralarth Rorim, die Festung der südlichen Dales. Er lag auf einem flachen Hügel, von dem manche sagten, er sei durch Menschenhand entstanden. Andere meinten, es habe ihn schon immer gegeben. Von den Wällen blickte man auf ein weites Tal, durch das sich das glitzernde Band eines tiefen Flusses schlängelte. Unten im Tal standen die Häuser und Höfe der Völker der Dales. Die Felder und Äcker verliefen in geraden Linien, und in verstreuten Herden graste das Vieh. Aus den Häusern und Schenken, den Schmieden und Ställen stieg blaugrauer Rauch in die klare Luft. Wenn der Wind günstig stand, hörte man das Treiben eines Marktes. Er schmiegte sich unterhalb des Rorims an den Hang. Das Streiten und Feilschen der Marktbesucher trug der Wind nur als leises Gemurmel hinauf zur Burg. Jenseits des Dales von Ralarth rollten die Hügel wie ein trübes Meer bis zu den verschwommenen Bergen am Horizont. Sie waren übersät mit Felsen, dicht bewachsen mit Farnkraut und dem rauhen Gras des Hochlands. Eine Landschaft, über der Drachen 81
und Bussarde schwebten, durch die Wölfe streiften, in der wachsames Wild graste. Nach Süden hin überzog ein dunkler Wald die Hügel und säumte ihre felsigen Gipfel mit Tannen, Fichten, Kiefern, Buchen, vereinzelten Eichen und einem Wirrwarr von Farnen und Brombeersträuchern. Scarall Wood war der Name des Waldes, und wilde Geschöpfe bewohnten ihn. Und südlich des Waldes lief das Land in zerklüftete Klippen aus, die zwischen Wasserfällen zur Küste verliefen, wo das Meer wie seit ewigen Zeiten unablässig gegen die Säulen der Erde brandete. Ein Reitertrupp kam aus dem Norden, den Wind im Rücken und die sinkende Sonne zur Linken. Es waren zehn Männer auf großen dunklen Pferden. Die Hälse der Tiere waren weiß vor Schaum. Die Reiter trugen metallbeschlagene Lederkleidung mit blauen Schärpen. Schwerter klirrten an ihren Hüften, und leere Proviantbeutel hingen an ihren Sätteln. Als sie Ralarth Rorim vor sich liegen sahen, zügelten sie die Pferde. Sie standen in den Steigbügeln und sahen das weite Tal vor sich, auf das sich langsam die Dämmerung senkte. Vereinzelt funkelten Feuer wie Edelsteine in einer Mine, und sie hörten von weitem das Muhen der Rinderherden, die von den Weiden getrieben wurden. »Zu Hause«, sagte der große Rotbärtige, Ratagan, befriedigt. »Ich habe euch ja gesagt, 82
daß wir es bis zum Abend schaffen können, wenn wir uns beeilen.« Der schmale dunkle Mann mit dem scharfgeschnittenen Gesicht neben ihm nickte. »Obwohl die Pferde dafür ihr letztes geben mußten. Aber es wird gut sein, heute nacht ein Dach über dem Kopf zu haben.« »Und Mauern um uns herum«, fügte Ratagan hinzu. Sein Blick glitt über die umliegenden Hügel. »Ich habe keine Lust, mich schon wieder mit den jagenden Wolfsrudeln herumzuschlagen. Ich habe für eine ganze Weile genug von dem Pack.« »Dann wirst du Murtach wohl aus dem Weg gehen, wenn wir ankommen?« fragte der dunkle Mann mit einem blitzenden Grinsen. Ratagan lachte polternd. »Der und seine Köter! Sie fürchten sich vor ihrem eigenen Schatten. Ich glaube, ihre Mutter war ein verirrtes Schaf. Obwohl ich zugeben muß, daß sie gefährlich aussehen.« »Murtach sagt, daß der äußere Eindruck oft entscheidend ist«, sagte der dunkle Mann. »Aye, er muß es wissen — er ist schließlich der Gestaltenwandler. Ah, ich freue mich auf das Bier, das er heute spendieren wird für die Geschichten, die ich gesammelt habe!« »Und du bist der Richtige, sie zu erzählen.« Der dunkle Mann lächelte. »Doch komm jetzt, wir müssen weiter. Der Wind wird kalt, und wir haben noch ein paar Meilen vor uns.« Sie gaben ihren müden Pferden die Sporen, und die kleine Kolonne setzte sich wieder in 83
Bewegung. Vor ihnen funkelten die Lichter des Tals in der zunehmenden Dunkelheit. Aye. Aber für manche von uns kommt die Dunkelheit zu schnell, um unseren Weg weiter gehen zu können. Riven klappte das Buch zu und schloß die Augen. Noch immer sah er die Abenddämmerung über den Hügeln einer anderen Welt vor sich. Dann stand er langsam auf, nahm seinen Stock, und machte sich auf den mühsamen Weg zum Erholungsraum, wo er das Buch wieder an seinen Platz legte. Wenn das Weihnachtsfest hauptsächlich für die Patienten gedacht war, denen es nicht so gut ging, so standen am Silvesterabend diejenigen im Mittelpunkt, die — wie Doody es ausdrückte — noch nicht mit einem Bein im Grab standen. Viele Patienten verbrachten die Feiertage zu Hause, aber ein guter Teil blieb im Center, genau wie das Pflegepersonal, das sich um sie kümmerte. »Nun, Sir«, sagte Doody, als er Silvester aus dem Urlaub zurückkam. »Ich habe die Absicht, auf jeden Fall zu feiern, egal was Bisbee, die alte Kuh, sagt. Orangensaft, du heilige Scheiße! Anne und ich werden versuchen, für diejenigen, die es vertragen können, etwas Richtiges hereinzuschmuggeln. Sie glauben nicht, wie viele von ihnen die Ohren spitzen, wenn sie etwas von einem harten Drink hören.« 84
Silvester. Das war immer eine große Sache in Schottland. Nehmt Abschied Brüder und all das. Am Nachmittag dieses Tages schob Schwester Cohen ihn in den Garten. Er hörte ihr zu, wie sie von den Feiertagen erzählte, der Silvesterparty und Bisbees Tyrannei. Er achtete weniger darauf, was sie sagte, als darauf, wie sie es sagte. Es war kalt, aber der Regen hatte aufgehört, und eine unstete Sonne tauchte ab und zu zwischen den Wolken auf. Der Fluß führte viel Wasser, rauschte laut an den kahlen Weiden vorbei. »Bald wird es hier schneien«, prophezeite Schwester Cohen. Sie strich eine Haarsträhne zurück unter ihr Häubchen. »Aber dann kommen auch bald der Frühling und die Osterglocken. Die ganze Uferwiese wird übersät mit ihnen sein. Es ist ein prächtiger, aufmunternder Anblick.« Sie hörte auf zu schieben. »Werden Sie wirklich nicht hier sein, um es zu sehen, Mr. Riven?« Er zuckte die Schultern. »Vielleicht. Ich bin schon wieder ganz gut in Schuß. Ich habe keine Ausrede, noch viel länger hier zu bleiben.« Und ich habe etwas zu erledigen. Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich sage es Ihnen nächstes Jahr.« »Nächstes Jahr. Nun, ich habe diesmal keine guten Vorsätze gefaßt, und so muß ich keine brechen, wie ich es sonst immer tue. Doody hat versprochen, sich ein bißchen besser zu 85
benehmen, aber das soll glauben, wer will. Die alte Bisbee könnte sich vornehmen, die Haare auf ihren Zähnen zu rasieren.« Riven lachte. »Mister Riven?« »Ja?« »Wenn Sie wollen, können Sie mich Anne nennen. Das tun die meisten Patienten.« »Okay, Anne also.« »Gut.« Sie sah zum Himmel. »Regen. Ich bringe Sie am besten wieder hinein. Es ist gegen die Vorschrift, daß Patienten naß werden.« Sie schob ihn zurück in Richtung des Gebäudes. Das Abendessen war nicht so festlich wie an Weihnachten, aber die Stimmung war wesentlich ausgelassener. Das Pflegepersonal aß zusammen mit den Patienten, und am Ende der Tafel, wo Riven zusammen mit Doody und Schwester Cohen — Anne — saß, ging es hoch her. Vor ihnen standen mehrere unschuldig aussehende Flaschen, die mit feurigen Getränken gefüllt waren. Das war der Grund für den beträchtlichen Lärmpegel, der Schwester Bisbee immer wieder zu mißtrauischen Blicken veranlaßte. Irgendein Bastler hatte ein Lautsprechersystem installiert, durch das das Geläut von Big Ben in den Speisesaal übertragen wurde. Als das Essen vorüber war und der große Moment näherrückte, wurde es ruhiger. Riven rollte von dem Tisch weg und 86
postierte sich in der Nähe eines Fensters, das zum Garten hinausging. Eine ideale Silvesternacht. Die Sterne waren so hell, daß er Sirius erkennen konnte, sogar von hier drinnen. Er wollte nach draußen, allein unter dem klaren Himmel sein, wie er es so oft in seinem Leben gewesen war. Im Speisesaal wurde es jetzt dunkler, und aus den Lautsprechern ertönte ein Knistern. Eine Stimme begann von der Menschenmenge am Trafalgar Square zu berichten und ihrem wilden Treiben um den Brunnen dort. Doody tanzte mit einer alten Dame, die sich vor Lachen ausschüttete. Sie sah aus, als hätte sie das Tanzbein seit Jahrzehnten nicht mehr geschwungen. Schwester Cohen schloß sich an; sie tanzte mit einem Achtzigjährigen, der normalerweise nörgelnd in seinem Bett lag. Die Glocken begannen zwölf Uhr zu schlagen, und die Tänzer hielten inne. Mit einem Glas in der Hand stand Riven auf. Neun, zehn, elf ... Mit dem letzten Glockenschlag trank er das Glas in einem Zug aus und hob es Richtung Decke. Auf dich, mein Mädchen. Ein neues Jahr. Als er aus dem Saal hinkte, sah er wie Doody Schwester Cohen küßte. Die Patienten wünschten sich Glück und hauchten sich Küsse auf die Wangen. Alle umarmten sich, und dann begann »Nehmt Abschied Brüder«. Das Singen folgte ihm, als er sich nach 87
draußen in die ruhige, kalte Nacht begab, zum Rasen und dem leise rauschenden Fluß. Das Gras war feucht und rutschig, und er kam nur langsam voran. Er blieb stehen und hielt nach den Sternbildern Ausschau. Orion mit seinem leuchtenden Gürtel. Der Große Wagen und der Nordstern. Knapp über dem Horizont die Venus, der helle Jupiter. Sie hatten ihm früher oft den Weg gewiesen. Und sie führten ihn jetzt, als könne man die Zeit zurückdrehen und er befände sich wieder auf Skye, mit einem Herzen, das nicht gebrochen war, und jemandem, der ihn liebte. Der hoch angeschwollene Fluß spiegelte das Licht der Sterne. Riven setzte sich und zog sich mit kraftlosen Händen mühsam die Schuhe aus. Dann die Socken. Er spürte den Tau kühl unter seinen Füßen. Das Wasser war zunächst schneidend kalt, aber dann kitzelte es nur noch, glitzerte um seine Waden. Er stand knietief in der Strömung und blickte zum Sternenzelt empor. Es schien sich um ihn zu drehen. Er war der Mittelpunkt, die Achse, um die es sich bewegte. Er wußte, daß seine Zeit in Beechfield vorüber war. Es war Zeit zu gehen. Zeit, in die Berge zurückzukehren.
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VIERTES KAPITEL Riven ging nicht nach Camasunary zurück, um ein Buch zu schreiben. Er wollte versuchen, dort die Gespenster der Vergangenheit zu vertreiben, Heilung zu finden. Er dachte, daß das Schreiben vielleicht dazugehören würde, aber er war sich nicht sicher. Was immer geschehen würde, jetzt war er hier, in einem Eisenbahnabteil, seine Habseligkeiten zusammengeknüllt in einem Rucksack auf dem Boden. Das BeechfieldCenter lag etliche Counties hinter ihm, und das neue Jahr eröffnete sich vor ihm wie eine dunkle Blume. Eine nächtliche Zugfahrt. Er hatte nicht versucht zu schlafen. Es war schon fast eine Gewohnheit, die Reise nach Skye so unbequem wie möglich zu verbringen. Es machte den ersten Blick auf die Cuillins jenseits des Sound of Sleats noch lohnender. Er blickte durch das Fenster in die blaue Finsternis. Wenn das Wetter so bleibt, werde ich nur den üblichen Nieselregen sehen. Carlisle blieb zurück und damit England. Das Rattern des Zuges ließ ihn einnicken. Stunden später erwachte er in verkrampfter Haltung. Seine Beine schmerzten, und er sah wie die Sonne über dem Hochland aufging. Auf 89
den Bergen lag schon Schnee. Er fragte sich, ob es auf den Inseln auch schon geschneit hatte. Zum ersten Mal beschäftigte er sich mit den Schwierigkeiten, die es machen würde, zu der Hütte zu gelangen. Es gab keine Alternative zum Fußmarsch über den Paß. Er würde wohl kaum jemanden finden, der ihn trug. Er verließ den Zug an einem grauen, feuchten Morgen in Mallaig und ging die kurze Strecke zum Hafen zu Fuß. Dort lagen zahlreiche Fischerboote vor Anker, und überall standen Fischkörbe und Hummerkisten herum. Über ihm kreischten Möwen. Es kam ihm vor, als habe er seit Jahren keine mehr gehört. Er blickte hoch und betrachtete die Häuser, die auf dem Hang eines Hügels über dem Hafen thronten. Der Hügel war braun von totem Farn, aber jenseits der Meerenge konnte er Skye sehen. Er war zurückgekehrt, zurück zu Meer und Felsen! Er konnte die Mittagsfähre nehmen und bestieg das kleine Schiff fast ängstlich. Wieder so nah zu sein — war das wirklich das Beste, was er machen konnte? Aber er war fest entschlossen. Während der kurzen Überfahrt blieb er an Deck und ließ sich den Wind durch den Bart streichen. Armadale, tief gelegen und bewaldet, näherte sich. Von dort aus war es eine lange Busfahrt und dann der Marsch über den Paß. Fahr schneller, mein kleines Boot ... oder nicht? 90
Die Fähre stampfte und schlingerte unter ihm, und die Möwen folgten ihrer Kielspur. Wohin kehrte er zurück? Der Gedanke an Camasunary, so tot wie sie, noch angefüllt mit ihren Sachen, so wie sie sie an jenem Sommermorgen zurückgelassen hatte, ließ ihn schaudern. Eine düstere Stimmung schwebte über ihm und senkte sich auf seine Schultern. Vielleicht war Molesys Rat doch kein so heißer Tip gewesen. Er betrat die Pier in Armadale und war damit den Unwägbarkeiten des Inselbussystems ausgeliefert. Ohne größere Schwierigkeiten gelangte er nach Broadford. Von dort konnte er den Postbus nehmen, der durch Torrin fuhr. Zunächst aber machte er es sich in einem Hotel gemütlich. Er setzte sich an die Bar und stärkte sich mit ein paar kräftigen Schlucken McLeods Whisky. Trinkfestigkeit war eine wichtige soziale Tugend, und er hatte sie während seiner Zeit in Schottland zu Genüge erprobt. Der kleine rote Bus, der die Inselpost beförderte, kam wie üblich zu spät. Der Fahrer erkannte ihn nicht, wofür Riven zutiefst dankbar war. Er saß schweigend da, während das Fahrzeug sich am Fuß der Berge entlangschlängelte, nach Süden, in Richtung Torrin. Für Riven war es wie eine Fahrt in die Vergangenheit. Die Monate in der Klinik erschienen ihm wie ein grauer, nebelhafter Traum, aus dem er endlich erwacht war. 91
Und schließlich ragte der Gebirgskamm vor ihm auf, bewachsen mit hellem Farn. Auf den Höhen lag Schnee. Er holte tief Luft, betastete seinen Stock und sah sich dann um. Von einem nahestehenden tropfnassen Haselnußstrauch schnitt er sich einen Stock, der dem unebenen Boden besser gewachsen war, und begann den beschwerlichen Aufstieg. Nach wenigen Augenblicken in dem windgepeitschten Nieselregen war die letzte Wirkung des Whiskys verflogen. Er beugte sich nach vorn, machte kleine Schritte und versuchte gleichmäßiger zu atmen. Geräuschvoll plätschernde Rinnsale kreuzten seinen Pfad — soweit von einem Pfad überhaupt die Rede sein konnte. Er spürte, wie er auf dem Rücken und in den Achselhöhlen zu schwitzen begann, obwohl sein Gesicht durch den Wind eiskalt war. Er blieb für einen Moment stehen, richtete sich auf und starrte auf den steilen Hang vor sich. Die Schmerzen in seinen Beinen versuchte er zu ignorieren. Ich muß verrückt sein. Aber er beugte sich wieder vor und stützte sich auf den Haselnußstock. Ein paar Hochlandrinder waren auf dem Hang. Wiederkäuend beäugten sie ihn mit sanfter Neugier durch die zottigen Haarbüschel, die ihnen in die Augen fielen. Er stapfte an ihnen vorbei und sah zu dem düsteren Himmel empor. 92
Sieht ganz so aus, als würde von da oben gleich etwas sehr Unerfreuliches herunterkommen. Er war mit diesem Pfad, diesem Felskamm vertraut. Er kannte die meisten Windungen des Weges, die falschen Gipfel, die sumpfigen Stellen, an denen schwarzes Moorwasser schimmerte. Ungewohnt war aber der schmerzende Körper, mit dem er sich vorwärtskämpfte. Neue Schwächeanfälle bestimmten jetzt die Aufstiegsroute, er mußte die kürzeste Route wählen. Ohne sich um die Anstrengungen zu kümmern, die damit verbunden waren, schlug er einen Weg ein, den er noch nie beschritten hatte. Er passierte die Schneegrenze, und der Regen verwandelte sich in Graupelschauer. Der Schnee sammelte sich auf den Felsen und dem Farnkraut, begann zu schmelzen und wurde von einer neuen Schicht überdeckt. Ein milder Tag, hätte Calum gesagt, die unvermeidliche Pfeife zwischen den Zähnen. Er hatte schon viel Schlimmeres gesehen. Aber Calum war ein Jahr vor seiner Tochter Jenny gestorben, in einer mondhellen Nacht mit einer silberglänzenden Brandung, den winselnden Hund zu seinen Füßen. Sein Herz hatte nicht mehr mitgemacht. Riven erreichte den Gipfel der Bergkette und setzte sich auf einen Felsblock. Vor ihm erstreckte sich das Sligachan-Tal in der Dämmerung. Der Wind fegte noch immer Graupelschauer vor sich her. Gegenüber war 93
undeutlich ein Berg zu erkennen, und links unten hörte er das Meer, das Rauschen der Brandung zwischen den Felsen der Küste. Tja. Ein milder Tag. Aber es würde keine milde Nacht folgen. Er massierte sich die Beine. Er fühlte sich völlig verlassen und war den Tränen nahe. Nur dieser sture, irgendwie militärisch geprägte Teil von ihm hielt ihn vom Schluchzen ab. So wie damals, als sein Corporal in Irland vor seinen Augen zerrissen worden war oder als er erfahren hatte, daß Jenny tot war. Und wieder sah er sie vor sich, mit wehenden Haaren, dick vermummt gegen die Kälte des Winters. Sie lachte und forderte ihn auf, sich zu beeilen. Mich zu beeilen, den Berg hinunterzukommen, den ich bestiegen habe, dachte er. So machte er sich wieder auf den Weg. Er verfluchte seine Beine, den Morast, das Wasser und den Winter. Und am meisten sich selbst. Bergab war es schwieriger, seine Waden schmerzten, und seine Beine zitterten. Er mußte sich an Farn und Felsblöcken festklammern und den Stock vor sich in den aufgeweichten Boden stemmen, um das Tempo des Abstiegs noch bestimmen zu können. Der Hang war so steil, daß der Weg sich oft in die entgegengesetzte Richtung wendete. Die Serpentinen schlängelten sich in einem blassen Muster den Berg hinunter. Kleine Bäche nahmen die direkte Route und kreuzten 94
häufig seinen Weg. Seine nassen Füße fühlten sich jetzt nicht mehr unangenehm an, aber die Schmerzen machten ihm zu schaffen. Er hatte Visionen von Metallbolzen, die sich lösten, von Schrauben, die langsam in das Muskelfleisch wanderten, von Metall, das unbefestigt über Knochen schabte. Die Graupelschauer verwandelten sich während des Abstiegs wieder in Regen. Kalter, stechender Regen, den der Seewind vor sich her trieb. Unten krachten die Brecher in die Bucht und schäumten weiß auf die Klippen. Sein Blick glitt die Küstenlinie entlang, während er den Hang hinunterstolperte, und er meinte, den dunklen Umriß der Hütte am Ende der Bucht ausmachen zu können. Dann rutschte er auf einem moosbewachsenen Felsen aus und stürzte schwer. Er rollte ein Stück den Abhang hinunter und blieb dicht neben einer Pfütze mit schwarzem Brackwasser liegen. Er lag für einen Augenblick still, während sich die Wasseroberfläche wieder beruhigte und er sein Spiegelbild zu erkennen begann. Dann stemmte er sich auf Hände und Füße. Er versank bis zu den Knöcheln im Morast. Völlig durchnäßt und schlammverschmiert kam er auf die Beine und stolperte weiter, fluchend, den Kopf gegen den Wind gebeugt. »Sieh nur, wie blau das Meer heute ist«, sagte er und blieb oben auf dem Bergkamm stehen. 95
Er schob die Daumen zwischen die Gurte des Rucksacks und seine Schultern. Sie blickte ihn an, ihr dunkles Haar wehte im Wind. »Im Sommer ist hier alles grün und blau, im Tal herrscht dann friedliche Ruhe. Allerdings gibt es jede Menge Mücken.« Sie nahm ihren Rucksack von den Schultern und ließ ihn auf den Boden fallen. »Laß uns einen Moment hierbleiben und verschnaufen.« Er setzte sich neben sie. Der Wind strich böig durch die Hügel, glättete das Gras und ließ die Unterseite der Halme in der Sonne leuchten. Weiße, bauschige Wolken trieben über den stahlblauen Himmel. Es war ein klarer Tag, deutlich waren die spitzen Felsgipfel der Cuillins-Bergreihe zu erkennen, die am Horizont aus den Hügeln ragte. Sie lagen nebeneinander im knisternden Farnkraut. Jenny strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stützte sich auf den Ellbogen. Über ihnen schwebte ein Brachvogel und stieß schrille Schreie aus. Die Wolken verhüllten jetzt öfter die Sonne. Vielleicht braute sich über dem Meer ein Regenschauer zusammen und bereitete sich zum Angriff auf die bergige Küste vor. Jenny regte sich. »Menschen sind wie Jahreszeiten, weißt du«, sagte sie gedankenverloren. Riven sah sie fragend an. Sie lag jetzt auf dem Bauch, das Kinn in die Hände gestützt. Sie lächelte, als sie die Verwirrung in seinem Blick sah. »Es stimmt«, 96
sagte sie. »Einige sind wie der Winter, andere wie der Frühling oder Herbst.« Er lachte, und sie strich ihm durch das Haar. »Und was bin ich dann?« fragte er. »Ein Idiot«, prustete sie. Er packte sie und hielt sie fest, aber sie versuchte, sich zu befreien. »Idiot!« rief sie wieder triumphierend. Sie wand sich in seinem Griff, konnte sich aber nicht freimachen. Schließlich lag sie ruhig in seinem Arm. Der Wind, der über die Hügel strich und in dem sich die Möwen über ihnen treiben ließen, ließ ihr Haar wehen. Sie lächelten sich an, die Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. »Du«, sagte Riven atemlos. »Du bist der Frühling, mit dem Wind und den Regenschauern, den treibenden Wolken ...« Er küßte sie zärtlich auf die Lippen. »Und der Herbst«, murmelte er. »Mit seiner reichen Ernte.« Ihre Lippen trafen sich wieder, und dann trieb der Wind neue Wolkenberge heran, die die Sonne verdunkelten. Es war dunkel, und er stolperte durch kniehohen Morast, der das Ende des Abhangs markierte. Die dunklen Umrisse der Berge zeichneten sich vor dem etwas helleren Himmel ab. Der Wind hatte die Wolkendecke aufgelockert, und der Regen hatte nachgelassen. Bald würde der Mond aufgehen. Er stapfte durch das Schilf, das diesen Teil des 97
Tals bedeckte. Der Schmerz in seinen Beinen zuckte in grellen Blitzen bis in seinen Kopf. Das Schlimmste ist überstanden, alter Junge. Jetzt nur noch durch die Bucht. Es hörte endlich auf zu regnen, aber der feuchte Seewind stach ihm ins Gesicht. Er spürte einen salzigen Geschmack auf den Lippen. Am Strand leuchtete der Schaum jetzt im Mondlicht. In langen weißen Linien schoben sich die Brandungswellen heran. Riven hatte das Schilf jetzt hinter sich, und unter seinen Füßen knirschte Kies. Er hatte Mühe, auf den größeren Steinen nicht auszurutschen, und sein Stock glitt von den glatten Kieseln ab. Ab und zu leuchtete eine Muschel zwischen den Steinen. Er blieb schweratmend stehen. Die Hütte war jetzt deutlich zu erkennen. Dunkel stand sie vor den mächtigen Bergen, neben ihr schimmerte das Meer. Kein Licht in den Fenstern. Kein Feuer. Eine Welle des Schmerzes und der Trauer durchlief ihn und verebbte wieder. Er fühlte sich verloren. Mist! Er stieß den Stock in den Boden und schleppte sich weiter. Sturmböen wehten durch das Tal. Er konnte sich vorstellen, wie sie an den Fensterläden rappelten und durch den Kamin heulten. Die Tür zuschlugen. Diese Tür. Und diese Türschwelle. Er stocherte mit den Schlüsseln herum, die er mit klammen Fingern aus einer Tasche 98
genommen hatte. Der Wind zerrte unablässig an seiner Kleidung. Gefühllos, nutzlos. Und die Tür öffnete sich. Schwankend stand er vor der Schwelle, das Brausen des Sturms hinter sich. Der Schmerz in seinen Beinen drang wie aus einer anderen Welt in sein Bewußtsein. Die Tür krachte an die Wand, und eine Windböe fuhr in die Hütte, wirbelte die Asche in der verlassenen Feuerstelle auf und blätterte die fahlen Seiten eines halbgelesenen Buches um. Der Ärmel eines Pullis, den jemand auf einen Stuhl geworfen hatte, pendelte im Durchzug. Den sie auf den Stuhl geworfen hatte. »Ich brauche ihn nicht — es ist so ein schöner Tag, ich würde mich darin totschwitzen. Los, Michael, du alter Mann, laß uns rausgehen, solange die Sonne scheint. Es wird jetzt schon wieder früher dunkel.« Und draußen das Gekreische der Möwen. Er schloß die Tür hinter sich, mußte sie gegen den Widerstand des Windes zudrücken. Der Raum lag wieder tot da. Dunkel bis auf die Lichtbalken, die der Mond durch die Fenster warf. Der Rucksack und der Stock fielen polternd auf den gefliesten Boden, und er sank auf die Knie. Seine Kleidung war völlig durchnäßt, und Haarsträhnen klebten auf seiner Stirn. Das Bild von ihnen beiden starrte ihn von dem dunklen Kaminsims her an. Daneben kaltglänzend die beiden Kerzenständer aus 99
Messing. Dort, auf seinem Tisch, seine Schreibmaschine und ein dicker Papierstapel, der von einem runden Stein vom Strand beschwert wurde. Eine Kaffeetasse stand griffbereit. »Aber ich habe noch nicht ausgetrunken ...« »Ach, laß den Kaffee stehen. Dein Kopf braucht klare Bergluft.« Hier, an der Tür, ein Paar Wellington-Stiefel. Auch seine Wanderstiefel, neben einem kleineren Paar. In einer sinnlosen Geste berührte er einen Schnürsenkel. Dann wandte er sich ab und stand auf. Müde. Gott, bin ich müde. Er ging durch den Raum und starrte in den toten Kamin, dachte an die Feuer der Vergangenheit. Daran, wie er im strömenden Regen Torf hereingebracht hatte, an die Wärme der ersten Flammen in seinem Gesicht. Plötzlich stieg Wut in ihm hoch. »Ich brauche das nicht, Herr im Himmel, ich brauche es nicht.« Er schlug gegen den Kaminsims, daß er zitterte, und löste dann seinen Blick von dem Bild, das darauf stand. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Fluchend ging er hinüber. Im Schlafzimmer das ungemachte Bett, das Durcheinander der Kissen. In einem noch der Abdruck eines Kopfes. Und ihr Nachthemd. Ein warmes Bündel aus Fleisch und Haaren, nach Lavendel riechend und zusammengekuschelt in seinen Armen, leise im Schlaf murmelnd. Kalte Zehen suchten 100
seine Beine, um sich zu wärmen, das Gesicht schmiegte sich an seine Schulter. Ein Geräusch zwischen einem Knurren und einem Schluchzen entrang sich seiner Brust. Er spürte, wie die schwarzen Schwingen der Verzweiflung wieder über ihm zusammenzuschlagen drohten. Dennoch kniete er nieder und ballte das Nachthemd in seinen Fäusten zusammen. Es roch muffig und feucht, aber er vergrub sein Gesicht darin und sank auf die kalte Matratze. Dann, immer noch in seinen tropfnassen Kleidern, rollte er sich zusammen und zog sich die Kissen über den Kopf; blind und taub für den Sturm, das Tosen des Meeres, das Heulen des Windes in den Bergen. Calum stopfte seine Pfeife mit Fingern, die im Laufe der Jahre feuerfest geworden waren, und ließ eine blaue Rauchsäule zwischen seinen Zähnen emporsteigen. »Du möchtest sie also heiraten«, sagte er ruhig. Seine blauen Augen ruhten auf den auslaufenden Wellen, die der Südwind an den Strand warf. »Aye«, antwortete Riven ihm. Calum trug einen alten, flickenübersäten Tweedmantel. Auf dem Kopf hatte er wie immer seine Mütze. In seinem mageren Gesicht funkelten die grauen Augen in einem Wirrwarr von Alterslinien und Lachfältchen. Fast immer spielte ein Schmunzeln um seinen Mund. So wie jetzt, da dieser irische Soldat um 101
die Hand seiner Tochter anhielt. Der Mann, der eines Winterabends im wahrsten Sinne des Wortes in ihr Leben gestürzt war und seitdem regelmäßig seine Besuche machte. »Wirst du die Armee verlassen?« fragte er. »Ja, so bald wie möglich.« »In manchen Gegenden würde man behaupten, daß es heutzutage altmodisch ist, einen Vater um die Hand seiner Tochter zu bitten,« sagte Calum mit einem Augenzwinkern. »Vielleicht, aber du bist Jennys ganze Familie, und es ist wichtig.« Calum nickte zustimmend. Seine Augen folgten dem Flug eines Brachvogels, der über der Bucht schwebte. Sein langer, gekrümmter Schnabel glänzte in der tiefstehenden Sonne, seine Silhouette zeichnete sich dunkel vor dem Abendhimmel ab. »Ihre Mutter war eine wunderbare Frau«, sagte er schließlich, und sein Blick verlor an Schärfe, verlor sich in Erinnerungen. »Jenny ist aus dem gleichen Holz geschnitzt. Man trifft nicht oft ein Mädchen wie sie.« »Ich weiß«, sagte Riven sanft. Calum stieß eine neue Rauchwolke hervor. »Aye, das tust du. Ich weiß es, Mike.« Dann glitt ein Lächeln über sein Gesicht. »Wie wär's mit einer Mitgift?« »Was?« »Wenn du schon so altmodisch bist, können wir keine halben Sachen machen.« »Nein, Calum. Wir brauchen wirklich nicht ...« 102
»Ihr beide liebt doch Camasunary, die Hütte dort.« »Nun ja, das stimmt.« »Sie ist nicht luxuriös und muß etwas hergerichtet werden, aber ihr müßtet keine Schulden bei der Bank machen oder so etwas.« Riven lächelte. Zum ersten Mal sah ihm Calum in die Augen, und das Lächeln um seinen Mund wurde zu einem breiten Grinsen. »Wie wär's mit einem Gläschen, um den Abend zu begrüßen?« »Warum nicht?« Und sie gingen durch das Tal zurück zu der Hütte, aus deren Tür Licht schimmerte und in der Jenny mit dem Essen auf sie wartete. Voller Schmerzen und frierend erwachte er in der Morgendämmerung, hatte die Augen sofort ganz geöffnet. Krämpfe durchliefen seine Glieder. Er setzte sich auf und sah auf das feuchte, dreckverschmierte und zerknüllte Bettzeug. »Oh, mein Gott.« Verschlafen rieb er sich das Gesicht, und als er seine Hände senkte, war sein Blick leer. Da bin ich also. Schwankend erhob er sich. Um ihn herum starrte das vertraute Strandgut zweier Leben ihn an. Aus dem Kleiderschrank, von den Regalen und Wänden. Sein Atem dampfte. In der Hütte war es eiskalt. Er blieb stehen, um mit ausdruckslosem Gesicht ein Foto von ihnen beiden zu berühren, 103
und ging dann in den Wohnraum. Sein Rucksack stand einsam und verlassen in einer Pfütze bei der Tür. Der Stock lag daneben. Er nahm den Haselnußstab auf und strich über seine glatte Oberfläche. Irgendwie war es tröstlich, etwas zu besitzen, das mit der Vergangenheit nichts zu tun hatte. Er sah sich um. Dieser Ort war einmal ein Hafen für ihn gewesen. Aber das würde er nie wieder sein. Am liebsten hätte er alles niedergebrannt. Sie hätte das gemocht. Er hockte sich hin und begann den Kamin zu säubern. Er blickte auf die Überreste des letzten Feuers, das dort gebrannt hatte, und zögerte damit, sie zu beseitigen. Sie waren ein Überbleibsel. Aber auch eine Erinnerung. Er kehrte die Asche zusammen, und wenig später prasselte ein Feuer in dem Kamin. Dampf stieg aus Rivens feuchten Kleidern auf, aber er merkte es kaum. Es gab so viele Erinnerungen hier drinnen. Er schüttelte den Kopf, als müsse er eine lästige Fliege vertreiben. Er setzte einen Kessel mit Kaffeewasser auf und verdrängte den Gedanken an seine whiskygefüllte Feldflasche. Dafür war später Zeit genug. Er ging vor die Tür. Es war ein trüber Morgen und immer noch windig. Die Sonne versteckte sich hinter den Wolken, und es sah schon wieder nach Regen aus. Er konnte die See hören. Der Kessel pfiff durchdringend, und er ging hinein. Er trank schwarzen Kaffee. Alle verderblichen Lebensmittel waren längst 104
verdorben. Sein Blick glitt über das, was er geschrieben hatte, und er blätterte durch ein paar Seiten, auf die Jenny Kritik, Vorschläge und kleine Sticheleien gekritzelt hatte. Das hatte sie häufig getan. Schnell wandte er sich ab. Zu dicht, zu nahe. Noch nicht. Er nahm seinen Rucksack und legte seine Habseligkeiten vor dem Feuer zum Trocknen aus. Wie immer zog das Spiel der Flammen seinen Blick magnetisch an. Er trank den glühendheißen Kaffee und sammelte Mut. Nun denn, an die Arbeit! Er begann im Schlafzimmer. Sammelte ihre Sachen ein. Ihre gemeinsamen Sachen. Er legte alles auf einen Haufen: Fotografien, einen Teddybär, Kleider, Schuhe, eine Bürste, in der rabenschwarze Haare hingen. Wie Treibholz nach einem Sturm sammelte sich immer mehr an, während er methodisch die Schubladen und Regale kontrollierte. Ein Blick unter das Bett. In den anderen Räumen machte er es genauso. Er nahm auch ihr Bild vom Kaminsims. Es hinterließ eine Lücke. Er warf keinen Blick auf das Photo, als er es zu den anderen Sachen legte. Als er alle Erinnerungen eingesammelt hatte, legte er sie in den Kleiderschrank und schloß die Tür. Quietschend drehte er den Schlüssel herum und legte ihn auf den Kaminsims. Das Feuer knisterte vor ihm, spuckte Funken auf den Steinboden. Er zog seine immer noch feuchten Kleider aus und hängte sie neben 105
seinen anderen Sachen zum Trocknen auf. Für einen Augenblick musterte er seine nackten Beine. Sie waren bleich, dünn und voller Narben. Bitter dachte er daran, wie er früher gelaufen und geklettert war. Dann zog er sich an und schnürte grimmig seine Wanderstiefel. Er fühlte sich etwas besser, als er in den trockenen Kleidern vor dem Kamin saß. Er holte seine Vorräte aus dem Rucksack. Der Zucker war naß geworden, und er stellte ihn auf die Kaminplatte. Er legte den Haselnußstock neben den Kamin, zog einen Sessel heran und setzte sich. Was jetzt? Ein Blick zur Schreibmaschine. Er fluchte. Diese Blätter lagen immer noch da. Nun, vielleicht würde er sie irgendwann verbrennen. Vielleicht. Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Nichts erinnerte jetzt mehr daran, daß es sie je gegeben hatte. Außer dem Grab in Portree und vielleicht den Resten eines Blutflecks oben am Sgurr Dearg, dem Roten Berg. Aber der würde längst verschwunden sein, abgewaschen vom Regen, der über das Meer kam. Nein — nichts. Es war nicht fair. Es war einfach nicht fair. Er nahm den Stock und ging hinaus, wo ein grauer Tag auf ihn wartete. Die Wellen rauschten auf den Kieselstrand. Er begann Strandgut zu sammeln, teils aus Gewohnheit, teils um sich abzulenken. Durch 106
den Sturm in der vergangenen Nacht hatte sich allerhand angesammelt. Die unvermeidlichen Fischkisten vor allem, aber auch Überreste von Tauen, eine Plastikflasche, Stücke eines runden Holzbalkens und ein toter Seehund. Es war ein grauer Seehund, und sein Kopf war halb abgerissen, so daß Riven auf der einen Seite ein immer noch feuchtes braunes Auge anstarrte, und auf der anderen Seite der Schädelknochen grinste. Er trat dagegen, und ein Zittern durchlief den Körper des Tieres vom Kopf bis zum Schwanz. Er trug das Treibholz vor die Hütte, wie er es gewohnt war. An dieser Seite — der Seeseite — gab es keine Fenster. Der Wind strich zärtlich durch seinen Bart, und er rieb sich das Kinn. Er reinigte die Hütte sorgfältig, putzte den Steinboden und lüftete das Bettzeug, wenn es einmal nicht regnete. Er hatte mehr als genug Torf, um über den Winter zu kommen, niemand war vor Mitte Januar in der Hütte gewesen. Wasser konnte er dem Flüßchen entnehmen, das in der Nähe vorbeifloß. Er mußte nur ein Stückchen flußaufwärts gehen, um das Salz hinter sich zu lassen. Das einzige Problem waren Nahrungsmittel, und die waren in Camasunary schon immer ein Problem gewesen. Im Gefrierschrank, der vom Generator mit Strom versorgt wurde, hatte sich ein reichlicher Vorrat befunden, aber nachdem das Gerät monatelang außer Betrieb gewesen war, war alles verdorben. Riven hatte 107
das zweifelhafte Vergnügen, die Reste zu beseitigen und den Rost von dem Aggregat zu entfernen, der durch die feuchte Seeluft entstanden war. Schließlich tuckerte der Motor wieder lustig vor sich hin. Nachts und am frühen Morgen röhrten Hirsche durch das Tal. Ihr Ruf war alt, urzeitlich. Er starrte in die Flammen seines Feuers und hörte ihnen zu. Er hätte ein Höhlenmensch sein können, der in der Morgendämmerung der Menschheitsgeschichte den Winter abwartet und der Finsternis der Außenwelt seinen Rücken zuwendet. Die Küste war in der Umgebung der Hütte steil und felsig. Der Küstenweg nach Loch Coruisk und Glenbrittle war im Winter kaum zu passieren. Besonders haarsträubend war die >Steile Treppe<, ein Felskamm, der schon bei bestem Wetter nur kletternd zu überwinden war. Riven machte sich wieder mit der Gegend vertraut, indem er auf den Klippen und Felsen herumstieg, die in das Meer hineinragten. Meistens folgte er Hirschfährten, oft auf allen vieren, kämpfte sich auf heidekrautüberwucherte Gipfel vor. Er beobachtete einen Adler, der mit weitgespreizten Schwingen über ihm schwebte. Dann blieb er wieder erschöpft stehen, klammerte sich an einen nassen Felsen, bis das Feuer in seinen Beinen nachließ und er weitergehen konnte. Er versuchte sich rücksichtlos fit zu machen, ohne sich die Zeit für eine langsame Erholung zu gönnen. Dies 108
hatte den zusätzlichen Vorteil, daß er abends vor Erschöpfung sofort einschlief, wenn er sich hinlegte. So beschloß er, durchzuhalten. Er forderte sich mit wilder Befriedigung das letzte ab, wählte die anstrengenden Routen die Küste entlang und durch die Ausläufer der Berge. Einmal sah er einen Otter. Sein schwarzer Kopf tauchte aus dem Wasser auf, und Riven verwechselte ihn zunächst mit einem Seehund. Doch dann sah er die Pfoten, mit denen das Tier den Schwimmer eines Fischnetzes gepackt hielt, und er blieb stehen, um es zu beobachten. Der Schwimmer wurde unter Wasser gedrückt und dann losgelassen, so daß er wieder an die Oberfläche schoß. Der Otter wiederholte dieses Spiel immer wieder, nur wenige Meter vor dem felsigen Küstenstreifen. Entzückt verfolgte Riven das Schauspiel. Erst als er seinen Hunger spürte, riß er sich los. Der Otter spielte weiter, völlig in sein Tun vertieft. Um seine Ernährungslage zu verbessern, holte Riven das 22er Gewehr aus dem Schrank und machte sich auf den Weg, um einige andere Talbewohner zu erlegen. Es dauerte nicht lange, bis er auf seiner Pirsch durch das Tal einige Moorhühner aufschreckte. Er schoß vier Stück und erlegte noch einen Hasen. Dann zog sich der Himmel wieder zu, und er ging zurück. In der Hütte machte er sich geradezu mit Genuß daran, seine Beute zu rupfen, zu häuten und auszunehmen. Es war 109
eine Tätigkeit, die ihm lange nicht mehr abverlangt worden war. Er erinnerte sich an Biwaks im Regen in Dartmoor, wo er versucht hatte, ein abgemagertes Kaninchen über einem kümmerlichen Feuer zuzubereiten. >Überlebenstraining< nannte man das. Alle haßten es, aber — und so ist es mit vielen Erlebnissen der Militärzeit — als sie dann später beim Bier in der Kantine saßen, waren sie doch froh, daß sie es mitgemacht hatten. Er unterbrach die blutige Arbeit in der Küche für einen Moment. Er fühlte sich plötzlich einsam. Nicht nur wegen Jenny. Er vermißte auch die wilden Tage seiner Jugend. Dann kicherte er laut. Jugend! Ich bin wirklich noch nicht im Rentenalter, egal wie alt ich mich fühle. Er verstaute den Großteil seiner Beute im Gefrierschrank und begann aus den Resten eine Suppe zu kochen. Er pfiff dabei leise vor sich hin, hob aber den Kopf, als er bemerkte, daß der Wind nachließ. Jetzt hörte man nur noch das ruhige Rauschen des Meeres: sein liebstes Schlaflied. Das und das Tuckern des kleinen Dieselaggregats. Er lauschte für einen Augenblick, dann sträubten sich ihm die Nackenhaare, ohne ersichtlichen Grund. Er drehte sich schnell um, mit blutbefleckten Händen, aber da war nichts außer der Hütte und dem Zischen des Feuers. Der Generator brummte leise weiter, und das Meer rauschte wie zuvor. Aber irgend etwas hatte ihn dazu bewegt, sich umzudrehen. 110
Er verließ die Spüle und holte den Stock aus der Ecke. Er lauschte noch immer. Nichts, nur die normalen Geräusche der Nacht. Der Ruf eines verspäteten Brachvogels klang durch das Tal und verstummte. Dann erstarb das Brummen des Generators. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als das Licht in der Küche erlosch. Die einzige Lichtquelle war jetzt das gelbe Glühen des Feuers. Es war totenstill, bis auf das Plätschern der Wellen am Strand und das Klopfen seines Herzens. Er trat hinaus in die Stille der sternklaren, mondlosen Nacht. Der Kies knirschte unter seinen Füßen. Er sah den schwarzen Schatten des toten Seehunds hinten am Strand. Kein Lüftchen regte sich. Die Nacht war ruhig und leer. Sein Griff um den Stock entspannte sich. Verdammter Generator. Er fuhr herum, dachte, daß er drüben am Bach eine Bewegung gesehen hatte. Unentschlossen blieb er stehen. Dann fluchte er. Du siehst Gespenster, alter Junge! Er setzte den Generator wieder in Betrieb, obwohl er nicht feststellen konnte, warum er ausgegangen war. Als er wieder in die Küche kam, strahlte das Licht hell und herausfordernd. Ein merkwürdiger, schwacher Geruch lag in der Luft. Er schnupperte, aber sobald er den Duft aufnahm, schien seine Nase sich daran zu gewöhnen, und er verschwand wieder. Ein moschusartiger 111
Tiergeruch. Kam wohl von dem Wild, das er erlegt hatte. Er wandte sich wieder seiner Arbeit in der Küche zu.
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FÜNFTES KAPITEL Schreiben: Das Formen von Mustern auf Papier, als presse man Blut aus schmerzenden Fingerspitzen und beobachte, wie es die weiße Fläche markiert. Seine Romanfiguren wurden wieder deutlicher. Es gelang ihm nicht, sie auf Papier zu bannen, aber ihre Schatten umgaben ihn, während er an seinem Schreibtisch saß und ziellos die Tasten seiner Schreibmaschine betätigte. Er skizzierte Handlungsstränge, Aufstieg und Fall von Fürsten und Damen, Machtkämpfe in dem weiten grünen Land seiner Romane, Schlachten und Belagerungen und hoffnungslose Liebesgeschichten, in die er sich nie richtig hineinversetzen konnte. Nein, es ist nicht gut. Ich kann es nicht mehr. Seine Welt war flach und leblos, die Figuren wie Marionetten vor einer schlecht gemalten Bühnenkulisse. Die Szenarien, die er schuf, verdüsterten sich, wurden kälter. Seine Fantasie glitt ab in eine kalte, sternenlose Finsternis. Die Kämpfe wurden zu häßlichen, verzweifelten Gemetzeln, bei denen sich die Leichen hoch im Schnee türmten. Wölfe zerrten an den Körpern, und Brandgeruch verpestete die Luft. Die Tasten klapperten 113
unaufhörlich, und doch kam er nicht weiter. Resigniert hörte er auf. Ich bin eine Jahreszeit geworden, dachte er. Ich bin der Winter, das Warten in der langen Nacht vor dem Frühling. Wolkenverhangene Tage kamen und gingen, während er dasaß und aus dem Fenster hinaus in das Tal starrte und auf die nahen Ausläufer der mächtigen Berge. Er beobachtete das Zanken der Möwen über den Resten des Seehunds und wünschte sich, er hätte ihn verbrannt oder vergraben. Dann senkte er den Kopf, und die Tasten begannen wieder langsam zu klicken. Wie den Körper des Seehunds durchzuckte nur dann Leben die Geschichte, wenn er sie anstieß. Seine Hand war schwerfällig wie die Scheren eines Krebses, und die Worte, die er formte, lagen auf den Seiten wie unter einer Eisschicht. Er ging hinaus, suchte Befreiung in der blassen Sonne und dem frischen Wind. Er nahm den Stock und hinkte dorthin, wo das Wasser des Baches sich mit dem Seewasser vermischte, setzte sich an das rostfarbene Wasser und trank trotzig in großen Schlucken aus der Feldflasche. Abwesend starrte er auf ein Gewirr von Felsblöcken jenseits des Baches. Sein Blick folgte den Mustern der Flechten, glitt über unbewachsenen Felsen, über dunkle Vertiefungen, in denen sich Moos festgesetzt hatte. Der Whisky wärmte ihn, machte ihn ein wenig benommen. Sein leerer Magen glühte. 114
Nachdenklich rieb er seine Knie. Die Möwen hatten ihr lautstarkes Gezänk beendet und zogen ihre Kreise über den Klippen. Er blickte wieder auf die Felsen. Ihr Aussehen hatte sich geändert, änderte sich, während man zusah. Er ließ seinen Blick verschwimmen, formte Gestalten und Umrisse. Jetzt ein Pferd, ein Turm, ein Gesicht ... Ein schmales braunes Gesicht mit schwarz leuchtenden Augen und einem knappen Bart, den ein Grinsen teilte. »Jesus Christus!« Er sprang auf, und die Feldflasche fiel mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Er fixierte seinen Blick auf den Felsen, musterte jede Einzelheit — doch es gab dort nichts als Flechten und die grobporige Oberfläche des Granitblocks. Er rieb sich die Augen. Sollte tagsüber nicht trinken. Am Abend dieses Tages saß er vor einem großen Feuer und reinigte das Gewehr. Er nahm sich dazu mehr Zeit als gewöhnlich, da die Waffe einerseits seit langem nicht mehr gereinigt worden war, und es andererseits beruhigend war, über den glatten Holzschaft zu streichen und imaginäre Ziele in der Dämmerung ins Visier zu nehmen. Er hatte sich immer schon für Waffen interessiert, fand Gefallen daran, sie zu zerlegen und zu reinigen, außer wenn das Waffenreinigen zur Plackerei wurde, wie es in der Armee häufig der Fall gewesen war. Es war fast wie eine geheime Wissenschaft, handfest und befriedigend. 115
Er beschäftigte sich mit dem Verschluß, bis er sicher war, daß er Rost und Pulverschmauch restlos beseitigt hatte, und lud das Gewehr dann sorgfältig. Er mochte sich noch immer nicht eingestehen, daß das, was er am Nachmittag gesehen hatte, nur seiner Einbildung entstammte ... Die Nacht brach an. Das gleichmäßige Rauschen des Meeres und das Knistern des Feuers ließen ihn einnicken. Das Gewehr lag neben ihm auf dem Fußboden. Das Feuer spiegelte sich in dem Öl auf den Metallteilen. Er hatte das elektrische Licht nicht eingeschaltet, und der Schein der Flammen glitt über sein mageres bärtiges Gesicht und ließ die Narben auf seiner Stirn ebenso deutlich hervortreten wie die Falten, die sich selbst im Schlaf um seine Augen und seinen Mund zogen. Die Wärme des Feuers milderte den Schmerz in seinen Beinen, und das Rauschen der Wellen besänftigte den düsteren Ausdruck seines Gesichts. Er atmete tief. Ein Scheit fiel mit einem hellen Knistern im Kamin zusammen, und die Dachsparren knarrten im Seewind. Ein leises Geräusch schreckte ihn auf. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Es saß noch jemand an seinem Kamin und blickte ins Feuer. Er hielt die Luft an. Der Stuhl knackte unter ihm. Die angestaute Atemluft dröhnte in seinen Schläfen. Er wagte es, die Augen ein 116
wenig weiter zu öffnen, und zwang sich zu einem ruhigen Atemzug. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und übertönte den leisen Seewind. Eine Hand streckte sich der Wärme des Feuers entgegen, die Finger wohlig ausgestreckt. Er vernahm etwas wie einen Seufzer, und die Gestalt am Kamin — halb Schatten, halb Feuerschein — rückte näher an die Wärme heran. Riven sah ein Gesicht mit dunklen Augen, umrahmt von schwarzem Haar. Tränen traten ihm in die Augen und liefen im Licht des Feuers funkelnd seine Wangen hinunter. Er wußte, daß es ein Traum sein mußte. Plötzlich wandte sich das Gesicht ihm zu. Ein ausgemergeltes Gesicht unter wirrem Haar, mit Schmutz auf den Wangenknochen. Gleichzeitig nahm er den moschusartigen Körpergeruch wahr, der schon im gleichen Moment zu schwinden begann, in dem er identifiziert war. Aber die Augen — die Augen! Sie blickten zu ihm herüber, über einen Abgrund von Verlust und Alpträumen, starrten ihn aus hundert Fotografien und tausend Erinnerungen an. Sie trafen seine eigenen Augen, so wie die Augbrauen über ihnen zusammentrafen. Er konnte nicht glauben, was er sah. Für eine Sekunde oder für ein Jahrhundert sahen sie sich an, so wie sie es hier früher in den klaren Nächten getan hatten, wenn das Feuer hoch aufloderte und Windböen hinten 117
durch das Tal strichen. Sie hatte an der Kaminplatte gesessen und mit lachenden Augen zu ihm hochgeblickt. Und dann war die Kaminplatte kalt geworden, und ihr Platz war leer. Da war nichts in ihren Augen. Fast nichts. Er bemerkte kein Erkennen. Es war, als wäre sie eine leere Hülle, eine schöne, filigrane, aber leblose Gestalt. Aber sie war es. Hier, in seinem Traum. »Jenny«, krächzte er ... und sie sprang auf und rannte quer durch den Raum. Ihre nackten Füße patschten über den Boden. Das Türschloß rasselte, und sie verschwand in der Nacht. Fluchend taumelte er hinter ihr her. Die Nacht traf ihn wie eine schwarze Wand, und Regen prasselte auf ihn nieder, als er durch die Tür trat. »Komm zurück! Komm zurück, verdammt noch mal!« Aber der Strand war leer, ruhig rauschten die Wellen über den Kies. Der Wind strich ihm durch den Bart. Komm zurück! Hinten in der Bucht umspülten die Wellen den toten Seehund. Riven meinte, noch ein anderes Aufspritzen in dem flachen Wasser zu sehen, war sich aber nicht sicher. Die Luft war kalt wie die See, und er fühlte sich völlig kraftlos. Er lehnte sich an den Türrahmen und schloß die Augen.
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Die Sterne zogen langsam ihre Bahn, der Große Wagen umwanderte den Polarstern. Es war fast Mitternacht. Er saß auf dem Stuhl neben dem ersterbenden Feuer. Das Gewehr lag neben dem Kamin. Er wollte nach Hause gehen, aber er wußte, daß es keinen Ort mehr für ihn gab, den er sein Zuhause nennen konnte. Er paßte nirgendwo hin. Aber er war sich sicher. Er hatte sie gesehen. Hatte gehört, wie sie an dem Türschloß herumfingerte. Die Tür war offen gewesen, als er ihr gefolgt war, aber nicht er hatte sie geöffnet. Sie war wirklich da gewesen. Er hatte nicht geträumt. Vielleicht eine Zigeunerin? Ein Wanderer, ein Landstreicher? Ein verlassenes Kind? In diesen Bergen? Er versuchte, sich an sie zu erinnern. Ihr Gesicht, ihre Kleidung. Der flüchtige Eindruck eines dunklen Unterkleids. Barfuß — in dieser Jahreszeit! Aber die Augen, die ihn angeblickt hatten. Jenny, die ihn anstarrte. Augen, die seine Seele einfingen. Unmöglich. Vielleicht jemand aus dem Hotel am anderen Ende des Tals — jemand, der sich verirrt hatte. Müde schüttelte er den Kopf. Wo war sie hingerannt? Schließlich schlief er ein, das Kinn auf die Brust gesunken, eine Hand hing hinunter zum Boden.
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Am nächsten Morgen fühlte er sich wie zerschlagen, seine Glieder waren stocksteif. Er verzog das Gesicht, als er mühsam aufstand, und verfluchte die Kälte in der Hütte und die graue Asche im Kamin. Er war es leid zu leiden, war es leid, allein zu sein, und doch litt er schon, wenn er nur an andere Menschen dachte. Ein weiterer grauer Tag. Sprühregen und schwarze Gewitterwolken. Die Berge würden heute wieder ihre Schleier anlegen. Den Regen hatte er auch satt. Er fragte sich, ob es schneien würde. Es war eigentlich kalt genug, aber hier unten auf Meereshöhe schneite es selten. Vielleicht würden die Berge etwas abbekommen. Vielleicht würden dann die Wolken aufreißen, und er könnte ein Stück Himmel sehen. Ein Klopfen am Fenster ließ ihn herumfahren, und er sah das Gesicht des bärtigen Mannes, der ihn durch die Scheibe lächelnd ansah. Der Mund formte Worte, die er nicht hören konnte. Er bückte sich, nahm das Gewehr an sich und riß die Tür auf. Ein Ausdruck des Erstaunens erschien kurz im Gesicht des Fremden, ein Unbehagen, das so schnell wieder verschwand, daß es kaum zu bemerken war. »Tut mir leid. Habe ich Sie überrascht?« Er folgte dem Blick des anderen auf das Gewehr und senkte den Lauf. Er war verärgert, und plötzlich schämte er sich ein wenig. 120
Gastfreundschaft hatte auf dieser Insel eine lange Tradition. »Entschuldigen Sie, Sie haben mich ganz schön erschreckt.« Beide schwiegen für einen Augenblick und schätzten sich gegenseitig ab. Dann zerriß lautes Donnergrollen den Himmel über ihnen und rollte weiter durch das Tal. Riven trat einen Schritt zurück. »Das wird ein rauher Tag. Ich beobachte schon den ganzen Morgen, wie sich etwas zusammenbraut«, sagte der Fremde. »Ich denke, es wird ganz schön stürmen.« Seine Stimme war tief und gleichmäßig, doch den Akzent konnte Riven nicht einordnen, obwohl er für einen Moment davon überzeugt war, ihn schon einmal gehört zu haben. »Kann ich für einen Augenblick hereinkommen?« Riven machte ihm Platz. »Aber ja, sicher«, sagte er, während die ersten schweren Regentropfen auf den Boden platschten. »Besten Dank.« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Er trug einen Rucksack und Wanderkleidung. »Ich bin in den letzten Wochen gewandert und herumgeklettert. Ich war schon einmal hier.« Er setzte den Rucksack ab. »Aber beim letzten Mal war alles verlassen, und ich habe in dem Verschlag mit dem Generator übernachtet. Ich dachte, es sei eine Sommerhütte. Ich hätte niemals damit gerechnet, jetzt jemanden anzutreffen. Leben Sie hier?« »Ich lebe hier«, antwortete Riven. »Ich bin ... fort gewesen.« 121
»Ah, das erklärt es.« Es regnete jetzt heftig. »Ja.« Ein Blick aus dem Fenster. »Nun hat der Sturm mich eingeholt.« Ein Blick auf seine Füße. »Neue Stiefel. Meine Füße brennen wie Feuer. Ich habe Blasen so groß wie Strandkiesel.« Er sah auf. »Oh, entschuldigen Sie ...« Er streckte Riven die Hand entgegen. »Ich bin Bickling Warbutt.« Ein trockener, fester Händedruck, ein wenig fester, als die schlanken Finger vermuten ließen. »Bickling?« Ein glockenhelles Lachen. »Ja, meine Eltern haben mich nach irgendeinem Vorfahr benannt. Ich werde meistens Bicker genannt.« »Mein Name ist Riven. Michael Riven.« Hatte er den Namen des Fremden schon einmal gehört? Er schien ihm irgendwie vertraut, wie ein halbvergessener Traum. »Freut mich, Sie kennenzulernen. Und danke, daß Sie mich hineingelassen haben. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich hierbliebe, bis der Regen nachläßt?« Wieder dieses Grinsen. Nimm dich zusammen, Riven. »Nein, natürlich nicht.« Er fügte sich in die Gastgeberrolle. »Ziehen Sie die Stiefel aus, wenn Sie möchten.« Es donnerte wieder, lauter als vorher. »Ich werde Feuer machen.« Während der Fremde sich zu seinen Schuhen bückte, beschäftigte Riven sich mit dem Kamin. Er warf seinem Besucher immer wieder verstohlene Blicke zu. 122
Dieser verbreitete einen Eindruck von Sauberkeit, der mehr auf einem Gefühl beruhte als auf physikalischen Tatsachen. Dieser Bart und diese Augen würden wahrscheinlich immer makellos wirken, egal wie schmutzig der Mann war. Seine Hände hatten die richtige Größe, seine Füße waren klein. Sein ganzer Körper hatte die Kompaktheit eines Otters. Er war nicht der Typ, der mit seinen Armen und Händen nichts anzufangen weiß. Seine Kleidung war wintergerecht, aber man hatte nicht den Eindruck, daß er dem Winter ausgesetzt gewesen war. Er sah nicht so aus, als habe er jemals unter Blasen, Müdigkeit oder irgend etwas anderem gelitten. Er wirkte so gesund wie eine Stahlfeder, und sein allgegenwärtiges Grinsen war unüberwindlich. Riven verspürte eine irrationale Abneigung gegen ihn und schämte sich dafür, denn es war wie die Abneigung eines Kranken gegen die Gesundheit. Aber da war noch etwas anderes, was ihn beunruhigte, etwas, was er so wenig fassen konnte wie den Rauch des Torffeuers. Wenn er sich nur erinnern könnte! Im Kamin züngelten die Flammen hoch, wärmten ihn und tauchten den Raum in ein gemütlicheres Licht. Es geschah zu viel. Zu viele Dinge. Er wollte keine Gesellschaft — jedenfalls jetzt noch nicht! »Ah, das ist besser.« Bicker wackelte mit den nackten Zehen. Wieder donnerte es, und der 123
Regen klatschte unablässig an die Fensterscheiben. Riven starrte in die glühenden Torfballen im Kamin und hing für einen Moment seinen Gedanken nach. »Ich muß schon sagen, es ist nett von Ihnen, einen völlig Unbekannten in Ihr Haus zu bitten.« Der dunkelhaarige Mann erhob sich. Seine Stiefel trug er an den Schnürsenkeln. »Wo soll ich die am besten lassen?« »Stellen Sie sie neben die Tür.« Er stocherte in der Glut, ohne seinen Gast anzusehen, und beobachtete, wie glühende Funken nach oben in den Kamin tanzten. »Ich hoffe, Sie nehmen mir die Frage nicht übel, aber Sie sind nicht von hier, oder?« Riven nickte. »Nordirland.« »Ach so, verstehe. Ich nehme an, Sie sind herübergekommen, um die Unruhen zu vergessen. Kann man Ihnen nicht übelnehmen. Es ist eine Tragödie.« Riven schürte das Feuer heftig. »Sie sind wahrscheinlich hungrig. Ich werde Ihnen etwas bringen.« Er erhob sich, runzelte die Stirn und verharrte mit dem Rücken zum Kamin, die Hände den wärmenden Flammen entgegengestreckt. Bicker wühlte in seinem Rucksack herum. »Waren Sie gestern auf dem Hang, der zum Bach hinunterführt?« Der andere Mann blickte auf. »Ja richtig, ich bin dort gewesen. Warum fragen Sie? Haben Sie mich gesehen?« 124
»Ich glaube, Sie haben mich gesehen. Sie haben mich angegrinst.« »Es ist möglich, daß ich gelächelt habe, aber ich kann mich wirklich nicht daran erinnern, Sie angelächelt zu haben. Wissen Sie, ich sehe mich beim Klettern nicht viel um — es nimmt mich ganz gefangen.« Und Riven, der den stechenden Blick des Mannes bemerkt hatte, wußte, daß er log. »Ein nettes Schießeisen haben Sie da«, fuhr Bicker fort. Er nickte in Richtung des Gewehrs, während er seinen Rucksack wieder zuschnürte. »Sie benutzen es zum Jagen, nicht wahr?« Riven nickte und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Sie haben kein dunkelhaariges Mädchen im Tal gesehen, oder?« Bicker wirkte für einen Moment verwirrt, schien dann aber über die Frage nachzudenken. »Nein, kann ich nicht behaupten. Wohnt Sie hier?« »Nein. Ich weiß nicht ... wo sie wohnt.« Er fühlte sich unbehaglich. Es kam ihm vor, als blies der Sturm draußen auch hier durch den Raum. Er wischte sich die Handflächen am Hosenboden ab. Muß mich zu sehr ans Alleinsein gewöhnt haben. Er ging in die Küche und begann damit, eine Fleischbrühe aufzuwärmen, zu der die örtliche Fauna ihren Teil beigetragen hatte. Er hörte, wie sein Gast in dem Wohnraum umherschritt, 125
und mußte sich dazu zwingen, ihn nicht durch die Küchentür zu beobachten. Es donnerte wieder, und das schwache Flackern eines Blitzes erhellte das Fenster. »Ist es hier immer so, zu dieser Jahreszeit?« »Nicht immer. Aber es ist schon oft stürmisch.« »Nun ich denke, hier oben muß man für die Schönheit auch die Rauhheit in Kauf nehmen.« Riven hielt einen Moment inne. Er runzelte die Stirn. Dann begann er wieder damit, die Brühe umzurühren. Der Sturm wurde heftiger, als der Abend hereinbrach. Der Regen ließ etwas nach, aber der Wind wurde stärker und pfiff über die Klippen und die Gebirgsausläufer. Riven tippte ziellos auf der Schreibmaschine herum — er schrieb irgend etwas, nur um nicht gezwungen zu sein, eine Konversation mit dem Fremden aufzunehmen. Kinderreime, Gedichte, alles mögliche. Ein Reim ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, er konnte ihn nicht abschütteln: Wie weit ist der Weg nach Babylon? Fünfmal zehn Meilen und zwanzig dazu. Schaff ich den Weg, bis die Nacht anbricht? Ja, und zurück im Nu. Wenn's nicht deinen Beinen an Flinkheit gebricht, schaffst du den Weg mit dem letzten Licht. »Das gefällt mir«, sagte eine Stimme. »Es ist alt, nicht wahr?« 126
Es war Bicker, oder Warbutt, oder auf welchen albernen Namen er auch immer hören mochte. Er beugte sich über seine Schulter, wie Jenny es immer getan hatte, und las, was er getippt hatte. Riven wurde wütend. »Muß das sein?« »Oh, tut mir leid.« Bicker zog sich mit der angemessenen Zerknirschung zurück. »Ich weiß, es ist eine ärgerliche Angewohnheit, ich mag es selber nicht.« Riven hätte ihm am liebsten die Schreibmaschine an den Kopf geworfen, aber er wandte sich statt dessen mit einem stillen Fluch wieder seiner Arbeit zu. »Ist schon gut.« Er war nicht sicher, ob er sich mehr über Bicker oder über sich selbst ärgerte. Ich kann doch höflich sein, oder etwa nicht? Herrgott im Himmel! Das Klappern der Tasten verstummte. Ach, verdammt! Er war völlig aufgewühlt und den Tränen nahe. So geht's dir, wenn du unter Leute kommst. Er stand auf. Bicker las mit großer Konzentration ein Buch. Riven hätte schwören können, daß seine Lippen während des Lesens die Worte formten. Er schüttelte den Kopf und holte dann eine Flasche Malt-Whisky und zwei Gläser aus der Küche. Er stellte Bicker ein Glas hin und setzte sich ihm gegenüber an den Kamin.
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Warum soll ich ihm nicht den Glauben an die Gastfreundschaft in den Highlands wiedergeben? »Hier«, sagte er und füllte erst Bickers Glas und dann sein eigenes mit der schimmernden Flüssigkeit. »Ich bin kein großartiger Gastgeber, aber ich habe noch einen guten Whisky. Er hält einen zumindest warm.« Bicker lächelte. Es war das erste echte Lächeln, das Riven an ihm bemerkte. »Besten Dank. Worauf trinken wir?« »Slainte.« »Wie bitte?« »Slainte. Das ist der gälische Ausdruck für >Hoch die Tassen<. Hören Sie: Slonsha. Wahrscheinlich spreche ich es irisch aus. Das schottische Gälisch ist breiter.« Bicker hob das Glas. »Nun gut, also Slainte, und auf Ihr Wohl.« »Mögen Sie im Himmel sein, eine Stunde bevor der Teufel merkt, daß Sie tot sind«, sagte Riven und leerte das Glas. Er füllte es wieder und schenkte Bicker ebenfalls nach. »Dieser hält die Wölfe vor der Tür.« Bicker blickte aus dem Fenster, lachte dann leise und nippte an seinem Whisky. »Leben Sie schon lange hier?« »Eine ganze Weile«, antwortete Riven. Er blickte ins Feuer. »Ich ... bin lange fort gewesen.« »Ja richtig, das sagten Sie.« »Tatsächlich?« Er trank, und die Wärme des starken Whiskys durchströmte ihn wohlig. »Ich 128
war eine Zeitlang in der Armee.« Das sagte er immer. Die Leute hatten dann einen Anhaltspunkt, um sich ein Bild von ihm zu machen. »Sie sind also Soldat gewesen?« »Nur für vier Jahre. Hab' dann aufgehört und bin hier heraufgekommen .« Vorsichtig Riven, das genügt. Behalt den Rest für dich. »Was schreiben Sie denn so auf der Maschine, außer Kinderreime?« »Gelegentlich ein Buch. Was lesen Sie denn so?« »Gelegentlich ein Buch.« Bicker ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Wollen Sie sagen, daß Sie ein Geschichtenerzähler sind, ein Schriftsteller?« »Ja. Das heißt, ich war es.« Scheiße. Ich weiß es selbst nicht. »Fallen Ihnen keine Geschichten mehr ein?« Nicht direkt. Sie haben sich davongemacht, und ich kann sie nicht einholen. »So könnte man sagen.« Er lauschte dem Heulen des Sturms, und eine Welle des Selbstmitleids überschwemmte ihn. Er starrte in sein Glas und blinzelte heftig. Er verfluchte sich innerlich. »Es muß einsam sein hier oben.« Riven konnte nicht antworten. »Ich hätte gedacht, daß Sie einen Hund oder so etwas haben, der Ihnen Gesellschaft leistet.« Bicker sprach in einem leichten Plauderton, aber Riven wußte, daß er ihn genau beobachtete. Die Trauer, die 129
der Whisky ausgelöst hatte, verflog, und er fühlte sich unbehaglich. Wer war dieser Kerl? »Was treiben Sie so, Bicker?« Ein kurzes Aufblitzen von Überraschung. »Oh, nichts besonderes. Ich streife einfach so durch die Gegend.« Riven unterdrückte seinen Ärger. »Was für einen Job haben Sie denn?« Du bist mit Sicherheit kein Maurer. »Ich mache alles, wenn es sich lohnt, wirklich.« Bicker setzte das Glas ab und streckte sich. »Ich weiß, es ist eigentlich nicht an mir, das zu sagen, aber es ist schon spät, und ich würde morgen gerne früh aufbrechen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich mich jetzt hinlegen.« Riven erhob sich. Ihm war klar, daß er den Wohnraum und damit auch das Feuer seinem Gast überlassen mußte. »Ich hoffe, es ist nicht zu unbequem auf dem Boden.« »O nein, ich habe schon wesentlich schlechter geschlafen. Gute Nacht, und danke für den Drink.« Riven winkte ihm vage zu, griff nach der Whiskyflasche und begab sich in das dunkle Schlafzimmer. »Gute Nacht.« Er schloß die Tür und setzte sich gähnend auf das Bett. Bicker hat recht. Es ist schon spät. Muß an dem Whisky liegen. Er stellte die Flasche neben das Bett, zog sich aus und legte sich hin. Wie gewohnt der plötzliche Schmerz, allein im Bett zu liegen. Er 130
lauschte dem Rauschen der Wellen und des Windes und schlief dann tief und traumlos. Vogelgezwitscher ertönte vor dem Fenster, und Sonnenlicht strömte in das Zimmer. Er lächelte und lauschte den Vögeln und der See. Guten Morgen, Riven. Nun, vielen Dank. Er roch gebratenen Speck, und räkelte sich. Sie ist ... Tot, Riven. Das ist dein Gast, er fühlt sich wie zu Hause. Er lag ruhig da, hörte die Schreie der Möwen und genoß die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen. Er dachte daran, im Bett zu bleiben, bis Bicker gegangen war, aber das Gebot der Höflichkeit setzte sich durch. Außerdem roch der Speck ausgesprochen verführerisch. Bicker stand in der Küche, als er hineinschlurfte. Riven kratzte sich am Kopf und gähnte. »Wie möchten Sie Ihre Eier?« fragte Bicker. »Was? Ach so, gebraten.« Er schwieg einen Augenblick. »Ich habe hier keine Eier. Übrigens auch keinen Speck.« »Ich hatte noch einen kleinen Vorrat. Ich habe gedacht, ich kann mich ruhig etwas nützlich machen, als Dank für die Übernachtung. Es macht Ihnen hoffentlich nichts aus?« Riven füllte den Kessel. »Nein, natürlich nicht, das ist großartig. Lassen Sie sich nicht stören. 131
Ich hätte gerne zwei Eier, danke.« O Mann, werd endlich wach, du Trottel! Er reckte sich und trat dann vor die Hütte. Es wehte ein leichter, salziger Wind, und die Sonne glänzte auf dem Meer. Das gefällt mir schon besser. Fast wie im Frühling. Jennys Jahreszeit. »Frühstück ist fertig!« rief Bicker. Er blieb noch einen Moment stehen und blickte auf die See, während die vertrauten Worte an ihm nagten. Guten Morgen, mein Mädchen. Ich hoffe, du spürst die Sonne, wo immer du auch bist. »Es wird kalt.« Leise ging er hinein, wo ihn das Essen erwartete. »Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« Bicker strahlte über das ganze Gesicht. Seine Begeisterung war ansteckend. Die Begeisterung und das Sonnenlicht, das in den Raum flutete. Riven lächelte und spürte einen Anflug seiner alten Rastlosigkeit. »Das kann man wohl sagen.« Vielleicht war Bicker doch nicht so ein übler Bursche. Zumindest war er ein ausgezeichneter Koch. »Ich werde heute die Küste entlang nach Glenbrittle wandern«, sagte Bicker. »Es sind ungefähr vierzehn Meilen, aber man kann es wohl schaffen. Bis zur Gedächtnishütte bin ich die Strecke schon einmal gelaufen. Ich mache mir nur ein wenig Sorgen wegen der >Steilen Treppe<.« 132
Riven trank seinen Tee. Seine Laune besserte sich immer mehr. »Oh, das ist bei so gutem Wetter kein Problem. Sie müssen nur ein bißchen vorsichtig sein. Ich bin einmal bei Sturm mit dreißig Kilo Gepäck durch die >Steile Treppe< geklettert, als die Felsen naß und rutschig waren.« »Wirklich?« Riven schwieg. Ich wette, der Kerl hat die Eiger-Nordwand durchstiegen und lacht sich heimlich über mich kaputt. »Ich dachte, ich bleibe in der Herberge in Glenbrittle und versuche mich dann einmal am Roten Berg — Sgurr Dearg wird er genannt.« Riven setzte seine Tasse ab. »An diesem Berg müssen Sie sehr vorsichtig sein. Wissen Sie, wie man ihn noch nennt?« Bicker schüttelte den Kopf. »Die >Unbezwingbare Zinne<.« »Verstehe«, sagte Bicker gedankenvoll. »Ich habe gehört, daß dort im letzten Jahr jemand tödlich verunglückt ist.« Riven begann, Butter auf sein Toast zu schmieren. »Warum begleiten Sie mich nicht?« Riven sah verwirrt auf. »Wie bitte?« »Kommen Sie mit mir die Küste entlang. Sie können mein Führer sein. Es ist ein schöner Tag, und sie scheinen hier nicht allzuviel zu tun zu haben, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Ich bin auf dem Weg zum Sligachan Hotel, wo ich ein paar Mal 133
übernachten möchte. Kommen Sie doch mit. Ich schulde Ihnen etwas für die Gastfreundschaft, die Sie mir erwiesen haben.« »Das Hotel in Glenbrittle ist zu dieser Jahreszeit geschlossen«, sagte Riven, aber er wußte, daß es sich dabei schon um ein Rückzugsgefecht handelte. »Nun, ich habe ein ... Zelt.« Bicker schien das Wort sorgsam gewählt zu haben. Riven schwieg. Draußen schrien die Möwen. Zankten sich wahrscheinlich um den Seehund. »Ja, warum eigentlich nicht?« sagte er schließlich. »Es wird mir guttun. Aber ich werde nicht auf den Sgurr Dearg steigen.« Bicker warf ihm einen merkwürdigen Blick zu, aber bevor er etwas sagen konnte, war Riven aufgestanden. »Wenn Sie hier aufräumen, werde ich schnell meinen Rucksack packen. Es dauert nicht lange.« Er verschwand im Schlafzimmer, noch ehe Bicker etwas entgegnen konnte.
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SECHSTES KAPITEL Es war das, was Jenny einen glorreichen Tag genannt hätte. Von den Hängen der Vorgebirge konnten sie Soay im sonnenglänzenden Meer sehen. Weiter entfernt die dunklen Klippen von Rhum. Irgendwo dahinter lagen Muck und Eigg. Riven setzte sich, atmete die klare, saubere Luft und lächelte. Er hatte recht gehabt: Genau das hatte er gebraucht. Es vertrieb die Spinnweben der Erinnerungen. Gab ihm eine neue Perspektive. Ich liebe diesen Ort. Bicker studierte die Karte. »Dies ist Ulfhart Point«, sagte er. »Das Kap des Wolfherzens. Das Schlimmste haben wir hinter uns. Trotzdem werden wir es bis zum Einbruch der Dunkelheit nicht bis nach Glenbrittle schaffen.« Riven hörte kaum hin. Er wollte den Anblick in sich aufsaugen, ihn für alle Zeiten in sich aufnehmen. Es lohnt sich, Jenny. So lange ich mich an solche Dinge erinnern kann, lohnt sich das alles noch. Er wandte sich seinem Begleiter zu. »Wenn wir noch ein Stück weiter in diese Richtung gehen, kommen wir am Fuß des Berges zu einem kleinen Eichenwäldchen. Wir durchqueren es und beginnen den Aufstieg 135
zum Hochplateau. Es gibt da eine Stelle, an der der Weg nicht so steil ist. Ein Wasserfall fließt von dort aus ins Meer. Wenn wir ihn sehen, steigen wir zum Plateau auf. Danach führt der Weg durch flaches und sumpfiges Gelände fast geradewegs nach Glenbrittle. Das ist auch bei Dunkelheit kein Problem.« Bicker legte die Karte beiseite. »Ich sehe schon, die werden wir nicht brauchen«, sagte er grinsend. Riven wandte sich wieder dem Ausblick zu. Abwesend rieb er seine Beine. Sie schmerzten und waren steif, würden ihn aber noch nach Glenbrittle tragen. Der Anstieg zum Plateau würde ein ernsthafter Test für sie sein. Er stand auf. Er wußte, daß man die schönen Dinge besser nicht zu sehr auskostete, und so ließ er die Aussicht hinter sich und ging zurück zu dem Pfad. Es war früher Nachmittag. Sie hatten für die Strecke entlang der Küste lange gebraucht, was hauptsächlich auf seine eigene Schwäche zurückzuführen war. Widerwillig mußte er anerkennen, daß Bicker ausgesprochen gut trainiert war. Allein hätte er Glenbrittle wahrscheinlich jetzt schon erreicht. Riven bemerkte, daß er die merkwürdige Angewohnheit hatte, die Karte hervorzuholen und mit einem abwesenden Blick anzustarren, so als würde er sie nicht wirklich betrachten. Sie nahmen den mühsamen Marsch entlang der Küste wieder auf, bahnten sich einen Weg zwischen den verkrüppelten Eichen hindurch. 136
Es war eine anstrengende und schweißtreibende Angelegenheit, die durch ihre schweren Rucksäcke nicht leichter wurde. Riven nahm auf seinen Wanderungen immer alles mit, was möglicherweise gebraucht werden konnte. Er hatte sogar ein neonfarbenes Nylonseil in seinem Rucksack, obwohl er wußte, daß er sich nie wieder einer Situation aussetzen würde, in der er es brauchen würde. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. »Da ist der Wasserfall«, sagte Bicker atemlos, als sie aus dem Wäldchen hervortraten. Sie waren in der Nähe der Stelle, von der aus Riven den Otter gesehen hatte. Er blickte auf das Meer, aber heute war auf den Wellen nichts zu sehen, nicht einmal die Schwimmer eines Treibnetzes. Sie rasteten für einen Augenblick, damit Riven sich etwas erholen konnte. »Man nennt das Land jenseits von Glenbrittle Minginish«, sagte Bicker. »Und Skye selber heißt Eilean soundso. Insel der Nebel.« »Insel des Nieselregens würde besser passen«, erwiderte Riven übellaunig. Seine körperlichen Defizite machten ihn wütend. »Seltsame Namen. Sie klingen auch nicht gälisch.« »Sind sie auch nicht. Die Wikinger haben sich gelegentlich auf diesen Inseln niedergelassen. Viele Namen stammen aus dem Norwegischen.« 137
»Wikinger!« Bicker schien sich zu amüsieren. »Sie meinen axtschwingende blonde Riesen aus dem hohen Norden, mit Hörnern an den Helmen?« »Das ist ein Klischee«, gab Riven gereizt zurück. »Ich dachte, sie wären über das Meer gekommen, nicht aus Schottland.« »Diese Küste wurde immer wieder von den Norwegern geplündert. Sie nahmen auch Orkney und die Shetland-Inseln in Besitz und das Land entlang des Pentland Firth.« Bicker stieß einen Pfiff aus. »Die sind ganz schön herumgekommen.« »Sie haben Neufundland entdeckt.« »Ich dachte, ein ... Spanier wäre das gewesen.« »Kolumbus landete vierhundert Jahre später in der Karibik.« »Woher wissen Sie das alles?« Riven zuckte die Schultern. »College. Aber ich dachte, daß jeder von Kolumbus und seiner Suche nach der Hintertür nach Indien weiß.« Jetzt zuckte Bicker die Schultern. Er hatte das Interesse an dem Thema verloren. »Sollen wir uns an den Aufstieg machen?« Riven nickte. Für jemanden, der so selbstsicher und offensichtlich intelligent war, hatte Bicker merkwürdige Ansichten über Geschichte. Oder war vielleicht sein eigenes Wissen so dürftig? Der steile Hang zwang sie dazu, sich auf allen vieren zu bewegen, und Riven hatte 138
erhebliche Schmerzen, während er sich vorwärts kämpfte. »Ganz schöne Plackerei«, keuchte Bicker vor ihm. »Aber das ist das letzte schwere Stück.« Riven grunzte zustimmend. Er brauchte dringend eine Verschnaufpause. Er hatte nicht einmal mehr Luft zum Fluchen. Und dann waren sie oben, schwitzend und schweratmend. Es war plötzlich wärmer geworden. Riven nahm den Rucksack ab und warf sich ins Gras. Die Bewölkung hatte sich aufgelockert. Es war fast ein Sommertag. Bicker drehte ihm den Rücken zu und blickte in Richtung des Weges, der vor ihnen lag. Dann bückte er sich und nestelte an seinem Rucksack. Riven setzte sich auf. Und fluchte. Es gab kein Loch Brittle. Auch keine CuillinBerge. Der Teil von Skye, den er zu sehen erwartet hatte, war einfach nicht da. Statt dessen blickte er auf eine weite hügelige Landschaft, übersät mit frischem grünem Farn und gelben Butterblumen. Sie erstreckte sich wie ein Meer aus Licht und Schatten bis zu den Höhen am Horizont. Glitzernde Flußläufe schlängelten sich hindurch, und vereinzelt bedeckten dunkle Wälder die Täler. Kein Laut war zu hören, außer dem Rauschen des Windes, der Wellen in das hohe Gras zeichnete. Weit hinten im Westen — oder da, wo gerade eben noch Westen gewesen war — erhoben sich die blauen Schatten mächtiger Berge. Sie waren sehr weit entfernt, aber Riven wußte 139
instinktiv, daß sie höher waren als irgendein Berg in Schottland. Auf ihren Hängen leuchteten Schneefelder in der Sonne. Die Luft war mild, eine Brise fuhr ihm sacht durch das Haar. Keine Frage — das hier war ein Platz, in dem es niemals Maschinen oder Fabriken gegeben hatte. Es roch nach Gras und frischem Farn, nach fruchtbarer Erde, und von den Wäldern an den Hängen wehte harziger Kiefernduft herüber. Die Luft war erfrischend wie klares Quellwasser, und für einen Moment war Riven den Tränen nah. Dann schnürte ihm Panik die Kehle zu. »Herrgott im Himmel!« Er drehte sich zu Bicker um, um zu sehen, ob der dunkelhaarige Mann seine Halluzinationen teilte. Sein Begleiter betrachtete das Schauspiel vor ihnen anscheinend mit Begeisterung. »Bicker, was geht hier vor? Was hat das, um Gottes willen, zu bedeuten?« Der dunkle Mann lachte. »Beruhige dich, Michael Riven. Es gibt keinen Grund, beunruhigt zu sein.« Riven spürte, wie ihm die nackte Angst die Wirbelsäule emporkroch. »Wer bist du?« fragte er. Seine Stimme zitterte. »Was ist das? Was hast du getan?« Er starrte auf das weite Land, das vor ihnen lag, und blickte dann zurück auf das vertraute Vorgebirge, durch das sie gekommen waren, wo er den Otter gesehen hatte, wo der Wasserfall ins Meer hinunterschäumte. 140
»Ich habe überhaupt nichts getan«, antwortete Bicker. »Wer bist du?« schrie Riven, und als Bicker ihn anlächelte, wußte er es plötzlich. Er erkannte ihn. Und ihm wurde klar, wo er sich befand ... ...Die Welt war ein grüner und angenehmer Ort, durchzogen von silberglänzenden Flüssen und bedeckt mit Wäldern, die nie ein Mensch gelichtet hatte ... Nein. Ich muß verrückt geworden sein. »Ich bin Bickling Warbutt, Erbe der Lordschaft von Ralarth Rorim, einer Festung der Völker der Dales.« Das Land war rauh, aber gut. Es gab reiche Böden in den Dales, in den geschützter gelegenen Gebieten fruchtbar genug für Gerste ... Nein. Unmöglich. »Unmöglich«, flüsterte er. »Dies ist dein Land«, sagte Bicker ruhig. »Hier, es liegt direkt vor uns.« Er breitete die Arme aus. »Das Produkt deiner Fantasie.« Es war für ihn unvorstellbar. In seinem Kopf rasten die Gedanken. Ein Teil seines Verstandes versuchte zu begreifen, was Bicker gesagt hatte, der andere Teil schrie in stummem Protest. Riven sah den Mann an, mit dem er im Traum dem Eisriesen begegnet war. Der Mann, der in seinen eigenen Büchern ein Prinz war, stand hier vor ihm, in 141
Wanderstiefeln, den Rucksack zu seinen Füßen. Bickling Warbutt, der Erbe von Ralarth Rorim. Es existiert nicht! Hat nie existiert! Er schloß die Augen, wollte nicht länger darüber nachdenken. Die Gedanken rasten dennoch unaufhörlich durch seinen Kopf, er versuchte zu begreifen, was sich hier abspielte. Es gab keine rationale Erklärung. »Das ist nicht möglich«, sagte er ruhig. Er erhob sich mühsam, stand auf wackligen Beinen und sah den dunklen Mann wachsam an. »Wie ist das passiert? Wie bin ich hier hingekommen? Wo ist meine Welt — die richtige Welt? Was geht hier vor?« »Das sind viele Fragen. Ich fürchte, ich kann dir nicht alle Antworten geben, nach denen du verlangst. Ich werde versuchen, dir einige zu geben, auf die anderen mußt du noch warten.« »Sag es mir!« schrie Riven. Seine Stimme klang fast hysterisch. Seine Beine versagten ihren Dienst, und er fiel taumelnd zu Boden. Durchgedreht. Das ist es. Ich bin ausgeflippt. Verrückt geworden. Oder auf einem Horrortrip. »Du hast nicht den Verstand verloren«, sagte Bicker. »Du mußt versuchen zu akzeptieren, was du hier siehst, wo du dich befindest. Ich weiß selbst, wie du dich fühlen mußt. Alle von uns, die durch eines der Tore gegangen sind, wissen es.« »Tore?« krächzte Riven. »Wir haben ein Tor von deiner Welt in meine Welt passiert — von der Insel der Nebel, die du 142
Skye nennst, zu diesem Ort hier. Nach Minginish.« »Minginish«, wiederholte Riven. »Das ist auf Skye.« »Das Land jenseits der Cuillin-Berge. Ich weiß. Es ist unser Name für unsere Welt.« »Unsere?« echote Riven. Er stieß Luft aus. »Ich habe das Wort >Minginish< in keinem meiner Bücher verwendet.« »Nicht alles ist so, wie du es dir vorgestellt hast«, sagte Bicker. »Ich habe deine Bücher gelesen, Michael Riven. Es gibt in diesem Land noch viel mehr, als das, was in deinen Büchern steht.« Sein Blick verfinsterte sich. »Und es kommt jeden Tag Neues hinzu.« O Mann. Riven wies zurück auf den Weg, den sie gekommen waren, zu den Felsen hinter ihnen und dem Wasserfall. »Das dort unten ist Skye, von hier bis zur Küste. Es existiert in meiner Welt.« »Das ist wahr«, sagte Bicker. »Aber du kannst auf diesem Weg nicht zurückgelangen. Wenn du es tust, wirst du die Küste des südlichen Meeres erreichen — unseres Meeres, nicht deines. Die Tore können nur in eine Richtung durchschritten werden.« Riven stützte den Kopf in beide Hände. »Es muß eine Erklärung dafür geben. Quantenphysik oder so etwas.« Nach einem Augenblick sah er auf. »Und du behauptest, daß dieses Land hier der Welt meiner Bücher entspricht?« 143
Blicker nickte. »Zum größten Teil.« »Dann habt ihr hier Eisriesen und Wölfe und solche Dinge?« »Ja. Und mehr als genug.« »Und ... meine Romanfiguren«, sagte Riven nachdenklich. »Ratagan, Murtach, Gwion ... sie sind hier, so wie ich es bin«, sagte Bicker mit weicher Stimme. Riven fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Jenny. »Gibt es hier eine dunkelhaarige Frau ... oder ein Mädchen? Verflucht noch mal.« Er erinnerte sich. Das Mädchen in der Hütte, das kein Traum gewesen war. »Nein«, sagte Bicker hastig. Zu hastig. »Vielleicht gibt es sie«, stöhnte Riven. Heilige Mutter Gottes, was habe ich denn getan? »Nein«, sagte er. »Das mach ich nicht mit. Das ist obszön. Ich weiß nicht, was du von mir willst, aber du bekommst es nicht. Ich gehe nach Hause, und du wirst mich nicht daran hindern.« »Du kannst auf diesem Weg nicht zurück«, sagte Bicker barsch. »Such dir einen anderen für deine verdammten Spielchen, aber laß mich damit in Ruhe.« Riven schulterte den Rucksack und begann den Hang in Richtung des Wasserfalls hinunterzusteigen. »Du kannst nicht zurückgelangen!« rief Bicker ihm nach. Das werden wir ja sehen, knurrte er lautlos. 144
Hinter ihm seufzte der dunkle Mann und machte sich daran, seinen Rucksack auszupacken. Bis Riven zur Küste hinunter und mühsam wieder zur Hochfläche hinaufgeklettert war, war es fast dunkel geworden, und seine Beine glühten vor Schmerz. Er fröstelte, denn nach Sonnenuntergang war es kalt geworden. Seltsame Sterne funkelten am Himmel. Auf dem Bergkamm traf er wieder auf Bicker. Er war in einen Mantel gehüllt und saß an einem Feuer. Er warf seinen Rucksack zu Boden und krächzte: »Hundesohn.« Dann brach er neben dem Feuer zusammen. Es war ihm egal, ob er sich auf Skye, der Erde oder in Oz befand. Er war zu Tode erschöpft und sicher, daß sich einige der Metallplatten in seinen Beinen gelockert hatten. Als ihm Bicker, der jetzt Kleidung aus schwarzem, geschmeidigen Leder trug und ein Schwert umgegürtet hatte, einen Mantel um die Schultern legte, protestierte er nicht. Das Feuer knisterte, und Funken stoben davon mit der Brise, die vom Meer heraufwehte. Die Flammen spiegelten sich in Bickers wachsamen Augen, als dieser sich jetzt neben ihm zurücklehnte. »Hast du Hunger?« Riven nickte. Bicker angelte einen kleinen schwarzen Kochtopf vom Feuer. Er faßte ihn mit dem Saum seines Mantels und reichte ihn hinüber. Riven nahm ihn genauso entgegen. 145
Es war Fleischbrühe. Er roch daran, und ein appetitlicher Geruch stieg ihm in die Nase. Er blinzelte heftig, und ein trockenes Schluchzen stieg ihm in den Hals. Er kämpfte vergebens dagegen an und schluchzte laut auf. Dann noch einmal. Er umklammerte den Topf, bis seine Hände trotz des Mantelsaums glühten. »Mein Gott«, sagte er mit rauher Stimme. Hör auf. Hör auf, Mann. Aber glänzende Tränen brannten ihm die Wangen hinunter. Er hatte das Gefühl, von unsichtbaren Gestalten beobachtet zu werden. Wieder schluchzte er, mit knirschenden Zähnen. Der herzhafte Geruch der Brühe weckte Erinnerungen in ihm. Etwas, was in ihm zerbrochen war, regte sich wieder, und er dachte, daß der Schmerz ihn umbringen würde. Er blies auf die Fleischbrühe und nahm ein paar glühendheiße Schlucke. Als er fertig war, legte er sich auf den Rücken und blickte in den nächtlichen Himmel. »Bicker«, flüsterte er. »Was geschieht mit mir?« Im Gesicht des dunklen Mannes spiegelte sich ein Mitleid, das Riven früher wütend gemacht hätte. »Wenn ich das wüßte, wären auch viele Fragen meines Lebens beantwortet. Laß es für eine Weile ruhen. Du mußt dich erholen, und bei Tageslicht lassen sich diese Fragen besser beantworten.« Ist das so? fragte sich Riven und starrte in die blaue Finsternis jenseits des Feuers. 146
Plötzlich fürchtete er sich vor dem, was der Morgen ihm bringen würde. »Wie bist du nach Skye gekommen?« fragte er. »Durch ein anderes Tor, eines in den Bergen des Nordens ...« Bicker zögerte. »Die Greshorns.« »Ja. Genau die. Es gibt dort einen Berg namens Staer. Auf einem Kamm in der Nähe des Gipfels kann man von Minginish in deine Welt gelangen — auf die Insel der Nebel.« »Wodurch kommt das? Wie hast du diese Tore gefunden? Was willst du von mir?« Bicker schüttelte den Kopf und warf noch mehr getrocknetes Heidekraut in das Feuer. Es flammte hell auf, und sein Duft erfüllte die Nachtluft. »Das ist eine lange Geschichte. Ich werde sie nicht in dieser Nacht erzählen.« Er warf Riven einen Blick zu, der besagte, daß er diesen Punkt nicht länger diskutieren würde. »Morgen werde ich versuchen, dir einige Dinge zu erklären ...« Er seufzte. Auch er sah erschöpft aus. »Es ist nicht leicht zu verstehen, aber du hast ein Recht darauf, es zu wissen. Du mußt es sogar wissen. Versuch jetzt zu schlafen. Ich werde noch ein wenig Wache halten, obwohl das Feuer genügen sollte, die Bestien fernzuhalten.« »Bestien?« erkundigte sich Riven. »Schlaf jetzt«, wiederholte der dunkle Mann. Als der Morgen dämmerte, war es kalt, die Sonne erhob sich aus rosafarbenen 147
Wolkenstreifen, und Tau glitzerte im Gras und auf den Felsen. Außer dem Gezwitscher der Vögel war kein Laut zu hören. Nachdem er aufgewacht war, betrachtete Riven minutenlang den Himmel. Bicker war schon auf den Beinen, er stocherte in der Asche des Feuers herum. Riven spürte die Feuchtigkeit des frühen Morgens durch seinen Schlafsack. Der Schmerz in seinen Beinen meldete sich schon wieder zurück. Es würde die Hölle sein, heute zu marschieren. Es war kein Winter. Dies war nicht der gleiche Ort, von dem aus er gestern morgen aufgebrochen war. Diese Sache war tatsächlich passiert. Sie war so real wie der glitzernde Tau auf dem Boden, oder wie die Brise, die allmählich den Morgennebel auseinandertrieb und einen tiefblauen Himmel freigab — noch nie hatte er einen so blauen Himmel gesehen. Hier gab es keine Luftverschmutzung. Keine Autos. Keinen erwähnenswerten Rauch. Die Luft war so klar wie ein Diamant im Sonnenlicht. Das ist nicht Skye. Das ist nicht einmal die Erde. Er verspürte eine leichte Übelkeit und schloß kurz die Augen. Bicker hatte versprochen, ihm heute einiges zu erklären. Das würde er auch besser tun. Er setzte sich auf. Jeder Knochen schmerzte ihm im Leibe. Sein Begleiter erhitzte eine Konservendose mit einem Fertiggericht auf einem 148
Benzinkocher. Offensichtlich war das Feuer nicht mehr anzufachen gewesen. »Guten Morgen«, sagte der dunkle Mann. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen.« Riven nickte und kroch aus seinem Schlafsack. »Solltest du nicht Kaninchen am Spieß braten, oder so etwas?« Riven kostete das dampfende Gericht und schien zufrieden. »Für jetzt ist dies hier bequemer. Wir müssen heute eine ordentliche Strecke hinter uns bringen.« Riven stöhnte. Genau, was ich brauche. Er bemerkte, daß der Rucksack durch einen Lederbeutel ersetzt worden war und ein Schwert samt Scheide darauf lag. Er schüttelte den Kopf. Ich glaub das alles nicht. Schwerter und verdammte Zauberei. »Soll ich dich Prinz Bicker nennen?« fragte er. Mühsam streifte er die Schuhe über. Der dunkle Mann lächelte. »Wir sind nicht so formell hier in Minginish. Das Wort >Prinz< erscheint nur in deinem Buch. Es entspricht nicht der Stellung, die ich in meinem Land inne habe.« »Bitte um Vergebung«, knurrte Riven. »Ich werde es beim nächsten Mal besser machen.« Er stöberte in seinem Rucksack nach den Vorräten. Er brauchte Kaffee, bevor er auch nur daran denken konnte, sich wieder auf den Weg zu machen. Bicker löffelte sein unaussprechliches Frühstück in sich hinein und sah ihm interessiert zu. 149
»Was, zum Teufel, ist das?« fragte Riven, als der Kaffee kochte. »Teigtaschen mit Speck und Bohnen. Auch eines von den Dingen in deiner Welt, die ich wahrhaftig nicht vermissen werde.« Riven nippte an seinem Kaffee. »Wie gut kennst du meine Welt?« »Ich bin lange genug dort gewesen. Zuerst war es schrecklich, denn ich wußte nicht, ob ich wieder zurückfinden würde. Ich war derjenige, der das erste Tor gefunden hat, durch einen Zufall. Und es verging eine lange, beschwerliche Zeit, bis ich ein Tor fand, durch das man zurückgelangen kann — dasjenige, das wir gestern passiert haben.« Riven blickte finster. »Was zum Teufel geht hier vor? Was soll das alles? Wie ist es geschehen?« Er wußte, daß eine Spur von Hysterie in seiner Stimme mitklang, aber er war zu verstört, um sich etwas daraus zu machen. So etwas passiert nicht im wirklichen Leben. Eine andere Welt. Seine Welt, um Himmels willen! Bicker beendete seine Mahlzeit und erhob sich. »Wir machen uns am besten auf den Weg. Reden können wir unterwegs.« Sie packten ihre Sachen zusammen. Bicker verstaute den Kocher in seinem Beutel und schob das Schwert in den Gürtel. Riven starrte ihn an. Er hätte gelacht, wenn er sich nicht davor gefürchtet hätte, wie es klingen würde. Nach wenigen Augenblicken erinnerte nur noch die kreisförmige Asche des Feuers an ihr 150
Lager, und auch sie bedeckte Bicker mit Steinen und Grasbüscheln. Dann machten sie sich auf den Weg nach Norden. Trotz allem mußte Riven zugeben, daß ihn die Schönheit des Landes, das sie durchwanderten, beeindruckte. Es wurde wärmer, und er begann unter seinem Rucksack zu schwitzen. Seine Beine schmerzten die ganze Zeit, und den noch bemerkte er die friedliche Stille der Landschaft. Er registrierte die Unberührtheit dieses Landes, in dem der Mensch keine Spuren hinterlassen hatte. Es gab keine Straßen, keine Telefonleitungen, keinen Abfall, keine Kondensstreifen am Himmel. Und fast kein Geräusch. Außer dem Wind und vereinzelten Vögeln war es ruhig, ruhiger als es in der Hütte gewesen war, wo das Rauschen des Meeres immer zu hören war. Er hätte es genießen können, wenn der Anblick dieser Gegend und die Tatsache, daß er sie durch wanderte, nicht reiner Wahnsinn gewesen wären. Er wandte sich wieder an Bicker. »Du hast versprochen, mir zu erzählen, wie das alles gekommen ist — warum du nach Skye gekommen bist. Warum du mich hierher gebracht hast.« Der dunkle Mann seufzte. »Das habe ich tatsächlich.« Er ging für einen Moment mit verschlossenem Gesicht weiter. »Es ist eine lange und verwickelte Geschichte, die ich dir erzählen muß, und du mußt Geduld mit mir haben. Geschichtenerzählen ist nicht meine 151
Stärke. Dafür ist Ratagan der richtige Mann.« Er warf Riven einen schnellen Blick zu. »Aber das weißt du ja am besten.« Ratagan, der schroffe rotbärtige Riese. Der Trinker — der Geschichtenerzähler. Riven kannte ihn. O ja. »Nun, ich will von Anfang an erzählen. Es war im letzten Jahr, im Hochsommer. Ich wanderte im Norden des Landes, jenseits Talisker ...« Er winkte ab, als Riven ihn unterbrechen wollte. »Es war ein herrlicher Tag, die Luft angefüllt mit dem Duft von Haselnußsträuchern und Butterblumen und reifender Gerste. Ich beschloß, den Roten Berg zu besteigen und Umschau im Land zu halten, denn ich war zu dieser Zeit ein Scout im Dienste eines Fürsten namens Quirinius, obwohl ich nicht viel bei ihm zu tun hatte. Es war ein ruhiger Frühling gewesen, und der Sommer war reich. Das Wetter war so gut, daß der Weg durch die Berge unproblematisch war. Im Winter ist das eine ganz andere Geschichte. Ich war schon ein ganzes Stück den Westhang hochgeklettert. Die Sonne brannte. Am Fuß eines steilen Felssims machte ich an einer windgeschützten Stelle Rast. Und es dauerte nicht lange, bis ich eingeschlafen war.« Er schwieg für einen Augenblick. In seinem scharf geschnittenen Gesicht war nichts zu lesen. »Ich erwachte von einem Schrei, hörte dann einen Aufprall. Dann hörte ich noch einen Schrei. Voller Schmerz. Ich konnte niemanden 152
sehen, obwohl es sehr nah geklungen hatte. Ich sah mich um, und glaubte, meinen Augen nicht zu trauen. Ich blickte in ein kleines Tal hinab, das nicht zu Minginish gehörte. Es standen dort Häuser, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. Direkt zu meinen Füßen war ein helleuchtendes Seil um einen Fels geschlungen. Als ich es hochzog, sah ich, daß es durchgerissen war. Michael! hatte die stürzende Frau geschrien. Das fiel mir später ein. Damals dachte ich, ich hätte einen Sonnenstich, aber ich habe es nicht vergessen. Ich schloß die Augen, und als ich sie wieder öffnete, war ich zurück auf dem Roten Berg, in meinem Land. Aber dort war eine merkwürdige Stille. Der Wind hatte sich gelegt, und kein Laut war zu hören. Kein Vogel zwitscherte, und keine Biene summte, und unten im Tal hatten die Menschen ihre Arbeit unterbrochen und blickten zum Himmel, über den sich ein blutroter Schatten gelegt hatte und die Sonne verschleierte. Ich verließ meinen Aussichtspunkt und eilte so schnell wie möglich durch die betäubende Stille zurück ins Tal. Lange bevor der Abend angebrochen war, hatte eine pechschwarze Wolke das Land in finstere Nacht getaucht. Der Wind hatte sich wieder erhoben und wurde zu einem Sturm, wie ihn noch keiner von uns jemals erlebt hat. Einige nannten es das Ende der Welt. Das Getreide wurde verwüstet, und Blitze erschlugen das Vieh auf der Weide und einige 153
Menschen. Und dann strömte eisiger Regen vom Himmel, ließ die Flüsse anschwellen und überschwemmte das Land.« Bickers Augen verengten sich zu Schlitzen, als die Erinnerung ihn übermannte. Er tastete nach dem Griff seines Schwertes. »Und so begann sie, die Schlechte Zeit, als der Sommer erlosch und Schnee das Land heimsuchte, noch bevor der Herbst richtig begonnen hatte. Die Bestien kamen gierig aus den Bergen. Und die Riesen, die seit Jahren kein Mensch mehr zu Gesicht bekommen hatte, verließen das ewige Eis und verbreiteten namenlosen Schrecken in den Rorims. Und die Wölfe drängten sich sogar vor den Toren von Talisker. Minginish begann zu sterben. Ich ging nach Süden, nach Hause, zum Ralarth Rorim, und fand die Dales belagert und versunken im Schnee. Ein harter Winter hatte das Land überzogen, und niemand wußte eine Erklärung dafür.« Er schwieg wieder für einen Augenblick. »Außer mir. Ich glaubte es zu wissen. Ich erzählte es meinem Vater, dem Warbutt, und ging wieder in den Norden. Murtach begleitete mich. Wir kämpften uns durch die Hügel und folgten dem Großen Fluß nach Norden. Dann folgte der mühsame Weg durch die Berge. Und wir gingen durch das Tor. Wir fanden uns auf dem Berg wieder, den ihr Sgurr Dearg nennt, auf der Insel der Nebel, und atmeten zum ersten Mal die schmutzige Luft eurer Welt ...« Er brach ab. Plötzlich wirkte er müde. 154
»Anfangs war es nicht leicht. Merkwürdigerweise sprachen wir die gleiche Sprache wie die Menschen auf der Insel — dieselbe, in der du deine Bücher schreibst. Die Aussprache war etwas anders, aber wir konnten uns verständigen. Murtach gelang es besser als mir, den Akzent der Menschen dort nachzuahmen. Wir lebten wie die Bettler oder Diebe, stahlen genug, um zu überleben, und verschafften uns unauffälligere Kleidung. Ein Problem waren Murtachs kleine Haustiere. Meistens mußten wir sie verstecken.« »Haustiere?« fragte Riven. »Wölfe, Michael Riven. Murtach wird immer von zwei Wölfen begleitet, Fife und Drum.« »Momentmal ...« Aber Bicker schüttelte den Kopf. »Laß mich dies am Stück erzählen, oder ich bringe es nie zu Ende. Auf jeden Fall besuchten wir viele Trinkhäuser auf der Insel, und nach einer langen, anstrengenden Zeit fanden wir heraus, was sich an diesem Sommertag auf dem Roten Berg abgespielt hatte. Eine Frau war gestorben und ein Mann zum Krüppel geworden. Wir erfuhren deinen Namen. Jetzt war die Spur leichter zu verfolgen. Murtach übernahm das. Mit Gold aus Minginish schlug er sich nach Süden durch, um dich aufzuspüren. Ich blieb im Norden und suchte nach einem Tor, durch das wir wieder zurückgelangen konnten.«
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»Murtach hat mich gefunden.« Die Vision von Wölfen, die sich nachts unter den Weiden ducken. Er hatte sie sich nicht eingebildet! »Ja. Als er sicher war, daß du zur Insel zurückkehren würdest, kam er selbst zurück. Dieser Teil seiner Wanderung ist eine lange Geschichte. Er legte einen Teil zu Fuß zurück, einen anderen in den Maschinen, die dein Volk benutzt, um sich vorwärts zu bewegen. Und Fife und Drum machten die Sache nicht leichter.« Bicker lachte leise. »Sie haben einiges erlebt unterwegs, das kann ich dir sagen. Aber sie schafften es. Murtach brachte die Nachricht, daß du in einigen Wochen oder Tagen zurückkehren würdest. Und noch etwas brachte er mit, Michael Riven. Er brachte deine Bücher, die wir so leicht lesen konnten, wie wir eure Sprache sprechen konnten. Wir lasen sie und waren sprachlos. Wir wußten nun, daß dein Unfall und der Verlust, den du erlitten hast, irgendwie mit den Ereignissen in unserer Welt in Zusammenhang stand. Irgendwie bist du mit Minginish verbunden. Irgendwie — und das ist schlimmer — könntest du Einfluß darauf nehmen, was hier geschieht. Darüber muß nachgedacht werden.« Riven wollte wütend auffahren, aber wieder winkte Bicker ab. »Da ist noch mehr. Ich fand das Tor, das uns zurück nach Minginish brachte, unten am Meer. In deiner Welt ist es nicht weit vom Sgurr Dearg entfernt.« 156
»Wie hast du es gefunden?« fragte Riven barsch. Er war sich sicher, daß die Antwort wichtig war. Bicker sah ihn nicht an. »Ich begegnete einem dunkelhaarigen Mädchen, das die Berge der Insel durchstreifte. Ich folgte ihr und beobachtete, wie sie durch das Tor verschwand. Möglicherweise ist sie jetzt hier, in Minginish.« »Du Hundesohn«, stieß Riven hervor. Seine Augen brannten vor Wut. »Du wußtest die ganze Zeit von ihr. Du wußtest, wer sie sein muß.« »Es tut mir leid«, sagte Bicker steif. »Ich hatte keine andere Wahl.« »Sie ist meine Frau. Und sie ist gestorben!« »Ich weiß. Ich weiß, wie schmerzhaft das für dich ist. Du mußt versuchen, es zu akzeptieren. Das wird es leichter machen. Von deinen Taten könnten viele Leben abhängen, mein Freund — vielleicht das Schicksal einer ganzen Welt.« »Erspar mir die Predigt, Bicker.« Jenny war also auch hier! Zog vielleicht allein durch die Berge. Allein mit den wilden Tieren. Trauer und Bitterkeit stiegen in ihm hoch. Aber warum war sie vor ihm davongerannt? Und wie konnte sie durch das Tor gegangen sein, bevor er sie in der Hütte gesehen hatte? Er ging weiter und spuckte ins Gras. Es war unbegreiflich, verrückt und aberwitzig. Er marschierte mit einem seiner eigenen Romanhelden durch eine Fantasiewelt! Und 157
seine tote Frau lebte aus irgendeinem Grunde wieder. Herr im Himmel! Er mußte anhalten. Seine Beine zitterten wie Espenlaub. »Ich kann ... ich kann das nicht verstehen. Bicker, das ist zu viel für mich. Das darf nicht sein.« »Das darf es nicht«, stimmte der dunkle Mann zu. »Und dennoch ist es so.« »Es ist nicht richtig. Sie ist gestorben. Mein Gott, hat denn nichts mehr Gültigkeit? Sie war meine Frau.« »Und dies ist mein Land.« Riven blinzelte wild. »Wo sind denn der Schnee und das Eis, bitte? Wo sind die Riesen und die Wölfe? Ich finde es hier sehr angenehm, oder entgeht mir etwas?« Zum ersten Mal schien Bicker keine Worte zu finden. »Ich weiß«, sagte er. »Ich kann es nicht erklären. Als ich zum letzten Mal hier war, herrschte bitterer Winter. Aber es gefällt dir hier, nicht wahr, Michael Riven? Hast du es nicht genossen, durch dieses Land zu wandern?« »Ja. Na und?« »Dann hat es vielleicht mit dir zu tun. Vielleicht.« »Zum Teufel auch! Wer bin ich denn? Ein verdammter Wettermacher? »Möglicherweise bist du das«, sagte Bicker sanft und ging weiter. Nach einem Moment folgte Riven ihm fluchend. 158
»Wo gehen wir hin?« fragte er schließlich. »Zum Ralarth Rorim, wohin sonst? Und das sind noch gut zwei Tagesmärsche von hier. Schreite also aus, Michael Riven, und bete, daß das Wetter so bleibt. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bevor es dunkel wird.« Und so marschierte Riven weiter, weil es sonst nichts für ihn zu tun gab. Abends regnete es leicht, leise wie das Flüstern auf einer Beerdigung. Als die Nacht hereinbrach und sie am Feuer saßen, schimmerte die Feuchtigkeit wie Spinnweben auf ihrem Haar. Bicker hatte das feuchte Holz mühsam mit einem Stein und einem Eisenstück entzündet. Sie aßen etwas von Rivens Konserven, vergruben den Abfall und saßen dann schweigend in ihren feuchten Mänteln am Feuer. Es regnete immer noch. Der Himmel weint, dachte Riven. Die Trauer schnürte ihm die Kehle zu, während er überlegte, ob der Himmel mit ihm trauerte. »Bicker«, sagte er schließlich ruhig. »Erzähl mir eine Geschichte.« Sein Gefährte blickte auf. Sein Gesicht lag im Schatten, aber in den Augen spiegelten sich die Flammen des Feuers wider. »Du bist der Geschichtenerzähler«, sagte er. Riven schüttelte hilflos den Kopf und starrte in die Glut. Ein Funkenregen stob auf, als Bicker ein neues Reisigbündel hineinlegte. Dann hüllte er sich tiefer in seinen Mantel. 159
»Ich kann dir nicht viele Geschichten erzählen, es gibt nur wenige in Minginish. Immerhin kenne ich eine alte Geschichte, die von den Myrcanern handelt.« »Die Myrcaner?« Riven erinnerte sich. »Sie sind Soldaten, Krieger.« Bicker nickte zustimmend. »Kein anderes Wort trifft auf sie zu. Sie sind Soldaten, und nichts sonst.« »Ich war auch einmal Soldat.« »Das sagtest du. Aber Myrcaner werden als Soldaten geboren und sterben als Soldaten. Ich erzähle dir die Geschichte, damit du Bescheid weißt, denn du wirst bald einige von ihnen treffen.« Er legte einen großen Holzscheit in das Zentrum der Glut und weitere Äste kreisförmig auf das Feuer. Dann begann er zu erzählen. »Vor vielen Jahren gab es im Norden des Landes Riesen, die groß wie Hügel waren. Einige waren gut, andere waren böse; so ist das eben. Aber, da sie Riesen waren, waren sie sehr gut, wenn sie gut waren, und wenn sie schlecht waren ...« Er zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall lebte einer von ihnen in den Bergen jenseits von Dun Drinan, und er war durch und durch bösartig. Er versklavte die Bewohner des Tals und forderte Abgaben von ihnen. Er nahm ihr Vieh und schändete ihre Frauen, wie es ihm gefiel, zerstörte ihre Häuser und tötete die Männer nur so zum Spaß. Kurz und gut, die Leute jenseits von Dun Drinan 160
waren alles andere als glücklich. Aber wer legt sich schon mit einem Riesen an? Nun, wie auch immer, dieser Riese — er nannte sich selbst Myrca, obwohl viele ihm einen anderen Namen gaben — wurde so stolz und arrogant, daß er sein Gesicht den Bewohnern des Tals für alle Zeiten erhalten wollte. Er befahl ihnen, ein lebensgroßes Standbild aus Stein von sich anzufertigen. Auch die Zwerge aus den Bergen zwang er zur Mitarbeit, weil sie geschickter im Umgang mit Hammer und Meißel waren und härter arbeiten konnten. Er vergaß allerdings, daß sie ein stolzeres Volk als die meisten anderen sind und eine Beleidigung niemals vergessen. Sie errichteten also die Statue, und sie bot wirklich einen erstaunlichen Anblick, wie sie hoch aus dem Tal herausragte und mit ihrem Schatten die Häuser der Menschen verdunkelte. Doch was, glaubst du, sah der Riese, als er die Statue etwas näher betrachtete? Er war zunächst sehr erfreut über die detailgenaue Abbildung seiner selbst. Nicht einmal die Keule, die er stets bei sich trug, hatte man vergessen. Doch dann blickte er in das Gesicht und sah, daß man hier den Kopf eines Schweines zum Vorbild genommen hatte, mit kleinen Äuglein, sabberndem Maul und einem langen Rüssel. Dies gefiel ihm nun ganz und gar nicht, und sein Gebrüll donnerte durch das ganze Tal und erschreckte die Menschen. Und was tat er dann? Nun, er hob seine Keule, die so lang war wie ein 161
ausgewachsener Baum, und hieb auf die Statue ein, bis sie in Stücke fiel. Doch was war das? Die Bruchstücke der Statue erhoben sich plötzlich und umschwirrten seine Füße. Und er mußte erkennen, daß aus jedem Splitter ein Soldat mit hartem Blick und Händen aus Fels geworden war. Und sie metzelten ihn an Ort und Stelle nieder, und seine Knochen düngten die Erde, so daß das Tal von dieser Zeit an eines der fruchtbarsten im ganzen Land war. Doch was geschah mit den Soldaten, die ihn zur Strecke gebracht hatten? Sie nannten sich die Myrcaner, und da sie so viele waren, verteilten sie sich in alle Dales von Minginish, um die Bewohner vor Riesen zu schützen. Und es ist noch heute so, daß die Myrcaner, von denen jedes Volk im Land einige in seinen Reihen hat, die Dales vor den Bestien schützen, die aus den Bergen kommen.« Das Feuer knisterte, und Bicker gähnte. »Keine großartige Geschichte, aber man kann sich die Zeit damit vertreiben.« Er blickte zum Himmel empor. »Morgen früh werden wir noch nasser sein. Schlaf ein bißchen, ich werde für eine Weile Wache halten.« Aber in der dunklen Stunde vor der Morgendämmerung erwachte Riven und sah Bicker mit gezücktem Schwert neben sich stehen. Er schaute sich witternd um wie ein Bluthund. »Was ist los? Stimmt was nicht?« »Ich glaube, es ist nichts. Nur ein komischer Geruch. 162
Nichts von Bedeutung.« Er steckte das Schwert in die Scheide. »Dennoch sollten wir jetzt aufbrechen. Frühstücken können wir woanders.« Rivens Finger waren steif vor Kälte, und Bicker half ihm beim Zusammenpacken in der dunklen Nacht. Die Sonne stieg in den klaren Himmel. Sie trocknete die feuchten Kleider und wärmte Rivens schmerzende Beine. Die Metallplatten in meinen Beinen werden sich verbiegen, wenn das so weitergeht. Er fragte sich, wie weit sie in den vergangenen Tagen gegangen waren, und zog es vor, seine Berechnungen abzubrechen, als ihm klar wurde, daß er die Meilen, die sie auf Skye zurückgelegt hatten, mit denen in dieser Welt, in Minginish, zusammenaddierte. Nimm's, wie es kommt! »Dort vorne ist Rauch«, stellte er fest. Er warf Bicker einen Blick zu. Der schien erfreut zu sein. »Ich sehe es. Mach dir keine Sorgen. Wir werden erwartet.« Sein erhobener Finger erstickte die Fragen seines Gefährten im Keim. Riven lagen einige Kraftausdrücke auf der Zunge, aber er beherrschte sich. Sie gingen noch etwa eine Meile und erreichten dann ein Lagerfeuer, um das einige Gestalten saßen. Zwei von ihnen waren Tiere. Sie sahen aus wie große graue Hunde, hockten auf ihren Hinterläufen und blickten den Neuankömmlingen wachsam schnuppernd 163
entgegen. Die beiden anderen waren Menschen. Sie erhoben sich, als Bicker und Riven herankamen. Der eine von ihnen war groß und kräftig, der andere schmächtig — kleiner als Bicker. Beide grinsten, als die Wanderer sie erreichten. »Er kommt von der nebligen Insel und ist doppelt so häßlich wie an dem Tag, als er auf die Welt kam«, sagte der kleinere. Er trug ein Leinenhemd, Lederbreeches und einen Mantel aus Schafsfell. Ein Schwertgriff ragte hinter einer Schulter empor. In seinem braunen Gesicht leuchteten die blauen Augen wie ein See unter einem wolkenlosen Himmel. Die beiden Wölfe ließen sich neben ihm nieder. »Murtach, du riechst wie ein totes Schaf im Hochsommer«, gab Bicker zurück. Er schlug ihm auf die Schulter und streckte seine andere Hand den Wölfen hin, die daran leckten. Sie strichen um ihn und Riven herum, nahmen die fremden Gerüche auf und beobachteten die beiden gespannt aus ihren tiefliegenden Augen. Riven erstarrte, als eine feuchte Schnauze seine Handfläche beschnupperte. »Und was ist mit mir, du Abkömmling eines Bergfuchses? Hast du kein Wort für Ratagan?« Auch der große Mann war in Schafsleder gehüllt, trug aber eine blaue Schärpe um die Hüfte, hinter die er eine Axt gesteckt hatte. Sein derbes Gesicht strahlte vor Freude. Der feuerrote Bart leuchtete in der Sonne. Er hob Bicker in die Luft wie ein Kind und schüttelte ihn, bis ihm die Zähne klapperten. 164
»Hol mich der Teufel!« rief Bicker. »Ich hätte früher gesprochen, wenn ich gewußt hätte, daß du nüchtern bist...« Er wurde zu Boden geschleudert. Er landete geschickt wie eine Katze, und die Aufmerksamkeit der beiden anderen richtete sich jetzt auf Riven, der sich fragte, ob er auch wie ein Bündel Lumpen herumgeschleudert werden würde. »Und du hast den Geschichtenerzähler mitgebracht«, sagte Murtach. »Er sieht viel gesünder aus, als damals, als ich ihn zuletzt gesehen habe.« Sein schmales Gesicht kam näher, und er verbeugte sich leicht. »Murtach Mole, zu Euren Diensten, Michael Riven. Ich habe lange in Minginish auf Euch gewartet.« »Molesy!« rief Riven. Murtach grinste. Seine weißen Zähne leuchteten aus dem braunen Gesicht. »Der selbe.« Dann krümmte er den Rücken wie ein alter Mann und sagte im Tonfall der Highlands: »Wie geht's denn heut', Mr. Riven?« Riven konnte ihn nur erstaunt anstarren. »Seid ihr allein, oder sind noch andere in der Nähe?« fragte Bicker Murtach. »Zwei Myrcaner bewachen uns in diesem Moment«, antwortete dieser. »Das Lagerleben liegt ihnen überhaupt nicht, aber sie durchstreifen die Hügel um uns herum, um mögliche Angreifer abzuschrecken.« Bicker zog eine Augbraue hoch. »Myrcaner? Es muß ein Kunststück gewesen sein, sie zu einem Ausflug wie diesem hier zu überreden.« 165
Murtach wurde ernst. »Es hat sich einiges geändert, während du fort gewesen bist, Bicker. Der Schnee ist zwar fürs erste verschwunden, dennoch wagt sich jetzt kaum jemand in die Berge. Das Wetter ist besser geworden, aber die Angriffe der Bergkreaturen haben nicht nachgelassen.« Bicker verzog das Gesicht. »Wir sprechen später darüber, wenn wir ein Dach über dem Kopf haben. Ich habe dem Warbutt einiges zu berichten.« »Ich fürchte, das wird kein einseitiges Gespräch werden«, sagte Ratagan. Er trat das Feuer aus. »Er hat keine ruhige Minute gehabt, seit du gegangen bist. Auch im Rorim hat es Veränderungen gegeben.« »Auch das kann warten«, warf Murtach ein. »Wir machen uns jetzt besser auf den Weg. Es ist zwar noch früh, aber wir haben eine lange Strecke vor uns.« Bicker nickte. Ratagan und Murtach schulterten ihr Gepäck, und sie marschierten zügig los. Die beiden Wölfe trotteten vorneweg. Sie kamen gut voran, denn der Boden war gut und der Morgen noch kühl. Riven stolperte mit ihnen, den Kopf voller Fragen, von denen er wußte, daß er sie gar nicht erst zu stellen brauchte. Es ist Donnerstag. Und gestern war Mittwoch, und am Tag davor war ich auf Skye. Es gab Speck und Eier zum Frühstück. Es war ein schöner Morgen. Ein schöner Morgen. 166
Dies hier ist nur das Produkt deiner Vorstellungskraft. Aber was geht nur vor? Wie kann so etwas passieren? Was geschieht mit mir?
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SIEBTES KAPITEL Die marschierten den ganzen Tag in einem Tempo, das Riven das äußerste abverlangte, und allmählich fühlte er sich wie ein entflohener Gefangener, der von Hunden gehetzt wird. Er atmete auf, als es langsam dämmerte. In diesem Moment erschien eine dunkle Linie am Horizont. »Der Wald von Scarall«, sagte Bicker. »Wir liegen gut in der Zeit. Wir werden dort die Nacht verbringen und morgen abend Ralarth Rorim erreichen.« Er sah Murtach an. »Was ist mit den Myrcanern?« »Sie stoßen wieder zu uns, wenn es dunkel wird. Wenn wir im südlichen Teil des Waldes lagern, können sie uns nicht verfehlen.« Nach einer Stunde traten sie in den Wald, und sofort zückte Ratagan seine Axt und stand Wache, während die anderen das Lager aufschlugen. Fife und Drum warfen sich auf den Boden, hechelnd wie Hunde. Ihre gelben Augen schienen in der Finsternis zu leuchten. Kurz nachdem das Feuer angefacht worden war, raschelte totes Laub, und plötzlich standen zwei Männer wie aus dem Erdboden gewachsen zwischen ihnen. Riven unterdrückte einen Ausruf der Überraschung 168
und bestaunte die ersten Myrcaner, die er zu Gesicht bekam. In seinen Büchern waren sie schweigsame Söldner gewesen, die im Dienste der Herren der Dales standen. Nach allem, was Bicker ihm erzählt hatte, schien ihre Rolle jedoch komplizierter zu sein. Es war seltsam, seine Fantasiegeschöpfe leibhaftig vor sich zu sehen, mit ihnen zu wandern und zu reden. Es war fast, als wäre er am Drehort eines monumentalen Kostümfilms. Erschreckend und aufregend zugleich. Am merkwürdigsten war vielleicht, daß diese Personen ein Eigenleben hatten, Persönlichkeitsmerkmale, die in seinen Büchern nicht vorkamen. Es muß wohl so sein, dachte er, daß sie komplexer sind, so wie das Leben komplexer ist, als jede Kunst sein kann. Zwei Fragen nagten vor allem in ihm: Hatte er Minginish irgendwie ins Leben gerufen, oder war er zufällig mit seinen Geschichten darauf gestoßen? Und wie war das geschehen? Die Myrcaner, die vor ihm standen, wirkten brutaler, als er sie sich jemals ausgemalt hatte. Riven hatte noch nie Männer getroffen, die so kräftig und erdverbunden aussahen. Sie waren klein, breitschultrig, überaus muskulös und schienen immer zum Sprung geduckt zu sein. Ihr Haar war schwarz und millimeterkurz geschnitten, und sie waren glattrasiert. Sie trugen enganliegende Lederhosen, derbe, kniehohe Stiefel und schwere, pelzbesetzte Lederwämser, die an den Schultern, der Brust 169
und im Schritt mit glänzendem Drahtgeflecht verstärkt waren. Um die Hüften hatten sie wie Ratagan blaue Schärpen geschlungen. In den derben Fäusten hielten sie anderthalb Meter lange Stöcke aus dunklem Holz, die auf ihrer ganzen Länge mit Metallringen beschlagen waren und im Licht des Feuers glänzten. Die Augen in den dunklen Gesichtern wirkten wie schwarze Steine. Beide trugen einen weißen Farbstrich im Gesicht, der von Ohr zu Ohr über die Nase verlief. Sie hätten Zwillinge sein können. Niemand sprach, als sie sich am Feuer niederließen. Schließlich brach Ratagans polternde Stimme die Stille. Er stand noch immer Wache am Rande des Lichtkreises, den das Feuer warf. »Was gibt es Neues, meine Freunde?« Der metallumwundene Stock blitzte, als einer der Myrcaner antwortete. »Niemand war hinter uns. Das Land ist leer. Wir haben Winterwölfe gesehen, aber sie sind jetzt weit entfernt. Die Schneeschmelze hat die Bestien zurück in die höher gelegenen Gebiete getrieben.« Der Myrcaner starrte Riven mit beunruhigender Intensität an. Er bewegte sich nervös und flüsterte Bicker zu: »Sag ihm, daß ich ein Freund bin, ja?« Bicker lächelte. »Ord, das ist Michael Riven, der Geschichtenerzähler. Er ist derjenige, von dem Murtach dir erzählt hat. Er ist von der Insel jenseits des Meeres gekommen, um uns zu helfen.« Dann wandte sich Bicker an Riven. 170
»Diese beiden sind Ord und Unish. Sie sind Myrcaner.« »Es ist mir eine Ehre«, sagte Riven. Er hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, und verspürte das Bedürfnis, jegliches Mißtrauen, das diese prächtigen Eingeborenen gegen ihn hegen mochten, schnellstmöglich zu zerstreuen. Die Myrcaner betrachteten ihn, ohne zu lächeln, dann ließ ihr Blick von ihm ab. Riven war müde und verärgert, und niemand kümmerte sich um ihn. Er rollte seinen Schlafsack aus — und erntete damit wieder forschende Blicke der Myrcaner — und legte sich hinein, während die anderen das Essen zubereiteten. Die Erde unter ihm vibrierte plötzlich und war dann wieder ruhig. Er runzelte die Stirn, setzte sich auf und tastete mit den Händen über den Boden. »Was ist los?« fragte Bicker. »Nichts. Ich dachte, ich hätte etwas gespürt.« »Im Boden?« »Ich habe es mir nur eingebildet«, sagte Riven. Er kam sich wie ein Narr vor. Aber Bicker und Murtach wechselten Blicke. »Scarall ist sicher, oder?« fragte Bicker. Murtach sah besorgt aus. »Das dachte ich.« Dann hob sich der Boden unter Riven und fiel wieder zurück. Er sprang auf. »Verflucht! Da unten ist etwas. Es hat sich etwas bewegt.« Alle erhoben sich, Waffen wurden aus ihren Hüllen gerissen. Fife und Drum begannen 171
dumpf zu knurren, ihre Augen leuchteten im Licht des Feuers. »Was ist das? Was ist los?« fragte Riven wütend. Neben ihm brach der Boden auf. Eine große, pechschwarze Gestalt sprang aus der Erde und stürzte sich auf ihn. Eisenharte Pfoten schmetterten ihn zu Boden, und im Licht der Flammen erkannte er über sich die Umrisse eines augenlosen Hunde- oder Wolfskopfes, den schwarzen Rachen aufgerissen. Dann fuhren die Stäbe der Myrcaner dem Wesen in die Flanken, und aufheulend sprang es sie an. Zu Tode erschrocken kroch Riven ein Stück zurück. Er sah einen fast zwei Meter langen schwarzen Hund, der die Myrcaner wie Spielzeugpuppen vor sich herstieß, während die beiden Wölfe erfolglos nach seinen Läufen schnappten. Bickers Schwert sauste auf das Tier nieder und prallte krachend ab. Nur ein paar Splitter hatten sich vom Rücken der Kreatur gelöst. Splitter? Es war kein Blut zu sehen, und an der Stelle, wo das Schwert getroffen hatte, war eine weiße Narbe, die wie frisches Holz aussah. Holz? Aus den Tiefen seines Gedächnisses tauchte eine Erinnerung auf. Ein unterirdischer, hölzerner Hund ... aber er konnte jetzt nicht darüber nachdenken. Brüllend erschien Ratagan auf dem Kampfplatz, und seine Axt fuhr mit einem dumpfen Geräusch in den Hals der Kreatur. 172
Sie drang tief in das Holz, und er riß sie heraus, während die Myrcaner mit ihren Stäben auf das Wesen einstachen. Murtach rief Fife und Drum zu sich, und sie zogen sich knurrend zurück. Die Bestie schien unversehrt zu sein, und die Stäbe prallten wirkungslos an ihr ab. Ihr riesiges Maul schloß sich um Ratagans Unterschenkel, und er stürzte schreiend zu Boden. Sinnlos hämmerten seine Fäuste auf den Kopf des Wesens. Plötzlich ließen die Myrcaner ihre Waffen fallen und fielen mit bloßen Händen über ihren Gegner her. Sie rangen mit ihm, und es gelang ihnen, Ratagan zu befreien und das Tier in Richtung des Feuers zu ziehen. Der Hund hieb wild um sich und konnte einen der Angreifer gegen einen Baum schmettern. Der Myrcaner mußte seinen Griff lockern. Allein konnte sein Kamerad den Hund nicht halten, und dieser entwand sich beißend und stoßend der Umklammerung. Dann sah Riven zu seinem namenlosen Schrecken, daß die Bestie sich wieder gegen ihn wandte. Doch Bicker und Murtach attackierten den Hund jetzt mit brennenden Ästen, die sie aus dem Feuer gerissen hatten. Sie stießen sie in sein Gesicht, und zum ersten Mal heulte die Bestie vor Schmerzen und zog sich wild um sich schlagend zurück. Auch die beiden Myrcaner hatten zu Fackeln gegriffen, obwohl der Arm des einen nutzlos an seiner Seite hing. Zu viert umzingelten sie den Hund und stießen ihn mit den lodernden Scheiten. Er krümmte 173
sich vor Schmerz und schnappte nach ihnen, wich aber vor den Flammen zurück. Schließlich heulte er wütend auf, und Riven sah, wie sein hinteres Ende in den Boden sank. Die Kreatur schraubte sich rückwärts in den Grund, bis man nur noch die schwarze, rotierende Schnauze sah. Dann war sie verschwunden. Das Gras wirkte an der Stelle, wo die Erde das Wesen verschluckt hatte, unversehrt. Die Gefährten standen reglos da. Die Fackeln warfen gespenstische Schatten in die Bäume ringsum. Es war nichts zu hören, außer dem Knistern des Feuers, Ratagans schwerem Atmen und dem Schnuppern der Wölfe, die sich an Murtach schmiegten, um sich zu vergewissern, daß er unverletzt war. »Er ist weg«, sagte Bicker schließlich und warf seine Fackel wieder in das Feuer. Die anderen folgten seinem Beispiel. Er ging hinüber zu Ratagan, der mit schmerzverzerrtem Gesicht am Rande des Feuerscheins lag, und bückte sich, um die Wunde an dessen Bein zu untersuchen. Der unverletzte Myrcaner kümmerte sich um seinen Kameraden. Riven ging zu Murtach, der den Blick ringsum schweifen ließ, Ratagans Axt in den Fäusten. »Das war ein Gogwolf«, stellte Riven fest. Er zitterte immer noch. Murtachs Schoßhunde beäugten ihn mißtrauisch. Ihr Herrchen sah ihn grimmig an. »In der Tat. Eines deiner Monster. Ein Geschöpf der 174
Bäume und der Erde, das sich in der Erde so schnell vorwärts bewegen kann wie wir auf ihr. Es folgt den Wurzeln der Bäume.« »Er sah wirklich so aus, als wäre er aus Holz.« Murtach wirkte ein wenig ungeduldig. »Das ist er auch, und seine Haut ist so hart wie die Rinde der härtesten Eiche.« Dann zuckte er die Schultern. »Wir hätten früher daran denken sollen, aber es ist sehr lange her, daß einer von uns einem Gogwolf begegnet ist. Wir hätten nie gedacht, daß man so weit südlich der Bergwälder auf welche trifft. Das ist kein gutes Zeichen.« »Was ist mit Ratagan?« Murtachs ernste Miene entspannte sich. »Ratagan? Er ist selbst zäh wie eine Baumwurzel. Der Biß ins Bein macht ihm nicht viel aus.« Sie schwiegen. Bicker erhitzte Wasser in einem Kupfertopf und riß ein Kleidungsstück in Streifen, um Wunden zu verbinden. »Wird er zurückkommen?« fragte Riven. Er staunte immer noch. Ich habe einen Gogwolf gesehen. Murtach schüttelte den Kopf. »Wir haben ihn verletzt, und er war allein. Wenn noch mehr da gewesen wären, hätten wir den Wald verlassen müssen, aber ich glaube, jetzt sind wir hier sicher. Und das ist gut so, denn unsere Verletzten können etwas Ruhe gebrauchen.« »Er hatte es auf mich abgesehen«, stellte Riven fest. Er konnte das Bild des 175
aufgerissenen schwarzen Mauls nicht vergessen. »Vielleicht«, antwortete Murtach. »Das ist etwas, was wir zusammen mit anderen Dingen in Ralarth Rorim diskutieren können.« Er strich abwesend über Fifes Ohren und schien nicht die Absicht zu haben, mehr zu diesem Thema zu sagen. Bicker rief sie zu sich. Er brauchte noch mehr heißes Wasser. Ratagans Wunde war voller Lehm und mußte sorgfältig gereinigt werden. Seine ganze Wade war aufgerissen und blutverschmiert. Der große Mann stieß wilde Flüche aus, während er Bicker bei der Behandlung zuschaute. »Verfluchtes Biest. Ich werde ein paar Tage flachliegen, wenn wir zu Hause sind.« »Aber die Frauen werden dich dafür lieben«, antwortete Bicker grinsend. Ratagan lachte und sah sich dann um. »Mole, du übelriechender Zwerg, wo ist meine treffliche Waffe?« »In ebenso trefflichen Händen, Tolpatsch. Sie fragt sich, ob ihr Herr betrunken war, als er sie auf die Bestie niedersausen ließ.« »Betrunken oder nüchtern, sie hat einen größeren Eindruck hinterlassen als dein Hirtenstäbchen.« Riven richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Myrcaner, die schweigend am Feuer saßen. Der Verletzte — er konnte sie noch immer nicht auseinanderhalten — hatte seinen 176
Arm bereits geschient und verbunden. Riven schüttelte den Kopf. Unglaublich, diese beiden. Bicker erhob sich und wischte sich die Hände ab. »Es wäre am besten, den Wald zu verlassen, aber ich denke mit Rücksicht auf die Wunden, die wir erlitten haben, sollten wir bis morgen früh hier bleiben.« Er schnitt Ratagans Protest mit einer knappen Geste ab. »Wir werden Wachen aufstellen und ein großes Feuer machen. Wir können es uns nicht leisten, noch einmal so überrascht zu werden. Wenn es Gogwölfe in Scarall gibt, wer weiß, was sich noch hier herumtreibt.« Er bückte sich, stöberte in seinem Rucksack herum und grunzte, als er gefunden hatte, wonach er suchte. Etwas blitzte in seiner Hand auf, dann durchzuckte ein Blitz die Luft und entpuppte sich als Dolch, der sich vor Rivens Füßen in das Gras bohrte. »Der ist für den Geschichtenerzähler«, sagte er und sah Riven mit einem schiefen Lächeln an. »Damit seine Geschichten ihm nicht noch zum Verhängnis werden.« Riven zog die Waffe aus dem Boden. Sie war schwer, ein breites zweischneidiges Messer mit einer dreißig Zentimeter langen Klinge. Er stieß einen leisen Pfiff aus, als er mit dem Daumen über die Schneide strich. »Bei euch wird nicht lange gefackelt.« »Das können wir uns auch nicht erlauben«, anwortete Bicker kurz. »Du weißt jetzt, warum.« Er schnürte seinen Rucksack wieder zu. »Wir beide übernehmen die erste Wache. 177
Viel Schlaf wird es diese Nacht nicht geben, aber morgen um diese Zeit werden wir im Rorim sein.« »Ralarth Rorim.« »Ja. Das zumindest wird dir vertraut sein. Aber es gibt mehr in Minginish als in deinen Geschichten.« »Das glaube ich gern.« Die anderen schliefen, und Riven begann einzunicken. Den kalten Dolch hielt er umklammert. Er rieb sich die Augen. »Bicker?« »Ja?« »Sprich mit mir. Ich schlafe sonst ein.« Bicker reinigte sein Schwert mit einem Stück harten Leders. »Schon wieder eine Geschichte? Du wirst noch aus mir einen Geschichtenerzähler machen.« »Sag mir zum Beispiel, wie Murtach mich gefunden hat. Er war in Beechfield, aber er war ein alter Mann. Wie kann das sein? Wie viele von eurem Volk wissen von mir?« Bicker schnalzte mit der Zunge. »Wir sind sozusagen eine Verschwörung, wir sind ...« Er deutete auf die Schlafenden. »Wir wollten beenden, was mit Minginish geschieht. Murtach und Ratagan sind meine Stiefbrüder, genau wie in deinen Büchern. Ord und Unish gehören zu der myrcanischen Schutztruppe von Ralarth Rorim. Ich bin der Erbe des Warbutt, wenn auch wohl kaum ein Prinz.« Er 178
grinste schief. »Der Warbutt mißbilligt meine ... Wanderungen.« »Weiß er, was sich hier abspielt?« »Natürlich. Die myrcanische Schutztruppe handelt nicht ohne die Erlaubnis ihres Herrn.« »Erzähl mir vom Ralarth Rorim. Und von deiner Familie.« Riven verkniff sich die Fragen, die ihn am meisten bedrängten, besonders die nach Jenny. Sie verursachten ein flaues Gefühl in der Magengrube. Bicker fuhr sich durch den Bart. »Es gibt nicht viel zu erzählen, was du nicht schon weißt. Der Rorim ist alt, wie vieles in Minginish. Er wurde erbaut, lange bevor die ersten Bestien aus den Bergen kamen. Doch er wurde in einer Zeit gegründet, als die Dales in Feindschaft miteinander lebten, und es gab damals mehr Kriegszüge. Hauptsächlich um den Besitz von Vieh und Waffen. Manchmal wegen Frauen. Er ist zugleich Festung und Wohnstätte, und obgleich viele Menschen dort wohnen, können sich im Notfall noch wesentlich mehr dort versammeln. Seine Mauern sind nicht hoch aber lang, und innerhalb dieser Mauern befinden sich Weiden für das Vieh und eine Quelle, die niemals versiegt.« Riven dachte einen Moment über das Gesagte nach. »Und deine Familie?« fragte er dann. »Meine Mutter ist tot«, antwortete Bicker knapp. »Den Warbutt, meinen Vater, wirst du treffen. Murtach und Ratagan sind Söhne von 179
Hauptleuten meines Vaters. Das ist meine Familie.« »Was ist mit der Bevölkerung? Wie sind sie? Sind sie so ... wie ich sie mir vorgestellt habe?« Bicker lächelte. »Im großen und ganzen schon. Der Schutztruppe gehören etwa zwei Dutzend Männer an, geschulte Kämpfer, die von den Myrcanern ausgebildet wurden. Ihr Befehlshaber ist Udairn, Ratagans Vater. Murtachs Vater, Guillamon, ist der weiseste Mann in Minginish — das behauptet jedenfalls Murtach. Er ist der Warden von Ralarth. Es gibt Leute, die glauben, er sei ein mächtiger Zauberer.« Bicker warf Riven einen schnellen Blick zu. »In deiner Geschichte gibt es einen Zauberer.« Riven nickte ungeduldig. »Niemand zählt unser Volk, aber wir sind viele. Die meisten sind Schäfer oder Farmer, die den Boden rings um den Rorim bestellen. Zwischen den Schäfern und den Farmern ist jetzt Streit ausgebrochen, weil die Herden von den Bestien aus den Hügeln vertrieben worden sind und der Raum eng geworden ist. Es hat Ärger gegeben, und die Schutztruppe hatte noch nie so viel zu tun.« »Was sind das für Bestien, die aus den Bergen kommen?« Bicker strich mit dem Finger über die Schwertklinge. »Du kennst jetzt den Gogwolf — obwohl das der erste ist, der so weit im Süden angetroffen wurde. Ein schlechtes Omen. Dann gibt es normale Wölfe, doch sie sind aggressiver als jemals zuvor. Dann gibt es 180
Wesen wie die Grypeshs, die Rattenschweine, die Eisriesen und die Eiswürmer. Sie alle gibt es schon seit langer Zeit, aber sie blieben immer in ihren Revieren in den Bergen, und nur Jäger und Wanderer trafen gelegentlich auf sie und brachten abenteuerliche Geschichten von diesen Begegnungen in die Dales. Doch jetzt terrorisieren sie die Dales, durchstreifen nach Belieben die Hügel und schneiden ein Dorf von dem nächsten ab. Nur hartgesottene Leute reisen heute noch, und auch sie nur dann, wenn es sich nicht vermeiden läßt.« »Die Eisriesen kenne ich«, sagte Riven. Er stieß seinen neuen Dolch in den Boden. »Im Krankenhaus habe ich geträumt, daß ich mit dir und Ratagan gegen einen von ihnen kämpfe.« Er erwähnte nicht, daß der Riese mit Jennys Stimme gesprochen hatte. Vor diesem Teil dieser Welt fürchtete er sich noch zu sehr. Der Gedanke, daß Jenny irgendwo hier sein mochte, flößte ihm Angst ein, brach ihm fast das Herz. »Guillamon, Murtachs Vater, hat dich im Traum gesehen«, sagte Bicker ernst. »Er war es, der mich drängte, nach Staer zurückzukehren, obwohl mein Vater dagegen war. Murtach begleitet mich aus Abenteuerlust und weil seine Fähigkeiten nützlich sein konnten.« »In dem Buch ist er ein ... Gestaltenwandler«, sagte Riven. Er wählte den Ausdruck mit Bedacht. 181
Der dunkle Mann nickte. »In deiner Welt gibt es keine Magie, aber hier ist das anders.« »Er war ein Werwolf«, sagte Riven und warf den beiden Wölfen, die dösend am Waldrand lagen, einen nervösen Blick zu. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. »Murtach kann in vielen Formen auftreten«, bestätigte Bicker. »Er hat außergewöhnliche Fähigkeiten, wie sein Vater. Er ist ein Segen für uns alle.« Aber Riven mußte an eine Szene denken, die er einmal geschrieben hatte, in der Murtach nach seiner Verwandlung mit seinen beiden Wölfen das mondbeschienene Hochmoor durchstreift hatte. Er schüttelte den Kopf. »Unglaublich«, murmelte er. Plötzlich mußte er wieder daran denken, wie er sich mit Doody betrunken hatte und dann durch das Fenster ein schattenhaftes Wesen mit spitzen Ohren gesehen hatte, das aus der Dunkelheit draußen in das Zimmer blickte. Was sind das nur für Leute? »All dies — alle diese Schwierigkeiten. Der Winter, von dem du sagst, daß er plötzlich kam und jetzt wieder verschwand, die Monster aus den Bergen. All dies ist erst im vergangenen Jahr geschehen — seit Sgurr Dearg?« »So ist es.« »Und du glaubst, daß ich irgendwie dafür verantwortlich bin, nicht wahr?« Bicker antworete nicht. 182
Die Nacht verging ohne weitere Zwischenfälle, und am Morgen machten sie sich wieder auf den Weg. Murtach und die Wölfe gingen an der Spitze. Dann folgte Bicker. Er half dem übelgelaunten Ratagan, der sich schwer auf den Stiel seiner Axt stützte. Riven ging hinter ihnen, das neue Messer im Gürtel. Den Schluß bildeten die beiden Myrcaner. Der Verletzte trug den Arm in einer Schlinge. Die Landschaft veränderte sich unterwegs. Sie waren bisher durch eine heideartige Hügellandschaft gekommen, aber jetzt wurde die Gegend flacher und begann in eine weite Ebene abzufallen. Vor ihnen öffnete sich ein Ausblick auf flacheres Land, von Flüssen durchzogen und von vereinzelten Wäldern durchsetzt. Es erstreckte sich bis zum Horizont, wo blaue Schatten wieder Hochland vermuten ließen. Riven starrte hinab. Täler, von denen wieder Täler abgingen. Minginish war viel größer, als er bei seinem ersten Blick oben auf dem Berg bei dem Tor vermutet hatte. Es gab hier Spottdrosseln und Feldlerchen. Das Gras war nicht so gelblich wie im Hochland, und das Heidekraut verschwand langsam. Wie er es in seinem Buch beschrieben hatte. Er wußte nicht, ob ihn das erschrecken oder trösten sollte. Er konnte jetzt gelb leuchtende Getreidefelder erkennen, und Häuser, aus denen Rauchfahnen aufstiegen. Pfützen von Schmelzwasser hatten sich in Mulden gebildet, 183
und im Schatten der steileren Abhänge gab es noch vereinzelte Schneereste. »Ralarth«, sagte Bicker glücklich. »Es kommt mir vor, als hätte ich es seit Jahren nicht mehr gesehen.« »Es ist noch da«, grollte Ratagan. »Obwohl der Warbutt dir zweifellos das eine oder andere zu erzählen haben wird, wenn wir zum Rorim kommen.« »Hat er das nicht immer?« Plötzlich ertönte ein leises Dröhnen, und dann tauchten zwei Reiter vor ihnen auf. Erdklumpen flogen unter den Hufen ihrer Pferde davon wie aufgescheuchte Vögel. Sie sprengten in voller Kriegsausrüstung heran, mit glänzenden Helmen und klirrendem Harnisch. Riven wußte nicht, wann er zuletzt etwas so Eindrucksvolles gesehen hatte. Sie preschten auf die Wanderer zu, zügelten ihre Rösser unmittelbar vor ihnen und warfen grüßend die Hände hoch. »Sei gegrüßt Bicker! Ist Ratagan gestolpert und hat sich verletzt?« Bicker grinste zurück. »In der Tat. Und diesmal war er nüchtern.« »Du Welpe, Dunan!« polterte Ratagan. »Während du dir den Hintern am Kamin gewärmt hast, haben wir uns mit den Bestien aus den Bergen herumgeschlagen und einen Geschichtenerzähler von der Insel der Nebel geholt.«
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Die Augen des Kriegers weiteten sich. »Das sind wahrhaftig Neuigkeiten. Braucht ihr Hilfe bis zum Rorim?« Bicker schüttelte den Kopf. »Wir schaffen es zu Fuß, sogar Ratagan. Aber du kannst unsere Ankunft melden.« Dunan hob wieder grüßend die Hand. »Das werde ich tun. Ich glaube, meine Schwester Mira wird mehr als erfreut sein, dich wiederzusehen.« Dann wendeten die beiden ihre Pferde und donnerten den Hang hinab. Sie erblickten den Rorim eine Stunde später, als sie die letzte Anhöhe vor dem Dale von Ralarth überquert hatten und das Tal wie eine ausgebreitete Decke vor ihren Augen lag. Eine drei Meter hohe Mauer aus Bruchsteinen lief wie ein geschlängeltes Band über den welligen Boden des Tals. Sie wurde von mehreren Toren unterbrochen, die alle von einem Wachturm überragt wurden. Riven schätzte, daß die Mauer etwa drei Quadratmeilen umschloß. Auf dem umfriedeten Gebiet erkannte er grasende Viehherden und Häusergruppen. In der Mitte des Weidelandes erhob sich ein kreisförmiger Erdwall, auf dem sich eine weitere Mauer erhob, die höher war als die Außenmauer. Hinter dieser Befestigung lagen zahlreiche große Gebäude: Langhäuser und kleinere Wohnstätten aus Stein und Holz. Einige hatten rasenbedeckte Dächer. Die Gebäude standen so eng beieinander, daß sich ihre Mauern oft berührten, und Riven erkannte Durchgänge 185
und Anbauten, die die Häuser miteinander verbanden. Das größte Gebäude war aus Stein gebaut, drei Stockwerke hoch und hatte Glasfenster. Auch bei diesem Haus gab es im Erdgeschoß nur schmale Fensterschlitze, und es hatte eine massive zweiflügelige Holztür. Am hinteren Ende des Gebäudes erhob sich ein quadratischer Turm mit größeren Fenstern, der den ganzen Rorim überragte und von dessen Zinnen ein blaues Banner flatterte. Aus einem halben Dutzend Kaminen und Luken stieg Rauch auf. Die Ansiedlung wirkte verschlafen, obwohl jemand Pferde über den freien Platz vor dem großen Gebäude führte. »Der Warbutt wird ohne Zweifel unsere Ankunft beobachten«, sagte Bicker und winkte mit der freien Hand in Richtung des Rorim. »Solange sie schäumendes Bier in der Manse für uns bereithalten, kann er von mir aus an seinen Zehen lutschen«, sagte Ratagan. Er war erschöpft, und man merkte ihm jetzt an, daß er Schmerzen hatte. Mit zerfurchtem Gesicht stützte er sich schwer auf Bicker. »Ist es schlimmer geworden?« fragte Bicker ihn besorgt. »Es wird nicht besser, Dunkler, aber ich werde mich nicht wie eine Schwangere in unsere Mauern tragen lassen; laßt uns also unsere fröhliche Wanderung fortsetzen.« Dunan erwartete sie an einem Tor der Außenmauer. Er trug seine schimmernde Metallrüstung, und er hatte eine ebensolche Schärpe wie Ratagan. Der große Mann ließ 186
sich dazu überreden, ein Pferd zu besteigen, und sie kamen schneller voran, als sie jetzt über die Weiden zum eigentlichen Rorim schritten. Sie wateten durch einen kristallklaren Bach, der innerhalb der Festungswälle entsprang, und kamen schließlich an die Pforte des Rorims. Die schweren Torflügel waren geöffnet, aber mehrere Männer in Rüstungen und blauen Schärpen patroullierten auf dem Holzgang, der innen an der Mauer entlanglief; die Spitzen ihrer Lanzen funkelten in der Sonne. Zwei quadratische Türme und die ihnen angeschlossenen Langhäuser flankierten das Tor. An der Wache mußten sie ihre Waffen abgeben. Riven bemerkte allerdings, daß die Myrcaner ihre Stäbe behielten. Er händigte dem Wachtposten den Dolch aus, den Bicker ihm gegeben hatte, und sah sich um. Sie befanden sich auf dem Platz vor dem größten Gebäude des Rorim — demjenigen, das Ratagan als >Manse< bezeichnet hatte. Der Platz war gepflastert, und in der Mitte befand sich ein Brunnen. Eine Gruppe von Frauen in braunen Kleidern schöpfte Wasser mit Holzeimern. Sie unterbrachen ihre Arbeit und starrten die Ankömmlinge an, besonders Riven. Er fühlte sich fehl am Platz mit seiner Wanderkleidung und dem Rucksack über der Schulter. Erstaunt und verärgert mußte er feststellen, wie sehr er sich der Narben in seinem Gesicht bewußt war. Mit einem stillen Fluch wich er den forschenden Blicken aus. 187
Die Türen der Manse öffneten sich, und zwei Männer traten heraus, dicht gefolgt von zwei Myrcanern. Der eine, ein breitschultriger Mann mit einem mächtigen blonden Bart, der ihm bis auf die Brust reichte, trug die Rüstung und Schärpe der Schutztruppe. Der andere war schmächtiger, ein grauhaariger und glattrasierter Mann mit leuchtend blauen Augen. Er trug einen schlichten Umhang und Hosen, um seinen Hals hing jedoch eine goldene Kette. Die Myrcaner waren — und das überraschte Riven nicht — Ord und Unish wie aus dem Gesicht geschnitten. Ratagan stieg mit einem Stöhnen vom Pferd und stützte sich auf Bickers Schulter. »Ich grüße dich, Vater«, sagte er. Der blondbärtige Mann legte seine großen Hände auf Ratagans Schultern. »Ärger gehabt, was? Deine Mutter war wie immer besorgt um dich, Ratagan. Mit gutem Grund diesmal, wie es scheint.« Er lächelte fast entschuldigend, aber Ratagan grinste ihn nur an. Die beiden Männer und die Myrcaner gingen zurück in das Haus, und die Neuankömmlinge folgten ihnen. Niemand schien von Riven Notiz zu nehmen, doch dann bemerkte er, daß der grauhaarige Mann ihn scharf musterte. Er mußte seinem Blick ausweichen. »Der Warbutt erwartet euch alle«, sagte der Grauhaarige. Seine Stimme war so spröde wie Herbstlaub. »Ich werde mich um eure Verletzungen kümmern, während ihr mit ihm 188
sprecht. Er wartet ungeduldig auf Neuigkeiten. Besonders von dir, Bicker.« Bicker seufzte. »Das habe ich mir gedacht, Guillamon. Ich bin länger fortgewesen, als wir alle dachten.« »Aber du hast deine Aufgabe erfüllt.« Es war eine Feststellung. »Ja.« Bicker deutete mit dem Kopf auf Riven, und wieder blickten diese leuchtend blauen Augen ihn einen Moment lang an. Sie betraten eine kleine Halle. Der Boden war mit Fliesen belegt, und Wände und Decke waren mit dunklem Holz vertäfelt. Die Myrcaner verließen sie hier. Dann folgten sie Guillamon und Ratagans Vater durch eine zweiflügelige Tür und kamen in eine große Halle, deren mächtige Deckenbalken sich über ihren Köpfen kreuzten. Staub tanzte in den Lichtstreifen, die durch die schmalen Fenster unter der Decke fielen. An den Wänden glänzten vergoldete Stofftapeten und alte Waffen. Im Kamin brannte kein Feuer, aber eine einzelne Kohlenpfanne glühte im Hintergrund des Raumes neben zwei hochlehnigen, thronähnlichen Stühlen. Auf dem rechten Stuhl saß jemand ruhig. Er erhob sich, als sie sich mit hallenden Schritten näherten. »Bicker. Mein Sohn ist zurück.« Er war alt, sehr alt. Das Haar über dem scharfgeschnittenen Gesicht war schlohweiß. Er wirkte wie ein Adler in der Mauser. 189
»Vater.« Bicker umarmte den alten Mann, und der setzte sich wieder. »Wie ich sehe, hat Ratagan etwas Pech gehabt. Ihr müßt mir viel zu erzählen haben. Guillamon, könntest du dafür sorgen, daß die Wasserschüsseln und das Essen und Trinken hereingebracht werden? Ich würde einen Bediensteten rufen, aber je weniger Ohren in diesem Raum sind, desto besser.« Guillamon nickte wortlos und verließ den Saal durch eine kleine Tür links neben den Stühlen. Alle schwiegen für einen Augenblick. Riven trat nervös von einem Fuß auf den anderen, und Bicker löste den Verband um Ratagans Bein. Murtach blickte düster auf den Steinboden, wo sich seine Wölfe zufrieden ausgestreckt hatten. Nach einigen Minuten erschienen Diener mit Schüsseln und Töpfen. Sie setzten ab, was sie gebracht hatten, und wurden dann von Guillamon schnell wieder hinausgedrängt. Er verbeugte sich tief vor dem Warbutt und setzte sich dann auf eine Plattform beim Kamin, in der Nähe der Gefährten. Für jeden gab es eine Schüssel mit schwach dampfendem Wasser, hellweißem Sand und ein grobes Handtuch. Des weiteren Krüge mit kaltem Bier sowie Käse, Äpfel, Fleisch, Brot und Honig. Sie wuschen sich, rieben sich mit dem feinen Sand den Schmutz hinunter und aßen dann, während der Warbutt sie mit ausdrucksloser Miene betrachtete. Fife und Drum machten sich über 190
Markknochen her. Das Splittern der Knochen klang laut durch die Stille in der Halle. Riven hörte Stimmen von draußen, entferntes Gelächter und das leise Muhen von Rindern. Ratagan setzte seinen leeren Bierkrug ab und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. »Ah!« sagte er. »Das ist bessere Medizin, als irgendein Quacksalber sie verabreichen kann.« Guillamon kicherte, aber Udairn, sein Vater, sah ihn ernst an. »Wer hat das getan?« fragte er und blickte auf den Unterschenkel seines Sohnes. Ratagan zuckte mit den Schultern. »Ein Gogwolf, im Wald von Scarall.« Die beiden älteren Männer sahen sich an, aber der Warbutt hob die Hände, bevor sie etwas sagen konnten. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er scheinbar gelassen, aber seine Augen blitzten. Nachdem Ratagans Bein frisch verbunden worden war, forderte der Warbutt Bicker auf, von seinem Ausflug auf die Insel der Nebel zu berichten. Der dunkelhaarige Mann warf einen Blick auf Bicker, der sich nach dem Waschen und der Mahlzeit viel besser fühlte, und begann zu erzählen. »Ich bin lange unterwegs gewesen. Es ist acht Monate her, seit Murtach und ich uns auf den Weg nach Staer gemacht haben, durch die Schneestürme, die mitten im Sommer unser Land verwüsteten. Acht lange Monate — die meiste Zeit davon in einem fremden Land, 191
einer fremden Welt. Und sehr oft war ich allein. Es gab Momente, in denen ich dachte, daß der Sohn des Warbutts sich eine Suppe eingebrockt hat, die er nicht auslöffeln kann.« Er grinste schwach. »Murtach wird euch erzählt haben, was sich in der Zeit ereignet hat, nachdem er Michael Riven entdeckt hatte. Er kam wieder in den Norden, berichtete mir, was sich ereignet hatte, und verschwand durch das Tor in unsere Welt. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf der Insel auszuharren, bis der Geschichtenerzähler wieder in den Norden kam. Ich wußte, wo er lebte — das und noch viel mehr hatten wir in langen durchzechten Abenden mit den Einwohnern der Insel erfahren. Ich verbrachte eine lange, anstrengende Zeit in einem kleinen Verschlag hinter seinem Haus. Ich hatte noch etwas von dem Gold, mit dem Murtach und ich Geld der fremden Welt eingetauscht hatten, aber die meiste Zeit lebte ich von der Jagd und von Nahrungsmitteln, die ich aus den Gärten stahl. Ich lebte wie ein wildes Tier.« Bicker schwieg nachdenklich und nahm einen kräftigen Schluck Bier. »Ich hatte diese andere Tür zwischen den Welten zufällig entdeckt, als ich einem dunkelhaarigen Mädchen folgte, das die Insel durchstreifte. Ich sah, wie sie durch das Tor verschwand. Sie gehörte nicht zu dieser fremden Welt — das war mir sofort klar. Sie war wild wie eine Robbe und ließ mich nicht in ihre Nähe. Ich fragte mich, ob sie eine 192
Angehörige unseres Volkes sei, die versehentlich in die Welt der Insel geraten war und ihren Verstand verloren hatte, aber sie hatte etwas an sich, das mich daran zweifeln ließ. Sie schien etwas zu suchen — oder jemanden. Ihre Augbrauen waren in der Mitte zusammengewachsen. Das seltsame ist, daß ich sie kurz darauf wiedersah. Ein paar Tage, nachdem sie durch das Tor verschwunden war, tauchte sie wieder auf. Sie hielt sich in einem alten, verlassenen Anwesen in einem Tal der Insel auf, das die Bewohner Glenbrittle nennen. Sie konnte in der kurzen Zeit nicht in Minginish von dem einen Tor zum anderen gelangt sein; sie kennt also noch andere Tore, oder sie kann sie in beide Richtungen passieren, nicht nur in eine, so wie wir. Dort habe ich sie zum letzten Mal gesehen. Danach dauerte es nicht mehr sehr lange, bis Michael Riven in sein Haus zurückkehrte und ich ihn hierher locken konnte. Und so steht er jetzt vor euch — nicht gänzlich unwillig, wie ich hoffe.« Bicker schwieg und sah Riven an, aber der gab den Blick nicht zurück. Glenbrittle. Sie war in ihrem alten Zuhause gewesen, dort wo wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Aber dort ist niemand mehr, der sie kennt. Guillamon nickte. »Du hast richtig gehandelt, Bicker, wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was du und Murtach über diesen 193
Mann angedeutet habt. Doch erzähl weiter: Was geschah nach der Rückkehr nach Minginish? Wie kamen Unish und Ratagan zu ihren Wunden?« »Das kann ich dir sagen, und noch mehr«, sagte Murtach plötzlich. Seine Augen waren ebenso blau wie die seines Vaters. »Ratagan und ich machten uns vor zwei Wochen zusammen mit den beiden Myrcanern auf den Weg zum Tor, um Bicker dort zu erwarten. Ich hatte eigentlich direkt am Tor warten wollen, aber bevor wir uns trennten, hatte Bicker durchgesetzt, daß wir erst nach einem Tagesmarsch mit ihm zusammentreffen würden. So hatte er etwas Zeit, Michael Riven klarzumachen, was mit ihm geschehen war, bevor noch mehr fremde Gesichter ihn verwirrten.« Er grinste an dieser Stelle, aber Riven blickte nur finster vor sich hin. »Wißt ihr, für Riven bin ich gleichzeitig ein Fremder und ein alter Bekannter. Im Süden kannte er mich als einen wirrköpfigen Greis; ich hatte mir erlaubt, in der Heilstätte, wo er wohnte, so aufzutreten. Aber Michael Riven kennt mich auch noch woanders her — so wie er uns vielleicht alle kennt, und ganz Minginish.« »Genug jetzt davon«, sagte Guillamon, und sein Sohn verbeugte sich leicht vor ihm. »Die Geschichte vom Rest meines Ausflugs in die fremde Welt kennt ihr«, sagte er. »Sie ist nicht sonderlich erfreulich. Die Luft ist dort verschmutzt, und das Wasser ist schal, der 194
Boden ist mit Teer und behauenen Steinen bedeckt. Über den Städten hängen Schmutzwolken, und ihre Flüsse ersticken im Unrat. Ich möchte nie wieder dorthin zurück. Ich und Fife und Drum ...« Die beiden Wölfe spitzten die Ohren und sahen ihr Herrchen forschend an. »Hatten alle Mühe, irgendwie unser Leben zu fristen, trotz des Goldes, das ich bei mir hatte. Sogar die Gastfreundschaft hat in dieser Welt ihren Preis, und Reisenden begegnet man mit Mißtrauen. Mehrmals hätten mich fast die Schutztruppen in dieser Welt aufgegriffen. Jedesmal änderte ich mein Aussehen und stahl mich davon. Wie es aussieht, gibt es keine Magie in dieser Welt. Außer in den Geschichten, die man sich dort erzählt. Und das war meine kurze Geschichte.« Er trank von seinem Bier und versetzte Ratagan, der zu dösen schien, einen leichten Stoß. Der große Mann schreckte auf. »Ich sollte euch dann wohl von unseren letzten Abenteuern berichten.« Er blinzelte und blickte für einen Moment bedauernd auf seinen leeren Krug. »Es gibt nicht viel zu erzählen, außer, daß es richtig war, daß wir Ord und Unish mitgenommen haben. Auf unserem Weg in die Berge sahen wir viele Wölfe, aber sie hielten sich von uns fern. Wir bemerkten auch einzelne Grypeshs. Wir machten die Hälfte eines kleinen Rudels nieder, das uns folgte, als wir durch den Schnee der ersten Hügel marschierten. Die übrigen flohen. In dem 195
Tauwetter, das dem Schnee folgte, kamen wir besser voran. Dennoch hätten wir Pferde gebrauchen können. Am ausgemachten Platz warteten wir auf Bicker, und einmal in seinem Leben war der Bursche halbwegs pünktlich. Wir brachen nach Norden auf — eine leichte Wanderung bei gutem Wetter —, aber in Scarall griff uns ein Gogwolf an. Er zerfleischte mein Bein und brach Unish den Arm, bevor wir ihn vertreiben konnten. Den Rest kennt ihr.« Udairn schüttelte den Kopf. »Gogwölfe so nah bei Ralarth. Das ist neu. Es gefällt mir nicht. Die Schutztruppen müssen informiert werden.« »Was hat sich ereignet, während ich weg war?« fragte Bicker. Er sah seinen Vater an, doch von dem kam keine Antwort. »Nichts Gutes«, sagte Guillamon leichthin. »Wie Ratagan erwähnt hat, sind Grypeshs in der Nähe von Ralarth aufgetaucht, die Herden können nicht mehr allein gelassen werden. Die Schutztruppen haben alle Hände voll zu tun.« Er nickte Udairn zu, der tief seufzte. »Sechsundzwanzig Männer und acht Myrcaner, die zum Großteil um den Rorim herum postiert sind, können nicht das ganze Tal und die angrenzenden Hügel kontrollieren. Dieser Winter zur Unzeit hat die gesamte Ernte zerstört. Das Tauwetter kam zu spät. Die Männer, die auf den Feldern keine Arbeit mehr haben, werden an Waffen ausgebildet. Dunan kümmert sich darum. Ich möchte die Schutztruppen verstärken und habe Luib und 196
Druim von den Myrcanern mit der Ausbildung beauftragt, aber davon werden wir nicht so bald profitieren. Erprobte Kämpfer fallen nicht vom Himmel, im Gegensatz zu den Problemen, die unser Dale bedrohen.« Dann sprach der Warbutt. Er sah Bicker dabei an. »Während du unterwegs warst, haben wir Dutzende von Leuten durch die Bestien verloren. Wölfe sind bis an unsere Außenmauer herangekommen. Wir sind eine Insel geworden. In ein paar Monaten wird Hunger herrschen. Du wirst hier mehr gebraucht, als an irgendeinem Ort jenseits des Tors.« Bicker errötete jäh. »Zweifelst du an der Wichtigkeit meiner Mission?« »Ich muß erst von ihrem Wert überzeugt werden«, anwortete der alte Mann ruhig. Er sah Riven an. Jetzt war es an Riven zu erröten. Er betrachtete den Mann auf dem hohen Stuhl. Bis zu diesem Augenblick war er von den Erzählungen Bickers, Ratagans und Murtachs gefesselt gewesen, hatte unwägbare Dinge erwogen. Zu seinem Schrecken war ihm klar geworden, in welche Situation Bicker ihn gebracht hatte — und was seine Rolle hier sein könnte. Dazu nagte unterbewußt die Vermutung an ihm, daß Jenny lebte und sich höchstwahrscheinlich hier in Minginish befand. Wenn er daran dachte, wäre er am liebsten aus dieser Halle gestürmt, aus dem Rorim hinaus und in die von Wölfen durchstreiften 197
Hügel, um seine Frau zu finden. Dann sah er wieder ihre Augen vor sich, damals in der Hütte — leer und verängstigt. Er hätte vor Verzweiflung heulen können. Und jetzt sah ihn dieser alte Mann, den er in seinen Büchern als hochtrabenden Reaktionär beschrieben hatte, geringschätzig an. »Verdammt, das ist wirklich der Gipfel«, rief er aufgebracht. »Was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid? Ihr holt mich aus meiner Welt, aus meinem Leben und schleppt mich in dieses mittelalterliche Disneyland, erzählt mir wüste Geschichten von Tod und Untergang, bringt mich beinahe um mit einem Hund, der aus Holz ist, und dann setzt ihr euch vor mich hin und redet über mich, als sei ich gar nicht hier. Nun, ich bin hier — hier in eurer wundervollen, verdammten Welt —, und wenn ich euch helfen soll, schön und gut; aber bevor ich das tue, hört ihr gefälligst auf, mich wie ein Kind zu behandeln, das nicht weiß, was vor sich geht. Ich habe euch schließlich erschaffen!« Er brach ab. »Ich habe euch erschaffen ...« wiederholte er heiser. Es war totenstill. Fife und Drum richteten aufmerksam ihre Ohren auf. Schließlich brach der Warbutt das Schweigen. »So«, sagte er, noch immer in dem gleichen ruhigen Ton. »Er ist also doch nicht stumm. Das freut mich.« Die alten hellen Augen ruhten auf Riven. »Wenn wir dich beleidigt haben, bitten wir aufrichtig um Verzeihung. 198
Gastfreundschaft und Höflichkeit, so fürchte ich, sind im Rorim nicht mehr das, was sie einmal waren. Ich sehe, daß du ein Mann bist, obwohl du nicht aus Minginish kommst. Nimm an unseren Beratungen teil. Unser Heim sei das deine.« Riven nickte schwach. »Aber deine Worte bestätigen, was Bicker und Murtach uns bereits erzählt haben.« »Und was ist das?« fuhr Riven wieder auf. Er war noch nicht besänftigt. Der Warbutt deutet mit dem Kopf auf Bicker, und der leerte seinen Bierhumpen. »Ich werde noch einmal über dich sprechen, als seist du nicht hier«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. Dann wendete er sich von Riven ab und blickte auf den Boden. Seine Hände spielten mit dem leeren Krug. »Wie hier jeder weiß, ist Riven ein Geschichtenerzähler. In seiner Welt schreibt er Geschichten nieder, die er sich ausdenkt, damit andere sie lesen können. In seiner Welt leben so viele Menschen, daß er es nicht so machen kann wie unsere Erzähler, die von Ort zu Ort ziehen und ihre Sagen gegen eine Übernachtung und ein Essen vortragen. Er schreibt sie auf Papier — Papier ist weit verbreitet und billig dort drüben —, so daß alle sie erfahren können, während er bleibt, wo er ist, und sich neue Geschichten ausdenkt.« Bicker sah zu seinem Vater auf. »Murtach und ich haben die beiden Bände seiner Erzählung gelesen, und sie handeln von 199
Minginish. Er beschreibt das Land — die Berge und die Dales, die Städte und das Meer. Er kennt die Eisriesen und die Grypeshs, die Schutztruppen und die Myrcaner. Und er kennt auch die Leute. Wir, die hier sitzen, kommen in Rivens Geschichten vor. Ratagans betrunkene Ausschweifungen ...« An dieser Stelle lachte der große Mann polternd los, und alle lächelten. »Aber Riven war nie in Minginish gewesen, als er diese Geschichten schrieb. Sie entstammen seiner Fantasie.« Bicker schüttelte den Kopf. Er war jetzt wieder ernst. »Und das ist noch nicht alles. Ihr wißt, wie sich die erste Tür öffnete, und wann das geschah; wie es mit Ereignissen im Leben des Geschichtenerzählers verbunden ist. Und ihr wißt auch, was Minginish danach widerfuhr — der Schnee und die Bestien aus den Bergen. Jetzt denkt einmal nach. Plötzlich setzte das Tauwetter ein. Wann war das, Ratagan?« Der bärtige Riese zog die Augenbrauen hoch. »Es begann zwei Tage, bevor wir uns südlich von Scarall getroffen haben. Es setzte ungewöhnlich schnell ein. Der Schnee verschwand so schnell, wie er gekommen war, im Verlaufe eines einzigen Nachmittags.« Bicker nickte grimmig. »Zur gleichen Zeit verließen wir Rivens Haus auf der Insel und machten uns auf den Weg die Küste entlang.« »Was willst du damit sagen?« fragte Riven. »Nur dies: Daß Minginishs Winter in dem Augenblick endete, als du das Haus verlassen 200
hast, in dem du mit deiner Frau gewohnt hast. Die erste frohe Botschaft in diesem Land, seit sie vor acht Monaten gestorben ist. Du bist es, Michael Riven, es sind dein Bewußtsein, deine Gefühle, die das Schicksal unserer Welt bestimmen.« Eine lautstarke Diskussion brach nach diesen Worten los, in die sich sogar der Warbutt einmischte. Das sei absurd, protestierten sie. Ein Zufall. Wie konnte so etwas sein? Dann durchschnitt Rivens Stimme den Raum. »Was ist mit meiner Frau?« rief er. Der Lärm erstarb. »Sie ist tot. Ich habe sie sterben sehen. Und jetzt läuft sie wieder herum. Erklär das, Bicker!« Der dunkelhaarige Mann spreizte die Hände. »Das kann ich nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht an Geister«, sagte Riven wild. »Glaubst du an Magie?« fragte Murtach mit eigenartiger Stimme. Und als Riven ihn ansah, bemerkte er, daß die Augen des kleinen Mannes gelb im letzten Tageslicht funkelten, das durch die hohen Fenster in die Halle fiel. »Genug davon«, sagte Guillamon. Er wirkte verärgert. »Unser Gespräch beginnt sich im Kreise zu drehen.« »In der Tat«, stimmte der Warbutt zu. Er sah müde und erschöpft aus. Dunkle Schatten hatten sich über sein Gesicht gelegt. Draußen 201
ging der Tag zur Neige. Über den östlichen Hügeln erhob sich die Nacht. »Ich möchte eine Weile mit meinen Hauptleuten und meinem Sohn reden«, sagte er. »Die anderen können gehen. Der Steward wird euch unterbringen. Heute nacht schlaft ihr alle in der Manse.« Sie standen schweigend auf. Riven fühlte sich überflüssig und fehl am Platz. Bickers Worte hallten in seinen Ohren. Murtach nahm Ratagan am Arm und half ihm hinaus, und Riven folgte ihnen langsam. Er wäre gerne geblieben und hätte weiter geredet, um vielleicht irgendeine Logik in diesem Wahnsinn zu erkennen. Aber er war hier ein Außenseiter, der keine Rechte hatte. Und wenn Bicker recht hatte, war er dabei, diese Welt zu zerstören.
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ACHTES KAPITEL Gvvion, der Steward, war ein kleiner stämmiger Mann mit einem gutmütigen Gesicht. In den Tagträumen, die Riven in Beechfield gehabt hatte, war er der Besitzer einer Schenke gewesen; auch in Rivens Büchern tauchte er als Nebenfigur auf. Hier, in seiner Welt, hatte er eine Frau, die Ygelda hieß, eine große braungebrannte Frau mit einer rundlichen, mütterlichen Figur. Ihr dichtes und langes kupferfarbenes Haar hatte sie zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie stemmte die Hände in die Hüften und warf Riven einen musternden Blick zu. Er fühlte sich wie ein Schuljunge, der bei einem Streich ertappt wurde. Dann befahl sie ihrem Mann, ihn in das ruhigste Zimmer zu bringen, das er finden konnte, denn »der arme Mann sieht fix und fertig aus«. Gwion gehorchte ohne Widerrede, mit einem einfältigen Lächeln; ein Lächeln, das Riven aus seinen Träumen kannte. Er starrte den Steward fast so eindringlich an, wie er selbst angestarrt wurde, als er zu seinem Raum geführt wurde. Es stellte sich heraus, daß man ihm ein kleines Gästezimmer im ersten Stock gegeben hatte, dessen Fenster nach Norden hinausging. Die gemauerten Wände waren zum Teil mit 203
schwarzem Holz verkleidet. Es gab ein Bett mit prunkvollen Decken und einen Tisch, auf dem eine Waschschüssel, ein großer Bierkrug und eine Schale mit frischem Obst standen. Auf dem Bett lag auch neue Kleidung. Nach den Nächten unter freiem Himmel war es der pure Luxus. Riven schenkte sich etwas von dem Bier ein. Er nahm einige Schlucke und sah aus dem Fenster hinaus in das ummauerte Refugium und das Dale dahinter. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel rosa- und orangefarben, und im Zimmer wurde es langsam dunkel. Riven fragte sich, ob man von ihm erwartete, daß er mit der Sonne zu Bett ginge, als es an der Tür klopfte und Gwion mit zwei Kerzenständern und einer Handvoll weißer Kerzen erschien. »Ich habe heute so viel zu tun, daß ich es beinahe vergessen hätte«, sagte er atemlos. »Es tut mir leid; wie weit sind wir eigentlich schon gekommen? Gäste alleine im Dunkeln sitzen zu lassen! Was müßt Ihr von uns denken?« Er steckte die Kerzen in die Leuchter und holte einen Feuerstein und ein Eisenstück sowie ein kleines Metallkästchen aus der Tasche. »Hier.« Er sah Riven an, der gedankenverloren von seinem Bier trank. »Nun Sir, gibt es noch etwas, das ich für Euch tun kann? Ich kenne mich nicht damit aus, was ein fremder Ritter für sich brauchen könnte.« Riven mußte lächeln. »Nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin bestens versorgt.« 204
»Nun, wir versuchen unser Bestes«, sagte Gwion, der sich offensichtlich über das Lob freute. Er ging wieder zur Tür. »Ich wünsche Euch eine angenehme Nacht, Sir«, sagte er und war verschwunden. Riven lächelte immer noch vor sich hin, während es im Zimmer immer dunkler wurde und draußen im Dale die ersten Lichter zu sehen waren. Er trank noch mehr Bier. Er hatte das Bedürfnis, sich gründlich zu waschen und frische Socken anzuziehen, aber jetzt, da diese Dinge möglich waren, hatte es keine besondere Eile mehr damit. Zu viele Dinge wirbelten ihm durch den Kopf, wie Schlamm in einem aufgewühlten Fluß, und er wollte erst einmal in der Ruhe des Raumes seine Gedanken ordnen. Er trank seinen Humpen aus, überzeugte sich davon, daß der große Krug noch nicht leer war, und zog sich dann aus. Jetzt, da die zwingende Notwendigkeit des Weitermarschierens nicht mehr gegeben war, spürte er den Schmerz in seinen Beinen wieder deutlicher. Aber er war froh darüber, sich nur mit dem körperlichen Schmerz beschäftigen zu müssen, den Bauch voller Bier, und die Aussicht auf ein weiches Bett; froh, daß es ihm gelang, sich für einen Augenblick von seiner Grübelei loszureißen. Das Wasser in der Schüssel war lauwarm, und er wusch sich ausgiebig von Kopf bis Fuß. Die nassen Haare hingen ihm ins Gesicht, als er die Kleidungsstücke untersuchte, die man 205
ihm zurechtgelegt hatte. Er hatte den Verdacht, daß sie Bicker gehörten, denn der dunkelhaarige Mann hatte annähernd die gleiche Figur wie er selbst. Ein Paar Wildlederhosen und ein kragenloses Leinenhemd mit weiten Ärmeln. Er streifte die Kleidung über und machte sich dann pfeifend daran, die Kerzen anzuzünden. Das kleine Kästchen enthielt einige Stoffetzen, von denen ein Spiritusgeruch ausging, und er schlug vorsichtig ein paar Funken auf sie. Sie fingen sofort Feuer, und er entzündete eine Kerze und löschte dann den glimmenden Zunder, indem er das Kästchen schloß. Sofort wurde die Welt vor dem Fenster unsichtbar, gab es nur noch den Raum im Kerzenlicht und ihn selbst. Er zündete drei Kerzen an, stellte sie an verschiedenen Stellen im Raum auf und legte sich dann auf das Bett, das Bier an seiner Seite. Die Kerzen waren erst einen Zentimeter heruntergebrannt, als ein lautes Pochen ihn aus seinem Dösen weckte. Er schreckte hoch, sprang aus dem Bett und öffnete die Tür. Vor ihm standen Murtach und Ratagan mit Flaschen und Gläsern in der Hand. »Wir haben uns gesagt, daß wir dich an deinem ersten Tag in Ralarth Rorim nicht gut allein lassen können«, sagte Murtach, als er sie hineinließ. Wie zwei schwarze Schatten glitten Fife und Drum in den Raum; das Kerzenlicht schimmerte in ihren Augen. 206
»Und wir sind nicht mit leeren Händen gekommen«, fügte Ratagan hinzu. Er hatte einen roten Kopf und stützte sich schwer auf einen Stock, aber seine Augen leuchteten. Sie stellten die Flaschen und Gläser auf den Tisch, und Murtach machte sich daran, den Wein zu entkorken. »Laßt die großen Herren unten über wichtige Dinge reden«, sagte er. »Wir haben Besseres zu tun, zum Beispiel diesen zwanzig Jahre alten Drinan zu kosten, den Gwion wahrscheinlich nicht einmal vermissen wird.« Geräuschvoll glitt der Korken aus der Flasche, und er roch an dem Flaschenhals und schloß dann die Augen. »Nektar.« Er füllte drei Gläser mit der im Kerzenlicht rubinrot schimmernden Flüssigkeit. »Man sagt, ein Wein muß lange atmen«, sagte er und reichte jedem ein Glas. »Ich glaube aber, der arme Kerl hat schon lange genug geruht und verdient es, sofort von der Warterei erlöst zu werden. Auf das Feuer eurer Lenden! Möget ihr euch nie die Finger daran verbrennen!« Er trank einen mächtigen Schluck. Riven folgte seinem Beispiel. Der Wein war süß und fruchtig, aber sehr stark. Für einen Moment verschwammen die Kerzen vor seinen Augen, und seine Kehle brannte. »Nun, Michael Riven«, sagte Murtach mit plötzlichem Ernst. »Was hältst du von Ralarth Rorim — und überhaupt von Minginish?« »Das ist keine leichte Frage.« Riven nahm noch einen Schluck von dem Wein. Er war sich 207
nicht sicher, ob er sich mit dem Gestaltenwandler über dieses Thema unterhalten wollte, aber dieser stützte die Ellbogen auf die Knie und sprach schon weiter. »Als ich in deiner Welt war, sah ich deine Bücher in den Schaufenstern. Ich kaufte sie und las sie — die Schrift deiner Welt ist kein Problem für jemanden von hier, wenn er erst einmal durch das Tor geschritten ist — , und ich war erschüttert. Ich hatte Angst, Mr. Riven, weil ich in ihnen vorkam, genau wie Ratagan hier und Bicker und der Warbutt und der ganze Rorim. Und weißt du — erinnerst du dich daran, wie die Geschichte in deinen Büchern verlief?« Riven sah ihm nicht in die Augen. »Ich erinnere mich daran.« Murtach nickte. »Natürlich tust du das. Du hast sie geschrieben. Du bist der Geschichtenerzähler.« »Worum geht es in der Geschichte?« unterbrach Ratagan brüsk. Er klang ungeduldig. Murtach lächelte. »Die Bücher sind eine Chronik der Geschichte dieses Landes, seiner Kriege und Intrigen, seiner Schlachten und Streitigkeiten — und seines Winters. Die Geschichte spielt im Winter, einem Winter, der das Land zerstört und die Bestien aus den Bergen treibt, bis drei Helden sich auf den Weg machen, nach Norden in die wüstesten Winterstürme ziehen, um ihre Welt zu retten.« 208
»Und weiter?« fragte Ratagan mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und nichts, mein biersaufender Freund. Die Geschichte hat kein Ende. Es fehlt der dritte Teil mit der Erlösung — oder dem Untergang der Welt.« Murtach schwieg. Ein diabolisches Grinsen glitt über sein Gesicht. »Es sind drei Helden. Ratagan, Bicker und ich.« Ratagan erstarrte mitten in der Handbewegung. Er sah Riven an. »Ach so ist das«, sagte er langsam. Riven stürzte seinen Wein hinunter. Feuer stieg ihm in den Kopf, aber er streckte das Glas zum Auffüllen von sich, und Ratagan folgte dieser Aufforderung. Der große Mann sah besorgt aus, sagte aber nichts mehr. »Also«, fuhr Murtach fort. »Vielleicht verstehst du jetzt besser, warum wir dich nach Minginish gebracht haben, Michael Riven. Wir müssen herausfinden, wie du und deine Geschichten mit diesem Land verbunden sind. In der Halle sagtest du, daß du uns erschaffen hast. Vielleicht stimmt das sogar.« »Das ist absurd«, fuhr Riven auf. Der kleine Mann sah ihn ruhig an. »Du sitzt hier zusammen mit Leuten, von denen du dachtest, daß es sie nur in deiner Fantasie gibt, in einer Welt, die nach den Gesetzen deiner Welt gar nicht existieren dürfte. Wir sollten mit dem Wort >absurd< vorsichtig sein.« Murtach lächelte wieder, aber das Lächeln erreichte seine Augen nicht. 209
»Ich bin wie Bicker der Überzeugung, daß der Dreh- und Angelpunkt in dieser Sache der Tod deiner Frau ist. Er löste die Veränderungen in Minginish aus, die denen in deinen Büchern entsprechen. Er öffnete das erste Tor und riß damit ein Loch in die Mauer zwischen unserer Welt und der euren.« »Was war vorher?« fragte Riven. »Was ist mit der Geschichte eueres Landes?« »Sie ist, wie du es beschrieben hast«, gab Murtach zu. »Einige Dinge sind anders — zum Beispiel der Name Minginish — , aber zum größten Teil hast du diese Welt, ihr Volk und ihre historischen Begebenheiten exakt wiedergegeben.« »Toll«, murmelte Riven. »Wie war deine Frau, Michael Riven?« Es war ihm, als hätte er diese Frage schon einmal gehört, an irgendeinem anderen Ort. Er schüttelte den Kopf. Zu diesem Thema würde er jetzt nicht kommen. Nicht heute nacht. »Vergiß es.« Murtach sah ihn mit einem nüchternen Blick an. »Sie könnte hier sein.« »Sie ist tot!« stieß Riven hervor. Er trank von dem Wein. Die Kerzen funkelten wie gelbe Sterne, vor dem Fenster hing die Dunkelheit wie eine schwarze Wolke. Jenny war jetzt irgendwo da draußen, in der Finsternis. Er spürte, wie Trauer und Wut wieder in ihm hochstiegen. Eine Jenny, die ihn nicht erkannt hatte, die in der Hütte vor ihm davongelaufen war. Aber trotz allem seine Frau. 210
»Ich stimme auch Bickers Beobachtung zu, daß unser unnatürlicher Winter in dem Moment verschwand, als du dein altes Zuhause verlassen — und damit deine Erinnerungen hinter dir gelassen hast. Wer weiß, vielleicht hast du eine gewisse Zufriedenheit gespürt. So sieht es aus. Deine Stimmung bessert sich, und plötzlich scheint bei uns die Sonne. Aber unsere Ernte ist dennoch verloren. Wir werden im nächsten Winter hungern. Und noch immer terrorisieren die Bestien das Land, töten nach Belieben. Wenn es zur normalen Zeit kalt wird — und nicht vielleicht schon wieder früher —, werden die Alten und die Kinder als erste sterben. Zumindest für die Dales ist der Schaden schon jetzt irreparabel.« Riven verzog das Gesicht. »Was erwartet ihr von mir? Ich habe nicht anderes getan, als ein paar Geschichten zu schreiben, und dann starb meine Frau. Ich kann nichts für meine Gefühle. Ich kann nichts ändern ... es ist einfach so schwer zu glauben«, schloß er klagend. »Schwer zu glauben!« wiederholte Murtach. »Du sitzt doch hier mitten drin! Wie kannst du es nicht glauben?« »Weil es wie etwas aus einem Buch ist.« »Es ist etwas aus einem Buch — deinem Buch! Du schreibst Geschichten, und hier sterben Menschen!« Sie sahen einander an, Murtachs Wölfe angespannt und aufmerksam mit 211
aufgerichteten Ohren zwischen sich. Dann beendete Ratagans dröhnende Stimme das Schweigen. »Mein Gott, in meinem Bauch brennt es wie Feuer. Ganz schön feurig, das Weinchen. Vielleicht sollte ich besser bei Bier bleiben.« Er sah Murtach und Riven an und grinste. »Ich habe euch unterbrochen, nicht wahr?« Murtach lachte und klopfte ihm auf die Schulter. »Betrunken bist du klüger als nüchtern, du großer Bär.« Dann stand er auf und verbeugte sich förmlich vor Riven. »Wie der Warbutt schon sagte, lassen Umgangsformen und Höflichkeit zur Zeit zu wünschen übrig. Du bist hier Gast. Verzeih mir. Ich habe mich wie ein rüpelhafter Trunkenbold benommen, dir so zuzusetzen. Ich werde kein Wort mehr über ernste Dinge sagen — es wäre zu schade um den Wein.« Er setzte sich wieder und leerte die erste Flasche. »Du kannst mir Fragen stellen, ich werde versuchen, sie zu beantworten. Ich bin sicher, daß du vieles über den Rorim und Minginish wissen möchtest.« Riven sah ihn für einen Moment mißtrauisch an, aber der kleine Mann schien es ernst zu meinen. Er trank einen Schluck. »Der Rorim — es gibt noch mehr dieser Art, nicht wahr?« Murtach nickte. »Unsere nächsten Nachbarn sind Carnach Rorim im Osten, unter dem Befehl von Mugeary, und Garrafad im Norden unter Bragad. Carnach liegt weiter in den 212
Hügeln und hat noch mehr als wir unter den Raubzügen der Bestien gelitten; besonders unter den Riesen. Garrafad hat mehr Glück gehabt. Bragad hat sein Volk in Milizen organisiert und führt regelmäßige Patrouillen in seinem gesamten Dale durch. Er hat erbitterte Kämpfe mit einer beträchtlichen Zahl von Wölfen und Grypeshs, den Rattenschweinen, ausgefochten. Wir haben jedoch nicht viel Kontakt zu ihm. Er ist ein rätselhafter Mann, den niemand durchschaut. Ein großer Redner. Ich traue ihm nicht. Natürlich gibt es noch mehr Rorims, weiter im Osten und im Westen. Tulm und Gruamach, Pollagan und Moonen. Alle haben die gleichen Probleme. Wir haben nicht genug trainierte Krieger, um die Dales und die angrenzenden Hügel ausreichend zu schützen.« »Das überrascht mich nicht. Mit zwei Dutzend Männern kann man nicht viel ausrichten.« »Die Schutztruppen werden von den Myrcanern ausgebildet«, warf Ratagan ein. Er berührte die blaue Schärpe, die er trug. »Und dann sind da noch die Myrcaner selbst, hier in Ralarth sind es acht. Jeder von ihnen ersetzt eine Kompanie von irgendwelchen anderen Soldaten. Früher haben wir in Notzeiten die Dienste der Freien Kompanien in Anspruch genommen — Söldnerverbänden, die ihre Schwerter demjenigen zur Verfügung stellen, der am meisten bezahlt. Aber seit fast einem Jahr sind hier im Süden keine mehr 213
aufgetaucht. Es wird so sein, daß die Städte sie alle unter Vertrag genommen haben, um die Lehen, die vor ihren Mauern liegen, zu schützen. Bragad hat vorgeschlagen, daß unsere Rorims ihre Kräfte vereinigen und einen Feldzug in die Berge unternehmen sollen, um möglichst viele der Angreifer niederzumachen; aber das ist keine Lösung.« »Warum nicht?« fragte Riven. »Mir kommt das ganz vernünftig vor.« »Das ist es nicht, aus mehreren Gründen«, sagte Murtach. »Zum einen stellen diese Tiere sich nicht zum Kampf wie eine organisierte Armee, obwohl sie sich manchmal wie eine verhalten. Zum zweiten besteht Bragad darauf, daß eine solche zusammengefaßte Streitmacht unter seinem Kommando zu stehen hat, da er durch sein Milizsystem Erfahrung in der Führung größerer Verbände hat. Und zum dritten hat unser Freund, der Herr von Garrafad, schon immer nach mehr Einfluß und Macht gestrebt.« »Was wollt ihr denn sonst unternehmen?« Murtach streichelte Fifes Ohren. »Wir werden unser eigenes Volk bis zu einem gewissen Grad organisieren. Die Schutztruppen verstärken, wie der Warbutt schon sagte. Viel mehr können wir nicht tun.« Außer mit mir zu rechnen, dachte Riven. Er fragte sich, ob er hier, in seiner eigenen Geschichte, nur eine Statistenrolle zu spielen hatte. Nicht, wenn ich es verhindern kann! 214
Aber es war alles so seltsam. So verdammt unwirklich, hier zu sitzen und Wein zu trinken, mit ein paar Wölfen zu Füßen. In dieser fremden Kleidung das Hereinbrechen der Nacht über Hügeln zu beobachten, die nichts mit der Welt zu tun hatten, die er die seine nannte. Er spürte ein leichtes Bedauern darüber, daß seine Trauer alles überlagerte, und verfluchte sich sofort dafür. Wie konnte er hier sitzen und dies alles genießen, versuchen, sich hier einzufügen, während ... Nein. Schluß damit. Sie tranken noch eine Weile, bis ihre Zungen schwerer wurden und die Kerzen weit hinuntergebrannt waren. Aber dann war der Wein ausgetrunken. Es war Ratagan, der sich den letzten Schluck einschenkte und ihn hinuntergoß. »Es ist Zeit zu gehen«, sagte Murtach und erhob sich schwankend. Dann grinste er. »Ich könnte etwas frische Luft gebrauchen.« Die drei gingen hinüber an das Fenster. Ratagan summte fröhlich vor sich hin und stützte sich auf Rivens Schulter. Das Fenster schwang mit quietschenden Scharnieren auf, und die kühle Nachtluft, die in das Zimmer drang, ernüchterte sie etwas. Vor ihnen breitete sich Ralarth unter dem Sternenhimmel aus. Im Dale flackerten vereinzelt Lichter, und dahinter lagen die schwarzen Schatten der Hügel. Der Ruf einer Eule ertönte irgendwo in der Nähe, und sie konnten das Plätschern des Flüßchens in der 215
Stille der Nacht hören. In der Ferne blökten Schafe, und ein Hund bellte ein paar Mal und verstummte wieder. Ratagan holte tief Luft, und Murtach lehnte sich auf das Fensterbrett und starrte in die Nacht. Leise sagte er: »Ich liebe diesen Ort.« Dann traten sie zurück, wünschten Riven eine gute Nacht und einen besseren Morgen und gingen. Geräuschlos schlossen sie die Türe hinter sich. Es regnete, als Riven erwachte. Das Fenster war offen, und es war feucht im Zimmer. Für einen Augenblick lag er ruhig da und fragte sich, wo, zum Teufel, er war; dann stand er auf, schüttelte sich vor Kälte und schloß das Fenster. Er ging wieder ins Bett und überlegte, wann es Frühstück geben würde. Zu seiner Erleichterung hatte er einen klaren Kopf. Er trank etwas Wasser aus dem Krug neben dem Bett und lauschte dem Regen. Er packte das rauhe Leinen des Bettzeugs und spürte den groben Stoff an seinen Händen, auf seinem Rücken und an der Wange. Er spürte die kalte Luft im Raum; seine Füße prickelten noch von der Berührung mit dem kalten Steinfußboden. Das alles hier ist Wirklichkeit, so wirklich wie ich selbst. Ich bin mitten drin, atme, spüre und schmecke es. Aber wie kann das sein? Erinnerungen an physikalische Grundsätze wanderten durch seinen Kopf, aber keiner von 216
ihnen bot auch nur annähernd eine Erklärung. Er war nicht in einem lebensechten Theaterstück. Diese Leute waren sie selbst. Aus irgendeinem Grund fiel ihm Gwion, der Steward, ein, und er fand eine absurde Freude daran, sich den Romancharakter wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er war genau so. Genau so, bei Gott, bis hin zu dem umständlichen Gehabe und dem strahlenden Lächeln. Ich kenne diese Leute. Noch immer lag er im Bett. Seine Füße waren wieder warm, und er atmete die herrliche, unglaublich klare Luft ein. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, und für einen Moment sah er wie ein kleiner Junge aus. Kurz darauf klopfte es an der Tür, und ein junges Mädchen mit einem Tablett betrat das Zimmer. Sie hielt den Blick auf das Tablett gerichtet, sah ihn aber kurz an, als sie hereinkam, und wünschte ihm einen guten Morgen. Riven erwiderte den Gruß; wieder war er sich seines vernarbten Gesichts bewußt. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und begann, das Frühstück herzurichten. »Ich heiße Madra«, sagte sie schüchtern. »Ratagan bat mich, Euch Euer Frühstück zu bringen, Sir, und zu fragen ...« Sie mußte lächeln. »... ob Euer Magen schon wieder einsatzbereit ist. Er sagte, daß Ihr ihn in der Halle treffen könnt, wenn Ihr herunterkommen möchtet.« Sie richtete sich auf. »Ihr eßt besser, bevor es kalt 217
wird.« Dann ging sie hinaus und schloß die Tür hinter sich. Riven stand auf und zog sich schnell an. Er schlang das heiße Porridge herunter, trank die Buttermilch hastig aus und verließ dann das Zimmer. Er fragte sich, was Bicker machte; dann fiel ihm Bickers brennender Blick in der vergangenen Nacht wieder ein. »Es ist etwas aus einem Buch — deinem Buch.« Mein Buch. Vielleicht. Aber die Sache ist noch viel komplizierter. Die Manse war ein Irrgarten von holzvertäfelten Korridoren, plötzlichen Fensteröffnungen, Treppen und Durchgängen, Türen und Alkoven. Riven begegnete zahlreichen Bediensteten auf seinem Weg zu der Halle — zumindest hielt er sie für Bedienstete. Und einmal kam er an einem Mitglied der Schutztruppe mit blauer Schärpe vorbei, das so in seine Gedanken verloren war, daß es ihn nicht einmal bemerkte. Ein lauter Willkommensruf zeigte ihm, daß er schließlich am rechten Ort angekommen war. Die Halle war leer, bis auf Ratagan und eine kleine, dürre Frau. Sie trug kostbare dunkle Wollkleidung und viele Ringe an den Fingern. Der große Mann saß neben dem Kamin, einen Krug neben sich, und schnitzte an einem Stock. Der Regen prasselte gegen die Fenster unter dem Dach. »Michael Riven! Madra sagte mir, daß du an diesem nassen Morgen noch lebst und daß es 218
dir gutgeht. Ich dachte, du hast vielleicht Lust, einem verwundeten Mann Gesellschaft zu leisten.« Die Frau sah Riven jetzt an. Ihre Augen glänzten dunkel wie die eines Vogels; ihr Blick war unangenehm scharf, aber die tiefen Sorgenfalten um die Augen herum milderten diesen Eindruck. »Sieh mal einer an«, sagte die Frau. »Das ist also der Erzähler aus dem fremden Land jenseits des Meeres.« Ihre Stimme war piepsend wie die eines jungen Mädchens. »Willst du uns nicht vorstellen, Ratagan?« Der große Mann schien verärgert. »Natürlich, Mutter. Du weißt, wer Michael Riven ist.« Er machte eine Handbewegung; das Schnitzmesser funkelte. »Das ist Lady Ethyrra, meine Mutter.« Riven verbeugte sich linkisch. Er wußte nicht recht, was er sagen oder machen sollte. Die Frau nickte steif. Graue Strähnen durchzogen ihr dunkles Haar. »Ich lasse euch beide dann allein«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß ihr zurechtkommt, ohne daß ich euch über die Schulter gucke. Vielleicht kannst du, Michael Riven ...«, sie hatte Probleme mit dem ungewohnten Namen, »meinen Sohn überreden, daß nächste Mal besser auf sich aufzupassen, wenn er sich in der Gegend, wo die Bestien lauern, herumtreibt.« Dann ging sie; ihr langes Kleid schleifte über den Fliesenboden. Ratagan war 219
sichtlich erleichtert. Für einen Moment schwiegen beide. Riven setzte sich, und Ratagans Messer scharrte über den Stock. »Wo sind denn alle?« fragte Riven den großen Mann schließlich. Ratagan schlug sich mit dem Stock auf die Hand. Die Falten auf seiner Stirn verschwanden. »Gute Frage. Heute geht alles drunter und drüber. Sie sind hinter einem großen Rudel Grypeshs her, das heute nacht in den Herden gewütet hat. Angeblich wurde es von einem Eisriesen angeführt. Ich halte das für ein Gerücht, aber sie haben sich jedenfalls alle auf die Jagd begeben, Bicker, Murtach, Dunan mit sechs weiteren Männern der Schutztruppe sowie Luib und Ord, die Myrcaner. Mein Vater tut sein Bestes, die anderen Hirten zu beruhigen.« Plötzlich schlug er heftig mit dem Stock auf den Boden. »Während wir beide hier herumsitzen.« Er hob die Hände bedauernd. »Uns entgeht der Spaß also, wie es scheint.« Er blickte hoch zu den Fenstern. »Der einzige Trost ist, daß sie naß werden. Guillamon hat gedroht, mir den Biernachschub abzuschneiden, wenn ich auch nur einen einzigen ungewaschenen Zeh vor die Türe setze. Alle anderen in der Manse sind mit irgend etwas beschäftigt, und so müssen wir uns hier allein amüsieren.« Riven war enttäuscht. Er hatte gehofft, an diesem Morgen mit Bicker sprechen zu können und vielleicht mehr von Ralarth zu sehen. 220
»Murtach kann mich nicht leiden«, sagte er, um ein Gespräch anzuknüpfen. Ratagan lachte bellend. »Da liegst du falsch, Michael Riven. Es ist nicht so, daß er dich nicht mag; er mag die Welt nicht, aus der du kommst, und er mag es nicht, daß sein Land von jemandem abhängig ist, der aus dieser Welt kommt. Es macht ihn unsicher. Murtach ist wie eine Katze: Er weiß gerne, wo er seine Füße aufsetzt, und du hast seinen Weg mit Fallgruben gespickt. Ist es ein Wunder, daß der arme Kerl nicht sehr freundlich zu dir ist?« »Nun, wie sieht es denn dann mit dir aus, und all den anderen? Lechzt heimlich der ganze Rorim nach meinem Blut?« »Du tust uns unrecht«, sagte Ratagan. »Ich selbst stehe für jeden ein, den ich gerne habe, egal, ob er das Schicksal der Welt auf seinen Schultern trägt oder seinen Lebensunterhalt mit Mistschaufeln verdient. Ein Mann ist ein Mann, was immer auch sein Beruf sein mag. So sehe ich das. Und was den Rest des Rorims angeht ... mein lieber Freund, die Dienstmädchen haben gewaltige Ehrfurcht vor dir, dem >Ritter von der Insel der Nebel<. Murtach und ich mußten dir irgendeinen Titel geben, und so haben wir diesen gewählt. Auf jeden Fall haben sie sich heute morgen darum gestritten, wer dir das Frühstück bringen darf, und ich habe Madra dazu bestimmt, weil sie hübscher ist als die 221
anderen und nicht nur Stroh zwischen den Ohren hat.« Beide lachten, obwohl Riven sich nicht mehr erinnern konnte, wie das Mädchen ausgesehen hatte. An ihre Stimme konnte er sich hingegen erinnern. Dunkel. Und an ihr Lächeln. »Und im übrigen,« Ratagan schnitzte weiter an seinem Stock. »Bist du als Gast hier, den der Erbe des Warbutt eingeladen hat. Gastfreundschaft ist ein ungeschriebenes Gesetz in diesem Land. Das ist in deinem Land anders, wie Murtach sagt. Im Moment gehörst du jedenfalls genauso in dieses Haus wie ich.« Er begann durch die Zähne zu pfeifen. Weiße Holzspäne flogen auf den Boden, während der Regen unaufhörlich an die Fenster trommelte. Plötzlich erhob er sich überraschend schnell, obwohl er sich auf den Stock stützen mußte. »Komm mit«, sagte er. »Ich merke schon, du bist nicht zum Scherzen aufgelegt, Geschichtenerzähler. Und ich muß noch etwas essen heute morgen; laß uns also in die Küche gehen und Colban ärgern. Danach suchen wir uns ein Fenster und betrachten Ralarth im Regen. Was sagst du dazu?« Riven stimmte bereitwillig zu und folgte ihm. Er mochte nicht länger in der leeren Halle sitzen, wo jeden Moment der Warbutt erscheinen konnte. Die Küche war eine Anzahl von größeren und kleineren Räumen am hinteren Ende der Manse, in denen hölzerne Hackblöcke und 222
freistehende Herde herumstanden, auf denen mehrere große Töpfe dampften. In die gemauerten Wände waren Öfen mit Eisentüren eingelassen. An den Dachbalken hingen Fleischstücke, Schinken und Würste, und die Regale bogen sich unter der Last von jeder nur vorstellbaren Gemüseart, Kräutern, Gewürzen, Früchten und Keimen. Geschirr aus Holz und Ton lag überall herum, dazu Küchenutensilien jeder Form und Größe. Es roch durchdringend nach gebratenem Fleisch und ein wenig nach Zimt. Ein glatzköpfiger, dicker Mann rührte in einem Topf, während andere damit beschäftigt waren, Lebensmittel kleinzuschneiden, abzuwaschen, abzutrocknen. Alle unterhielten sich angeregt miteinander. Es war ein warmer, gemütlicher Ort, besonders nach der erhabenen Leere der Halle. »Colban!« rief Ratagan, als sie hereintraten. »Ich komme, um dir das Leben schwer zu machen.« Der dicke Mann blickte nicht von seiner Arbeit auf. »Ich schwöre dir, auch wenn du nur zu diesem Zweck auf die Welt gekommen wärst, könntest du deine Sache nicht besser machen. Kein Bier mehr! Das gebieten der Anstand, deine Gesundheit und mein Seelenfrieden.« »Was denkst du von mir, Colban? Ich habe den Ritter von der Insel der Nebel hergebracht, um ihm zu zeigen, woher sein Frühstück stammt. Und um Frühstück für mich zu holen.« 223
Jetzt blickten Colban und viele andere in der Küche auf. »Warum hast du das nicht direkt gesagt, du großer Bär.« Er kam zu ihnen, trocknete sich die Hände an einem Handtuch ab. »Greep!« bellte er. »Kümmere dich bitte um diese Brühe hier!« Eine beschürzte Gestalt hastete zu dem großen Topf und fuhr mit der Arbeit fort, die Colban unterbrochen hatte. »Der Ritter ist in seinem Land ein Prinz, ein bedeutender Anführer«, fuhr Ratagan fort. Er gab Riven einen heimlichen Stoß. »Er ist gekommen, um sich mit unserer Küchenorganisation vertraut zu machen, da sein eigener Koch bedauerlicherweise etwas einfallslos ist.« Colban wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Im Augenblick ist hier ein fürchterliches Durcheinander, mußt du wissen. Die Raubzüge der Bestien sind unberechenbar, und wir werden nicht mehr regelmäßig mit Nahrungsmitteln versorgt. Das frische Gemüse, das wir noch haben, wurde innerhalb unserer Mauern angebaut, und der Schnee hat viel davon verdorben. Wir können nicht mehr so viel Fleisch räuchern wie in den vergangenen Jahren, weil die Herden von den Weiden in den Hügeln vertrieben worden sind.« Ratagan schöpfte sich einen Teller voll Fleischbrühe und nickte verständnisvoll. Riven hatte es die Sprache verschlagen, aber glücklicherweise schien Colban begierig darauf, seine Aufgaben zu erklären. Er nahm Riven am Arm und zog ihn durch die Küche. 224
»Wir haben natürlich Weizenund Gerstenfelder innerhalb unserer Mauern, aber nach dem schrecklichen Wetter der letzten Zeit wird die Ernte in diesem Herbst ausfallen. Wir haben jedoch noch ausreichende Vorräte und backen hier das Brot für den ganzen Rorim. Manchmal haben wir sogar genug übrig, um den Überschuß an die Hirten in den Bergen zu verkaufen.« Er zeigte auf eine lange Reihe von dickwandigen Glasbehältern. »Die Gewürze hier reichen noch für ein Jahr, und das ist auch gut so, denn die Karawanenstraße von Nalbeni ist so gut wie unpassierbar geworden. Unsere Kräuter ziehen wir selbst; mein Kräutergarten ist ein großer Erfolg, auch wenn ich das selbst sage. Ziegen und Kühe versorgen uns mit Milchprodukten, und gelegentlich tauschen wir Käse gegen Fleisch ein, das die Jäger uns bringen. Alles in allem versuchen wir uns selbst zu versorgen.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Und das ist in Zeiten wie diesen auch wichtig.« Madra betrat die Küche mit einem Stapel Holzteller. Riven winkte ihr zu, aber sie sah ihn nicht. »Hinter den Küchenräumen sind die Vorratslager und Wohnräume für das Küchenpersonal und die Servierer. Wir ziehen hier alle am gleichen Strick.« Er lächelte Riven breit an. »Was hat denn Ihr Koch für Probleme, wenn ich fragen darf, Herr? Ich könnte Ihnen vielleicht einen Ratschlag geben.« 225
Ratagan grinste, aber Riven ignorierte ihn. »Oh, das ist schon in Ordnung. Ich habe hier genug gesehen, um mit ihm klarzukommen. Ich werde ihm sagen, was er falsch macht.« Der dicke Mann strahlte. »Sie sind zu gütig, Mylord. Wir tun hier nur ergebenst, was wir können. Ich werde Gwion sagen, daß Ihr zufrieden mit uns seid.« »Tu das, Colban, er wird es zu schätzen wissen, da bin ich mir sicher«, unterbrach Ratagan. »Aber jetzt müssen der Ritter und ich gehen. Wichtige Dinge warten auf uns.« Sie verließen die Küche; Colban rief ihnen nach, daß sie jederzeit zu einem weiteren Besuch willkommen seien. Ratagan kicherte. »Du hast hier auf jeden Fall einen Freund gewonnen, Mylord Riven.« »Du wirst mich noch in Schwierigkeiten bringen mit diesem ganzen >Lord<- und >Ritter<-Getue.« Ratagan hob die Schultern. »Wer in Minginish weiß schon, wer du wirklich bist, Michael Riven? Wenn das, was Bicker und Murtach glauben, wahr ist, bist du wichtiger für dieses Land, als irgendein Lord es jemals war.« »Und was glaubst du?« Der große Mann sah ihn ernst an. »Ich glaube an einen vollen Bauch, einen warmen Ofen und ein gutes Pferd. Daran, und an die Schneide meiner Axt. Ich beschäftige mich nicht gerne mit den Fragen nach dem Warum im Leben; es gibt genug andere, die sich 226
danach drängen.« Dann lächelte er wieder. »Doch sieh her: Ich habe aus der Küche einen Ratgeber mitgebracht.« Er schob seinen Umhang zur Seite, und Riven erblickte den schlanken Hals einer Weinflasche. »Suchen wir uns also ein ruhiges Plätzchen und lassen uns von ihm beraten.« Sie fanden ein Plätzchen an einem Fenster, das nach Süden hinausging und den Blick auf die Hügel von Ralarth freigab. Auf dem Land innerhalb der Mauern grasten Schaf- und Rinderherden. Auf den verwüsteten Getreidefeldern arbeiteten Männer. Es regnete immer noch. »Dort unten wird etwas gebaut.« Riven deutete aus dem Fenster. In einiger Entfernung richteten Männer dicke Holzstämme auf und trugen große Steinquader heran. »Ah«, sagte Ratagan und nahm einen kräftigen Schluck aus der Weinflasche. »Das werden die neuen Langhäuser für die Hirten, die aus den Bergen vertrieben worden sind. Der Warbutt läßt innerhalb der Mauern Häuser für sie bauen, und im Gegenzug lassen sie sich von Luig zur Verteidigung ausbilden. Ein paar von ihnen werden vielleicht sogar in die Schutztruppen aufgenommen.« »Sie werden an Waffen ausgebildet?« »Ja, an Stäben und Speeren hauptsächlich. Nur wenige haben Schwerter; es gibt allerdings einige Bogenschützen unter ihnen.« 227
»Das würde ich auch gerne machen. Könnte ich an der Ausbildung teilnehmen?« Ratagan blickte ihn an. »Ich wüßte nicht, was dagegen spricht. Aber warum?« Riven zuckte die Schultern. »Ich bin in meiner Welt einmal Soldat gewesen. Ich wüßte gerne, wie es ist, hier Soldat zu sein. Außerdem könnte es eines Tages nützlich sein.« »Nun gut«, sagte Ratagan. »Ich werde mit Luig sprechen, sobald er zurück ist. Wenn du Talent hast, kann einer der Myrcaner dich zusammen mit denen ausbilden, die für die Schutztruppe bestimmt sind. Hast du eine Waffe?« »Ich habe ein Messer, und ich kann mir einen Stab schneiden.« »Dann ist es abgemacht. Ich würde dich gerne selbst unterrichten, aber das geht ja nicht.« Er hob sein verbundenes Bein. »Außerdem war ich nie einer von Luibs Musterschülern.« »Wie sieht es in den anderen Gegenden von Minginish aus?« fragte Riven. »Nicht überall wie hier. Im Norden liegen die Städte von Minginish, Idrigill, Taliskerund Avernish. Dort oben ist das Land flacher, und man merkt, daß ganz Minginish eigentlich ein großes Tal ist. Ralarth ist nur ein kleiner Fleck auf dem Hang dieses Tals. Der große Fluß windet sich dort oben durch das Land, und der Boden ist sehr gut; auch die Leute sind reicher. Ganz oben im Norden, jenseits von Avernish, 228
endet der fruchtbare Teil von Minginish an den schroffen Hügeln, die die Bewohner des Nordens Ullinish nennen. Noch weiter nördlich sind die richtigen Berge, die Greshorns, und in ihrer Mitte befindet sich der Rote Berg, den wir Staer nennen, den die Zwerge Arat Gor nannten und der in deiner Sprache Sgurr Dearg heißt.« »Erzähl mir von den Städten. Wie groß sind sie?« Ratagan verzog das Gesicht. »Talisker ist die größte. Unser Rorim würde dreißig Mal hineinpassen, ohne aufzufallen. Dort wird lebhafter Vieh- und Fellhandel betrieben. Die Leute von Drinan graben in den Hügeln nach Eisen und Kupfer und tauschen es gegen Dinge, zu deren Anbau ihnen die Zeit fehlt. Die Drinaner sind gute Bergleute, und ihre Schwerter sind die besten im ganzen Land. Viele Schmiede aus Drinan ziehen durch Minginish und bieten den Fürsten ihre Dienste an. Die Karawanenstraßen des Ostens führen in Talisker zusammen, und so erhält man dort Gewürze, Seide und prächtige Pferde, die unendlich lang galoppieren können. Sie kommen aus Nalbeni, dem Land der Khans, jenseits der östlichen Wüste. Nur wenige kennen die geheimen Pfade durch die wasserlose Einöde nach Nalben selbst, und die Gilde der Händler in Talisker wacht eifersüchtig über ihr Geheimnis.« 229
Ratagan seufzte. »All das ist weit entfernt von unserem verregneten Dale. Und jetzt werden die Straßen von den räuberischen Bestien unsicher gemacht. Nur eine schwer bewaffnete Gruppe kann sich ungestraft über das Land bewegen.« Der Regen wurde stärker, prasselte gegen das Fenster. Draußen unterbrachen die Männer, die das Langhaus errichteten, ihre Arbeit und suchten Schutz vor den Wassermassen. Die Tiere harrten gleichmütig aus, ihre Kehrseite dem Wind zugewandt. Ist sie da draußen im Regen, oder hat sie wieder zu unserer Hütte zurückgefunden? In welcher Welt ist sie — in dieser oder in der anderen? Er fröstelte bei dem Gedanken daran, daß sich das dunkelhaarige Mädchen irgendwo in dem strömenden Regen zusammenkauerte. Er fühlte sich rastlos. Es war wichtig — sie war wichtig. Seine Jenny war das Alpha und Omega in dieser Sache, das spürte er. Er hätte nur gern gewußt, warum. Am Nachmittag kehrten die Jäger zurück. Geduldig führten sie ihre Pferde durch den Schlamm in den Rorim. Stallburschen mit Ledercapes eilten ihnen entgegen und nahmen ihnen die Rösser ab. Bicker führte die tropfnasse Schar in die Manse. Es gab keine Verletzten, und alle begaben sich sofort erschöpft in ihre Zimmer, um sich zu waschen und die Kleidung zu wechseln. Gwion schoß 230
aufgeregt zwischen ihnen hin und her, aber Guillamon zog sich nach ein paar Worten mit Bicker mit grimmigem Gesicht zurück. Riven und Ratagan begaben sich in die Halle, wo schon eine ganze Schar von Dienstmädchen und Servierern dabei war, Klapptische aufzustellen, den Kamin anzumachen und Tabletts mit Speisen und Getränken hereinzutragen. Sie setzten sich, und automatisch schenkte sich Ratagan Bier ein. »Es wird heute abend viel zu erzählen geben«, prophezeite er. »Das sagt mir ein Blick auf Guillamons Gesicht. Aber warum, das frage ich mich wirklich. Keiner von unseren Leuten ist verletzt, soweit ich es sehe.« Bicker kam herein und setzte sich neben sie. Mit einem Stöhnen lehnte er sich zurück. »Es war ein langer Tag.« Dankbar nahm er ein Bier entgegen. »Ich grüße dich, Mylord, Ritter von der Insel der Nebel. Wie war dein Tag?« fragte er Riven lächelnd. Ratagan lachte. »Die Nachrichten aus der Küche haben sich schnell verbreitet. Ich dachte, es kann nicht schaden, wenn wir unserem Gast einen Titel verleihen. Ich übernehme die Verantwortung dafür, wenn es dem Warbutt mißfällt.« Bicker lächelte. »Wie du schon sagtest, es kann nicht schaden.« Dann sah er Ratagan an, das Gesicht plötzlich schmerzlich verzogen. »Und du — du hast in der Küche schon wieder Wein geplündert!« 231
Ratagan nahm noch einen Schluck Bier. »Das habe ich, und ich bereue es nicht.« Murtach betrat die Halle, gefolgt von zwei Myrcanern und einem halben Dutzend Angehörigen der Schutztruppe in Lederwämsern. Sie setzten sich und begannen zu essen. Ein Gespräch kam auf, während die Bediensteten noch mehr Speisen brachten und die Bierkrüge nachfüllten. »Nun«, sagte Ratagan ungeduldig. »Wirst du uns endlich erzählen, was passiert ist, oder nicht?« »Wir sind beim Essen«, protestierte Murtach. Er kaute an einem Hähnchenschenkel. »Mich stört es nicht, wenn du mit vollem Mund sprichst.« »Wir haben keine Grypeshs gefunden«, erzählte Bicker. »Einige Rinder sind getötet worden, aber den Hirten ist nichts geschehen. Sie lagern jetzt vor der Außenmauer.« Er trank einen Schluck. »Aber wir fanden die Spuren von drei Eisriesen, sie führten geradewegs in das Dale hinab. Wir folgten ihnen, aber sie verloren sich auf felsigem Gelände, und der Regen hat alle Spuren weggewaschen. Wir haben die Gegend bis in das westliche Dale abgesucht, aber keine Spuren verlassen Ralarth.« »Sie sind also noch hier«, sagte Riven. »Ja. Heute nacht werden die meisten Männer der Schutztruppe im Dale auf Patrouille gehen. Wir haben den Leuten gesagt, daß sie ihre Häuser nicht verlassen sollen. Bei diesem 232
Wetter werden sie wahrscheinlich sogar tun, was man ihnen gesagt hat.« Ratagan stieß einen leisen Pfiff aus. »Kein Wunder, daß Guillamon so grimmig blickte. Sie könnten heute nacht in den Herden wüten.« »Und in jeder Nacht, die folgt«, sagte Murtach ruhig. »Bis sie vertrieben werden.« »Wer legt sich schon mit Eisriesen an?« fragte Bicker und biß in einen Apfel. »Laßt mich heute nacht mit den Schutztruppen hinausgehen«, sagte Riven, ohne zu überlegen. »Wie ihr wißt, habe ich die Eisriesen erfunden. Sie gehören zu den Monstern in meiner Geschichte.« »Dies hier ist keine Geschichte«, belehrte ihn Murtach. »Diese Wesen da draußen können dich töten.« Bicker hob die Hand. »Genug. Aber Murtach hat recht. Du kannst noch nicht mit unseren Waffen umgehen, Ritter, und wir können uns nicht erlauben, daß dich einer der Riesen in Stücke reißt — nicht bevor wir herausgefunden haben, wie du uns hier helfen kannst.« Riven schwieg. Er war einem plötzlichen Impuls gefolgt, und es war ihm gar nicht so unlieb, daß Bicker seinen Vorschlag abgelehnt hatte. Doch wenn die Eisriesen denen in seinen Büchern glichen, waren sie allemal sehenswert. »Und ich fürchte, auch ich werde hierbleiben müssen«, sagte Ratagan verdrossen. Bicker 233
nickte mit vollem Mund, und der große Mann fluchte. Guillamon und Udairn kamen in die Halle und setzten sich zu ihnen. Guillamon legte seine schmale Hand auf Bickers Schulter. »Es ist alles vorbereitet. Du bekommst zwanzig Männer der Schutztruppe und vier Myrcaner. Dunan wird das Kommando über diejenigen haben, die hierbleiben. Isay wird im Rorim bleiben, und Unish; er kann seinen Arm immer noch nicht gebrauchen.« »Und ich habe mit den Männern gesprochen, die in der Ausbildung sind«, sagte Udairn mit seiner tiefen Stimme. Er hatte die Hände hinter seine Schärpe geschoben. »Die zwanzig besten Rekruten werden dich begleiten. Wir werden Gruppen bilden: Zu jeder Gruppe gehören ein Myrcaner, fünf Männer der Schutztruppe und fünf Rekruten.« »Das sind nur vier Gruppen«, sagte Murtach. »Wird das genügen?« »Es muß genügen«, sagte Guillamon zu seinem Sohn. »Wenn wir die Gruppen noch kleiner machen, haben sie keine Chance, wenn sie auf die Eisriesen stoßen. Es ist jetzt schon riskant genug, elf Männer gegen drei Eisriesen in den Kampf zu schicken. Die Gruppen dürfen nicht zu weit voneinander entfernt patrouillieren, für den Fall, daß eine von ihnen in ernsthafte Schwierigkeiten gerät.« Bicker wischte sich über den Mund und sah Udairn an. »Wer sind die Anführer der Gruppen?« 234
»Du, Murtach, ich und Ord.« »Ausgezeichnet. Ich glaube, das ist ein guter Plan. Es müßte klappen.« Guillamon lächelte schief. »Drei Eisriesen sollten selbst im Dunkeln leicht aufzuspüren sein. Sie sind nicht gerade die zierlichsten Wesen der Welt.« »Genausowenig sind sie die klügsten Wesen der Welt«, fügte Bicker hinzu. »Aber sie haben den Instinkt von Tieren, und ihre Kräfte sind gewaltig. Ich hoffe, wir können sie überwältigen, falls wir sie finden.« Er runzelte die Stirn. »Wir sollten zu Fuß gehen. Pferde haben Angst vor den Eisriesen. Die Myrcaner kämpfen ohnehin lieber am Boden.« »Einverstanden«, sagte Udairn. »Wir brechen in drei Stunden auf, wenn es fast richtig dunkel ist. Ich werde die letzten Einzelheiten jetzt mit dem Warbutt besprechen.« Ratagan schüttelte den Kopf. »Und wir werden diese Party vermissen.« Als die Nacht hereinbrach, regnete es immer noch. Die Patrouillen waren aufgebrochen, und Riven stand am Fenster seines Zimmers und starrte hinaus in die Dunkelheit, in der die Lichter des Dales funkelten. Er war froh, für eine Weile allein zu sein. Er setzte sich auf das Bett und begann, den langen Ast aus dunklem Holz zurechtzuschnitzten, den Gwion ihm gegeben hatte, damit er sich einen Stab anfertigen konnte. Sein Messer hatte er mittlerweile auf seinem Zimmer. Es war eigentlich zu groß für 235
diese Tätigkeit, aber er schnitzte geduldig weiter, froh, sich ganz auf die Arbeit seiner Hände konzentrieren zu können. Er dachte, er habe draußen gedämpfte Schreie gehört, und hielt für eine Moment inne, um zu lauschen. Nichts. Der Wind. Er pfiff leise um das Haus. Riven dachte an die ruhigen Nächte in der Hütte, wo das Geräusch des Windes genauso gewesen war, ergänzt vom Rauschen des Meeres. Und Jenny saß lesend am Feuer. Tränen traten ihm ihn die Augen und blendeten ihn für einen Moment. Wütend schüttelte er den Kopf. Das Fenster explodierte nach innen, Glassplitter und Holzteile fegten durch den Raum. Instinktiv wich er zurück und fiel auf den Boden. Die Kerzen flackerten wild in dem plötzlichen Windstoß. Ein riesiger Arm, fast zwei Meter lang und mit struppigem grauen Fell bedeckt, langte durch das zerschmetterte Fenster und tastete im Zimmer herum. Fußlange Finger kratzten über den Boden; wütendes Brüllen ertönte vor dem Haus. Riven erblickte zwei eisblaue Augen unmittelbar über dem Fensterbrett und registrierte den großen zottigen Kopf und die unglaublich kraftvollen Schultern. Für einen Augenblick war er wie gelähmt, und in diesem Augenblick leuchtete Erkennen in den blau funkelnden Augen vor dem Fenster, und der Arm wurde weiter in den Raum hineingestreckt; die mächtige Schulter sprengte das Mauerwerk am Fensterrahmen. 236
Die Hand schmetterte ihn quer durch den verwüsteten Raum. Plötzlich flog die Tür auf, und ein Myrcaner stürzte herein, gefolgt von zwei Angehörigen der Schutztruppe, die keine Rüstung trugen. Der eisenbeschlagene Stock krachte auf die Hand des Riesen, und das Monster stieß einen Schmerzschrei aus. Wütend versuchte es, die Angreifer zu packen. Die Außenwand wurde eingedrückt, und in einem Regen von Ziegelsteinen und Teilen der zersplitterten Holzverkleidung erschien der Oberkörper des Riesen im Zimmer. Ein Arm fuhr durch die Luft und schmetterte eine der Wachen mit einem krachenden Geräusch an die Wand. Der Blick des Mannes wurde leblos, und Blut strömte aus seinem Mund. Der andere Arm schoß auf Riven zu, aber es gelang ihm in letzter Sekunde auszuweichen. Der Myrcaner behauptete seinen Platz; mit furchtbaren Stockhieben blockte er die Schwinger des mächtigen Arms ab. Blut erschien auf dem grauen Fell, und die Innenwände des Zimmers ächzten, als der Riese versuchte, sich weiter hineinzuzwängen, um seine Gegner zu packen. Riven schmeckte Blut und Galle, und sein Kopf dröhnte, aber der andere Wachposten half ihm auf die Beine. »Komm schnell, raus hier.« Halb schob er, halb zog er Riven zur Tür und stieß ihn heftig in den angrenzenden Flur. Dann zog er sein Schwert und stürzte sich mit einem lauten Schrei wieder in den Kampf. 237
Jemand zog Riven durch den Flur; ein anderer sprang über ihn hinweg und rannte weiter. Schreie und das Geräusch von splitterndem Holz und berstenden Mauern drangen ihm in die Ohren. Er schloß die Augen, da er alles verschwommen sah; von dem Blutgeschmack in seinem Mund wurde ihm übel. Er spuckte aus, aber der Geschmack blieb. Sein Kopf lag im Schoß von jemandem, und dieser Jemand drückte ein Tuch auf die blutende Wunde an seinem Kopf und nahm dann Rivens Hand und preßte sie auf das Tuch. »Halt das fest an deinen Kopf.« Automatisch gehorchte er, und hörte auf die Kampfgeräusche, die aus seinem Zimmer drangen. Nun habe ich also endlich einen Eisriesen gesehen! Dann fiel ihm der Mann der Schutztruppe wieder ein und das Geräusch der brechenden Knochen, und die Erinnerung drehte ihm den Magen um. Ein letztes Krachen ertönte, ein Brüllen, das sich entfernte, dann war es ruhig. Der Myrcaner torkelte aus den Überresten von Rivens Zimmer, seinen zerbrochenen Stock in der Hand. Er hatte eine große Wunde an der Schläfe, und das Blut lief ihm über's Gesicht, aber sein Blick war klar. »Madra, lebt er?« Eine Frauenstimme hinter Rivens Kopf sagte: »Ja, Isay. Er ist verletzt, aber nicht schlimm.« 238
Der Myrcaner nickte ohne zu lächeln. »Feorlig und Gobhan sind tot. Die Bestie ist gestürzt, aber ich glaube, sie lebt noch. Paß auf ihn auf.« Er rannte davon, eine Blutspur hinter sich her ziehend. Riven setzte sich auf, schob die Hände beiseite, die ihm helfen wollten. Er wankte hinüber zur Tür und blickte hindurch. Die gesamte Außenmauer des Zimmers war verschwunden, die Möbel und die Holzverkleidung der Wände waren zertrümmert. Der eine Mann der Schutztruppe lag dicht an der Wand. Knochensplitter ragten aus seinem eingedrückten Brustkorb. Der andere Wächter lag mit dem Gesicht nach unten bei der Tür; ein Arm und ein Teil der Schulter fehlten. Riven mußte sich übergeben. Schließlich nahm er das Schwert eines der toten Männer und rannte in die Richtung, in die der Myrcaner verschwunden war, ohne sich um Madras Proteste zu kümmern. Er orientierte sich an den Rufen und Schreien, die jetzt ertönten, durchquerte die Halle und fand sich schließlich auf dem großen Platz vor der Manse wieder. Dort tobte ein ungleicher Kampf. Vier Wächter der Schutztruppe und zwei Myrcaner, von denen einer den Arm in einer Schlinge trug, kämpften gegen zwei Eisriesen. Viele andere Bewohner eilten ihnen mit Mistgabeln, Stöcken und Fackeln zur Hilfe. Es war kaum zu glauben, daß die Männer, die mit den Riesen kämpften, noch am Leben 239
waren. Ihre Gegner waren drei bis vier Meter groß. Ihre mächtigen Arme reichten fast bis auf den Boden, und in ihren schmalen rohen Gesichtern leuchteten eiskalte Augen. Langes dunkles Haar fiel von ihren unförmigen Schädeln auf Schultern, die breiter waren als die zweiflügelige Eingangstür der Manse. Die Riesen bewegten sich langsam, aber wenn ihre Fäuste auf die Stelle niedersausten, auf der eben noch einer der Wächter gestanden hatte, flogen die Splitter der Pflastersteine durch die Luft. Riven erbebte bei diesem Anblick, aber sein Trotz war jetzt stärker als Mut oder Angst. Er sah, wie Guillamon die Leute von dem Platz trieb; dann packte er das Schwert des toten Wächters und stürzte sich in den Kampf. Er überraschte den Riesen, der ihm am nächsten stand, und schwang das Schwert mit aller Kraft in seine Kniekehle. Er spürte, wie die Klinge durch das Fleisch und die Sehnen drang, und sah im Schein der Fackeln dunkel glänzendes Blut fließen. Der Riese stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus und sank in die Knie, drehte sich dann aber mit unglaublicher Wendigkeit zu ihm herum. Keuchend wich er schnell zurück und entging so dem Fausthieb des Monsters. Hinter dem Riesen stand Isay, der verletzte Myrcaner, und ließ seinen Stock mit einem dumpfen Krachen auf dessen Kopf niedersausen. Der Riese verstummte und schlug mit zerschmettertem Schädel auf das Pflaster. 240
Der andere Riese stieß einen klagenden Schrei aus und schwang seine Fäuste in einem wilden Wirbel gegen seine Widersacher. Einer der Wächter wurde sechs Meter weit über den Platz geschleudert und blieb reglos liegen. Hinter ihnen ertönte plötzlich ebenfalls ein klagendes Brüllen, und der dritte Riese schleppte sich mit blutverschmierten Armen heran, verfolgt von einer Gruppe Männer. Für einen kurzen Augenblick erkannte Riven die große Silhouette von Ratagan mit seiner Axt, wandte dann aber seine Aufmerksamkeit wieder dem Kampf zu. Die beiden überlebenden Riesen stürzten sich entschlossen auf die Verteidiger. Diese wichen langsam zurück. Die Stäbe der Myrcaner hemmten den Angriff der Bestien. Dann fielen Ratagan und seine Gruppe ihnen in den Rücken, seine Axt blitzte auf, und die Klinge verschwand im Rücken eines der Riesen. Ratagan zog die Axt aus der Wunde. Der Riese brüllte wütend, wirbelte herum, riß Ratagan die Waffe aus der Hand und stieß ihn zu Boden. Riven stürzte vor und schlug mit dem Schwert auf ihn ein. Der Riese knurrte gereizt und drehte sich zu ihm herum. Riven sah eine mächtige Faust mit der Geschwindigkeit eines Eisenbahnzugs auf sich zurasen. Ein gewaltiger Schlag traf seine Brust und quetschte ihm die Luft aus der Lunge. Deutlich hörte er seine Knochen brechen. Er stürzte schwer auf das Pflaster und sah wie durch Nebel den Riesen über sich. 241
Umgebracht von einem vier Meter großen Neandertaler. Wer würde mir das glauben? Er traute seinen Augen kaum, als er plötzlich Ratagan auf den Schultern des Riesen sitzen sah, einen langen Dolch in der Hand. Er riß den Arm hoch und rammte das Messer bis zum Heft in ein Auge des Riesen. Der stürzte wie ein gefällter Baum unmittelbar vor Riven zu Boden und begrub Ratagan unter sich. Der andere Riese wandte sich zur Flucht. Die Männer der Schutztruppe bearbeiteten seinen Rücken mit ihren Schwertern, konnten ihn aber nicht stoppen. Er torkelte krachend gegen Häuser, fegte beiseite, was ihm in den Weg kam, und verschwand, gefolgt von den Myrcanern und den überlebenden Wächtern. Für einen Moment war es totenstill auf dem Platz; das Pflaster glänzte im Regen. Dann bewegte sich die Leiche eines der Riesen, und Ratagan kroch fluchend unter ihr hervor. Er setzte sich auf den Boden und sah sich benommen um. »Ratagan«, krächzte Riven. Beim Versuch zu sprechen, durchzuckten höllische Schmerzen seine Brust. Der große Mann stand langsam auf und kam schwankend zu ihm. Seine Nase war gebrochen, und sein Gesicht war voller Blut, aber er lachte heiser. »Wohlan, Michael Riven. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, daß du noch atmest.« Seine Hände glitten vorsichtig über Riven. »Ich glaube, du hast dir sämtliche Rippen gebrochen. Und das Schlüsselbein. 242
Dein Gegner muß etwas gegen dich gehabt haben.« Riven lächelte schwach. »Wer legt sich schon mit Eisriesen an?« Ratagan lachte wieder und verzog dann das Gesicht. Er betastete seine deformierte Nase. »Ich habe den scheußlichen Verdacht, daß meine Schönheit erheblich gelitten hat.« Die Tür der Manse öffnete sich, und Guillamon kam heraus, dicht gefolgt von Gwion und ein paar weiteren Männern. Erbittert blickte er auf die Opfer des Kampfes, die auf dem Platz lagen. »Baut Tragbahren. Bringt sie hinein«, befahl er. »Die Frauen sollen Verbandsstoff zurechtschneiden und heißes Wasser machen.« Die Bediensteten eilten davon, um seinen Anweisungen Folge zu leisten. Guillamon ging hinüber zu Riven und Ratagan. »Seid ihr schwer verletzt?« »Ich nicht, aber der Geschichtenerzähler wird eine Weile darauf verzichten müssen, das Tanzbein zu schwingen.« Ratagan beugte sich zu Riven hinüber. »Wir beide sind jetzt Brüder«, sagte er. »Ich habe dein Leben gerettet, und du meins.« Die beiden Myrcaner und drei Wächter kamen erschöpft über den Platz, blutverschmierte Waffen in den Händen. Guillamon richtete sich auf. »Isay, habt ihr alle Riesen zur Strecke gebracht?« 243
»Wir haben den letzten draußen vor den Wällen erwischt«, sagte Isay. Blut lief ihm immer noch über das Gesicht. »Er lebt nicht mehr. Drei Wächter und sechs andere Männer sind tot. Die Mauer ist an drei Stellen durchbrochen worden, und es gibt Schäden an der Manse. Was die Bestien auf den Weiden angerichtet haben, können wir erst morgen feststellen.« Die Tragen wurden gebracht, und der tote Wächter wurde auf einer von ihnen fortgetragen. Riven bettete man vorsichtig auf eine andere. Schon hatte man damit begonnen, die Leichen der Eisriesen wegzuschleppen und das Blut vom Pflaster zu schrubben. »Isay«, sagte Guillamon, als Riven in die Manse getragen wurde. »Nimm ein Pferd und reite zu den Patrouillen. Sag ihnen, sie sollen zurückkommen. Berichte, was hier geschehen ist.« Isay ließ sich schnell von jemandem seine Wunde verbinden und eilte dann zu den Ställen. Riven schloß die Augen. Es war eine lange Nacht gewesen. Bei Tagesanbruch waren alle Patrouillen zurückgekehrt, und Riven fand sich in einem neuen Zimmer wieder. Sonnenschein fiel durch das Fenster. Sein Schüsselbein war gerichtet und geschient worden; seine Rippen taten ihr Bestes, um ihn am Atmen zu hindern. Er fühlte sich an die ersten Tage im Beechfield-Center erinnert. Nur hatte er dort 244
keinen Blick auf die blauen Berge gehabt, die er hier vor dem Fenster sah. Bicker, Ratagan und Guillamon befanden sich auch im Raum. Ratagans Gesicht war eine einzige Schürfwunde, und durch die Anstrengungen der vergangenen Nacht war seine alte Wunde wieder aufgebrochen. Das frisch verbundene Bein hätte er auf einen Stuhl vor sich gelegt. Bicker stand am Fenster und blickte hinaus. »Sie müssen vor den Außenmauern gelauert haben. Sie haben darauf gewartet, daß die Patrouillen losziehen. Dann durchbrachen sie die Mauern, um die Wachen an den Toren nicht zu alarmieren.« Er schüttelte den Kopf. »Seit wann sind Eisriesen so gewitzt?« Guillamon prüfte den Verband, der Rivens Schultern wie eine Acht umlief. »Sie wußten genau, was sie tun.« Bicker drehte sich um und starrte ihn an. »Sie wußten, wo der Ritter von der Insel schläft, und einer von ihnen stieg an der Manse hoch und versuchte, dort einzudringen. Er hat dabei eine Wand eingedrückt.« »Noch mehr Rätsel«, sagte Ratagan. Wegen der gebrochenen Nase klang seine Stimme dumpf. »Glaubst du, daß irgend etwas oder irgend jemand diese Dinge steuert?« frage Riven. Er hatte Schmerzen beim Sprechen. Der ältere Mann wirkte nachdenklich. Er stand mit dem Rücken zum Kamin. »Ich habe eine Theorie, Michael Riven. Und die besagt, 245
daß du Minginsh bist. Das würde vieles erklären: das Wetter, die Angriffe der Bestien. Aber ich glaube auch, daß du nicht hierhin gehörst. Es kann nicht richtig sein, daß du dich mitten in einer Welt befindest, die deiner Fantasie entstammt.« Er lächelte leicht. »Und du glaubst ja, daß wir das tun. Ich glaube, daß der Angriff des Gogwolfs und der Riesen kein Zufall war. Du ziehst all diese destruktiven Kräfte, die du geschaffen hast, auf dich, weil Schuldgefühle und Verzweiflung dich immer noch beherrschen. Jetzt, da du in dieser Welt hier bist, konzentriert sich möglicherweise alles auf dich, und dem Rest dieser Welt wird vielleicht eine Atempause gewährt. Ich weiß es nicht. Vielleicht wird Minginsh weiterleben, wenn es dich tötet. Vielleicht erlischt es aber auch mit dir, erstickt im Schnee und unter den Angriffen der Wölfe. Oder wir hören einfach auf zu existieren, wenn du stirbst.« Er zuckte die Schultern. »Obwohl ich das nicht glaube. Dieses Land gibt es schon länger, als du lebst. Nein, ich glaube der Schlüssel zu allem liegt in deinem Herzen.« Er streckte seine Hände dem Feuer hinter sich entgegen und wippte auf den Fußballen; seine blauen Augen waren ohne Glanz. Riven wußte nicht, was er dieser Einschätzung entgegenhalten sollte. Er lag da und studierte die Deckenbalken aus dunklem Holz. Bicker sah verärgert und sehr müde aus. Sie wußten, daß er sich die Schuld an den Vorgängen der letzten Nacht gab. 246
»Sprich weiter, Guillamon«, bat er leise. »Ich sehe dir an, daß du noch etwas zu sagen hast.« »Ich will dir nicht zu nahe treten, Bicker. Wir alle haben im Augenblick unsere Aufgaben. Ich bin der Warden von Ralarth, wie du weißt.« Er starrte Bicker an, bis der jüngere Mann sich mit einem bitteren Lachen hinsetzte. »Dann also heraus damit, du alter Ziegenbock. Enthalte uns deine Weisheit nicht länger vor.« Guillamon schürzte für einen Moment die Lippen. »Es gibt da eine Sache, die nicht richtig in meine Überlegung hineinpaßt: Rivens tote Frau, von der er — und du Bicker — behaupten, daß sie wieder lebendig ist, sich wahrscheinlich sogar im Augenblick hier in Minginish befindet. Wie kann so etwas passieren? Wie kann jemand von den Toten zurückkehren? Ich persönlich glaube, daß niemand das kann. Der Tod ist endgültig. Aber wenn die Figuren aus Rivens Büchern — wie wir zum Beispiel — irgendwo in einer Welt leben, warum sollte es seine Frau nicht tun, die zweifellos in seinen Träumen und in seiner Fantasie mehr Platz eingenommen hat als irgendeiner von uns?« »Das ist verrückt«, unterbrach ihn Riven. »Ich glaube nicht, daß ich irgend jemanden erschaffen habe. Ihr seid älter als meine Bücher. Vielleicht habe ich irgendeine Art von Tor durchschritten, ja, und vielleicht hat auch meine Vorstellungskraft irgendwie ihren Weg 247
hierhin gefunden, aber ich bin kein Gott, der sich hinsetzt und Leute und Orte erschafft.« »Dennoch lebt deine Frau — oder ihr Ebenbild — genau in diesem Augenblick irgendwo«, sagte Guillamon sanft. »Es kann sein, daß im Moment ihres Todes ihr Geist — oder deine Vorstellung von ihr, beides ist möglich — durch das Tor entkommen konnte, das sich nach Minginish geöffnet hatte. Und so fand sie sich hier als Geschöpf zweier Welten wieder, das mühelos zwischen beiden hin- und herwechseln kann; anders als wir, die wir nur jeweils in eine Richtung durch ein Tor gehen können.« »Sie hat mich nicht erkannt«, knurrte Riven. »Ich sah sie in der Hütte, und sie zeigte kein Zeichen des Erkennens.« »Sie kann nicht deine Frau sein«, sagte Guillamon. »Nicht wirklich. Wie ich schon sagte, der Tod ist endgültig. Aber ein Teil von ihr gehört zu der Frau, die du gekannt hast — vielleicht. Vielleicht.« »Das Gespräch beginnt, sich im Kreis zu drehen«, polterte Ratagan, und Guillamon lächelte. »Da hast du recht. Aber ein paar Worte waren notwendig. Es tut mir nur leid, daß es sich immer um so traurige Angelegenheiten handeln muß.« Er verbeugte sich vor Riven. »Es wird weitere Gespräche geben und Diskussionen und Debatten, und es wird sich stets um Dinge drehen, die du für deine Privatangelegenheiten gehalten hast. Dafür 248
möchte ich mich jetzt schon entschuldigen, Michael Riven. Wenn es irgendeinen anderen Weg gäbe, würden wir ihn einschlagen, aber wie die Dinge liegen, bist du der Schlüssel zu unserem Untergang oder unserem Überleben, und daher haben wir einen Anspruch darauf, dich mit diesen Dingen zu behelligen. In der Zwischenzeit sei dieser Rorim dein Zuhause.« Riven nickte. Irgendwie schafften es diese Leute immer wieder, ihn in die Ecke zu drängen. Für einen Moment schwiegen alle. Staub tanzte in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen. Sie hörten das Muhen der Rinder im Dale. »Wenn es stimmt, was du gesagt hast, sind wir besser wachsam, Guillamon«, sagte Bicker ruhig. »Minginish wird weiterhin versuchen, unseren Geschichtenerzähler hier zu töten.« »Und der Rorim ist dabei im Weg«, fügte Ratagan mit unheilverkündender Stimme hinzu. »Ich sehe unruhige Zeiten kommen.« Dann grinste er. »Natürlich nur für diejenigen von uns, die keine Invaliden sind.« »Vielleicht solltet ihr mich in meine Welt zurückschicken«, schlug Riven vor. Bicker schüttelte den Kopf. »Wir werden dein Leben schützen, keine Angst, aber wir müssen herausfinden, wie wir weiter vorgehen sollen. Außerdem kannst du in den nächsten Wochen keine Reise unternehmen.« Guillamon verließ entschlossen seinen Platz am Kamin. »Wir haben in der Tat ein paar anstrengende Tage vor uns«, sagte er. »Wir 249
müssen die Toten beerdigen und die Schäden beiseitigen. Wir können die Verluste nicht ausgleichen, bis Luib und Drum mit ihren Rekruten zufrieden sind.« Er sah Bicker an. »Ich werde Unish ebenfalls mit der Ausbildung beauftragen, das wird die Dinge beschleunigen.« Er warf Riven eine Blick zu. »Und unser Gast hier wird von jetzt an Tag und Nacht von einem Myrcaner bewacht. Isay hat sich dazu bereit erklärt. Ich glaube, dein Auftritt auf dem Platz letzte Nacht hat ihn beeindruckt, Ritter von der Insel, obwohl er das als Myrcaner niemals zugeben würde. Ich muß jetzt gehen. Ich habe noch zu tun.« Eilig verließ er den Raum. »Ich denke, ich werde mich betrinken«, verkündete Ratagan. »Und ich glaube nicht, daß du das tun wirst«, erwiderte Bicker. »Sogar ein Taugenichts wie du kann sich heute morgen nützlich machen.« Er lächelte, um seiner Bemerkung die Schärfe zu nehmen. »Murtach ist mit einem Myrcaner und sechs Männern der Schutztruppe auf Patrouille im Dale. Ich möchte, daß du ihre Meldung entgegennimmst, wenn sie zurückkommen, und sofort sechs weitere Männer hinausschickst. Ord kann sie führen.« Er ging zu Ratagan und studierte sein Gesicht. »Kannst du das tun, alter Freund? Es muß ein wüster Kampf gewesen sein.« »Ich habe schon leichtere Gegner gehabt«, gab Ratagan zu. »Und Riven hat bewiesen, daß er in dieser Welt ebenso ein Soldat ist, wie er 250
es in seiner gewesen ist. Er hat jetzt ein Schwert; ich denke, man sollte ihm erlauben, es zu behalten.« Bicker ging zu Riven, der still in seinem Bett lag. »Nun, Ritter von der Insel, möchtest du ein Schwert aus den Schmieden von Drinan tragen und es zur Verteidigung dieses Landes erheben, das dich umbringen will?« »Man könnte für eine schlechtere Sache kämpfen«, sagte Riven und ergriff Bickers ausgestreckte Hand.
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NEUNTES KAPITEL Gebrochene Knochen. Riven hatte reichlich Erfahrung damit. Er kannte die Brüche seiner Glieder und Gelenke so gut wie die Linien seines Gesichts. Sie durchzogen seinen Körper und hemmten sein Erinnerungsvermögen, verwischten und vernebelten Bilder, die in seinem Kopf gespeichert waren. Er war wieder ein Invalide, von den nicht funktionstüchtigen Teilen seines Körpers ans Bett gefesselt. Von dort aus konnte er durch die großen Fenster seines Zimmers den blauen Himmel sehen. Die einzige Abwechslung in dieser Aussicht waren die vorüberziehenden Wolken und gelegentlich in der Ferne kreisende Vögel. Adler, hatte Ratagan ihm gesagt. Sie schraubten sich genauso in den Himmel, wie sie es in Camasunary getan hatte. Nach ein paar Tagen setzte er durch, daß das Bett unter das Fenster geschoben wurde, obwohl ihn Bicker davor warnte, weil er so eines Nachts einen Eisriesen auf seinem Schoß finden könnte. Jetzt konnte er den südlichen Teil des Rorims und der Weideflächen innerhalb der Außenmauern sehen und die Menschen dieser Welt dabei beobachten, wie sie ihren Geschäften nachgingen. Er verbrachte unzählige Stunden dort, während 252
seine Rippen und das Schlüsselbein langsam wieder zusammenwuchsen. Es war unbegreiflich, daß er hier war und das alltägliche Leben dieser Leute beobachtete, Gesichter sah, die er erkannte oder die ihm zumindest bekannt vorkamen. Unbegreiflich, daß sie existieren konnten, wie er es beschrieben hatte. Dennoch sah er sie hier, grüßte und roch sie, aß mit ihnen gemeinsam. Prächtige Fantasiegestalten in Leder und Leinen wünschten ihm einen guten Morgen, ritten an seinem Fenster vorbei, kamen von der Jagd zurück, ihre Beute quer über dem Sattel, saßen beim Waffenreinigen vor dem Wachgebäude am Tor oder betranken sich in der Halle. Er hatte das alptraumhafte Erkennen in den Augen des Eisriesen bemerkt, als sich ihre Blicke trafen. Jetzt war es ihm vergönnt, für eine Weile in einem Traum zu leben — möglicherweise ein Schwert zu tragen, ein Pferd zu reiten, die Art von Soldat zu sein, die er immer hatte sein wollen. Vielleicht. Aber die besten Dinge darf man nicht zu lange auskosten. In der Woche nach dem Angriff der Eisriesen begrub der Rorim seine Toten und reparierte die Schäden an den Mauern und an der Manse. Bicker und Murtach führten Patrouillen von Myrcanern und Schutztruppen kreuz und quer durch das Dale, besuchten die Dörfer und Weiler von Ralarth immer wieder und sprachen ihren Bewohnern Mut zu. Dennoch folgte ihnen jedesmal, wenn sie zum Rorim 253
zurückkehrten, eine lange Reihe von Fußgängern — Flüchtlinge, die ihre Farmen in den Hügeln verlassen hatten und Schutz hinter den Mauern suchten. Sie berichteten von Massenangriffen der Wölfe und Raubzügen vereinzelter Eisriesen. Der Schnee war verschwunden, aber die Bestien blieben. Und die Ernte war vernichtet. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Hunger sich in den Dales ausbreitete. Guillamon sah sich dem Problem gegenüber, daß innerhalb des Zirkels der Raum knapp wurde. Immer mehr Menschen suchten Zuflucht. Die Farmer, die schon immer hier gelebt hatten, überschütteten ihn mit Beschwerden. Die Felder und Weiden waren eigentlich Gemeineigentum, das jedermann, der die Erlaubnis des Warbutt hatte, zu nutzen berechtigt war; doch jetzt wuchsen die Herden auf den Weiden täglich an, und die Neuankömmlinge errichteten überall Hütten. Rund um den Rorim entstand ein riesiges Lager. Schließlich wurden viele der Flüchtlinge von den Schutztruppen aus den Mauern gewiesen, oft nicht ohne Widerstand. Man wies ihnen Lagerplätze auf den Hängen vor den Mauern zu. Von denjenigen, die bleiben durften, erwartete man, daß mehr Männer für die Miliz abgestellt wurden, die von den Myrcanern auf dem Übungsgelände westlich des Rorim ausgebildet wurde. All dies erfuhr Riven, während er hilflos im Bett lag und darauf wartete, daß seine 254
Knochen zusammenwuchsen. Man berichtete ihm auch von weiteren Angriffen im Dale, den ständigen Attacken auf die Herden, dem Auftauchen von Grypeshs — einer weiteren Art seiner Fantasiemonster — in Sichtweite des Rorim. Bicker bekam er nur selten zu Gesicht, denn mit der Rückkehr in seine eigene Welt waren dem dunklen Mann mehr und mehr Pflichten übertragen worden; der Warbutt überließ ihm die täglichen Aufgaben im Rorim. Außerdem war da noch Mira, Dunans Schwester. An den Abenden, die Bicker zur freien Verfügung standen, schien sie seine Zeit zu beanspruchen. Sie war eine zierliche, schwarzhaarige Frau mit blaßgrünen Augen, die nicht viel redete, aber aufblühte, wenn Bicker bei ihr war. Und er schien die Last der Verantwortung leichter zu tragen, wenn er sich in ihrer Gesellschaft befand. In Rivens Augen war sie ein junges Mädchen, aber er erfuhr, daß sie in Wirklichkeit älter war als Bicker. Ratagan war der Ansicht, daß sie schon längst verheiratet sein sollten, aber Bicker war noch nicht bereit, diesen Schritt zu tun, und sie schien genug Geduld zu haben, um auf ihn zu warten. Der dunkle Mann wurde von Guillamon, dem Warden, und Ratagans Vater, Udairn, tatkräftig unterstützt, aber dennoch hatte er selten Zeit. Er kam einige Male abends in Rivens Zimmer, oft in Guillamons Begleitung, und sie diskutierten und überlegten 255
stundenlang, bis Riven der Kopf brummte und ihm sein Bett wie ein Gefängnis vorkam. Es war Ratagan, der andere Invalide, der die meiste Zeit mit ihm verbrachte. Es gab auch noch andere. Das Mädchen Madra schien die Aufgabe übernommen zu haben, sich während seiner Genesung um Riven zu kümmern, eine Tatsache, die Ratagan sehr amüsierte. Sie kam und ging, bis ihr Anblick Riven so vertraut war, wie der des großen Mannes. Ihr Gesicht war herzförmig, eingerahmt von braunen Locken. Ihre nachdenklichen Augen, die ebenfalls braun waren, und die dichten Augbrauen vermittelten den Eindruck, daß sie stets traurig war. Riven quälte und erfreute ihre Anwesenheit gleichermaßen. Schließlich war da noch Isay, der Myrcaner. Er redete nicht viel und stand meist wie eine Statue vor Rivens Tür und hielt Wache. Er war jünger als die meisten der Myrcaner, und Madras Gegenwart entlockte ihm zuweilen ein schüchternes Lächeln. Er war Rivens Leibwächter und wich nie von seiner Seite. In seinen abendlichen Gesprächen mit Bicker, Guillamon und Ratagan erfuhr Riven, daß politische Ereignisse in der Luft lagen. Die Lords von Ralarth, die dem Warbutt als ihrem Lehnsherrn zum Gehorsam verpflichtet waren, beunruhigte zweierlei: Zum einen standen sie durch den völligen Ausfall der Ernte vor einer Hungersnot, zum anderen verließen die Bewohner ihrer Lehen scharenweise ihre Häuser und flüchteten sich in den Rorim mit 256
seinen Mauern und Schutztruppen. Sie konnten ihnen nicht die gleiche Sicherheit bieten wie der Warbutt, weil ihnen zur Verteidigung ihrer Interessen nur eine Handvoll Gefolgsleute zur Verfügung stand, und blickten mit Furcht und Besorgnis auf die Miliz, die im Schatten des Rorims ausgebildet wurde. »Diese Narren glauben, daß wir die Gelegenheit benutzen, um ihre Position zu schwächen und alle Macht hier zu konzentrieren. Sie sehen nicht ein, daß das, was wir tun, im Interesse des ganzen Dales liegt«, sagte Bicker eines Abends wütend, nachdem er von einer Patrouille zurückgekehrt war, die ihn zu den Wohnsitzen der fünf mächtigsten Lords von Ralarth geführt hatte. Ratagan lachte mit tiefer Stimme. »Obwohl du zugeben mußt, daß es eine wunderbare Gelegenheit ist, einige von den aufsässigeren Vasallen des Warbutts ein für allemal in ihre Schranken zu weisen.« Bicker lächelte unwillkürlich. »Dieser Versuchung werde ich widerstehen müssen. Wie es aussieht, verlangen sie ein Treffen mit dem Warbutt, um über diese Dinge zu reden. Unsere heranwachsende Miliz scheint ihnen einen mächtigen Schrecken einzujagen.« Der große Mann kicherte wieder. »Sie wären nicht so beunruhigt, wenn sie sehen könnten, mit welchen plattfüßigen Dummköpfen Druim und seine Kameraden sich herumplagen müssen.« 257
»Sie sind Narren«, warf Guillamon finster ein. Seine blauen Augen blitzten. »Glauben sie wirklich, sie müßten uns mehr fürchten, als die Bestien aus den Bergen?« »Verwandele sie in Kröten, Guillamon. Dann wissen sie Bescheid«, sagte Ratagan. Alle lachten. Riven trug den Arm immer noch in einer Schlinge, und seine Rippen schmerzten bei jedem Atemzug, aber die Heilung schritt voran. Er freute sich darauf, den Wind wieder im Gesicht zu spüren, selbst wenn er nur bis zu den Wällen der Festung gehen könnte. Er wollte die frische, klare Luft wieder atmen. Es erschien ihm nicht mehr so abwegig, die Luft einer Welt zu atmen, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Er war zufrieden damit, daß er hier war — vorläufig jedenfalls. Er zog es vor, nicht an die dunkle Seite dieser Sache zu denken. »Marsco ist der eigentliche Unruhestifter«, sagte Bicker. »Er ist ein guter Mann, aber stur wie ein Esel. Er sitzt dort oben in Ringill auf seiner Felskuppe und denkt, er muß sich nur um seine Angelegenheiten kümmern. Aber sobald er das Gefühl hat, wir verletzen seine Rechte, scheucht er die anderen Lords zusammen wie die Glucke die Küken und setzt ihnen alle möglichen Flausen in den Kopf. Wenn Ringill nicht so stark befestigt und wichtig für uns wäre, hätte ich ihn schon vor Jahren von dort vertrieben.« »Tatsächlich?« Guillamon runzelte die Stirn. 258
»Nun, ich hätte es dich tun lassen«, antwortete Bicker mit einem verschmitzten Grinsen. »Warum ist Ringill so stark?« fragte Riven. Er kannte den Namen, aber er war in seinen Büchern nur beiläufig erwähnt worden. Er beschwor die Vorstellung einer steilen schwarzen Felszinne herauf, die von einer mächtigen Mauer gekrönt wurde. »Ringill ist das nördlichste Lehen von Ralarth«, erklärte Bicker. »Darum wurde es mit Bedacht als schwer bezwingbare Festung erbaut; schließlich grenzt es an das Gebiet des Garrafad Rorim — Bragads Land. Und zu unserem nördlichen Nachbarn haben wir noch nie ein allzu herzliches Verhältnis gehabt. Ringill ist das ärmste der Lehen, aber nach alter Tradition auch das unabhängigste.« »Viel zu unabhängig, verdammt noch mal«, murrte Ratagan. »Alle Lords des Dales haben bewaffnete Männer unter ihrem Kommando«, fuhr Bicker fort. »Aber es sind nicht viele, jeder hat vielleicht ein Dutzend Krieger, und keine sind so gut ausgebildet wie unsere Schutztruppen. Nur Ringill hat immer mehr Bewaffnete gehabt, zum Teil wegen seiner strategischen Bedeutung ...« »... und zum Teil, weil die Lords von Ringill sich schon immer etwas zu großartig vorgekommen sind«, fiel ihm Ratagan ins Wort und leerte seinen Bierhumpen. 259
Guillamon lächelte. »Du gehörst zur Schutztruppe, Ratagan, und siehst die Dinge so, wie ein Soldat sie eben sieht. Nach meiner Ansicht ist es aber keine so schlechte Sache, einen so fähigen Mann wie Marsco an einem Ort wie Ringill zu haben. Wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, hat er wenigstens die Fähigkeiten und den Stolz, den Ort bis zum letzten zu verteidigen. Dies zu wissen, wiegt die Scherereien auf, die er uns ab und zu macht.« Er warf Bicker einen mahnenden Blick zu. »Auch der Erbe des Warbutt sollte sich eine langfristige Sicht dieser Angelegenheit zu eigen machen.« Bicker schüttelte traurig den Kopf. »Politische Erwägungen. Mir liegt die Praxis mehr.« »Daran wird kein Mangel sein«, informierte Guillamon ihn. »Die Lords werden täglich hier erwartet, wo sie ihren Sorgen Luft machen wollen. Zweifellos wird der Warbutt von dir erwarten, daß du die meiste Zeit mit ihnen verhandelst.« »Wie immer«, sagte Bicker bitter. Guillamon ignorierte den klagenden Ton. »Auch nördlich von Ringill braut sich etwas zusammen«, sagte er. »Bragad?« »Genau der. Murtach ist in den Hügeln im Norden auf zwei seiner Patrouillen gestoßen — jeweils zwanzig Mann stark, und nur zwei Angehörige seiner regulären Schutztruppe dabei.« 260
»Bragad baut sich also ebenfalls eine beachtliche Streitmacht auf«, bemerkte Bicker. Guillamon nickte grimmig. »Es wäre gut, Marsco daran zu erinnern, wenn er herkommt und sich über unsere Miliz beschwert.« »Nichts schlichtet einen Streit im Inneren so gut wie eine Bedrohung von außen«, bemerkte Ratagan befriedigt. »Bragad ist ein guter Redner, und unsere Lehen brauchen dringend umfangreiche Verstärkung. Wenn er davon anfängt, daß die Kräfte der Rorims zusammengefaßt werden müssen, könnten die Streitigkeiten sich eher noch verschlimmern«, sagte Bicker mit düsterem Gesicht. »Politische Erwägungen.« Guillamon schüttelte den Kopf, aber seine Augen leuchteten. Drei Tage später verließ Riven zum ersten Mal seit dem Angriff der Eisriesen das Bett. Madra und Isay halfen ihm auf die Beine. Ratagan saß auf einem Stuhl und gab ihnen gute Ratschläge. »Nimm ihn um die Taille, Madra«, sagte er schmunzelnd. »Er wird schon nicht beißen. Und du, Michael Riven, stütz dich ruhig auf sie. Sie ist ein kräftiges Mädchen, und unter deinem Federgewicht wird sie wohl kaum zusammenbrechen.« Riven schossen Erinnerungen an Beechfield durch den Kopf. Flure und Gehhilfen, und Doody, der ihm versicherte, daß Rom nicht an 261
einem Tag gebaut worden war. Sein Leben schien ein einziger Kreislauf aus Verletzungen und Genesung zu sein. Riven fragte sich, warum ihm Madras Gesicht so vertraut vorkam. Sie war keine von seinen Romanfiguren. Sie hängten ihm einen schweren Mantel um die Schultern und stützten ihn, als er vor dem offenen Fenster stand. Er blickte hinaus auf das grün-goldene Land mit dem silbernen Fluß, den grasenden Viehherden, den verstreuten Ansiedlungen, von denen langsam und gekräuselt der Rauch emporstieg, dem langen Band der Außenmauer mit den beiden wuchtigen Türmen des Südtors, die sich wie dunkle Megalithen von dem hellen Gras abhoben. Das rhythmische Singen eines Schmiedehammers klang durch das Dale, hell wie der Weckruf der Morgenglocken. Riven trank die frische Luft wie Wein. Er hatte das Gefühl, als könne ein Atemzug seine Knochen auf der Stelle heilen. Schweigend stützten ihn seine Helfer von beiden Seiten. Er wußte längst, daß Isay und Madra keine Freunde von überflüssigen Reden waren, ganz im Gegensatz zu Ratagan, für den eine Unterhaltung Spiel und Kunst war, so lebenswichtig wie Brot und Bier. »Es geht schon«, sagte er schließlich. »Ich kann alleine stehen.« Sofort zogen sie ihre Arme zurück. Er schwankte leicht und hörte, wie Ratagan sich hinter ihm bereitstellte. Der große Mann war immer noch angeschlagen, 262
bewegte sich aber schon wieder überraschend schnell. »Ich finde, wir sollten dir Kleidung besorgen, die deinem Stand angemessen ist«, sagte er. »Wenn die Lords von Ralarth hier herumschwirren wie die Wespen um den Honigtopf, solltest du entsprechend aussehen.« »Ich werde mich darum kümmern«, warf Madra ein. »Bicker hat ungefähr die gleiche Statur wie mein Lord hier.« Riven warf Ratagan einen Blick zu. Mein Lord? »Dein Ruf eilt dir voraus, Herr Ritter«, sagte der Rotbärtige. In seinen Augen blitzte es schalkhaft. Aber Riven machte ein finsteres Gesicht. Wenn er etwas nicht gebrauchen konnte, waren es die Titel, mit denen Ratagan und die anderen ihn ausgestattet hatten. Sie waren etwas, dem er niemals gerecht werden konnte. Es klopfte an der Tür. Isay öffnete sofort. Riven setzte sich auf das Bett, als Murtach den Raum betrat, dicht gefolgt von Fife und Drum. Die beiden Wölfe begannen sofort, an Madras Handflächen zu schnuppern, und sie schenkte ihnen eines ihrer seltenen Lächeln. Der Gestaltenwandler war in graues Schafsleder gekleidet. Seine Augen blitzten. »Seid gegrüßt, ihr Verwundeten«, sagte er und wich einem Schlag von Ratagans Krücke aus. »Was gibt es Neues?« fragte der große Mann. 263
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, erwiderte Murtach und hob die Hände. »Die ersten Lords treffen ein, und ihre Gefolgsleute machen sich über Colbans dürftige Vorräte her. Wir haben gehört, daß eine Botschaft von Bragad zu uns unterwegs ist, und es gibt Gerüchte von einer Schlacht, an der Mugearys Sohn beteiligt war.« Ratagans Gesicht straffte sich. »Wie ist es ausgegangen?« Murtach antwortete: »Übel. Man sagt, daß er getötet wurde und mit ihm viele seiner Männer. Sie wurden von Eisriesen überrannt.« »Und wir freuen uns über den plötzlichen Frühling«, sagte Ratagan leise. »Aye. In Carnach Rorim herrscht jetzt Trauer.« Sie schwiegen für einige Sekunden. Es war nur das regelmäßige Klingen des Hammers auf dem Amboß zu hören. Riven saß stumm auf dem Bett und fingerte mit seiner gesunden Hand an der Schlinge herum, in der er den anderen Arm trug. Er starrte die anderen an — Isay, ausdruckslos wie immer, Ratagan, dem ausnahmsweise einmal keine lustige Bemerkung einzufallen schien, Murtach, der sich mit flinken Augen im Raum umsah, und Madra, deren schulterlanges Haar in der Sonne glänzte. Die beiden Wölfe schoben die Köpfe auf ihren Schoß. Riven hatte plötzlich das irrationale Bedürfnis, es ihnen gleichzutun. »Aber das eigentliche Problem ist, daß du, mein pelzgesichtiger Freund, in der Halle 264
gebraucht wirst«, sagte Murtach schließlich. »Wichtige Dinge stehen an, mußt du wissen.« Ratagan stöhnte. »Können sie einen Krüppel nicht für eine Weile in Ruhe lassen?« »Es gibt Bier«, bemerkte Murtach. Ratagans Blick hellte sich auf. »Die Pflicht ist manchmal eine schwere Bürde, aber man kann sich nicht vor ihr drücken ... Komm, sonst wird es warm.« Die beiden gingen hinaus. Murtach winkte Madra zum Abschied. Fife und Drum warfen ihr einen bedauernden Blick zu und folgten ihm dann. Der Raum wirkte sehr still, nachdem sie gegangen waren. Isay bezog wieder seinen Wachposten vor der Tür. Das Hämmern aus der Schmiede war mittlerweile verstummt, und man hörte nur noch das entfernte Summen einer Menschenmenge, das wahrscheinlich vom Marktplatz kam. Madra stand auf und griff nach Rivens Rucksack. »Was hast du damit vor?« fragte er sie. Er trennte sich nur ungern von ihm. Er war jetzt die einzige Erinnerung an seine eigene Welt. »Ich möchte ihn vernünftig packen«, sagte sie. »Du wirst diese Kleider für eine ganze Weile nicht brauchen; außerdem sind da ein paar Löcher, die ich flicken könnte.« Sie zog seine Hose aus dem Rucksack und deutete auf einen Riß. Es war eine alte Hose, und sie war schon mehrfach geflickt worden. Einmal, mit groben Stichen, von ihm selbst und dann von Jenny. Aber ihre sorgfältige Naht war wieder aufgegangen. Er fühlte einen schmerzhaften 265
Stich bei dem Gedanken, daß Madra die Reste des Fadens entfernen würde, den sie benutzt hatte. »Und was soll ich tun?« fragte er. Er ärgerte sich über den klagenden Tonfall in seiner Stimme. Ihre Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Wie alt mochte sie sein? Siebzehn? Achtzehn? Sie hatte etwas Altersloses an sich. »Ich könnte hier nähen, wenn du es möchtest«, sagte sie und wirkte plötzlich wie ein erwartungsvolles Kind. »In Ordnung«, sagte er mit rauher Stimme. Er spürte eine merkwürdige Erleichterung, die ihn verwirrte. Langsam vergingen die Stunden. Er beschäftigte sich mit der Reinigung seiner Stiefel, während Madra sich neben ihm über die Näharbeit beugte. Als der Abend anbrach, entzündete sie ein Feuer im Kamin. Sofort versank die Außenwelt in der Dämmerung, während das Zimmer von einem gemütlichen Licht erhellt wurde. Die Nadel in ihren geschickten Fingern wanderte regelmäßig durch die schadhaften Stellen seiner Kleidungsstücke und funkelte im Licht der Flammen. Es fehlte nur noch das Geräusch des Meeres. Er konnte es sich genau vorstellen, das Auflaufen der langen Wellen auf dem Kiesstrand vor der Hütte, der Geruch des Torffeuers, die Dämmerung, die sich über das Tal senkte und die ersten Sterne am Himmel. 266
Er schloß die Augen. Er war wieder mit Jenny zusammen, sie ritten durch ein weites unverdorbenes Land mit sanften Tälern und felsigen Hügeln. Über ihnen wölbte sich der blaue Himmel wie ein riesiges Zelt, und am fernen Horizont ließen bläuliche Schatten die Berge ahnen. Sie saßen auf prachtvollen Pferden, und das lange Gras des offenen Landes strich an ihren Steigbügeln entlang. Doch sie trug merkwürdige Kleidung, die er nie an ihr gesehen hatte: schwarze Reitkleidung aus geschmeidigem, schwarzem Wildleder und einen fahlbraunen Wollrock, der in unzähligen Plisseefalten über ihre Hüften fiel. Hohe Reitstiefel. Handschuhe aus dunklem Leder. Und ihr Gesicht ... Es war die Jenny, die er kannte, aber ihre unbändigen Locken waren zu Zöpfen geflochten und um den Kopf gewunden worden. Er hätte ihr Haar gerne im Wind flattern sehen. Und da war etwas in ihren Augen, oder vielleicht in ihrer Haltung, als wäre ihre wilde Anmut verschwunden und durch etwas Künstliches ersetzt worden. Sie ritten durch das weite Land stetig voran, und es kam ihm vor, als würden sich die Berge allmählich deutlicher am Horizont abzeichnen. Er konnte die winzigen weißen Flecken der Schneefelder an den Hängen erkennen und das drohende Schwarz der zerklüfteten Felsen. 267
Sie ritten nach Norden. Nach Norden zu den Greshorns. »Tausend Meilen zu den Greshorns«, sagte Jenny neben ihm, und aus irgendeinem Grund überraschte es ihn nicht, daß sie in einem Dialekt sprach, der nicht von Skye war. »Es gibt Leute, die behaupten, daß hinter den Bergen das Ende der Welt ist, daß dort der große Abgrund gähnt, um den sich die Sterne drehen. Niemand ist jemals bis dorthin gelangt, außer vielleicht den Zwergen, und die berichten keinem von ihren Reisen, ihren Grabungen tief im Inneren der Erde.« Sie blickte ihn an, aus pechschwarzen Augen. Das waren nicht die Augen seiner Frau. »Du gehörst nicht hier hin«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Du bist meine Frau«, krächzte er. Sein Mund war wie ausgetrocknet. »Das bin ich nicht«, sagte sie, und ein Schauder des Entsetzens lief ihm über den Rücken. Er zügelte sein Pferd. »Wer bist du?« flüsterte er. »Ich bin du«, erwiderte sie ruhig. Dann lachte sie, und dieses Lachen dröhnte in seinen Ohren. Ein wildes, trauriges Lachen, das mit einem Geräusch endete, das wie eine Mischung aus Knurren und Schluchzen klang. »Ich bin ein schlechter Traum, den du einmal gehabt hast. Ich bin ein dunkler Raum, vor dem du dich einmal gefürchtet hast. Ich bin ein erloschener Herd voller Asche. Ich bin ein Fels aus einem Berg. Ich bin die Geschichte, 268
die du nicht erzählen kannst. Und doch erzählen mußt. Dein Leben ist die Geschichte dieser Welt, deine Geschichten das Blut ihres Lebens. Der Zauber, der diese Welt erhält, fließt in deinen Adern. Finde ihn.« »Das ist nicht leicht«, sagte er. »Nichts ist leicht.« Sie lächelte. Plötzlich flammte Wut in ihm auf. »Scher dich doch zum Teufel, du Hexe!« »Das geht nicht. Du brauchst mich, Michael.« »Wozu?« Sie beugte sich im Sattel vor. »Ich bin das Leben in deinen Geschichten. Ohne mich endet dein Anteil an der Geschichte, und es kann keinen neuen Anfang geben.« »Die Geschichte ist mit dir gestorben. Es gibt keine Geschichten mehr.« »Es gibt immer eine Geschichte. Vielleicht handelt sie von anderen Menschen — vielleicht erzählt sie sogar jemand anders. Aber sie geht weiter. Und du mußt weiterhin deine Rolle spielen. Die Geschichte ist noch nicht fertig mit dir.« »Ich bin aber fertig mit ihr.« Sie schüttelte traurig den Kopf, und für einen Moment, der ihm den Atem verschlug, war sie wieder seine Frau. »Michael, du hast keine Wahl — ebensowenig wie ich. Wir tun nur, was uns zu tun bestimmt ist. Du mußt diese Sache in Ordnung bringen.« Ein Ausdruck der Qual erschien auf seinem Gesicht, und Tränen traten ihm in die Augen. »Jenny ...« 269
»Es gibt sie nicht mehr. Sie ist nicht mehr da. Es gibt nur noch deine Vorstellung von ihr, und das, was dieses Land aus ihr gemacht hat.« Und doch war es ihr Gesicht, das er vor sich sah, leichenblaß. »Laß mich allein«, stöhnte er und beugte sich über den Sattelknauf. Er konnte sie nicht länger ansehen. »Vergiß es nicht, Michael«, sagte sie. Ihre Stimme entfernte sich. Er umschlang seinen Oberkörper mit den Armen und blickte nicht auf. Als er die Augen öffnete, war es dunkel, und er spürte die Wärme von jemandem, den er umarmt hielt. Eine Hand strich ihm die Haare aus der Stirn. Er hörte auf zu schluchzen. »Ruhig, ruhig«, sagte eine weiche Stimme, und er entspannte sich. »Du hast einen schlechten Traum gehabt und im Schlaf geweint«, sagte die Stimme. Für einen Augenblick meinte er, eine Wange sanft an seinem Gesicht zu spüren. Gehört das zur üblichen Pfege? fragte er sich. Aber nein, das war in einer anderen Zeit, einer anderen Welt gewesen. Er blickte auf und sah in Madras ernstes Gesicht. »Es tut mir leid«, sagte er. Er verfluchte sich dafür, daß seine Stimme zitterte. Sie schüttelte leicht den Kopf und wischte ihm mit einem Finger die Tränen von den Wangen. Er wurde rot, bewegte sich aber nicht, merkwürdig zufrieden damit, in ihren Armen zu liegen. 270
Ein Traum. Sonst nichts. Aber was ist in diesem Land ein Traum, und was nicht? Was ist hier real? Und er vergrub seinen Kopf wieder an der Brust der jungen Frau, die ihn festhielt, ohne Fragen zu stellen. Am nächsten Morgen stand Riven mit Isay und Madra auf den Wällen des Rorims. Ein kalter Wind wehte, ein Überbleibsel des merkwürdigen Winters, der vor Rivens Eintritt nach Minginish geherrscht hatte. Aber am Himmel war kein Wölkchen zu sehen, und auf den Hängen der nächstgelegenen Hügel blühte ein Meer von Butterblumen. Wieder einmal zog Riven den Umhang hoch, der um seine Schultern hing. Er hatte sich noch nicht an das Kleidungsstück gewöhnt, und immer wieder rutschte es ihm über den gesunden Arm. Den anderen trug er in einer Schlinge. Wortlos rückte Madra ihm den Umhang zurecht. Er trug eine hüftlange Ledertunika und Hosen aus enggestrickter dunkelblauer Wolle, die an der Innenseite der Beine mit Lederstreifen verstärkt waren. Unter der Tunika hatte er ein Leinenhemd, und an den Füßen trug er seine Wanderstiefel. Über seine himmelblaue Schärpe hatte er einen Ledergürtel geschnallt, an dem ein sechzig Zentimeter langes Schwert in seiner Scheide hing. Dazu der dunkelblaue Umhang, der von einer schweren Bronzespange 271
zusammengehalten wurde. Anstatt sich unauffällig zu fühlen — jetzt, da er wie die Leute, die ihn umgaben, gekleidet war -, fühlte er sich merkwürdigerweise befangen und unbehaglich. Außerdem ging ihm immer noch sein Traum durch den Kopf. »Die Kavalkade kommt heran«, sagte Isay neben ihm mit einem ironischen Unterton. Riven spähte in Richtung des Nordtors und sah tatsächlich eine lange Reihe von Berittenen und Fußgängern näherkommen. Banner wehten über ihnen, etwas, das er in Minginish noch nicht gesehen hatte. Die Myrcaner schienen solchen Flitterkram nicht sonderlich zu schätzen. Er blickte nach unten und sah, daß vor dem Tor des Rorims eine Abordnung der Schutztruppe in voller Rüstung als Ehrenwache Aufstellung genommen hatte. Sie sahen aus wie eine Reihe von Eisenstatuen. Auch der Warbutt stand dort, sein silbergraues Haar wehte im Wind. Neben ihm standen Bicker und Guillamon, Murtach, Udairn und Ratagan. Es war kein sonderlich warmer Tag, und Riven wunderte sich, daß Bicker auf diesen feierlich Empfang für Marsco und zwei andere Lords, Lionan und Mullach, bestanden hatte. Zwei andere, Malig und Keppoch, waren schon vor ein paar Tagen angekommen, und für sie hatte es keine besondere Zeremonie gegeben, so hatte man ihm gesagt.
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Die Kavalkade, wie Isay es bezeichnet hatte, kam näher, und Riven spürte, wie seine beiden Begleiter von Spannung erfaßt wurden. »Was ist denn?« fragte er ungeduldig, aber sie gaben keine Antwort. Wütend wandte er seine Aufmerksamkeit der langen Reihe von Reitern und Infanteristen zu, die jetzt die Wälle erreichte. Fünf Banner blähten sich im Wind. Drei von ihnen waren mit dem gleichen Hellblau gesäumt, das die Schärpe um seine Hüfte hatte, während die anderen einen scharlachroten und grünen Rand hatten. Riven fragte sich, welche Bedeutung das hatte. »Die drei blaugeränderten Banner sind die unserer Lords«, erklärte Madra. »Aber das rote ist die Flagge von Bragad, und das grüne ist die Farbe von Mugeary; Bragad und Mugeary sind die Lords der Rorims im Norden und Nordosten von Ralarth.« Mugeary — das war der Mann, der seinen Sohn verloren hatte. Und Bragad war der Möchtegern-General der Dales. »Seltsame Reisegenossen«, sagte Isay düster, und Riven hatte den Eindruck, daß er den eisenbeschlagenen Stab noch fester packte. Die Kolonne hielt vor dem Tor, und zwischen den Reihen der Ehrenwache stiegen die Reiter aus den Sätteln. Waffen funkelten in der Sonne, und Kettenpanzer und Zaumzeugbeschläge, Helme und Schwertknäufe glänzten. Die Besucher sahen aus, als zögen sie in einen Krieg. »Es ist eine Gesandtschaft«, sagte Madra. »Bragad ist hier als sein eigener Bote. Ich sehe 273
auch seine Frau. Und Mugeary hat Daman, seinen Neffen, geschickt.« Sie wies auf einen der Ankömmlinge. »Und dort, sieh, das ist Marsco, der mit dem grauen Wallach.« Riven sah einen großen schlanken Mann mit braunem Gesicht, der jetzt auf den Warbutt zukam und seine Hände in die seines Lehnsherrn legte. Gesprächsfetzen klangen zu ihnen hinauf, aber der Wind verwehte sie, und er konnte nichts verstehen. Er war verärgert und fühlte sich unwichtig; außerdem schmerzten seine Rippen. Er schenkte den übrigen Ankömmlingen keine besondere Aufmerksamkeit mehr. Stallknechte eilten jetzt aus dem Rorim und kümmerten sich um die Pferde der Gesellschaft, während zwei Angehörige der Schutztruppe am Wachgebäude ihre Waffen entgegennahmen. Riven drehte sich um und sah hinunter auf den großen Innenhof der Festung, den die Prozession jetzt betrat. Hufgetrappel schallte über das Kopfsteinpflaster. Die Banner wurden niedergeholt und eingerollt, und die Würdenträger verschwanden durch die große Tür der Manse, während sich die Soldaten und die Männer der Schutztruppe in ihre Quartiere zurückzogen. Neben ihm auf dem Wall spuckte ein Wächter beiläufig über die Mauer und warf Isay einen bedeutungsvollen Blick zu. »Morgen wird man eine Menge Reden hören, und heute abend wird viel Bier fließen, wenn 274
ich mich nicht irre. Die Hauptleute werden einiges zu besprechen haben.« Der Myrcaner nickte. »Manchmal ist es gut, nur ein einfacher Soldat zu sein«, sagte er. Am frühen Abend, als die Sonne sich über den Hügeln im Westen senkte, kamen Bicker und Ratagan in Rivens Zimmer. »Sei gegrüßt«, sagte der dunkle Mann lächelnd. »Ich fürchte, es ist eine Weile her, seit ich dir einen Besuch abgestattet habe, Michael Riven. Ich entschuldige mich dafür, aber ...« »Er ist pausenlos herumgerannt, als habe er Hummeln im Hintern«, ergänzte Ratagan fröhlich. »So in etwa«, sagte Bicker bedauernd. »Ich hatte alle Hände voll zu tun.« »Besonders heute«, bemerkte Riven. »Aye. Sicher hast du die Ankunft unserer ... Gäste beobachtet. Es hat sich im ganzen Rorim herumgesprochen, und heute abend wird es nach dem offiziellen Empfang ein Bankett geben.« »Was geht vor?« fragte Riven. »Ich habe das Gefühl, daß du mir nicht alles gesagt hast.« »Er hat niemandem alles gesagt«, schnaubte Ratagan. Bicker verzog schmerzlich das Gesicht. »Na gut«, gab er zu. »Es ist kein Zufall, daß Marsco und die anderen Lords heute zusammen mit Bragad und Mugearys Boten angekommen sind. Sie haben während der vergangenen Wochen miteinander verhandelt und kommen 275
jetzt praktisch als Verbündete, um zu versuchen, den Warbutt von ihrer Sache zu überzeugen.« Riven stieß einen leisen Pfiff aus. »Das Beste kommt noch«, informierte ihn Ratagan. Bicker zuckte mit den Schultern. »Bragad und Mugeary haben sich zusammengeschlossen. Ihre beiden Rorims operieren jetzt wie einer. Bragad ist persönlich zu den Unterhandlungen gekommen, während Mugeary seinen Neffen Daman geschickt hat. Ich habe den Eindruck, daß Bragad bei diesem Zusammenschluß tonangebend ist.« »Daran ist der Tod von Mugearys Sohn schuld«, unterbrach ihn Ratagan. »Mugeary ist ein alter Mann, dem das Herrschen keine Freude mehr macht. Ich glaube, an Macht und Politik ist er nicht mehr interessiert ...« »Das Ableben seines Sohns ist ein Unglück, das gerade im rechten Moment kam«, grübelte Bicker. Ein harter Zug lag jetzt um seinen Mund. »Das ist nicht gut«, fand Riven. »So ist es«, stimmte der dunkle Mann zu. »Nichts dergleichen ereignet sich in deinen Büchern. Wir fragen uns, ob jemand wie Bragad in deiner Geschichte vorgesehen war.« »Nein«, sagte Riven. »In meinen Büchern waren die Dales alle unabhängig. Es gab keinen ... Oberherrn. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ihre äußeren Feinde zu bekämpfen.« 276
»Darauf beruht ja Bragads Plan — er will einen Zusammenschluß, um die Monster zurückzuschlagen, die uns bedrängen, und um eine Zusammenarbeit bei der Lebensmittelverteilung zu ermöglichen.« »Ist das so eine schlechte Sache?« fragte Riven. »Du kennst Bragad nicht«, sagte Bicker. »Er schert sich nicht um das Wohlergehen seiner Vasallen, solange sie ihm dienen können. Um das zu gewährleisten, braucht er jetzt mehr Männer und mehr Territorium. Und Ralarth ist der größte der westlichen Rorims.« »Heute abend werden wir auf jeden Fall Näheres erfahren«, sagte Ratagan. »Bevor die große Feier beginnt, wird Bragad dem Warbutt vor dem ganzen Rorim einen offiziellen Vorschlag unterbreiten.« »Und was wird der Warbutt dazu sagen?« Ratagan grinste, gab aber keine Antwort. Die große Halle war voller Menschen. Sie standen dichtgedrängt an den Wänden und hatten nur in der Mitte einen schmalen Gang freigelassen. Über die Feuerstellen hatte man schwere Holzbretter gelegt. Es war wie ein Spießrutenlaufen durch die Bewohner des Dales. Die Reihe der Neugierigen wurde alle paar Meter von einem der strengen Wachposten in voller Rüstung unterbrochen. Sie standen aufrecht wie Stahlsäulen; um den von einem Brustpanzer geschützten Oberkörper trugen sie die unvermeidlichen Schärpen. Ihre Schutzschilde hatten blaue 277
Ränder, die Farbe von Ralarth. Riven war unwillkürlich beeindruckt, verstand plötzlich, warum nur so wenige von ihnen notwendig waren, um das Dale zu schützen. Ein unbewaffneter Mann hatte keine Chance, ihnen etwas anzuhaben — es sei denn, er war ein Myrcaner. Obwohl die Myrcaner vergleichsweise dürftig ausgerüstet waren, brachten sie es irgendwie fertig, noch furchteinflößender als die Männer der Schutztruppe zu wirken. Riven nahm seinen Platz neben Ratagan am oberen Ende der überfüllten Halle ein. Bicker saß auf einem der thronähnlichen Stühle und schenkte ihm zur Begrüßung ein Lächeln. Der Warbutt saß auf dem anderen. Um seine Schultern lag eine goldgesäumte Robe, die die gleiche Farbe hatte wie das Banner von Ralarth Rorim. Er trug keine Kopfbedeckung, aber eine goldene Kette um den Hals. In der blauädrigen Hand hielt er einen Stock aus weißem Holz, der mit Silberverzierungen beschlagen war. Auf der Seite der Halle, wo die führenden Persönlichkeiten von Ralarth standen, konnte Riven Udairn erkennen. Er stand neben einer dunkel gekleideten, zierlichen Person: Ethyrra, Ratagans Mutter. Auch der Leutnant der Schutztruppe, Dunan, stand dort mit seiner Schwester Mira, die den Blick nicht von Bicker ließ. Gwion war ebenfalls anwesend. Er wirkte unruhig; zweifellos wünschte er, an einem anderen Ort zu sein und die Vorbereitungen für das 278
anschließende Festmahl zu überwachen. Seine Frau, Ygelda, stand unbeweglich und ruhig wie ein Turm neben ihm; ihr kupferfarbenes Haar glänzte im Licht der Fackeln. Jemand drückte seine Hand, und er wußte, daß es Madra war. Sie stand neben ihm und lenkte damit seine Aufmerksamkeit auf sich. »Du siehst aus wie ein Lord von Ralarth«, flüsterte sie. Er lächelte abwesend. Vielleicht sah er so aus, aber diese Vorspiegelung konnte ihn aus einer Vielzahl von Gründen nicht befriedigen. Riven machte sich ein Spiel daraus, die Lords von Ralarth nach den Beschreibungen zu erkennen, die ihm seine Gefährten gegeben hatten. Marsco war leicht auszumachen, weil er einen halben Kopf größer war als jeder andere im Saal — außer Ratagan. Eiskalte Augen brannten in seinem wettergegerbten Gesicht. Seine Wangen waren eingefallen und von einer rötlichen Farbe, wie die eines Mannes, der einer anstrengenden Tätigkeit unter freiem Himmel nachzugehen pflegt. Er trug einen Wams aus enganliegendem Maulwurfspelz, der so fein war, daß er wie Samt aussah. Das Schwert, das von seiner Hüfte hing, hatte eine schmale Klinge und einen Griffkorb, im Gegensatz zu den üblichen schweren Langschwertern, die Riven bei den meisten Kriegern in Minginish gesehen hatte. Ein silberner Reif glitzerte an seinen Schläfen. Riven sah ihm ins Gesicht und bemerkte, wie sich seine Augen ein wenig weiteten. Er mußte 279
dem forschenden Blick ausweichen und verfluchte sich dafür. Hinter Marsco standen Lionan und Mullach, die beiden Lords, die am Morgen mit ihm zusammen angekommen waren. Mullach war ein Zwerg von einem Mann mit einer niedrigen Stirn, einer großen Nase und einem Schnurrbart, der an den Mundwinkeln vorbei bis zum Kinn wuchs. Seine Augen funkelten böse, und in seiner Schärpe steckte ein Streithammer wie eine Pistole. Jemand, den man im Auge behalten muß, hatte Bicker gesagt — jemand, der ein Jahr lang eine Intrige aushecken kann und dann alles in einem unkontrollierten Gewaltausbruch zunichte machen kann. Riven glaubte es. Die gewölbten Schultern und muskulösen Unterarme des Mannes verrieten außergewöhnliche Kraft. Er dachte, daß sogar Ratagan in ihm einen würdigen Gegner finden würde. Neben ihm Lionan. Wenn Murtach der Streithammer war, war Lionan das Rapier. Er war groß und schlank wie eine junge Weide. Rötliches gelocktes Haar leuchtete auf seinem Kopf. Seine Haut war zart wie die eines Mädchens, und sein Adamsapfel tanzte auf und ab wie ein Korken im Wasser. Wenn er eine Frau gewesen wäre, wäre er hübsch gewesen. Als Mann wirkte er unangenehm; die feinen nußbraunen Augen wurden von schweren Lidern überschattet, die Augbrauen waren fast unsichtbar. Er war noch nicht 280
lange im Amt, sein Vater war erst vor einem Jahr gestorben. Er hielt sich an Marsco, von dem er glaubte, daß sein Stern im Steigen war; hatte die Hoffnung, an dessen Rockschößen zu Ruhm und Ehre gelangen zu können. Wie hatte Ratagan ihn beschrieben? >Eine weißfingrige Kammerzofe<. Doch Bicker hatte ihm gesagt, daß Lionan einer der besten Fechter des Dales war. Seine Waffe, ein gertenschlankes Rapier, hatte mehr als ein Opfer im Duell gefunden. Wieder staunte Riven über die Dinge und die Menschen, die er hier beobachten konnte. Er konnte auf Anhieb wenigstens ein Dutzend seiner Romanfiguren erkennen, ohne sich groß umsehen zu müssen. Mullach war ein Brigant gewesen, ein Räuber, der Reisende um ihre Wertsachen brachte und Frauen entführte. Und Lionan war ein Dandy bei Hof gewesen, wohlparfümiert und tödlich. Seltsam, sie hier in anderen Rollen zu sehen. Obwohl die Rollen zu ihnen passen, dachte er. Dann sah er die Frau. Sie hatte rabenschwarzes Haar, graue Augen und trug schwarze Kleidung. Ein silbernes Haarband zierte ihre makellose Stirn. Sie stellte sich neben Marsco, wirkte wie eine zerbrechliche Blume. Sie war die Frau aus Rivens Traum, die Doppelgängerin seiner toten Frau. O Gott.
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Er stieß Ratagan den Ellbogen in die Rippen, und der große Mann drehte sich schnell zu ihm um. »Wer ist das?« »Wer?« Ratagan blickte verwirrt in die Menge. »Sie dort — die Frau neben Marsco.« Ratagan schnalzte wütend mit der Zunge. »Aha, du hast sie gesehen. Das, mein Freund, ist ...« »Jinneth.« Er erinnerte sich. Gott steh mir bei, er erinnerte sich. Damals war es ein Scherz gewesen, aus einer Laune heraus hatte er seine Frau in seine Geschichte eingebaut, sie zu einer großen Lady gemacht. Und jetzt war sie hier bei ihm, in dieser Halle. Jennifer, die zu Jinneth geworden war! Aber in seinen Büchern war sie unverheiratet gewesen, war mit niemandem zusammen. »Sie ist mit Marsco verheiratet«, sagte er dumpf. Aber Ratagan schüttelte den Kopf. »Sie ist Bragads Weib und hat ihn aus Höflichkeit begleitet. Und um die friedliche Absicht seiner Mission zu unterstreichen.« »Das hat mir niemand gesagt«, keuchte Riven. Ratagan zog die Stirn in Falten und blickte ihn genauer an. »Du bist durcheinander, Michael Riven. Was ist los?« Riven spürte auch Madras Sorge an seiner anderen Seite. Sie hatte die Hand auf seine Schulter gelegt. Er knirschte mit den Zähnen. »Nichts. Vergiß es.« Vergiß es.
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Sie war also Bragads Frau. Irgenwo mußte eine Logik darin liegen, wie diese Welt sich entwickelte. Es mußte einen Grund dafür geben. Aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er dahinter kam, welcher Grund das war. Er sah sie an wie ein gehetztes Tier, konnte den Blick nicht von ihr wenden. Sie spürte es, und ihre Brauen zogen sich etwas zusammen. Sie waren in der Mitte zusammengewachsen. Als ihre Blicke sich trafen, zuckte sie kurz; dann verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln, und sie blickte weg, schenkte ihm keine Beachtung mehr. Er spürte eine irrationale Wut in sich aufsteigen, ballte hilflos die Fäuste. Aber dann ging das vorbei, und er fühlte sich nur noch leer und verlassen. Nichts ist heilig. Mit einem dumpfen Quietschen öffnete sich die mächtige Holztür am Ende der Halle, der Tumult im Saal erstarb, und es wurde leise wie in einer Kirche. Hunderte von Köpfen drehten sich, um den Einzug einer Gruppe von Männern mit roten und grünen Schärpen zu beobachten, die jetzt durch die Menschengasse zur Plattform schritten, auf der die Würdenträger des Rorims in ihren hohen Stühlen saßen. Die Gruppe wurde von einem untersetzten dunkelhaarigen Mann angeführt. Ruhig ging er voraus, eine Hand am Schwertknauf. Sein Haar war kurz geschnitten, und er war glattrasiert. Er wirkte wie ein Schmied oder ein 283
Hauptfeldwebel. Oder ein Kriegsführer. Die scharlachrote Tunika fiel perfekt von seinen breiten Schultern. »Bragad«, flüsterte Ratagan. Riven rang nach Luft. »Hugh!« keuchte er atemlos. Sein Verleger, der Mann, der in einer vergangenen Welt seine Bücher auf den Markt gebracht hatte! Er gehörte in ein Büro in London, wo er in einem schlechtsitzenden Anzug übelriechende Zigaretten rauchte. Er schritt an ihnen vorbei, ohne Riven eines Blickes zu würdigen, erntete aber ein breites Lächeln von Jinneth, seiner Frau. Riven fragte sich, ob er langsam verrückt wurde. Er schwankte, und nur Madras schneller Unterstützung war es zu verdanken, daß er nicht nach hinten stürzte. »Alles in Ordnung?« fragte sie besorgt, doch er konnte nicht antworten. Er konnte nur voller Wut und Verzweiflung hinter HughBragad herstarren. Er meinte Hughs Stimme aus weiter Ferne zu hören: »Du weißt, was ich für sie empfunden habe, Mike. Ich habe sie bewundert. Sie war eine bezaubernde Frau.« Sie war meine Frau, verflucht noch mal! Aber er blieb ruhig stehen, schüttelte Madras Hand ab und ignorierte Ratagans besorgten Blick. Die kalte Kugel des Schwertknaufs lag in seiner Hand. Die Abordnung hatte jetzt die Plattform erreicht, auf der die hohen Stühle standen. Die Männer blieben stehen, ihre Stiefel polterten 284
auf den Holzdielen. Sie verbeugten sich. Bicker und sein Vater neigten den Kopf als Antwort. Bragad ergriff zuerst das Wort. Er klang verärgert. Der Warbutt hatte ihn als Bittsteller empfangen, nicht als Gleichberechtigten. »Ich grüße den Warbutt und die Lords von Ralarth.« Seine weite Armbewegung umfaßte die Männer auf den Stühlen, Guillamon und Udairn, die neben ihnen standen, und die anderen Lords, die sich in einer kleinen Gruppe am Ende der Halle befanden. »Meine Lords, ich bin Bragad, der Herrscher von Garrafad Rorim. Neben mir steht Daman, der Schwestersohn von Mugeary, dem Lord von Carnach Rorim. Ich spreche für uns beide, weil wir in dieser Angelegenheit einer Meinung sind und unsere Kräfte in diesen Zeiten wie eine Kraft wirken.« Er schwieg einen Moment, um seinen letzten Worten besonderen Nachdruck zu verleihen. »Ich bringe eine Botschaft von unseren beiden Rorims, die jeder in Ralarth hören soll, der zuhören möchte. Ist es mir erlaubt zu sprechen?« Er lächelte ironisch. Bicker sah ihn finster an, aber der Warbutt verzog keine Miene. »Laß uns deinen ... Vorschlag hören«, sagte er sanft. Bragad drehte sich um und wandte sich an die Menge, die sich in der Halle drängte. Es war totenstill. »Ich sage dies«, verkündete er laut. »Wir von Garrafad und Carnach mußten mitansehen, wie unsere Leute getötet wurden, unsere 285
Herden abgeschlachtet oder auseinandergetrieben wurden, unsere Ernte von einem Zauberwinter vernichtet wurde, unsere Häuser von den plündernden Bestien dem Erdboden gleichgemacht wurden. Sogar der Erbe von Carnach ist getötet worden. So kann es nicht weitergehen. Da die Jahreszeiten jetzt wieder in ihren normalen Ablauf zurückgefunden haben, ist der Sommer ungewöhnlich schnell vergangen. Bald kommt der Herbst, doch es wird keine reiche Ernte geben, die uns vor den Härten des Winters schützt. Dem zweiten Winter innerhalb eines halben Jahres. Es gibt Zauberei in diesem Land. Böse Magie hat uns an den Rand einer Hungersnot gebracht.« Riven bemerkte, wie Murtachs Miene sich vor Ärger verfinsterte und wie er einen Blick mit Guillamon, seinem Vater, wechselte. »Wir dürfen nicht dulden, daß diese Entwicklung sich fortsetzt, oder dieses Land und seine Menschen werden zugrunde gehen.« Bragads Stimme klang hell durch die Halle, in der sonst kein Laut zu hören war. »Garrafad und Carnach haben sich zusammengeschlossen, weil zwei Fäuste härter zuschlagen können als eine und Freunde sich alle Hilfe geben sollten, die in Notzeiten wie diesen gebraucht wird. Die Dales müssen diese Sache gemeinsam durchstehen, sich gegenseitig unterstützen und ihren Völkern helfen. Wir müssen die Wurzeln dieser unheilvollen Magie ausrotten und zerstören. 286
Wir müssen die Mörderbrut aus den Bergen in ihre alten Jagdgründe zurücktreiben, damit wir wieder in Frieden leben können. Ich bin gekommen, um euch einen Vorschlag zu machen: Der Warbutt möge überlegen, ob er sich Mugeary und mir auf diesem Kreuzzug anschließt, so daß die westlichen Rorims geschloßen handeln können. Vereint werden sie sich durchsetzen können, auf sich selbst gestellt werden sie ohne Zweifel unter dem Ansturm ihrer Feinde wanken. Laßt Kameraden Schulter an Schulter kämpfen, um das Übel zu vernichten, und laßt sie nach dem Sieg Kameraden bleiben, vereint durch den gemeinsam bestandenen Kampf. Damit die Rorims des Dales überleben und gedeihen mögen.« Bragad verbeugte sich vor der Menge und dann vor dem Warbutt und Bicker. Der Warbutt erhob sich. »Du hast deine Ansichten bewundernswert vorgetragen, Bragad, mein Lord. Es wird langer Überlegungen und Diskussionen bedürfen, um deinen Vorschlag zu beantworten. Ich hoffe, du wirst bleiben, um ihn uns noch detaillierter darzulegen. Während dieser Zeit mögest du die Gastfreundschaft des Rorims in Anspruch nehmen. Du und Lord Daman von Carnach sowie eure Begleittruppen sind hier als Gäste willkommen, solange wir, die Lords von Ralarth, über deinen Vorschlag beraten. Und ihr alle seid herzlich eingeladen, heute abend 287
mit den Bewohnern des Rorims an der Feier zu Ehren eures Besuchs teilzunehmen.« Bragad verbeugte sich tief und sagte, daß es ihm eine Ehre sei. Dann drehte er sich um und verließ mit seiner Gefolgschaft die Halle. Die leeren Schwertscheiden schlugen an die Waden der Soldaten. Nur den Lords von Ralarth und den Schutztruppen des Rorims war es gestattet, in Gegenwart des Warbutts Waffen zu tragen. Ein Grund mehr, warum Riven jetzt neugierige Blicke aus allen Winkeln der Halle auf sich zog. Er war offensichtlich kein Angehöriger der Schutztruppe, denn er trug keine Rüstung. Dennoch zierte ihn die Schärpe der Schutztruppe, und ein Schwert hing an seiner Hüfte. War er also ein Lord? Er sah die Fragen in den Augen der anderen Lords und spürte die Blicke von Jinneth. Er konnte sie nicht mehr ansehen. Er war es leid, Überraschungen zu erleben und angestarrt zu werden. Er wollte für eine Weile allein sein. Die Menge schob sich durch die Halle dem Ausgang zu. Bedienstete erschienen und entfernten die Holzplanken von den Feuerstellen, um die Festlichkeiten des Abends vorzubereiten. Durch die Anwesenheit so vieler Menschen war es sehr warm in der Halle, und Riven dachte mit plötzlicher Sehnsucht an die Einsamkeit der Hütte. Schnell schüttelte er den Gedanken ab. Bicker kam zu ihm, gefolgt von dem düster blickenden Murtach. 288
»Eine eindrucksvolle Rede«, sagte er. »Diejenigen von den Lords, die er bisher noch nicht überzeugt hatte, werden ihn jetzt für die personifizierte Vernunft halten. Ich glaube, wir haben schwierige Tage vor uns.« »Mir gefiel, was er über Zauberei und Magie gesagt hat«, sagte Murtach leichthin, aber seine Augen funkelten grimmig. »Vielleicht möchte Freund Bragad selbst einmal etwas Zauberei verspüren.« Ratagan legte dem kleinen Mann die Hand auf die Schulter. »Reg dich nicht auf. Er sucht nur nach Sündenböcken, das ist alles. Bragad gehört zu den Menschen, die immer eine Erklärung anbieten müssen, gleichgültig, ob sie stimmt oder nicht. Es wird keine Hexenjagd in Ralarth geben, egal, was kommen mag.« »Und keinen Zusammenschluß der Rorims, egal, was Marsco und seine Freunde zu sagen haben«, fuhr Bicker fort. »Diese schwarzgewandete Verführerin hat ihn in der Tasche, soviel ist klar.« »Schwerter und Zauberei sind nicht die einzigen Waffen«, polterte Ratagan. Er warf Riven einen Blick zu. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, den Geschichtenerzähler mit zu dieser prächtigen Veranstaltung zu nehmen. Er hat mehr als einen Blick auf sich gezogen.« »Bragads Lady wird alle Hände voll zu tun haben, sich um ihren Lord und seine Verbündeten zu kümmern«, sagte Murtach mit einem dunklen Lachen. »So wird sie 289
wenigstens den Geschichtenerzähler mit ihren Verführungskünsten verschonen.« Plötzlich packte Riven Murtach mit seiner gesunden Hand an der Tunika und schob ihn vor sich her. Erstaunt bemerkte Murtach den wütenden Blick in seinen Augen. Doch Rivens Wut verflog so schnell, wie sie gekommen war. Er ließ Murtach los und schloß die Augen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Tut mir leid.« Er konnte es nicht erklären. Die vier standen inmitten des Tumults in der Halle, und die anderen sahen Riven für einen Augenblick forschend an. »Dahinter steckt etwas, was du uns nicht sagen willst«, stellte Bicker ruhig fest. Riven schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, Bicker. Ich brauche frische Luft.« »Dann eben später«, sagte der dunkle Mann. »Nach den Gesprächen, die heute nachmittag stattfinden werden. Vor dem Fest.« »Ich möchte ein Pferd haben. Ich muß für eine Weile raus aus dem Rorim. Läßt sich das machen?« Bicker zog überrascht eine Augbraue hoch. »Nun gut. Isay wird ...« »Nein. Allein, Bicker. Nur ich. Ich werde mich nicht weit entfernen.« Bicker betrachtete ihn abschätzend. »Also gut. Bleib aber innerhalb der Außenmauer.« Er schwieg für eine Sekunde. »Kannst du mit dem Arm reiten?« »Das geht schon, keine Sorge.« Er ging davon, spürte, wie ihre Blicke ihm folgten und ihre 290
Ansprüche und Forderungen an ihn Riven begleiteten.
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ZEHNTES KAPITEL Der Herbst kam. Riven spürte es an dem schneidenden Wind, an dem schwachgoldenen Licht des Nachmittags. Sein Schatten tanzte rechts von ihm über den Boden, als er sein Pferd nach Norden trieb, weg von den Mauern des Rorims, in Richtung der endlosen heidekrautbewachsenen Hügel, die vom Dale zu den blauen und violetten Schatten der Berge am Horizont führten. Zwischen dem Rorim und der Außenmauer traf er kaum jemanden. Die meisten Leute schienen sich in den Rorim selbst oder in seine nähere Umgebung begeben zu haben — bevölkerten dort die Schenken, die sich an seine Mauern schmiegten, feierten Bragads Besuch. Hughs Besuch — Hugh und Jenny. Jesus! Er ritt an Schaf- und Rinderherden vorbei, und sein Pferd begrüßte wiehernd andere Pferde, die auf dem allgemein nutzbaren Weideland frei herumliefen. Aber die Weiden waren fast vollständig abgegrast, und was geblieben war, war gelblich und verkümmert. Zwischen den Weiden standen Steinhäuser und strohgedeckte Holzhütten in kleinen Weilern zusammen, doch es gab auch neuere Wohnstätten mit hastig aufgeworfenen Mauern 292
aus Grassoden und Zweigdächern. Er bemerkte die Übungsplätze, auf denen die Bewohner des Dales ihre Kampfausbildung erhielten. Er wandte sich von ihnen ab und ritt weiter nach Norden, wo die Gegend einsamer wurde, und bald lag zwischen ihm und den Hügeln nur noch das lange Band der Außenmauer. Irgendwo dort draußen war Jennys Ebenbild, stumm und verängstigt. Und hier, innerhalb der Mauern war ihr Double — eine schwarzgekleidete Verführerin, wie Bicker gesagt hatte. Was, zum Teufel, ging hier nur vor? Was war los mit diesem Platz? Es gab keine Antworten, nur quälende Fragen und Rätsel, die er nicht lösen konnte. Bitter fragte er sich, wer wohl als nächstes aus seinem früheren Leben hier auftauchen würde. Doody vielleicht — das wäre doch lustig. Oder Anne Cohen? Er zügelte sein Pferd. Plötzlich war ihm etwas eingefallen. Ein Gedanke, der sich schon verflüchtigt hatte, als er ihn festhalten wollte. Schwester Cohen ... Nein. Es war weg. Er fluchte und gab seinem Pferd wieder die Sporen. Als er die Außenmauer erreichte, hielt er an und stieg ab. Seine Rippen schmerzten. Er stöhnte verärgert und setzte sich in das kümmerliche Gras, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer und ließ sich von der 293
fahlen Sonne wärmen. Es war ruhig an diesem Ort. Sein Pferd graste zufrieden neben ihm, die Zügel schleiften über den Boden. Er hüllte sich tiefer in seinen Umhang, schloß die Augen und versuchte, an nichts zu denken. Der Herbst war keine schlechte Jahreszeit. Es gab natürlich Stürme, aber das Farnkraut überzog die Hügel kupferrot, und es gab immer wieder milde Tage, letzte Sendboten des Sommers, die sich in die düstere Jahreszeit hinübergestohlen hatten. Das Meer begann wieder, nachts lauter zu rauschen, und die Brachvögel sausten wie braune Geschosse durch das Tal. Es war die Zeit der Torffeuer und Kamingespräche, in der der Wind Melodien sang, aus denen Geschichten wurden. Herbst auf Skye. »Hallo, Fremder.« Er öffnete die Augen und sah Jenny auf einem Pferd neben sich. Er lächelte. Die Sonne schimmerte auf dem dunklen Haar, und ihre Haut leuchtete wie Honig. Sie hob die Augbrauen und erwiderte sein Lächeln, aber da war etwas an ihr, etwas, das ... Er sprang auf und warf seinen Umhang ab. Schmerz durchzuckte sein Schlüsselbein, und er stöhnte leise. »Was machst du hier?« fragte er mit zitternder Stimme. Ihr Lächeln verschwand. »Das wollte ich dich gerade fragen. Mir war nach einem Ausritt zumute, und als ich dich mit dem Pferd sah, 294
folgte ich dir, um nicht allein reiten zu müssen. Aber ich sehe, daß ich nicht willkommen bin.« Er sah sie mit zusammengekniffenen Lippen an. Es hatte den Anschein, als würde ihn diese Welt nicht so schnell in Ruhe lassen. Sie machte Anstalten, wieder auf ihr Pferd zu steigen, aber er trat auf sie zu. »Nein. Warte.« Sie hielt inne und drehte sich zu ihm herum. »Kennst du mich?« Sie wirkte verwirrt. »Sind wir uns schon einmal begegnet?« Er starrte sie an; sein Blick glitt über sie, studierte ihr Gesicht. Aber nein. Er senkte den Kopf mit zusammengebissenen Zähnen. »Nein. Du kennst mich nicht.« Sie ging auf ihn zu und hielt ihm ihren Handrücken entgegen. »Ich bin Jinneth, die Frau von Bragad von Garrafad ...« Er nahm an, daß er ihre Hand küssen sollte, bewegte sich aber nicht. Er hatte Angst, sie zu berühren. Sie ließ den Arm sinken, und die Augen unter den dunklen Brauen blitzten ärgerlich. »Wo immer du herkommst, Höflichkeit ist keine deiner Tugenden«, sagte sie schroff. »Ich gehöre nicht hierher«, erklärte er sofort. Ihr Vorwurf hatte ihn getroffen. Sie sah ihn aufmerksam an. »Du bist also nicht aus Ralarth«, stellte sie fest und lächelte wieder. »Und was bist du? Lord oder Offizier der Schutztruppe? Wenn du ein Lord wärst, müßte ich dich kennen — ich kenne sie alle. Aber ich glaube auch nicht, daß du zur 295
Schutztruppe gehörst. Du siehst nicht aus wie ein Krieger.« Herzlichen Glückwunsch. Sie ging weiter auf ihn zu, und er wäre zurückgewichen, wenn er nicht die Mauer im Rücken gespürt hätte. »Du hast mir nicht einmal deinen Namen genannt, Fremder.« »Michael Riven.« Für einen winzigen Augenblick glaubte er, ein Flackern der Unsicherheit in ihren Augen gesehen zu haben, aber es war so schnell vorbei, daß er nicht sicher war, ob er sich nicht getäuscht hatte. »Michael«, sagte sie prüfend. Ihr Akzent war fremdartig. Seine Frau sprach anders. Hatte anders gesprochen. »Ein komischer Name. Kommst du aus dem Norden? Vielleicht aus den Städten?« Er schüttelte wortlos den Kopf. Er spürte ihren Geruch. Ihre Nähe verwirrte ihn. »Du bist nicht meine Frau«, flüsterte er. Ihre Hand strich weich über seine Brust, streichelte seinen Bart, und er erstarrte. »Warum so spröde?« fragte sie. »Du bist ja völlig verkrampft. Fürchtest du dich, weil ich die Frau eines Lords wie Bragad bin? Das brauchst du nicht. Er und ich haben ein Abkommen, und ich bin sehr diskret.« »Was willst du?« krächzte er. »Du hast mich in der Halle die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen. Was hat man dir von mir erzählt?« 296
»Nichts. Ich weiß nichts von dir.« Außer dem, was er zu einer Geschichte gemacht hatte. Außer dem Teil dieser Frau, der vielleicht einmal Jenny gewesen war. »Was machst du hier in Ralarth?« Ihre Finger streichelten seinen Hals und verharrten bei dem Knoten der Schlinge, in der er seinen Arm trug. »Du bist verwundet worden. Wie ist das geschehen?« »Beim Kampf mit Riesen.« Sie zog die Augbrauen hoch. »Aha. Also vielleicht doch ein Krieger.« Ihr Finger fuhr über die Narbe auf seiner Stirn, und er zuckte zusammen. »Du trägst die Spuren vieler Verletzungen, und nicht alle davon sind neu. Bist du vielleicht ein Leihschwert?« »Ein was?« Er verstand nur mit Mühe, was sie sagte. Er verlor sich in dem Sog ihrer grauen Augen. Sein Herz raste, und er bekam kaum noch Luft. »Ein Söldner. Ein bezahlter Soldat.« »Das war ich früher einmal.« Leutnant Riven. »Aha.« Ihr Blick wurde schärfer. »Und was bist du jetzt?« »Nein. Genug jetzt.« In seinem Kopf schrillten Alarmsirenen. Diese Frau war nicht seine Frau, und sie war ihm nicht hier hinaus gefolgt, um Konversation zu machen. Sie war Teil eines planmäßig arbeitenden Räderwerks, und er hatte nicht die Absicht, sich da hineinziehen zu lassen. »Ich muß zurück«, sagte er. »Ich werde erwartet.« 297
»Von wem? Von dem mißmutigen Mädchen, das in der Halle neben dir stand? Sie ist ohne Zweifel noch ein Kind.« Er stieß sie plötzlich heftig zur Seite. Ihr Gesicht verzog sich wütend, aber sie sagte nichts. Schmerz pulsierte durch sein Schlüsselbein. Er stöhnte, als er sich auf sein Pferd schwang, und für einen Moment verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. Dann wurde sein Blick wieder klar, und er bemerkte, daß sie ihn anstarrte. Aber er sah kein Mitleid in ihren Augen — nur Neugierde. »Wir sehen uns wieder«, rief sie ihm nach, aber er riß sein Pferd herum, ohne zu antworten, gab ihm die Sporen und galoppierte zurück zum Rorim. Später am Nachmittag, bevor das Bankett begann, erzählte er Bicker, Ratagan und Murtach, was geschehen war. Sie saßen in seinem Zimmer in der Manse. Der Wind pfiff durch das Dachgebälk des Gebäudes, während sie ihm schweigend zuhörten. Als er fertig war, ging Bicker zum Fenster und sah hinaus in den Abendhimmel, zu den Hügeln, über die sich langsam die Dämmerung senkte. »Jetzt weiß ich, warum du dich in der Halle so verhalten hast«, sagte Murtach. Er streichelte Fifes Ohren, bis der Wolf ein zufriedenes Knurren ausstieß. »Es tut mir leid.« »Niemand kann etwas dafür«, antwortete Riven. »Außer mir vielleicht. Ich hätte wissen 298
müssen, daß sie dort ist. Ich habe sie schließlich hierhin gebracht. In die Geschichte.« »Aber in etwas anderer Art, wenn ich dich richtig verstehe«, sagte Bicker über die Schulter. »Ja. In etwas anderer Art.« »Ich hätte es selbst wissen müssen«, fuhr der dunkle Mann fort. »Da war diese Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Mädchen, das auf der Insel der Nebel herumstreifte.« Er wandte sich vom Fenster ab. »Aber irgendwie unterscheiden sie sich. Warum? Wie kann das sein? Zwei Abbilder deiner Frau in dieser Welt, eine Dirne und eine Herumirrende ohne Heimat. Das ist ein Rätsel, das nach Auflösung schreit.« »Das ist ein Fall für Guillamon, denke ich«, warf Ratagan ein. Er hielt einen vergessenen Bierkrug in der mächtigen Faust. »Und dieser Mann, den du aus deiner eigenen Welt kennst — der dir mit deinen Geschichten geholfen hat. Er ist Bragad.« Bicker schüttelte den Kopf. »Mein Freund, es ist kein Wunder, daß du heute nachmittag allein sein wolltest. Das alles ist genug, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben.« »Vielleicht sollte Riven 'sich heute abend auf dem Fest nicht sehen lassen«, schlug Murtach vor. Der dunkle Mann war anderer Ansicht. »Das würde eher zusätzlichen Verdacht erregen, als Bedenken zu zerstreuen. Bragad weiß jetzt, daß er hier ist, daß er ein Fremder ist. Wir 299
können es uns nicht leisten, Anlaß zu weiteren Spekulationen zu geben.« »Wir brauchen eine Identität für ihn — einen harmlosen Vorwand, warum sich ein ehemaliger Söldner hier aufhält«, meinte Ratagan. Er legte eine Hand auf Rivens Schulter und schüttelte ihn leicht. »Bist du ein guter Schauspieler?« »Verkleidet bin ich ja schon«, sagte Riven verdrossen, und der große Mann lachte. Die angespannte Stimmung, die im Raum geherrscht hatte, verflog. Bicker lächelte. »Was wärst du gerne, Michael Riven?« »Nun, sie meinte, ich sähe nicht wie ein Krieger aus.« Er war überrascht, wie bitter seine Stimme klang. Ich war mal ein Soldat. Früher einmal. Vielleicht nicht in dieser Welt, aber trotzdem — ich war ein Soldat. »Wenn sie dich in der Nacht gesehen hätte, als die Riesen uns besucht haben, würde sie anders darüber denken«, sagte Ratagan sanft. »Vielleicht könnte er ein Händler sein«, schlug Murtach vor. »Dazu kennt er die Gegebenheiten dieses Landes zu wenig«, erwiderte Bicker. »Außerdem trägt er die Schärpe von Ralarth. Was immer er ist, es muß mit unserem Dale zusammenhängen.« »Ein Geschichtenerzähler!« rief Ratagan und ließ seine Faust auf die Tischplatte krachen. Die beiden Wölfe schreckten auf. 300
»Was?« fragte Riven entgeistert. »Bei allen Heiligen, warum sollen wir nicht deinen wirklichen Beruf angeben? Ein Geschichtenerzähler aus dem Westen, der in die Dienste von Ralarth getreten ist und von den Bewohnern des Dales ein paar neue Sagen lernen möchte. Das ist es!« Bicker nickte. »Das trifft den Nagel auf den Kopf. Was sagst du dazu, Michael Riven?« »Das kann ich nicht. Ich kann keine Geschichten mehr erzählen.« »Wenn du Glück hast, bleibt dir das erspart«, sagte Ratagan grinsend. »Setz dich einfach in eine Ecke und seh nachdenklich aus. Wenn dich jemand auffordert, eine Geschichte zu erzählen, sag ihm, du lernst gerade die Geschichte vom Zwerg und dem Feuerholz. Sie ist endlos lang. Wenn du Anstalten machst, sie zu erzählen, wird man dich sofort in Ruhe lassen.« Bicker kicherte. »Ich fürchte, er spricht aus Erfahrung. Aber ich glaube auch, daß das eine gute Idee ist. Ich werde Gwion damit beauftragen, unsere Leute zu warnen. Die Hälfte von ihnen glaubt, daß Riven ein Krieger mit irgendwelchen Zauberkräften ist, der über das südliche Meer gekommen ist. Wir müssen ihnen einschärfen, den Mund zu halten. Er ist einfach ein Erzähler, der gekommen ist, um neue Geschichten zu finden.« Und vielleicht kommt das der Wahrheit ziemlich nah. 301
Ratagan nahm einen langen Schluck aus seinem Bierkrug. Bicker rieb sich nachdenklich die Nase. »Es ist vielleicht ratsam, den Geschichtenerzähler nach dem Fest unauffällig aus dem Rorim verschwinden zu lassen. Damit ist sichergestellt, daß er nicht so schnell wieder den Weg von Lady Jinneth kreuzt. Ihr Ehemann hatte sie offensichtlich beauftragt, herauszufinden, wer er ist und was er hier macht.« »Niemand von uns kann ihn begleiten, ohne Verdacht zu erregen«, bemerkte Murtach. »Er könnte es, wenn er einer Patrouille angehört«, sagte der dunkle Mann. »Du und Ratagan sollten morgen zu einem mehrtägigen Kontrollritt durch die westlichen Lehen aufbrechen. Du könntest dein Zuhause besuchen, mein rotbärtiger Freund.« »Ivrigar, was?« Ratagan nahm einen weiteren langen Schluck aus dem Krug, und ein ungewohnt düsterer Ausdruck legte sich über sein Gesicht. »Zuhause. Ich glaube nicht, daß ...« »Aelin würde sich freuen«, sagte Bicker sanft, und Ratagans Blick verfinsterte sich noch mehr. »Sie würde sich freuen«, wiederholte er. »Kurzfristig.« Bicker schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. »Dann ist es also abgemacht. Nach dem Fest heute abend werdet ihr drei den Rorim verlassen und mit einer Eskorte ein 302
paar Tage auf Patrouille gehen. Das ist nur vernünftig, solange die meisten Männer der Schutztruppen hier in der Festung zu tun haben. Es wird keinen Verdacht erregen. Bleibt eine Weile in Ivrigar, ich werde euch einen Boten schicken, wenn ihr zurückkommen könnt.« »Bragad wird uns bei den Verhandlungen vermissen«, vermutete Murtach. »Laß ihn doch«, erwiderte Bicker sofort. »Er wird eben wachsam bleiben. Außerdem werdet ihr nicht die einzigen sein. Mullach und Lionan werden sofort nach dem Bankett den Rorim verlassen und es Marsco überlassen, in ihrer Sache zu sprechen — die drei scheinen enge Vertraute geworden zu sein. Sie haben die Ausrede, daß sie ihre Grenzen im Norden sichern müssen. Anscheinend geht es dort oben heiß her. Wir haben eine Botschaft von Drynoch bekommen. Im Norden sind zahllose Grypeshs aufgetaucht.« »Wieder ein Punkt, den Bragad für seinen Vorschlag anführen kann«, murmelte Murtach. Der dunkle Mann nickte bitter. »Und Marsco zeigt allen, auf welcher Seite er steht, wenn er mitten in einer Beratung zwei Lords zurückschickt, um ihre Lehen zu beschützen. Eine dramatische, aber wirkungsvolle Geste.« »Und diese Sache mit den Grypeshs stimmt wirklich?« fragte Murtach. Bicker zuckte mit den Schultern. »Wir können es nicht überprüfen. Aber es gibt uns einen guten Grund, eine eigene Patrouille 303
auszusenden. Eine starke Patrouille. Und es ist eine passende Erklärung für eure Abwesenheit bei den Beratungen. Wir haben also nur noch heute abend, um uns zubetrinken.« »Ich nehme an, ich kann mich betrinken, wie ein Lord es bei einer solchen Gelegenheit tun würde?« sagte Ratagan lächelnd, aber Riven war sicher, daß er es ernst meinte. »Achte auf deine Worte und darauf, zu wem du sprichst«, warnte Bicker. »Das gilt auch für dich, Michael Riven. Wenn Bragad errät, wer du bist, bekommen wir große Schwierigkeiten mit den übrigen Lords.« »Und der Warbutt hat ein weiteres Problem«, ergänzte Mutach wütend. »Die Bediensteten der Manse müssen unbedingt zum Schweigen verpflichtet werden. Es sind ein paar Strohköpfe darunter, die schon viel zuviel mitbekommen haben.« »Madra nicht«, sagte Riven, der aus seinen Gedanken aufschreckte. »Nein.« Ein merkwürdig wilder Ausdruck erschien auf Murtachs Gesicht. »Madra nicht.« Im Rorim mußten tausend Vorbereitungen getroffen werden. In der Manse hatte man alle Hände voll zu tun, um ein Fest auszurichten, das den versammelten Lords angemessen war. In der Küche herrschte hektische Aktivität. Mittendrin stand Colban und gab Anweisungen in alle Richtungen. Sein besonderes Augenmerk galt den Küchenhilfen, 304
die die Salat- und Bratensoßen zubereiteten. Verschiedene Tiere wurden an langsam sich drehenden Spießen geröstet; eifrige Küchenjungen begossen die Braten. Junge Leute trugen verschiedenste Speisen aus den Vorratsräumen hinauf in die große Halle, wo sich die bereitgestellten Tische bald unter der Last bogen. Polternd wurden Bierfässer aus den Tiefen des Kellers nach oben gerollt. Andere Bedienstete brachten mit mehr Vorsicht dunkle, mit Staub und Spinnweben bedeckte Weinflaschen ans Tageslicht. In einer ruhigen Ecke stimmten einige Musikanten ihre Instrumente und spannten die Felle der Trommeln. Mitten in dem Getümmel sauste Gwion aufgeregt umher. An seine Fersen hatte sich eine Schar von Bediensteten geheftet, die von ihm Anweisungen, Ratschläge und Genehmigungen haben wollten. Einige von ihnen waren mit Kiefernnadeln übersät, sie hatten gerade die Halle mit Ästen geschmückt. Die Leute der Schutztruppe traten schleunigst zur Seite, wenn ihnen die Servierer entgegenkamen, um nicht ihre sorgsam polierten Rüstungen zu beschmutzen. Der eine oder andere von ihnen wurde von kichernden Küchenmädchen umringt, die ihm ausgelassen ihre fettigen Hände entgegenstreckten und dann flüchteten. Die Krieger verfolgten sie mit klirrenden Schritten. Ein Gang durch den Rorim war wie ein Streifzug durch ein mittelalterliches Stadtfest. Riven war entzückt. Er, Ratagan und Isay spazierten durch die 305
Festung und genossen die Festtagsstimmung, um sich die Zeit bis zum Beginn des Banketts zu vertreiben. Ratagan hatte von irgendwoher auf wundersame Weise Bier besorgt, und sie tranken unterwegs aus den randvollen Krügen. Der große Mann hatte für jeden, den sie trafen, ein Wort übrig und brachte die Dienstmädchen, die ihnen begegneten, gleichermaßen zum Erröten wie zum Lachen. Sogar Isay entspannte sich etwas und grinste einer schwarzhaarigen Dirne zu, die mit einer unzüchtigen Geste nach seinem Stock griff. Riven zog zahlreiche Blicke an, und es wurde hinter vorgehaltener Hand viel über ihn getuschelt, aber dies schien vor allem aus Ehrfurcht zu geschehen. Und je mehr Bier er trank, desto gleichgültiger wurde es ihm. Er war zufrieden damit, einfach das Fest zu genießen. Er hatte solche Feierlichkeiten mehrfach in seinen Büchern beschrieben, aber keine davon hatte die Farbe, die Geräusche, die Gerüche, die vibrierende Lebendigkeit dieses Festes gehabt. Er sah den Rorim so, wie er eigentlich sein sollte — ohne die Drohung der Katastrophe, die über ihm hing. Schon morgen würden diese Menschen sich wieder erheblich einschränken müssen, um mit ihren Vorräten über den Winter zu kommen. Aber heute waren sie völlig sorglos und unbekümmert. Riven stellte ohne Überraschung fest, daß er diese Welt und ihre Menschen lieben konnte, obwohl ihre Existenz ihm fast das Herz gebrochen hatte. Es 306
erschien ihm passend; hatte er doch in irgendeiner Weise diese Welt geschaffen und mit diesen Menschen bevölkert. Er hatte sich diese Welt — Minginish — aus allen denkbaren Welten ausgedacht, weil sie ihm so gut erschienen war. Und das war sie, trotz allen schwarzgekleideten Verführerinnen und ehrgeizigen Kriegsherrn, die es in ihr gab. Sie war es wert, um ihrer selbst willen erhalten zu werden, nicht nur, um Jenny die Ruhe zu geben, die sie verdiente. Er lächelte über seine Gedanken. Vielleicht schreibe ich sie eines Tages auf, wenn ich die Gelegenheit dazu habe. Beinahe hätten sie Madra über den Haufen gerannt, die plötzlich mit dem Arm voller Krüge vor ihnen auftauchte. Sie zog eine Augbraue hoch, als Ratagan sie um einen Krug erleichterte. »Auf deine Gesundheit«, verkündete er, während er den Inhalt des Kruges in ihre drei Humpen schüttete. »Es wird eine lange Nacht mit vielen Gesprächen, und wir müssen uns nach besten Kräften dafür rüsten ...« Er winkte ihr zu, und sie verzog den Mund. »Wirst du heute abend auf dem Fest sein?« erkundigte sich Riven. »Ich bin zu deiner Bedienung eingeteilt«, sagte sie. »Dann vernachlässige ihn besser nicht«, befahl ihr Ratagan mit gespielter Strenge. Aber sie sah weiterhin Riven an. 307
»Das werde ich nicht.« Das seltene, ernste Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie den leeren Krug mit einem tadelnden Blick auf den Rotbärtigen wieder an sich nahm und ihren Weg fortsetzte. Sie blickten ihr für einen Moment schweigend nach. »Sie kam in deiner Geschichte nicht vor, oder?« fragte Ratagan. Riven zuckte zusammen. »Nein.« Aber da war es wieder, dieses merkwürdige Gefühl, daß sie sich schon einmal begegnet waren. Ratagan legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und leerte dann seinen Humpen mit einem einzigen Zug. »Ah«. Er seufzte zufrieden und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. »Das Leben kann wirklich angenehm sein.« Abends half ihm Isay, sich für das Bankett anzukleiden. Er schien nichts dagegen zu haben, sich neben seiner Rolle als Leibwächter auch noch als Kammerdiener zu betätigen. Riven stellte fest, daß neue, elegantere Kleidung für ihn bereitgelegt worden war, wahrscheinlich von Madra. Die ärmellose Tunika war aus Hirschleder gefertigt, das geschmeidig wie Leinen war. Auf der Brust war mit rotem und gelbem Garn ein Flammensymbol eingestickt. Er fragte den Myrcaner danach und erfuhr, daß es sich dabei um das Abzeichen der Geschichtenerzähler handelte. Die Tatsache, daß das Symbol nicht von einem Wappen eingefaßt war, zeigte, daß er keinem 308
bestimmten Lord unterstellt war, obwohl die blaue Schärpe darauf hinwies, daß er zur Zeit seine Dienste in Ralarth genommen hatte. Unter der Tunika trug er ein weites Leinenhemd, und um die Hüften hatte er die blaue Schärpe geschlungen, die er mittlerweile als sein Eigentum ansah. Das Schwert gürtete er nicht um, denn bei solchen Gelegenheiten war das Tragen von Waffen nicht gestattet; Ratagan hatte ihm eine schaurige Geschichte von einem Bankett erzählt, bei dem gewisse Meinungsverschiedenheiten mit Hilfe der Fleischmesser geschlichtet worden waren. Angeblich hatten die Sieger anschließend mit den gleichen Messern weitergegessen. Riven setzte sich etwa in der Mitte der Halle an einen Tisch. Am oberen Ende der Halle, bei den hohen Stühlen, saßen die Lords. Lady Jinneth sah er an der Seite ihres Mannes. Ratagan und Murtach saßen in Rivens Nähe; Isay befand sich wie immer direkt neben ihm. Er sah Bicker, und der dunkle Mann warf ihm einen bedauernden Blick zu. Er würde während des Essens zweifellos den höflichen Fragen der Lords von Ralarth ausweichen müssen. Tragischerweise hatte das zur Folge, daß er relativ nüchtern bleiben mußte. Ratagan hatte versprochen, daß er sich um Bickers Anteil an Ale kümmern würde: man könne schließlich in diesen harten Zeiten nichts umkommen lassen. Jinneth beobachtete ihn. Riven sah in ihre schiefergrauen Augen. Sie trug das Haar offen, 309
und es fiel ihr locker über die Schultern. Ihr silberner Stirnreif glänzte. Das tiefausgeschnittene Kleid zeigte ihre weißen Schultern und den Ansatz ihrer Brüste. Um den Hals trug sie eine dünne Kette, an der ein einzelner Edelstein wie ein heller Stern funkelte. Begehren flammte in Riven auf, und er erinnerte sich an eine Zeit, in der er das Ebenbild dieses Körpers in seinen Armen gehalten hatte und alle seine Geheimnisse erforscht hatte. Aber die Frau, die er damals umarmt hatte, lag in ihrem Grab an einer fernen Küste, und seine Liebe war mit ihr begraben worden. Er erwiderte Jinneth' Blick, bis ihr Lächeln verschwand, und sie sich abwandte und ihrem Mann etwas ins Ohr flüsterte. Er lauschte ihr aufmerksam, ja fast unterwürfig, und Riven, der sich an die wenigen Gelegenheiten erinnerte, in der Hugh und Jenny sich begegnet waren, dachte, daß vielleicht doch irgendeine verdrehte Logik in dieser Welt war. Musik setzte ein; Tamburins und Flöten erklangen, und die Servierer begannen damit, unzählige Tabletts mit Speisen und Bierkrügen hereinzutragen. Riven blinzelte und bemerkte, daß er minutenlang vor sich hingestarrt hatte. Ratagan beugte sich über den Tisch und schenkte ihm von dem dunklen malzigen Bier ein, aber er verstand nicht, was der große Mann sagte. Das Bier, das er an diesem Abend schon getrunken hatte, umnebelte sein Hirn, und das Licht der Fackeln und der großen 310
Kerzen stach ihm in die Augen. Für einen Moment fühlte er wie Übelkeit in ihm aufstieg. Doch dann spürte er eine ruhige Hand auf seiner Schulter, und Madra beugte sich an ihm vorbei, um ein Tablett auf den Tisch zu stellen. Ihr Haar fiel über seinen Arm. Er hätte am liebsten sein Gesicht darin verborgen, um dem grellen Licht zu entgehen. Doch als sie ihre kühle Hand auf seinen Nacken legte, wurde sein Kopf wieder klar. Und dann ging sie wieder, mit einem Blick aus ihren pechschwarzen Augen und einem Lächeln, das wie ein Geschenk war. Eine kalte Nase schob sich an sein Knie, und er langte unter den Tisch und versorgte Fife — oder Drum, er war sich nicht sicher — mit einem Stück Wildbret. Genießerisch wie eine Katze nahm der Wolf es entgegen und leckte dann seine Handfläche. Er sah Murtach an, der ihm gegenüber saß, und der Gestaltenwandler grinste wie ein Gnom. »Verwöhn ihn mir nicht zu sehr«, sagte er. »Die halbe Halle wird meine beiden Freunde heute abend füttern.« Er hob einen gläsernen Bierkrug, der vor Kälte beschlagen war. »Auf das Leben, die Gesundheit und das Glück, und darauf, daß wir die Zeit haben, das alles zu genießen.« Fast alle an ihrem Tisch — die meisten schienen zur Schutztruppe zu gehören — hoben ihre Krüge und erwiderten seinen Trinkspruch mit dröhnenden Stimmen. Ratagan übertönte alle anderen. Riven nahm einen langen Schluck von dem kalten Bier, 311
und es rann ihm abwechselnd kalt und feurig durch die Kehle. Sein Kopf war jetzt klarer. Slainte. Es wurde langsam wärmer in der Halle, und mit zunehmendem Bier- und Weinkonsum lösten sich die Zungen, und die Gespräche wurden lauter. Die Gäste machten sich über die mächtigen Rinder-, Hammelund Rehbraten her, probierten Fasan und Rebhuhn, verschlangen Äpfel, Birnen und süße Zwiebeln, kosteten Käse und Roggenbrot und spülten all das mit immer mehr Bier herunter. Den wenigen Damen, die anwesend waren, räumte man das Privileg ein, aus Holz-, Glas- oder Zinnpokalen zu trinken. Batterien von leergetrunkenen Weinflaschen füllten langsam die Tische. Knochen flogen auf den Fußboden, und sofort stürzten sich die Hunde darauf, wichen aber zurück, wenn Murtachs Wölfe ein Stück mit besonders viel Fleischresten für sich beanspruchten. Die Männer der Schutztruppe erzählten lauthals von vergangenen Kämpfen und Jagden, und die Lords berichteten aus ihrer Familiengeschichte. Je mehr Ale getrunken wurde, desto fantastischer wurden die Geschichten. Riven sah, daß Bragad wild gestikulierend auf Bicker einredete, der nachdenklich an seinem Wein nippte. Marscos kalter Blick fixierte Jinneth, die ihre Hand auf seine gelegt und sich zu ihm gebeugt hatte, um ihm etwas zu erzählen. Lionan, der Dandy, sprach hinter vorgehaltener Hand zu dem 312
brutalen Mullach, der übellaunig von seinem Bier trank und die Serviermädchen anstarrte, die in einer ununterbrochenen Prozession kamen und gingen. Gedankenverloren kaute er auf einer Spitze seines schwarzen Schnurrbarts. Guillamons Augen brannten wie zwei eisige Feuer in der verräucherten Halle. Er lächelte Riven zu, der seinen Blick unstet umherschweifen ließ, und hob seinen Krug zum Gruß. Ohne zu lächeln erwiderte Riven die Geste. Er erinnerte sich an einen Zauberer mit stahlhartem Blick, den er in seinem zweiten Buch beschrieben hatte, und fragte sich, ob es Guillamon gewesen war. Manchmal war es schwer zu sagen, über welche dieser Leute, die hier vor ihm saßen, er geschrieben hatte. Er schüttelte den Kopf und trank mehr von dem starken Bier. Er hatte keinen Hunger, und der Alkohol ließ seine Gedanken bis unter die rauchschwarzen Dachbalken der Halle wandern, und er konnte der Geschichte nicht mehr folgen, die Ratagan ihm erzählte — wahrscheinlich die von dem Zwerg und dem Feuerholz, dachte er benommen. Statt dessen dachte er an Jenny. Jenny in seinen Armen. Und seltsamerweise kam ihm bei diesen Träumereien Madra in den Sinn. Wenn sie sich vorbeugte, um ihm Bier einzuschenken, preßten sich ihre Brüste gegen den Stoff ihres Kleides, und er konnte ihre Brustwarzen erkennen. Er verspürte den Drang, sie dort zu 313
berühren, aber statt dessen trank er in großen Schlucken von seinem Bier und zwang sich, woanders hinzusehen. Sie ist noch ein Kind, um Himmels willen. Außerdem bin ich verheiratet. Verheiratet. Hier in einer Welt, in der es sie nie gegeben hat, mit Menschen, die es in meiner Welt nicht gibt. Wo ihre Doppelgängerinnen durch die Hügel streifen oder auf Banketten herumflirten. Er senkte den Kopf. Sie ist tot und begraben in einem Grab in Portree. Und wo liegt das? Er trank Bier. Und wo bin ich? Madras Stirn glänzte im Licht der Kerzen, und sie wirkte sehr konzentriert, bemüht, beim Einschenken nichts zu verschütten. Auf ihrem Kleid waren Weinflecken. Riven zog seinen verletzten Arm aus der Schlinge und schleuderte die Schlinge auf den Boden. Isay hob sie auf und sah ihn an. Riven fragte sich, ob er Anteilnahme in diesem Blick sah, aber dann lachte er rauh. Anteilnahme von einem Myrcaner war so selten wie ein Bulle, den man melken konnte. Das Essen war jetzt vorüber, und Bier und Wein flossen weiter in Strömen. Die Szenerie erinnerte Riven an ein Gelage in einem Märchen. Sogar Bickers wachsame Angespanntheit schien verschwunden zu sein, und er lachte mit den anderen. Jemand führte auf einem Tisch einen verrückten Tanz auf, 314
und hölzerne Teller flogen auf den Boden. Die blaue Schärpe wies ihn als Angehörigen der Schutztruppe aus, und sein Gesicht war von der Hitze und dem Wein gerötet. Gelächter und Beifallklatschen begleiteten seine Aufführung. Riven beobachtete ihn und spürte, wie seine Laune sich wieder etwas besserte, und er überlegte, ob er Madras Haar streicheln sollte, wenn sie das nächste Mal an seinen Tisch kam. Sein Schlüsselbein schmerzte, und er massierte die Stelle vorsichtig mit seiner gesunden Hand. Er wünschte sich, sie würde es für ihn tun, aber sie war woanders in der Halle beschäftigt. Ihre Blicke trafen sich. Dann sahen sie sich noch einmal an; sie warf ihm ein scheues Lächeln zu, aber in seinem alkoholumnebelten Kopf war es ein einladendes Lächeln voller Verheißung. Er dachte an Schwester Cohen, wie sie ihn hielt, und er erinnerte sich an Jenny, die unter ihm lag und in der Dunkelheit zärtliche Worte in sein Ohr flüsterte. Herr im Himmel, ich brauche frische Luft. Aber er war sich nicht sicher, daß er sich auf den Beinen halten konnte. Isay, der treue Soldat, würde ihm helfen. Für einen Augenblick dachte er, daß Isay sein Corporal in Derry war, und er lächelte ihm zu. Aber der Mann war ja schon lange tot. Zerfetzt, wie die beiden Wächter in seinem Zimmer nach dem Angriff des Riesen. Wie Jenny am Fuß des Sgurr Dearg, des Roten Berges. Überall in seiner Erinnerung war Blut, und jetzt trank er 315
es selbst. Das Blut seiner Welt, die er erschaffen hatte und die er nun langsam zerstörte. Held. Soldat. Ehemann. Trauernder. Er stand auf, eine Hand auf den Tisch gestützt; die Hand seines verletzten Arms. Er fluchte leise und stieß sich vom Tisch ab. Fragende Blicke ringsum. Der große Ratagan und Murtach, das Frettchen, der graue Guillamon und der dunkle Bicker. »Muß an die frische Luft.« Er wandte sich zu Isay um und konnte sich auf eine Myrcanerschulter stützen. »Bring mich hier raus.« Der Boden schwankte unter ihm, und die Gesichter der Gäste verschwammen vor seinen Augen. Der Lärm des Festes dröhnte in seinen Ohren. Er erkannte Bragad, der ihn mit scharfem Blick beobachtete. Fragt sich, wer ich bin. Er fiel fast über seine eigenen Füße, aber Isay fing ihn auf. Nur raus aus der Halle, torkelnd, schwankend, stolpernd. Ihm war speiübel, und er biß die Zähne zusammen, um sich nicht übergeben zu müssen. Dann endlich Dunkelheit, die gesegnete Dunkelheit, und die eisige Nachtluft, die kalt nach ihm griff und die Nebel aus seinem Kopf vertrieb, seinen Beinen wieder Halt gab und ihm den Schmerz in seiner Schulter bewußt machte. Echte Schmerzen. Meine Schmerzen. Er atmete tief ein und krümmte sich vor Schmerzen vornüber. Spürte eine Hand auf seinem Rücken und hörte eine ruhige Stimme, die Isay sagte, daß alles in Ordnung sei. 316
Ich komm schon klar. Laß mich in Ruhe. »Laß mich in Ruhe.« Aber die Hand war immer noch da, lag jetzt warm in seinem Nacken und blieb dort, als er sich wieder zusammenkrümmte. Die Hand gehörte zu einem festen Körper, der ihn stützte, ihm die Treppe emporhalf und ihn durch einen dunklen Durchgang leitete. Sein Raum, erfüllt von silberhellem Mondlicht, das durch die Fenster fiel. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und schloß die Augen. Noch immer spürte er den Schweiß der überhitzten Halle auf seiner Haut; es war jetzt kalt, und ihn fröstelte. Er atmete langsam wieder gleichmäßig. Er öffnete die Augen und genoß die ruhige Dunkelheit, das Mondlicht und den Luftzug, der durch das Fenster kam, das seine Helferin geöffnet hatte. Sie stand besorgt vor ihm, die Augbrauen zusammengezogen, das geschmeidige Haar auf den Schultern; kleine Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Er streckte die Hand aus, griff sie am Arm und zog sie zu sich heran. Dunkle, rätselhafte Augen. Dann nahm er sie in die Arme, spürte ihre Wärme und Weichheit, den Druck ihrer Hüften an seinen, die Muskeln ihres Rückens unter seiner Hand und die seidenweiche Haut ihres Nackens an seinem Mund. Er küßte sie dort zärtlich, und sie drehte den Kopf, bot ihm ihren Mund an. Ihre Lippen berührten sich, aber ihre forschende Zunge traf nur seine Zähne. Er küßte ihre Stirn, ihr Kinn; dann nahm er ihren 317
Kopf in die Hände und schloß ihre Augen mit Küßen. Tränen liefen ihm über die Wangen. In seinem Kopf kreiste der Name einer anderen Frau; einer Frau, die schon lange tot war und die er um Verzeihung bat. Er schlief lange, und als er erwachte, hörte er, wie der Wind um die Dachbalken der Manse heulte. Für einige Minuten lag er merkwürdig zufrieden in dem warmen Bett, dann verdüsterte sich sein Blick. Abrupt sprang er auf und riß das Bettzeug beiseite, suchte das Laken ab, auf dem er geschlafen hatte. Dort, eingetrocknet, der kleine Blutfleck. Er suchte weiter; lange Haare auf dem Kopfkissen. Aber das Zimmer war leer. Er schloß die Augen und stöhnte. Kein Traum. Du Mistkerl. Er trank Wasser aus dem Krug und stolperte dann zu dem Waschbecken auf dem Tisch und steckte den Kopf hinein. Das kalte Wasser ließ ihn nach Luft schnappen. Er schüttelte den Kopf, und Wassertropfen spritzten durch den Raum, fielen auf die Kleidungsstücke, die auf dem Boden verteilt lagen. Er rieb sich die Augen. Sie ist noch ein Kind. »O Gott«, stöhnte er laut. Dann trocknete er sich ab. Er zog sich an und blickte in den Spiegel. Ein vernarbtes, bärtiges Gesicht sah ihn an. Es klopfte, die Tür öffnete sich, und Madra trat mit dem Frühstück auf einem Tablett ein. 318
Sie wich seinem Blick aus und stellte es auf den Tisch. Dann machte sie Anstalten, den Raum wieder zu verlassen, blieb jedoch stehen, bevor sie die Tür erreicht hatte und sah ihn an. Bildete er es sich nur ein, oder waren ihre Augen älter geworden? »Willst du, daß ich bleibe?« fragte sie einfach, und er wußte, daß es nicht nur darum ging, ob sie den Raum verlassen sollte. Er starrte sie an. Er sah ihr glänzendes Haar und die Kontur ihrer Hüften unter dem Kleid, und schon wieder regte sich Begehren in ihm. Es war schön mit ihr gewesen. Sie ist noch ein Kind. Er wollte ihr Blumen ins Haar stecken und sie zum Lachen bringen; aber das hätte er nie tun können. »Ich werde mich später um dich kümmern«, sagte er und haßte sich für seine plumpen Worte. Sie verschwand wortlos. »Nun«, sagte Ratagan, »Während der nächsten paar Tage werde ich wohl kaum einen vernünftigen Schluck in die Kehle bekommen, und daher war es vielleicht gar nicht so falsch, gestern zwei oder drei Gläser mehr zu leeren.« Er hinkte mittlerweile kaum noch und stützte sich nur noch selten auf den Stiel seiner Axt. Riven antwortete ihm nicht. Sie waren auf dem Weg zu den Ställen hinter der Manse. Er trug den Arm wieder in der Schlinge, die Isay ihm morgens wortlos zurückgegeben hatte. Der Myrcaner folgte 319
ihnen auch jetzt. Es roch nach Pferdemist und Heu. »Na wenigstens bleiben mir die Beratungen erspart«, fuhr Ratagan fort. »Diese Versammlungen sind so angenehm wie ein Furunkel am falschen Platz — obwohl dieses Treffen interessanter zu werden verspricht als die meisten anderen. Ralarth wird sich nicht mit den anderen zusammenschließen, und Marsco wird das nicht gefallen. Ringill hält eine wichtige Position inne. Eine schwierige Angelegenheit wird das. Ich bin froh, daß es Bickers Hintern ist, der einen der Stühle im Versammlungsraum wärmt, und nicht der meine.« »Wir werden dein Zuhause besuchen«, sagte Riven gedankenverloren. Ivrigar. In seinen Büchern war es ein ruhiges Landhaus gewesen. Häusliche Gemütlichkeit und all das. Ratagans Gesicht verfinsterte sich plötzlich. »Aye. Das werden wir.« Sie erreichten die Ställe, wo Murtach schon auf sie wartete. Er hatte ein Schwert auf den Rücken geschnallt und trug einen Köcher mit Pfeilen an der Hüfte. Er hielt zwei Pferde an den Zügeln, und hinter ihm schnupperte ein feuriger Brauner am Boden. Die beiden Wölfe saßen neben ihm. »Mal wieder zu spät, Master Ratagan, und diesmal ohne ein Hinken, das als Entschuldigung dienen könnte.« Hinter ihm drängten sich zahlreiche Männer mit Pferden. Männer der Schutztruppe in voller Rüstung; 320
ihr Atem dampfte in der kalten Morgenluft. Stoische Myrcaner, denen die Kälte nichts auszumachen schien; sie begrüßten Isay mit einem Nicken, als er herankam. Zwei Packesel versuchten gegenseitig sich in die Mähnen zu beißen. »Diesmal ist es mein Kopf«, gab Ratagan zu. Er hatte seine gute Laune wiedergefunden. »Er rächt sich für das, was ich ihm gestern angetan habe.« »Und unser Ritter — oder unser hier ansässiger Geschichtenerzähler, wie ich besser sagen sollte. Wie geht es seinem Kopf heute morgen?« Riven suchte in seinen blauen Augen nach einer verborgenen Bedeutung dieser Frage, konnte aber nichts erkennen. Er antwortete nicht, und Murtach zog erstaunt die Augbrauen hoch, ging aber nicht weiter auf die Sache ein. Man hatte einen ruhigen braunen Wallach für ihn gesattelt, und zusammen mit den anderen stieg er auf. Die Männer der Schutztruppe stöhnten vor Anstrengung, als sie sich mit der Last ihrer Rüstungen in den Sattel schwangen. Die Schlinge, in der er seinen Arm trug, behinderte Riven, und er nahm sie ärgerlich ab und stopfte sie sich vorne in seinen Wams. Prüfend schwang er den Arm. Das Schlüsselbein schmerzte, aber es war auszuhalten, und er hatte Verbände gründlich satt. Ratagan trieb sein Pferd zu ihm hinüber. 321
»Bist du sicher, daß du unserem Ausflug gewachsen bist?« Riven nickte. »Er wird mir guttun. Ich muß mal an die Luft kommen.« Ratagan grinste. »Heute morgen können wir alle frische Luft gebrauchen.« Die Patrouille bestand aus vierzehn Männern. Riven, Ratagan und Murtach, dann Isay und zwei andere Myrcaner — Luib, dessen Haar schon grau war, und Belig. Dazu kamen acht Männer der Schutztruppe, von denen sieben in voller Rüstung waren. Der achte, ein schwarzbärtiger Mann mit einem wettergegerbten Gesicht, hieß Tagan und war der Fährtensucher. Alle außer Riven trugen neben ihren persönlichen Waffen Kurzschwerter und einen Köcher voller Pfeile an den Hüften. In den Satteltaschen befand sich Verpflegung für zwei Tage, und die Packesel trugen Heu und Getreide für die Pferde, denn in den Hügeln, durch die sie an den ersten beiden Tagen reiten würden, würden sie wenig Futter finden. Danach konnten sie in Ivrigar, Ratagans Zuhause, zusätzliche Verpflegung aufnehmen und dann am dritten oder vierten Tag zum Rorim zurückkehren. Bis dahin würden die Beratungen sich ihrem Ende zuneigen oder schon beendet sein. Ein kräftiger Wind wehte ihnen entgegen, und mehr als ein Mann sah verwirrt zum Himmel empor. Der Herbst war endgültig da, im Gefolge eines Sommers, der keiner gewesen 322
war, und er war überraschend früh gekommen. Ungefähr in dem Moment, als ich Jinneth gesehen habe, dachte Riven und verzog unwillig das Gesicht. Er versuchte diesen Gedanken zu verscheuchen, als bringe er Unglück. Es ging ihm an diesem Morgen so viel durch den Kopf. Irgendwo in diesen Bergen streifte vielleicht eine andere Jenny zwischen den Bestien umher, die keine Erinnerung an ihn hatte. Und in der Manse hinter ihm gab es ein Mädchen, ein Kind, das er in der vergangenen Nacht voller Begehren und Selbstmitleid genommen hatte. Er fluchte innerlich. Ich bin ein wahrer Held, alle Achtung! Aber es war ... gut gewesen. Er hatte sich ihr völlig hingegeben, und sie hatte nichts dagegen gehabt. Und danach hatte er in ihren Armen gelegen, als seien sie in einer anderen Welt, wo die Wellen des Meeres an den Strand rauschten. Er hatte — für einen Moment — Frieden gefunden. Doch das war gestern gewesen. Jetzt war ein grauer Morgen, und ein feiner Nieselregen begann sich auf das Land zu legen. Riven freute sich darauf, den Rorim zu verlassen und in das offene Land hinaus zu reiten. Probleme waren ihm in einer solchen Umgebung schon immer einfacher erschienen. So einfach wie die Suche nach einem trockenen Schlafplatz oder das Anzünden eines Feuers. Nichts folgte ihm dorthin. Wenigstens nicht in meiner Welt. 323
Der Fährtensucher, Tagan, übernahm die Führung. Sein Bart und sein langes schwarzes Haar schimmerten jetzt schon vor Nässe. Sie folgten ihm. Fife und Drum sahen naß und wenig begeistert aus. »Was ist unser Plan?« fragte Ratagan. »Zuerst nach Westen zum Skriaig, um die Grenzen zu kontrollieren«, informierte ihn Murtach. »Dann statten wir im Norden Suardal und Corry einen Besuch ab. Wir werden sehen, ob wir Mullach und Lionan zu Gesicht bekommen, die ja nach Norden zurückreiten. Danach reiten wir zurück in den Süden nach Ivrigar.« Ratagan grunzte. Sie verließen den Rorim und wandten sich den Hügeln zu. Tagan ritt auf den Abhang vor ihnen zu, und sie verließen das Dale. Ihm folgte Murtach, der die Patrouille anzuführen schien. Dann kamen Ratagan, Riven und Isay sowie die sieben anderen Männer der Schutztruppe mit den beiden Packeseln. Luib und Belig hatten die Nachhut übernommen. Die beiden Wölfe liefen neben ihnen. Sie ritten einzeln hintereinander, denn der Boden wurde uneben, während sie den Hang emporritten, und unter den Hufen der Pferde lösten sich Steine, die den Hang hinunterpolterten. Tagans Blick wanderte zwischen dem Boden und dem Land vor ihnen hin und her. Sie ritten nach Westen, wo die Hänge steiler wurden, und bewegten sich bald über grauen zerklüfteten Felsboden. 324
Es regnete nicht richtig, aber die Luft war sehr feucht, und sie mußten ihre Umhänge anlegen, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Er rötete ihre Gesichter und ließ ihre Pferde dampfen. Der Sommer war endgültig vorbei. Auf einem felsigen Bergkamm, wo Heidekraut zwischen den Steinen wucherte, hielten sie an und blickten zurück. Ralarth war nur noch ein kleiner grüner Fleck unter ihnen. Rivens Beine schmerzten von dem ungewohnten Reiten, und der scharfe Wind trieb ihm Tränen in die Augen. Er zog den dicken Umhang fester um sich und fragte sich, warum er seine Wanderstiefel nicht angezogen hatte. Aber er hätte neben den anderen lächerlich damit ausgesehen. Er mußte lächeln. Eitelkeit. »Das ist der Skriaig«, sagte Murtach. Er stand in den Steigbügeln und blickte über die Gipfel der niedrigeren Hügel nach Westen. »Man könnte ihn unsere Grenze nennen. Niemand lebt jenseits dieser Bergkette, und selbst die Jäger überqueren sie nur selten. Es gibt dahinter nichts als endlose Hügel und die Berge im äußersten Westen; und die Bestien.« »Ein richtiges Drachenland«, murmelte Riven und betrachtete die wüste Landschaft unter ihnen. Er tastete nach dem Griff seines Schwertes. »Wir stehen genau auf dem Bergkamm«, sagte Tagan nach einer Weile. »Jeder im 325
Umkreis von einigen Meilen kann uns hier sehen.« Murtach nickte. »Wir werden weiterreiten, den östlichen Hang des Kamms entlang.« Er wies die Richtung mit der behandschuhten Hand, schnalzte dann mit der Zunge und trieb sein Pferd voran. Sie setzten sich wieder in Bewegung; das einzige Geräusch waren das Heulen des Windes und das Getrappel der Pferdehufe. Der Bergkamm zog sich meilenlang von Norden nach Süden; ab und zu wurde er von einem Einschnitt unterbrochen, wo ein schäumender Fluß sich seinen Weg gebahnt hatte. Die Landschaft erinnerte Riven an Skye. Sie war rauher als Ralarth. Die einzigen Lebewesen, die sie sahen, waren ein paar Brachvögel, und einmal in einiger Entfernung ein Adler, der in die Höhe flog. Sie ritten den ganzen Nachmittag weiter, und es begann nun richtig zu regnen. Es hatte den Anschein, als stünde ihnen eine nasse Nacht bevor. Sie hatten keine Spuren gefunden und niemanden gesehen. Ratagan hielt das für ungewöhnlich, da es in dieser Gegend nicht nur Rotwild gab, sondern auch Bergfüchse und Hasen. Aber sie sahen nichts in der Einöde, nicht einmal eine Feldmaus. Es wurde dunkel, und sie schlugen ihr Lager auf. Am Fuß eines mächtigen Felsblocks wurde ein Feuer entzündet, und sie setzten sich darum, während ein Mann der Schutztruppe Wache bezog. Schnell fiel die 326
Nacht ein. Riven war so steif, daß er sich kaum bewegen konnte. Aber nachdem die Pferde abgesattelt, abgerieben und gefüttert worden waren, breitete er eine Decke auf dem harten Boden aus und setzte sich mit den anderen zum Essen. Dicke Speckstreifen brutzelten in der Pfanne über dem Feuer, und sie tunkten ihr Brot in das Fett und spülten es mit Quellwasser hinunter. Der Regen rann in kleinen Bächen über die Felsen und durchnäßte ihre Pferde, doch durch das Feuer war es auszuhalten. Die Zweige des Heidekrauts verbrannten in einem hellen, hochlodernden Feuer, aber die Flammen verzehrten sie schnell, und jeder von ihnen sammelte einen Arm voll davon, um das Feuer bis tief in die Nacht hinein unterhalten zu können. Dann wurden die Wachen eingeteilt. Riven erwischte die Wache vor Murtach, der als Anführer die letzte Wache vor der Morgendämmerung übernommen hatte. Sie unterhielten sich noch eine Weile leise über unwichtige Dinge, zufrieden damit, in das Feuer zu starren und ihre erschöpften Glieder ausruhen zu können. Dann rollten sie sich in ihre Decken und Umhänge und schliefen. Mitten in der Nacht wurde Riven von einem gähnenden Mann der Schutztruppe zu seiner Wache geweckt. »Alles ruhig«, sagte der Mann leise. »Nach dir ist Murtach dran. Du kannst noch Holz und 327
Zweige in das Feuer legen.« Dann verschwand er unter seinen warmen Decken. Fröstelnd und zerschlagen erhob Riven sich und band sein Schwert um. Das Feuer bestand nur noch aus glühender Asche, die in dem leichten Regen knisterte. Er suchte nach dem Haufen mit Heidekraut und fütterte die Glut damit, bis die Flammen wieder aufloderten und ihn wärmten. Er blies sich in die Hände. Sein Umhang hatte sich mit Regen vollgesogen, während er geschlafen hatte, und hing ihm schwer und naß von den Schultern. Er dachte an sein Bett im Rorim; dann dachte er an Madra in diesem Bett, die warm unter ihm lag, an ihre Hände auf seinem Rücken, ihre Haare in seinem Mund. Er ging hinüber zu den Pferden, aber dort war alles ruhig. Mit halbgeschlossenen Augen standen sie zusammen, ein Bein zur Entlastung angewinkelt. Er bemerkte, daß der Wind nachgelassen hatte. Es regnete sanft und leise, die Tropfen rannen über seine vernarbte Stirn. Eine ruhige Nacht. Er hörte jenseits des Feuers das Geräusch von rollenden Steinen und fuhr herum. Er starrte in die nasse Dunkelheit und hörte es wieder. Er hätte am liebsten die Schlafenden geweckt, aber vielleicht war es nur ein Kaninchen oder ein Fuchs. Er stand still und hörte, wie sich Füße über die Felsen bewegten — mehr als ein paar Füße — und Geröll lostraten. Er zog sein Schwert und hielt es vor sich. Das Blut pochte ihm an den Schläfen, 328
aber er hatte noch nicht genug Angst, um die anderen zu wecken. Dann sah er, wie sie in den gelblichen Lichtschein traten, den das Feuer warf. Die Flammen spiegeten sich grün in ihren Augen. Drei Wölfe. Zwei von ihnen waren Winterwölfe, fahlweiß wie Gespenster in der Nacht, aber der dritte war ein dunkles, kurzhaariges Tier. Er war größer als die beiden anderen. Sein Maul war offen, und er schien ihn anzugrinsen. Die beiden kleineren Tiere trotteten auf ihn zu und legten sich mit einem zufriedenen Knurren neben das Feuer. Sie nahmen kaum Notiz von ihm. Es waren Fife und Drum. Der dritte setzte sich in dem Zwielicht zwischen dem Lichtkreis des Feuers und der nachtschwarzen Finsternis der Umgebung auf seine Hinterläufe. Riven starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Und noch während er ihn staunend betrachtete, verschwammen seine Umrisse. Das Leuchten in den Augen verschwand, und die gespitzten Ohren senkten sich. Ein dumpfes Grollen drang aus seiner Kehle, als habe er Schmerzen, und Riven sah, wie der Körper heller wurde, als sich das Fell in Nichts auflöste. Die Vorderläufe wurden dicker, die Hinterläufe länger und der Rumpf breiter. Und dann kauerte Murtach nackt vor ihm und beobachtete ihn. Riven senkte sein Schwert mit zitternden Händen. Der kleine Mann stand auf und kam zu ihm ans Feuer. 329
»Sei gegrüßt, Michael Riven«, sagte er ruhig, und die Worte klangen unartikuliert, so, als würden sie nicht zu seinem Mund passen. Er fröstelte und nahm einen Umhang aus seiner Packtasche, den er über die Schultern zog, bevor er sich wieder an das Feuer setzte. Fife und Drum folgten ihm mit ihren Blicken ohne ein Zeichen des Erstaunens. »Jesus«, sagte Riven schließlich. Er setzte sich auf einen Felsen und schüttelte den Kopf. Murtach grinste und enthüllte dabei Eckzähne, die noch immer sehr lang waren. Fangzähne eines Wolfes. »Glaubst du jetzt an Magie, mein Freund?« Werwölfe. Verflucht noch mal. »Was hast du getan?« fragte Riven, obwohl er nicht sicher war, ob er die Antwort wirklich hören wollte. Der kleine Mann starrte gedankenverloren in das Feuer. Riven hatte eine Gänsehaut. »Ein Wolf kann sich in dieser Gegend schneller bewegen als ein berittener Mann — und auch leiser. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, sich ein wenig in den Hügeln der Umgebung umzusehen und sich zu vergewissern, daß dort keine bösen Überraschungen auf uns warten. Außerdem ist es eine ganze Weile her, daß ich auf vier Beinen mit meinen Kindern unterwegs war.« Mit deinen Kindern. »Es ist eine Sache, darüber zu schreiben ...«, sagte Riven zweifelnd. Werwölfe. Verflucht noch mal. 330
»Wir haben etwas gefunden«, fuhr Murtach fort. Er sah Riven aufmerksam an. »Ein paar Meilen östlich sahen wir das dunkelhaarige Mädchen von der Insel der Nebel, das du und Bicker beschrieben habt. Sie wanderte ziellos umher. Als wir uns näherten, verschwand sie in den steilen Felsen, wohin wir ihr nicht folgen konnten. Wir verloren sie aus den Augen.« Er blickte wieder in das Feuer. »Wölfe können Angst riechen, und sie hatte keine Angst. Sie können auch andere Dinge riechen: Sie stirbt, Riven.« »Was meinst du?« Er spürte einen eisigen Knoten in seinem Magen. »Ich meine, daß sie nicht mehr lange leben wird. Sie ist blutverkrustet und völlig abgemagert, obwohl sie sich immer noch sehr flink bewegt. Aber wie sie überhaupt dort draußen überlebt, kann ich nicht sagen ...« Er brach ab. »Ist sie wirklich deine Frau?« »Ich weiß es nicht.« Er sah die dunklen Augen, in denen kein Erkennen war. Aber Bicker hatte gesehen, wie sie durch Glenbrittle wanderte, und sie war in der Hütte gewesen. Sie hatte versucht, nach Hause zu kommen. Ich weiß es nicht. »Ich weiß nicht, was sie ist«, sagte er blinzelnd. »Sie kennt mich nicht. Sie erscheint unwirklich. Ich weiß nicht, was sie ist.« Der kleine Mann zog den Umhang enger um die Schultern. Der Regen färbte den Stoff schon dunkel. 331
»Ich würde ihr am liebsten morgen nachsetzen; wenn wir sie erwischen, können wir vielleicht ein paar Fragen mehr beantworten. Aber ich bin mir nicht sicher, daß wir sie einfangen können. Ich glaube nicht, daß das passieren soll. Sie ist nicht nur ein Mädchen.« Er schwieg für einen Moment. »Vielleicht erleidet sie das gleiche Schicksal wie Minginish«, sagte er dunkel. Und dann erhob er sich mit einer geschmeidigen Bewegung. »Es ist meine Wache. Es wird bald dämmern. Ich werde mich anziehen, und du solltest noch etwas schlafen.« Aber Riven glaubte nicht, daß er in dieser Nacht noch Schlaf finden würde. Als der Tag anbrach, hatten sich die Wolken verzogen, und ein stahlblauer Himmel wölbte sich über ihnen. Sie schüttelten den Schlaf ab und fachten das Feuer an, um das Frühstück zu bereiten. Die Männer der Schutztruppe legten fluchend ihre nassen und kalten Rüstungen an und hüpften auf und nieder, um die Blutzirkulation in ihren steifen Beinen anzuregen. Sie frühstückten im Stehen, und Riven sehnte sich plötzlich nach einem Schluck Kaffee. Doch dann zwinkerte Ratagan ihm zu und reichte ihm eine zerbeulte Blechflasche; der scharfe Branntwein vertrieb die Kälte aus seinen Knochen. Sie rieben die Pferde ab, sattelten sie und machten sich wieder auf den Weg. Das Feuer hatten sie mit Steinen und Erde bedeckt. Sie folgten einem 332
Pfad, der aus dem Hochland hinunter zu den Städten und Dörfern von Ralarth und ihren Lehen führte, die sich im frühen Morgenlicht grün vor ihnen erstreckten. Sie ritten nach Nordosten, und die noch tief stehende Sonne warf ihre Schatten in Richtung von Skriaig und Ralarths westlicher Grenze. Wenn sie ihre Augen anstrengten, konnten sie im Norden die Häuser und Höfe von Suardal erkennen, von denen schon dünne Rauchfahnen aufstiegen. Die spärlichen Rinderherden auf den Weiden wirkten wie Ameisen. Unterwegs wurde nicht viel gesprochen. Fast schien es, als sei die Stille der Hügel ansteckend. Der Weg führte beständig bergab, bis sie wieder über Gras statt über Felsboden ritten. Bäume tauchten auf, und sie überquerten träge dahinfließende Flüßchen, die sich um die sanften Hügel wanden. Finstere Wolken ballten sich wieder über ihnen zusammen, und in der Gewißheit, vor Einbruch der Nacht ein warmes Lager in Ivrigar gefunden zu haben, sahen sie dem Regen gelassen entgegen. Riven gab seinem Pferd die Sporen und schloß zu Murtach auf, der an der Spitze der Kolonne ritt. Fife und Drum trabten leichtfüßig neben ihm her. Merkwürdigerweise schienen die Pferde keine Angst vor ihnen zu haben. Wahrscheinlich waren sie schon so lange im Rorim, daß die Tiere sich an sie gewöhnt hatten. 333
»Erzähl mir vom Gestaltenwandeln. Erzähl mir von Magie«, bat Riven. Murtach sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du selbst erzählst in deinen Geschichten viel davon.« »Erzähl.« Der kleine Mann schürzte die Lippen. »Magie. Das ist so eine Sache. Eine seltsame Sache. Weißt du, Michael Riven, daß ich und mein Vater zwei von denen sind, die Glück gehabt haben?« Er drehte sich zu Riven um. »Es ist schon eine Generation oder noch länger her, da gab es hier Hexenjagden. Sie trieben alle zusammen, die nicht ... normal waren, und verbannten sie aus Minginish. Die Menschen haben vor allem Angst, das sie nicht kennen.« Wie Werwölfe und Rollstühle. Riven nickte. »Der Warbutt war ein Freund meines Vaters. Er rettete ihn vor der aufgebrachten Menge. Meine Mutter konnte er nicht retten.« In Murtachs Stimme war keine Bewegung. Er sprach völlig tonlos. »Die Zeit verging, und Guillamon wurde zu einem geschätzten Berater und schließlich zu dem, was er heute ist. Aber dazu mußte er seinen ... Fähigkeiten abschwören. Er hat seitdem kaum einmal davon Gebrauch gemacht. Vielleicht hat er sie inzwischen auch verloren. Es spielt keine Rolle. Wir können mittlerweile darüber scherzen, ihn auffordern, jemanden in eine Kröte zu verwandeln. Was mich angeht — ich habe nichts vergessen. Eine ganze Volksgruppe wurde zusammengetrieben und vernichtet, in 334
die Berge gejagt, um nie wieder zurückzukehren. Und warum? Weil die Menschen sich vor allem Fremdartigen fürchten. Mein Vater hat es mir erzählt. Es gab Hexen, die das Vieh heilten und Kinder gesund machten, Zauberer, die ihren Lords gute Dienste leisteten. Sie alle wurden hinweggefegt. Und das Land wurde ärmer ohne sie. Und schwächer.« Er lächelte. »Vielleicht würden wir jetzt nicht in diesen Schwierigkeiten stecken, wenn ein paar mehr Zauberer unter uns wären.« Dann wurde er wieder ernst. »Aber da sind diejenigen, die all die Plagen, unter denen Minginish gegenwärtig zu leiden hat, mit diesen Ereignissen der Vergangenheit in Zusammenhang bringen. Sie glauben, daß die Zauberer und Magier noch immer oben in den Bergen sind und sich mit dem Ungemach an Minginish rächen. Leute wie Bragad glauben daran. Sie würden am liebsten wieder eine Säuberungsaktion gegen alle Verdächtigen — wie mich zum Beispiel — durchführen. Das ist einer der Gründe dafür, daß du jetzt hier bist, mein Freund. Um zu verhindern, daß Bragad auch in dir einen Zauberer sieht. Das würde ihm einen weiteren Vorwand für die Handlungsfreiheit geben, die er anstrebt. Im ganzen Dale würden wieder Scheiterhaufen errichtet, und Bragad, als Erlöser des Volkes, würde sie anzünden. Und die Menschen würden ihm glauben. In solchen Zeiten haben sie so viel Angst, daß sie jedem glauben würden, der ihnen einen Ausweg 335
weist.« Er schien in die Luft zu schnuppern. »Das Jahr geht schon seinem Ende entgegen. Der Winter steht bevor, dabei dürfte es gerade einmal Mittsommer sein. Es ist tatsächlich Zauberei in unserer Welt. Vielleicht ist sie in dir. Vielleicht in dem dunkelhaarigen Mädchen, das aussieht wie deine tote Frau. Ich weiß es nicht. Ich glaube, daß du unseren Untergang in deiner Tasche trägst, aber ich weiß nicht in welcher Weise. Und auch Minginish selbst spielt eine Rolle, glaube ich. Deine Bücher erzählen nicht die ganze Geschichte. Kein Mensch ist dazu in der Lage.« »Woher kommt die Magie?« fragte Riven. »Du kennst die Sage — du hast sie selbst geschrieben. Von den Zwergen, aus den Tiefen der Greshorns. Sie sind das älteste Volk dieser Welt. Sie verliehen die Kraft der Magie einem Krüppel namens Birkinlig, und er nahm sie mit in das Unterland und gab sie weiter an seine Freunde, seine Familie. Die Menschen kamen von nah und fern, um die Wunder zu sehen, die sie vollbrachten, und nach und nach stellten sie ihre Kräfte — wie die Myrcaner — in die Dienste der Lords von Minginish. Andere gingen ihre eigenen Wege und beschäftigten sich eingehender mit den Geheimnissen, die ihnen offenbart worden waren. Sie lebten zurückgezogen in tiefen Wäldern, wo Hilfesuchende sie von Zeit zu Zeit aufsuchten. Und so verstreuten sie sich allmählich über Minginish und wurden das 336
Verborgene Volk. Und heute sind sie verschwunden.« »Und warum ein Wolf?« fragte Riven. »Ich kann mich auch in einen Bären verwandeln, wenn du es möchtest. Oder in irgend etwas anderes. Ich habe Fife und Drum als Welpen gefunden; ihr Vater war von Jägern getötet worden, und das Muttertier lag im Sterben. So wurde ich selbst zu einem Muttertier, rettete sie und säugte sie. Und sie wurden meine Kinder. Schockiert dich das, Michael Riven?« »Ein bißchen.« Mutach kicherte. »Auf jeden Fall kommt es nicht in deinem Buch vor. Dort bin ich ein unzuverlässiger Kerl, der zuviel von einem Wolf in sich hat — ist es nicht so?« »Du weißt, daß meine Bücher nicht in jeder Hinsicht ein getreues Abbild dieser Welt sind.« »Ja, aber es ist dennoch interessant. Und jetzt stellt sich heraus, daß diejenigen, die uns am meisten zu schaffen machen, aus deiner eigenen Welt kommen — Bragad und Jinneth. Gibt es noch jemanden, von dem wir wissen sollten?« Riven schüttelte müde den Kopf, obwohl er dachte, daß es da vielleicht jemanden gab. Er zügelte sein Pferd und ließ die Reiter, die er vorhin passiert hatte, wieder an sich vorbei. Gespräche mit Murtach hatten manchmal etwas von einem Duell.
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Jenny ist jetzt irgendwo da draußen in den zerklüfteten Hügeln, in die die Zauberer und Hexen verbannt worden waren. Er fing an, einen Schimmer von Logik in dieser Welt zu erkennen. Sie trafen jetzt vereinzelt auf Menschen und kamen schließlich auf eine gepflasterte Straße, die irgendein Lord von Ralarth vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten angelegt hatte und in die sich Wagenspuren tief eingegraben hatten. Die Schutztruppe und die Myrcaner wurden freundlich begrüßt, und die Menschen, denen sie begegneten, schienen so etwas wie Erleichterung zu verspüren. Es waren Händler mit Planwagen, Viehzüchter mit ihren Herden, Frauen, die Feuerholz oder Wassereimer trugen, und Kinder, die hinter ihnen herliefen und die Männer in den Rüstungen auf den großen Pferden bestaunten. Fife und Drum zogen ab und zu erschrockene Blicke auf sich, aber die meisten Leute schienen sie und ihren Herrn zu erkennen. Murtach wurde mehr als einmal mit seinem Namen angesprochen, und einer der Männer der Schutztruppe beugte sich von seinem Pferd, um einen Blumenstrauß entgegenzunehmen, den ein glutäugiges Mädchen ihm mit einem bewundernden Blick reichte. Seine Kameraden amüsierten sich. In jeder Siedlung ließ Murtach anhalten und sprach mit dem Dorfvorsteher. Riven konnte nicht hören, was sie besprachen, aber 338
jedesmal schüttelten die Männer die Köpfe und blickten grimmig drein. In einigen Dörfern hingen frisch abgezogene Wolfsfelle an den Hauswänden, und in einem Dorf hatte man den Kopf eines Eisriesen auf einen Pfahl vor dem Haus des Vorstehers gespießt. Der weiße Schädelknochen leuchtete an einigen Stellen durch die verwesende Kopfhaut. Eine Krähe thronte auf dem Kopf und pickte gierig in den leeren Augenhöhlen herum. Sie ritten eilig weiter, denn sie würden ein Stück ihres Weges zurückreiten müssen, um vor Einbruch der Dunkelheit Ivrigar zu erreichen. Murtach hatte von einem großen Wolfsrudel erfahren, das sich westlich von Skriaig herumtreiben sollte. Ein paar Jäger hatten es auf ihrer verzweifelten Suche nach Wild an den Grenzen von Ralarth gesichtet. Sie berichteten, daß es so groß sei wie eine Armee und daß Eisriesen es begleiteten wie ein Schäfer seine Herde. Das Rudel war in östliche Richtung unterwegs. Auch Grypeshs waren gesichtet worden — die Rattenschweine, die nachts die Wälder unsicher machten und in mondlosen Nächten in die Siedlungen eindrangen. Sie hatten Kinder verschleppt. Wo waren da die Schutztruppen gewesen? Und wo waren Lionans Kämpfer gewesen, die Gefolgsleute, die Suardal ebenso zu verteidigen hatten wie die Schutztruppe? Niemand hatte sie in der letzten Zeit zu Gesicht bekommen. Und die Tore von Rim-Suardal waren verriegelt. 339
Sie ritten weiter. In einem der Dörfer waren drei Männer aus dem Norden erschlagen worden, die versucht hatten, Nahrungsmittel zu stehlen. Wie Vogelscheuchen hatte man sie an einen roh gezimmerten Galgen gehängt. Murtach befahl, sie abzuschneiden. Er war weiß vor Wut. Die Schutztruppen verkörperten das Gesetz in diesem Land. Er sagte den Verantwortlichen, daß ihre Anwesen niedergebrannt würden, wenn sich so etwas noch einmal ereignete. Sie hörten ihm mit unbewegten Gesichtern schweigend zu — ein halbes Dutzend halbverhungerter Männer, hinter denen sich das Frauenvolk mit wimmernden Kindern an den Röcken drängte. Die Kolonne reichte ihnen, was von ihren Lebensmitteln übrig war, und setzte sich wieder in Bewegung. Je weiter sie nach Westen kamen, desto schlimmer wurde es. Sie passierten zwei wohlhabend wirkende Gehöfte, die völlig verlassen waren. Der Hof eines der Anwesen war übersät mit den halbverwesten Kadavern von Wölfen und Grypeshs. Die Stimmung der Patrouille verschlechterte sich. Selbst Ratagan schien das Lächeln verlernt zu haben, und die Myrcaner wirkten noch ernster als sonst. Schließlich wendeten sie sich nach Süden und ritten auf Ratagans Zuhause zu. Die Schatten wurden länger, und der zweite Tag des Patrouillenritts neigte sich dem Ende zu. Keiner von ihnen verspürte besondere Lust, nach Einbruch der Dunkelheit noch hier 340
draußen zu sein. Es begann zu regnen. Die Männer der Schutztruppe rutschten unbehaglich in den Sätteln herum, als das Wasser in ihre Rüstungen lief, und zogen wasserdichte Umhänge aus ihren Satteltaschen. Die Myrcaner ließen es gleichmütig über sich ergehen. Dann zügelte Tagan, der Fährtensucher, sein Pferd und stellte sich in die Steigbügel. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um. Murtach tat es ihm nach. Die beiden Wölfe standen mit aufgerichteten Ohren neben seinem Pferd, und plötzlich stießen sie ein unheilverkündendes Knurren aus. Tagan wies auf die Hügel, über die sich langsam die Dämmerung senkte, und Rivens Blick folgte seiner Hand. Zwischen den Schatten der Felsen bewegte sich etwas. Er hörte ein leises Geräusch neben sich und sah, daß Ratagan seine Axt aus dem Halfter an seinem Sattelknauf gezogen hatte. Regenwasser tropfte von der Klinge. Tropfen liefen über das Gesicht des großen Mannes, in seine Augen, und sickerten in seinen Bart. »Ich fürchte, wir haben Gesellschaft bekommen, mein Freund«, sagte er leise. Entlang der Kolonne zischten geölte Schwertklingen aus den Scheiden. Einer der Esel schrie alarmiert, und ein Myrcaner brachte ihn mit Stockhieben zum Schweigen. Blut rann aus der Nase des Tiers. »Grypeshs!« rief Murtach mit verhaltener Stimme. Sie bewegten sich wie eine schwarze 341
Welle den Hang hinunter. Riven konnte keine einzelnen Tiere ausmachen, sondern nur den Umriß des Rudels. »Wie viele?« fragte er. »Ungefähr sechzig bis achtzig«, sagte Isay hinter ihm. Eine finstere Entschlossenheit klang aus seiner Stimme. Riven versuchte sich durch Erinnerungen an seine Bücher ein Bild von ihren Gegnern zu machen, aber die erschreckende Realität der Situation, der Regen, die Dunkelheit und das herannahende Rudel ließen ihm keine Zeit zum Denken. Murtach riß sein Pferd herum. Er sah aus wie ein Zentaur. »Es sind zu viele«, sagte er. »Wir müssen reiten — nach Ivrigar. Luib, laß die Esel frei. Wir lassen sie zurück. Tagan, reite voran.« Und sie stürmten los. Rechts von ihnen ertönte das Quieken des Rudels, das sie jetzt entdeckt hatte. Erdklumpen und Steine spritzten unter den Hufen ihrer Pferde weg, als sie in vollem Galopp durch die Dämmerung sprengten. Der Regen peitschte ihnen ins Gesicht, und durch den wilden Ritt über den unebenen Grund wurden sie trotz des festen Drucks ihrer Schenkel in ihren Sätteln herumgeschleudert. Riven spürte seine Angst wie einen eisigen Knoten im Magen, aber er konnte nichts anderes tun, als sein Pferd hinter Murtach her zu lenken und sich zu bemühen, im Sattel zu bleiben, während sie an Felsen und Büschen vorbeijagten. Der donnernde Galopp der anderen Pferde dröhnte 342
in seinen Ohren, und die eisigen Stiche des Regens blendeten ihn. Hinter ihnen hörten sie die Todesschreie der zurückgelassenen Esel, und die Pferde galoppierten noch schneller. Murtachs Wölfe flogen wie graue Schatten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit neben ihnen her. Sie sprengten den Hang hinab, als verfolgten sie einen Gegner. Aber der Feind war hinter ihnen. Sie hörten die quietschenden Schreie ihrer Verfolger über dem Donnern der Hufe. Die Pferde waren in Todesangst, der Schaum flog ihnen von den Mäulern, und ihre Augen waren weiß vor Furcht. Aber sie waren auch völlig erschöpft. Vorne schrie Murtach etwas und verlangsamte das Tempo. In einer Talsenke glitzerte ein Fluß, dessen ruhige Oberfläche wildschäumend zerissen wurde, als sie hindurchjagten. Das Wasser spritzte ihnen bis zu den Hüften. Jenseits des Flusses erhob sich ein mächtiges Gebäude vor dem Nachthimmel. Lichter flackerten auf. Sie trieben ihre Pferde eng zusammen und stiegen aus den Sätteln. Die beiden Myrcaner rannten sofort nach hinten, um sich den Verfolgern entgegenzustellen. Riven sah eine schwarze Flut aus dem Fluß steigen, und dann glühten überall grüne Augen, und die Stäbe der Myrcaner sausten durch die Luft und zerschmetterten krachend Knochen. Wildes Kampfgeschrei und das schrille Gewieher der Pferde erfüllte die Luft. Riven hing an den 343
Zügeln seines Pferdes, das scheute und ausschlug, in dem verzweifelten Versuch zu entkommen. Warmer Speichel flog ihm ins Gesicht. Er hörte Murtach schreien, und wie jemand wild gegen ein Holztor pochte. Männer in Rüstungen zogen ihre Schwerter und riefen durcheinander. Sie eilten der Nachhut zur Hilfe. Er sah Ratagans Axt aufblitzen, und die Klinge verschwand in einer haarigen Schnauze, verspritzte schwarzes Blut. Grypeshs. Sie waren wie etwas aus einem Alptraum. Sie hatten die Köpfe von Ratten; Ratten, die anderthalb Meter lang waren. Aber an den Seiten ihrer Schnauzen schimmerten die langen Hauzähne von Keilern, und ein Streifen von borstigen Haaren verlief von ihrem Kopf ausgehend die Wirbelsäule entlang. Ihre Füße hatten Krallen, und die dicken Beine waren sehr kräftig. Ihre schlangengleichen Schwänze waren unbehaart. Sie quietschten und brüllten abwechselnd. Riven sah einen Mann der Schutztruppe nach einem Angriff zu Boden gehen. Sofort waren drei oder vier weitere Angreifer um ihn. Seine eisengepanzerten Glieder zuckten in einem Gewimmel von Pelz, Klauen und Zähnen. Doch dann war Luib zur Stelle, fegte die Bestien beiseite und schleppte den Mann aus der Gefahrenzone. Sie hörten ein dumpfes Poltern, als die Tore von Ivrigar geöffnet wurden, und heller Fackelschein beleuchtete die Szene. Sie kämpfen sich in den Hof des Anwesens, ihre 344
Pferde an den Zügeln hinter sich herziehend. Die Hälfte der Männer war in einen unerbittlichen Rückzugskampf mit den Grypeshs verwickelt, die in Massen dem Tor zustrebten und versuchten, in den Hof zu gelangen. Der Regen war stärker geworden, und der Boden war rutschig. Riven zog sein Schwert. Die Pferde galoppierten jetzt angsterfüllt durch den Hof, während die Bewohner von Ivrigar versuchten, sie zu besänftigen. Andere bemühten sich, die Torflügel zuzudrücken, gegen die sich die Grypeshs drängten. Sie haben es auf mich abgesehen. Der Gedanke kam ihm plötzlich, während er dastand und überlegte, ob er sich in den Kampf stürzen sollte. Die Grypeshs krallten die Klauen in ihre eigenen Toten, um zu dem Tor zu gelangen, wo Schwerter und Stäbe und Ratagans Axt ihnen einen schrecklichen Blutzoll abforderten. Aber warum? Dann sprang ein Grypesh Ratagan an den Hals, und er ging zu Boden. Riven zögerte nicht länger. Er rannte los, schwang sein Schwert und spürte, wie ein Schlag seinen Arm durchzuckte, als er das Tier beinah enthauptete. Wieder und wieder holte er aus und spürte, wie der glühende Schmerz sich wieder in seiner Schulter ausbreitete und seinen Brustkorb durchzog. Das Kampfgetümmel verschwamm vor seinen Augen. Er half Ratagan auf, und der große 345
Mann stützte sich auf ihn und verfluchte sein lahmes Bein. Dann war es vorbei. Das Tor fiel krachend zu, und die wenigen Grypeshs, die bis in den Hof gelangt waren, wurden niedergemetzelt. Die Männer waren völlig durchnäßt. Sie keuchten wie nach einem anstrengenden Lauf. Sie hörten, wie der Rest des Rudels sich gegen die Holzbalken des Tors und der Palisade warfen. Verzweiflung und Haß klang aus ihren Schreien. Riven war übel. »Du kamst zur rechten Zeit, mein Freund«, keuchte Ratagan. »Wir retten uns immer wieder gegenseitig den Hals, du und ich.« Er schwieg einen Moment, bis er wieder ruhiger atmen konnte. »Eine schöne Tradition. Möge sie lange ... lange anhalten.« Er grinste, und seine Zähne blitzten im Licht der Fackeln. »Ratagan. Mein Lord.« Eine Frauenstimme ertönte zwischen den Kämpfern und den Bewohnern der Siedlung, und eine schmale Gestalt löste sich aus der Menge, den Kopf von einer Kapuze verhüllt. Die Leute von Ivrigar machten ihr Platz. Sie zog die Kapuze in den Nacken und enthüllte ihr goldblondes Haar. »Komm herein. Du bist verletzt, und ich muß dich in deinem Haus begrüßen.« Ratagans Grinsen verschwand. Die einzige Lichtquelle des Raums war ein Feuer in einem großen, mannshohen Kamin, der so breit war wie ein Bett. Dicke Holzscheite brannten in hohen Flammen, und das Feuer 346
erfüllte den Raum mit einem rötlichen Licht und warf lange Schatten in den Hintergrund des Zimmers. Das Licht flackerte über die schwarzen Dachbalken unter der hohen Decke, über den gefliesten Boden und über einen langen schweren Tisch, auf dem unangezündete Kerzen und die verschiedensten Kleidungsstücke und Waffen lagen. Vor dem Kamin saßen Ratagan und Riven auf hochlehnigen Holzsesseln. Der große Mann hatte einen Bierkrug in der Hand und wirkte angespannt. Sie hatten trockene Kleidung angelegt. Ratagan neigte den Kopf und lauschte dem Wind, der an den Fensterläden rüttelte. Eine Tür öffnete sich, und Isay erschien mit einem Tablett voller Speisen. Die Frau folgte ihm. Sie nahm ein paar dünne Wachskerzen aus einer Blechdose und ging zum Feuer, um sie zu entzünden. Ratagan nahm sie ihr wortlos aus der Hand und hielt sie an das Feuer, bis sie brannten. Sie lächelte ihm zu, aber er beschäftigte sich mit seinem Bier. In dem hellen Kerzenlicht wirkte der Raum plötzlich kahl. »Was gibt es Neues?« fragte Ratagan, den Blick ins Feuer gerichtet. »Die Bestien haben sich zurückgezogen«, antwortete die Frau. Sie hatte eine hohe Stimme, die jetzt etwas zitterte. »Murtach und die anderen machen einen Kontrollgang zu den Höfen in der Umgebung, um sich zu 347
vergewissern, daß sie unversehrt geblieben sind.« »Es war ein guter Kampf«, sagte Isay mit leuchtenden Augen. Ratagan grunzte. »Es wäre ein besserer Kampf gewesen, wenn man den Invaliden erlaubt hätte, weiter daran teilzunehmen. Ich werde mit Murtach ein Wörtchen zu reden haben, wenn er zurückkommt.« »Zum Schluß war es ein Verfolgungskampf«, sagte Isay. »Mit deinem Bein hättest du nicht daran teilnehmen können. Auch der Geschichtenerzähler war zu schwach dazu.« »Der Myrcaner hat recht, Ratagan«, sagte die Frau. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Warum bist du nur immer so begierig darauf, Blut zu vergießen?« Sie war klein und zartgliedrig und hatte ruhige blaue Augen. Das goldblonde Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt. Aelin, Ratagans Frau. »Weil es eines der wenigen Dinge ist, von denen ich etwas verstehe«, erwiderte Ratagan. »Genau wie das Trinken.« Er leerte seinen Krug, und nach einem kurzen Zögern nahm sie ihn ihm aus der Hand und ging hinüber zum Tisch, um ihn wieder zu füllen. Riven rutschte unbehaglich auf seinem Sessel herum. Aelin hatte sie in das Haus gebracht, bevor Murtach die Grypeshs angriff, die noch vor der Mauer lauerten, und der Kampf wieder begann. Aber jetzt war er vorbei, und Isay war wieder zu ihnen gekommen. In 348
seiner Begleitung hatten sich drei verwundete Männer der Schutztruppe befunden, die unten in der Halle versorgt wurden. Murtach war mit den anderen noch unterwegs, um dem besiegten Grypeshrudel nachzusetzten und die Farmen der Umgebung zu kontrollieren. Seit sie das Haus betreten hatten, hatte Ratagan kaum ein höfliches Wort zu seiner Frau gesprochen, obwohl sie ihn manchmal geradezu flehentlich ansah. Riven hatte bemerkt, daß sein Blick traurig auf ihr ruhte, wenn sie ihn nicht anblickte. Ein solches Verhalten hätte er bei Ratagan nicht vermutet. Riven war nicht sicher, ob er wissen wollte, was dahintersteckte. Er hatte selbst genug Erfahrung mit Fremden, die seinen Seelenschmerz unter die Lupe nahmen, und verspürte keine Lust, seine Nase in Ratagans Angelegenheiten zu stecken. Aelin brachte ihnen das Essen auf Holztellern. Es war gesunde Kost: Roggenbrot und Käse, Äpfel und Fleisch. Aber die Äpfel waren von der langen Lagerung verschrumpelt, und das Fleisch hatte man eingepökelt, um es haltbar zu machen. »Wie geht's euch denn hier so?« fragte Ratagan. Er schnitt sich ein Stück von dem Käse ab. Sie setzte sich zu ihm auf die Sessellehne. »Ganz gut, wenn man die Umstände bedenkt. Wir hatten Verluste, aber nicht viele. Die Patrouillen kommen regelmäßig hier vorbei. Ein oder zweimal waren einige von Lionans 349
Männern hier. Ein paar von ihnen waren verwundet. Sie sagten, daß es im Norden schlimmer ist. Es muß etwas unternommen werden.« Sie warf Riven einen schnellen Blick zu, betrachtete seine vernarbte Stirn und das eingestickte Abzeichen der Geschichtenerzähler auf seiner Brust. »Man hört Gerüchte von Menschen in den Bergen ...« »Was für Leute?« fragte Ratagan scharf. »Das Verborgene Volk. Manche sagen, daß sie es sind, die das Unheil über uns gebracht haben. Lionans Männer sagen, daß die Dales gesäubert und vereinigt werden müssen. Sie sagen, daß das Böse die Hügel in vielen Verkleidungen durchstreift — und daß Hexen in den Bergen sind und Zauberer, die sich unter die Menschen mischen.« Wieder warf sie Riven einen Blick zu. Plötzlich schleuderte Ratagan das Brotstück, von dem er gerade etwas abgebissen hatte, in das Feuer. »Pferdemist!« Er stand auf und drehte sich um. »Es sind Lionans Leute, die so etwas behaupten, und Lionan macht jetzt mit Bragad gemeinsame Sache. Diese Märchen dienen den Zwecken von Garrafad und Carnach. Die Zeiten sind schlecht genug. Wir brauchen nicht auch noch Leute, die herumlaufen und alte Schauergeschichten vom Verborgenen Volk aus den Bergen aufwärmen.«
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»Aber woher kommen dann all die schrecklichen Ereignisse?« fragte sie und blickte zu ihm auf. »Ich ... ich weiß es nicht«, sagte er stockend. »Ich weiß es wirklich nicht. Niemand weiß es. Nicht einmal Guillamon.« »Gerade er sollte es eigentlich wissen.« Spott lag in ihrer Stimme. Ratagan zog die Brauen zusammen. »Ich bin nicht hergekommen, um mit dir zu streiten.« »Warum bist du denn hergekommen — nachdem du dich sechs Monate lang nicht blicken lassen hast?« »Herr im Himmel, Frau! Glaubst du denn, ich bin freiwillig hier?« Sie stand auf und ging zur Tür. »Aelin — nicht. Warte!« Aber sie verließ den Raum mit ruhigen Schritten und schloß die Tür geräuschlos hinter sich. Isay begann, Waffen abzureiben, die auf dem Tisch lagen und schon trocken waren. Riven kaute auf einem Stück Brot herum. Sein Mund war trocken geworden. Der große Mann setzte sich wieder. »Das habe ich nicht gerade gut gemacht, nicht wahr?« Riven reichte ihm seinen Bierkrug. »Nein.« »Bicker und Murtach versuchen immer wieder, mich hierhin zu bringen, und jedesmal ist es das gleiche.« Ratagan schüttelte den Kopf und lächelte, aber seine Augen schimmerten verdächtig. Er rieb sie sich 351
schnell und hob wieder den Krug. Hinter ihnen verließ Isay mit einem Arm voller Waffen das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. »Ratagan ...«, begann Riven. »Ich habe sie geschwängert«, sagte Ratagan. »Als sie selber noch ein Kind war. Das Kind starb, und sie konnte keins mehr bekommen. Sie war so süß und unschuldig, als sie meine Frau wurde. Sie ist immer noch liebenswert. Aber jetzt steht diese Sache zwischen uns. Und die Kämpfe. Und die Trinkerei. Man kann nichts daran machen.« Er nahm einen Schluck Bier. »Streitereien ohne Ende. Ich werde Murtach das Fell gerben, wenn er zurückgekrochen kommt.« Er füllte Rivens Krug. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte er. »Es ist eine gute, lustige Geschichte, wenn man nur die Geduld hat, sie sich anzuhören ...« Draußen heulte der Wind über die westlichen Berge und kündigte den Winter an.
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ELFTES KAPITEL Sie hielten sich nicht lange in Ivrigar auf. Murtach und die anderen kehrten spät in der Nacht zurück, und am frühen Nachmittag des nächsten Tages bereiteten die Gefährten schon ihren Aufbruch vor. Mehr als dreißig Grypeshs waren getötet worden, und der Rest des Rudels war in die westlichen Hügel geflüchtet. Auf den Farmen der Umgebung hatten sie nur wenig Schaden angerichtet, denn die Bestien hatten sich darauf konzentriert, der Patrouille zu folgen und zu versuchen, Ivrigar zu erstürmen. Riven erinnerte sich daran, wie der Eisriese in Ralarth Rorim versucht hatte, ihn umzubringen, und fragte sich, wie oft er wohl noch zum Ziel eines Angriffs der Bestien werden würde. Aelin verabschiedete sich von ihnen. Ihre Bediensteten halfen den verletzten Männern der Schutztruppe in die Sättel. Sie küßte ihren Mann pflichtschuldig, und für einen Moment sah Riven wie sie und Ratagan Blicke wechselten, aus denen Verzweiflung sprach. Dann wurden sie wieder förmlich, und schließlich ritt die Gesellschaft aus dem Innenhof und verließ Ivrigar. Ein kalter Wind aus den Bergen pfiff ihnen vor dem Tor ins Gesicht. 353
Sie kamen an stinkenden Scheiterhaufen vorbei, auf denen die Leichen der Bestien verbrannt wurden, die in der Nacht erschlagen worden waren. Langsam fiel das Land ab, und dann ließen sie die Hügel hinter sich zurück und waren wieder in den Dales. Der kalte Wind ließ etwas nach. Riven hatte den Kragen seines Umhangs hochgeschlagen. Seine Beine waren steif und schmerzten, er hatte sich immer noch nicht an das Reiten gewöhnt. Aber wenn er heute abend vom Pferd stieg, würden ihn ein Drink und ein warmes Bett erwarten. Und er würde Madra sehen, fiel ihm plötzlich ein, und er stöhnte laut, als er an die Scherereien dachte, die ihm bevorstanden. Diese Welt war komplizierter, als er sie in seinen Büchern gestaltet hatte. Weil sie echt ist. Es ist keine Geschichte. Ist nie eine gewesen. Aber was war mit Jenny und Hugh? Warum war sein eigenes Leben mit dieser Welt verknüpft? Er dachte an seine Bücher. Wenn jemand dieses Land kannte, dann waren es die Zwerge. Aber wie sollte man mit ihnen Kontakt aufnehmen? Es gab keine in Ralarth, im ganzen Süden nicht. Es gab nur einen Ort, wo sie lebten: die nördlichen Berge, die Greshorns. Ihn fröstelte, als er sich an den Traum erinnerte, in dem er mit einer Frau nach Norden in die Berge geritten war, die nicht seine Frau war.
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Vielleicht ist es Zeit, etwas zu unternehmen, nach Antworten zu suchen, bevor hier alles zusammenbricht. »Vor uns sind Reiter«, meldete Tagan, der schwarzbärtige Scout, von vorne. »Ein halbes Dutzend. Es sind Bewaffnete, glaube ich.« »Aber keine Schutztruppen aus Ralarth«, sagte Murtach. Er hatte seine Augen in dem schneidenden Wind zusammengekniffen. Langsam ritten sie weiter, bis Murtach schließlich mit Abscheu sagte: »Bragads Lady — auf Ausritt, wie es scheint. Mit fünf Männern aus der Eskorte ihres Mannes als Begleitung.« Er spuckte auf den Boden. Der kleine Reitertrupp hatte sie erblickt und änderte die Richtung, um auf die Patrouille zu stoßen. Nach ein paar Minuten standen sie sich gegenüber. Die frischen Pferde von Jinneth' Eskorte stampften unruhig in dem hohen Gras. Wie immer war sie schwarz gekleidet, und Riven fragte sich übelgelaunt, ob sie um jemanden trauerte. Ein strahlendes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie bemerkte, wie mitgenommen die Männer der Patrouille aussahen; einige Männer trugen Verbände, die Pferde hatten tiefe Krallenspuren, und alle wirkten erschöpft. »Lord Murtach, Lord Ratagan, ich grüße euch«, sagte sie fröhlich. »Man hat euch im Beratungszimmer schmerzlich vermißt. Mein Mann hatte sich darauf gefreut, den Mann mit der Axt und den Gestaltenwandler noch einmal zu treffen.« 355
Murtach blickte sie finster an, entgegnete aber nichts. »Zweifellos war euer Auftrag sehr bedeutsam, wenn ihr dafür eine so wichtige Versammlung in eurem eigenen Rorim verlassen habt. Und den fremden Erzähler habt ihr auch mitgenommen, wie ich sehe.« Sie warf Riven einen flüchtigen Blick zu, und er zuckte zusammen, als habe ihn ein Schlag getroffen. »Aber was muß ich sehen? Ihr seid in einen Kampf verwickelt worden. Euer Auftrag ist also wirklich kein Kinderspiel gewesen. Ich vermute, wer auch immer mit euch aneinandergeraten ist, ist nicht als Sieger vom Feld gegangen?« »So ist es«, sagte Murtach knapp. Fife stieß ein leises Knurren aus, und er brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Es wäre dennoch ratsam, verehrte Lady, nicht mit einer so kleinen Eskorte durch die offenen Dales zu reiten. Die Bestien treiben sich in großer Zahl hier draußen herum, und sogar ein gutbewaffneter Trupp wie unserer kann in Schwierigkeiten geraten.« »Die Truppen meines Mannes sind jeder Aufgabe gewachsen, mit der er sie betraut«, antwortete sie. Ihr Lächeln gefror. Ein spöttisches Gemurmel durchlief bei dieser Feststellung die Reihe der Schutztruppen von Ralarth. Bragads Männer mit ihren roten Schärpen tasteten nach den Griffen ihrer Schwerter. Jinneth achtete nicht darauf. »Wir werden jetzt weiterreiten, wenn es euch nichts 356
ausmacht. Der Tag geht zur Neige, und wenn man euren Worten Glauben schenken soll, begebe ich mich besser in die Sicherheit des Rorims zurück, bevor die Nacht hereinbricht.« Sie nahm die Zügel auf, aber Murtachs Stimme ließ sie innehalten. »Was ist mit den Beratungen, sind sie vorbei?« Sie sah ihn verärgert an. »Nein. Sie dauern noch mindestens einen Tag. Euer Warbutt und sein Sohn sind sehr starrsinnig, obwohl ihre eigenen Lords nicht ihrer Meinung sind.« Murtach hob eine Augbraue. »Tatsächlich? Aber in diesen Zeiten teilen die merkwürdigsten Leute ihr Lager, nicht wahr?« Sie wurde weiß vor Wut, und Riven sah, wie ihre Hand nach der Reitpeitsche tastete. Aber dann riß sie wild ihr Pferd herum und preschte mit ihren Begleitern davon. Die Männer der Schutztruppe blickten ihr grinsend hinterher, aber Murtachs Blick war düster. »Die Beratungen dauern zu lange«, sagte er. »Ich habe kein gutes Gefühl dabei.« In einem langsamen Galopp ritten sie weiter auf den Rorim zu. Sie ritten durch das Südtor in den Zirkel. Dunan, der Leutnant der Schutztruppe, begrüßte sie. Bis auf die Verletzten stiegen sie ab und führten ihre Pferde den Fluß entlang zum Rorim. Über der Manse knatterte das blaue Banner von Ralarth im Wind. Viele Menschen arbeiteten auf dem Gemeindeland 357
des Zirkels oder saßen vor den Schenken, die sie passierten. Alle begrüßten die Schutztruppen und die Myrcaner mit einem Nicken oder einer Verbeugung, und jemand, der Ratagan erkannte, reichte ihm einen Bierkrug. Er leerte ihn in einem Zug und gab ihn zurück. Die schlechte Laune, die ihn auf dem Rückweg von Ivrigar so schweigsam gemacht hatte, verflog sofort. Sie ritten über den Markt mit seinen grellfarbenen Markisen, den dichten Reihen der Verkaufsstände, den Hürden mit blökenden Schafen. Allerdings waren viele der Hürden leer, und die Schäfer, die auf den Zäunen saßen, wirkten hoffnungslos. Die großen Pferde bahnten sich ihren Weg durch die Menge der Marktbesucher, und wenn jemand von ihnen beiseitegeschoben wurde, entschuldigte Murtach sich höflich. Die blutbefleckten und erschöpften Verwundeten der Schutztruppe wurden von jedermann angestarrt. Stämmige Matronen betrachteten sie besorgt, und kleine Jungen sahen ihnen bewundernd nach. Auf den Übungsplätzen erblickten sie kämpfende Gestalten. Der Wind trug Waffengeklirr zu ihnen herüber. Dann ritten sie durch die Torburg des eigentlichen Rorims, und die Hufe der Pferde klapperten über den Innenhof, auf dem Riven gegen die Eisriesen gekämpft hatte. Sie hielten vor den Toren der Manse, und Stallknechte eilten ihnen entgegen und kümmerten sich um die Pferde. Den 358
Verwundeten half man aus den Sätteln. Bicker erschien; er sah so müde aus, als sei er es gewesen, der in den vergangenen drei Tagen auf dem anstrengenden Ritt gewesen war. Madra war bei ihm, und die Sorge auf ihrem Gesicht war schon von weitem zu erkennen. Ihr Blick glitt über die Patrouille, dann drehte sie sich um und ging wieder in die Manse. Riven und Ratagan wechselten einen Blick, und Riven wurde klar, daß der große Mann alles wußte. Ratagan schlug ihm leicht auf die Schulter und lächelte ihn schief an. »Frauen!« Und lachend stiegen sie in dem geschäftigen Durcheinander im Innenhof aus den Sätteln. Später, als die Nacht sich über den Rorim gelegt hatte, trafen sie sich in Rivens Zimmer, um ein paar Krüge Bier zu trinken. Guillamon, Bicker, Ratagan und Murtach waren gekommen. Isay bezog seinen Posten an der Tür. Fife und Drum räkelten sich zufrieden auf dem Boden. Riven bemerkte enttäuscht, daß Madra sich nicht blicken ließ. Das Bier wurde ihnen von einem Mädchen gebracht, das er nicht kannte. Gut gemacht, Riven. Wieder eine Heldentat vollbracht. Für eine Weile genossen sie das malzige Bier schweigend. Sowohl Bicker als auch Guillamon hingen mit finsterem Blick ihren Gedanken nach, und Ratagans Versuche, die Stimmung aufzuheitern, schlugen fehl. 359
»Wie geht es Aelin?« fragte Guillamon schließlich hoffnungsvoll. Murtach warf seinem Vater einen warnenden Blick zu, aber der große Mann zuckte nur mit den Schultern. Sein Blick verfinsterte sich, und auf seiner Stirn erschienen Falten. »Es ist alles beim alten, auch was mich angeht. In der Sache ist nichts mehr zu machen, Guillamon, jetzt nicht mehr. Ich würde mir wünschen, daß meine Freunde das endlich begreifen würden. Und meine Mutter auch.« Er trank einen Schluck Bier. Ein wilder Ausdruck glitt über sein Gesicht und verschwand wieder. Guillamon verzog das Gesicht. »Ist schon gut.« Sie schwiegen wieder. Murtach hatte Bicker schon von dem Kampf in Ivrigar berichtet, und am Morgen hatte man eine starke Patrouille unter Ords Kommando ausgesandt. Es gab auch Berichte von weiteren Angriffen im Norden und Westen, aber von Lionan und Mullach hatte niemand etwas gehört, und Murtachs Patrouille hatte sie nicht zu Gesicht bekommen. Sie und ihre Begleittruppen schienen Ralarth verlassen zu haben. »Aber die Beratungen, Bicker«, sagte Murtach. »Warum dauern sie so lange? Warum gibt Bragad nicht nach? Was verspricht er sich davon?« Der dunkle Mann sah besorgt aus. »Drei Lords von Ralarth sind auf seiner Seite. Das ist eine gute Ausgangsposition für ihn. 360
Theoretisch sollten sie den Anweisungen des Warbutts folgen, schließlich sind sie seine Vasallen. Aber wie du weißt, Murtach, hat der Warbutt in der Vergangenheit gelegentlich darauf verzichtet, etwas durchzusetzen, wenn die Mehrheit der Lords anderer Meinung war.« »In dieser Angelegenheit wird er nicht darauf verzichten«, schnaubte Ratagan. »Das weiß ich, aber diese Präzedenzfälle sind nun einmal da.« »Nun«, erklärte der große Mann. »Ich sehe hier zwei Lords sitzen, die ihre Meinung nicht ändern werden.« »Der Mann mit der Axt und der Gestaltenwandler«, murmelte Murtach. Er wirkte unruhig. »Bragad will euch beide bei den Beratungen dabeihaben. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum er die Verhandlungen seit drei Tagen verschleppt«, warf Guillamon ein. »Glaubt er, er kann uns umstimmen?« fragte Ratagan spöttisch. »Ich weiß es nicht. Er möchte jeden Lord von Ralarth bearbeiten.« »Er versucht, Zeit zu gewinnen«, knurrte Bicker. »Und ich wüßte zu gerne, warum.« Niemand antwortete. Ratagan füllte ihre Humpen aus dem großen Krug, der auf dem Tisch stand. »Noch ein Tag«, sagte Guillamon. »Vielleicht zwei. Dann geben wir noch ein Fest für ihn und schicken ihn nach Hause.« 361
»Und reden vielleicht mal ein Wörtchen mit unseren widerspenstigen Lords«, sagte Murtach finster. »Ich glaube, es ist kein Fehler, daß wir Druim die Miliz und weitere Männer für die Schutztruppe ausbilden lassen. Eine kleine Machtdemonstration könnte erforderlich sein, um Männern wie Marsco zu zeigen, wer in Ralarth das Sagen hat.« Guillamon nickte. »Er ist auf dem besten Weg, das herbeizuführen, wovor er sich am meisten fürchtet. Wir können nicht zulassen, daß der Lord eines Ortes wie Ringill in Bragads Interesse handelt.« »Oder im Interesse von Bragads Frau«, fügte Bicker hinzu und warf Riven einen entschuldigenden Blick zu. Riven schwieg. Er gewöhnte sich langsam an die Vorstellung, daß Jinneth nicht Jenny war und Bragad nicht Hugh. Aber es erinnerte ihn wieder daran, was er sagen wollte. »Ich bin jetzt seit einer ganzen Weile in Ralarth«, begann er. Die anderen starrten ihn an. »Es gibt hier Dinge und Menschen, die aus meinen Büchern stammen — die ich sozusagen erschaffen habe. Es gibt hier Leute aus meiner Welt, die irgendwie nach Minginish geraten sind. Und es gibt hier Menschen und Orte, an die ich nicht einmal gedacht habe und die mir trotzdem merkwürdig vertraut erscheinen.« Er hielt ihren fragenden Blicken stand. Fife und Drum hoben ihre Köpfe und schnupperten. 362
»Hier in Ralarth hat diese Geschichte ihren Anfang — die wichtigsten Personen kommen von hier, genau wie in meinen Büchern. Aber sie endet nicht hier, und die Antworten, die wir suchen, werden wir nicht in den Dales finden, da bin ich mir mittlerweile ganz sicher. Wenn ich hierbleibe, werde ich nur weitere Angriffe auf mich ziehen, und dann ist der Rorim zwischen mir und denjenigen, die mich töten wollen. Aber die Geschichte muß weitergehen.« »Das dritte Buch«, sagte Bicker ruhig. »Das letzte.« »Ihr wißt, wie die Geschichte geht«, sagte Riven. »Drei Helden machen sich im Winter auf den Weg nach Norden, um das Land zu retten.« »Um die Zwerge in den Greshorns zu finden«, sagte Murtach. »Und Sgurr Dearg, den Staer, im Mittelpunkt dieser Berge«, erklärte Riven. »Dort nahm alles seinen Anfang. Und dort wird es enden. Ich bin mir sicher.« »Hattest du das dritte Buch schon geplant?« fragte Murtach. Seine schwarzen Augen brannten in dem scharfgeschnittenen Gesicht. »Zum Teil, ja. Aber ich habe es nicht richtig in den Griff bekommen. Ich konnte es nicht schreiben.« Er erinnerte sich daran, wie er in der Hütte gesessen hatte, bevor Bicker gekommen war; wie er versuchte hatte, sich die Geschichte abzuringen, wie er Seiten mit den Beschreibungen von Schneestürmen und Gemetzeln gefüllt hatte. Er fragte sich, ob 363
ihnen genau das bevorstand, sagte aber nichts. Er wollte es gar nicht wissen. »Die Geschichte muß zu Ende geführt werden, und ich bin derjenige, der das tun muß.« Die Worte kamen schwerfällig aus seinem Mund. Er fühlte, daß er sie schon einmal gesagt hatte, und spürte den Hauch des Todes, wie damals, an dem Tag auf dem Roten Berg. Aber das war jetzt egal. Es gab wichtigere Dinge. »Ich muß Ralarth verlassen.« Er erinnerte sich an den Traum, in dem er mit Jinneth in die Berge geritten war, und er war sich sicher, daß ein Teil von Jenny in ihr gewesen war. Jenny, die ihm vielleicht sagen wollte, was er zu tun hatte. »Es ist ein weiter Weg bis zu den Greshorns«, sagte Guillamon. Er wirkte plötzlich alt. »Und er führt durch ein Land, das jeden Tag ein Stück weiter in Anarchie versinkt. Bist du sicher, daß du dort hingehen mußt?« »Das bin ich«, sagte Riven. Er wußte, was er von diesen Leuten verlangte, und tat es nicht gerne, aber es gab keinen anderen Weg. »Du hast einen merkwürdigen Zeitpunkt gewählt, um uns dies zu sagen, Michael Riven«, sagte Murtach mit einem schiefen Lächeln. »Bicker wird graue Haare haben, bevor du zu Ende geredet hast.« Bicker ignorierte Murtachs Bemerkung. »Die Berge des Nordens sind fast tausend Meilen entfernt«, sagte er. »Das bedeutet eine Reise von wenigstens sechs Wochen. Und wie 364
Guillamon sagte, sind die Zeiten nicht ungefährlich ...« Er schüttelte den Kopf, und Zweifel waren ihm ins Gesicht geschrieben. »Wenn es sein muß, gehe ich allein«, erklärte Riven wütend. »Mir wäre es auch lieber, ich müßte nicht gehen.« »Aber du bist dir ganz sicher?« Er verdrängte seine eigenen Ängste und Zweifel. »Ja. Es muß getan werden.« Bicker seufzte und nahm einen langen Schluck aus seinem Bierkrug. »Seltsame Zeiten«, sagte er und wischte sich den Schaum vom Mund. »In der Tat«, bestätigte Guillamon. »Du wirst Pferde brauchen und eine Eskorte. Schutztruppen, die wir schwerlich entbehren können. Verpflegung. Einen Führer.« »Ich kenne die Greshorns, den Weg zum Roten Berg«, sagte Bicker schwerfällig. »Ich werde auf jeden Fall mitgehen müssen.« »Die Situation hier im Rorim ist nicht so, daß du plötzlich verschwinden kannst«, sagte Guillamon. Der dunkle Mann nickte. »Eine Sache nach der anderen. Wir werden warten, bis das Problem mit Bragad ausgestanden ist. Die Sicherheit des Rorims muß gewährleistet sein.« »Was wird der Warbutt sagen?« fragte Ratagan. Bicker fluchte. »Sein Sohn begibt sich wieder auf Wanderung. Ich werde mich nicht gerade beliebt machen, aber das ist nicht zu ändern.« 365
»Ich wollte immer schon wissen, wie es in den Greshorns aussieht«, sagte Ratagan. »Es ist dort nicht so schön, daß ich sie unbedingt wiedersehen müßte«, gab Murtach zurück. »Drei Lords — darunter unsere beiden besten Hauptleute — verlassen uns und begeben sich auf diese Ungewisse Suche«, sagte Guillamon grimmig. »Das gefällt mir nicht. Ich weiß nicht, ob ihr alle gehen könnt.« »Seltsame Zeiten«, wiederholte Bicker. »Aber ich stimme dem Geschichtenerzähler zu. Wenn er hierbleibt, erreichen wir gar nichts. Das halbe Dale glaubt schon, daß er eine Art Zauberer aus den westlichen Bergen ist, und Leute wie Bragad werden diese Gerüchte ausnutzen. Die Säuberungen vor drei Jahrzehnten sind noch nicht vergessen. Man hat immer noch Angst vor dem Vergessenen Volk. Wenn es nicht die Leute von Garrafad und Carnach sind, mit denen wir Probleme bekommen, könnte es unser eigenes Volk sein, das sich gegen uns wendet. Die Menschen haben Angst.« »Wir haben alle Angst«, grollte Ratagan. »Das heißt aber nicht, daß wir wieder anfangen müssen, Menschen zu verbrennen oder aus dem Land zu jagen.« »Nein, aber Bragad wird die Furcht der Leute ausnutzen. Er hat schon unsere Lords auf diese Weise auf seine Seite gebracht.« »Dann werden wir sie eben wieder auf unsere Seite zurückholen«, sagte Murtach scharf. 366
Seine blauen Augen blitzten. »Vielleicht müssen wir selbst einmal eine Säuberung durchführen. Es gab mal so etwas wie Loyalität in diesem Dale.« »Vielleicht«, sagte Bicker nachdenklich. »Vielleicht.« Er sah Riven an. »Nun gut. Wir werden es machen. Wir helfen dir bei deiner Suche.« Er lächelte kurz, und für einen Moment glich er wieder der lebhaften Romanfigur in Rivens Büchern. »Schließlich haben wir dich aus diesem Grunde hierhergebracht — um unsere Probleme zu lösen.« Und mein Problem ebenfalls. »Ich komme am besten mit, um auf dich aufzupassen«, sagte Ratagan gedankenverloren, aber grinsend. Murtach schwieg. In seinem Gesicht bewegte sich nichts. »Ich auch«, sagte eine Stimme, und sie blickten überrascht zu Isay auf, der mit einem Bierkrug in der Hand an der Tür stand. »Ich bin der Leibwächter des Geschichtenerzählers. Ich muß mitgehen.« »Dann bist du also mit von der Partie«, sagte Guillamon. »Ich glaube, ihr habt recht. Wenn der Erzähler hierbleibt, erreichen wir gar nichts, außer daß es noch mehr Gerüchte geben wird.« Er schwieg für einen Moment. »Was meint ihr, wer euch noch begleiten sollte?« »Tagan ist unser bester Fährtensucher«, sagte Ratagan. »Er kennt auch die Greshorns.« 367
»Luib wird mitkommen«, informierte Isay sie. »Er wird alt und wird glücklich sein, die Hügel von Merkadale noch einmal zu sehen.« »Also gut.« Guillamon wurde lebhafter. »Die Einzelheiten werden wir später organisieren. Für den Augenblick genügt es zu wissen, daß ihr gehen werdet ... Aber weißt du, was passieren wird, wenn ihr dort ankommt?« »Wir müssen die Zwerge finden«, antwortete Riven. »Man sagt, daß Birkinlig, der Vater der Zauberer, noch immer in den Bergen lebt, vielleicht bei den Zwergen.« »Man sagt auch, daß die Greshorns das Ende der Welt sind«, sagte Murtach knapp. Sein Vater lächelte ihm zu. »Mein Sohn, für jemanden mit deinen Erbanlagen bist du überskeptisch.« Ratagan kicherte. »Ich glaube an Zauberei«, sagte Riven und blickte dabei in Murtachs Augen. »Vielleicht ist es das, was ich suche.« »Vielleicht brauchst du nicht lange danach zu suchen«, bemerkte Murtach dunkel. Guillamon erhob sich. »In der Tat. Aber es ist schon spät, und ein alter Mann muß seinen Knochen Erholung gönnen, Zauberei hin, Zauberei her.« Er ging zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um. »Sagt vorläufig niemandem etwas davon. Wir wollen doch nicht, daß unsere Pläne sich im ganzen Rorim verbreiten, solange Bragad hier ist.« Dann nickte er Isay zu und ging. 368
Ratagan lehnte sich in seinem Sessel zurück, bis dieser bedrohlich knackte, und stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist allerhand! Mir brummt richtig der Kopf. Es ist wie in den alten Sagen. Wir brechen zu einer geheimnisvollen Suche auf, und niemand weiß, wohin sie uns führen wird.« »Oder wie sie enden wird«, sagte Bicker. Er beobachtete Riven, der am Fenster stand und in die Nacht hinausstarrte. Am nächsten Morgen hingen schwere Regenwolken über den Hügeln. Murtach und Ratagan nahmen an den Beratungen teil, und Riven blieb sich selbst überlassen. Er starrte eine Weile hinaus auf die nebelverhangenen Felder. Dann gürtete er sein Schwert und verließ das Zimmer. Aus einem Fenster im obersten Stockwerk der Manse sah er hinunter in den Rorim. Er wirkte an diesem Morgen wie ausgestorben, nur auf dem Platz vor den Unterkünften der Schutztruppe erkannte er einige Männer, die Pferde sattelten. Sie beluden auch Eselskarren. Er fragte sich, ob es sich dabei um Vorbereitungen für die Reise handelte, die er am vergangenen Abend vorgeschlagen hatte. Die Patrouille unter Ords Kommando war schon lange unterwegs. Sie würde jetzt die Hügel von Ivrigar erreicht haben. Er spähte hinaus in den Zirkel. Bei den beiden Langhäusern, in denen die 369
Schutztruppen von Bragad untergebracht waren, regte sich nichts. Wahrscheinlich waren sie mit der Frau ihres Lords unterwegs. Bragad hatte eine ganze Reihe von Männern mitgebracht, ungefähr ein Dutzend, obwohl einige davon Mugearys Leute waren, wenn das noch einen Unterschied machte. Riven hatte kein gutes Gefühl, wenn er an sie dachte. Er mußte an die Frage denken, die Bicker am Vorabend gestellt hatte. Wollte Bragad Zeit gewinnen? Und wo waren Mullach und Lionan? Fragen über Fragen. Geht mich aber nichts an. Oder doch? Er fühlte sich dafür verantwortlich, daß Bragad hier war. Schließlich war er das Ebenbild von jemandem, der aus Rivens Welt stammte. Er wanderte eine Weile durch die Manse und begegnete einigen Bediensteten, die ihren Aufgaben nachgingen. Aus Angst, Madra zu begegnen, beschloß er, hinaus zu den Übungsplätzen zu gehen, wo der Nachwuchs der Schutztruppe ausgebildet wurde. Isay folgte ihm wortlos wie immer, und zusammen schritten sie durch das Tor des Rorims hinaus auf die Felder. Eine große Übungsfläche war dort abgesteckt worden. Der Boden hatten sich durch den Regen in Schlamm verwandelt. Auf der Fläche waren mannshohe Holzpfähle aufgestellt worden, die von einigen Männern attackiert wurden, während etwa dreißig andere sie dabei beobachteten. Sie hielten 370
Holzschwerter in den Händen. Drei Myrcaner leiteten die Ausbildung. Riven betrachtete sie fasziniert; noch nie hatte er die Myrcaner so lebhaft gesehen. Sie sprangen im Schlamm von einem ihrer Schüler zum nächsten, korrigierten hier eine Schwerthieb, dort einen Lanzenstich. Sie führten vor, wie man sein ganzes Körpergewicht in einen Stoß mit einem Holzstock legt, wie man einen Angriff pariert, wie man mit dem Schwertknauf zuschlägt. Riven vergaß völlig, warum er hierhergekommen war, und registrierte mit widerwilliger Bewunderung die Geschwindigkeit und Sicherheit, mit der sie ihre Waffen handhabten. Die Rekruten waren über und über mit rötlichem Schlamm bedeckt, da sie gelegentlich ausrutschten oder während der Übungen zu Fall kamen, aber ihre Lehrer hatten nur ein paar Schlammspritzer auf den Kettenhemden. Schließlich ging Riven zu der Gruppe und bat darum, an der Ausbildung teilnehmen zu dürfen. Seine blaue Schärpe löste bei den Rekruten ein erstauntes Murmeln aus. Der Anführer der Myrcaner musterte ihn kritisch von oben bis unten und warf dann Isay, der hinter Riven stand, einen Blick zu. Isay mußte sein Einverständnis signalisiert haben, denn der andere Myrcaner nickte. »Leg dein Schwert ab, und nimm dir eine Trainingswaffe. Schließ dich der großen Gruppe dort an. Du wirst schon sehen, was zu tun ist.« 371
Und so bearbeitete Riven kurze Zeit später unter den sachlichen Anleitungen der Myrcaner einen Holzpfahl mit einem schlammbeschmierten, schlüpfrigen Holzschwert. Es erinnerte ihn an die Militärakademie in Sandhurst, nur daß dort die Ausbilder jeden Befehl gebrüllt hatten und ihre Rekruten mit allen möglichen Schimpfwörtern belegt hatten. Die Myrcaner gingen dagegen ruhig von einem zum anderen, gaben Tips, korrigierten Fehler. Sie brauchten nicht zu schreien, und keiner widersprach ihren Anweisungen. Sie trainierten, bis es dunkel wurde, und schließlich waren nur noch Riven, Isay und die drei anderen Myrcaner auf dem Übungsplatz. Ihm dämmerte, daß seine Ausbilder keine Einwände hätten, wenn er die ganze Nacht hindurch ausgebildet werden wollte. Sie strahlten ein glühendes Interesse an ihrer Arbeit aus, das einen merkwürdigen Kontrast zu ihrem schweigsamen Wesen bildete. Und Riven war lernwillig. Als er endlich seine Holzwaffe sinken ließ und sein Schwert wieder umschnallte, schmerzte sein frisch verheiltes Schlüsselbein, und auch seine alten Verletzungen meldeten sich zurück. Seine Kleidung war schlammverkrustet, und er war todmüde, als er mit Isay durch das Tor zur Manse zurückging. Die Wolken hatten sich verzogen, die ersten Sterne blinkten am Himmel, und der Mond stand über den Hügelketten. 372
Normalerweise aß er abends mit den anderen unten in der Halle, aber heute schickte er Isay mit der Bitte zu Colban, ihm das Essen und eine Schüssel mit heißem Wasser in sein Zimmer bringen zu lassen. Mit seinen schmerzenden Knochen und in der Gewißheit, daß er endlich entschieden hatte, was unternommen werden mußte, fühlte er sich so gut wie lange nicht mehr. Genieß diese Stimmung, so lange sie anhält! Im Spiegel sah er, daß Schlammspritzer sein Gesicht übersäten und sein Bart dreckverschmiert war. Er warf sich ein müdes Grinsen zu und fragte sich, wo der junge Offizier geblieben war, der er einmal gewesen war. Er blickte in ruhige Augen, um die Schmerz und Trauer Fältchen gezogen hatten. Zwischen den Brauen verlief eine tiefe Sorgenfalte, und seine Stirn war voller Narben. Ein Winkel des strengen Mundes war immer heruntergezogen, außer wenn er lachte. Sir Michael, der Ritter von der Insel. Und jetzt steht ihm eine abenteuerliche Suche bevor. Er schnallte sein Schwert ab, schnürte sein Wams auf und begann es sich über den Kopf zu ziehen. In diesem Moment klopfte es an der Tür, und als er zustimmend grunzte, öffnete sie sich und jemand betrat das Zimmer. Endlich bekam er den Kopf frei und warf das Wams auf den Boden. Vor ihm stand Madra und stellte ein schweres Tablett auf den Tisch. 373
Ein halbes Dutzend Begrüßungen lag ihm auf den Lippen, aber schließlich sagte er gar nichts. Wortlos entzündete sie noch ein paar Kerzen. »Du solltest dich waschen, bevor das Wasser kalt wird.« Er starrte sie einen Moment lang an, zog dann sein Hemd aus und wusch sich Gesicht, Hände und Arme in dem dampfenden Wasser. Er hatte erwartet, daß sie gehen würde, aber sie blieb. Als er sich das Wasser aus den Augen rieb, reichte sie ihm ein Handtuch. Er warf ihr einen Blick zu und bemerkte, daß sie ihr Kinn entschlossen vorgestreckt hatte und ihn hartnäckig ansah. Sie wirkte älter. Er preßte sich das Handtuch vor das Gesicht, bis er Sterne sah, und streifte sich dann ein frisches Hemd über. Seine Stiefel waren immer noch schlammverkrustet, aber die konnten warten. Er setzte sich an den Tisch und begann zu essen, ohne etwas zu schmecken. »Du gehst weg von hier, nach Norden, nicht wahr?« Er hörte auf zu kauen. »Woher weißt du das?« »Colban bekommt auf die eine oder andere Weise alles heraus. In der Küche wird immer geredet. Es hat sich herumgesprochen, daß sich einige Männer der Schutztruppe auf diese Reise vorbereiten.« »Es sollte ein Geheimnis bleiben.« Sie setzte sich. »In der Manse ein Geheimnis zu bewahren ist so schwierig wie ein Feuer mit 374
Stroh zu löschen. Du wirst zu den Greshorns reisen.« Riven schwieg. »Wirst du in deine eigene Welt zurückkehren, auf die Insel?« Er mochte ihre ruhigen Augen, ihr ernstes Gesicht, aber jetzt verwirrten sie ihn. »Ich weiß es nicht.« Sie legte schnell ihre Hand auf seine. »Nimm mich mit.« »Was?« »Laß mich mit dir zurückgehen. Ich möchte bei dir bleiben.« Ruckartig zog er seine Hand zurück. »Du bist verrückt.« »Du wirst dort alleine sein. Ratagan hat es mir gesagt, und Bicker hat erzählt, daß die Insel der Nebel ein einsamer Ort ist, voller Berge und mit verlassenen Küsten. Ich kann gut kochen und hart arbeiten. Ich fürchte mich nicht. Bitte, nimm mich mit. Ich ...« »Sei still!« Er wußte, was sie sagen wollte; etwas, von dem er gedacht hatte, daß er es nie wieder hören würde. Sie begann zu weinen, verschränkte die Arme vor der Brust und senkte den Kopf. Ein verletztes Kind. Aber sie erschreckte ihn, weil er sie wollte, weil er ihr ernstes Gesicht gerne an seiner Seite hatte. Und weil sie ihn wollte, obwohl ihn die Gespenster der Vergangenheit nicht losließen. Sie standen gleichzeitig auf, und er fing sie ab, als sie zur Tür laufen wollte. Sie versuchte 375
kurz sich zu befreien, ließ dann aber die Arme sinken. Sie schluchzte nicht mehr, aber die Tränen liefen ihr immer noch über die Wangen. Er wischte sie weg, nahm sie in den Arm und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. Mistkerl. Ihre Stimme wurde von seiner Schulter gedämpft. »Ich dachte, du wolltest mich. Ich dachte ...« Sie preßte sich enger an ihn. Aber sie suchte nur Trost bei ihm, nichts anderes. Dann hob sie den Kopf und sah in an. An ihren Lippen klebten Haarsträhnen. Er mußte ihrem Blick ausweichen. Sie löste sich von ihm und ging zum Tisch. »Du hast kaum etwas gegessen.« Sie lachte durch ihre Tränen. »Das ist meine Schuld. Ich habe dich vom Essen abgehalten.« Sie nahm die Waschschüssel an sich und verschüttete etwas von dem schlammtrüben Wasser. »Colban wird sich schon wundern, wo ich bleibe.« Dann ging sie. Er zog das Schwert aus der Scheide und blickte angestrengt auf den blauen Stahl der Klinge. Er schwang es in einem glitzernden Bogen, und es drang durch den Tisch wie durch Butter. Ein Schlag durchfuhr seinen Arm, als die Klinge sich ihren Weg durch das dicke Holz bahnte und dann funkensprühend auf den Steinboden schlug. Isay spähte in das Zimmer. »Ich habe ein Geräusch gehört.« Er sah die große Kerbe, die Riven aus dem Tisch geschlagen hatte. Riven warf ihm einen wilden Blick zu. 376
»Ich übe nur«, sagte er, und die Tür wurde wieder zugezogen. Am nächsten Morgen war er schon bei Sonnenaufgang auf dem Übungsplatz und schlug auf seinen Holzpfahl ein, als sei er sein Todfeind. Die Myrcaner beobachteten ihn, und er hätte schwören können, daß in ihren Blicken so etwas wie Wohlwollen lag. Der alte Luib, der Ausbildungsleiter, ergriff seinen Arm und demonstrierte ihm die richtige Schlagtechnik. »Leg dein ganzes Gewicht in den Schlag, aber bewege dich auf den Fußballen, damit du dich besser abfangen kannst, wenn dein Schlag das Ziel verfehlt.« Der weiße Streifen auf seinem Gesicht glänzte im Morgenlicht. Riven hielt keuchend inne, als die anderen Rekruten herankamen. Er nickte ihnen zu und stellte dann Luib eine Frage; zum Teil, weil es ihn wirklich interessierte, zum Teil, weil er eine Verschnaufpause brauchte. »Wie viele von ihnen werden in die Schutztruppe aufgenommen?« Luib warf einen Blick auf seine Schützlinge, die von den anderen Ausbildern auf Herz und Nieren geprüft wurden. »Fünf, vielleicht sechs.« Riven stieß einen leisen Pfiff aus. »Und was ist mit den anderen?« »Sie bleiben im Zirkel unter Waffen und sollen den Rorim beschützen, so daß die 377
Schutztruppe für Aufgaben jenseits der Mauern frei wird.« »Und was ist mit den Myrcanern? Woher bekommen sie ihre neuen Rekruten?« Luib sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Myrcaner werden als Soldaten geboren. Sie kommen aus ihrer Heimat im Norden und stellen ihre Dienste denjenigen zur Verfügung, die sie brauchen.« Rivens Interesse wuchs. »Von wo im Norden?« »Westlich von Drinan.« Sie schwiegen, und Riven versuchte sich an Minginishs Geographie zu erinnern, aber dann schickte ihn Luib wieder an die Arbeit. Bei jedem Schlag sah er Madras Gesicht vor sich und die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Er wäre bis zum Einbruch der Dunkelheit geblieben, aber Ratagan und Bicker kamen, um ihn abzuholen. Sie mußten schon einige Zeit am Rand des Übungsplatzes gestanden und ihn beobachtet haben, bevor er sie bemerkte. Luib nickte, als Riven ihm das Übungsschwert reichte. Er ging zu ihnen. Ein heftiger Wind wehte und vertrieb die grauen Wolken. Der Mond stand jetzt schon blaß über den Hügeln. Es würde wieder eine klare Nacht geben. »Wenn du nicht aufpaßt, wird man dich für einen Mann der Schutztruppe halten«, sagte Ratagan und reichte ihm sein Schwert. Riven schnallte es um. »Es ist ein guter Zeitvertreib.« Er klopfte auf die Schwertscheide. 378
»Und außerdem, wenn ich die Waffe schon trage, ist es vielleicht gar nicht schlecht, wenn ich auch damit umgehen kann.« »Du gehst nicht schlecht damit um«, erwiderte der große Mann. Sie gingen auf die Mauern des Rorim zu. Bicker wirkte sehr nachdenklich. Er trottete durch die Pfützen, ohne darauf zu achten. »Was ist los?« fragte Riven. »Oh, jede Menge. Es passiert viel zuviel gleichzeitig. Es liegt etwas in der Luft.« »Sind die Beratungen vorüber?« »Sie sind soeben zu Ende gegangen. Bragad war zum Schluß geradezu leutselig. Er meinte, daß alles sich schon fügen würde. Sogar Marsco schien sich damit abgefunden zu haben, daß die Rorims sich nicht zusammenschließen werden.« »Aber du machst dir Sorgen.« Bicker nickte. »Er hat zu guter Letzt zu leicht nachgegeben. Nach all der Zeit und dem Prestige, das er hier geopfert hat. Und das ist nicht alles. Lady Jinneth ist alleine ausgeritten, und sie ist bis jetzt nicht zurückgekehrt. Doch ihr Mann macht sich keine Sorgen — er sagt, daß sie weiß, was sie tut.« »Da kann er sicher sein«, schnaubte Ratagan. Bicker schüttelte den Kopf. »Zu viele Leute treiben sich im Dale herum — wichtige Leute. Lionan und Mullach zum Beispiel. Seit Tagen hat niemand etwas von ihnen gehört. Und sowohl Rim-Suardal als auch Rim-Drynoch sind fast menschenleer. Das hat Ord berichtet. 379
Er ist gestern mit der Patrouille dort vorbeigekommen.« »Bragad hat jetzt zwei Rorims hinter sich und vielleicht auch die Männer von drei Lords aus Ralarth«, sagte Riven ruhig. »Glaubst du, er wird Ralarth angreifen?« Bicker war verwirrt. »Ralarth angreifen? Aber er befindet sich doch selbst im Rorim!« »Hast du schon einmal etwas von dem Trojanischen Pferd gehört, Bicker?« »Was meinst du?« »Wenn Bragad Ralarth Rorim angreifen will, was kann ihm Besseres passieren, als daß einige seiner Männer sich schon innerhalb des Rorims befinden?« »Zwölf bewaffnete Männer seiner Begleitung sind im Zirkel einquartiert«, bemerkte Ratagan nachdenklich. »Lionan, Mullach und Jinneth könnten irgendwo dort draußen sein und auf ein Angriffssignal warten — oder Jinneth selbst könnte das Signal gebracht haben. Oder die Männer in den Langhäusern könnten es geben.« »Das sind Spekulationen«, sagte Bicker scharf. »Vorsicht ist besser als Nachsicht.« Der dunkle Mann schwieg. Sie schritten durch das Tor des Rorims und betraten den gepflasterten Hof vor der Manse. Aus den Ställen drang der Geruch nach Heu und Pferdemist zu ihnen herüber, und zwei 380
Küchenmädchen in wärmenden Umhängen zogen Wassereimer aus dem Brunnen. »Unser Ausflug nach Norden hat sich herumgesprochen«, sagte Riven. Bicker nickte und seufzte dann. »Die jungen Männer der Schutztruppe. Sie erzählen es ihren Mädchen, und dann war es die längste Zeit ein Geheimnis. Dein Ruf als Magier ist nicht mehr zu erschüttern, mein Freund. Wer sonst würde in diesen Zeiten eine Reise zu den Greshorns unternehmen?« Er spuckte aus und verrieb den Speichel mit dem Stiefel auf dem Pflaster. Die drei Männer standen für einen Augenblick schweigend da. Die Mädchen am Brunnen und zwei Männer der Schutztruppe, die über den Hof kamen, musterten sie neugierig. Bicker fluchte plötzlich. »Nun gut. Du bist sehr mißtrauisch, Michael Riven, aber ich habe das Gefühl, du könntest recht haben. Ich werde ein paar ... Sicherheitsvorkehrungen treffen für den Fall, daß sich unsere Befürchtungen bestätigen.« »Alle Anführer sind heute abend bei dem Fest«, meinte Ratagan. »Wer soll bei einem Angriff die Befehle geben, bis wir zur Stelle sind?« »Vielleicht Dunan«, meinte Riven. »Und Luib ist ja auch noch da«, fügte Bicker hinzu. »Er kann die Männer anführen, die in der Ausbildung sind. Wir werden unsere Leute aufteilen — einige werden den Rorim und den Zirkel bewachen, und einige werden wir an der 381
Außenmauer postieren, damit sie uns rechtzeitig warnen können.« »Wir müssen den Warbutt informieren«, sagte Ratagan ruhig. »Aye«, sagte Bicker. »Ich denke, das muß ich übernehmen. Es wird nicht leicht sein, ihn zu überzeugen, aber es wird gelingen.« Er blickte zum Himmel. Es dämmerte bereits. »Es ist Bragads letzte Nacht im Rorim. Wenn wir recht haben, wird es heute nacht passieren. Was immer er vorhat, muß heute nacht geschehen. Die richtige Nacht für ein Fest.« »Ich werde nicht zu dem Fest gehen«, sagte Riven. Er dachte daran, wie Madra ihm auf dem letzten Fest Bier eingeschenkt hatte. »Es kann nicht schaden, einen zusätzlichen Mann auf dem Wall zu haben«, sagte Bicker abwesend. Er drehte sich um und blickte zur Manse. »Ich muß jetzt gehen. Ich habe noch viel zu tun ...« Langsam und ohne die gewohnte Lebhaftigkeit ging er zu dem großen Gebäude. Ratagan blickte ihm nach. »Bicker liegen solche Dinge nicht«, sagte er. »Das ist etwas für Murtach. Bicker hat sich nie besonders für politische Intrigen interessiert.« »Darum wohl seine Wanderungen durch die Berge«, meinte Riven. »Aye.« Ratagan zögerte. »Glaubst du wirklich, daß Bragad versuchen wird, den Rorim zu erobern?« »Ja.« 382
»Das würde bedeuten, daß Männer getötet werden. Daß Schutztruppen gegen Schutztruppen kämpfen. Vielleicht sogar ...« Er brach ab. »Nein, niemand kann Myrcaner dazu bringen, gegen andere Myrcaner zu kämpfen.« Sein Blick verfinsterte sich. »Ist so etwas in deiner Welt üblich?« »Dort, wo ich herkomme, wird immer irgendwo ein Krieg geführt. Darum konnte ich ja Soldat werden. Wir haben ständig einsatzbereite Armeen.« Ratagan schüttelte den Kopf. »Klingt nach einer Welt, in der die Myrcaner sich wohl fühlen würden.« Riven sah hoch zu den Bannern, die über der Manse flatterten. »Nein«, sagte er. »Das glaube ich nicht. Ich glaube, sie würden diese Welt hassen.« Der große Mann legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich lasse mich am besten mal auf dem Fest sehen. Man erwartet, mich dort zu sehen, wo Bier fließt.« Er biß sich auf die Unterlippe. »Riven?« »Was gibt's?« »Madra ist ... jung. Ich weiß, daß ich der letzte bin, der solche Ratschläge geben sollte, aber prüfe einmal, ob du ihr nicht gut sein kannst. Sie hat es verdient.« Dann ging er. Jinneth war noch nicht zurückgekehrt, als das Fest begann. Riven wanderte über die Wälle und beobachtete das Dale, das im 383
Mondlicht vor ihm lag. Er hörte den Lärm aus dem Festsaal und wußte, daß Madra jetzt dort war, Bragad Bier einschenkte und von betrunkenen Männern gierig angestarrt wurde. Er sah zu den Hügeln im Westen und wußte, daß es auch dort Frauen gab, deren Gesichter er kannte. Die widersprüchlichsten Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er weiterging. Er würde sich besser mit den Vorkehrungen beschäftigen, die er und Bicker getroffen hatten, um zu prüfen, ob sie etwas übersehen hatten, ob es in ihrem Plan Lücken gab. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich. Es waren leichte Schritte, die nicht von einem Wachposten der Schutztruppe stammen konnten. Jemand blieb neben ihm stehen. Er roch einen leichten Schweißgeruch und den Lavendelgeruch des Kranzes, den sie im Haar trug. Sie nahm in ab und drehte ihn in den Händen, während sie gemeinsam mit ihm in das Dale hinunterblickte. Du gibst nicht auf, nicht wahr? Er lächelte schwach. In dem Langhaus, in dem Bragads Männer einquartiert waren, schimmerte Fackellicht. Auch dort wurde gefeiert. Er fragte sich, ob sich der ganze Rorim heute nacht betrinken würde. Nun, wenigstens die Myrcaner würden nüchtern bleiben. Ein leichter Wind kam auf und spielte mit Madras schwarz glänzenden Haaren. 384
»Was machst du in deiner Welt?« fragte sie ihn. Die Frage überraschte ihn. Sie erinnerte ihn daran, daß er einmal eine Aufgabe gehabt hatte. Jetzt tat er gar nichts. »Früher war ich ein Soldat, danach ein Geschichtenerzähler.« »Du hast jemanden geliebt.« Er verzog das Gesicht. »Sie ist gestorben.« »Aber du liebst sie immer noch.« »Ja.« Sie drückte seine Hand, und er sah sie an. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe das vorher nicht gewußt.« »Hat Ratagan es dir erzählt?« »Ja.« Es war kalt geworden in der sternklaren Nacht, und eine steife Brise wehte jetzt durch das Dale. Madras Gesicht wirkte in dem dämmrigen Licht alterslos. Sie fröstelte. Er zog sie an sich heran und nahm sie mit unter seinen Umhang. Ihre Hände waren kalt, und sie schob sie unter sein Hemd, um sie zu wärmen. Er spürte sie auf seinem Rücken, fühlte auch das Kratzen des Lavendelkranzes, den sie immer noch in der Hand hielt. »Wie alt bist du?« Sie blickte zu ihm auf. »Ich habe sechzehn Sommer gesehen.« Sechzehn. Mein Gott. »Wie alt bist du?« »So alt wie die Berge.« 385
»Das glaube ich nicht. Du bist jünger als Bicker, und er hat noch kein graues Haar.« Er lachte und drückte sie näher an sich, ohne nachzudenken. Er reagierte einfach auf ihre Gegenwart. Alarmsirenen schrillten in seinem Kopf. Ich nehme mich besser zusammen und behalte diese Langhäuser im Auge. Aber er schob sie nicht von sich. Es war warm unter dem Umhang. Ihre Hände waren nicht mehr kalt auf seinem Rücken. Sie hatte den Kopf an seine Brust gelehnt. »Nach Bragads Besuch wirst du von hier fortgehen, nicht wahr?« »Die neuesten Gerüchte aus der Küche?« »Jeder im Rorim weiß es.« Er fluchte. Es wurde hier zuviel geklatscht. Er fragte sich, ob Bragad auch schon Bescheid wußte. In der Nähe ertönte der Ruf eines Käuzchens und wurde aus einiger Entfernung beantwortet. Ein Stück von ihnen entfernt patrouillierte ein einsamer Wachposten auf dem Wall. Seine Rüstung schimmerte im Mondlicht, als er sich umdrehte. »Solltest du nicht auf dem Fest sein?« fragte Riven. »Bragad hat den Warbutt gefragt, ob die Anführer von Ralarth und die Lords in der Halle alleine feiern können. Auch die Bedienungen hat man hinausgeschickt, sobald das Essen vorüber war.« 386
»Sie haben sicher wichtige Dinge zu besprechen«, sagte Riven gedankenverloren. Er war unruhig. Wieder sah er zu den Langhäusern im Zirkel. Noch immer flackerte Fackellicht hinter den Fenstern, und Bruchstücke von Trinkliedern klangen zu ihnen herüber. Es sieht nicht so aus, als hätten sie heute abend noch etwas vor. Dunan war ohnehin mit zwanzig Männern der Schutztruppe im Zirkel unterwegs, um sie im Auge zu behalten. Luib war mit seinen Rekruten an den Toren der Außenmauer. Der Rorim selbst war nicht so gut geschützt, aber sie hatten genügend Männer, um Bragad in Schach zu halten und die Tore zu verteidigen — wenigstens für eine Weile. Warum war er trotzdem so unruhig? Er sah hinunter ins Rorim und sah Isay mit verschränkten Armen unterhalb des Walls stehen, seinen Stock im Gürtel. Dieser Anblick beruhigte ihn etwas. »Warum bist du nicht zum Fest gegangen?« fragte Madra. »Ich wollte allein sein.« »Oh.« Sie löste sich von ihm, aber er zog sie wieder an sich. »Du bist ein seltsamer Mann«, sagte sie. »Du kannst dich betrinken und mit den anderen Lieder singen, und doch willst du oft allein sein. Du hast niemals ein Schwert in der Hand gehabt, und doch kannst du damit umgehen, als seist du von Kindesbeinen an darin geschult worden.« 387
»Woher willst du das wissen?« »Isay hat es mir gesagt.« »Isay!« rief er mit unterdrückter Stimme, so daß der Myrcaner ihn nicht hören konnte. Er strich durch Madras Haar. »Dir wird alles erzählt, nicht wahr?« Sie antwortete nicht, zog ihn aber mit überraschender Kraft an sich und küßte ihn heftig auf den Mund. Mit der Hüfte schob sie seine Beine auseinander und preßte sich an ihn. »Ich möchte heute nacht bei dir bleiben.« Sie hatte ihr Kinn wieder entschlossen vorgeschoben, und eine ruhige Sicherheit war in ihrem Blick. »In Ordnung«, erwiderte er mit heiserer Stimme. Sie streifte den Umhang ab, und sie gingen über den Wall in Richtung der Treppe, die hinunter ins Rorim führte. Sie spürten die kalte Nachtluft auf ihren erhitzten Gesichtern. Plötzlich stolperte Riven über einen schwarzen Schatten, und er wäre gestürzt, wenn sie ihn nicht am Arm gepackt hätte. Er blickte auf den Boden. »Oh, verflucht«, flüsterte er. Vor ihnen lag ein toter Wachposten in einer großen Blutlache. Man hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Riven richtete sich auf und blickte zu den Langhäusern hinüber. Die Fenster waren immer noch beleuchtet, und er hörte das Singen. 388
»Isay!« rief er. Sekunden später stand der Myrcaner neben ihm, den Stock in den Fäusten. Seine Augen brannten, als er die Leiche des Wachpostens sah. »Geh zur großen Halle — berichte, was geschehen ist. Sie müssen die Manse schützen. Es sind Feinde im Rorim, und weitere Feinde sind wahrscheinlich auf dem Weg hierher.« Isay nickte und schoß davon. »Es ist Phelim. Er war nur zwei Sommer älter als ich«, sagte Madra mit tränenerstickter Stimme. Sie strich dem Toten die Haare aus dem Gesicht. Riven zog sie zu sich hoch. »Lauf zur Küche und warn alle. Wir werden angegriffen. Alle sollen sich irgendwie bewaffnen.« Er schüttelte sie. »Du mußt ihnen Bescheid sagen, Madra!« Sie sah ihn einen Moment mit weit aufgerissenen Augen an und rannte dann los. Riven lehnte sich gegen die Brüstung und atmete tief durch. Denk nach, Riven! Was hat das zu bedeuten? Was haben sie für einen Plan? Während er noch überlegte, züngelten an einem der Langhäuser, in denen Bragads Männer untergebracht waren, Flammen empor. Zwei Gestalten hielten Fackeln an die Dachtraufe. Dann sah er, wie im Dale als Antwort auf dieses Signal ebenfalls Feuer aufleuchteten. Im Mondlicht sah er, wie Dunan und seine Männer mit gezückten Schwertern auf die Langhäuser zustürmten. Sie kommen. 389
Luibs Männer hatten sich an den drei Toren der Außenmauer verteilt. Sie würden einer größeren Zahl von Angreifern nicht lange standhalten können. Die Feinde konnten auch ebensogut an einer anderen Stelle über die Mauer steigen. Die Außenmauer war nicht dazu gedacht, Angriffe von Menschen abzuwehren. Sie hatte vor allem die Aufgabe, die Herden vor Tieren zu schützen. Nicht zum ersten Mal verfluchte Riven das Vertrauen, das diese Menschen anderen Menschen entgegenbrachten. Die Langhäuser standen jetzt von Giebel zu Giebel in Flammen, und Dunans Männer schwärmten um sie herum. Dann zuckte Riven zusammen, als Isay gegen ihn prallte. »Sie haben die Halle in ihrem Besitz«, keuchte er. »Bragads Männer halten alle dort gefangen. Sie müssen in der Nacht irgendwo über den Wall gestiegen sein.« Und haben zur Ablenkung zwei Mann in den Langhäusern zurückgelassen. Von der Außenmauer klangen Schreie zu ihnen herüber. »Sag Dunan schnell Bescheid. Er soll mit seinen Leuten in den Rorim kommen und einen Boten zu Luibs Männern an den Toren schicken. Wir brauchen jetzt jeden Mann auf den Wällen.« Isay drehte sich um, aber Riven hielt ihn zurück. »Was ist mit den Myrcanern? Was tun sie?« »Zwei von ihnen bewachen zusammen mit zwei Männern der Schutztruppe den Eingang 390
zur Halle. Druim und Belig bewaffnen die Bediensteten.« »Gut. Geh jetzt!« Isay sprang über die Mauer und verschwand in dem Befestigungsgraben. Dann tauchte er wieder auf und rannte auf die brennenden Häuser im Zirkel zu. Riven stand allein auf dem menschenleeren Wall und tobte innerlich vor Ungeduld. Bragads Plan war ihm jetzt klar. Die Anführer von Ralarth sollten als Geiseln in der Halle festgehalten werden, während die Hauptstreitmacht die führungslosen und wahrscheinlich betrunkenen Verteidiger überwältigen sollte. Dann hätte er den Rorim in seiner Gewalt. Seine Männer hatten ihre Unterkünfte verlassen und den ersten Teil des Plans ausgeführt. Ein paar Mann waren zurückgeblieben, um jeden Verdacht zu zerstreuen. Zweifellos waren Jinneth und die beiden abtrünnigen Lords von Ralarth jetzt auf dem Weg zum Rorim. Gott allein wußte, wie viele Männer sie bei sich hatten. Dunans Männer liefen jetzt auf den Rorim zu. Zwei Gestalten blieben hinter ihnen bei den Häusern liegen. Sie mußten etwa eine halbe Meile zurücklegen. Von der Außenmauer klangen jetzt schwache aber eindeutige Kampfgeräusche herüber. Riven strich nervös über den Griff seines Schwerts. Er mußte daran denken, wie sich Madra an ihn gepreßt hatte. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Dann hörte er hinter sich Schritte die Treppe hocheilen. Er drehte 391
sich um und zog sein Schwert, aber es waren Gwion und Colban mit einigen anderen Bediensteten der Manse. Sie hatten sich mit Stäben, Küchenmessern und Knüppeln bewaffnet. Colban war schweißüberströmt und völlig außer Atem. »Sei gegrüßt, Lord«, keuchte er, während seine Leute sich auf dem Wall verteilten. Dann lehnte er sich an die Mauer und wischte sich mit der freien Hand den Schweiß von der Stirn. »Ich bin zu alt für solche Dinge.« Gwion war der einzige von ihnen, der ein Schwert hatte. »Ein paar von unseren Leuten helfen den Myrcanern, die Türen zur Halle zu bewachen«, sagte der Steward. »Meine Frau kommandiert sie. Es sind viele von Bragads Männern in der Halle. Sie halten unsere Anführer gefangen und haben die Eingänge verrammelt. Alle anderen Männer habe ich mitgebracht.« Er griff sich an die Brust und hustete. »Das habt ihr gut gemacht«, sagte Riven. Madra glitt an seine Seite. Sie hatte ein Messer in der Hand. Ihre Blicke trafen sich kurz, dann blickte er weg. »Dunan wird mit seinen Männern in wenigen Augenblicken hier sein. Es kommen noch mehr von Bragads Leuten. Wir müssen den Rorim gegen sie verteidigen.« Bei diesen Worten ertönte furchtsames Gemurmel. In der klaren Nacht hörten sie deutlich die Kampfgeräusche am nächstgelegenen Tor der Außenmauer. Gwion schob seine Leute, die sich wieder 392
zusammengedrängt hatten, auseinander und wies ihnen Positionen auf dem Wall zu. Zwei Drittel der Mauer blieben unbemannt. Es gab einen Tumult am Tor des Rorims, und Sekunden später erschien Dunan mit den Männern der Schutztruppe auf dem Wall. »Eine wunderbare Nacht zum kämpfen!« sagte der Kommandant der Schutztruppe mit blitzenden Zähnen. Sein Schwert war blutbefleckt. Isay nahm seinen Platz neben Riven wieder ein. Dunans Männer verstärkten Gwions und Colbans Streitmacht, und Dunan spähte hinaus in den Zirkel. »Luib zieht sich mit seinen Leuten zurück. Sie täuschen vor, daß sie flüchten. Wenn der Feind uns hier angreift, wird er ihm in den Rücken fallen.« Riven nickte. Es war also soweit. Vier Jahre in der Armee, und das wird mein erstes richtiges Gefecht — mit einem Schwert in der Hand. Madra schlang ihren Arm um seine Hüfte. »Hast du Angst?« fragte sie. »Darauf kannst du Gift nehmen.« Dann verfinsterte sich sein Blick. »Du kannst nicht hierbleiben. Du kannst nicht mitten in einem Kampf bleiben.« »Ich bin nicht die einzige Frau auf dem Wall.« Er verzog das Gesicht, während er sich umsah. »Ich weiß, aber ...« Ihm wurde bewußt, daß die anderen ihn beobachteten. Dann sah er den Trotz in ihren Augen. »Verdammt noch mal.« Sie lächelte ihn an, und er wandte sich ab. 393
Die Kampfgeräusche an der Außenmauer hatten aufgehört, und die Nacht war völlig ruhig, wenn man von den nervösen Bewegungen der Verteidiger auf dem Wall absah. Madra fröstelte wieder. Sie starrte zu den brennenden Häusern im Zirkel. Ein dumpfes Krachen ertönte, als das Dach eines der Häuser einstürzte. Eine Gestalt tauchte auf und rannte stolpernd auf das Tor zu. Es wurde aufgerissen und hinter ihr sofort wieder zugeschlagen. Ein Mann taumelte die Treppe zu dem Wehrgang auf dem Wall hoch. Er war total erschöpft und verschwitzt. Ein Mann der Schutztruppe. »Wo ist Dunan?« »Hier, Rimir. Was gibt es neues?« »Luib hat neun Männer verloren. Er zieht seine Leute zurück«, keuchte Rimir. »Es sind Mullach und Lionan, unserer eigenen Lords! Sie kommandieren die Angreifer.« »Wie viele sind es?« fragte Dunan scharf. Rimir rang nach Atem. »Luib hat versucht, sie zu zählen. Es sind mindestens zwanzig Angehörige der Schutztruppe und ein halbes Dutzend Myrcaner. Dazu vielleicht noch hundert Männer ohne Ausbildung. Es sind welche aus Suardale und Drynoch dabei!« Dunan fluchte leise. »Gut gemacht, Rimir. Erhol dich etwas. Du wirst bald gebraucht.« Rimir nickte und trat beiseite. »Es wird heiß hergehen«, sagte Dunan. Er biß sich auf die Lippe. »Unsere eigenen Leute. 394
Myrcaner gegen Myrcaner. Ich möchte nur wissen, wie der alte Fuchs sie dazu überredet hat.« »Wie ist es möglich, daß euer Volk sich gegenseitig bekämpft?« fragte Riven Isay. »Ich weiß es nicht. Aber sie müssen schon einen guten Grund haben.« Er wirkte besorgt und sah Riven zweifelnd an. »Mach du ihre Schutztruppen nieder, und wir sehen, was wir gegen deine Landsleute ausrichten können«, sagte Dunan trocken. Er spuckte über die Mauer in die Dunkelheit des Grabens. »Ich hoffe, daß Luibs Truppe sie schon etwas dezimiert hat, sonst wird es hier gleich eng.« Alle hörten gleichzeitig die stampfenden Schritte herannahen und beugten sich über die Mauer, um etwas zu sehen. »Dort«, sagte Riven. Er wies die Richtung mit der Hand. »Man sieht sie im Licht der Flammen.« Dann sahen alle sie: eine dunkle Masse Bewaffneter mit schimmernden Rüstungen und Schwertklingen. Sie wurden von einer schlanken und einer untersetzten Gestalt angeführt. Sie schwärmten aus, als sie näher herankamen, und die Männer der Schutztruppe auf dem Wehrgang zogen ihre Bögen aus den Köchern und legten weiß gefiederte Pfeile ein. »Laßt die Lumpen noch näher herankommen!« befahl Dunan. Die Angreifer blieben stehen und schienen sich zu beraten. 395
Dann stürmten sie mit heiserem Geschrei auf die Mauer zu. Gleichzeitig ging ein Pfeilregen auf die Befestigungen nieder. Überall klirrten die Eisenspitzen der Pfeile gegen die Mauern. Einer der Bediensteten der Manse schrie auf und stürzte von dem Wehrgang hinunter zu den Häusern des Rorims. Dann schrie Dunan einen heiseren Befehl, und die Bogenschützen der Verteidiger schoßen ihre Bögen ab. Ein helles Zischen ertönte, das die Kampfschreie übertönte, und dann sanken zahlreiche der Angreifer zu Boden. Die gefiederten Schäfte der Pfeile ragten aus ihren Körpern. Der Angriff stockte jedoch nur kurz. Entschlossen gingen die Feinde gegen die Tore vor. Sie sammelten sich dort, glänzten im Mondlicht wie schwarze Käfer, und dann wurden längliche Gegenstände an die Mauer gelehnt. Er waren schmale Baumstämme; die Äste hatte man bis auf eine Fußlänge gestutzt, und einige Männer begannen jetzt, daran emporzuklettern. Die Verteidiger versuchten, die improvisierten Sturmleitern wegzuschieben, und mindestens eine kippte krachend zurück in die Menge. Aber diejenigen, die sich über die Mauer lehnten, um die Stämme zu erreichen, wurden sofort zum Ziel von einem Dutzend Bogenschützen. Riven sah einen Mann der Schutztruppe mit Pfeilen in Hals und Gesicht zu Boden gehen. Einen der Köche traf ein Pfeil ins Auge. Er taumelte zurück, die Hände auf die Schläfen gepreßt. 396
Dunan stieß wilde Flüche aus. »Diese Hurensöhne haben doppelt so viele Bogenschützen wie wir. Sie halten uns nieder, bis sie uns überrennen können.« Die ersten Feinde schoben ihre Köpfe über die Mauer. Viele wurden sofort getötet, erhielten Lanzenstiche in den Mund oder Schwerthiebe auf den Schädel, aber auch die Verteidiger hatten Verluste. Riven rammte sein Schwert einem Mann in den Hals, der schon ein Bein über die Mauer geschwungen hatte. Sein Gesicht verzerrte sich im Todeskampf, dann stürzte er zurück über die Brüstung. Ich habe jemanden getötet, dachte Riven, aber in diesem irrsinnigen Geschehen bedeutete es ihm nichts. Schwer gerüstete Männer mit roten Schärpen schoben sich über die Befestigungen, während die Waffen der Verteidiger auf sie niedergingen wie ein Hammer auf einen Amboß. Sie taumelten unter den Hieben, aber ihre dicken Stahlpanzer schützten sie, und sie erholten sich rasch und drängten die spärlich bewaffneten Bediensteten zur Seite. Ihre Kameraden folgten ihnen sofort, wie Wasser, das durch eine Lücke in einem Deich strömt — und dann sah Riven Mullach auf der Mauer erscheinen. Er schwang seinen Hammer über dem Kopf, und sein Mund war unter dem schwarzen Schnurrbart zu einem häßlichen Grinsen verzerrt. Überall entlang der Mauer entwickelten sich jetzt Nahkämpfe, blitzten bösartig die 397
Schwertklingen. Riven wollte sich nach Madra umsehen, die nicht mehr neben ihm stand, aber dann fiel der Mann vor ihm, und er stand einem feindlichen Milizangehörigen gegenüber. Sein Verstand schaltete sich aus, und seine Glieder reagierten automatisch. Ihre Schwerter traffen sich klirrend, und Riven wußte sofort, daß sein Gegner stärker war als er. Er wurde zurückgedrängt, stolperte fast über einen Körper und geriet in den Bereich anderer Zweikämpfe. Er parierte einen Schlag nach dem anderen, aber seine frisch verheilten Knochen würden bald ihre Dienste versagen. Sein Gegner grinste siegesgewiß; er hatte in Rivens Augen die Niederlage gesehen und schlug ihm das Schwert aus der Hand. Er hob seine eigene Waffe zum tödlichen Schlag. Dann stürzte er vornüber und schlug schwer auf das Gesicht. Der Griff eines Messers ragte zwischen seinen Schulterblättern hervor. Madra stand mit wildem Blick hinter ihm. Blut lief ihr über die Hände. »Bist du in Ordnung?« Er nickte und rang nach Atem. Isay tauchte plötzlich auf. Er schwankte; ein roter Riß verlief über seine Schläfe, und an seinem Stock klebte Blut. »Ich wurde aufgehalten!« keuchte er. Er sah wütend und sehr schuldbewußt aus. »Ich konnte nicht rechtzeitig kommen!« »Ist ja schon gut. Ich bin in Ordnung, um Himmels willen.« Für einen Moment standen die drei ruhig zusammen, während um sie 398
herum der Kampf wogte. Ein Keil von Männern mit roten Schärpen bewegte sich über den Wehrgang und zerriß die Kette der Verteidiger. Dunan hieb wie ein Verrückter mit dem Schwert um sich, während Mullach ebenso fanatisch seinen Hammer kreisen ließ. Ein ekstatischer Ausdruck lag auf seinem brutalen Gesicht. Auch Lionan war jetzt zur Stelle. Wie eine Katze hockte er zwischen zwei Mauerzinnen und beobachtete aufmerksam den Kampf; sein Rapier blitzte wie eine silberne Gerte in der Hand. Auch er trug eine rote Schärpe. Riven fragte sich, wo Jinneth war — und die feindlichen Myrcaner. Er hatte bis jetzt noch keinen auf dem Wall gesehen. Das Kampfgeschehen verlagerte sich wieder in ihre Richtung, und Riven schob Madra fluchend hinter sich. Ritterlichkeit und all das. Er haßte es, sie mit Blut an den Händen zu sehen. Der Kampf tobte weiter, verlagerte sich jetzt von den Befestigungen hinunter zu den Häusern des Rorims. Irgendwo loderte ein Feuer auf und tauchte alles in ein gelborangefarbenes Licht. Ralarth Rorim stand in Flammen. Überall im Dale waren jetzt Lichter zu sehen. Die Menschen, die dort lebten, hatten sich auf den Weg gemacht, um dem Tumult im Rorim auf den Grund zu gehen. Die Nacht war ein einziges Schattenspiel von Licht und Dunkelheit, von Mondlicht, Flammenschein und blitzendem Stahl, und der Rorim war 399
erfüllt mit Schreien und Rufen, dem Klirren von Waffen und Rüstungen, dem Geräusch von brechenden Knochen und stürzenden Körpern. Jegliche Übersicht ging verloren, als sich die Kämpfe immer weiter ausbreiteten und die Angreifer in die Gassen zwischen den Häusern strömten. Sie rutschten auf dem blutbesudelten Pflaster aus oder stolperten über die Körper, die den Boden übersäten. Und hoch über ihnen verdrängten die lodernden Flammen der brennenden Häuser das Licht des Mondes und bliesen ihnen heiße Luft in die Gesichter. Wo war Luib mit seinen Männern, fragte sich Riven. Dann hörte er, wie Madra einen verzweifelten Schrei ausstieß, und drehte sich um. Die feindlichen Myrcaner kletterten über die Brüstung, schwangen ihre Stöcke und mähten die verbliebenen Verteidiger nieder. Isay schob Riven zur Seite und hob abwehrbereit seinen Stock, als seine Landsleute herankamen. »Du mußt fliehen«, sagte er. »Die Mauer ist ohnehin verloren. Ich werde sie aufhalten.« »Ich bleibe bei dir«, sagte Riven knapp und stellte sich neben ihn. Sie sahen, wie Gwion mit zerschmettertem Schädel zu Boden sank, einer der Männer von Ralarths Schutztruppe vom Wall geschleudert wurde, und dann standen die feindlichen Myrcaner vor ihnen. »Wollt ihr gegen euer eigenes Volk kämpfen? Seid ihr so tief gesunken?« schrie Isay ihnen 400
entgegen. Seine Augen funkelten wild. Die beiden Myrcaner an der Spitze blieben stehen. Einer von ihnen deutete mit seinem blutverschmierten Stab auf Riven. »Ihr gewährt an diesem Ort einem Lord des Verborgenen Volkes Unterschlupf, einem Sendboten der Zerstörung, die dieses Land bedroht. Er und seinesgleichen, hier und in den Bergen, sind der Grund dafür, daß die Dales dem Untergang entgegensehen. Liefere ihn aus, und der Kampf ist beendet. Du bist vom gleichen Blut wie wir, hast geschworen, Minginish zu schützen. Er strebt die Vernichtung unseres Landes an. Deine Dienste werden von Gestaltenwandlern und Zauberern mißbraucht.« »Das sind Lügen!«, schrie Isay. »Bragads Lügen!« Aber die Myrcaner griffen schon an. Riven hatte keine Zeit nachzudenken, als ihm auch schon die Stöcke um die Ohren pfiffen. Ein Schlag streifte seinen Kopf, und er sah für einen Moment nur noch Sterne. Nicht schon wieder! Er stürzte zu Boden. Undeutlich registrierte er, daß Isay über ihm stand wie eine Eiche im Sturm, umbrandet vom Angriff seiner Landsleute. Dann eilte ihm jemand zu Hilfe. Madra. Das Haar fiel ihr über das Gesicht, als sie sich bückte, um Rivens Schwert aufzuheben. Er versuchte, sich zu bewegen, sie aufzuhalten, aber er konnte es nicht. Er sah, wie sie das Schwert zu seiner Verteidigung schwang und stöhnte verzweifelt. 401
Dann ertönten Rufe, und jemand schrie: »Luib! Luib ist gekommen!« Und er hätte schwören können, daß er Ratagans dröhnende Stimme über dem Kampflärm gehört hatte. Ihm war schwindlig. Er roch den Brandgeruch in der Luft, sah wie die Sterne hinter Rauchschwaden verschwanden. Das Schreien hörte nicht auf, und er verzog das Gesicht. Ich sterbe in meiner eigenen Geschichte; das ist verteufeltes Pech! Seine Augenlider wurden schwer, und er nahm nur noch ein paar vereinzelte Szenen wahr. Lionan wurde angegriffen. Er kämpfte wie eine Wildkatze. Mullach fiel, das Gesicht immer noch haßverzerrt. Und über sich sah er Schwester Cohen. Ihr Kopf wurde von einem Schlag zurückgeschleudert, und Blut floß über ihr Gesicht. Aber es war nicht Schwester Cohen, es war Madra. Wieder stöhnte er. Er konnte nicht länger zusehen. Die Dunkelheit überwältigte ihn, umhüllte ihn wie eine Wolke, und die Geräusche verstummten. Er sah nichts mehr, und der Schmerz verschwand.
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ZWÖLFTES KAPITEL Er sah ein verschwommenes Gesicht über sich, eingerahmt von dunklem Haar. »Jenny?« Laut sagte er ihren Namen. Aber es war nicht seine Stimme, die krächzend und zittrig aus seiner Kehle kam. Der Schmerz, der in seinem Kopf wie eine weiße Flamme brannte, ließ nach, als etwas Kühles auf seine Stirn gepreßt wurde. Dann umfing ihn wieder Dunkelheit; die Dunkelheit, von der er wußte, daß sie ihn am Fuß des Berges erwartete. Es war ein heißer Tag, und die See lag ruhig vor ihnen. Die Wellen plätscherten gemächlich an den Strand der Bucht, und das Sonnenlicht glitzerte hell auf dem Wasser. Dort, wo der Bach ins Meer floß, tanzte ein Mückenschwarm. Der Horizont verschwand im Dunst. Sie befanden sich auf einer großen Granitplatte, die sich vor Jahrhunderten aus der Steilküste gelöst hatte und jetzt von den Wellen umspült wurde. Neben ihnen lagen die Reste ihrer Mahlzeit und einige Blätter Papier, die mit einem Stein beschwert waren, damit sie die leichte Brise, die von See her wehte, nicht davontrug. Er hatte seinen Kopf in ihren 403
Schoß gelegt und die Augen geschlossen, lauschte den Wellen und dem fernen Rufen der Möwen. Sie stupste ihn in die Seite, als der dunkle glatte Kopf einer Robbe nur ein paar Meter von ihnen entfernt auftauchte. Die schimmernden braunen Augen betrachteten sie mit mildem Interesse. Der Kopf hob und senkte sich mit dem Spiel der Wellen. Sie bewegten sich nicht und lächelten zurück, bis die Robbe wieder untertauchte. Ein kleiner Strudel blieb zurück und wurde von der nächsten Welle verschluckt. Er sah in das Gesicht unter dem dunklen Haarschopf. »Wo bin ich?« fragte er. »Was ist passiert?« Sie lächelte ihn an. »In der Nähe von Glenbrittle. Du bist von einem Berg gefallen.« Dann küßte sie ihn. »Michael«, sagte sie leise und richtete sich auf. »Hm?« Sie zeigte auf die Blätter unter dem Stein. »Laß mich nicht darin vorkommen.« Er kniff die Augen zusammen. »Warum nicht?« »Ich weiß es nicht. Es ist eine so wundervolle Welt, hell und strahlend und unberührt.« »Auch dort gibt es ab und zu Kriege«, sagte er trocken. »Vielleicht — aber die Kämpfe sind klar motiviert und notwendig. Gut gegen Böse. Es gibt nicht so viel Grau wie in unserer Welt.« Er bewegte sich leicht. »Du kommst schon darin vor. Ich kann dich nicht mehr streichen.« 404
Sie tat so, als wolle sie ihm mit dem Finger ins Auge stechen. »Schon wieder? Ich habe es gewußt. Und du hast mich noch nicht einmal gefragt.« »Künstlerische Freiheit. Außerdem muß es ja eine Heldin geben.« Sie schüttelte den Kopf mit einem leichten Lächeln. Dann blickte sie hinaus auf das Meer. Er spürte die Wärme ihrer Hüfte unter seinem Kopf, ihre Finger in seinem Haar. »Dieses dritte Buch wird hoffentlich gut«, mahnte sie ihn. »Es wird ein Meisterwerk. Es wird uns steinreich machen. Wir werden den Rest unseres Lebens in Luxus verbringen.« »Das ist doch Luxus. Jetzt und hier. Wir sind auf Skye, und es ist Sommer. Was willst du mehr?« »Du bist ein seltsames Weib, Mackinnon, weißt du das?« Sie zog die Nase kraus. »Wie wär's mit einer kleinen Klettertour heute nachmittag?« »Wo?« Sie wandte sich um und sah zurück zu den Black Cuillins, wo eine Bergkette nach der anderen in den wolkenlosen Himmel ragte. »Sgurr Dearg. Laß uns auf den Roten Berg klettern und die Welt von der Zinne aus betrachten.« Er schwieg für einen Moment und genoß die warme Sonne. »In Ordnung«, sagte er schließlich. 405
Ein Arm polsterte seine Schultern, und sein Kopf lag an einer weichen Brust. Er wollte sich zu ihr drehen, aber seine Beine verfingen sich in den Decken. Verärgert versuchte er die Augen zu öffnen. Er sah einen fremden Raum. An einem Tisch lehnte ein Schwert in einer Scheide, und durch das Fenster erblickte er weiße Berge. Er blieb unbeweglich liegen, versuchte sich zu erinnern und lauschte Madras ruhigem Atmen. Dann streckte er die Hand aus und streichelte ihr zärtlich über das Gesicht, fuhr mit einer Fingerspitze über ihre Lippen und strich über ihr Haar. Er ließ seinen Tränen freien Lauf. Sie liefen ihm die über die Schläfe bis zum Hals hinunter. Vergib mir. Das Mädchen neben ihm bewegte sich und erwachte. Prüfend tastete ihre Hand nach dem Verband an seinem Kopf. Als sie sah, daß er wach war, schluchzte sie erstickt und vergrub den Kopf an seiner Schulter. Er strich ihr über das Haar. »Hey, ich lebe doch noch.« Sie lachte. »Du hast lange gebraucht, dir das zu überlegen.« Er hob die Hand und berührte die Schramme neben ihrem Auge. Die ganze Schläfe hatte sich gelb und braun verfärbt. »Hat sich am Ende noch alles zum Guten gewendet?« »Luib kam, und unsere Anführer haben ihre Bewacher in der Halle überwältigt und sind uns zur Hilfe geeilt. Wir haben gesiegt.« 406
Er hatte vorläufig genug gehört und legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. Doch dann blickte er wieder aus dem Fenster und sah die Hügel. »Madra ...« »Du bist drei Tage bewußtlos gewesen. Es hat fast die ganze Zeit geschneit, und der Fluß ist völlig zugefroren.« Er sah die Eisblumen am Rand der Fensterscheibe und den stahlblauen Himmel. Es war nicht mehr das Blau des Sommers. »Bicker und Ratagan wollen dich sehen, sobald du aufgewacht bist. Und Isay ist draußen.« »Geht es ihm gut?« Sie nickte. »Was ist passiert?« Du bist in Glenbrütle. Du bist von einem Berg gefallen. »Bicker wird dir alles erzählen.« »Aber du warst zum Schluß bei mir, mit meinem Schwert. Ich erinnere mich.« »Die Myrcaner haben mich niedergeschlagen. Ich bin sicher, daß sie mich nicht töten wollten, aber Isay stand ihnen dann allein gegenüber. Er schrie immer wieder, daß sie für die falsche Sache kämpfen, und schließlich hörten sie ihm zu. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich Bragads Männer schon ergeben, denn ihr Lord war gefangen und sie waren umstellt. Die Bewohner des Zirkels waren uns zu Hunderten zu Hilfe gekommen. Sie haben den ganzen Rorim umstellt. Niemand konnte entkommen.« 407
Es klopfte an der Tür, und dann traten Bicker, Ratagan und Guillamon ein. Isay folgte ihnen. Bicker sah aus, als sei er unter ein Mühlrad geraten, aber Ratagan strahlte. »Du siehst schlechter aus, als ich mich fühle«, sagte Riven zu Bicker. Der dunkle Mann grinste bedauernd. »Der Preis des Sieges. Ich brauchte dringend noch ein Paar Hände, und Augen auf dem Rücken. Aber ich habe überlebt.« »Und ich habe mich langsam daran gewöhnt, dich von irgendwelchen Schlachtfeldern aufzusammeln«, fügte Ratagan hinzu. »Du hast die ungesunde Eigenschaft, Michael Riven, dich immer dort einzufinden, wo es am gefährlichsten ist. Man kann von Glück reden, daß dein Schädel so hart ist.« »Glück oder nicht«, sagte Bicker. »Dir gebührt unser Dank. Du hast viel dafür getan, daß wir die Oberhand behalten haben. Bragad hat uns überrascht. Wir hatten wirklich nicht damit gerechnet, in unserer eigenen Halle gefangengenommen zu werden.« »Wie ist denn das passiert?« fragte Riven. Bicker zuckte mit den Schultern. »Sie hatten es beschämend leicht. Zehn von Bragads Männern sind in der Nacht über die Mauer gestiegen, und bevor wir wußten, was los war, hielten sie uns ihre Schwerter an die Kehlen. Wenn Unish, Belig und noch ein paar andere nicht gewesen wären, hätte die Sache ein übles Ende genommen. Sie haben die Fenster unter der Decke aufgebrochen und sprangen dann 408
mitten unter uns. Es ging heiß her, kann ich dir sagen. Aber es gelang uns, unsere Bewacher zu überwältigen, und als wir die Manse verließen, tobte der Kampf überall, und das nordwestliche Viertel des Rorims stand in Flammen. Dann griff Luib ein. Er hatte die Männer von den Toren der Außenmauer zusammengeholt und fiel dem Feind in den Rücken. Auch wir griffen dann an. Bragads Günstlinge müssen das Gefühl gehabt haben, daß wir aus dem Nichts aufgetaucht sind. Viele von ihnen starben, Marsco zum Beispiel — und Lionan und Mullach. Niemand wird um sie trauern. Murtach ist in Ringill, das jetzt von unseren Leuten besetzt wird.« »Bragad und Jinneth?« fragte Riven. Er fürchtete sich ein wenig vor Bickers Antwort. »Bragad ist tot — seine eigenen Myrcaner haben ihn erschlagen«, sagte Bicker grimmig. »Das Soldatenvolk mag es nicht, wenn es getäuscht wird. Sie haben dem Warbutt jetzt den Treueeid geschworen. Ich glaube, es wird nicht lange dauern, bis die Leute von Carnach dasselbe tun, denn Mugeary ist tot; Daman, sein eigener Neffe, hat ihn getötet. Wir haben ihn gefangengenommen.« »Dann ist es schließlich doch dazu gekommen, daß die Rorims unter einem Oberbefehlshaber stehen«, sagte Riven nachdenklich. Der dunkle Mann nickte. »Von Jinneth gibt es keine Spur. Es gibt Gerüchte, die besagen, daß sie aus den Dales geflohen ist — vielleicht 409
zu den Städten im Norden. Sie wird in dem Schnee nicht sehr schnell vorankommen, aber wir lassen sie nicht verfolgen. Es ist genug gekämpft und getötet worden.« »Eure eigenen Lords ...«, sagte Riven leise. »Glauben die Leute immer noch, daß ich ein Zauberer bin?« Ratagan lächelte. »Und ein großer Krieger, der dem Angriff von sechs Myrcanern standhielt, bevor er fiel.« »Die Leute reden zuviel«, sagte Riven. »Wenn es in den letzten Wochen weniger Gerede gegeben hätte, wären die Gerüchte, die Bragad sich zunutze gemacht hat, vielleicht gar nicht aufgekommen. Die Bewohner der Manse, die mit dem Leben davongekommen sind, werden in Zukunft vorsichtiger sein.« »Wie viele Leute haben wir verloren?« fragte Riven. Bicker wich seinem Blick aus. »Zuviele. Viel zu viele.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Ygelda ist unser neuer Steward geworden. Sie sagt, daß das eigentlich nichts Neues ist, da Gwion sie ohnehin immer um Rat gefragt hat.« Sie schwiegen. Madras strich Riven über den Kopf. »Es schneit«, stellte er fest. »Der Schnee liegt schon fast dreißig Zentimeter hoch«, informierte ihn Guillamon. »Dabei müßte eigentlich Hochsommer sein. Viele unserer Leute und die überlebenden Männer der Schutztruppe sind in den Hügeln 410
und treiben die Herden herunter. Im Westen sind viele Riesen gesehen worden.« Es wurde immer schlimmer. Riven fühlte sich unglaublich sterblich, fühlte aber gleichzeitig große Rastlosigkeit in sich. Er spürte, wie ihm die Zeit unter den Fingern zerrann. Die Greshorns riefen ihn. Und der Sgurr Dearg. Er wünschte nur, er wüßte warum. Vielleicht würden die Zwerge es ihm sagen können. »Wie schlimm ist die Verletzung an meinem Kopf?« Guillamon beugte sich vor und zog ihm das Lid unter dem Auge herunter. »Du hast keinen Schädelbruch, glaube ich. Du brauchst ein paar Tage Ruhe, aber du wirst bald wieder auf dem Damm sein. Wie Ratagan ganz richtig bemerkte, hast du einen harten Schädel, Michael Riven.« Riven lehnte sich zurück und starrte an die Decke. »Wir müssen so schnell wie möglich aufbrechen. Minginish versucht mich hier im Rorim zu halten. Ich weiß nicht, was wir in den Bergen finden werden, aber ich weiß, daß dort die Antwort liegt.« Er lächelte schwach. »Im Buch findet die Suche dort ihr Ende. Bei den Zwergen. Und auf dem Roten Berg.« »Wir brauchen Zeit, um im Rorim alles zu organisieren«, meinte Bicker. »Das müssen die Anführer machen. Und wir müssen an Carnach und Garrafad Rorim denken; sie haben keine Anführer und sind durch den Schnee schwer zu erreichen. Sie sind isoliert 411
und verwundbar, denn die Truppen dort haben nur noch die halbe Stärke und werden von Riesen belagert.« Riven seufzte. »Ich weiß. Aber wenn wir das Problem an seiner Wurzel packen wollen, müssen wir uns bald auf den Weg machen.« Bicker setzte zum Reden an, aber Guillamon legte ihm die Hand auf den Arm. »Einiges davon kannst du mir überlassen. Wenn Udairn und Dunan mir helfen, kann ich die Organisation im Rorim übernehmen. Und Murtach hat gesagt, daß er nach Carnach aufbrechen wird, sobald Ringill gesichert ist.« »Das wird keine leichte Reise sein«, vermutete Ratagan. »Du hast dich für eine schwierigere Reise freiwillig gemeldet«, erwiderte Bicker. »Oder glaubst du, wir können uns Flügel wachsen lassen und in die Greshorns fliegen?« Ratagan lachte und verbeugte sich. »Ich bitte um Vergebung. Du hast natürlich recht. Ich habe vor dem Kampf mit Tagan gesprochen. Er kennt die Greshorns und kann einige tolle Geschichten erzählen ...« Guillamon erhob sich. »Die Geschichten können warten. Der Geschichtenerzähler muß sich von deiner Stimme und unseren Streitereien erholen. Wir werden ihn seiner Krankenschwester überlassen.« Er schenkte Madra ein überraschend strahlendes Lächeln. Sie gingen. Isay blieb an der Tür stehen. Riven sah ihn an. »Danke Isay.« 412
»Ich habe meine Pflicht getan«, sagte der Myrcaner. »Und ich habe meine Landsleute an ihre Pflicht erinnert. Dein Leben ist in meiner Obhut. Und das Schicksal unserer Welt ist in deiner Obhut. Schütze sie, wie ich dich schütze, dann bin ich zufrieden.« Er ging hinaus und bezog seinen Wachposten neben der Tür. Riven lag ruhig da, Madra neben sich. Sein Kopf schmerzte. Er lauschte dem Heulen des Windes und sah hinaus in das Schneegestöber. Madra ging zum Kamin, um Holz nachzulegen. Als sie niederkniete, strich sie sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, und Bilder der Vergangenheit tauchten vor seinem inneren Auge auf. Ein dunkelhaariges Mädchen, dessen Gesicht von einem Kaminfeuer beleuchtet wurde, der Geruch von brennendem Torf in einer Winternacht, das Krachen der Wellen, die der Sturm an die Felsen peitschte. Winter. Auf Skye war Winter, und dieser Winter war jetzt auch hier in Minginish. Die Trennwand zwischen den Welten wurde immer dünner. Erinnerungen und Fantasien gerieten durcheinander, und diese Leute hier würden dafür bezahlen müssen, wenn nicht bald etwas geschah! »Ratagan und ich werden dich natürlich begleiten«, sagte Bicker. »Und Isay wird dein Leibwächter bleiben wollen. Tagan wird mit uns kommen, weil er 413
der beste Waldläufer und Fährtensucher des Dales ist. Auch Luib wird uns begleiten; er hat die Ausbildung der Rekruten Druim und Unish übertragen. Ich glaube Isay hatte recht; Luib möchte die Berge seiner Heimat noch einmal sehen. Ich bin der Meinung, daß uns dazu noch drei Männer der Schutztruppe begleiten sollten, für den Fall, daß wir einmal in Bedrängnis geraten. Rimir, Corrary und Darmid haben sich freiwillig gemeldet. Sie waren während der Schlacht mit dir auf dem Wall. Damit sind wir neun Männer. Ich glaube, das genügt. Oder was meinst du?« »Hört sich gut an«, sagte Riven gleichmütig, obwohl er vor Ungeduld zappelte. »Wie sieht's mit Pferden aus?« »Wir bekommen die besten Rösser des Dales und zwei Packesel für die Verpflegung und unsere Ausrüstung, denn wir haben es eilig. Winterkleidung wird für uns zurechtgelegt, aber eine Reise bei diesem Wetter ist dennoch eine ungeheuere Strapaze.« Riven nickte. Das Feuer warf tanzende Schatten an die Wände des Raums; draußen heulte der Wind und fegte Schnee gegen das Fenster. Es wurde schon wieder dunkel. Ratagan räkelte sich in seinem Stuhl, die langen Beine hatte er übereinandergeschlagen. Er blickte verträumt in das Feuer. Bicker versetzte ihm einen Stoß. »Du bist so schweigsam, alter Freund.«
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»Ich bin schon in Trauer«, erwiderte der große Mann. »Wegen des Biermangels, der uns auf unserer Reise bevorsteht.« Bicker kicherte. »Laß den Kopf nicht zu früh hängen. Wir kommen unterwegs durch Städte, die sich der besten Bierstuben des ganzen Landes rühmen, und wenn wir uns dort auch nicht lange aufhalten können, so bin ich doch sicher, daß wir den einen oder anderem Schluck nehmen werden, um die Kälte aus unseren Knochen zu vertreiben.« Ratagans Miene hellte sich sofort auf. »Wie konnte ich das vergessen! Es geht doch nichts über eine gut geplante Reise.« Er stand auf und reckte sich. »Ich werde den warmen Ofen, das warme Bett und die willigen Mädchen zweifellos schnell vermissen, aber auf Bier zu verzichten, wäre nun wirklich zuviel verlangt.« Er schlug Bicker so kräftig auf den Rücken, daß dieser strauchelte, und wandte sich dann Riven zu. »Wird es gehen mit deiner Kopfverletzung?« »Ich denke schon.« Dann stellte Riven die Frage, die schon den ganzen Tag an ihm genagt hatte. »Was ist mit Murtach?« Ein Schatten legte sich über Ratagans Gesicht. »Er bleibt im Rorim, oder in Carnach Rorim, wo er von Ringill aus hingehen wird. Er wird nicht mit uns kommen.« »Beunruhige ich ihn immer noch?« »So etwas in dieser Art«, sagte Ratagan. »Murtach ist schon immer ein tiefsinniger Mensch gewesen, der letztlich nur sich selber 415
traut. Er glaubt, daß du in den Bergen nur Felsen und Schnee finden wirst. Er würde dich am liebsten in deine eigene Welt zurückschicken.« »Und du?« Der große Mann sah ihn an. »Ich habe dir schon einmal gesagt, an was ich glaube, Michael Riven. Ich glaube auch an Freundschaft. Wenn du glaubst, daß du dieser Welt dadurch helfen kannst, daß du auf dem Kopf stehst, dann werde ich dich an den Fußknöcheln halten. Ich denke, du hast dir ein wenig Vertrauen verdient, während Murtach ...« » ...dir nicht weiter traut, als er spucken kann«, ergänzte Bicker. »Und er hat Madra schon immer ...gemocht«, sagte Ratagan. Bicker erhob sich. »Du solltest jetzt etwas schlafen. Du wirst alle deine Kräfte auf der Reise brauchen.« Ratagan blieb noch einen Moment zurück, nachdem Bicker gegangen war. »Wir alle machen Fehler«, sagte er leise. »Manchmal ohne es zu wissen. Man kann nichts dagegen tun. Niemand ist unfehlbar, Riven. Es kommt darauf an, daß man in seinem Leben lernt, damit umzugehen. Ich weiß es. Reue vergällt einem das Leben.« Er lächelte schief. »Murtach hat nie einen echten Fehler gemacht; er versteht nichts davon.« Dann wünschte er Riven eine gute Nacht und einen besseren Morgen und ging. 416
Zwei Tage später saßen sie aufbruchsbereit vor der Manse auf ihren Pferden. Es lag immer noch Brandgeruch in der Luft, und Schnee bedeckte die Trümmer der niedergebrannten Häuser. Seit dem Kampf hatten viele Männer ununterbrochen daran gearbeitet, die Ruinen abzureißen und alles zu bergen, was noch von Nutzen war. Meine Schuld, dachte Riven hilflos. Wo auch immer er in diesem Land auftauchte, folgte das Unheil auf dem Fuß. Vielleicht hatte Bragad recht gehabt. Vielleicht war tatsächlich er es, der diesen Ort zerstörte. Aber Bragad war tot. Er fragte sich, ob Hugh jetzt in seinem Büro saß, durch das Fenster den Verkehr betrachtete und eine seiner übelriechenden kleinen Zigaretten rauchte. Hatte er irgend etwas gespürt, als man seinen Doppelgänger hier getötet hatte? Am besten gar nicht darüber nachdenken. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Himmel war wolkenlos. Doch ein schneidender Wind wehte durch das Dale, und sie hatten sich die schwere Winterkleidung übergestreift. Die Pferde schnupperten geduldig wartend über den Boden. Riven sah sich nach Madra um. Er hatte sie den ganzen Tag noch nicht gesehen und wollte ihr unbedingt auf Wiedersehen sagen, aber sie war nicht in der Menge, die sich versammelt hatte, um die Reisenden zu verabschieden. Der Warbutt hatte seinen Turm nicht verlassen, 417
um seinem Sohn eine gute Reise zu wünschen, und Bicker hatte grimmig und wortlos den Umhang übergeworfen. Kleine Eiskristalle hatten sich dort gebildet, wo sein Atem auf dem Saum des Kragens gefror. Ratagan sah aus wie ein großer Bär, und er saß auf einem Pferd, das wie ein Ackergaul wirkte. Mit dem Rauhreif auf seinem Bart glich er einem alten Mann. Die anderen Männer der Gruppe, Myrcaner und Männer der Schutztruppe, waren alle gleich gekleidet. Über zahlreichen Kleidungschichten aus Wolle und Schafsfell trugen sie schwere Wintermäntel. Den Pferden hatte man große Satteltaschen aufgeschnallt. Zwei Männer der Schutztruppe, Darmid und Carrary, führten die beiden Packesel. Irgendwo unter den Lasten, die die Esel trugen, befand sich die Kleidung, in der Riven Minginish betreten hatte. Nur Bicker wußte, daß er sie eingepackt hatte. Guillamon trat vor die Manse. Er wirkte in der Kälte alt und zerbrechlich, aber seine Augen funkelten lebhaft. Udairn, der neben ihm stand, sah jünger aus als sein Sohn. Ethyrra, seine Frau, hatte sich bei ihm eingehakt und machte den Eindruck eines verfrorenen Spatzen. Ihre Augen waren rotgerändert, aber auch jetzt hatte sie den unerbittlichen Zug eines Strafrichters um den Mund. Ratagan mied den Augenkontakt mit ihr. 418
Auch Mira war zur Stelle. Einsam stand sie auf dem verschneiten Platz, so als versuche sie die Tatsache zu verdauen, daß Bicker sie schon wieder alleinließ. Der dunkle Mann hatte sie noch einmal in den Arm genommen, bevor er in den Sattel gestiegen war, und hatte ihr etwas ins Ohr geflüstert, das nur sie hören konnte. Jetzt blickte sie ihn an, als würde sie ihn nie wieder sehen. »Das Wetter ist etwas besser geworden«, sagte Guillamon mit einem forschenden Blick zum Himmel. Kritisch musterte er die Reiter. »Habt ihr auch nichts vergessen?« »Wir haben genug Verpflegung für eine Reise von drei Wochen«, sagte Bicker. »Das müßte genügen, um die Städte zu erreichen, wo wir unsere Bestände ergänzen können. Wenn das Wetter sich nicht verschlechtert, schaffen wir es leicht.« Guillamon wandte sich Riven zu und hielt ihm die Hand hin. Riven schüttelte sie wortlos. »Ich hoffe, du findest Frieden«, war alles, was der grauhaarige Mann sagte, bevor er den Griff löste und zurücktrat. »Der Segen des Landes sei mit dir. Möge die Reise angenehm sein und dich zum Ziel deiner Wünsche führen. Lebwohl.« Er hob grüßend eine Hand, und die anderen Bewohner der Manse taten es ihm nach. Riven sah Colban, der unsicher lächelte, Dunan, Ord und andere bekannte Gesichter. Aber Madra war nicht da. Bedauernd gab er seinem Pferd die Sporen und folgte Bicker, der jetzt über den Platz zum Tor des Rorims ritt. 419
Ein kalter Wind wehte ihm ins Gesicht, als sie den Schutz der Häuser verließen. Dann waren sie im Zirkel, und die weite weiße Fläche des Dales öffnete sich vor ihnen. Der Wind wehte Schneewolken von den Gipfeln der Hügel. Riven starrte auf den Höhenzug, mußte an andere Berge denken. Er folgte einem Schatten und hatte keine Ahnung, wohin er ihn führen würde. Bicker besprach mit Tagan den Weg nach Norden. Sie einigten sich auf etwas, und Tagan schloß sich wieder seinen Kameraden von der Schutztruppe an. Bicker ritt voran, und nach ihm kamen Ratagan und Riven, Isay und Luib, Tagan und Rimir, und schließlich Darmid und Corrary mit den Packeseln. Sie vergruben die Gesichter in ihren Umhängen, während die Pferde durch den hohen Schnee stapften und der Wind ihnen durch das Fell fegte. Bald hatten sie den Zirkel hinter sich gelassen und ritten stetig bergan in die nördlichen Hügel. Riven hielt nach einem Pfad Ausschau, konnte aber unter der Schneedecke nichts erkennen. Sie kamen immer höher, und der Wind wurde noch stärker. Die Felsen waren hier oben von einer durchsichtigen Eisschicht überzogen, und an den Überhängen hingen lange tropfende Eiszapfen. Schneewehen säumten die größeren Felsblöcke, und der Schnee stob wie Rauch von den Hängen, puderte Pferd und Reiter, und setzte sich auf den Augbrauen der Männer fest. Riven bewegte 420
unablässig die Zehen in seinen Stiefeln, damit sie nicht vor Kälte taub wurden. Schließlich ging es nicht weiter bergauf, und vor ihnen lag blendend weiß eine hügelige Landschaft, die sich weit nach Norden erstreckte; ein unendliches Meer eingefrorener Wellen, die unter dem klaren Himmel einer fernen Küste zustrebten. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung, und die Pferde hatten die Augen halb geschlossen. Riven sehnte sich schon nach einem hellen Kaminfeuer und einem waren Bett, während sie zwischen den Gipfeln der Hügel weiterritten. Sie mußten jetzt hintereinander reiten, und die Hufe der Pferde warfen dicke Schneeklumpen auf, die sofort im Wind zerstoben. Nachmittags hielten sie kurz an, um den Pferden eine Pause zu gönnen. Sie entfernten das Eis, das sich an den Nüstern der Tiere festgesetzt hatte und versuchten sie im Schutz einer Bergkuppe warm zu reiben. Sie aßen hartgefrorenes Brot und Fleisch, aber Bicker hielt sie davon ab, Schnee zu essen. Ihr Trinkwasser war nicht gefroren, denn es hing in Lederbeuteln an den Sattelknäufen und wurde von der Körperwärme der Pferde flüssig gehalten. Sie konnten kein Feuer entzünden, und Ratagan prophezeite düster, daß ihr Nachtlager kein Spaß werden würde. Sie hielten sich nicht lange auf, denn schon bald mußten sie vor Kälte auf und ab hüpfen. Riven fragte sich, ob es in den kommenden sechs Wochen immer so sein würde, und er mußte 421
an das dunkelhaarige Mädchen denken, das barfuß in den Hügeln unterwegs war. Doch als er versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, sah er immer wieder Madra vor sich, ihre ernsten Augen unter den dunklen Brauen. Langsam verging der Tag, und Tagan ritt ein Stück voraus, um sich nach einem geeigneten Lagerplatz umzusehen. Mehr als einmal war der Fährtensucher schon voraus geritten, hatte auch Erkundungsritte an den Flanken und hinter ihnen unternommen, aber Riven konnte sich nicht vorstellen, daß ihnen bei dieser Kälte jemand folgte. Schließlich führte Tagan sie in ein dichtes Dornengestrüpp, das ringsum von mächtigen Felsblöcken umgeben war und im Windschatten eines Bergkamms lag. Ratagan machte sich daran, ein Feuer zu entzünden, während die anderen die Pferde abrieben und Holz suchten. Er fluchte heftig, aber dann züngelten Flammen aus dem getrockneten Heidekraut, das er aus dem Zundersack geholt hatte. Als die dürren Zweige hoch aufloderten, konnte das weniger trockene Brennholz aufgelegt werden, und zur Erleichterung der Gesellschaft prasselte bald ein großes Feuer. Sie rollten ihre Decken aus und setzten sich dicht an die Flammen — nur der unglückliche Rimir mußte die erste Wache beziehen. »Wie weit sind wir heute gekommen?« fragte Ratagan gähnend. »Nicht sehr weit«, erwiderte Bicker und warf noch mehr Holz in die Flammen. »Aber die 422
Gegend wird jetzt weniger hügelig, und morgen werden wir besser vorankommen. Übermorgen liegen die Hügel dann hinter uns.« »Und was kommt dann?« fragte Riven. »Dann kommt das Große Tal, durch das der Große Fluß fließt. Ihm folgen wir in nördlicher Richtung nach Talisker.« »Ein langer Weg«, sagte Ratagan und gähnte wieder. »Tagan glaubt, daß wir verfolgt werden.« Sie sahen erst ihn an und dann den Fährtensucher, der tief in seine Schafsfelle gehüllt da saß und sich mit der Hand über den Bart strich. »Von was oder von wem?« fragte Corrary. Sein Haar glänzte im Licht der Flammen kupferrot. Tagan zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber irgend etwas ist hinter uns in den Hügeln, da bin ich sicher. Ich spüre seine Augen im Rücken.« »Vielleicht sollten wir ein Stück zurückreiten, und ihnen auflauern«, schlug Darmid vor. Er hatte ebenso rotes Haar wie sein Bruder. Tagan schüttelte den Kopf. »Im Moment ist es nur so ein Gefühl von mir. Der Instinkt des Jägers. Laßt mich ganz sicher sein, bevor wir eine Strecke zurückreiten, die wir mühsam hinter uns gebracht haben.« »Das klingt vernünftig«, fand Bicker. »Ich möchte keine Zeit verlieren, wenn es nicht unbedingt nötig ist.« Er schob einen dampfenden Kochtopf weiter ins Feuer. »Aber auch wenn alle Eisriesen der Welt hinter mir 423
her wären, würde ich hier sitzen bleiben, denn ich brauche eine warme Mahlzeit, um meine Knochen aufzutauen«. Sie verteilten die dicke Suppe und tauchten ihr Brot hinein. Riven spürte, wie seine Ohren und Zehen langsam aufzutauen begannen. »Und das soll Sommer sein«, murmelte er. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, rollten sie sich vor dem Feuer in ihre Decken und lauschten dem klagenden Heulen des Windes. Die Pferde scharrten unruhig auf dem Boden, und die Dornenzweige bewegten sich im Wind. Langsam drang die Kälte vom Boden her durch Rivens Decken, und er schob sich noch dichter an das Feuer heran. Er verfluchte seine schmerzenden Knochen und zählte in Gedanken die Stunden, die ihm vor seiner Wache noch blieben. Er war todmüde, konnte aber nicht einschlafen. Die Kälte hielt den Schlaf in Schach, obwohl er die Hitze der Flammen auf seinem Gesicht spürte. Er mußte dann doch eingeschlafen sein, denn als Luib ihn am Arm rüttelte, war es stockfinster. Der alte Myrcaner teilte ihm mit, daß seine Wache nun begann und daß Corrary nach ihm an der Reihe war. Riven kroch aus seinen Decken, und sofort griff die eisige Kälte nach ihm. Zitternd gürtete er sein Schwert und bezog seinen Posten. Er fühlte sich einsam in der Kälte und Dunkelheit. Immerhin hatte der Wind nachgelassen, und er konnte die Sterne sehen. 424
Er umkreiste den Lagerplatz und lauschte in die Stille der Hügel. Plötzlich hörte er, wie irgendwo in der Finsternis Schritte im Schnee knirschten. Diesmal waren es keine Wölfe! Eine Gestalt tauchte vor ihm auf, die Arme um die Brust geschlungen. Sie war in Felle gehüllt und trug hohe Stiefel. Er zog sein Schwert und beobachtete, wie sie herankam. Sie bewegte sich mit steifen Schritten, kam ihm aber dennoch vertraut vor. Er sah zwei Augen, dann wurde die Kapuze zurückgeworfen, und er konnte sehen, daß sie es war. Ihre Lippen waren blaugefroren, und sie streckte die Hände nach ihm aus. Sie fiel ihm fast in die Arme, und sein Schwert fiel in den Schnee. »Madra! Was, in aller Welt, machst du hier?« Sie drängte sich zitternd an ihn, und er führte sie zum Feuer und bettete sie in seine eigenen Decken. Noch immer hielt sie ihn umklammert. »Halt mich fest«, flüsterte sie, und er versuchte sie zu wärmen. Schließlich lockerte sich ihr verzweifelter Griff etwas, und ihr Zittern ließ nach. Er sah sie an und blickte dann zu seinen Gefährten. Niemand war aufgewacht. »Du bist uns nachgeritten«, flüsterte er. Sie nickte. »Ich habe ein Pferd und einige andere Dinge entwendet und bin euch in einigem Abstand gefolgt.« »Aber warum, zum Teufel?« 425
»Ich wollte dich begleiten, mit dir in die Berge gehen.« »Du verrücktes Mädchen. Wir werden dich zum Rorim zurückbringen müssen.« »Nein.« Ihre Augen funkelten, aber ihre Stimme war ruhig. »Ich gehe nicht zurück. Ich würde euch immer wieder folgen. Also müßt ihr mich mitnehmen.« »Wir müssen Bicker die Entscheidung überlassen. Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wie lang diese Reise ist?« »Du etwa? Du weißt weniger darüber als ich.« Er schwieg angesichts ihrer Hartnäckigkeit. Aber auch, weil er insgeheim wollte, daß sie sich durchsetzte. »Wo ist dein Pferd?« fragte er schließlich. »Auf der anderen Seite des Hügels. Ich werde es am besten sofort holen, denn ich habe es angebunden und es könnten Wölfe in der Nähe sein.« »Nein. Ich werde Corrary gleich wecken. Er kann es holen. Du versucht jetzt erst einmal, warm zu werden.« »Mir ist warm«, sagte sie mit einem leichten Lächeln. Bicker war ungehalten, als er am Morgen erfuhr, daß sie Zuwachs bekommen hatten, aber Ratagan strahlte. Sie stritten eine Weile. Tagan war froh, daß sein Verdacht sich als harmlos herausgestellt hatte. Die Myrcaner standen der Sache gleichgültig gegenüber, während die Männer der Schutztruppe 426
Bedenken hatten. Doch als sie schließlich weiterritten, waren sie zu zehnt, und Riven hatte einen neuen Begleiter an seiner Seite. Bicker murmelte an der Spitze der Kolonne vor sich hin, aber sie kamen jetzt besser voran, da der Wind sich gelegt hatte, die Sonne schien. Sie konnten ihre Umhänge aufknöpfen und die Aussicht genießen. Die Pferde begannen zu dampfen. Ratagan hob sein Gesicht zur Sonne. »Das ist schon eher ein Reisewetter. Hoffentlich bleibt es eine Weile so.« »Morgen verlassen wir die Hügel und reiten hinab ins Große Tal«, rief Bicker von vorne. »Dort wird es milder sein, wenn wir Glück haben, und der Weg wird leichter.« »Und vielleicht wird uns auch die eine oder andere Bierstube die Reise versüßen«, fügte Ratagan hinzu. Er summte zufrieden vor sich hin, während sie weiter nach Norden ritten. Der Angriff kam so plötzlich, daß Riven nicht einmal Zeit hatte, sich zu fürchten. Er zuckte zusammen, als plötzlich die grauen Schatten aus den Felsen vor ihnen auftauchten und auf sie zuschossen. Bickers Pferd scheute, und er schrie: »Grypeshs!« Dann waren sie da, wimmelten um die Pferde herum. Die verängstigten Tiere schrien und bockten, und Riven hatte alle Mühe, nicht abgeworfen zu werden. Luib und Isay waren die ersten, die aus dem Sattel waren, und Riven hörte das mittlerweile vertraute Geräusch von niedersausenden Myrcanerstäben. Er sah 427
Madra, die mit wehenden Haaren an ihren Zügeln riß. Dann tauchte eine Fratze wie aus einem Alptraum vor ihm auf, und zum zweiten Mal in seinem Leben sah er das entsetzliche Maul eines Grypesh vor sich. Das Biest schnappte nach ihm und zerriß sein Hosenbein. Das Pferd schlug aus, aber der Grypesh ließ sich nicht abschütteln, schlug eine krallenbewehrte Pfote in das Leder des Sattels und packte mit dem Maul Rivens Unterschenkel. Er versuchte vergebens, sein Schwert zu ziehen. Die Bestie sah ihn aus bösen Augen an, und er spürte ihre Zähne auf der Haut, als Isay wie aus dem Nichts erschien und dem Grypesh den Schädel einschlug. Der schwere graue Körper fiel auf den Boden und verschwand unter den stampfenden Hufen von Rivens Pferd. Riven sah, daß mittlerweile alle abgestiegen waren und in einen verzweifelten Kampf mit dem Grypeshrudel verwickelt waren. Er schwang sich aus dem Sattel und wäre fast gestürzt, aber dann gelang es ihm, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen. Isay war neben ihm und ließ seinen Stab verderbenbringend kreisen. Riven hielt sein Pferd mit einer Hand am Zügel und schlug mit dem Schwert nach den Bestien, die in seine Reichweite kamen. Schließlich ergriffen die Grypeshs die Flucht. So schnell wie es aufgetaucht war, verschwand das Rudel zwischen den Felsen. Etwa ein Dutzend der Bestien blieb leblos auf dem Kampfplatz zurück. 428
Die Gefährten beruhigten die tobenden Pferde, von denen einige häßliche Kratzspuren davongetragen hatten. Riven untersuchte sein Bein und stellte fest, daß sein Stiefel der Länge nach wie Papier aufgeschlitzt worden war. An seiner Wade hatte er nur einen kleinen Kratzer. Der Gedanke an die Bestien, mit denen er gerade gekämpft hatte, bereitete ihm Übelkeit. Bicker stieg in den Sattel, und auch die Männer der Schutztruppe schwangen sich sofort wieder auf die Pferde. »Macht schnell!« rief Bicker. »Sie werden wiederkommen, und es werden mehr sein. Wir müssen sofort weiterreiten und vor Einbruch der Dunkelheit die Hügel verlassen haben.« Die anderen bestiegen ihre Pferde, und sie folgten ihm wortlos, als er den Hang hinuntergaloppierte. Die Hügel wichen zurück, und die Schneedecke wurde dünner. Die Pferde waren genauso darauf aus, den Ort des Überfalls zu verlassen, wie die Reiter, und Schnee stob von ihren Hufen, während sie vorwärts preschten. »Seht nur, auf dem Hügelkamm!« rief Corrary und deutete nach links. Sie blickten hinüber, sahen graue Schatten über die Felsen huschen und spornten ihre Pferde noch mehr an. Nach einer Weile hielten sie an und gönnten den völlig erschöpften Tieren eine Pause. Es hatte in feinen Flocken zu schneien begonnen. Sie stiegen ab und führten ihre Pferde zu Fuß. Die Gegend war flacher geworden, und Felsen waren nur noch vereinzelt zu sehen. Bicker 429
schätzte, daß sie drei Meilen zwischen sich und den Ort des Angriffs gebracht hatten. Sein Pferd lahmte, weil ein Grypesh ihm eine Wunde am rechten Vorderlauf zugefügt hatte. Er blieb stehen. »Wir werden hier lagern«, sagte er müde. »Wir müssen uns um die Pferde kümmern, wenn sie uns weiterhin tragen sollen. Tagan, du gehst mit Darmid und Corrary die Runde und kontrollierst, ob die Luft rein ist.« Der bärtige Mann nickte und machte sich mit seinen jungen Begleitern auf den Weg. Die anderen begannen, die Pferde abzusatteln und ein Feuer zu entzünden. Der Wind frischte wieder auf. Riven beschäftigte sich mit der notdürftigen Reparatur seiner Hose und des Stiefels, während Luib und Rimir gewachste Stoffplanen aus dem Gepäck holten und damit eine improvisierte Schutzwand errichteten, um den Schnee abzuhalten. Bicker verarztete die Pferde mit einer streng riechenden Salbe, die er einem schmalen Holzkästchen entnahm und auf die Wunden schmierte. Die Pferde zuckten zusammen, als sie die Paste spürten, aber Isay hatte sie fest im Griff und redete ihnen beruhigend zu. Madra half Ratagan mit dem Feuer, und als Riven mit seiner behelfsmäßigen Reparatur fertig war, sammelte er rund um den Lagerplatz Brennholz. In der Nähe befand sich ein ausgetrocknetes Flußbett, und an den Ufern lagen die Überreste von längst abgestorbenen Bäumen. Er sammelte mehrere 430
Arme voll trockener Äste und schichtete sie am Feuer auf. Madra und Isay halfen ihm bald, und zu dritt sammelten sie weiter, während sich langsam die Dämmerung über sie senkte. Es schneite stärker, und die Sicht verschlechterte sich. Schließlich hielt Bicker sie davon ab, noch einmal hinauszugehen. Besorgt schnupperte er in die Luft und fragte sich, wo ihre Scouts abgeblieben waren. Das Feuer war größer als gewöhnlich, um ihnen den Weg zum Lager zu weisen; aber auch, dachte Riven, weil jeder sich Rudel von Grypeshs vorstellte, die hinter ihnen her waren. Schneebedeckt erschien Tagan nach einiger Zeit mit seinen Begleitern. Sie stellen sich ans Feuer, schüttelten den Schnee ab und suchten sich dann ein windgeschütztes Eckchen. »Im Süden haben wir ein paar Spuren gesehen«, sagte Tagan und rieb sich die Hände. »Aber wegen des Schnees konnten wir ihnen nicht weit folgen. Es war ein kleines Rudel, vielleicht acht oder neun Bestien. Nicht die, gegen die wir gekämpft haben. Aber mindestens ein größeres Rudel ist hinter uns her. Der Schneesturm bringt sie vielleicht von unserer Fährte ab, aber wir wären gut beraten, heute nacht besonders wachsam zu sein.« Bicker nickte. »Wir werden also Doppelposten aufstellen. Aber bevor wir die Wachen verteilen, sollten wir etwas essen.« Der Windschutz reflektierte die Wärme des Feuers, und sie drängten sich dahinter zusammen. Sie rollten ihre Decken aus, während Ratagan und Isay 431
sich um das Essen kümmerten. Madra lag neben Riven auf dem Rücken, und er protestierte nicht, als sie die Decken über sie beide zog und sich näher an ihn heranschob. Als die Nacht hereinbrach, fiel der Schnee immer dichter. Er sammelte sich auf ihrer Schutzwand, die gleichzeitig als Dach diente, und ließ das Feuer knistern. Ratagan und Luib übernahmen die erste Wache, während die anderen dem Wind lauschten, der an der Plane über ihnen zerrte. Der Gedanke an die gierige Meute, der sie entkommen waren, ließ keinen von ihnen leicht Schlaf finden. Ratagan streckte seine Hände zum Feuer. Die Klinge seiner Axt funkelte im Licht der Flammen. Und er spähte wachsam hinaus in das Schneegestöber und die Dunkelheit. »Eine lange Nacht wird das«, sagte er. »Wir brauchen etwas, das uns die Zeit vertreibt. Wie wäre es mit einer Geschichte? Irgend jemand von uns muß doch etwas zu erzählen haben.« Niemand antwortete. Er bückte sich und warf einen Scheit ins Feuer. »Ihr Schufte.« »Ich weiß eine Geschichte«, sagte Luib zur Überraschung aller. »Es ist eine Geschichte über die Myrcaner; aus der Zeit, als sie zum ersten Mal nach Minginish kamen und ihre Dienste den Menschen im Großen Tal und in den Dales anboten.« Er schwieg einen Augenblick lang und starrte in das Feuer. »Nachdem die ersten Myrcaner aus den Splittern entstanden waren, 432
die die Zwerge aus dem Riesen geschlagen hatten, siedelten sie sich in dem weiten Dale von Glenarric an, einer Gegend, die seit dieser Zeit den Namen Merkadale trägt. Im Laufe der Zeit errichteten sie Häuser im ganzen Tal, bis hinauf an die Grenzen des heutigen Drinan. Ihre Hauptstadt wurde Dun Merkadale. Sie führten ein zurückgezogenes Leben, aber nach einer Weile kam Unruhe bei ihnen auf, denn es hieß, daß ihr Leben einem bestimmten Zweck diente und daß dieser Zweck mit den Umständen ihrer Erschaffung zu tun hatte. Sie waren — und sind es noch — ein hartes Volk, voller Energie und ohne Furcht. Doch sie schienen nicht dazu bestimmt zu sein, die Äcker zu bestellen, und sie waren keine besonders guten Jäger. Es gab nur ein Talent, das bei jedem von ihnen perfekt ausgebildet war: das Töten. Sie dachten damals, daß es ihnen bestimmt war, eine Armee zu bilden und das ganze Land zu unterwerfen und zu beherrschen. Aber einige bezweifelten das, und einer von ihnen, Rol, der ein großer Kriegsheld war, war des Tötens überdrüssig und traute den Stimmen nicht, die sagten, daß die Myrcaner das Land mit Krieg überziehen sollten. So begab er sich in die Berge, um die Zwerge aufzusuchen und Rat bei den Weisen des ältesten Volkes von Minginish zu suchen. Er durchstreifte die Greshorns bis zur völligen Erschöpfung, überquerte jeden Paß und bestieg jeden Gipfel. Schließlich legte er sich in den Schnee, um den Tod zu erwarten, 433
denn er hatte die Zwerge nicht gefunden und seine Kräfte waren verbraucht. Auch wollte er nicht zurückkehren zu einem Leben, in dem er ständig töten mußte. Doch dann fanden ihn die Zwerge. Sie gaben ihm zu essen, führten ihn in ihre warmen Höhlen und fragten ihn nach dem Zweck seiner Reise, denn kein Sterblicher war jemals so weit in die Berge vorgedrungen. Er fragte sie, welche Aufgabe die Myrcaner auf der Erde zu erfüllen hätten, und sie lachten. »Wenn wir das wüßten, wüßten wir auch den Zweck unseres eigenen Lebens, und vielleicht würde sich uns das ganze Geheimnis des Lebens erschließen«, sagten sie. »Aber kein atmendes Wesen weiß um diese Dinge.« Verzweifelt fragte Rol sie, was er und sein Volk tun konnten, außer immer wieder von neuem auf Kriegszüge zu gehen. Wieder lachten sie. »Wir können dir diese Frage nicht beantworten«, sagten sie. »Die Antworten liegen bei dir selbst. Wenn du das nächste Mal nach Antworten auf deine Fragen suchst, brauchst du nicht bis in die Berge zu wandern. Beschäftige dich mit dem Talent, das euch gegeben wurde, und mache vernünftig Gebrauch davon.« Und dann waren sie verschwunden, und er lag wieder allein in der Kälte an einem Berghang. Auf dem Weg zurück zu seinem Volk hatte er noch manches Abenteuer zu bestehen, und als er schließlich Merkadale erreichte, sagte er den Myrcanern, daß sie aufhören müßten zu 434
töten, daß sie damit nur etwas zu erreichen suchten, das schon in ihrer Hand lag. Er wies sie an, sich unter die Völker des Landes zu mischen und ihnen ihre Dienst anzubieten, sie sollten Minginish verteidigen, statt es zu erobern, denn kein Mann brauche mehr Grund, als den, der sein Grab bedecke. Und die Myrcaner folgten seiner Anweisung. In kleinen Gruppen wanderten sie durch das Land und boten ihre Dienste im Kampf gegen die Bestien an oder gegen die Räuberbanden, die von Zeit zu Zeit die Gegend unsicher machten. Zunächst begegnete man ihnen mit Mißtrauen und Feindseligkeit, und oft genug hatten sie Schwierigkeiten zu beweisen, daß sie wirklich dienen und nicht herrschen wollten, schützen und nicht zerstören. Auch versuchten einige der Lords, sie auszunutzen, sie zu kleinen Eroberungsund Plünderungszügen anzustiften. Aber die Myrcaner töteten diese Lords und suchten bessere als Nachfolger aus. Es dauerte lange, bis man den Myrcanern glaubte, daß sie ihre Aufgabe ernstnahmen, aber als nach einer Weile kein einziger Myrcaner sich gegen seinen rechtmäßigen Lord gewendet hatte und sie nicht versucht hatten, die Herrschaft über das Land an sich zu reißen, wurden sie schließlich akzeptiert. Das war lange nach Rols Tod. Sie wurden die Wächter des Landes und die Geißel seiner Feinde, und mit jeder neuen Generation zogen junge Männer aus Merkadale aus, um 435
diejenigen zu ersetzen, die im Kampf für ihr Land gefallen waren. Die Myrcaner hatten endlich ihre Aufgabe gefunden. Das Feuer knisterte, und Luib hatte seine Geschichte beendet. Die losen Enden der Schutzplane flatterten im Wind. Riven hörte Madras leises Atmen neben sich. Keine Geschichte. Mehr eine Predigt. Nach einer Weile döste er ein und fiel dann in einen traumlosen Schlaf. Er löste sich vor der Morgendämmerung von Madra, um mit Bicker auf Wache zu gehen, und gemeinsam erlebten sie den Sonnenaufgang. Es hatte aufgehört zu schneien, und der Himmel klarte auf. Das Sonnenlicht fiel auf eine schweigende weiße Welt von Hügeln und Senken, und die Sterne verblaßten langsam. »Es war doch noch eine ruhige Nacht«, sagte Bicker. Seine Augen ruhten auf dem flachen Land vor ihnen, das in die weite Flußebene führte. »Heute werden wir endlich die Hügel hinter uns lassen und wieder in bewohnte Gegenden kommen.« »Glaubst du, daß die Grypeshs uns folgen werden?« Der dunkle Mann schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie haben unsere Spur in dem Schneesturm verloren. Wenn Eisriesen hinter uns her gewesen wären, hätten wir Schwierigkeiten bekommen, sie mögen solches Wetter. Aber Grypeshs verhalten sich ähnlich wie Menschen: Sie suchen sich ein geschütztes Plätzchen und warten auf besseres Wetter.« 436
Die ersten Sonnenstrahlen durchbrachen die Wolken und zeichneten Schatten auf ihre Gesichter. »Es ist noch so weit entfernt«, murmelte Riven, aber Bicker hatte es gehört. »Bist du begierig darauf, dorthin zu gelangen?« »Ich weiß es nicht; ich war es jedenfalls.« »Vielleicht suchen nicht nur die Myrcaner nach ihrer Bestimmung.« Riven lächelte freudlos und dachte daran, wie Guillamon ihm die Hand geschüttelt hatte. Ich hoffe, du findest Frieden. »Ich möchte überhaupt nichts«, sagte er rauh, obwohl er sich nicht mehr sicher war, ob das ganz richtig war. Er verdrängte den Gedanken an das Mädchen, das hinter dem Windschutz schlief. Die Sonne schien blendend hell, als die Gefährten ihren Weg fortsetzten. Die Pferde schienen sich erholt zu haben, aber in dem hohen Schnee ging es ohnehin nur langsam vorwärts. Es war nicht mehr sehr kalt, und Riven konnte seinen Winterumhang in die Satteltasche schieben. Das Land erstreckte sich endlos vor ihnen, und er fügte sich in die Routine des Reitens, der Pausen, der Mahlzeiten und des Nachtlagers. Drei Tage vergingen, ohne daß sie irgendwelche Verfolger zu Gesicht bekamen. Seine Glieder hatten sich an das Reiten gewöhnt, und er konnte nachts auf hartem 437
Boden besser einschlafen. Tagan unternahm Streifzüge durch das Land nördlich von ihnen, aber es war verlassen, keine Spur von Menschen oder Bestien war zu sehen. Sie sahen ein paar Hasen, von denen der Fährtensucher zwei für den Kochtopf schießen konnte, und ein paar Bussarde kreisten über ihnen, aber das waren die einzigen Lebewesen, denen sie begegneten. Carnach Rorim lag jetzt östlich von ihnen, und Tagan sichtete eine seiner Patrouillen in der Ferne, doch die Gefährten wurden nicht bemerkt. Es schneite nicht mehr, und die Flüsse, die sie überquerten, waren eisfrei. Der unnatürliche Winter war außerhalb der Hügel nicht so streng. Zehn Tage, nachdem sie Ralarth Rorim verlassen hatten, sahen sie das silberglänzende Band eines Flusses in einiger Entfernung vor sich. Bicker legte die Hand über die Augen und spähte nach Norden. Er sah zufrieden aus. »Der Große Fluß. Wir liegen gut in der Zeit. Wir werden ihn heute abend erreichen und ihm ab morgen nach Norden folgen.« Er grinste Ratagan an. »Und bald werden wir zweifellos an einer Bierstube vorbeikommen, mein durstiger Freund.« »Gott sei Dank!« erwiderte der große Mann. »Mein Bauch wird sich nie mit einer spärlichen Getränkezufuhr abfinden.« Während sie weiterritten, hörten sie unentwegt das Gluckern von Schmelzwasser, 438
und Grasbüschel erschienen zwischen der Schneedecke. Riven hörte sogar Lerchen auf den Feldern. Sie legten ihre Winterkleidung ab, und die dicken Schafsfelle türmten sich hinter den Sätteln. »Wir lassen den Winter anscheinend hinter uns«, sagte Tagan. Er drehte sich im Sattel um und blickte zurück auf die schneebedeckten Hügel. Er schüttelte den Kopf. »Wir leben in einer seltsamen Zeit.« »Wenn der richtige Winter anbricht, wird eine harte Zeit über das Land kommen«, sagte Corrary. Er spuckte auf den Boden. Am Abend errichteten sie ihr Lager auf schneefreiem Boden am Ufer des breiten Flußes. Hinter rot leuchtenden Wolken versank die Sonne. Luib betrachtete den Sonnenuntergang. »Morgen werden wir schönes Wetter haben, und es wird nicht mehr schneien. Der Sommer ist zurückgekommen.« Er warf Riven einen Blick zu und begann, sein Pferd abzusatteln. »Und das ist gut so«, sagte Ratagan. »Schnee ist eine feine Sache für Kinder, aber in meinem Alter ist das nicht mehr so schön.« »Du bist selbst nicht mehr so schön.« Bicker lachte. Der Fluß war fast fünfhundert Meter breit, und auf den vielen kleinen Inseln wimmelte es von Enten und anderen Vögeln. Riven sah den blauen Schatten eines Eisvogels, als er seine Decken ausbreitete, und er verharrte einen Augenblick, versunken in Erinnerungen an 439
Rollstühle und nörgelnde Schwestern in weißen Schürzen. Es blieb noch lange hell. Sie saßen um das Feuer und hörten den Vögeln zu, die im Schilf am Ufer zwitscherten. Rimir und Darmid sahen nach den Pferden, die sie zum Grasen frei herumlaufen ließen. Der Himmel blieb klar, und als es schließlich dunkel wurde, stieg leichter Nebel über dem Fluß auf. Sie trieben die Pferde zusammen und entzündeten ein Feuer. Dann lagerten sie sich wie die Speichen eines Rades um das Feuer und hörten dem Rauschen des Flusses und den Nachtvögeln zu, bevor sie einschliefen. Schlaftrunken hörte Riven am nächsten Morgen das Plätschern des Wassers neben sich und dachte einen Moment lang, daß er sich in der Hütte auf Skye befand. Er öffnete die Augen und sah, daß es zu dämmern begann. Bicker und die Myrcaner waren schon auf den Beinen und bereiteten das Frühstück vor. Es war warm unter den Decken, und da Madra mittlerweile zum Schlafen die meiste Kleidung ablegte, spürte er die Rundungen ihres Körpers neben sich. Er tastete nach ihr und legte seine Hand auf ihre Brust, spürte die Brustwarze durch ihr Hemd und massierte sie zärtlich, bis sie hart wurde und das Mädchen sich zu regen begann. Dann schlug er die Decken zurück und stand auf. Er schämte sich ein wenig und ging zum Flußufer, an eine Stelle, an der kein Schilf war. Er starrte auf das langsam fließende Wasser und betrachtete 440
sein undeutliches bärtiges Spiegelbild. Dann kniete er nieder und tauchte den Kopf in das eiskalte Wasser. Nach dem Frühstück brachen sie auf, folgten dem Fluß, während es langsam hell wurde. Vögel schossen durch das Ufergesträuch. Der große Fluß wand sich gemächlich durch endlose Wiesen, auf denen Butterblumen neben den letzten Schneeresten leuchteten. Erlen und Buchen säumten gelegentlich das Ufer, umwuchert von Farn und Beerensträuchern. Tau glitzerte auf ihren Blättern in der Sonne, und sie warfen lange Schatten. Mückenschwärme tanzten in der Luft. Plötzlich wies Corrary hinaus auf den Fluß, und sie erkannten einen großen Schatten auf den Wellen. Sie kniffen die Augen zusammen und erkannten in der Mitte des Stromes den Umriß eines Bootes. Es war flach und breit, und eine Schar von schwitzenden Männer auf dem Deck stakte es zwischen den vögelumschwirrten Inselchen flußaufwärts. Ihre Stimmen klangen nur schwach herüber, aber man konnte erkennen, daß sie auf die Gefährten zeigten. Eine große Gestalt, die keine Flößerstange in der Hand hatte, gab Kommandos, und langsam bewegte sich das Boot auf das Ufer zu. Bicker zügelte sein Pferd, und sie blieben stehen. Die Myrcaner zogen ihre Stäbe aus den Gürteln.
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»Flußhändler«, sagte Ratagan. »Keine Piraten. Sie sind wahrscheinlich unterwegs nach Talisker.« Die Stangen der Flößer glitten gleichmäßig durch das Wasser, während das Boot langsam näher kam und schließlich mit einem dumpfen Geräusch am Ufer auflief. Ein paar Männer sprangen an Land, um es festzumachen, und der Mann, der die Kommandos gegeben hatte, kam mit zwei anderen auf sie zu. Grüßend hob er die Hand. »Seid gegrüßt, ihr Reisenden! Wir begegnen uns an einem wirklich schönen Morgen. Ich bin Finnan, und mein Fahrzeug und mein Gewerbe seht ihr vor euch.« Er verbeugte sich. Er war sehr groß, sogar größer als Ratagan, der allerdings doppelt so breit war. Sein goldblondes Haar war kurz geschnitten, und er trug einen sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Seine wettergegerbte Lederkleidung war mit roten und gelben Stickereien verziert, und an der Hüfte trug er ein schmales Schwert. Die kurzhaarigen muskulösen Männer hinter ihm waren sonnenverbrannt, und ihre nackten Füße waren vom Uferschlamm verschmiert. Sie betrachteten die Gefährten aufmerksam, besonders die Myrcaner. »Nach Talisker sind wir unterwegs, mit einer bedauernswert kleinen Fracht von Fellen und Getreide, der das Wetter übel mitgespielt hat.« Finnan lächelte breit, wirkte aber dennoch wachsam. Er erinnerte Riven ein wenig an den 442
Bicker, den er in der Hütte kennengelernt hatte. Bicker blieb im Sattel, lehnte sich aber vor und nickte dem Flußschiffer zu. »Ich habe mich gefragt, ob eure Gesellschaft, die offenbar für eine weite Reise gerüstet ist, möglicherweise das gleiche Ziel hat«, fuhr Finnan fort. »Und wenn es so wäre, warum würde es Euch interessieren?« fragte Bicker höflich. Finnan lachte. »Nun, das kann ich euch erklären. Wir könnten uns dann gegenseitig helfen. Passagiere könnten meine Fahrt doch noch einträglich machen, und für euch würde eine Flußreise schneller sein und die Pferde schonen. Es ist ein langer Weg nach Talisker, und auf dem Fluß trifft man heutzutage nicht so häufig auf Bestien wie an Land. Was sagt ihr dazu?« »Und wieviel würde uns die Reise kosten?« rief Ratagan. »Nur ein kleines Sümmchen, nicht mehr. Ich bin kein Halsabschneider. Sagen wir, ein Stückchen Silber für jeden von euch; nicht mehr als eine Fingerspitze voll. Wie gesagt, ich bin kein Halsabschneider.« »Das bist du nicht«, gab Bicker zu. »Das ist ein faires Angebot — aber warum bist du so großzügig?« Finnan lächelte. »Es wird auf die Dauer langweilig, den Fluß rauf und runter zu fahren und immer die gleichen Geschichten zu erzählen und zu hören. Meine Mannschaft 443
würde sicher gerne ein paar Neuigkeiten aus den Dales hören.« »Tatsächlich?« Bicker sah ihn plötzlich scharf an. »Habt ihr denn in letzter Zeit irgend etwas gehört?« »Viel, aber es sind alles nur Gerüchte. Ihr habt Schutztruppen und Myrcaner bei euch. Einige von euch sehen aus wie Lords, aber ihr macht den Eindruck, als hättet ihr eine harte Reise hinter euch, und eure Pferde haben Wunden. Ich habe von einer Schlacht gehört, bei der Myrcaner gegen Myrcaner gekämpft haben, und von Aufständen in den Rorims im Süden. Ich wüßte gerne Genaueres. Das ist mir mehr wert als Silber, denn ich muß viel an den Zustand unseres Landes in diesen merkwürdigen Zeiten denken, in denen im Hochsommer Schnee fällt und Riesen durch die Hügel streifen.« »Und du glaubst, daß wir deine Neugier stillen können?« Finnan lächelte. »Da bin ich sicher. Wir haben Bier an Bord. Es ist eine feine Sache, sich nach getaner Arbeit abends mit einem Krug in der Hand zu unterhalten. Man sagt, das sei eine Schwäche von mir. Ich nenne es eine Vorliebe, für die kein Mann sich schämen muß.« Ratagan lachte laut. »Wohl gesprochen, Mann des Flußes. Was denkst du, Bicker? Nehmen wir Finnans Angebot an, oder sollen wir unsere Pferde weiter ermüden?« 444
Bicker blickte Finnan lange an, dann wandte er sich an den Rest der Gesellschaft. »Hat irgend jemand etwas dagegen einzuwenden?« Niemand antwortete, und er nickte schließlich. »Nun gut, Finnan. Leg eine Rampe aus, und wir bringen die Pferde an Bord. Du sollst dein Silber und ein paar Neuigkeiten für eine sichere Reise flußaufwärts nach Talisker bekommen.« Er spuckte in die Hand, und Finnan trat auf ihn zu, um einzuschlagen. »Ein guter Handel für uns alle. Willkommen auf dem Fluß, meine Freunde.«
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DREIZEHNTES KAPITEL Das Flachboot war etwa zwölf Meter breit und mindestens doppelt so lang. Am Heck befand sich eine rechteckige Kabine, auf deren Dach das Steuerrad angebracht war. Die von einem Holzzaun umgebene Ladefläche war nur zur Hälfte mit Getreidesäcken und Fellbündeln gefüllt, so daß die Pferde hier untergebracht werden konnten. Wenn es regnete, wurden große Planen über die Ladefläche gespannt, und die meisten Besatzungsmitglieder schliefen in ihrem Schutz. Finnans Passagiere verstauten ihr Gepäck in dem Verschlag, und die Männer der Schutztruppe konnten dort schlafen. Für die anderen war Platz in der Kabine; allerdings war das Dach so niedrig, daß man nicht aufrecht stehen konnte. Die Besatzung des Bootes bestand aus zwanzig Männern, die in zwei Schichten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiteten. Mühsam brachten sie das schwerfällige Gefährt gegen die Strömung vorwärts, vorbei an Sandbänken und kleinen schilfbedeckten Inseln. Finnan hielt Wort, denn am Abend, nachdem sie am Ufer angelegt, die Pferde zum Grasen an Land gebracht hatten und an den Lagerfeuern saßen, gab es Bier. Zum ersten 446
Mal sahen sie in weiter Entfernung die Lichter von Siedlungen. Finnan zählte beim Abendessen ihre Namen auf. »Corriad, Bemnor, Drum Larad, und der größere Ort dort ist Conwere. Das war einmal der Hauptumschlagplatz für die Felle, die die Pelzjäger aus den Hügeln mitbrachten. Aber dieser Handel ist ebenso wie viele andere zum Erliegen gekommen. Auch hier sind harte Zeiten angebrochen. Und sie werden noch härter werden, bevor der Frühling kommt, wenn er denn überhaupt zur rechten Zeit kommt. So wie die Jahreszeiten dieses Jahr verlaufen, könnten wir im Winter eine Dürreperiode und zur Erntezeit Schneefälle haben. Das alles ist sehr beunruhigend.« »Fährst du schon lange auf dem Fluß?« fragte der rothaarige Darmid. »Seit vielen Jahren. Es ist eine gute Art, das Land kennenzulernen, ohne krumme Beine oder Plattfüße zu bekommen. Der Fluß ist hier unten ruhig; der lange Weg zum Meer hat ihn erschöpft, und er hat sich entschlossen, die restliche Strecke gemächlich zu fließen und sich das Land anzusehen. Man kann eine Menge von einem Fluß lernen.« Bicker lehnte sich vor und fingerte an seinem Bierkrug herum. »Wie ist es den Leuten im Großen Tal im letzten Jahr ergangen? Ich bin seit Monaten nicht mehr in dieser Gegend gewesen.« Finhan sah Madra an, und Riven bemerkte, daß sie eine Augenbraue hochgezogen hatte 447
und seinen Blick ruhig erwiderte. Der Flußschiffer lächelte schief und wandte sich dann Bicker zu. »Die Dörfer am Fluß sind unversehrt geblieben, aber viele Farmen in den Bergen sind jetzt verlassen, weil ihre Bewohner vor den Grypeshs und den Riesen geflohen sind. Überall streifen Rudel der Bestien herum, und die wenigen Städte haben nicht genug Schutztruppen, um das ganze Land zu sichern. Die Farmer und die Viehzüchter sind sich daher weitgehend selbst überlassen, und die Jäger sind so gut wie ruiniert. Viele von ihnen sind getötet worden, und diejenigen, die ihrem Handwerk immer noch nachgehen, tun das in großen Gruppen. Dabei kann der einzelne natürlich nicht viel Beute machen, aber sie verhungern wenigstens nicht.« »In den Dales ist es schlimmer«, warf Ratagan ein. »Dort dringen die Bestien bis an die Wälle der Festungen vor, und manchmal noch weiter.« Finnan blickte in seinen Krug. »Ich habe davon gehört. Und von noch ganz anderen Sachen. Wieviel davon ist wahr?« Er sah zu den beiden schweigenden Myrcanern, aber Isay und Luib schienen ihm keine Beachtung zu schenken. »Es haben Kämpfe stattgefunden«, gab Bicker Stirnrunzelnd zu. »Es hat Mißverständnisse gegeben, aber die Sache ist jetzt beigelegt.« »Eine Schlacht hat stattgefunden?« 448
»Ja. Es hat viele Tote gegeben. Die drei westlichen Dales stehen jetzt unter einem Oberbefehlshaber.« »Handelt es sich dabei um einen Mann, den man den Warbutt nennt?« fragte Finnan frei heraus. »Das kann schon sein«, sagte Bicker schulterzuckend. Finnan wirkte nachdenklich. »Er ist ein großer Anführer, wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann.« Bicker sah finster vor sich hin. »Das habe ich auch gehört.« Abrupt stand er auf. »Ich werde einmal nach den Pferden sehen«, sagte er und ging in die Dunkelheit, wo Rimir und Corrary mit zwei von Finnans Matrosen Wache hielten. Der Flußschiff er blickte ihm nach. »Ein Mann der viel Verantwortung trägt, wenn ich mich nicht irre. Wie sonst könnte er eine so reizende Frau neben sich ignorieren?« Er hob sein Glas in Madras Richtung und leerte es mit einem Zug. »Ihr Anblick wird unsere Reise angenehmer machen.« Dann stand er auf und reckte sich. »Auch ich muß mich um mein Fortbewegungsmittel kümmern.« Er verschwand in Richtung Fluß. Riven leerte seinen Krug. Das geht mich nichts an. Sie gehört mir nicht. Er warf Madra einen Blick zu, aber sie blickte gedankenverloren in die Flammen und sah ihn nicht. 449
Der nächste Morgen kündigte einen klaren Tag mit strahlendem Sonnenschein an, nachdem die Frühnebel sich verzogen hatten. Riven saß am Bug des Bootes und beobachtete das Spiel der Wellen. Die Fahrt kam ihm unendlich lang vor, und die auf- und niedergehenden Flößerstangen schienen vergebens gegen den Strom zu kämpfen, erinnerten ihn an die Beine eines Käfers, der auf den Rücken gefallen ist. Ab und zu standen Holz- oder Steinhäuser am Ufer, und gelegentlich kamen sie an einem Ruderboot vorbei, dennoch hatte er den Eindruck, daß das mächtige Flachboot nicht von der Stelle kam. Diese Welt war echt. Er hatte sie in seinen Armen gehalten und auf die Augen geküßt. Irgendwie hatte ihr Zauber ihn berührt. Zauber — schon wieder dieses Wort, dachte er. Nun, es ist so gut wie jedes andere. Er war also eine Art Zauberer. Er änderte den Ablauf der Jahreszeiten und brachte Leute aus seiner Welt in diese hier. Aber die Sache war noch komplizierter. Minginish selbst war nicht ohne Zauberei. Da war das dunkelhaarige Mädchen, das ihn nicht kannte und nach Belieben durch Skye und Minginish streifte, auf der Suche nach etwas, das sie nicht erkennen konnte. Wenn Riven für Jinneth verantwortlich war, dann war das Land selber verantwortlich für Jennys anderes Ebenbild. Zwei von ihnen gab es jetzt hier. Aber wieviel von seiner Frau verkörperten sie? 450
Seine Gedanken hatten ihn wieder an den Punkt gebracht, an dem er nicht weiterkam. War Jenny wirklich tot? Hatte sie ihren Frieden gefunden, oder wanderte ein Teil von ihr in diesem Moment rastlos durch Minginish? Die Vorstellung war ihm unerträglich. Er reiste nun nach Norden, in die Berge. Und wenn er die Zwerge nicht finden konnte, würde er zum Sgurr Dearg gehen und sich nach Hause begeben. Vielleicht würde er dort versuchen, ein glückliches Ende für diese Menschen und ihre Welt zu schreiben. Vielleicht würde ihnen das genügen, vielleicht sogar ihm selbst. Vor allen Dingen mußte er sicher sein, daß seine Frau in Frieden ruhte. Du kannst also im Moment nichts tun, als die Sache auf dich zukommen zu lassen. Genieß die Reise! Unwillkürlich sah er sich nach Madra um. Sie saß mit Finnan, Bicker und Ratagan vor der Kabine und lächelte strahlend. Lachte sie in den letzten Tagen öfter als früher? Er zwang sich, den Blick abzuwenden und betrachtete die Rücken der arbeitenden Matrosen. Darmid und Corrary schwitzten mit ihnen. Ein hagerer graubärtiger Matrose korrigierte sie beim Staken. Ihre Rüstungen bildeten auf dem Unterdeck einen schimmernden Haufen. Drei ruhige Tage vergingen mit dem eintönigen Plätschern der Wellen. Tagsüber war es warm und trocken, und in den kalten 451
Nächten saßen sie um die Lagerfeuer oder bewachten die Pferde. In der ganzen Zeit hielten sie nie an, um mit jemandem zu sprechen, obwohl sie auf dem Fluß anderen Booten begegneten, deren Besatzungen sie anstarrte. Anscheinend waren Schutztruppen und Myrcaner in dieser Gegend eine Seltenheit. Sie passierten Dörfer, die sich am Ufer entlangzogen. Vor jedem Haus lag ein Boot, und Netze waren zum Trocknen oder zum Flicken aufgehängt. Der Große Fluß war für viele Städte und Dörfer die Hauptverkehrsader, der einzige Weg, der noch sicher war. Den Pferden bekam die Erholungspause ausgezeichnet. Ihre Wunden verheilten, und sie standen wieder prächtig im Futter. Wenn sie zum Grasen an Land gelassen wurden, sprangen sie fröhlich am Ufer entlang. Am Abend des vierten Tages ihrer Flußreise legten sie an einer Stelle an, wo Haselnußsträucher und Birken ein Wäldchen bildeten. Der Boden war sumpfig, aber zwischen den Bäumen wuchs hohes Gras. Sie ließen die Pferde zum Grasen frei. Rimir, Isay und zwei von Finnans Leuten bewachten sie. Die anderen suchten sich einen relativ trockenen Platz und begannen mit der üblichen Lagerroutine. Mehrere Feuer wurden entzündet und Kochtöpfe darüber gehängt. Einige der Männer sammelten Holz, andere holten frisches Wasser. Riven schlenderte vom Lagerplatz auf den Wald zu. Als Isay ihm einen fragenden Blick zuwarf, schüttelte er den Kopf. 452
»Ich bleibe in der Nähe. Ich möchte einen Moment allein sein.« Er strich einem der Pferde, das ihn beschnupperte, über den Kopf und kraulte es hinter den Ohren. Dann ging er tiefer in den Wald. Es begann zu dämmern, und zwischen den Ästen über ihm konnte er die ersten Sterne erkennen. Er setzte sich, lehnte sich mit dem Rücken an die helle Rinde einer Birke und zog die Knie an die Brust. Ich bin schon zu lange hier. Fange an, es zu mögen; das ist mein Problem. Hinter ihm raschelten Zweige, und er lächelte immer noch, als Madra sich neben ihn setzte. »Es ist ein schöner Abend«, sagte sie. »Bald wird der Mond aufgehen, und morgen früh wird es wieder neblig sein.« Sie legte den Kopf auf seine Schulter, und selbst diese leichte Berührung ließ ihn zusammenzucken. Er rückte ein Stück zur Seite, und sie mußte den Kopf heben. »Warum?« fragte sie mit belegter Stimme. Warum? Weil vielleicht irgendwo da draußen immer noch das Herz einer Frau schlägt, die ich liebe. Aber er sagte nichts. »Finnan hat mich gefragt, ob ich dir versprochen bin.« Er sah sie jetzt zum ersten Mal an und bemerkte, daß ihr Tränen über die Wangen liefen. Er legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie zu sich heran. »Ich weiß nicht, was du willst.« 453
Er schloß die Augen und lehnte den Kopf an die kühle Rinde des Baumes. »Das weiß ich selber nicht. Es tut mir leid, Madra. Du hättest mich besser nie kennengelernt.« »Aber muß es denn wirklich so sein?« »Es muß, wenn du willst, daß deine Welt nicht untergeht.« »Aber einmal nimmst du mich in den Arm, und im nächsten Moment schiebst du mich weg.« Er fluchte leise. »Ich bin ein schwacher Narr, der nicht tun kann, was er tun sollte. Es tut mir leid.« »Was wirst du tun, wenn du in den Bergen bist? Wen wirst du dort treffen?« »Ich weiß es nicht. Die Zwerge. Vielleicht meine — meine Frau.« Sie erstarrte. »Du hast gesagt, daß sie tot ist«, flüsterte sie. Schwerfällig und hoffnungslos sagte er: »Das ist sie auch, in meiner Welt jedenfalls. Aber irgendwie ist sie hier, in Minginish. Ich habe sie gesehen ... hier.« Madra rückte von ihm ab. »Wie ist so etwas möglich? Wie kann sie denn hier sein?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie dies alles passieren konnte. Ich habe nicht darum gebeten.« »Ich auch nicht«, sagte Madra leise. Sie schwiegen lange. Ihre dunklen Augen waren in dem dämmrigen Licht kaum zu erkennen, und ihr Haar umrahmte den Kopf wie eine Kapuze. 454
»Wie war sie, deine Frau?« Er hatte diese Frage schon einmal gehört, vor tausend Jahren, in einer anderen Welt. »Sie war ... war dir in vielen Dingen sehr ähnlich«, sagte er schließlich. Das wurde ihm erst jetzt richtig klar. »Etwas unbekümmerter vielleicht und völlig ohne Angst.« Aber das hatte sie umgebracht. Das und das Seil, das er nicht gegen ein neues ausgetauscht hatte. Madra hob die Hand und betastete die alten Narben auf seiner Stirn. »Du hast gesehen, wie sie gestorben ist.« Michael! »Ja.« Sie rutschte wieder zu ihm hinüber und hielt ihn im Arm wie ein kleines Kind, bedeckte sein Gesicht mit Küssen, bis die düsteren Gedanken verschwanden. Still lagen sie nebeneinander. Vom Fluß her war das helle Wiehern eines Pferdes zu hören. Dann war die Nacht wieder ruhig. Außer dem Geräusch von Füßen auf Laub, raschelnd und prasselnd wie ein plötzlicher Wolkenbruch. Riven setzte sich auf und sprang dann auf die Füße, als er das Leuchten von Augen und schattenhafte Umrisse zwischen den Bäumen sah. »Komm, schnell.« Sie rannten los, durch wirbelndes Laub, während hinter ihnen die Schritte der Verfolger immer näherkamen. Aufgeregtes Quieken ertönte, als sie entdeckt wurden. Sie liefen keuchend im Zickzackkurs zwischen den 455
Baumstämmen hindurch. Neben ihnen tauchten die Schatten der Bestien auf. Dann stolperte Madra, fiel der Länge nach ins Laub, und sofort waren die Verfolger bei ihr. Schreiend verschwand sie unter einem Grypesh, der sie angesprungen hatte. Riven schrie um Hilfe und zog sein Schwert. Er jagte der Bestie die Klinge in den Rücken, und knurrend ließ es von Madra ab. Dann traf ihn von hinten ein Schlag und schleuderte ihn zu Boden. Fauliger Atem blies ihm ins Gesicht. Er warf sich zur Seite und spürte, wie Krallen über seine Brust fuhren, aber dann gelang es ihm, das Schwert hochzureißen und zuzustechen. Warmes Blut und Eingeweide ergossen sich über ihn, und er stieß den Körper des Angreifers beiseite. Er stand auf und stürzte sich auf die Bestien, die an dem Mädchen auf dem Boden herumzerrten. Mit übermenschlicher Kraft ließ er sein Schwert kreisen, tötete zwei Grypeshs mit einem Hieb. Aber sofort erschienen zwei andere an ihrer Stelle. Verzweifelt wurde ihm klar, daß seine Anstrengungen vergebens sein würden, und er schrie wieder um Hilfe, während er unablässig auf die Bestien einschlug. Seine Kräfte begannen zu erlahmen, und er blutete bereits aus mehreren Verletzungen. Dann erschien ein halbes Dutzend Männer mit blitzenden Schwertern zwischen den Bäumen. Zwei Myrcanerstäbe begannen sofort ihr schauriges Vernichtungswerk. Riven hörte Bickers Stimme. 456
»Zurück zum Boot, bevor sie uns überrennen!« Zwei Gestalten packten Madra an den Armen und zogen sie aus dem Kampfbereich, während die anderen Männer sich mit den Grypeshs, die wie von Sinnen angriffen, Rückzugsgefechte lieferten. Die Bestien konnten nicht zurückgeschlagen werden, immer mehr tauchen auf, schrien vor Wut oder Schmerz. Sie erreichten den Waldrand, und Riven sah, daß die freie Fläche zwischen dem Wald und dem Fluß von den graupelzigen Bestien mit den kalten Augen wimmelte. Wie Läuse schwärmten sie über das Lager, und am Anlegeplatz war ein blutiger Kampf entbrannt. Ein Teil der Männer versuchte, das Boot in tieferes Wasser zu schieben, während die anderen sich bemühten, die Bestien abzuhalten. Das Wasser am Ufer schäumte wild auf, und bald standen die Verteidiger knietief im Fluß. Die ersten Leichen trieben langsam flußabwärts. Nicht alle waren Grypeshs. Rivens Gruppe bildete einen Keil und bahnte sich ohne zu zögern einen Weg zum Fluß. Die Tiere, die sie angriffen, stürzten sich auf sie, ohne ihre Gegenwehr zu beachten. Sie wimmelten um die Männer herum, und versuchten, ihnen den Weg abzuschneiden. Neben Riven ging ein Mann mit einem Schrei zu Boden. Er stand nicht wieder auf. Sie erreichten den Fluß und hasteten über die schlüpfigen Steine im seichten Wasser auf 457
das Boot zu. Das Boot trieb langsam in der Strömung. Die langen Flößerstangen tauchten in das dunkle Wasser und trieben das Gefährt voran. Das Wasser reichte ihnen bald bis an die Brust, und sie mußten sich mühsam vorkämpfen. Riven schob sich neben die Männer, die Madra trugen, und half, ihren Kopf über Wasser zu halten. Die Grypeshs schwammen ihnen nach, und es entwickelten sich Kämpfe inmitten eines Wirbels von Schaum und Blut. Wasser spritzte Riven in die Augen, und er konnte für einen Moment nichts mehr sehen. Dann ragte der Rumpf des Bootes vor ihm empor, und er schob Madra darauf zu. Hände streckten sich ihr entgegen und zogen sie an Bord. Riven klammerte sich an die Bootswand, zu erschöpft, sich hochzuziehen. Zähne schnappten nach seinem Bein, und er wurde unter Wasser gezogen. Unwillkürlich schnappte er nach Luft, und Wasser drang ihm in Mund und Nase. Die Zähne packten fester zu, und er spürte einen pelzigen Körper unter seinen Händen, und Klauen, die nach ihm schlugen. Er packte die Bestie am Kopf und drückte ihr die Daumen in die Augen. Seine Brust drohte zu zerspringen, und er hörte den gurgelnden Schrei seines Angreifers. Dann löste sich die Umklammerung um sein Bein, und er fand sich luftschnappend an der Wasseroberfläche wieder. Jemand packte ihm am Kragen und zog ihn hoch. Der Kragen drohte ihn zu erwürgen, aber er war zu kraftlos, um sich Luft zu verschaffen. Er wurde 458
aus dem Wasser gezogen und fiel schwer auf die harten Holzplanken des Bootsdecks. Keuchend blieb er liegen und sah in die unergründlichen Augen von Isay. Finnan brüllte Kommandos, und noch immer sausten die Schwerter auf Bestien nieder, die versuchten, an Bord zu gelangen. Riven hatte seine Waffe im Fluß verloren. Er nahm eine der langen Flößerstangen und schmetterte sie auf haarigen Köpfe der Bestien, die um das Boot herum im Wasser schwammen. Aber es waren zu viele. Mit der Beweglichkeit und Schnelligkeit von Ratten schwärmten sie über das Boot und sprangen die Verteidiger an. Steuerlos trieb das Boot stromabwärts, während die Besatzung mit den langzähnigen, wie tollwütig rasenden Bestien um ihr Leben kämpfte. Männer wurden von drei oder mehr Angreifern angesprungen und zu Boden gerissen; andere stürzten über Bord und verschwanden in einem blutigen Wasserwirbel. Riven nahm einem toten Matrosen ein Messer aus der Hand und stellte sich zwischen Isay und Darmid, die versuchten, die Angreifer von Madra abzuhalten, die reglos auf dem Deck lag. Der Stab des Myrcaners sauste so schnell durch die Luft, daß man ihn kaum noch sehen konnte, und zerschmetterte die Glieder und Schädel von Grypeshs, fegte andere Bestien ins Wasser. Auch Darmids Schwert verrichtete ein blutiges Vernichtungswerk. Riven fuhr ab und zu mit einem Messerstich dazwischen, aber zwischen seinen beiden Gefährten hatte 459
er kaum die Gelegenheit dazu. Er trat einen Schritt zurück und warf Madra einen Blick zu. Ihre Augen waren geschlossen, ihr Kleid an vielen Stellen zerrissen, und sie blutete aus zahlreichen Wunden, aber sie atmete. Darmid fiel mit blutender Kehle, ein Grypesh hatte sich in seinen Hals verbissen. Riven stieß der Bestie sein Messer in den Nacken, und sie brach zusammen. Dann hob er Darmids Schwert auf und schlitzte den nächsten Angreifer mit einem gewaltigen Streich auf. Sie hatten es jetzt nicht mehr mit so vielen Bestien zu tun. Das Boot schwamm in der Mitte des Flusses, und die Stömung riß die schwimmenden Verfolger mit sich. Die Verteidiger bekamen etwas Luft. Sie bewegten sich in einer Kette über das Boot und drängten die Grypeshs zurück, bis die graupelzigen Bestien sich auf das Kabinendach flüchteten. Bicker und Finnan töteten dort die letzten von ihnen. Ihre Körper fielen klatschend ins Wasser. Der Kampf war vorüber. Überall auf dem Deck, in der Kabine und auf der Ladefläche lagen tote Männer und Grypeshs. Das Boot war übersät mit Blutlachen. Verwundete Männer stöhnten vor Schmerz, und ein angestochener Grypesh röchelte in einer Ecke, bis ein Matrose ihm den Rest gab. Riven beugte sich zu Madra hinunter. Er wußte nicht, was er tun sollte. Er warf Isay einen hilflosen Blick zu. Das Gesicht des Myrcaners war wutverzerrt. 460
»Zweimal habe ich dich im Stich gelassen, Michael Riven. Es wird kein drittes Mal geben. Es wird nie wieder vorkommen.« Ratagan kam zu ihnen herüber. Seine Kleidung hing in Fetzen an ihm herunter. »Lebt sie?« Riven nickte. Er konnte nicht sprechen. Er streifte seine blutverschmierte Tunika ab und hüllte Madra hinein. Er strich ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Plötzlich erklang ein scharrendes, schleifendes Geräusch, das Boot taumelte und schlingerte. Es gab einen dumpfen Aufprall, und dann war es still. Sie blickten auf und sahen, daß das Boot auf eine der kleinen Inseln im Fluß aufgelaufen war und von der Strömung dort festgehalten wurde. »Mehr als die Hälfte meiner Leute sind tot«, sagte Finnan. Der Schein des Feuers glitt über sein versteinertes Gesicht. Mit einem Stock stocherte er in der Glut herum. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich noch genug Männer habe, um das Boot flußaufwärts zu bewegen.« »Wir werden helfen«, versprach Bicker. »Obwohl auch wir Opfer zu beklagen haben. Darmid, Rimir und Tagan sind tot, und das Mädchen ist schwer verletzt. Damit bleiben sechs Männer, die neben deinen acht Matrosen an den Flößerstangen arbeiten können. Das müßte genügen.« »Wir haben viel Ausrüstung verloren und alle eure Pferde«, fuhr Finnan fort, als habe er ihm 461
gar nicht zugehört. »Aber ich weiß immer noch nicht, warum sie uns in so großer Zahl und so entschlossen angegriffen haben. Sie sind uns sogar auf den Fluß gefolgt. Warum haben sie uns so erbittert attackiert?« Bicker zuckte mit den Schultern, aber er warf Riven über das Feuer einen kurzen Blick zu. Riven saß neben Madra, die man auf die Decken gebettet hatte, die ihnen noch geblieben waren. Ihre tiefen Wunden waren mit Stoffstreifen verbunden worden. Ratagan saß zu ihrer anderen Seite und betrachtete sie mit sorgenzerfurchtem Gesicht. Sie war bei Bewußtsein, konnte aber nicht sprechen, da sie eine Verletzung an Hals erlitten hatte. Tapfer lächelte sie Riven zu, und dieses Lächeln war für ihn wie ein Messerstich in die Brust. Er drückte ihr fest die Hand, unfähig, etwas zu sagen. Er spürte, daß er die Grenze seiner Belastbarkeit fast erreicht hatte. »Wie lange brauchen wir noch bis Talisker?« wollte Bicker von Finnan wissen. »Ungefähr eine Woche«, anwortete der Schiffer. »Unter diesen Umständen vielleicht etwas länger.« »Zu lange«, sagte Bicker grimmig und starrte ins Feuer. Sie begruben die Männer, die auf dem Boot gefallen waren, auf der Insel, mußten aber die anderen zurücklassen, da sie sehen konnten, daß einige Grypeshs immer noch am Ufer herumstreiften. Es waren viele Dutzend. 462
Alle Männer mußten nun an die Flößerstangen, und es war keine leichte Aufgabe, das Fahrzeug flußaufwärts zu manövrieren. Für Riven war es eine einzige Qual. Jeder Knochen schmerzte ihm im Leib, und wenn sie ihr Nachtlager aufschlugen, aß er nur noch eine Kleinigkeit, kümmerte sich um Madra und schlief dann neben ihr ein. Abends machten sie an einer der zahlreichen Inseln im Fluß fest. Sie wagten nicht, das westliche Ufer anzulaufen, wo der Angriff stattgefunden hatte. Am östlichen Ufer wuchsen die Bäume bis ans Wasser heran, und sie wußten nicht, was sich in dem Wald verbarg. Allerdings mußten Bicker und Luib gelegentlich einen Jagdzug am Ostufer unternehmen, um ihre Verpflegung zu ergänzen. Die beiden fanden verlassene Häuser vor, manchmal ganze Siedlungen, in denen niemand mehr lebte, und wo totes, verstümmeltes Vieh auf den Weiden lag. Das Land war tot und verlassen und der Himmel voller Aasvögel. Eine Woche verging, und das Bild änderte sich nicht. Madras Wunden verheilten, aber sie konnte immer noch nicht sprechen. Die anderen stakten das Boot verbissen vorwärts, und an den meisten Tagen wurde die Stille nur vom Plätschern des Wassers und dem gelegentlichen Schrei eines Vogels unterbrochen. Es wurde wärmer, und die Moskitos, die über dem Wasser schwirrten, belästigten sie unaufhörlich. Nachts 463
entzündeten sie stark rauchende Feuer, um die Plagegeister abzuhalten, aber dennoch waren bald alle völlig zerstochen. Nach neun Tagen tauchte Talisker im Dunst auf. Der Strom schlängelte sich in weiten Windungen durch die Flußebene. Umzäunte Felder säumten jetzt die Ufer, und in der Mitte einer großen Flußschleife erhob sich ein steiler Hügel, auf dem die Stadt lag. Sie wirkte wie ein Berg aus Mauern, Häusern und Straßen, der aus dem Tal emporragte und vom Fluß umspült wurde. Auf der höchsten Stelle des Hügels erhob sich ein mächtiger weißer Turm, und Riven sah das Glitzern von Helmen und Speerspitzen auf den Wehrgängen. Vor den Mauern der Stadt lagen Dutzende von Booten vor Anker, auf denen sich zahllose Menschen befanden, die man schon von weitem hörte. »Da sind wir«, sagte Finnan. Alle Fröhlichkeit war von ihm gewichen. »Vor uns auf dem Wasser seht ihr den Flußmarkt. Auf diesen Booten kann man alles kaufen, von einem Laib Brot bis zu einem Menschenleben. Ich habe meinen Teil unserer Abmachung erfüllt, obwohl ich nicht geahnt hätte, wieviel mich das kosten würde. Hinter dem Flußmarkt ist das große Hafentor. Wir werden hindurchfahren und in der Stadt vor Anker gehen.« Er wandte den Blick von der Stadt ab und betrachtete Madra. »Was wird mit ihr geschehen?«
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»Wir müssen einen Arzt finden«, antwortete Bicker. »Das dürfte in einer so großen Stadt nicht allzu schwer sein.« »Ich kenne einen«, sagte Finnan. »Ich werde euch zu ihm bringen.« Etwas später fuhren sie durch die Boote des Flußmarktes, auf denen es vor Menschen wimmelte. Die Fahrzeuge waren miteinander vertäut und bildeten ein Wirrwarr von Schiffsdecks und Gangways. Es wirkte wie eine eigene, schwimmende Stadt im Schatten der Mauern von Talisker. Hunderte von Stimmen priesen die verschiedensten Waren an. Betrunkene prügelten sich von einem Boot auf das nächste, bis sie platschend in das trübe Wasser stürzten; spärlich bekleidete Frauen mit stark geschminkten Gesichtern warfen den Marktbesuchern verheißungsvolle Blicke zu. Einladungen und Drohungen, Feilschen und Fluchen erfüllte die Luft, und das Geschrei von Männern, Frauen und zerlumpten Kindern mischte sich mit Hundegebell, Hühnergegacker und dem Blöken von Vieh. Auf dem Wasser schwammen Unrat, schimmelige Früchte und verfaultes Gemüse, und es roch nach Exkrementen, verdorbenem Fleisch, ungewaschenen Körpern und starken Gewürzen. Beim Einatmen hatte man das Gefühl, von einem zu starken Wein zu kosten. Riven wandte seine Aufmerksamkeit Madra zu, vertrieb Fliegen aus ihrem Gesicht. 465
Irgendwie gelang es Finnan, einen Weg durch das Labyrinth zu finden, und schließlich ragte vor ihnen die mächtige sonnenbeschienene Stadtmauer auf. Sie hob sich sehr hoch aus dem Fluß und ließ den Markt wie einen Ameisenhaufen, wie das ziellose Durcheinander von Insekten wirken. Eine große bogenförmige Durchfahrt unterbrach die Mauer vor ihnen, und sie fuhren in den Schatten eines hohen Tunnels, von dessen Wänden das Plätschern des Wassers und ihre Stimmen widerhallten. Zahlreiche Ratten schwammen hier im Wasser, und ihr schrilles Piepsen löste schreckliche Erinnerungen an die Grypeshs bei den Männern aus. Dann verließen sie den Tunnel und wurden von gleißendem Sonnenlicht geblendet. Ein breites Hafenbecken lag vor ihnen, an dessen Ende sich mehrere Docks befanden. Die Gebäude der Stadt ragten ringsum steil in die Höhe und warfen ihre Schatten auf die Docks. Dort waren sehr große Boote festgemacht, die man schon als Schiffe bezeichnen konnte. Sie hatten hohe Masten und waren von Seilen und Tauen wie mit einem Netz überzogen. Die Matrosen, die in den Takelagen beschäftigt waren, wirkten wie kleine Spinnen. Frachtgüter wurden von den Schiffen auf die Kaimauern geladen, und wieder füllte der durchdringende Geruch fremdartiger Gewürze die Luft. Heisere Rufe begleiteten das Löschen der Ladung, und Riven hörte die Schreie der Möwen, die um die Masten der Schiffe 466
herumsegelten, und nach Nahrung Ausschau hielten. Die Kaimauer war mit Möwenkot übersät. Finnan war ein guter Bekannter des Hafenmeisters, und ihnen wurde schnell ein Anlegeplatz für das Flachboot zugewiesen. Alle packten mit an, als das Boot festgemacht wurde, und dann sammelten die Gefährten ihr verbliebenes Gepäck ein. Luib trug Madra von Bord und hielt sie ihm Arm, während die Formalitäten erledigt wurden. Zwei Männer der Bootsbesatzung blieben zurück, um das Entladen der kärglichen Fracht zu überwachen. Die anderen erhielten von Finnan ihre Heuer. Er bezahlte sie mit den gleichen Silberstücken, die er von Bicker für die Fahrt bekommen hatte. Dann gingen die Matrosen an Land und begrüßten Bekannte, die auf den anderen Schiffen arbeiteten, mit unzüchtigen Zufrufen. Finnan führte die Gefährten unter den neugierigen Blicken der Anwesenden ans Ende der Docks, von wo aus steil ansteigende Gassen zur eigentlichen Stadt hinaufführten. Die gepflasterten Straßen waren eng und schmutzig, und die Abwasserrinnen waren von übelriechendem Unrat verstopft. Aus den Fenstern der Häuser wurden Eimer auf die Straße entleert, eine Unsitte, die den Weg zu einem Abenteuer machte. Mehr als einmal begegneten sie einem tropfnassen Passanten, der Flüche und Verwünschungen zu einem offenen Fenster emporschrie. Die Stadt war ein ausgedehntes Labyrinth von Gassen und 467
Straßen, die von Kneipen, Misthaufen, Geschäften, Schmieden, Bordellen und Geldverleihstuben gesäumt wurden. Gruppen bewaffneter Männer standen an vielen Straßenecken. Zuweilen machten sie Anstalten, die Gefährten zu verspotten, verstummten aber, wenn sie die Schärpen der Schutztruppe und die Stäbe der Myrcaner erblickten, und begannen dann, miteinander zu flüstern. »Söldner«, sagte Finnan unheilverkündend. »Sie sind scharenweise angeheuert worden, um die Unterstadt zu kontrollieren.« Der Weg wurde immer steiler, und die Straßen wurden breiter und sauberer. Die Häuser waren hier meist aus Stein gebaut und nicht aus Holz wie in der Hafengegend; die Wassergüsse von oben hörten auf. Sie passierten Tavernen, vor denen bemalte Schilder hingen, und Geschäfte, deren Waren in Schaufenstern ausgestellt waren. Die Leute waren besser gekleidet, aber genauso neugierig wie in der Unterstadt. Schließlich blieb Finnan vor einem hohen Steinhaus stehen, an dem eine Tafel hing, auf der sich eine Schlange um einen Stab schlängelte. Er warf Madra einen Blick zu, aber sie schlief. Riven war nervös; mit finsterer Miene stand er neben Luib, der Madra im Arm wiegte. Der Flußschiffer wandte sich an Bicker. »Wir sind da. Phrynius ist ein Freund von mir.« Er legte eine merkwürdige Betonung auf das Wort >Freund<. »Es gibt Leute in der Stadt, die eine andere Einstellung zu ihm haben. 468
Man sagt, daß er dem Verborgenen Volk angehört, daß er ein großer Zauberer ist, und das macht ihn nicht gerade beliebt. Ich habe seine Nachbarn einmal davon abgehalten, sein Haus niederzubrennen, und dafür schuldet er mir Dank. Ich weiß nicht, wie ihr über Menschen wie ihn denkt, aber nach allem, was ich weiß, hat er noch nie jemandem auch nur ein Haar gekrümmt. Ihr habt mein Wort, daß er sein Bestes tun wird, um diesem Mädchen hier zu helfen.« »Nicht jeder meidet das Verborgene Volk«, sagte Bicker ruhig. »Ich sehe keinen Grund, dir oder deinem Freund zu mißtrauen.« Finnan nickte und lächelte. Dann schlug er mit der Faust an die Tür. »Mach auf, Väterchen Graubart. Ich bin's, der Flußpirat. Komm heraus und laß dich begrüßen.« Sie mußten lange warten, bis sie das Knirschen eines Riegels hörten, und die Tür einen Spaltbreit geöffnet wurde. Dann öffnete sich die Tür ganz, und sie erblickten einen kleinen dunkelhaarigen Mann mit einem grauen Spitzbart und schwarzfunkelnden Augen. Als er den grinsenden Finnan sah, entblößte er seine zahnlosen Kiefer und strahlte über das ganze Gesicht. »Alter Knabe! Gut, dich zu sehen! Komm herein!« Dann erst schien er die anderen wahrzunehmen. »Du bist in Begleitung? Finnan, hat es Ärger gegeben?«
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»Das kann man wohl sagen.« Der Schiffer seufzte. »Wir brauchen deine Hilfe als Arzt. Wir haben eine Patientin bei uns.« Der kleine Mann trat zurück. »Dafür bin ich da. Komm mit deinen Freunden herein.« Sie gingen hinein und folgten Phrynius durch einen schäbigen Flur und dann durch eine Tür in einen größeren Raum, in dem die Vorhänge zugezogen waren und wo es nach Ammoniak und Schwefel roch. In einer Kohlenpfanne brannte ein Feuer, und es gab Regale mit verstaubten Büchern und einen Tisch, der mit Papier, Phiolen, Flaschen und Glasbehältern übersät war. Ein fadenscheiniger Teppich bedeckte den Steinfußboden, und ein menschlicher Schädel grinste in einer Ecke. Riven erwartete fast, daß ein ausgestopftes Krokodil an der Decke hängen würde, aber statt dessen erblickte er dort Bündel von Knoblauchzwiebeln und Kräutern, die er nicht kannte. Zusammen mit dem Gestank der Chemikalien erfüllte ihr Geruch den Raum. Riven betrachtete die Glasgefäße, die über den Büchern in den Wandregalen standen. Aus einem von ihnen starrte ihn ein Auge an, und in einem anderen schwamm etwas, das wie ein menschlicher Fötus aussah. Luib legte Madra auf eine verschlissene rote Couch. Sie erwachte und sah sich verwundert um. Riven setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand, während Finnan die Gefährten vorstellte und Phrynius erzählte, was sich ereignet hatte. 470
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Was sind das nur für Zeiten! In was für einer Welt leben wir!« Er schlurfte hinüber zu Madra und verscheuchte Riven. Dann nahm er dessen Platz ein und betastete sie mit seiner dünnen, von Leberflecken übersäten Hand. Sie zuckte zusammen, ließ aber keinen Laut hören. Der alte Mann sprach ohne sich umzudrehen und mit erstaunlicher Autorität. »Finnan, geh in die Küche, mach Wasser heiß und richte Verbandsmaterial her. Ihr anderen müßt das Zimmer verlassen, es ist nicht gut, wenn hier so viele Leute sind. Das arme Mädchen kann darauf verzichten, von euch angestarrt zu werden. Raus mit euch. Geht etwas trinken oder poliert eure Schwerter. Geht!« Etwas betreten kamen sie seiner Aufforderung nach und folgten Finnan in die kleine schmutzige Küche, wo er einen Wasserkessel über das Feuer hängte. »Er ist ein komischer alter Kauz«, sagte der Schiffer. »Aber in ihm ist mehr Güte als im ganzen Rest der Stadt zusammen. Sie ist in den besten Händen.« »Schon gut«, meinte Bicker. »Ich glaube dir. Wir werden also warten.« Er sah sich um. Die Gefährten standen dicht zusammengedrängt in der winzigen Küche. Er mußte lachen. »Aber nicht hier. Hier haben wir nicht einmal genug Platz, um uns am Kopf zu kratzen.« »Bier«, sagte Ratagan plötzlich. »Bier! Bei allem, was heilig ist, ich hätte fast vergessen, 471
daß wir uns an einem Ort befinden, wo Bier verkauft wird. Unser Problem ist gelöst. Wir werden losziehen und unsere Kehlen befeuchten.« »Es gibt eine Kneipe, das Blackbird, ein Stück weiter die Straße hinunter«, warf Finnan ein. »Dort gibt es gutes Bier, und der Wirt hat mich noch nie übervorteilt.« »Dann laßt uns gehen«, schlug Bicker vor. »Ich werde hierbleiben«, sagte Luib ruhig. Die anderen verließen das Haus des Heilkundigen und betraten die sonnenbeschienene Straße, froh, frische Luft atmen zu können und den Wind im Gesicht zu spüren. Sie rannten fast die Straße hinunter, gefolgt von den neugierigen Blicken der Passanten. Doch sie kümmerten sich nicht darum. Sie fühlten sich erleichtert, daß sie das Boot endlich hatten verlassen können, und spürten, wie der Hauch der Todes, der sie seit dem Kampf begleitet hatte, von ihnen wich. Sogar Riven scherzte mit den anderen, während sie ausgelassen die Gaststube betraten, die Finnan ihnen empfohlen hatte. Ratagan brüllte dem Wirt einen donnernden Gruß entgegen, der den armen Mann zusammenfahren ließ. Bald saßen sie am Tresen und genossen das erste Bier. Nur Corrary war noch immer bedrückt. Er mußte an seinen Bruder denken, der in einem eilig geschaufelten Grab fern von zu Hause lag. Er hatte Darmids Schwert Riven gegeben, um das verlorene zu ersetzen. 472
Als das erste Bier ausgetrunken war, bestellten sie neues und nahmen die Gaststube näher in Augenschein. Sie war ruhig, aber das hatte vielleicht mit ihrem geräuschvollen Erscheinen zu tun. Die Einheimischen an den Tischen beobachteten sie schweigend. Der Wirt wischte nervös an einem Bierkrug herum. Ratagan rülpste, prostete dann den anderen Gästen zu und lehnte sich wieder an den Tresen. Isay war der einzige, der nichts trank. Er stand neben Riven und drehte nachdenklich seinen Stab in der Hand. »Da sind wir also«, sagte Ratagan. »In Talisker, der größten Stadt des Nordens und der letzten Stadt vor den Bergen. Was nun, Bicker?« Der dunkle Mann nippte an seinem Bier und verwischte mit dem Finger die Tropfen, die an dem Zinnkrug hinunterliefen. »Der schwerste Teil unserer Reise liegt jetzt vor uns.« »Die Berge«, murmelte Riven. »Und das ohne Pferde«, sagte Corrary. »Das ist nicht so schlimm. Wir hätten sie ohnehin nicht weit mit in die Greshorns nehmen können«, sagte Bicker. »Wie lange werden wir unterwegs sein?« fragte Riven. »Bis zum Staer etwa drei Wochen, wenn das Wetter gut ist. So lange habe ich jedenfalls im Frühling des vergangenen Jahres für die Strecke gebraucht. Wir müssen einen weiten Umweg machen, um die steile Bergkette zu 473
umgehen, die den Staer hufeisenförmig umgibt. Wenn wir die Stadt durch das Nordtor verlassen, durchqueren wir das Lehen von Armishir, bevor wir an den Fuß der Berge gelangen. Quirinus ist dort Lord, und er kennt mich, weil ich vor mehr als einem Jahr für ihn und seine Myrcaner tätig war. Man wird uns dort helfen ...« Er zog die Stirn in Falten. »Allerdings würde Quirinus darauf brennen, zu erfahren, was uns in die Greshorns führt. Der Lord von Armishir hat einen messerscharfen Verstand.« Vertraute Namen gingen Riven durch den Kopf, während er überlegte, was zu Minginish gehörte und was der Welt seiner Romane entstammte. Quirinus — der Name kam ihm bekannt vor, und er sah Rotwein und prächtige Kleidung vor sich, einen kahlen Kopf und Augen wie ausgewaschener Fels. Ein ironisches Lächeln. Quirinus. »Es gibt hier oben in der Gegend von Talisker viele Myrcaner«, sagte er. Es war ebensosehr eine Frage wie eine Feststellung. Bicker sah ihn erstaunt an und nickte dann. »Talisker liegt in der Nähe von Merkadale, und es ist die größte Stadt in Minginish. In der Stadt selbst gibt es fünfzig Myrcaner unter Odhars Kommando, und doppelt soviele Angehörige des Soldatenvolks leben in den Lehen der Umgebung. Talisker verfügt auch über eine Schutztruppe von mindestens fünfhundert Männern.« 474
»Das ist für einen so großen Ort nicht ungewöhnlich«, meinte Corrary, schien aber doch beeindruckt zu sein. Riven bemerkte, wie er unbewußt seine Schärpe berührte. Corrary trug ein schlichtes Kettenhemd; fast alle ihre Rüstungen waren auf der Flucht nach Norden verlorengegangen und lagen jetzt auf dem Grund des Flusses. Oder rosteten um die Gebeine der Gefallenen. Die Gefährten sahen aus wie abgehetzte Flüchtlinge, erschöpft und von den Strapazen der Reise gezeichnet. Nur die verschlissenen Schärpen der Schutztruppe und ihre Waffen verrieten, daß sie mehr waren als gewöhnliches Volk, das sich vor den Angriffen in die Stadt geflüchtet hatte. Das und die Tatsache, daß Myrcaner unter ihnen waren. »Wer herrscht hier?« fragte Corrary. »Ich weiß nichts über diesen Teil des Landes, außer den Geschichten, die in Ralarth über die Berge erzählt werden.« Bicker trank einen Schluck Bier. »Fürst Godomar ist Vorsitzender des Stadtrats, und theoretisch hat er das letzte Wort, wenn es darum geht, die Stadt zu regieren. Aber im Stadtrat sitzen einflußreiche Männer — Saffarac, Valentir und andere. Sie sind die Anführer der Gilden der Stadt und kontrollieren den Handel. Der Fürst muß Kompromisse mit ihnen schließen, um seine eigene Autorität nicht zu verlieren. Letztendlich können seine Myrcaner und Schutztruppen aber die Gefolgsleute der 475
Stadtlords in Schach halten, und so herrscht eine Art Waffenstillstand zwischen ihnen.« »Ein wohl ausbalanciertes Arrangement, wenn ich es richtig sehe«, sagte Ratagan gedankenverloren und trank von seinem Bier. Die anderen Besucher der Gaststube hatten ihre Gespräche wieder aufgenommen. Zwei von ihnen hatten allerdings das Lokal verlassen, während die Gefährten miteinander sprachen. Der Wirt schien sich jedoch immer noch unbehaglich zu fühlen, und er zuckte zusammen, als Ratagan seinen Krug auf den Tresen krachen ließ und grinsend nach einer neuen Füllung verlangte. »Warum so schreckhaft, mein Freund?« fragte ihn der große Mann. »Bist du nervös? Wir sind keine Tagediebe — nur Männer, die es zu schätzen wissen, wenn ihnen ein gutes Bier durch die Gurgel läuft.« Der Wirt füllte Ratagans Krug aus einem Fäßchen hinter dem Tresen. Als er sich wieder aufrichtete, lag ein entschlossener Zug auf seinem Gesicht. »Ihr seid Söldner, nicht wahr, Herr? Seid ihr gekommen, um in Sergius Dienste zu treten?« Ratagans Gesicht verdüsterte sich, aber Bicker legte ihm die Hand auf den Arm. »Wann hast du zuletzt einen Myrcaner als Söldner gesehen?« fragte er den Wirt und nickte Isay zu, der finster dreinblickte. Der Wirt schluckte. »Ich wollte euch nicht beleidigen, Herr, glaubt mir das. Es ist nur so, daß in diesen Zeiten ...« 476
»Was für Zeiten?« fragte Riven ihn scharf. Er fühlte sich plötzlich müde, und das Bier stieg ihm zu Kopf. Er mußte an Madra denken, die sie im Haus des Arztes zurückgelassen hatten, und an die lange Reise in die Berge, die vor ihnen lag. Sein Bedarf an Abenteuern war zur Zeit gedeckt. Der Blick des Wirts glitt über die schmutzigen Überreste des Erzählerabzeichens auf Rivens Brust. »Ich bitte um Nachsicht. Ich sehe, daß ihr von weit her kommt, Gentlemen.« Seine Stimme wurde fester. »Ihr müßt wissen, daß wir gegenüber Fremden zur Zeit sehr vorsichtig sind. Es kommen so viele Leute in die Stadt, um hinter ihren Mauern Schutz zu suchen, und die ... die Söldner scharen sich unter Sergius' Banner, ob es dem Fürsten paßt oder nicht. Es gibt soviele von ihnen in der Stadt, und da ihr bewaffnet seid ...« Er brach ab. Bicker seufzte und warf ein paar Münzen auf die Theke. »Intrigen. Politik. Haben wir nicht schon genug Probleme?« »Sie sagen, daß das Verborgene Volk aus den Bergen gekommen ist und zusammen mit den Bestien die Rorims im Süden angegriffen hat«, flüsterte der Wirt verschwörerisch. »Es gibt Gerüchte, nach denen die Rorims überrannt worden sind.« Bicker und Ratagan lehnten sich weiter vor und sahen ihn mit funkelnden Augen an. »Wer sagt das?« herrschte Ratagan ihn an. 477
Der Wirt schluckte. »Es ist nur ein Gerücht, Herr. Ein paar Leute, die aus dem Süden geflüchtet sind, haben diese Neuigkeiten mitgebracht.« »Was waren das für Leute?« fragte Ratagan. »Ich weiß es nicht. Feine Leute. Ein Lord oder eine Lady. Es wird gemunkelt, daß der Fürst eine neue Bettgenossin hat — eine Lady aus dem Süden. Ich weiß es nicht.« Bicker fluchte wild. »Jinneth.« »Vielleicht ein Zufall?« meinte Ratagan, aber der dunkle Mann schüttelte den Kopf. »Sie ist es, da bin ich sicher. Talisker könnte ein gefährlicher Ort für uns sein. Ich denke, wir verlassen die Stadt am besten so bald wie möglich.« Jinneth! Hier! Riven spürte, daß das irgendwie paßte — Jennys Ebenbild war vor ihnen hier eingetroffen. Er erinnerte sich an die schwarze Haarmähne, die grauen Augen und ihre dunklen Schultern, über die das Fackellicht spielte, und verzog das Gesicht. Diese Gedanken führten zu nichts. Eine neue Bettgenossin. Erstaunlicherweise schmerzte ihn diese Vorstellung immer noch — der Gedanke daran, daß andere Männer den Körper benutzten, den er geliebt hatte, daß ihnen zukam, was ihm als ein unschätzbares Geschenk angeboten worden war. Es ist nicht das gleiche. Aber es schmerzte trotzdem. 478
Die Tür der Gaststube wurde aufgerissen, und eine Gruppe von Männern mit glänzenden Helmen, die Kettenhemden unter ihren Umhängen trugen, betrat den Raum. Sie machten einen gewalttätigen Eindruck. Sie trugen Bärte oder waren unrasiert, hatten Lederoder Wollhosen an, die von Lederbändern zusammengehalten wurden. Fellstücke schmückten ihre Umhänge und Helme. Jeder von ihnen trug einen schwarzen Stoffstreifen mit einer weißen Linie um den Oberarm, den Helm oder am Schwertknauf. »Die Freie Kompanie«, flüsterte der Wirt. Die Söldner verteilten sich in der Gaststube; die Gäste an den Tischen wichen ihnen verängstigt aus. Keiner der Neuankömmlinge sprach ein Wort, aber Riven spürte, wie sie die Stärke der Gruppe abschätzten — Ratagans Größe, Bickers drahtige Gestalt, Corrarys Langschwert und Isays Stab. Sie sahen sich an, sprachen aber immer noch kein Wort. Schließlich trat einer von ihnen vor. Schwarze Locken quollen unter seinem Helm hervor und fielen ihm vor die Augen. Er hatte eine breite Zahnlücke. »Wer seid ihr, und wo kommt ihr her?« fragte er barsch. Ratagan richtete sich auf, und Isay nahm seinen Stab mit einem leichten Lächeln kampfbereit in beide Fäuste. Aber es war Bicker, der antwortete. »Wer will das wissen?« Der Söldner mit der Zahnlücke starrte ihn finster an. »Ich stelle hier die Fragen, und ihr 479
beantwortet sie. Ich frage noch einmal: Wer seid ihr, und woher kommt ihr?« »Wer gibt euch das Recht, ehrenwerte Männer beim Trinken zu stören?« fragte Ratagan freundlich. Er hielt seinen Metallhumpen in der Faust und grinste. »Wäre es nicht besser, ihr würdet uns solche Fragen bei einem gemütlichen Bier stellen? Dann könnten wir uns in aller Freundschaft darüber unterhalten — wie Leute sich eben unterhalten, die sich kennenlernen. Wäre das nicht besser?« Plötzlich ballte er die Faust und zerdrückte den Humpen in seiner Hand wie feuchten Lehm. Hinter ihm schob sich der Wirt die Theke entlang so weit in den Hintergrund, wie es ging. Riven spürte Verbitterung in sich aufsteigen. Das ist doch nicht der Wilde Westen hier! »Wir kommen aus dem Süden«, sagte er in die unheilverkündende Stille hinein. »Wir sind vor den Bestien aus den Bergen geflohen. Wir haben hier Zuflucht gesucht.« Der Söldnerführer ließ seine Augen nicht von Ratagan. »Woher aus dem Süden?« Riven warf Bicker einen Blick zu. Der dunkle Mann zuckte leicht mit den Schultern. »Ralarth Rorim.« Der Mann mit der Zahnlücke nickte grimmig. »Dann kommt ihr jetzt mit uns.« »Wohin?« »Dahin, wo wir euch hinbringen.« Ratagan warf den zerbeulten Krug scheppernd auf den Steinboden, und die 480
Söldner fuhren zusammen. Er grinste immer noch, aber aus seinen Augen war aller Humor gewichen. »Das ist nicht gerade eine höfliche Art, Besucher in eurer Stadt willkommen zu heißen. Warum erklärt ihr uns nicht, warum wir euch begleiten sollen und wohin. Vielleicht wird dann die Sache ein bißchen klarer. Das wäre jedenfalls die Art, wie zivilisierte Männer sich verhalten würden.« »Wir stehen im Dienste des Stadtrats«, sagte der Anführer der Söldner mit unterdrücktem Zorn. »Wir haben die Aufgabe, in dieser Stadt für Ruhe und Ordnung zu sorgen und alle ungewöhnlichen Fremden zu kontrollieren. Vor allem Fremde aus dem Süden und besonders aus den südlichen Rorims. Seid ihr jetzt zufrieden?« »Fast vollständig«, sagte Bicker. »Ihr habt uns jetzt kontrolliert und könnt gehen. Wir bleiben hier und trinken unser Bier zu Ende.« »Ihr werdet mitkommen.« Der dunkle Mann lächelte. »Das glaube ich nicht.« Der Söldner betrachtete sie noch einmal von oben bis unten, registrierte das geradezu erwartungsvolle Leuchten in Isays Augen und warf dann seinen Männern einen Blick zu. Sie waren zu fünft und schienen nicht allzu begierig darauf zu sein, mit einem Myrcaner zu kämpfen. »Ich komme wieder«, fauchte er. »Und dann werdet ihr tun, was ich sage.« Er drehte sich 481
um und verschwand durch die Tür. Seine Männer folgten ihm wortlos. Bicker stöhnte. »Ist das Leben nicht schon schwer genug ohne Söldner, die hinter uns her sind?« Er wandte sich an die anderen. »Zeit zum Aufbruch. Wir gehen ... dahin, wo die andern sind. Wir sollten uns vorläufig nicht trennen.« »Du hast recht. Talisker ist für unsereins gegenwärtig nicht der richtige Ort, glaube ich«, sagte Ratagan. »Und ich denke, wir sollten uns einmal mit Finnans heilkundigem Freund unterhalten«, meinte Bicker. »Kommt.« Müde folgten sie ihm und verließen die Schänke. Die Straße war voller Menschen, als sie sich auf den Weg zu Phrynius Haus machten, und sie mußten Leute zur Seite schieben, um vorwärtszukommen. Die Menge rief und gestikulierte, Eltern hoben ihre Kinder auf die Schultern, um sie aus dem Gedränge herauszuhalten, Fäuste wurden geschüttelt, und Handwerker streckten ihre Werkzeuge wie Waffen in die Luft. Die Gefährten mußten schließlich stehenbleiben, weil die Menschen sich dicht an dicht vor ihnen drängten. Sie standen eng zusammen und reckten die Hälse, um zu sehen, was diesen Auflauf verursachte. Ratagan, der alle überragte, sah zuerst, was los war, und sein Blick verdüsterte sich vor Wut und Ärger. 482
»Was ist denn los?« fragte Riven den großen Mann. Ratagan stieß ein zorniges Knurren aus. »Etwas, von dem ich dachte, daß die Menschen dieses Landes es hinter sich gelassen hätten. Du wirst es gleich sehen.« Auf der Straße bildete sich eine Gasse, und die Menschen rückten noch enger vor den Häusern zusammen. Bewaffnete drängten die Menge mit den Schäften ihrer Lanzen zurück. Es waren Söldner, die das schwarz-weiße Abzeichen der Freien Kompanie trugen, aber zwei oder drei von ihnen waren Angehörige der Schutztruppe in voller Montur, und sie schienen das Kommando zu führen. Sie trugen schwarzweiße Schärpen um die Hüften und hatten ihre Schwerter gezückt. Eine Reihe zerlumpter Menschen schleppte sich die Straße hinunter, und das Rufen der Menge verschmolz zu einem einzigen Schrei. Speichel flog durch die Luft und regnete auf das Pflaster. Aufgebrachte Zuschauer am Straßenrand mußten von den Söldnern zurückgestoßen werden. Riven stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte zu erkennen, was vor sich ging. Eine Gruppe von Menschen wurde abwechselnd die Straße entlang gestoßen und gezogen. Die Söldner trieben sie mit ihren Lanzenschäften an. Die Kleider der Unglücklichen hingen in Fetzen, und einige von ihnen bluteten. Wenn jemand stolperte 483
und stürzte, stieß ihm einer der Söldner unsanft den Lanzenschaft in die Rippen. Es waren Frauen und Männer in der Gruppe. Die Frauen waren halbnackt und versuchten hilflos, ihre Blöße mit Kleidungsfetzen zu bedecken. Ein grinsender Söldner riß einem Mädchen die letzten Stoffreste vom Leib und stieß sie nackt zu Boden. Die Menge johlte erfreut, und die Söldner mußten diejenigen zurückstoßen, die sich vordrängten, um das Mädchen anzugaffen. Schluchzend stand es auf und stolperte weiter, die Arme vor den Brüsten verschränkt. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« fragte Riven benommen. Ratagan sah ihn nicht an. »Das ist die Säuberung«, sagte er wütend. »Das Verborgene Volk wird wieder einmal zusammengetrieben und aus der Stadt gejagt.« Riven schüttelte den Kopf. Das war nicht die Welt seiner Bücher. Das war nicht das Land, das er erschaffen hatte. Hier lief etwas schrecklich falsch! Neben ihm zitterte Ratagan wie ein Rennpferd vor dem Start; seine Augen brannten vor Wut, und seine Hand umklammerte den Griff seiner Axt. »Ratagan!« sagte Bicker warnend und streckte seine Hand an Riven vorbei, um sie dem großen Mann auf den Arm zu legen. Eine blonde junge Frau, die gegen einen der Söldner gestolpert war, erhielt einen groben Stoß von ihm und stürzte schwer auf den Boden. Mit einem dumpfen Geräusch schlug 484
ihr Kopf auf das Pflaster, und der Söldner holte fluchend mit dem Fuß aus, um ihr einen Tritt zu versetzten. Das Mädchen kam Riven irgendwie bekannt vor. »Ratagan!« schrie Bicker. Aber der Rotbärtige brüllte wütend und warf sich nach vorne. O Mist. Jetzt haben wir richtigen Ärger. Bicker wirkte verzweifelt, aber Isays Augen brannten ebenso vor Zorn wie Ratagans, und seine Fäuste ballten sich um den Myrcanerstab, den er aus dem Gürtel gezogen hatte. Corrary war blaß, aber auch seine Augen funkelten wütend. Mit zornigem Gebrüll schob Ratagan sich wie eine Lokomotive durch die Menge und schleuderte Leute, die ihm in den Weg kamen, wie Puppen beiseite. Die Söldner auf der Straße starrten ihn mit weit aufgerissenen Augen an, und dann war er über ihnen. Es gab ein Durcheinander von drängelnden Menschen, ein Schieben und Drücken von allen Seiten, als die Menge zurückwich. Riven wurde fast von den Füßen gerissen, aber Isay hielt ihn aufrecht. Geschrei erfüllte die Luft. Riven drängte sich rücksichtslos nach vorne, und zusammen mit Bicker, Isay und Corrary gelangte er schließlich durch die Menge auf die Straßenmitte. Sie stolperten fast über einen Söldner, der mit unnatürlich verdrehtem Hals regungslos am Boden lag. Dann sahen sie Ratagan. Er stand inmitten seiner Gegner und bekämpfte sie mit beiden Armen. In einer Faust hielt er 485
seine Axt, in der anderen das Schwert eines der Söldner, und zusammen woben die beiden Waffen ein silbriges Netz der Vernichtung um ihn herum. Schon lagen Leichen zu seinen Füßen, aber die Söldner gingen energisch gegen ihn vor, und er mußte zurückweichen. In seinem Blick lag noch immer brennende Wut, aber noch etwas anderes war jetzt in seinen Augen zu erkennen: das Wissen um die bevorstehende Niederlage. Zwei schwer gerüstete Männer der Schutztruppe eilten herbei, um in den Kampf einzugreifen. Bicker fluchte und riß dann sein Schwert aus der Scheide. »Ratagan!« schrie er und rannte los. Es klang wie ein Schlachtruf. Isay folgte ihm. Zu seiner eigenen Überraschung fand Riven sich mit Darmids Schwert in der Hand an seiner Seite. Die beiden Stadtwachen wirbelten herum, um sich den neuen Angreifern entgegenzustellen, aber schon zerfetzte Bickers Schwert die Kehle des einen, während Isay dem anderen mit seinem Stab den Schädel einschlug, als sei er ein fauler Apfel. Krachend stürzten beide auf das Pflaster. Die vier Gefährten rannten weiter, und die Söldner begriffen, daß sie von hinten angegriffen wurden. Sie teilten sich in zwei Gruppen und wichen zurück, verfolgt von dem tobenden Ratagan. Riven blieb stehen, während Bicker, Corrary und Isay ebenfalls den Gegnern nachsetzten. Die Menge flüchtete 486
in Panik vor dem Kampfgeschehen, und die meisten der zerlumpten Opfer der Vertreibungsprozession wurden mit fortgerissen. Das blonde Mädchen lag regungslos auf der Straße. Ein dünner Blutfaden lief von ihrer Schläfe. Riven ging instinktiv auf sie zu, blieb dann aber stehen, um zu sehen, wie sich der Kampf enwickelte. Er war fast vorüber. Die letzten der Söldner rannten davon und warfen ihre Waffen von sich. Mindestens ein halbes Dutzend von ihnen blieb auf dem Pflaster zurück. Bicker ergriff wütend das Wort. »Du verdammter Narr!« schrie er Ratagan an. »Wir müssen hier weg — und zwar sofort. In ein paar Minuten wird es in dieser Straße von Söldnern wimmeln.« Er schwieg einen Moment, um Luft zu holen. »Du Narr!« wiederholte er dann. Ratagan sagte nichts, aber man sah, daß er immer noch wütend war. Er warf das Söldnerschwert weg, schob seine Axt in den Gürtel und ging dann hinüber zu der Stelle, wo das bewußtlose Mädchen auf dem Pflaster lag. Er nahm sie auf die Arme und richtete sich dann auf. »Dann laßt uns verschwinden«, sagte er ruhig, und begann, die blutbefleckte Straße hinunterzulaufen. Die Leute, die noch dort standen, starrten ihn an, als sei er ein Gespenster. Niemand stellte sich ihm in den Weg. 487
Die anderen folgten ihm, Bicker mit wutverzerrtem Gesicht. Sie hörten, wie hinter ihnen überall in der Oberstadt auf Hörnern Alarm geblasen wurde, aber sie blickten nicht zurück.
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VIERZEHNTES KAPITEL Sogar auf Luibs normalerweise regungslosem Gesicht zeigten sich Sorgenfalten, als sie mit noch einer verletzten Frau zu Phrynius' Haus zurückkehrten. Schweratmend schoben sie sich durch die enge Tür des Hauses, und Corrary seufzte hörbar vor Erleichterung, als sie die Tür hinter sich schlossen und den neugierigen Blicken der Leute entzogen waren, die ihnen vom Ort des Kampfes bis hierher gefolgt waren. Bicker war jedoch sehr besorgt. »Es wird ihnen nicht schwerfallen, uns hier aufzuspüren. Wir haben nicht viel Zeit. Bringt sie zu dem alten Mann. Isay, Corrary, ihr bewacht die Tür.« Der durchdringende Geruch der Chemikalien empfing sie, als sie Phrynius' Wohn- und Studierstube betraten. Finnan war dabei, Madra eine Suppe einzuflößen, und der alte Heiler hatte sich in einer Ecke in ein dickes ledergebundenes Buch vertieft. Madra lächelte Riven zu, als er eintrat, aber er konnte ihr Lächeln nicht erwidern. Als er Finnan an ihrer Seite gesehen hatte, war jäh Eifersucht in ihm aufgestiegen, und er ärgerte sich selbst darüber. Der spöttische Zug, der fast immer auf dem Gesicht des Flußschiffers lag, verschwand, als 489
Ratagan das blonde Mädchen vor dem Kohlenbecken auf eine Decke legte. Der große Mann betrachtete sie einen Moment lang und strich ihr das blutverklebte Haar aus der Stirn. In diesem Moment wurde Riven klar, warum ihm die junge Frau so bekannt vorgekommen war. Sie sah Ratagans Frau so ähnlich, daß sie Schwestern hätten sein können. Phrynius schlug sein Buch mit einem dumpfen Geräusch zu und kam langsam zu ihnen herüber. »Wir bringen dir noch mehr Ärger, Phrynius«, sagte Bicker. »Es hat einen Kampf gegeben. Wir haben Söldner getötet, und sie werden uns zweifellos hier finden.« Finnan fluchte. »Warum habt ihr euch nur ...« Aber Phrynius unterbrach ihn. »Du weißt, was du zu tun hast, Finnan. Ich brauche die üblichen Dinge.« Er kniete sich ächzend und stöhnend auf den Flur und untersuchte die Wunde am Kopf des Mädchens. Madra machte Anstalten, aufzustehen, um Finnan in der Küche zu helfen, aber das ließ der alte Mann nicht zu. »Noch bist du selbst Patientin, und keine Krankenschwester, also bleib, wo du bist.« Sie sank wieder auf den Diwan zurück. Sie hörten, wie Finnan fluchend in der Küche herumhantierte, beachteten ihn aber nicht weiter. Phrynius schien der Gedanke, daß jeden Moment ein Dutzend Söldner seine Tür einschlagen konnte, nicht sonderlich 490
aufzuregen, und Bicker ärgerte sich über diese Haltung. »Hast du gehört, was ich gesagt habe?« fragte er. »Die ganze Stadt ist hinter uns her, und sie können jederzeit hier auftauchen.« Phrynius blickte auf und sah ihn an. »Ich habe dich gehört. Und ich weiß drei Dinge: Erstens werden die Leute in diesem Teil der Stadt den Söldnern bei ihrer Suche nicht helfen, wenn sie es irgendwie vermeiden können, denn die Leihschwerter sind nicht sehr beliebt. Zweitens ist dies nicht das erste Mal, daß ich Leute hier habe, die auf der Flucht vor Sergius' Leuten sind. Die Angehörigen des Verborgenen Volkes in dieser Stadt kennen mich und wissen, was ich bin.« Ein harter Ausdruck erschien auf seinem alten, zerfurchten Gesicht. »Sie wissen auch, was ich einmal gewesen bin — der Leibarzt des Fürsten. Das ist zwar lange her, hat aber immer noch eine gewisse Bedeutung. Und drittens führen Wege aus diesem Haus, die nur ich kenne, von denen dieser Söldnerabschaum nichts weiß. Also setz dich hin, und laß mich erst einmal in Ruhe arbeiten.« Der scharfe Ton, mit dem er sprach, bildete einen merkwürdigen Kontrast zu seiner Erscheinung. Von dem verhärmten, verrufenen Mann ging auf einmal eine erstaunliche Autorität aus, und Bicker setzte sich wortlos. Riven nahm neben ihm Platz. Ratagan wich nicht von der Seite des bewußtlosen Mädchens. 491
Seine großen Pranken umschloßen eine ihrer Hände, und Phrynius ließ ihn gewähren. Finnan kam mit einer Schüssel warmen Wassers, und der alte Heiler begann, seiner Patientin das Blut aus dem Gesicht zu waschen. Niemand sprach ein Wort. Riven sah Bicker an und wußte, daß dieser damit rechnete, jeden Moment die polternden Fäuste der Söldner an der Tür zu hören. »Wie lange geht das schon so?« fragte Ratagan plötzlich. Der alte Mann arbeitete unbeirrt weiter. »Ich nehme an, du meinst die Säuberungen. Es gibt schon seit Wochen Gerüchte. Die Leute sind sehr beunruhigt wegen der Jahreszeiten, die durcheinandergeraten sind, und wegen der Angriffe der Bestien, und das kann man verstehen. Das Verborgene Volk verläßt unauffällig die Stadt, seit alles begonnen hat, aber jetzt ...« Er wies auf das vor ihm liegende Mädchen. »Jetzt bleibt ihnen auch nichts anderes mehr übrig.« Er schwieg für einen Moment, und als er weitersprach, lag Haß in seiner Stimme. »Schuld daran ist diese Wölfin aus dem Süden, Lady Jinneth. Sie hat den Fürst zu ihrem Sklaven gemacht. Er war immer ein wankelmütiger Mann, doch das wurde bisher immer von den vernünftigeren Männern in seiner Umgebung ausgeglichen. Aber jetzt ...« Er zuckte mit seinen dünnen Schultern. »Jetzt hat er innerhalb von ein paar Wochen alles verspielt, und man sieht mehr von Sergius' Männern in den Straßen als von 492
unseren eigenen Schutztruppen oder Myrcanern. Man munkelt, daß die Myrcaner sich völlig in ihre Unterkünfte zurückgezogen haben und überlegen, was zu tun ist. Niemand hat sie in letzter Zeit in der Stadt gesehen.« Der Heiler sah plötzlich Luib an. Der graubärtige Soldat stand unbeweglich an der Wand. »Dein Volk hat immer dazu geneigt, die moralische Seite einer Sache zu erwägen, bevor es handelt. Es bleibt abzuwarten, auf wessen Seite es sich stellen wird.« Der Myrcaner blieb stumm. Auf dem Boden begann das Mädchen sich zu bewegen. Ihre Faust ballte sich in Ratagans Händen, und dann schlug sie die Augen auf und sah sich furchtsam um. Phrynius strich ihr mit einer Zärtlichkeit über das Haar, die ebenso Teil seiner Persönlichkeit war wie seine scharf züngige Autorität. »Wir sind Freunde«, beruhigte er sie. »Ich bin Phrynius und gehöre zu deinem Volk.« »Was ist passiert?« fragte sie unter Tränen. »Wo sind die anderen?« »Wir haben dich gerettet«, polterte Ratagan. Er hatte ihre Hand losgelassen und wirkte verlegen. »Wir haben dich aus den Händen der Söldner befreit. Ich glaube, daß die anderen, die bei dir waren, entkommen konnten. Sie sind in der Menge untergetaucht.« Das Mädchen sah ihn an. Unter ihren rötlichen Brauen leuchteten haselnußbraune Augen. »Du hast mich gerettet? Warum?« 493
»Du hast mich an jemanden erinnert«, murmelte der große Mann und warf einen schnellen Blick in die Runde, als wollte er sich der Reaktion der anderen vergewissern. »Und außerdem kann ich es nicht leiden, wenn Frauen wie Mehlsäcke auf der Straße herumgestoßen werden.« Das Mädchen hob die Hände, um ihren Kopf zu betasten, aber Phrynius packte sie mit seinen dürren Fingern. »Laß das. Ich muß dich da oben noch verarzten. Du hast einen harten Schädel, aber eine Wunde ist eine Wunde.« »Du bist der Heiler, der früher bei Hofe gearbeitet hat«, sagte das Mädchen plötzlich. »Mein Vater hat manchmal über dich gesprochen.« Phrynius grinste sein zahnloses Grinsen. »Der bin ich. Und wer war ...« Er brach ab und fragte sanft: »Wer ist dein Vater?« »Mannir, der Apotheker.« »Ich kenne ihn. Er hat mir früher gelegentlich Arzneien gemixt.« Das Mädchen begann zu weinen. »Ich weiß nicht, wo sie ihn hingebracht haben. Oder meine Mutter. Man hat sie einfach mitgenommen, und mich wollte man aus der Stadt jagen, zu den Bestien.« Madra verließ den Diwan und legte dem weinenden Mädchen den Arm um die Schulter. Blut aus der Kopfwunde der jungen Frau tropfte auf ihr Kleid. 494
»Du mußt Mereth sein«, sagte Phrynius, und das Mädchen nickte unter Tränen. Phrynius wirkte sehr ernst. »Dein Vater war kein Magier. Die Freie Kompanie wird offenbar immer rücksichtsloser. Wenn sie jeden Heiler und Apotheker aus der Stadt jagen, haben sie bald eine Menge Leute weniger unter ihrer Fuchtel. Wahnsinn. Es ist der reine Wahnsinn. Diesmal wird es noch schlimmer sein, als beim letzten Mal.« »Eine Hexenjagd«, murmelte Riven. Aber die schlimmste Hexe war die, die mit dem Fürst das Bett teilte. Die Vorstellung schmerzte ihn. »Wir sehen uns wieder«, hatte sie gesagt. Nicht, wenn ich es verhindern kann! Dann begriff er, was Phrynius gesagt hatte. »Bist du denn ein Magier?« fragte er. Der alte Mann, der gerade den Kopf des Mächens verband, ließ die Hände sinken. Er benutzte Verbandsstoff, den er mit einer gelben, antiseptisch riechenden Paste aus einem Glastopf eingeschmiert hatte, »Was ist ein Magier?« fragte er und sah Riven mit einem unangenehm stechenden Blick aus seinen Knopfaugen an. »Bist du — der das Abzeichen eines Geschichtenerzählers trägt, aber kaum spricht, und wenn, dann mit einem fremdartigen Akzent — bist du ein Magier? Deine Stimme kommt aus einem Land, von dem ich nie auch nur gehört habe.« »Verstehst du dich auf die Zauberei?« bohrte Riven weiter. 495
»Was ist Zauberei?« gab der alte Mann zurück. »Vielleicht ist es so, daß unter meinen Händen Knochen schneller wieder zusammenwachsen und Wunden sich schneller schließen. Vielleicht kann ich manche inneren Verletzungen nur durch Handauflegen heilen. Ist das Zauberei? Wenn es so ist, dann schadet es niemandem. Und was Mereths Vater angeht: Er heilt mit seinen Arzneien, aber er benutzt keine Magie; nur die Kunst, die er sich selbst beigebracht hat. Und das Resultat ist das gleiche. Die Wunden verheilen. Und du siehst, wie es uns gelohnt wird.« Es hatte für einen Moment den Anschein, als wolle er vor Verachtung ausspucken, aber dann setzte er mit geschickten Fingern seine Arbeit fort. Riven drang nicht weiter in ihn. Dann ergriff Finnan das Wort. »Du hast ja ganz recht, Vater Graubart«, sagte er vorsichtig. »Aber Tatsache ist doch, daß die Söldner uns letztendlich hier aufspüren werden, und ich glaube nicht, daß diesmal meine Zunge allein sie davon überzeugen kann, daß dieses Haus nicht gut brennt.« »Bah!« rief Phrynius. »Sie fürchten sich vor mir, so wie sie sich in ihren Herzen vor dem ganzen Verborgenen Volk fürchten.« »Ihre Furcht läßt nach«, warf Bicker ruhig ein. »Zumindest diejenigen, denen wir vor ein paar Minuten begegnet sind, schienen keine Furcht vor ihren Opfern zu haben.« 496
»Sie haben allerdings auch keine große Zuneigung zu blankem Stahl gezeigt«, sagte Ratagan und lachte. Phrynius beendete seine Arbeit und stand mit Madras Hilfe mühsam auf. »Das wäre erledigt.« Er lächelte und blickte auf Mereths bandagierten Kopf hinunter. »Jetzt brauchst du nur noch Ruhe und Erholung für eine Weile; das ist allerdings etwas, was in diesen Zeiten nicht leicht zu bekommen ist.« »Ich muß meine Familie finden«, sagte das blonde Mädchen. Ratagan half ihr zu dem verblichenen Diwan, und sie zog ihre Kleidungsreste verschämt enger um sich. »Ich kann nicht hier bleiben.« »Das mußt du aber«, sagte der alte Mann scharf. Alle Anteilnahme wich aus seinem Gesicht. »Was glaubst du, wie weit du auf der Straße kommen würdest? Wenn dich die Söldner nicht erwischen, würdest du in einer Viertelstunde ohnmächtig werden. Also hör jetzt auf mit diesem Unsinn.« Befehlend wies er mit dem Finger auf Ratagan. »Du, großer Mann, bringst sie jetzt nach oben ins Bett, denn du warst ja so erpicht darauf, sie zu retten. Und du Finnan, machst das gleiche mit unserer Möchtegern-Krankenschwester.« »Sofort, weiser Mann«, erwiderte Finnan und bot Madra seinen Arm als Stütze. Sie sah Riven an. Sein Gesicht brannte, aber er schwieg. Die vier verließen das Zimmer, Ratagan mit Mereth auf den Armen und einem merkwürdig zufriedenen Gesichtsausdruck, 497
Madra an die Schulter des Flußschiffers gelehnt. Riven bemerkte, daß Bicker ihm einen spöttischen Blick zuwarf, und verzog das Gesicht. Phrynius ließ sich in einen hochlehnigen Sessel neben der glühenden Kohlenpfanne fallen und brachte eine lange, geschwungene Pfeife zum Vorschein, die er mit einer dünnen Kerze entzündete. Blauer Rauch wölkte um seinen grauen Kopf, und er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Du, dunkler Mann, — du bist ein Lord, und es soll mir keiner etwas anderes erzählen. Für den rotbärtigen Riesen gilt das gleiche. Myrcaner und Schutztruppen begleiten euch, und auf euren Kleidern sind altes Blut und die Spuren von Zähnen.« Er stieß eine Rauchwolke aus. Seine dunklen Augen schimmerten nachdenklich in dem zerfurchtem Gesicht. »Und bei euch ist ein Geschichtenerzähler, der nichts erzählt, obwohl sein Gesicht Bände spricht. Ich habe noch nie einen Geschichtenerzähler getroffen, der seinen Mund auch nur eine Minute halten konnte, aber dieser Mann hier scheint damit keine Probleme zu haben. Ich kann mich der Vermutung nicht erwehren, daß ihr mit einem bestimmten Auftrag unterwegs seid, vermutlich zu einem Ziel, das nördlich von hier zu finden ist.« Er grinste. »Vielleicht geht es mich nicht das geringste an, aber genausogut könnte es sein, daß ihr Verderben über mein Haus bringt, und daher bin ich 498
verständlicherweise neugierig. Was habt ihr dazu zu sagen?« Bicker sah ihm in die Augen. Aus den Zimmern im Obergeschoß hörten sie leises Poltern, und von der Straße her klangen undeutlich Stimmen. Isay und Corrary hielten immer noch in der Halle Wache, und Luib hatten seinen Posten an der Wand nicht verlassen. Seinen Augen entging nichts. »Du hast gut geraten«, gab Bicker schließlich zu. »Wohin seid ihr unterwegs?« fragte Phrynius ernst. Neugierig reckte er den Kopf vor. »Zu den Bergen. Wir müssen die Zwerge aufsuchen und vielleicht den Staer besteigen.« »In welcher Mission?« »In einer sehr wichtigen. Vielleicht um Minginish zu retten.« Phrynius setzte sich wieder zurück. »So ist das«, sagte er nachdenklich. »Das ist fürwahr eine wichtige Mission.« Sein Blick wanderte zu Riven. »Und du mit dem vernarbten Gesicht und den Augen, aus denen Schmerz und Trauer sprechen, du bist derjenige, um den sich alles dreht, nicht wahr?« »Woher weißt du das?« fragte Riven. Irgendwie erleichterten ihn Phrynius' scharfsinnige Feststellungen. »Es gibt Leute, die behaupten, daß Zwergenblut in meinen Adern fließt«, sagte der alte Mann. »Auf jeden Fall merke ich sofort, wenn etwas seltsam ist. Du hast etwas an dir, was nicht hierher paßt. Und du hast Magie in 499
dir, das ist für jeden sofort klar, der etwas davon versteht.« Riven konnte sein Erstaunen nicht verbergen, und der alte Mann nickte. »Aber du hast es noch nicht einmal selbst gemerkt. Interessant.« Ungerührt stieß er weitere Rauchwolken aus. »Wir müssen Talisker sofort verlassen«, sagte Bicker. »Aber wir brauchen Proviant, vielleicht auch Packtiere.« »Die verletzten jungen Frauen, die ihr hier unaufhörlich anschleppt, brauchen wenigstens noch eine Woche Ruhe«, erklärte Phrynius mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Dann müssen sie eben hierbleiben.« Riven zuckte zusammen. Madra zurücklassen? Der Gedanke schmerzte ihn, aber er sagte nichts. Sie gehört mir nicht. Phrynius schien darüber nachzudenken. »Finnan, der Welpe, hat recht. Irgendwann werden die Söldner hier erscheinen. Zu viele Leute kennen mich, und wenn man euch hier findet, wird niemand die Söldner davon abhalten können, dieses Haus niederzubrennen — und mich auf den Scheiterhaufen zu führen. Ich kenne Plätze in Talisker — in der Oberstadt — die bisher noch von diesem Wahnsinn verschont geblieben sind. Häuser, die zu nahe bei Hof sind, als daß diese Tiere sich in sie hineinwagen würden. Wenn wir unsere beiden hübschen 500
Patientinnen dort hinbringen könnten, wären sie sicher, zumindest für die nächste Zeit.« »Und was ist mit dir?« fragte Bicker. »Ich habe schon manchem Sturm getrotzt.« Ein Flackern erschien in den Augen des alten Mannes, und für eine Sekunde war sich Riven ganz sicher, daß seine Magie, wenn das das richtige Wort dafür war, sich nicht nur auf das Heilen von Wunden erstreckte. »Wie konnte die Freie Kompanie soviel Macht in der Stadt bekommen?« fragte Bicker. »Und warum sind so viele von ihnen hier? Wo sind die Schutztruppen der Stadt? Wir haben nur ein paar von ihnen gesehen, seit wir hier sind.« Und zwei von ihnen getötet, dachte Riven. »Godomar hat mehr als tausend Söldner angeheuert, die den Schutztruppen dabei helfen sollen, in der Stadt und den Lehen der Umgebung für Ruhe und Ordnung zu sorgen«, erklärte Phrynius. »Aber Männer wie Quirinus schätzen es nicht allzusehr, wenn Söldner durch ihr Land patrouillieren, und daher sind die meisten Schutztruppen außerhalb der Stadt unterwegs, um ihnen auf die Finger zu sehen. Sergius und seine Gefolgsleute können deshalb in der Stadt machen, was sie wollen.« »Er muß sich doch vor irgend jemandem verantworten«, warf Riven ein. »Diese Männer können doch nicht mit einer ganzen Stadt nach Belieben verfahren.« »Sie tun, was man ihnen sagt«, sagte Phrynius geduldig. »Wenn sie den Befehl bekommen, diejenigen aus der Stadt zu 501
vertreiben, von denen man annimmt, daß sie zum Verborgenen Volk gehören, dann tun sie genau das.« »Aber niemand hat ihnen gesagt, wie sie das tun sollen«, murmelte Bicker, und der alte Heiler nickte. »Du sagst es. Und diese Lady aus dem Süden hält den Fürsten zwischen ihren Schenkeln gefangen. Es heißt, daß sie auch mit Sergius ein Übereinkommen getroffen hat.« »Sie angelt mittlerweile nach größeren Fischen als früher«, sagte Bicker. »Du kennst sie?« »Wir kennen sie«, sagte der dunkle Mann düster. »Ein Grund mehr, Talisker so schnell wie möglich zu verlassen.« »Ihr kommt aus dem Süden«, sagte Phrynius. »Wie ist es den Rorims dort ergangen? Ist es wahr, daß einige von ihnen überrannt worden sind?« »Nein. Das sind die Lügen von Lady Jinneth. Die westlichen Rorims haben sich zusammengeschlossen.« Bicker erzählte kurz, was sich in den letzten Monaten im Süden von Minginish zugetragen hatte, sparte aber Riven und seine Rolle in den Ereignissen aus. Phrynius wirkte zuerst erleichtert, dann packte ihn flammende Wut. »Diese ganze Hysterie wird also noch von Lügen gefördert! Manchmal habe ich das Gefühl, daß diese Säuberungen in erster Linie politische Gründe haben.« 502
»Wie ist es damals überhaupt dazu gekommen?« fragte Riven. Der alte Mann zog an seiner Pfeife, aber sie war erloschen. Er stieß einen kurzen Fluch aus. »Vor achtundzwanzig Jahren erschienen seltsame Zeichen am Himmel, und in den Bergen tauchten wilde Bestien auf. Jungen, unberührten Mädchen wurden Kinder geboren. Die Magie meines Volkes versagte plötzlich. Es war etwas in der Luft, das sie besiegte. Die Leute bekamen Angst. Menschen, die Kräfte hatten, wie man sie mir nachsagt, wurden gemieden, gefürchtet und schließlich gehaßt. Sie wurden aus ihren Häusern geholt und in die Wildnis gejagt. Einige endeten auf dem Scheiterhaufen. Andere verschwanden in den Bergen und wurden nie wieder gesehen. Einige hatten Glück, konnten entkommen und sich still verhalten, bis alles vorüber war.« Er lächelte dünn. »So wie ich. Von den anderen hat man nichts mehr gehört.« Vor achtundzwanzig Jahren. In dem Jahr, in dem Riven zur Welt gekommen war. »Herr im Himmel!« keuchte er. »Und jetzt passiert es wieder. Mitten im Sommer herrscht der Winter, und Eisriesen streifen nachts über unsere Felder. Und alles ist natürlich unsere Schuld. Wieder haben unsere heidnischen Sitten Unheil über Minginish gebracht, und dafür müssen wir bestraft werden«, sagte Phrynius mit Bitterkeit in der Stimme. »Und einige der hohen Herren benutzen die Gelegenheit, mehr Macht an sich 503
zu reißen, auch wenn sie dabei über die Leichen des Verborgenen Volkes gehen müssen.« Minginish war real, so real wie seine eigene Welt, und seine Geschichten spiegelten es nur wider — nicht umgekehrt. Aber irgend etwas lief schief. Jenseits der Bücher, der Geschichten, die Riven geschrieben hatte, geschah etwas anderes. Eine Verbindungstür, die von beiden Seiten her passierbar war, hatte sich aufgetan. Er wurde von dieser Welt, die er nie gesehen hatte, inspiriert, aber gleichzeitig bewirkten Ereignisse seines eigenen Lebens hier Veränderungen — und das durfte nicht sein! Leute wie Bragad durfte es hier nicht geben. Und Jinneth. Etwas hatte seine Romanfiguren verdorben. Rivens Vorstellungswelt vergiftete Minginish, gab ihm eine Geschichte, die es niemals hätte haben dürfen. Und Leute, die nicht hierhin gehörten. Das dunkelhaarige Mädchen, das barfuß durch die Berge streifte. Wer war sie? Jemand, der seinem Unterbewußtsein entstammte? Müde rieb er sich die Augen. Selbst wenn die Zwerge ihm seine Fragen nicht beantworten konnten, wußte er jetzt, was er zu tun hatte. Die Verbindungstür mußte geschlossen werden. Er mußte wieder in seine eigene Welt zurückkehren, und was immer für eine Nabelschnur ihn mit Minginish verband, sie mußte durchtrennt werden! Der Gedanke daran erfüllte ihn mit einer überraschend tiefen Trauer. 504
Schritte polterten die Treppe hinunter, und Finnan und Ratagan betraten wieder den Raum. Der Flußschiffer reckte sich, bis seine Finger die Decke berührten. »Ich brauche etwas Bewegung«, sagte er. »Anders als ihr, die ihr den ganzen Morgen unterwegs wart, um Söldner zu bekriegen und Mädchen zu retten, war ich hier eingesperrt — zwar in bezaubernder Gesellschaft, aber trotzdem eingesperrt. Ich werde etwas frische Luft schnappen und nachsehen, was für einen Aufruhr ihr in der Stadt ausgelöst habt, seit ich euch hierher gebracht habe.« »Ist das wirklich eine gute Idee?« fragte Bicker. »Es war nicht ich, der den Söldnern die Schädel eingeschlagen hat«, schnaubte Finnan. »Ich halte es für einen guten Plan«, sagte Phrynius. »Halt die Augen auf und steck deine Nase nicht in zu viele Tavernen. Es wäre ganz nützlich, zu erfahren, ob unsere Freunde von der Straße die Häuser des Distrikts durchsuchen, oder ähnliches.« Finnan verbeugte sich. »Farewell dann also. Vielleicht bringe ich etwas zu essen mit. Nicht alle von uns sind wie Phrynius, der von Brandy und Pfeifenrauch leben kann.« Er ging. Sie hörten ihn kurz mit Isay und Corrary reden, dann fiel die Haustür hinter ihm ins Schloß. Langsam verging der Nachmittag, und die Gefährten wurden müde. Schließlich bemerkte Phrynius, daß ihnen die Augen zufielen, und 505
führte sie ins Obergeschoß. Sein Haus war überraschend groß, und es gab oben einen Raum, in dem sie alle schlafen konnten. Sie rollten ihr Bettzeug auf dem staubigen Boden aus, legten sich hin und lauschten dem Rascheln der Mäuse hinter den Wänden. Der Abend brach an, und die Geräusche, die von der Straße her zu hören waren, verebbten langsam. Sie brachten eine Kohlenpfanne zum Glühen und hockten sich im Kreis herum. »Ein sehr altes Haus ist das«, sagte Bicker. »In einer sehr alten Stadt. Auf diesem Hügel in der Biegung des Flusses stand schon ein Turm, lange bevor es den ersten Rorim in den Dales des Südens gab, und die Leute trieben Handel auf dem Fluß, bevor die Wälder gerodet wurden, die einmal fast das ganze Land bedeckten.« »Damals gab es Magie in den Wäldern«, sagte Phrynius, und die Gefährten zuckten zusammen, denn niemand hatte gehört, daß er den Raum betreten hatte. »Es gab wunderliche Dinge in der Tiefe der Wälder, und Menschen, die sich von Blättern und Rinde ernährten und nie einen Himmel gesehen hatten, in den nicht Äste hineinragten. Doch jetzt gibt es nur noch Reste des Großen Waldes, und was sich einst dort verbarg, ist längst geflüchtet.« »Scarall Wood ist solch ein Rest«, murmelte Bicker, aber Phrynius schien ihn nicht zu hören. »Es gibt Leute, die behaupten, daß alle Magie in den Wäldern ihren Ursprung nahm, daß sie 506
durch die Wurzeln der Bäume aus der Erde stieg. Andere meinen, daß die Zwerge sie in der Erde entdeckten und den Zauber abbauten, wie man eine Silberader abbaut. All diesen Sagen ist eines gemeinsam — der Ursprung der Magie ist das Land selbst, die Erde und der Fels und die Bäume von Minginish. Die meisten Menschen haben das vergessen und verfolgen diejenigen, die sich daran erinnern. Ich habe es nicht vergessen.« Blaue Rauchwolken stiegen aus seiner Pfeife und zogen durch den rötlichen Schein der Kohlenpfanne. Sein zerfurchtes Gesicht glich in dem Zwielicht einer Walnußschale. Riven fragte sich, wie alt er sein mochte. »Ich erinnere mich an eine Zeit, in der die Welt voll war mit Zauberern und Hexen, wie man sie heute nennt. Sie waren und sind gewöhnliche Menschen mit einer außergewöhnlichen Begabung, nicht mehr und nicht weniger. Sie waren genauso ein Teil dieses Landes wie die Myrcaner, und genauso wichtig. Die Zwerge wohnten damals noch nicht so hoch in den Bergen, und sie hielten bei ihren Behausungen Märkte ab, zu denen jedermann kam, um Handel zu treiben, oder einfach nur, um sie zu bestaunen. Auch das fand mit den Säuberungen ein Ende. Die Leute trauten den Zwergen nicht mehr oder hatten Angst, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden, und die Zwerge zogen zu den höchsten Gipfeln oder verschwanden in ihren endlosen 507
Minen. Und so wurde die Welt ein Stück ärmer.« Lautes Gelächter von Passanten klang von der Straße her zu ihnen hoch. Ein Hund begann irgendwo zu bellen und entfernte sich dann kläffend, anscheinend in einen Kampf mit einem Artgenossen verwickelt. Es war wieder still. »Es ist heute abend sehr ruhig in der Stadt«, sagte Phrynius und reckte den Kopf wie ein wachsamer Fuchs. Riven warf seine Decke beiseite und erhob sich. Er ignorierte die fragenden Blicke der anderen und schlurfte aus dem Zimmer, eine Staubwolke hinter sich aufwirbelnd. Die staubige Luft kitzelte ihn im Hals, aber er unterdrückte den Hustenreiz. Irgendwie fühlte er sich verpflichtet, ruhig zu sein, so als gelte es, den letzten friedlichen Moment, den er für eine ganze Weile haben würde, auszukosten. Er kam sich sehr sterblich vor, als er die gegenüberliegende Tür öffnete und das Zimmer betrat, in dem Madra und Mereth schliefen. Zwei Umrisse in zwei schmalen Betten, ein Fenster mit Bleiglas, durch das schwaches Sternenlicht auf ihre Gesichter fiel. Er setzte sich vorsichtig auf das knarrende Bett neben Madra und beobachtete das ruhige Heben und Senken ihrer Brüste unter der Decke. Ein elfenbeinweißer Arm lag über ihrem Bauch auf der Decke. Ihr dunkles Haar lag wie eine Kapuze auf dem Kopfkissen. Sie atmete leise. Um den Hals trug sie einen Verband, und 508
Riven sah die kleine Narbe an ihrer Schläfe, wo der Myrcanerstab sie getroffen hatte, als sie um sein Leben gekämpft hatte. Er berührte die Narbe, strich dann über ihre Lippen, ihre Augenlider, über ihr Ohr. Ihm wurde klar, daß er sich in dieses herzförmige Gesicht, die trotzigen Brauen, die ruhigen Augen und das so ernste und seltene Lächeln verliebt hatte. Wie weit ist der Weg nach Babylon? Ach, hör auf, Riven. Du hast geliebt und bist geliebt worden. Das ist für jeden genug. Genug für ein ganzes Leben. Die Umrisse des Mädchens in dem Bett verschwammen vor seinen tränennassen Augen. Wenn Wünsche Pferde wären, würden Bettler reiten. Er stand auf und ging langsam zurück zu den anderen. Langsam verging die Nacht. Die Gefährten fanden keinen Schlaf, fragten sich, wo Finnan blieb. »Wahrscheinlich hat er ein Mädchen gefunden und kann sich jetzt nicht von ihr losreißen«, vermutete Phrynius, aber die gewaltigen Rauchwolken, die er ausstieß, verrieten, daß auch er beunruhigt war. Sie hielten abwechselnd Wache an der Tür, und Corrary hatte gerade Ratagan abgelöst, als sie Lärm von der Straße her hörten. Ihre leise Unterhaltung erstarb, und gespannt lagen sie im schwachroten Licht der glühenden Kohlen. 509
Das Schlurfen von Schritten auf dem Pflaster der Straße, murmelnde Stimmen, das Klirren von Metall. Sie rührten sich nicht. Unbemerkt stieg ein Rauchfaden aus Phrynius' Pfeife auf. Dann ertönte unten ein Krachen, und Männer schrien durcheinander. Schwere Schläge ließen Holz splittern, dann klirrten Waffen. Corrarys Stimme klang durch den Tumult zu ihnen. Er rief nach Bicker. Die Gefährten sprangen auf die Füße und rissen ihre Waffen aus den Scheiden. Phrynius tanzte im Dämmerlicht wie ein Kobold vor ihnen herum. »Folgt mir, schnell! Wir müssen nach unten. Er gibt im Keller einen Fluchtweg!« Sie konnten ihn kaum verstehen. Ratagan und Riven schossen durch die Tür ins Treppenhaus, um Madra und Mereth zu holen, aber sie kamen nicht weit. Bewaffnete Männer, Schutztruppen und Söldner, bevölkerten das Treppenhaus. Ratagan brüllte wütend und fuhr zwischen sie wie ein gereizter Stier. Mehrere der Eindringlinge stürzten polternd auf die Bodenbretter. Einer der stehengebliebenen Soldaten ließ sein Schwert auf Ratagans Rücken niedersausen, aber Riven konnte den Schlag im letzten Moment mit seiner eigenen Waffe parieren. Ein heftiger Schlag durchzuckte seinen Arm, und das Schwert seines Gegners prallte mit einem Funkenregen ab und wurde gegen den Putz der Wand geschleudert. 510
Bicker und Isay kamen ihnen jetzt zu Hilfe. Das Treppenhaus war ein Durcheinander von liegenden und kämpfenden Gestalten, von blitzenden Waffen und schreienden Männern, die versuchten, Freund und Feind auseinanderzuhalten. »Lebend!« schrie jemand. »Wir müssen sie lebend haben!« Ratagan versuchte, auf die Beine zu kommen, während Soldaten in Rüstungen unablässig auf ihn einschlugen. Riven sah, wie ein Schwertknauf ihn an der Schläfe traf und dort eine klaffende Wunde riß. Immer mehr Gestalten eilten die enge Treppe hoch. Einige von ihnen traten die andere Tür am Treppenabsatz ein und drängten sich in den Raum. Eine Frau schrie. Irgend etwas in Riven zerbrach. Er duckte sich und sprang über den am Boden liegenden Ratagan hinweg, dicht gefolgt von Bicker und Isay. Sein Schwert beschrieb einen kurzen Bogen und spaltete den Schädel eines seiner Gegner. Er holte erneut aus und traf einen anderen Soldaten vor den Brustharnisch. Eine mit einem Kettenhandschuh bekleidete Faust traf sein Ohr, und ein Dröhnen füllte seinen Kopf, betäubte ihn. Er sah einige stämmige Gestalten die Treppe hinunterpoltern, sich heftig wehrende Körper über die Schultern geworfen, sah Madras langes Haar über den Rücken eines Söldners fallen und stürmte vorwärts, Blutgeschmack im Mund und mit 511
einer rasenden Wut, die ihm zusätzliche Kräfte verlieh. Er prallte gegen einen gepanzerten Oberkörper und stürzte zu Boden, als ihn ein Faustschlag am Kinn traf. Sein Gegner wandte sich mit einem freudigen Gesichtsausdruck gegen ihn, als Isays Stab wie der Kopf einer Schlange vorzuckte und ihn zwischen die Augen traf und gegen die beiden Männer schleuderte, die hinter ihm standen. Isay sprang vor und landete zwischen den taumelnden Männern. Sie wichen zurück. Einer fiel mit klirrender Rüstung rücklings die Treppe hinunter. Der Myrcaner packte seinen Stab noch fester und stieß ihn seinen Gegnern ins Gesicht. Zahlreiche Körper lagen schon auf dem Boden, und doch drangen immer mehr Soldaten auf sie ein. Sie konzentrierten sich auf Isay und griffen nach ihm, ohne sich um die wilden Schläge zu kümmern, die er austeilte. Er taumelte unter der Übermacht, und mit einem lauten Schrei der Wut und Enttäuschung fiel er schließlich zu Boden, ein halbes Dutzend Männer über sich und unter einem Hagel von Hieben. Mit einer letzten Kraftanstrengung schleuderte er einen seiner Gegner zurück, und dieser prallte gegen Riven, der unter dem Gewicht des metallbewehrten Körpers erneut stürzte. Sein Puls schlug wie ein Hammer in seiner Schläfe. Er sah Bicker vorwärtsstürmen, das Schwert wie eine zuckende Nadel in der Hand, und den alten Luib, der immer noch tapfer um sich hieb. 512
Doch dann splitterte Glas, und weitere Gegner zwängten sich durch das Fenster am Treppenabsatz. Riven versuchte, einen Warnruf auszustoßen, aber er brachte keinen Ton über die Lippen und mußte hilflos mit ansehen, wie Luib von hinten niedergeschlagen wurde und wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Bicker wirbelte herum, und eine Blutfontaine schoß aus dem Hals eines der neuen Angreifer, aber er kämpfte jetzt allein, und die Gegner stürmten von zwei Seiten über die Körper ihrer gefallenen Kameraden auf ihn ein. Ein Fuß traf Riven am Kopf und preßte sein Gesicht auf den Holzboden, und für einen Augenblick konnte er nichts mehr sehen oder hören, spürte das Toben des Kampfes nur noch an den Vibrationen der Bodenbretter. Dann hörte auch das auf. Das letzte, was er deutlich sah, war das Gesicht des Söldners, der als letzter die Treppe hinaufgekommen war. Er grinste breit und zeigte seine Zahnlücke. Schwarzes Haar fiel ihm in Locken in die Stirn. Freudig erregt begann er, dem bewußtlosen Ratagan ins Gesicht zu treten.
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FÜNFZEHNTES KAPITEL Das Blut pochte in seinem Schädel wie glühendes Blei. Er spürte, wie es versuchte, seine Schläfen zu sprengen. Es bewegte sich in Wellen von Licht und Dunkelheit vor seinen geschlossenen Augen. Ein krächzendes Stöhnen drang aus seiner ausgedörrten Kehle. Langsam nahm er andere Dinge wahr. Seine Arme waren völlig überdehnt, und ein Druck lastete auf seinem Brustkorb. Ein stechender Schmerz in seinen Handgelenken. Das Gewicht seiner gefühllosen Beine, die ihn nach unten zerrten. Eine schwache Neugier wuchs in ihm. Er versuchte, die Augen zu öffnen, aber sie waren wie zugeklebt. Hinter den Lidern war Licht, unruhiges Fackellicht; sie hatten ihn also wenigstens nicht geblendet. Seine Finger zuckten, und er hörte das Rasseln von Metall. Seine Handfesseln verrutschten ein wenig und schnitten ihm tief in die aufgerissene Haut. Er hätte fast aufgeschrien. Aber der Schmerz half. Er verdrängte das Pochen in seinem Kopf, warf Licht in sein dämmriges Bewußtsein. Er konzentrierte sich darauf, die Beine zu bewegen. Ein schmerzhaftes Prickeln durchlief sie, als die Blutzirkulation wieder einsetzte, und er biß die 514
Zähne zusammen, wobei ein stechender Schmerz seinen Kiefer durchzuckte. Sein Bewußtsein verschwamm für einen Augenblick, und er war wieder in Beechfield, wo Metallstäbe sein Gesicht zusammenhielten. Doch auch diesen Schmerz hatte er besiegt. Es war eine harte, aber gute Schule gewesen. Er kam auf die Füße und stemmte sich hoch. Sofort wurden die an die Wand geketteten Arme entlastet, und der schneidende Druck der Handfesseln ließ nach. Luft strömte in seine Lungen, und er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und atmete tief durch. Noch bist du nicht erledigt. Seine Fesseln ließen ihm genügend Spielraum, um mit einer Hand das Gesicht zu betasten. Er griff nach seinen blutverkrusteten Augen und schob mit einer schnellen Bewegung ein Lid nach oben. Er wartete einen Moment, bis der Schmerz nachließ, und verfuhr dann mit dem anderen blutverklebten Auge genauso. Er befand sich in einem düsteren Raum mit Steinwänden, der etwa zehn Quadratmeter groß war. Ihm gegenüber befand sich eine eiserne Tür, die vor Feuchtigkeit glänzte. Der Boden der Zelle war mit Stroh belegt, und Wasser rann die Wände herunter. Das Licht kam von einer einzelnen Fackel, die rechts von ihm in einem Halter steckte. Kein Laut war zu hören. Ein Kerker. Ein echter Kerker. Großartig. Er war allein. 515
Kein Geräusch. Kein Klirren von Schlüsseln, keine Klagerufe, keine schwätzenden Wärter. Ein fürchterlicher Gedanke durchfuhr ihn. Sie wollen mich hier sterben lassen. Ratagan, Bicker, wo waren sie? Er sah wieder vor sich, wie Isay zu Boden gegangen war, sah Madra auf der Schulter des Söldners. Wo waren sie? Panik drohte in ihm hochzusteigen, aber er unterdrückte sie mit aller Macht. Herr im Himmel, bin ich durstig. Seine trockene Zunge fuhr über die wunden Lippen. In so einem Zustand war er nicht gewesen, seit — seit er vom Berg gefallen war. Riven stieß einen lauten Fluch aus. Seine Stimme klang merkwürdig in dem stillen Raum. Fiepend schob sich eine Ratte durch das Stroh auf dem Zellenboden. Sie setzte sich auf ihre Hinterbeine, sah ihn an und fiepte wieder. »Verpiß dich«, sagte er finster. Die Ratte schoß davon und verschwand in der Ecke. Er sah, daß dort ein Abflußgitter war, das eine Seitenlänge von etwa vierzig Zentimetern hatte, und wenn er seine Füße in dem Stroh nicht bewegte, konnte er das schwache Geräusch von fließendem Wasser hören. Es war das einzige Geräusch, das er überhaupt vernahm. Er wünschte sich, die Ratte wäre dageblieben und hätte weiter gepiepst. Die Zeit verging. Die Fackel brannte langsam herunter. Sie würde bald abgebrannt sein. 516
Sein Durst wurde immer schlimmer, und das Stehen ermüdete seine Beine, aber er wagte nicht, sich zu setzen. Seine Handgelenke waren wie rohes Fleisch. Wieder stieg Panik in ihm hoch, und die Sorge um die anderen. War Madra auch in so einer Zelle? Vielleicht genoß sie die besondere Aufmerksamkeit ihrer Wärter. Der Gedanke ließ ihn an seinen Fesseln zerren, ohne auf den Schmerz zu achten. Er brüllte und schrie, spürte die feuchte Luft in seiner trockenen Kehle und verstummte dann. Die Stunden vergingen. Die Fackel begann zu tropfen, zischte und erlosch schließlich, ließ ihn in einer undurchdringlichen Finsternis zurück. Unwillkürlich stieg ein Wimmern in ihm hoch. Er unterdrückte es und stieß ein trotziges Knurren aus. Irgendwann klapperte es an der Tür, und ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Sein Herz schlug schneller. Die Tür schwang auf, und ein Lichtschimmer war zu sehen. Er ging von einem Kienspan aus, den jemand in der Hand hielt, und ließ Finger, einen dunklen Ärmel und eine Kapuze erkennen. Die Tür wurde wieder geschlossen. Der Kienspan wurde an der Wand befestigt, und die mönchsgleiche Gestalt kam auf ihn zu. Unwillkürlich wich er an die Wand zurück. Die Kapuze wurde zurückgeworfen, und er sah Jinneth vor sich. Licht und Schatten flackerten über ihr Gesicht, und zwei Diamanten schimmerten an ihren Ohrläppchen. 517
Sie ging auf ihn zu, bis ihr Umhang seine Brust berührte, und hob den Kopf. »Sei gegrüßt, Michael Riven«, flüsterte sie mit seidenweicher Stimme. »Ich habe dir ja gesagt, daß wir uns wiedersehen. Wie gefällt dir deine neue Unterkunft?« Er konnte nichts sagen, rang nach Luft. Tränen traten in seine blutverklebten Augen und liefen ihm über die Wangen. Dieses Gesicht hatte er einmal geliebt, ein Gesicht, das er nie wieder zu sehen erwartet hatte. Und doch war es jetzt hier vor ihm, und die Flammen spiegelten sich darin, als wäre es der Schimmer des Torffeuers in der Hütte. Und er haßte dieses Gesicht. »Du bist nicht meine Frau«, krächzte er und sah, wie sich ihre Augen für einen Moment vor Erstaunen weiteten. »In der Tat«, sagte sie gefühlvoll. »Ich bin jetzt niemandes Frau.« Ihre Stimme wurde scharf. »Dafür haben du und deine Freunde gesorgt.« »Wo sind sie? Was habt ihr mit ihnen gemacht?« Sie lächelte. »Sie leben noch, sei unbesorgt.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Wie findest du diese Ironie des Schicksals? Ich muß vor euch fliehen und bekomme euch ohne mein Zutun in die Hände.« »Wunderbar«, knirschte er. Ihre Nähe verwirrte ihn. Er ahnte die Wärme unter ihrem dicken Umhang, roch das Parfüm an ihrem Hals. 518
»Wer bist du?« fragte sie ihn. Sie hatte ihm diese Frage schon einmal gestellt. »Wo kommst du her?« Er starrte sie lange an, erinnerte sich an einen anderen Ausdruck auf diesem Gesicht, einen anderen Blick dieser Augen. Er hörte ein Lachen, das vor langer Zeit am Fuß eines Bergs für immer verstummt war. »Ich bin Michael Riven aus Camasunary auf der Isle of Skye, und ich bin ein Geschichtenerzähler«, sagte er mit klarer Stimme. Er spürte, daß er mit dieser Feststellung eine Art Bekenntnis ablegte. Ein Bekenntnis zu einer bestimmten Verhaltensweise vielleicht. Einer bestimmten Schlußfolgerung. Aber das kümmerte ihn jetzt nicht. Er wußte, wer er war und was er tat, und das genügte. »Seltsame Namen«, fand Jinneth. Ihre Augen leuchteten merkwürdig. Sie hob die Hand, und er zuckte zurück, aber sie strich nur zärtlich über die alten Narben auf seiner Stirn. Ein Ausdruck der Verwunderung lag auf ihrem Gesicht. Geronnenes Blut löste sich unter ihrer Berührung. Sein Herz klopfte wie rasend, als er sich zu ihr herunterbeugte und ihre Lippen sich im gewohnten Winkel trafen. Sie wich ihm nicht aus. Ihre Zungen trafen sich. Seine Lippen begannen wieder zu bluten, er spürte den bitteren Geschmack auf der Zunge. Seine Fesseln rasselten. Er hatte genug Bewegungsfreiheit, um ihr mit einer Hand 519
durch das volle dunkle Haar zu streichen, ihr mit dem Finger über den Nacken zu streichen — und dann zog sie den Kopf zurück. Er hätte weinen können. Für einen Augenblick, einen winzigen Augenblick nur hatte er seine tote Frau geküßt! Ein harter, grausamer Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht. So hatte er sie noch nie gesehen. Dann lächelte sie wieder und wurde eine Fremde, eine Feindin. Seine Trauer machte wachsendem Ärger Platz. »Du Hexe!« flüsterte er. Ihre Lippen waren von seinem Blut verschmiert. Sie sah aus wie ein Vampir. »Ich möchte mehr wissen«, sagte sie. »Es gibt viele Dinge, die ich wissen möchte. Ich möchte wissen, warum du und deine Freunde hier seid, und wohin ihr unterwegs seid. Du wirst es mir sagen.« »Geh zur Hölle.« »Du wirst es mir sagen, Geschichtenerzähler. Ansonsten wird das mißmutige Mädchen, das sich in eurer Begleitung befindet — und das dir nicht gleichgültig ist, wie ich glaube — für eine Weile unseren Leihschwertern überlassen. Wir werden dann sehen, ob die Aufmerksamkeiten von einem Dutzend Söldner sie nicht ein wenig aufheitern können.« Hilflos ballte er die Fäuste in seinen Fesseln. Seine Augen funkelten, aber er zwang sich zu schweigen. »Du bist eigensinnig und stolz. Das sind eigentlich keine schlechten Eigenschaften für 520
einen Mann, aber in deiner gegenwärtigen Situation sind sie wohl kaum angemessen. Ich werde dich für eine Weile im Dunklen darüber nachdenken lassen. Die Vernunft kommt manchmal schneller, wenn man ohne irgendwelche Ablenkungen sich selbst überlassen ist. Für jetzt, Farewell.« Sie knickste vor ihm, als wäre er ein Prinz. Dann schlug sie die Kapuze wieder hoch, nahm den Kienspan von der Wand und überließ ihn der Finsternis. Er konnte keine Schritte hören, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, und hatte auch keine gehört, als sie gekommen war. Wahrscheinlich hielt die schwere Tür alle Geräusche ab. Das war ein kleiner Trost. Es bedeutete, daß er nicht notwendigerweise von den anderen isoliert war. Sie konnten in einer Nebenzelle sitzen oder ein Stück den Flur hinunter. Er lehnte sich an die Wand. Seine Beine zitterten vor Erschöpfung. Was führte sie im Schilde? Was hoffte sie zu erreichen? Außer Vergeltung natürlich. Vielleicht hielt sie ihn für einen mächtigen Zauberer und hoffte, ihn für ihre eigenen Zwecke einspannen zu können. Aber hätte ein mächtiger Zauberer sich wirklich so einfach überwältigen lassen? Er bewegte seine Hände in den Fesseln, bis das Eisen ihm in die Handgelenke schnitt. Sie würde Madra etwas antun. Kein Geheimnis war das wert. 521
Es war geradezu unheimlich. Die Frau, die das Ebenbild seiner Ehefrau war, würde dem Mädchen etwas antun, in das er sich verliebt hatte. Strafe für Ehebruch. Sein heiseres Lachen klang durch die Zelle, hallte von den Wänden zurück. Und brach plötzlich ab. Er hörte ein Geräusch in der Zelle — das Scharren von Eisen auf Stein. Er erstarrte, und sein Blick versuchte vergebens, die Finsternis zu durchdringen. Dann roch er es. Ein leichter Rauchgeruch zog durch die abgestandene Luft. Der Geruch von Phrynius´ Pfeife. Eisen klirrte in der Ecke, und jemand holte scharf Luft. Eine Stimme fluchte voller Abscheu. »Verfluchter Abflußdreck!« Das Stroh raschelte. »Phrynius!« rief Riven. »Sei bloß ruhig! Bei allem was heilig ist, ich bin zu alt, um durch Abwasserrohre zu kriechen und Umgang mit Ratten zu pflegen — auch wenn es höfliche Ratten sind. Ein Mann in meiner Position! Was sind das nur für Zeiten!« Riven spürte einen stinkenden Lufthauch im Gesicht und fuhr dann zusammen, als sich eine knochige Hand auf seine Schulter legte. »Licht. Einen Moment.« Etwas begann in der Zelle zu glühen, wurde zu einem blauweißen Strahlen. Es war ein Strohbündel. Der Heiler hielt es hoch, und es 522
leuchtete wie eine Laterne. Er musterte es kritisch und nickte dann. »Zauberei«, hauchte Riven. Absurderweise war ihm zum Lachen zumute. »Aye, Zauberei.« Der Heiler ließ seinen Blick über ihn schweifen und seufzte dann. »Du steckst ganz schön in der Klemme. Ich habe den Besuch der Wölfin mitbekommen.« »Sie ist jetzt weg.« »In der Tat. Wir haben also etwas Zeit.« »Wo sind die anderen? Hast du sie gesehen? Geht es ihnen gut?« Phrynius legte seinen langen Zeigefinger vor die Lippen und berührte dann Rivens Handfesseln mit der Spitze des glühenden Strohbündels. Sofort lösten sie sich von seinen Handgelenken und klirrten gegen die Wand. Ein Zucken durchfuhr den alten Mann. Riven sackte zusammen und fiel auf die Knie. »Dafür ist jetzt keine Zeit«, zischte Phrynius. »Wir beide haben etwas zu erledigen. Wir müssen hier weg und uns mit Leuten treffen.« Er wirkte diabolisch, als er im unheimlichen Licht des Strohbündels kurz auflachte. »Komm!« Mit erstaunlicher Kraft half er Riven auf die Beine. »Wo sind wir?« fragte Riven. »In den Verließen des Fürsten. Ich kenne sie gut.« Phrynius kicherte wieder. »Er pflegte mich gelegentlich hier einzusperren, wenn er nicht schnell genug gesund wurde, aber dann brauchte er meine Dienste doch wieder.« Sein Blick wurde verdrießlich. »Ich weiß gar nicht, 523
warum ich dir hier heraushelfen muß. Du hast genug Magie in dir, um dich und deine Freunde zehnmal zu befreien — wenn du sie nur anwenden könntest.« Er ließ seinen Blick über die Wände schweifen. »Das hier war meine Zelle. Wasser fließt in den hohlen Mauern, über der Decke und im Abfluß unter dem Boden.« Er grinste. »Eine Zelle, die für Magie wie geschaffen ist, aber niemand braucht magische Kräfte, um ein Abflußgitter zu entfernen. Diese Idioten. Ich habe es nie über mich gebracht, es ihnen zu verraten, aber sie haben mich auch nie lange hier eingesperrt. Der Fürst pflegte es eine Züchtigung zu nennen. Und nachher füllte er mich immer mit Glühwein ab und entschuldigte sich. Adlige sind merkwürdige Menschen.« »Die Tür«, sagte Riven. »Kannst du sie öffnen?« »O nein, mein Junge. Auch in ihr befindet sich Wasser — und Bannsprüche schützen sie. Der Fürst hat oder hatte eigene Magier. Nein, durch die Tür werden wir nicht gehen.« Er hielt das glühende Strohbündel in die Ecke der Zelle, wo neben dem beiseite geschobenen Abflußgitter ein Loch gähnte. »Die Abwässerkanäle«, sagte Riven langsam. Phrynius nickte. Seine schwarzen Augen glänzten. »Sie führen bis zu meinem Haus. Wir könnten bis dorthin gehen, wenn sie es nicht niedergebrannt hätten.« »Wie bist du entkommen?« 524
»Ihre Augen haben mich nicht gesehen. Soldaten sind gleichgültige Geschöpfe. Ich mußte mich nicht besonders anstrengen. Du und deine Freunde habt ihnen ein so heißes Gefecht geliefert, daß sie keine große Lust hatten, länger als unbedingt erforderlich zu bleiben. Sie haben mein Haus in Brand gesteckt, dann machten sie sich davon, eure zusammengeschnürten Körper auf einen Wagen gepackt.« »Es tut mir leid.« »Schon gut«, sagte Phrynius mit klarer Stimme. »Ich habe die wichtigsten meiner Bücher gerettet, und ein paar andere Dinge sind noch dort, in Eisenkisten im Keller vergraben. Sie sind gut aufgehoben. Im Augenblick steht mir der Sinn mehr nach Freiheit für dich und deine Freunde. Und besonders für die beiden Mädchen.« Sein Blick verdüsterte sich. »Dies hier ist kein guter Ort für sie. Es gibt für Frauen schlimmere Dinge als den Tod. Komm jetzt also.« Er schob Riven in die Ecke und spähte hinab in den Schacht, in dem das Abwasser gurgelte. »Ich schaffe es nicht dort hinunter«, protestierte Riven. »Ich denke doch«, erwiderte der Heiler und begann, in das enge Loch zu klettern. Er stöhnte und verzog das Gesicht vor Anstrengung. Das letzte, was Riven von ihm sah, waren die knochigen Finger, die den Rand des Abflusses umklammerten. Dann 525
verschwanden sie. Von unten ertönte ein Platschen und eine Serie von Flüchen. »Komm jetzt. Wir haben nicht alle Zeit der Welt!« Die Stimme des alten Mannes hallte aus der feuchten Dunkelheit. Jetzt fluchte Riven. Das Loch war zu eng. Dennoch ließ er seine Beine hindurch. Seine aufgeschürften Handgelenke brannten dabei wie Feuer. Er zwängte sich mit der Hüfte durch die Öffnung, dann schrammten seine Schultern über den Rand des Loches. Er drehte sich, voller Angst steckenzubleiben. Kaltes Wasser umschloß seine Füße, und er fragte sich, wie tief es war. Dann spürte er, wie Phrynius' Hände nach seinen Beinen griffen. Plötzlich schoß er durch die Öffnung wie ein Korken aus der Flasche und riß den Heiler mit sich, als er in das aufspritzende Wasser stürzte. Aber Phrynius tauchte sofort wieder auf. Das glühende Stroh hatte er zwischen die Zähne geklemmt. Übelriechende Flüssigkeit tropfte von ihm herab. »Pfui!« Er nahm das Stroh aus dem Mund. »Du bist ungeschickt wie eine schwangere Kuh und hast keine Ahnung von deinen Möglichkeiten. Aber dafür haben wir keine Zeit. Schieb das Gitter wieder auf den Abfluß, und laß uns aufbrechen.« Riven folgte dieser Aufforderung. Der Gestank in dem Abwasserkanal verschlug ihm den Atem. Sie befanden sich in einem halbrunden Tunnel, der etwa ein Meter achtzig hoch war. Die Wände waren von Unrat 526
verschmiert, und das widerlich stinkende Wasser stand etwa einen halben Meter hoch. Das gelegentliche Platschen einer vorbeischwimmenden Ratte war das einzige Geräusch, das zu hören war. Das Wasser, das träge an ihren Beinen vorbeifloß, war ziemlich dickflüssig, und Riven schauderte bei dem Gedanken daran, daß es seine offenen Wunden umspülte. Er platschte hinter Phrynius durch den Abwasserkanal, folgte dem tanzenden Licht des Strohbündels. Der Kanal wurde allmählich niedriger, und bald mußte er sich bücken, während der alte Heiler vor ihm noch immer aufrecht gehen konnte. »Wie weit sind die anderen von uns entfernt?« flüsterte er. Seine Stimme hallte von den runden Wänden zurück und mischte sich mit dem Plätschern und Gluckern des Wassers zu einem grotesken Geräusch. »Nicht weit«, antwortete Phrynius zischend. »Wir werden erst ein paar Freunde treffen. Sei jetzt still. Wir sind genau unter den tiefergelegenen Unterkünften der Stadtwachen.« Wie zum Beweis dieser Feststellung ergoß sich in diesem Moment ein Wasserschwall durch eine Öffnung über ihnen, und Riven mußte beiseite springen, um nicht getroffen zu werden. Der Geruch ließ ihn würgen, und er meinte zu sehen, daß Phrynius grinste.
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»Jemand hat eine Latrine ausgeleert.« Der Heiler drehte sich um und führte ihn weiter den Gang entlang. Riven bemerkte, daß unterwegs links und rechts andere Tunnel abzweigten. Manche waren so breit wie Straßen, andere nur Rohre, die von Dreck und Unrat fast verstopft waren. Manchmal fiel durch Abflußgitter auf einer Straße über ihnen Mondlicht in den Tunnel. Sonst war es stockfinster. An einigen Stellen waren Ziegelsteine aus den Seitenwänden des Tunnels gebrochen, und die nachgerutschte Erde blockierte den Weg, so daß sie mühsam durch den Engpaß kriechen mußten. Insgesamt wurden die Tunnel, denen sie folgten, enger und niedriger und führten mehr Wasser. Immer mehr Ratten tauchten auf. Riven spürte instinktiv, daß sie immer tiefer gerieten, sich mittlerweile weit unterhalb der Stadt bewegten. Er fragte sich, wie tief die Kanalisation reichte. Schließlich blieben sie stehen. Der enge Tunnel, durch den sie sich bewegten, führte steil nach unten, und das dreckige Wasser stieg bis zur Decke. Es schien kein Weg weiterzuführen. Phrynius wirkte jedoch erfreut. »Wir sind fast da«, sagte er mit offensichtlicher Befriedigung. Riven sah ihn mit finsterer Miene an. »Du meinst ...« »In der Tat. Wir müssen durchs Wasser weiter. Man muß nur kurz tauchen, obwohl es 528
natürlich für jemanden mit schwachen Nerven etwas aufregend sein könnte.« Riven fluchte. »Halt für zwanzig Sekunden die Luft an und taste dich an der Decke des Tunnels entlang nach oben«, sagte der alte Mann ruhig. »Es wird dir nichts passieren.« Ohne weitere Erklärungen tauchte er wie eine erfahrene Ratte in das schwarze Wasser, das glühende Stroh noch immer umklammernd. Riven sah es noch für einen Augenblick unter Wasser leuchten, dann verschwand es und ließ ihn in pechschwarzer Finsternis zurück. Unschlüssig stand er eine halbe Minute lang in dem kalten stinkenden Wasser und verfluchte alle Umstände, die ihn in diese Situation gebracht hatten. Dann tauchte er. Es war eiskalt. Das Wasser umschloß ihn wie eine eisige Klammer, und er strampelte heftig mit den Beinen und tastete sich an der Wand des Tunnels entlang. Er hielt die Augen geschlossen, um sie nicht dem Abwasser aussetzen zu müssen. Schon nach ein paar Sekunden spürte er einen Luftzug im Gesicht. Wassertretend atmete er tief durch und wischte sich Unrat aus den Augen. Es gab hier Licht — echtes Licht. Ein Feuer brannte, und ein paar Gestalten bewegten sich davor. Zwei von ihnen bückten sich und ergriffen seine Arme, zogen ihn aus dem Wasser und legten ihn auf den Steinboden wie einen gestrandeten Fisch. Er 529
wischte sich die Strähnen seines nassen Haars aus dem Gesicht und sah sich um. Phrynius stand bei den anderen am Feuer, einen Mantel um die schmalen Schultern, und streckte seine Hände den Flammen entgegen. Die Leute neben ihm waren noch kleiner als er, hatten die Figur von Kindern. Und ihre Gesichter ... Sie hatten schwarze knopfgleiche Nasen, die auf haarigen Schnauzen saßen. Ihre tiefliegenden Augen waren sehr groß, und ihre spitzen Ohren muschelförmig gebogen. Sie hatten Nagetiergesichter. Nagetiergesichter und Kinderkörper. Riven schüttelte den Kopf, als ihn zwei von ihnen zum Feuer führten. Im Schein der Flammen bemerkte er eine runde Ziegelmauer, die sich wie ein riesiger Bienenkorb um sie erhob. Die Decke verlor sich in der Dunkelheit. Eine Gänsehaut überlief ihn, und er rückte dicht an das Feuer. Zitternd stand er davor und nahm wortlos einen dicken trockenen Mantel entgegen. Vyrmänner. Das Rattenvolk. Sie lebten in den Ruinen und Abwasserkanälen der Städte von Minginish. Sie waren seine Geschöpfe, auch wenn er nie von ihnen geschrieben hatte. Er hatte ihr Erscheinen für sein drittes Buch geplant, als die Mission zur Rettung des Landes sich dem Ende nähern sollte. Vielleicht schreibt jemand anderer für mich. Vielleicht bin ich jetzt auch nur noch eine Romanfigur. Der Gedanke ließ ihn frösteln. 530
Auf jeden Fall schienen sie freundlich zu sein. Mindestens fünf oder sechs der schmächtigen Gestalten hielten sich in dem Raum auf. Phrynius führte mit einem von ihnen eine Unterhaltung, die wie eine Serie von Quietschern und Piepsern klang. Die anderen waren damit beschäftigt, Bündel von Ölhäuten auszupacken. Sie standen außerhalb des Lichtscheins, den das Feuer warf, doch Riven sah, daß der Widerschein der Flammen ihre Augen wie grüne Lampen leuchten ließ. Diese Dinge waren nur eine Idee in meinem Kopf. Ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, sie aufzuschreiben. Er nahm die Wärme des Feuers in sich auf. Minginish führte ihn wieder an der Nase herum. Phrynius beendete seine Unterhaltung und wandte sich Riven zu. »Nun, Geschichtenerzähler, dies hier ist Quoy, Stoßtruppführer des Vyr-Volkes, das manche die Vyrmänner nennen. Er ist ein Freund von mir, und wir befinden uns an einem der Zufluchtsorte, die er und sein Volk auf ihren Streifzügen tief unter Talisker benutzen. Dieser Ort ist Teil des Straßensystems der alten Stadt, die längst versunken ist und von der neuen Stadt überbaut wurde. Hier leben die Vyrmänner seit Jahrhunderten, versteckt vor den Augen des Volkes unserer Welt.«
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Fragen brannten Riven auf der Zunge, aber er schwieg. Die Sorge um seine Freunde nagte an ihm. Zu seiner Überraschung begann Quoy zu sprechen, mit einer schrillen, piepsigen Stimme, die nicht zu seinen tiefliegenden, grünleuchtenden Augen paßte. »Wir haben herausgefunden, wo sich deine Freunde befinden, und bereiten in diesem Moment ihre Befreiung vor. Sie sind im oberen Bereich des Verlieses in Einzelzellen eingesperrt. So weit wir es beurteilen können, ist keinem von ihnen etwas Ernsthaftes widerfahren, obwohl sie, genau wie du, einige Unbequemlichkeiten zu ertragen hatten.« Unbequemlichkeiten. So kann man es auch bezeichnen. »Wann brechen wir auf?« fragte Riven. Quoy blinzelte langsam und warf Phrynius einen Blick zu. »Wird er uns begleiten?« Der Heiler machte eine finstere Miene. »Ich denke nicht. Er ist nicht in der Lage, durch die Abwasserkanäle zu rennen und sich möglicherweise mit Söldnern herumzuschlagen. Er ist auf dem Weg hierher über seine eigenen Füße gestolpert. Es ist besser, du und dein Volk kümmert euch alleine darum.« Riven schluckte seinen Ärger hinunter. »Es sind meine Freunde. Sie sind nur meinetwegen in dieser Klemme. Ich werde mitgehen.« Phrynius schüttelte den Kopf. »Glaube mir, das wäre kein weiser Entschluß. Außerdem kannst du deinen Freunden besser helfen, 532
wenn du hierbleibst. Da gibt es jemanden, den du treffen mußt.« Er nickte Quoy zu, und der Vyrmann ging hinüber zu seinen Kameraden, die noch immer mit ihrer Arbeit beschäftigt waren. Metall blitzte auf, und Riven sah, daß sie Waffen und Drahtschlingen auspackten. Verbittert sah er Phrynius an. »Wen soll ich denn treffen?« »Quirinus«, erwiderte der alte Mann. »Und jetzt sei still und versuche, ein wenig zu trocknen.« Nach einer Weile begaben sich die meisten der Vyrmänner zu dem unter Wasser liegenden Ausgang des Raums und tauchten mit einem leisen Platschen hinein. Sie trugen glänzende Drähte, die Riven als Würgeschlingen identifizierte, und dünne Stahlwaffen, die Spießen ähnlicher sahen als Schwertern. Drei von ihnen blieben auf ihren mageren Hinterteilen am Feuer sitzen und betrachteten ihn schweigend. Er sah, daß sie lange dünne Hände hatten, die ganz von Haaren bedeckt waren. Die Finger endeten in schwarzen, scharfen Nägeln. Er fühlte sich unter ihren Blicken unbehaglich und wandte sich an Phrynius. Der alte Mann rauchte seine geschwungene Pfeife. Schwacher Dampf stieg aus seinen nassen Kleidern auf. »Wie werden sie die anderen retten?« fragte Riven verärgert. Er fühlte sich überflüssig und 533
unwohl, aber Phrynius schien unbesorgt zu sein. »Überall unter der Stadt gibt es geheime Durchgänge und Tunnel«, sagte er und stieß Qualmwolken aus. »Und nirgendwo gibt es mehr davon, als unter der Turmfestung des Fürsten. Seine Kerker sind nur die oberste Ebene der Gänge und Kammern, die sich tief in den Berg bohren, auf dem die Stadt liegt. Es wird behauptet, daß es die Zwerge waren, die die ersten Gänge anlegten, damals, als noch Wälder die Erde bedeckten. Niemand ist je tief genug hinabgestiegen, um herauszufinden, ob es stimmt, und die Zwerge sagen nichts dazu. Aber diese Tunnel und Abwassersysteme ermöglichen es den Vyrmännern, unentdeckt bis zu den Verliesen vorzudringen. Schlösser sind kein Hindernis für ihre geschickten Finger. Und Leihschwerter haben keine Chance gegen ihre lautlosen Füße und ihre Würgeschlingen. Deine Freunde werden bald befreit sein, und es ist am besten, nicht nach Einzelheiten zu fragen. Sei einfach dankbar, daß sie auf unserer Seite sind.« »Warum sind sie auf unserer Seite?« »Weil sie an den Sinn eurer Mission glauben, und die Magie in dir ebenso spüren wie ich.« »Und dieser Quirinus — wie paßt der ins Bild?« Phrynius lächelte. »Quirinus ist ein seltenes Exemplar. Ein Mann, der mächtig ist und dennoch eine offene Gesinnung hat. Und er kennt offenbar jemanden von euch. Er wird 534
euch dabei helfen, neue Ausrüstung zu besorgen und die Stadt so bald wie möglich zu verlassen. Und das ist auch gut so. In Talisker gehen Dinge vor sich, in die man am besten nicht verwickelt wird — Machtkämpfe und Ränkespiele, die schon seit einiger Zeit brodeln, sich aber durch die Ankunft der Lady aus dem Süden verschärft haben.« Er seufzte. »Vielleicht ist auch das gut so. Vor uns liegt eine Zeit großer Veränderungen.« Die Lady aus dem Süden. Natürlich. Nach einiger Zeit, als Rivens Kleidung fast wieder trocken war, begann einer der Vyrmänner, in einem Beutel herumzustöbern. Er brachte dünne Streifen einer schwarzen fettigen Substanz zum Vorschein, die nach Kräutern roch, und verteilte sie. Riven betrachtete sie einen Augenblick lang zweifelnd und folgte dann dem Beispiel der anderen und biß hinein. Obwohl sie zäh waren, schmeckten die Streifen überraschend gut. Es handelte sich um eine Art geräuchertes Fleisch, und Riven beschloß, nicht darüber nachzudenken, von welchem Tier es stammen mochte. Während sie schweigend auf dem Fleisch herumkauten, schien plötzlich etwas die Aufmerksamkeit der Vyrmänner zu erregen. Ihre Nasen zuckten, und ihre Ohren richteten sich auf, genau wie bei Ratten, die Gefahr wittern. Sie wechselten ein paar Worte in ihrer Sprache, und dann verließen zwei von ihnen ihren Platz am Feuer und stellten sich neben 535
das Wasserloch, das den einzigen Zugang zu dem Raum bildete. Etwas durchbrach die Wasseroberfläche und holte tief Luft. Ein dunkelhaariger Kopf wurde heftig geschüttelt, und Wassertropfen flogen in alle Richtungen. Die beiden Vyrmänner halfen dem Ankömmling aufs Trockene. Es war ein Mann in einer Lederrüstung, der an jeder Seite seiner Hüfte ein langes Messer trug. Tropfnaß stand er da und beugte sich dann, ohne seine Gastgeber zu beachten, wieder über das Wasserloch. Einen Augenblick später erschien prustend ein weiterer Kopf. Er war kahl wie ein Pilz, wenn man von den buschigen schwarzen Augenbrauen absah. Der erste Mann half dem zweiten aus dem Wasser, und die beiden Mäntel, die Phrynius und Riven gewärmt hatten, wurden den beiden durchnäßten Neuankömmlingen zur Verfügung gestellt. Der kahle Mann rieb sich über den Kopf und lachte. »Es wird immer schlimmer mit euch«, sagte er zu den Vyrmännern. »Habt ihr noch nie etwas von Türen gehört?« Dann sprach er für einen Moment in ihrer Sprache mit ihnen. Die beiden Männer kamen dann zu Phrynius und Riven ans Feuer, und der kahle Mann begrüßte den Heiler mit dröhnender Stimme. »Phrynius, alter Ziegenbock — du führst noch immer nichts Gutes im Schilde, wie ich sehe. Ich habe gehört, daß du zur Zeit nach einer neuen Wohnung suchst.« »Nur ein Trunkenbold mit schlechten Manieren weidet sich am Unglück anderer«, 536
sagte der alte Mann würdevoll. »Dir mangelt es noch immer an Höflichkeit, Mylord Quirinus, wie damals, als ich in deiner Jugend die zahlreichen Wunden zusammenflicken mußte, die du dir bei deinen Ausschweifungen zugezogen hattest. Die jähre, die seitdem ins Land gegangen sind, haben deinen Anstand nicht gefördert.« Quirinus lachte schallend und setzte sich neben sie. Sein Begleiter blieb stehen und sah sich wachsam um. Quirinus bemerkte Phrynius' Blick und deutete mit dem Daumen auf ihn. »Kümmert euch nicht um Keigar, er macht sich auf meine alten Tage Sorgen um mich.« Er sah Riven an. »Das ist also der Geschichtenerzähler, den du erwähnt hast. Er sieht so aus, als hätten die Männer des Fürsten schon ein Wörtchen mit ihm gewechselt.« »So ist es. Er und seine Freunde brauchen einen Unterschlupf und Ausrüstung für eine Reise in die Berge. Sie müssen so schnell wie möglich aufbrechen.« Er schwieg einen Moment. »Es ist wichtig, Mylord.« Quirinus blickte ihn an. »Daran habe ich keinen Zweifel, da das Vyr-Volk bereit ist, ihm zu helfen, du wegen ihm dein Haus verloren hast und sämtliche Truppen der Stadt den Auftrag erhalten haben, ihn und seine Freunde dingfest zu machen.« Er kicherte. »Sergius' Leute haben richtig Spaß dabei gehabt, habe ich gehört. Bicker scheint den Umgang mit der Klinge nicht verlernt zu haben, seit ich ihn 537
zuletzt gesehen habe. Und jetzt haben Godomar und seine dunkelhaarige Hexe mit ihren Geschichten von Katastrophen in den südlichen Rorims und unheilbringenden Zauberern die Bevölkerung von Talisker in Panik versetzt. Ist es ein Wunder, daß die Leute völlig durcheinander sind und daß Unschuldige aus der Stadt gejagt werden?« Zum ersten Mal wich der Humor aus seinem Gesicht, und ein wilder Ausdruck erschien in den Augen unter den dichten Brauen. »Sogar meine eigenen Schutztruppen werden unruhig, während die Myrcaner in ihren Kasernen unter sich bleiben. Sie weigern sich, Kontrollgänge durch die Stadt zu machen; die Ereignisse, die sich hier abspielen, gefallen ihnen nicht. Ich kann es ihnen nicht vorwerfen. Es gibt Gerüchte, daß einige von ihnen die Stadt verlassen, um in die Dienste von Lords aus den Lehen an der Grenze zu treten, wo sie den wirklichen Feind bekämpfen können.« »Welche Lords können das nur sein?« fragte Phrynius schalkhaft, und Qurinus lachte. Seine gute Laune war wieder zurückgekehrt. »Nun, was soll ich anderes tun, als ihre Dienste anzunehmen? Ich brauche sie. Während die hohen Herren der Stadt sich herumstreiten, kämpfen wir im Norden um unsere Existenz ... Womit wir wieder bei unserem Freund hier wären.« Er sah Riven an. »Man hat mir gesagt, daß du ein Freund von Bicker bist, schon deshalb vertraue ich dir. Ich weiß, daß ihm etwas widerfahren ist, als er 538
letztes Jahr in den Bergen war, etwas, das vielleicht mit dir zu tun hat. Und damit, was sich zur Zeit in Minginish abspielt, denn die schlechte Zeit begann genau an dem Tag, als er den Staer bestieg. Was kannst du mir darüber sagen?« Quirinus wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, das ihm noch immer aus den Haaren lief, und sah Riven geduldig an. Die Direktheit des kahlen Mannes verblüffte Riven. Er blickte hilfesuchend zu Phrynius, aber das zerfurchte Gesicht des alten Mannes war verschlossen wie eine Walnuß. Er spürte die tiefgründigen Augen der Vyrmänner auf sich ruhen und den finsteren Blick von Quirinus' Leibwächter. »Also gut«, sagte er und begann zu erzählen. Es war eine lange Geschichte, die zwei Welten umspannte und das Rätsel des Unerklärlichen in sich trug, aber Rivens Zuhörer unterbrachen ihn nicht, und Phrynius schien nicht zu bemerken, daß seine Pfeife erloschen war. Riven erzählte ihnen alles, flocht auch Bickers und Murtachs Erlebnisse ein. Als er schließlich schwieg, mußte einer der Vyrmänner neues Holz auf das Feuer legen, das zu glühender Asche heruntergebrannt war. Sie schwiegen lange, nachdem er seine Erzählung beendet hatte, bis schließlich Phrynius ein letztes Mal an seiner kalten Pfeife zog und sie dann am Absatz seines Stiefels ausklopfte. Quirinus' Augenbrauen hatten sich 539
zu einer einzigen schwarzen Raupe auf seiner Stirn zusammengezogen. »Das nenne ich eine Geschichte«, sagte er leise. »Es sieht so aus, als hättest du in letzter Zeit einiges durchgemacht, so wie auch wir.« Bedauernd schüttelte er den Kopf. »Das ist unvorstellbar. Was sagst du dazu, Phrynius?« Der alte Heiler schwieg einen Moment und stopfte seine Pfeife. »Es gibt seit Jahrhunderten Gerüchte von anderen Welten. Man sagt sogar, daß Angehörige des Verborgenen Volkes sie besucht haben, und die Zwerge haben angeblich in der Tiefe ihrer Minen Zugänge zu diesen Welten entdeckt. Aber es ist eine Sache, von solchen Dingen zu hören, und eine ganz andere, mit einem Mann zu sprechen, der behauptet, aus einer solchen Welt zu kommen.« Er entzündete seine Pfeife mit einem Ast aus dem Feuer und seufzte tief. »Eines weiß ich. Ich bin aus zwei Gründen beunruhigt. Zum einen sind da die Unwägbarkeiten der Parallelitäten — dieses dunkelhaarige Mädchen, die die Frau unseres Freundes ist und doch nicht ist, genau wie Lady Jinneth.« Er lächelte. »Ich werde sie nicht weiter als Wölfin bezeichnen, das wäre wohl kaum angemessen. Aber irgend etwas stimmt hier nicht, und ich wünschte, ich wüßte, was es ist. Und dann ist da noch diese andere Sache, das Unheil, das über Minginish gekommen ist. Ich weiß nicht, ob selbst die Zwerge eine Lösung für dieses Rätsel wissen. Wenn es so wäre, hätten sie nicht schon selbst 540
etwas unternommen? Man sagt, daß sie allwissend sind, wenn auch etwas einsiedlerisch. Mit Sicherheit wissen sie, was im Lande vor sich geht. Sie sollen alle Magie beherrschen, die es in unserer Welt gibt — aber ich glaube nicht, daß sie etwas mit den schrecklichen Vorkommnissen zu tun haben, oder daß sie sie irgendwie stoppen können. Vielleicht sind sie so hilflos wie wir alle, letztendlich sind auch sie nur Bewohner dieses Landes. Und noch etwas: Wir haben erfahren, daß die ersten Säuberungen in dem Jahr in Minginish stattfanden, in dem Riven in seiner Welt geboren wurde. Das deutet darauf hin, daß es eine weitergehende Verbindung zwischen den Welten gibt als nur seine Geschichten.« »Eine gegenseitige Verknüpfung«, unterbrach ihn Riven. »Ich glaube, das muß es sein: Eine magische Verbindung zwischen mir und Minginish. Mich erreichen Bilder aus eurer Welt, aber gleichzeitig beeinflusse ich sie seit meiner Geburt. Ich habe diese Welt nicht erschaffen. Nein, das habe ich nicht getan.« Er fühlte für einen Augenblick eine ungeheure Erleichterung. Ich bin nicht schuld an dem Morden und den Zerstörungen. Da steckt noch etwas anderes hinter. »Aber was?« fragte er laut. »Was verursacht das alles, und warum?« »Vielleicht wissen es auch die Zwerge nicht«, sagte Quirinus. »Aber andererseits wissen sie eine ganze Menge. Sie sind in diesem Land, 541
seit die ersten Berge entstanden und der Große Fluß langsam begann, auf das Südliche Meer zuzufließen. Möglicherweise können sie dir etwas aus der Vergangenheit erzählen, was das Rätsel löst. Ich kann es sicher nicht, und auch Phrynius, der fast so alt wie ein Zwerg ist, scheint keinen Rat zu wissen. Ich halte es daher für eine gute Idee von euch, in die Berge zu gehen, obwohl ich zugeben muß, daß ich froh bin, nicht mitgehen zu müssen.« »Die Greshorns«, sagte Phrynius nachdenklich. »Die Berge am Ende der Welt. Eine anstrengendere und gefährlichere Reise kann man sich nicht vorstellen.« Er blickte Quirinus an. »Wirst du ihnen helfen? Ihnen Unterstützung zukommen lassen?« »Das werde ich tun«, erwiderte der kahle Mann. »Und wenn es nur wäre, um Bicker einen Gefallen zu tun. Ich werde ihnen in Armishir Zuflucht gewähren, und keiner von Sergius´ Gefolgsleuten wird ihnen dort etwas anhaben. Wenn jemand von eurer Gesellschaft zurückbleiben möchte ...« Er sah Riven wieder an. »... soll er sich in meinem Lehen wie zu Hause fühlen, bis er wieder zurück in den Süden gehen möchte.« Riven dankte ihm und dachte an die Verletzungen, die die Gefährten erlitten hatten. Zumindest Madra konnte nicht mit in die Berge kommen, und wenn er sich an den Kampf in Phrynius´ Haus erinnerte, war es mehr als wahrscheinlich, daß auch Ratagan und Isay Verwundungen erlitten hatten. 542
Bei dem Gedanken an Madra spürte er einen Knoten im Magen, und er verfluchte sich dafür. Es gab für alles eine Zeit und einen Ort, aber es fiel ihm immer wieder schwer, dies zu beachten. »Meine Freunde stecken immer noch im Kerker«, sagte er. Einer der Vyrmänner beugte sich vor und sagte etwas in seiner Sprache. Quirinus nickte. »Jetzt nicht mehr, wie mir scheint. In diesem Augenblick werden sie durch Tunnel zur Stadtmauer geführt. Auch für uns wird es langsam Zeit aufzubrechen.« Riven blickte von dem Vyrmann zu Quirinus und wieder zurück, und der Lord von Armishir lachte. »Sie verständigen sich durch Gedankenübertragung, mein Freund. Auch eine Art Zauberei. Es ist einer der Gründe dafür, daß sie sich hier unten verbergen müssen.« Quirinus' gestrenger Leibwächter ergriff zum ersten Mal das Wort. »Wenn diejenigen, wegen denen wir hier sind, in Freiheit sind, müssen auch wir uns auf den Weg machen, Mylord. Bis zum Tagesanbruch haben wir noch einen weiten Weg vor uns, und langsam vergeht die Nacht.« »So ist es.« Quirinus schmunzelte. »Du bist immer bereit, mich an meine Pflichten zu erinnern, Keigar, und das ist auch gut so. Ich hätte noch eine ganze Zeit hier sitzen und plaudern können.« Er stand auf und warf seinen Mantel ab. Seine Kleidung war noch 543
immer naß. Er strahlte Phrynius an, der zu seinen Füßen saß und Riven an einen Gartenzwerg erinnerte. »Zeit zu gehen, alter Freund. Es hat den Anschein, daß immer dann, wenn ich in letzter Zeit einmal die Gelegenheit habe, mit dir zu sprechen, jemand mich am Ärmel fortzieht. Ich hoffe, es kommt auch mal wieder eine Zeit, in der wir uns nach Herzenslust unterhalten können.« Phrynius sah ihn ernst an. »Ich freue mich schon darauf. Paß auf dich auf.« Er legte Riven die Hand auf die Schulter. »Quirinus wird dich zu deinen Freunden und in Sicherheit bringen. Meine Aufgabe ist erfüllt.« »Du kommst nicht mit?« fragte Riven verdutzt. Ihm wurde plötzlich klar, daß er den merkwürdigen kleinen Mann vermissen würde. »Ich bleibe hier. Die Vyrmänner werden ein Plätzchen für mich finden. Ich wünsche dir alles Gute für deine Reise, zum Segen aller Einwohner dieses Landes, aber auch zu deinem Segen.« Er lächelte. »Und jetzt mußt du wieder naß werden.« Die Vyrmänner standen schon neben dem Wasserloch bereit und sprachen mit Quirinus. Ein Platschen ertönte, und Keigar war verschwunden. Der kahle Mann winkte Riven noch einmal zu und folgte dann seinem Leibwächter. Riven stand zögernd auf. Das Wasserloch sah dunkel, kalt und wenig einladend aus. Er schauderte für eine Moment. Einer der 544
Vyrmänner berührte seinen Unterarm und sagte etwas. »Er wünscht dir eine gute Reise«, sagte der Heiler. »Danke«, murmelte Riven und tauchte in das Wasser.
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SECHZEHNTES KAPITEL Diesmal waren sie länger unterwegs als nach seiner Flucht aus dem Kerker, und Riven stellte überrascht fest, daß sie immer tiefer gerieten. Dann fiel ihm ein, daß Talisker auf einem steilen Berg gelegen war. Wenn sie die Stadt durch Tunnel verlassen wollten, mußten sie bis zum Fuß des Berges hinabsteigen. Er war erschöpft und stolperte mehrfach, während er Quirinus und Keigar folgte. Seine Schultern schrammten an den Wänden entlang, und er stieß sich immer wieder den Kopf an der niedrigen Decke. Durst plagte ihn, aber er war noch nicht so weit, daß er ihn mit dem Wasser gelöscht hätte, das von den Wänden herunterlief. Es sah ungesund aus, obwohl sie die Kanalisation hinter sich gelassen hatten. Die Tunnel wurden immer älter, die Mauern unregelmäßig und schadhaft. Der Boden war uneben, und spitze schwarze Stalagtiten wuchsen von der Decke. Quirinus leuchtete ihnen mit einer Fackel, die er im Gang gelassen hatte, bevor er zum Versteck der Vyrmänner getaucht war. Ihr Licht warf große verschwommene Schatten an die Wände, ließ die abzweigenden Gänge und Nischen aber im Dunkeln. Es gab hier keine 546
Ratten mehr, aber Riven bemerkte einige Male aus den Augenwinkeln, wie sich etwas in ihrer Umgebung bewegte und fragte sich, ob die Vyrmänner immer noch ein Auge auf sie hatten. Vielleicht krochen auch andere Wesen in der Dunkelheit herum. Die Vorstellung jagte ihm einen Schauer über den Rücken, und er wünschte, er würde nicht am Schluß gehen. Schließlich hielten sie an. Nur ihr schweres Atmen und das Knistern der Fackel durchdrangen die unterirdische Stille. Riven war dankbar für die Verschnaufpause. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und holte tief Luft. Seine Beine brannten, und er fühlte sich benommen. Seine Kehle war wie ausgetrocknet. Quirinus reichte ihm eine in Leder eingefaßte Feldflasche. »Trink. Wir werden die Tunnel bald verlassen, aber wir haben noch einen Ritt vor uns, und du wirst deine Kräfte brauchen.« »Wie weit?« keuchte Riven und entkorkte die Flasche. Ihr Inhalt roch fruchtig und nach Alkohol. »Es sind etwa ein Dutzend Meilen von der Stadtmauer bis nach Rim-Armishir, meiner Heimat, und wir werden uns beeilen müssen. Zweifellos verbreitet sich in diesem Augenblick die Meldung von deinem Verschwinden und dem deiner Freunde wie ein Lauffeuer in der Stadt. Sergius´ Mob wird überall sein. Wir dürfen nicht auffallen.« Er lächelte. »Trink. Es wird dich stärken.« 547
Riven nahm einen Schluck. Das Getränk schmeckte nach Mandarinen. Es kühlte seine Kehle und wärmte seinen Magen. Seine Zunge war nicht länger wie ein Stück Holz in seinem Mund. Er wollte die Flasche zurückreichen, aber Quirinus schüttelte den Kopf. »Behalte sie. So, wie du aussiehst, wirst du noch den einen oder anderen Schluck brauchen, bevor die Nacht vorüber ist.« Dann drehte er sich um, nickte Keigar zu und führte sie weiter. Diesmal mußten sie nicht weit gehen, bevor sie wieder anhielten. Sie hatten nach Rivens ungefährer Schätzung etwa eine Meile zurückgelegt, als Quirinus die Hand hob, den Kopf neigte und lauschte. Vor ihnen war das Rauschen von Wasser zu hören, hallte ihnen durch den Tunnel entgegen. Quirinus' Miene verfinsterte sich. »Das Wasser ist hoch, höher als ich dachte. Gewöhnlich läuft hier unten nur ein Rinnsal.« »Es regnete, als wir in die Kanalisation stiegen«, gab Keigar zu bedenken. »Vielleicht hat es immer noch nicht aufgehört.« »Vielleicht«, knurrte Quirinus. Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben keine Wahl. Packt euren Vordermann am Gürtel. Ich werde jetzt die Fackel löschen.« Er sah Riven an. »Der nächste Abschnitt unseres Weges ist ein wenig beschwerlich, halt dich also gut fest.« Er hob den Arm und stieß die Fackel gegen die Wand des Tunnels. Sie erlosch in einem Funkenregen. Das Rauschen des Wassers 548
wirkte augenblicklich lauter. Riven merkte, daß Keigar sich weiter vorwärts tastete, und klammerte sich hinten an seinen Gürtel. Langsam gingen sie weiter wie drei blinde Männer. Dann spürten sie Wasser unter sich, das schnell anstieg. Es umspülte Rivens Schuhe, erreichte seine Knöchel und Knie. Als es hüfthoch stand, entkorkte er Quirinus< Flasche mit seiner freien Hand und nahm ein paar kräftige Schlucke. Wenn er sich schon wieder dem eiskalten Wasser aussetzen mußte, hatte er das verdient. Das Wasser reichte ihm schließlich bis zur Brust, und die Strömung drohte, ihn von den Füßen zu reißen. Er griff noch fester nach Keigars Gürtel. Er stellte sich vor, wie er davongeschwemmt wurde, um irgendwo in den unbekannten Tunneln tief unter der Stadt zu enden, für immer verloren in seiner eigenen Geschichte. Er lächelte schwach. Der Wasserlauf hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt, der an ihnen zerrte und riß, doch vor ihnen war jetzt ein grauer Lichtschein zu sehen. Riven bemerkte, daß der Tunnel sich über ihnen erweiterte, und schwaches Licht durch quadratische Öffnungen über ihnen fiel. Aber das Wasser stieg immer noch. »Haltet euch an der Wand fest!« rief Quirinus. »Auf der rechten Seite ist eine Leiter. Tastet danach!« Sie kämpften sich weiter, ohne etwas zu sehen. Gischt sprühte ihnen in die Gesichter 549
und drang ihnen in den Mund. Riven konnte kaum noch atmen. Die Luft schien von tosendem Wasser erfüllt zu sein, das nach ihnen schlug wie sturmgepeitschte Äste. Einen Augenblick lang verlor er den Boden unter den Füßen und trieb in der Strömung, trotzig an Keigars Gürtel festgeklammert. Dann fand er wieder Halt und schob sich dicht an der rechten Tunnelwand weiter vor. Keigar blieb stehen, und Rufe ertönten, die Riven nicht verstehen konnte. Dann begann sein Vordermann nach oben zu klettern. Riven tastete hektisch über die Wand, bis er eine eiserne Leitersprosse fühlte. Er zog sich hinter Keigar hoch, und das Wasser blieb unter ihm zurück. Über sich sah er den runden Umriß von Quirinus' Kopf vor dem quadratischen Ausschnitt des Nachthimmels. Er und Keigar zogen Riven aus dem Loch, und dann lag er auf den glänzenden Pflastersteinen einer Straße, tief unter sich das Tosen des Wassers. Sanfter Regen fiel ihm ins Gesicht. Er lächelte. Wirklich eine milde Nacht. Aber eine Erholungspause war nicht vorgesehen. Seine Begleiter halfen ihm auf die Beine und trugen ihn fast die Straße entlang. Er wischte sich Wasser aus den Augen. Vor ihnen standen Pferde und Männer in regennassen Rüstungen. Er erstarrte. Also doch eine Falle? Doch dann legte ihm jemand einen Mantel um die Schultern und schob ihn auf ein reiterloses Pferde zu. 550
»Steig auf«, zischte Keigar ihm ins Ohr. »Wir müssen verschwinden.« Kraftlos zog er sich in den Sattel. Jemand ergriff seine Zügel, und dann klangen Hufschläge durch die Straße. Er zog zum Schutz vor dem strömenden Regen die Kapuze des Mantels über den Kopf. Vor ihnen ragten die mächtigen Stadtmauern von Talisker empor. Die Hufschläge hallten durch einen Tunnel, und dann ritten sie durch ein großes Tor in das offene Land, das in der Dunkelheit vor ihnen lag. Eine endlose Kette von dunklen Hügeln vor den schwarzen Zinnen der Berge im Hintergrund. Die Pferde begannen zu galoppieren. Riven fluchte schwach und klammerte sich am Sattel fest. Talisker blieb hinter ihnen zurück, aber er war zu müde und zerschlagen, um sich darüber zu freuen. Gnadenlos trieben sie ihre Pferde an, galoppierten die meiste Zeit. Der Boden hob und senkte sich unter ihnen, und mehr als einmal preschten sie durch das flache Wasser kleiner Flüßchen. Der kalte Wind stach in Rivens nassem Gesicht und riß ihm immer wieder die Kapuze seines Umhangs vom Kopf. Ein unkontrolliertes Zittern durchlief ihn, während seine nasse Kleidung steif fror und Eis sich in seinem Bart festsetzte. Es war jetzt wirklich Winter geworden, und sie bewegten sich durch die Ausläufer der Greshorns, der höchsten Berge dieser Welt. Riven betrachtete die dunklen Umrisse der Berge vor dem 551
Nachthimmel und wußte, daß sie viel, viel höher waren als jeder Berg, den er auf Skye bestiegen hatte. Er verdrängte den Gedanken, dort hinauf zu müssen. Nach Wärme stand ihm jetzt der Sinn, nach Wärme und Schlaf. Er tastete nach der Flasche, die Quirinus ihm gegeben hatte, aber sie war verschwunden, verloren im Mahlstrom der Abwasserkanäle. Er fluchte leise, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Tortur des Ritts über sich ergehen zu lassen. Er verlor jedes Gefühl für die Zeit, die sie unterwegs waren, und die Strecke, die sie zurücklegten. Seine Stiefel waren voller Wasser, und er konnte seine Zehen nicht mehr spüren. Er mußte eingeschlafen sein oder gedöst haben. Zumindest hatte er vor sich hin geträumt, denn plötzlich fuhr er mit einem Ruck hoch und mußte sich festklammern, um im Sattel zu bleiben. Sie hatten angehalten, und um sie herum leuchteten Fackeln, an denen der Wind zerrte. Bedienstete nahmen die Zügel der Pferde entgegen. Vor ihnen befand sich eine massive graue Mauer, die von einer hohen Torburg überragt wurde. Für einen Augenblick dachte Riven, daß sie wieder ihn Talisker waren, aber dann halfen ihm ein paar Leute vom Pferd, und Quirinus stand mit eisverkrusteten Augenbrauen im Fackellicht neben ihm und wies Rivens Helfer an, vorsichtig zu sein. Sie fingen ihn auf, als seine Beine ihren Dienst versagten, und jemand nahm ihn auf die Arme. Riven registrierte ohne 552
Überraschung, daß es Isay war. Das Gesicht des Myrcaners war mit Schrammen und Abschürfungen übersät, doch sein Blick war undurchdringlich wie immer. »Sei gegrüßt, Michael Riven«, sagte Isay, und Riven schloß die schmerzenden Augen. »Du auch«, antwortete er. Dann spürte er, wie er irgendwohin getragen wurde, wo ihn der Wind und der strömende Regen nicht mehr erreichen konnten. Gesichter erschienen über ihm und verschwanden wieder. Er registrierte ein Feuer, der Raum war warm wie ein Backofen. Jemand streifte ihm die Kleider ab und wischte ihm das Eis aus dem Gesicht. Dann wurde er in ein Bett gelegt, ein richtiges Bett, und er konnte den Alptraum, der hinter ihm lag, erst einmal vergessen. Als er erwachte, strömte Nachmittagslicht durch die schmalen Fenster und zeichnete Streifen auf das Bettzeug. Eine wohlige Wärme ging von dem Feuer aus, das im Kamin glühte. Er fühlte sich steif und zerschlagen, stellte aber fest, daß seine Verletzungen verbunden worden waren. Auch konnte er seine Zehen wieder spüren. Vorsichtig setzte er sich auf. Er war allein in dem Raum, obwohl ein Stuhl neben seinem Bett stand. Er hörte den Wind um das Gebäude heulen, und von irgendwo im Haus klangen Stimmen zu ihm. Er lehnte sich wieder bequem zurück. Die Erinnerungen an 553
Kerker, Abwässerkanäle und Rattenmenschen gingen ihm wie die Bruchstücke eines Traums durch den Kopf. Was für ein Ort! Was für ein verdammter Ort! Dann fiel ihm Isay wieder ein. Sie waren also in Sicherheit. Sie waren hier. Gott sei Dank. Auf einem niedrigen Tisch rechts vom Bett lagen Kleidungsstücke, und er schlug seine Bettdecke zurück, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Noch mehr Minginish-Kleider. Er konnte bereits auf eine umfangreiche Garderobe zurückgreifen — oder hätte es gekonnt, wenn er die Kleidung nicht jedesmal schnell wieder ruiniert hätte. Die Tür öffnete sich, und Madra erschien. Sie strahlte als sie sah, daß er aufrecht saß. Er lächelte sie an, und sie rannte durch das Zimmer und warf sich in seine Arme, so daß er auf den Rücken geworfen wurde. Er lachte laut und küßte sie. Ihr Hals war immer noch verbunden. Er nahm ihren Kopf in die Hände und sah in die ernsten Augen, die jetzt vor Freude glänzten. Ihr Anblick machte Riven zehn Jahre jünger. »Kannst du wieder sprechen?« Ihr Gesicht verdüsterte sich ein wenig, und sie schüttelte den Kopf. Er küßte sie auf die Stirn. »Geht es dir gut? Haben sie dich schlecht behandelt?« Sie nickte erst und schüttelte dann den Kopf. Sie konnte den Blick nicht von ihm lassen, sah ihn mit einem Ausdruck von Ungläubigkeit an. 554
Sie strich ihm durch das Haar und legte ihm die Hand auf die Brust, als müsse sie sich vergewissern, daß wirklich er es war, der ihr Fragen stellte, der sie so stürmisch geküßt hatte. »Was ist mit den anderen? Ratagan — ist er wohlauf? Ich sah wie er ...« Sie nickte wieder und schloß ihm dann die Lippen mit einem Kuß. »Ratagan lebt und ist wohlauf, und wie ich sehe, geht es dir auch nicht gerade schlecht, mein Freund«, sagte eine vertraute tiefe Stimme von der Zimmertür her. Madra rollte von ihm herunter, und Riven sah Ratagan, Bicker, Finnan und den Rest der Gefährten an der Tür stehen. Sogar auf Luibs normalerweise ungerührtem Gesicht lag der Hauch eines Lächelns. »Alles zu seiner Zeit.« Bicker lachte, und sie stürmten herein. Als letzter betrat Quirinus das Zimmer, die buschigen Augenbrauen hoch in die Stirn gezogen. Riven schwang die Beine aus dem Bett, und der große Mann drückte ihn an seine Brust. Sein Gesicht war verschwollen, und eine verschorfte Wunde zog sich von der Schläfe bis zur Nase, aber die blauen Augen strahten so fröhlich wie immer. Die anderen Gefährten sahen ähnlich mitgenommen aus. Sogar Finnan hatte etliche Abschürfungen davongetragen. Bicker trug ein blutbeflecktes Leinentuch um den Kopf. Der dunkle Mann 555
legte Riven die Hand auf die Schulter und schüttelte ihn. »Quirinus hat uns erzählt, daß du dich mit Zauberern und Vyr-Männern herumgetrieben und die Unterwelt von Talisker erkundet hast. Sogar durch die Abwasserkanäle bist du geschwommen. Natürlich glauben wir ihm kein Wort. Fast hätten wir uns ein bißchen Sorge um dich gemacht, Michael Riven.« Riven grinste. Aus irgendeinem Grunde fiel es ihm überhaupt nicht schwer. »Ich bin topfit. Wann brechen wir auf?« »Bald, aber nicht zu bald«, bemerkte Quirinus trocken. »Du und deine Freunde wartet am besten noch einen oder zwei Tage, bevor ihr euch auf den Weg in die Berge macht. Bicker wird dir erklären, warum.« »Ja, in der Tat«, sagte der dunkle Mann. Er war wieder ernst geworden. »Wir alle leiden noch an den Nachwirkungen von Lady Jinneths Gastfreundschaft, und ihre Söldner durchkämmen die Ausläufer der Berge auf der Suche nach uns.« »Wir sind, wie soll man sagen, ganz schön begehrt«, unterbrach ihn Ratagan. »Wir sind Gesetzlose«, sagte Finnan. Er wirkte verdrossen, dachte wahrscheinlich an sein Boot, das immer noch im Hafen von Talisker vor Anker lag. »Mich haben sie erwischt, kurz nachdem ich Phrynius' Haus verlassen hatte. Sie hatten es beobachtet.« »Was ist passiert?« fragte Riven. »Wie haben die Vyr-Männer euch befreit?« 556
»Klammheimlich, geschickt und mit ein wenig Glück.« Bicker nickte in Richtung des kahlen Mannes in der Ecke, der sie aufmerksam beobachtete. »Nachdem wir einmal aus den Zellen heraus waren, haben uns Quirinus' Männer geholfen, doch mußten wir noch ein paar Söldner erledigen, bevor wir die Stadt verlassen konnten.« »Nicht, daß es uns etwas ausgemacht hätte«, sagte Ratagan. In seinen Augen brannte ein gefährliches Feuer, das ihm eine merkwürdige Ähnlichkeit mit Isay verlieh. »Und jetzt haben sich meine Schutztruppen der Suche nach euch angeschlossen«, ergänzte Quirinus ironisch. »Ich brauche kaum zu erwähnen, daß Keigar und ich ihnen genaue Anweisungen gegeben haben. Zumindest der erste Teil des Weges in die Berge wird für euch ohne Gefahren sein.« »Die Vorräte stehen auch schon bereit«, sagte Bicker. »Wir können übermorgen aufbrechen, vielleicht auch schon morgen, wenn wir uns danach fühlen.« Riven stellte die Frage, die ihn schon in Phrynius' Haus beschäftigt hatte. »Wer wird gehen?« »Du, Ratagan und ich.« Der dunkle Mann sah sich ein wenig unbehaglich um. »Isay besteht darauf, sich uns anzuschließen. Das sind alle. Madra, du bist nicht dazu in der Lage ...« Riven spürte, wie sie erstarrte.
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» ...und Corrary und Luib werden hierbleiben und versuchen, dich sicher nach Hause zu bringen.« Corrary wollte protestierend auffahren, aber Bicker brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Ich habe schon deinen Bruder auf dem Gewissen«, sagte der dunkle Mann leise. »Einer ist genug.« Luib blieb ungerührt. »Das wäre jetzt wenigstens geklärt«, sagte Quirinus mit seinem gewohnt trockenen Tonfall und verließ die Ecke, in der er stand. »Und es ist bald Essenszeit. Ich esse gerne, und ich freue mich über jeden von euch, der sich mir anschließen möchte.« Er verließ das Zimmer, dicht gefolgt von dem nachdenklich wirkenden Finnan. »Unser flußfahrender Freund bemüht sich um eine neue Arbeit«, bemerkte Ratagan, nachdem sie gegangen waren. »Wer kann es ihm vorwerfen?« fragte Bicker. Alle Fröhlichkeit war wieder von ihm gewichen, und er wirkte müde und erschöpft. »Kommt. Wir werden essen. Schließ dich uns an, Michael Riven, wenn du dich danach fühlst. Quirinus weiß gut aufzufahren.« Er lächelte. »Obwohl sein Steward es noch nicht mit unserem Colban aufnehmen kann. Ich sehe dich später.« Er verließ den Raum und scheuchte auch Corrary und die beiden Myrcaner hinaus. Ratagan blieb noch einen Moment. Er trat an 558
eines der Fenster und starrte auf die schneebedeckten Berge in der Ferne. »Fast am Ziel«, sagte er und drehte sich um. »Mereth geht es gut. Sie ist ein feines Mädchen. Oder vielmehr eine großartige Frau. Quirinus läßt nach ihrem Vater forschen, unauffällig natürlich ...« Er brach ab, senkte den Kopf und betrachtete seine Hände. Er hatte ein paar graue Haare bekommen, stellte Riven erschrocken fest. Der große Mann wirkte angeschlagen, verletzbar und unsicher; wie Thor gegenüber Ragnarok. Aber als er aufblickte, lag wieder das gewohnte Grinsen auf seinem Gesicht. »Ich gehe jetzt besser. Sonst verpasse ich noch das Bier. Und ich könnte mir vorstellen, daß ihr beiden euch eine ganze Menge zu erzählen habt. Macht's gut.« Leise ging er hinaus. Riven setzte sich auf das Bett, und Madra umschlang seine Hüfte. Sie legte den Kopf auf seine Schulter. Fast am Ziel. Zum ersten Mal erschreckte ihn der Gedanke daran nicht. Er fühlte, daß die vielen Enden, die diese Geschichte hatte, langsam zusammenfanden. Alles hat seinen Sinn. Er zog Madra enger an sich und fühlte sich merkwürdig zufrieden. Später, als die Nacht angebrochen war und er den Schnee betrachtete, der sich auf dem Fensterbrett türmte, kam sie wieder zu ihm. Sie war barfuß und trug einen langen Umhang, der ihr bis zu den Fußknöcheln reichte. Als sie 559
neben dem Bett stand, das Gesicht von dem dunklen Haar wie von einer Kapuze umhüllt, erinnerte sie ihn an Jinneth in der Kerkerzelle. Dann ließ sie den Umhang von den Schultern gleiten und stand nackt vor ihm. Das schwache Glühen der Kohlen überzog ihre Haut mit einem rötlichen Schimmer. Sie schlüpfte mit einem Schwall kalter Luft zu ihm ins Bett und suchte seine Wärme. Er gewährte sie ihr und nahm alles an, was sie ihm zu geben hatte. Und die Gespenster von gestern blickten ihm diesmal nicht über die Schulter. Er war wieder ein Jüngling mit fragendem Blick, voller Erstaunen über das herrliche Gefühl, sie zu berühren und sich ihr hinzugeben. Wieder überströmte ihn ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit. Er war eins mit den fallenden Flocken vor dem Fenster, den rauhen Bergen, dieser frostüberzogenen Welt und den Menschen, die in ihr lebten. Er war verwoben mit diesem Land, das schon bei seiner Geburt einen Anspruch auf ihn geltend gemacht hatte, und er war glücklich darüber, denn er spürte, daß es richtig war. Er fühlte sich geheilt. Es war Zeit, in die Berge zu gehen.
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SIEBZEHNTES KAPITEL Talisker war nur noch ein dunstiger Hügel, um den sich das graue Band des Großen Flusses wand. Sie unterbrachen ihren Marsch bergauf für einen Augenblick, um zurückzublicken in die weite Ebene des Tales, eine unendliche schneebedeckte Fläche, übersät mit den dunklen Flecken der Siedlungen, aus denen dünne Rauchfäden aufstiegen. Wie hingestreut lagen die Häuser von Rim-Armishir bereits weit hinter ihnen. Riven, Bicker, Ratagan, Isay. Sie waren nur noch zu viert. Die letzte Etappe ihrer langen Reise war angebrochen. Langsam aber stetig stiegen sie hinauf in die Ausläufer der Berge. Die Greshorns. In ihrer Mitte der Rote Berg. Der Staer. Arat Gor für die Zwerge und — in einer anderen Welt — Sgurr Dearg. Vielleicht noch drei Wochen, wenn das Wetter sich hielt. Nicht mehr lange. Rivens Beine waren steif und wund, und sein Schlüsselbein schmerzte unter dem Gewicht des großen Rucksacks. Es war Wind aufgekommen, der den trockenen Schnee über den Boden wehte und tanzen ließ. Es war eiskalt. Zwar schneite es im Moment nicht, aber der Wind würde neuen Schnee bringen. Vor ihnen ragten gewaltige Felsmassen in 561
schroffen Graten und Kämmen in den Himmel, bedeckt von Schneemassen, bis auf die steilsten Stellen, die blank wie Grabsteine waren. Schon der Anblick der Felsen ließ Rivens Kräfte schwinden, löste den Wunsch in ihm aus, umzukehren und den steilen Weg zurückzuhasten, den sie gekommen waren, und vielleicht bei der ernsten Frau zu bleiben, die nicht sprechen konnte. Aber nein. Er hatte etwas zu erledigen. Orte aufzusuchen und Leute zu treffen. Er lächelte in den Wind. Sie lösten ihre Blicke und setzten wortlos ihren Aufstieg fort, Talisker und seine Lehen im Rücken und die steilen Felsen vor sich. Der Tag verging mit einem mühsamen Marsch, der die erschöpften Muskeln zum Zittern brachte. Sie legten einen Teil ihrer dicken Winterkleidung ab, als sie sich schwitzend über mächtige Felsblöcke, schlammige Abhänge und durch glasklare, knöcheltiefe Gebirgsbäche kämpften. Es gab hier oben Brachvögel, und einmal schreckten sie ein paar Moorhühner auf. An den Bergflanken ragte kupferfarbener Farn aus dem Schnee, und an einigen schneefreien Grasflächen bemerkten sie Kaninchenkot. Und einmal sahen sie einen Adler, der mit weitgespreizten Schwingen unter dem grauen Himmel kreiste. Fahr schneller, mein kleines Boot ... Als die erste Nacht anbrach, lagerten sie zwischen einer vegetationslosen Ansammlung 562
von hohen Felspfeilern. Der Boden war hart und kalt. Riven spürte eine grimmige Befriedigung. Irgendwie wurde die ganze Sache mit jedem Schritt konkreter. Hier gab es keine Krieger, keine Festungen und keine Monster. Nur die finstere Einsamkeit der Berge, die ihn wieder zu dem machten, der er einst gewesen war. Er spürte, daß er der grausamen Schönheit der Granitwände und Eisfelder, der düsteren Macht der Berge trauen konnte. Hier war er zu Hause, so wie er es in den hochgelegenen, einsamen Gegenden von Skye immer gewesen war. Die Tage verstrichen, und das Schweigen der Berge steckte sie an. Sogar Ratagan schwieg bedrückt, und Bicker blickte ständig finster unter seinem Kopfverband hervor. Die Erlebnisse der vergangenen Wochen hatten ihnen allen zugesetzt, und keinem fiel der Marsch in die Berge leicht. Aber keiner hatte protestiert, als ihnen Riven an ihrem zweiten Morgen in Quirinus' Haus mitgeteilt hatte, daß sie sofort aufbrechen mußten. Sie schienen erkannt zu haben, daß da etwas in ihm war, das zur Eile mahnte. Es war fast so, als hätten sie eine Verabredung einzuhalten. Ihr Weg führte sie jetzt zwischen die ersten Gipfel, und sie folgten schmalen Pfaden am Fuß der gewaltigen schneebedeckten Geröllhalden. Der heulende Wind erreichte sie hier nicht mehr, und sie hörten nur noch das gelegentliche Poltern von Felsbrocken und den 563
fernen Schrei der Adler, die unermüdlich in einer anderen Welt über ihnen kreisten. Vielleicht konnten sie von dort oben Glenbrittle sehen, vielleicht das Meer mit den dunklen Klippen von Rhum und dahinter Muck und Eigg. Und vielleicht sogar die Fischerboote bei Mallaig, umschwärmt von kreischenden Möwen. Je höher sie stiegen, desto tiefer wurde der Schnee, und schon bald reichte er ihnen bis an die Waden. Der Himmel blieb düster und bewölkt, und die schneidende, betäubende Kälte besiegte die mühsam angefachten Lagerfeuer und drang in jeder Nacht durch ihr Bettzeug. Die Pfade durch die Täler verschwanden, und die Gefährten begannen ihren Aufstieg über die steilen Berggrate, die einfachste Möglichkeit, Höhe zu gewinnen. Auf den Kämmen waren sie der ganzen Macht des Windes ausgesetzt, und er zerrte an ihrer Kleidung, betäubte ihre Gesichter und machte ihren Marsch über die eisbedeckten Felsen gefährlich. Außer den Adlern entdeckten sie in dieser Höhe kein Lebewesen, aber sie alle spürten, daß sie nicht allein hier oben waren, daß sie beobachtet, vielleicht sogar verfolgt wurden. Dieses Gefühl wurde so stark, daß sie manchmal wie auf ein Kommando stehenblieben und sich forschend umsahen. Das leise Rollen von Steinen konnte ebensogut 564
von verstohlenen Schritten wie von der Last des Schnees oder dem Wind herrühren. »Leihschwerter würden uns nie so weit hier herauf folgen«, sagte Bicker und sprach damit an, was sie alle fürchteten. »Das lohnt sich nicht für sie.« Sie nickten, blieben aber dennoch wachsam. Sie marschierten durch eine Stein- und Eiswüste, und weil ihnen das Brennmaterial ausging, drängten sie sich nachts wie Kinder zusammen, um sich zu wärmen. Das Essen mußten sie kalt hinunterschlingen, und den Durst löschten sie mit Schnee, bis ihnen die Kehlen schmerzten. Bald war es, als hätten sie nie Wärme und Behaglichkeit gekannt, als hätten sie sich selbst in Wesen aus den Bergen verwandelt, kalt und hart wie das Granit der Bergkämme, zäh wie Kieselsteine, von dem heulenden Wind zu neuer Form, neuer Härte geschliffen. Zwei Wochen vergingen mit dem kräftezehrenden Marsch unter Bickers Führung. Sie kämpften sich auf einer bogenförmigen Route durch die Greshorns, um einen langgestreckten Kamm zu erreichen, der zum steilen Gipfel des Staer führte, dem Mittelpunkt des ganzen Bergmassivs. Wenn es wirklich Zwerge in den Bergen gab, würde man sie hier antreffen, im Schatten des Roten Berges, von wo aus man über einen gewaltigen Abgrund zum Land der Menschen hinunterblicken konnte. Die Myrcaner hatten diesen Ort jahrhundertelang als 565
Beobachtungsposten benutzt, und sie hatten enge Kontakte zu den Zwergen gehabt. Doch nach den Säuberungen hatte das aufgehört. Es hieß, daß die Angehörigen des Verborgenen Volkes, die in die Berge geflohen waren, bei den Zwergen, dem Steinvolk, Zuflucht gefunden hatten. Allerdings war niemals einer von ihnen aus den Bergen zurückgekehrt, um dieses Gerücht zu bestätigen. Sie hielten an der Biegung eines schroffen Bergkamms. Bicker spähte nach vorn. »Wir folgen diesem Kamm nach unten und kommen dann in ein kleines Tal, durch das ein Fluß fließt. Dort werden wir lagern. Danach wird der Weg etwas einfacher, bis der letzte Anstieg beginnt.« Sie stemmten die Füße in Felsspalten, um sich gegen den Wind zu behaupten, und blickten von dem Kamm hinunter in ein flaches, kieselbedecktes Tal, durch das sich ein seichter, stahlgrauer Fluß wand. An seinem Ufer wuchsen ein paar dunkle Büsche. »Bei allem, was heilig ist«, sagte Ratagan. »Vielleicht können wir heute abend mal wieder ein Feuer machen und bekommen etwas Warmes in den Magen.« »Ja, und das sollten wir besser genießen«, erwiderte der dunkle Mann. »Ich bezweifle, daß wir ab morgen noch einmal ein Feuer machen können. Wir werden dann zu hoch dafür sein.« Abends wurde es früher dunkel, als Wolken und Dämmerung die hohen Gipfel der Umgebung verhüllten. Sie saßen um ihr 566
kleines Feuer und lauschten dem Wind, dessen Heulen noch schlechteres Wetter ankündigte. Nicht weit entfernt plätscherte das Flüßchen vor sich hin. Ratagan streckte seine großen Hände dem Feuer entgegen. In seinen Augen spiegelten sich die Flammen. Er blinzelte. »Was meint ihr, wie weit es noch ist?« fragte er in die Runde. »Wie soll man hier nur Zwerge finden?« Niemand antwortete. Bicker sah müde aus, und auf Isays Gesicht lag ein leerer Ausdruck. Sogar er wirkte erschöpft. Riven schob mit dem Stiefel einen Scheit in das Feuer zurück. Er hätte ihnen sagen können, daß er sicher war, daß sich etwas ereignen würde, bevor sich die Zwerge zeigten, aber das hätte lächerlich geklungen, und so schwieg er. Und dann ereignete sich tatsächlich etwas. Außerhalb des Lichtscheins, den das Feuer warf, polterten Steine. Dunkle Schatten bewegten sich auf die Männer zu, und Stiefel knirschten durch die spärlichen Sträucher. Schritte platschten durch den Fluß neben ihnen. »Wir werden angegriffen!« brüllte Ratagan. »Paßt auf!« Sofort waren die vier auf den Beinen, Waffen in den Händen. Alle Müdigkeit war verflogen. Riven hatte ein Langschwert, das Quirinus ihm überlassen hatte, Ratagan eine geborgte Streitaxt, Bicker ein Kurzschwert und Isay einen eisenbeschlagenen Stab, den er in der 567
Rüstkammer von Rim-Armishir entdeckt hatte. Sie stellten sich im Kreis mit dem Rücken zum Feuer auf und traten den Angreifern entschlossen entgegen. Ihre Gegner stürmten über rutschenden Kies oder aus dem Fluß auf sie zu. Bicker tötete einen, der am Ufer ausrutschte, und versetzte einem anderen einen Tritt, so daß er in das aufspritzende Wasser zurückgeschleudert wurde. Ratagan parierte einen Schwerthieb, stieß den Angreifer zu Boden und rammte ihm seinen Stiefelabsatz ins Gesicht. Gleichzeitig packte er den Waffenarm eines anderen Gegners und schleuderte den Mann gegen einen großen Felsblock. Dann zerschmetterte er dem ersten Mann, der sich am Boden wand, den Schädel. Ratagan stieß ein heiseres Grunzen aus, das halb wie ein Lachen, halb wie der Schrei eines triumphierenden Tieres klang. Immer mehr Feinde erschienen jetzt. Isay fegte zwei von ihnen mit einem blitzschnellen Stockhieb von den Beinen und rammte ihnen seinen Stab mit aller Macht in die Brustbeine. Es ertönte zweimal ein lautes, scharfes Krachen, und die Brustkörbe der Männer fielen zusammen. Ein wildes Leuchten glühte in Isays Augen, und Riven meinte, ihn durch den Kampflärm hindurch vor sich hin summen zu hören. Das verzerrte Gesicht eines Mannes tauchte vor Riven aus der Dunkelheit auf, und ihre Schwerter klirrten gegeneinander. Er stieß 568
seinen Gegner zurück. Der Mann rutschte auf den glitschigen Steinen aus und stolperte. Riven stieß ihm das Schwert in den Hals und sah im Licht des Feuers dunkles Blut fließen. Dann mußte er seine Waffe herumreißen, um den Schwerthieb eines neuen Angreifers zu parieren. Er hörte eine hohe Stimme, die klar durch die Nacht schallte: »Den Geschichtenerzähler brauchen wir lebendig! Verletzt ihn nicht!« Eine Frauenstimme. Riven hatte das absurde Verlangen zu lachen, aber die Anstrengung, einen weiteren Schlag abzuwehren, raubte ihm den Atem. Die Verabredung war also eingehalten worden. Aber würden sie noch erleben, was danach geschah? Er tötete seinen Angreifer, ohne nachzudenken, benutzte Reflexe, die ihm in den vergangenen Monaten antrainiert worden waren. Doch schon war ein neuer Gegner zur Stelle. Ein Körper stürzte auf das Feuer und schickte einen Funkenregen in die Luft. Für einen Augenblick kämpften sie inmitten eines Feuerwerks, dann nahm der Wind die Funken auf und ließ sie erlöschen. Jetzt umgab sie eine Dunkelheit, in der man nur noch undeutlich die wutverzerrten Gesichter ihrer Angreifer und das Schimmern der Schwerter erkannte, auf denen das schwache Licht der Wolken über den Bergen lag. Das Kampfgeschehen ließ nach. Dann war es vorbei. Die Feinde wichen zurück, fluchend, 569
übereinander stolpernd. Die Frauenstimme rief ihnen kreischend Befehle zu, forderte sie auf standzuhalten, ihre Aufgabe zu erfüllen und ihr Geld zu verdienen. Doch nichts konnte sie zum Weiterkämpfen bewegen. Ratagans wildes Lachen folgte ihnen in die Nacht. Isay setzte ihnen nach, Mordlust im Blick. Er ignorierte Bickers Aufforderung, stehenzubleiben. Riven spürte, wie der Schweiß auf seinem Körper kalt wurde und in seinen Wunden brannte. Der Gestank der Leiche auf den glühenden Resten des Feuers erfüllte die Luft und war nicht einmal von dem schneidenden Wind zu vertreiben. Dann tauchte Isay wieder auf, der eine wild um sich schlagende Gestalt hinter sich herzog. Er warf sie neben die Feuerstelle, und sie sah mit blitzenden Augen zu ihnen hoch. Isays Stab hatte eine Schramme auf ihrer rechten Schläfe hinterlassen, und ein dünner Blutfaden lief zu ihrem Hals hinunter. »Mylady Jinneth«, keuchte Bicker mit einem wölfischen Grinsen. »Ein merkwürdiges Zusammentreffen an diesem Winterabend.« Der Wind heulte ihnen um die Köpfe, und Riven spürte etwas Kaltes im Gesicht. Er hob den Kopf, und es legte sich auf seine Augenlider, schmolz auf seinen Lippen. Ratagan hob den Blick zu den Gipfeln. »Schnee«, sagte er. Der Blizzard war schnell gekommen. Nach ein paar Minuten stob der Schnee überall um sie herum und legte sich auf ihre Kleidung, auf 570
ihr Haar und ihre Brauen, bedeckte die Leichen ihrer Angreifer auf dem Lagerplatz. »Wir werden die Nacht nicht überleben, wenn wir keinen Unterschlupf finden«, schrie Bicker durch den immer lauter werdenden Wind. »Nehmt euer Gepäck auf!« »Was ist mit ihr?« fragte Riven und deutete auf die Frau, die sich auf dem Boden wie sprungbereit zusammengeduckt hatte. »Wir nehmen sie mit. Isay, du bewachst sie!« Sie suchten ihr Gepäck zusammen, das überall auf dem Kampfplatz verstreut lag, und schnürten ihre Rucksäcke. Man konnte kaum etwas sehen in dem dichten Schneetreiben. Isay fesselte Jinneths Handgelenke mit einem Lederriemen und befestigte ihn an seinem Gürtel. Als sie daran zerrte, sah Riven, wie Isay sich umdrehte und ihr die Spitze seines Stabes an den Hals hielt. Ein dünnes Lächeln lief über sein Gesicht. Dann zog er sie vorwärts. Sie kämpften sich durch den Blizzard, der ihnen den Schnee in die Gesichter fegte. Riven spürte, daß sie bergauf gingen, und er fragte sich, wie Bicker wissen konnte, wohin er sie führte. Doch der dunkle Mann ging unbeirrt voran. Langsam bewegten sie sich über den schlüpfrigen Boden, und Riven begriff, daß sie den Bergkamm am Ende des Tals bestiegen, der sich wie der Rücken eines Drachens nach Westen erstreckte und in das Hochgebirge führte. Aber wie sollten sie dort oben Schutz finden? 571
Schweigend gingen sie vorwärts durch den heulenden Wind und den wirbelnden Schnee. In Rivens Bart und Augenbrauen bildete sich Eis. Seine Finger erstarrten langsam, trotz der Pelzhandschuhe, die Quirinus für jeden von ihnen bereitgelegt hatte. Der Schnee wurde tiefer, reichte ihnen bis an die Waden, und es wurde immer mühsamer, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Riven hatten seinen Blick fest auf Bickers Rücken geheftet. Er dachte mit Schrecken daran, wie es wäre, wenn er den dunklen Mann in der schneedurchtosten Dunkelheit aus den Augen verlor. Plötzlich schrie Bicker auf und verschwand bis zum Kopf im Schnee. Riven stürzte vor und sank selbst in eine tiefe Schneewehe, die sich in einer Felsmulde gebildet hatte. Vergebens schlug er um sich, war schon bis zur Brust eingesunken, als Ratagans mächtige Faust ihn packte und herauszog. Vor ihnen ragte Bickers Kopf aus der weißen Fläche, war im dichten Schneetreiben kaum noch zu sehen. Keuchend lag Riven im Schnee, dann schleppte er sich zu Ratagan, der versuchte, dem dunklen Mann ein Seil zuzuwerfen. Sie sahen, wie seine Hand aus der Schneewehe nach dem Seil tastete, aber der Wind fegte das Seil zurück in ihre Richtung. »Du mußt ein Gewicht daran befestigen!« Riven überschrie das Heulen des Sturms. Ratagan nickte. In seinem schneeverkrusteten Gesicht war keine Regung zu erkennen. Er streifte die Handschuhe ab, schob sie in 572
seinen Schafsfellmantel und versuchte dann, mit unsicheren Bewegungen seiner erstarrten Fingern das Seil an dem Stiel seiner Streitaxt zu befestigen. Isay erschien neben ihnen, Jinneth im Schlepptau. Als sie anhielten, sank sie in die Knie, und Riven sah, daß ihr Haar auf ihren Schultern festgefroren war. »Diese verfluchten Hände«, knurrte Ratagan. Seine Finger gehorchten ihm nicht. Er ließ die Axt sinken und schlug sich mit den Armen an die Seite. »Laß mich mal!« rief Riven. Er zog die Handschuhe aus und begann, an dem Seil herumzufingern. Erstaunlich, wie schwierig eine so einfache Verrichtung sein konnte. Durch das Tosen des Sturms klang ein Geräusch. Ein hohes Heulen, das den Wind für einen Augenblick übertönte und dann vom Schnee erstickt wurde. Riven hielt inne. »Was war das?« »Mach den verdammten Knoten!« schrie Ratagan. Er hatte den Kopf gehoben und spähte suchend in das Schneetreiben. »Wir haben nicht viel Zeit!« Dann war es geschafft. Riven warf die Axt dorthin, wo Bickers Kopf noch immer schwach zu erkennen war. Mit Verspätung betete er darum, daß ihm die Waffe nicht den Schädel spalten würde. Wieder klang das wilde Heulen zu ihnen. Es schien hinter ihnen zu sein, weiter unten am Bergkamm, aber es war jetzt lauter, schien näherzukommen. 573
Bicker zerrte an dem Seil, und sofort begannen die drei anderen, ihn wie einen übergewichtigen Fisch herauszuziehen. Endlich lag er neben ihnen, über und über mit Schnee bedeckt, das Gesicht grau. »Ein Eisriese«, keuchte er mit blauen Lippen. »Habt ihr ihn gehört?« Ratagan und Riven halfen ihm auf die Beine, und er schüttelte den Schnee ab wie ein Hund. Wieder ertönte der heulende Schrei — sehr nahe diesmal. Da war etwas, das links von ihnen aus dem Blizzard kam. »Er weiß, daß wir hier sind«, informierte sie Ratagan. »Er ist hinter uns her.« »Jesus!« sagte Riven. Er mußte an den Traum denken, den er in Beechfield gehabt hatte und in dem er im Schneesturm einem Eisriesen begegnet war. »Kommt!« rief Bicker und brach den Bann, der sie wie erstarrt verharren ließ. »Wir müssen weitergehen!« Er bog nach rechts ab, um die Schneewehe vor ihnen zu umgehen. Riven sah, wie er sein Kurzschwert aus der Scheide zog. Seine eigenen Finger waren zu taub, um irgend etwas zu tun, geschweige denn einen Eisriesen zu bekämpfen. Wieder fragte er sich, ob Bicker wußte, wohin er sie führte. Der Weg nach rechts schien über den nördlichen Hang eines schroffen Bergkamms zu führen. Der Hang fiel zur Seite hin steil ab, und Riven rutschte auf dem Eis, das sich unter dem Schnee befand, aus und fiel auf die 574
Knie. Ein Windstoß packte nach ihm wie eine große Hand und warf ihn auf die Seite. Mühsam und fast blind kam er wieder auf die Beine. Ratagan stieß gegen ihn und schob ihn vor sich her. Sie schrien Bicker zu, langsamer zu gehen und auf sie zu warten, und ungeduldig drehte er sich um. Es geschah etwas mit dem Sturm. Es war, als sei er plötzlich noch einmal um ein paar Oktaven gestiegen. Der Wind schrie und heulte wie ein wahnsinniges Lebewesen, riß ihnen den Atem vom Mund und preßte sie gegen die Felsen. Er brach große Schneebrocken aus dem Hang und ließ sie über den Boden tanzen. Der Eishauch des Windes drückte sie nach unten, und sie gruben ihre tauben Finger in Eis und Schnee, suchten einen Halt, um nicht vom Hang gerissen zu werden. Riven spürte, wie Ratagan ihn an den Riemen seines Rucksacks packte und festhielt. Vor ihnen klammerte sich Bicker wie eine verzweifelte Spinne an einen vereisten Felsblock. Dann drang das Heulen durch den tosenden Sturm, laut und schadenfroh — und sehr nah. Riven hob automatisch den Kopf, aber der Schnee, den der schneidende Wind vor sich herfegte, zwang ihn sofort, die Augen zu schließen. Hinter ihm schrie Jinneth. Riven wand sich in Ratagans Griff, beschirmte die Augen mit einer Hand und sah zurück. Er konnte kaum etwas erkennen, meinte aber, Bewegungen auszumachen — 575
Gestalten, die sich durch den Blizzard bewegten. Der Wind erstickte weitere Schreie. Ratagan stand mühsam auf. »Er greift an!« schrie er und griff nach seiner Axt, aber dann rutschte er aus, und der Wind warf ihn zu Boden. Verzweifelt streckte Riven die Hände nach ihm aus, als er durch den Schnee rutschte. Jinneth tauchte vor ihnen auf, die Hände immer noch vor sich zusammengebunden. Sie stürzte und kroch durch den Schnee. Er stob wolkenförmig um sie herum auf. Sie schrie etwas, was Riven nicht verstehen konnte. Schnee bedeckte ihn von Kopf bis Fuß, drang ihm in die Ohren und versuchte, seine Augen zu versiegeln. Er packte Jinneth, als sie zu ihm kroch. »Wo ist Isay? Was ist passiert?« Doch der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen. Dann sah er den Eisriesen aus dem Blizzard kommen wie die Inkarnation des Winters. Die frostigen Augen glühten wie zwei Sterne. Sein Fell war schneebedeckt, und Eiszapfen hingen von seinem plumpen Maul. Unglaublicherweise war Isay noch auf den Beinen und kämpfte gegen ihn. Sein Stab zuckte dem Riesen entgegen, und die Bestie versuchte, die Stöße mit seinen mächtigen Armen abzuwehren. Doch der Myrcaner hatte einen schweren Stand. Seine Füße fanden auf dem Schnee, dem Eis und dem Geröll keinen festen Halt, und immer wieder stolperte er. Nur mit der Geschicklichkeit eines Akrobaten 576
gelang es ihm immer wieder, einen Sturz zu vermeiden. Noch während Riven hilflos die Szene betrachtete, zerbrach der Myrcanerstab in den Händen seines Besitzers, und Isay wurde von dem Schlag eines zottigen Arms zur Seite geschleudert. Der Eisriese stieß wieder ein Heulen aus und sah Riven in die Augen. Er weiß, wer ich bin. Wie erstarrt lag er am Boden, Jinneth halb über sich. Ihr Gewicht hielt ihn fest. Er konnte sich nicht bewegen. Ich werde sterben. Er hörte, wie Ratagan etwas in den Wind rief und wie Bicker darauf antwortete, aber sie waren zu weit weg. Nichts konnte diese Augen aufhalten. Der Riese kam wie ein Berg auf ihn zugestürmt, das Maul weit aufgerissen — und zuckte zusammen, als ihn ein fußballgroßer Felsbrocken am Kopf traf. Ratagan war zusammen mit Bicker oben auf dem Hang, und sie ließen einen Regen von Felsbrocken auf die Kreatur niedergehen, die Gesichter verzerrt von Schreien, die Riven nicht hören konnte. Ein großer Stein traf den Riesen am Kiefer, und Blut spritzte in den Wind. Die Bestie brüllte vor Wut und begann, den Hang hinaufzuklettern. Isay tauchte von irgendwoher auf, das abgebrochene Ende seines Stabes in der Hand. Er stolperte hinter dem Riesen her und 577
rammte ihm mit aller Kraft das zersplitterte Stockende in die Leistengegend. Der Riese stieß einen schrillen Schrei aus, wirbelte herum und sank in die Knie. Sein Blut strömte in einem dunklen, dampfenden Strahl in den Schnee. Isay rollte wie besessen zur Seite, als die Bestie sich auf ihn zu bewegte. Der Riese schrie noch immer und fiel vornüber, versuchte mühsam und auf allen vieren Isay zu folgen, aber Ratagan und Bicker stiegen wie unerschrockene Bergsteiger auf seinen Rücken. Riven sah Bickers Schwert bis zum Heft in dem zottigen Körper verschwinden, und dann spaltete Ratagans Axt den mächtigen Schädel. Der Eisriese bewegte sich nicht mehr. Sein Blut begann, auf dem Schnee festzufrieren. Riven wurde bewußt, daß Jinneth sich an ihn klammerte, ihr Gesicht an seiner Brust barg. Er stieß sie zur Seite und stand auf, schwankend im Ansturm des Windes. Seine drei Freunde stolperten schneebedeckt auf ihn zu. Ihre Gesichter sahen aus wie gefrorene Masken. »Ich weiß, wo wir Unterschlupf finden!« schrie ihm Bicker ins Ohr. »Wir müssen uns beeilen, sonst stirbt die Frau.« Er wies auf Jinneth, und Riven sah, daß sie halb bewußtlos war. Der Schock über das Erscheinen des Riesen hatte sie fast umgebracht. Er bückte sich und schlug ihr energisch ins Gesicht, bis ihr Blick wieder etwas klarer wurde. Dann nahm er den Strick, 578
mit dem ihre Hände gefesselt waren, und zog sie hoch. Sie stemmten sich in den Sturm und ließen die Leiche des Eisriesen unter einem rasch wachsenden Schneehügel hinter sich. Der Blizzard tobte unablässig weiter, und sie mußten sich fast bis zum Boden vorbeugen, um gegen den Sturm anzukommen. Man konnte die Hand nicht mehr vor Augen sehen, und sie tasteten sich mit den Händen durch die eis überzogene Felslandschaft. Schließlich bewegten sie sich kriechend vorwärts. Riven war am Ende seiner Kräfte. Nur die Tatsache, daß er Jinneth hinter sich herziehen konnte, ließ ihn weitermachen — dies und die Angst, Bicker aus den Augen zu verlieren. So schob er sich beharrlich dicht hinter dem dunklen Mann durch den Schnee. Die Gefühllosigkeit seiner Füße und Hände wurde verdächtig angenehm, und eine Benommenheit, die er als Vorbote des Kältetodes erkannte, bemächtigte sich seiner. Hände schüttelten ihn, schlugen ihn, und verärgert öffnete er die Augen. Er hatte sich einfach in den Schnee gelegt. Jinneth schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein. Ihre Haare waren eisverkrustet und ihre Augen ohne Glanz. Er stemmte sich hoch und kroch weiter. Bicker hatte sie beschwindelt. Hier gab es keinen Unterschlupf. Es gab nichts als den Schnee, den Fels und die Riesen. Gleich würde er sich wieder hinlegen und etwas schlafen. Ihm war überhaupt nicht mehr kalt. 579
Seine Stiefel scharrten über der Fels, und der Wind verschwand. Er war plötzlich wie abgeschnitten. Riven öffnete die Augen, aber es gab kein Licht. Er konnte nichts sehen. Seine Schultern schmerzten, und er hörte Eis splittern. Ihm wurde klar, daß zwei Leute ihn schleppten. Seine Beine schleiften über den Boden. Das Verstummen des brüllenden Sturms erfüllte seinen Kopf mit einem lauten Pfeifton. »Wo sind wir?« fragte er murmelnd, aber niemand antwortete ihm. Er hörte, wie Bicker einen überraschten Ruf ausstieß, und wurde dann neben Jinneth auf den Boden gelegt. Jemand warf Decken über sie beide und begann, seine Hände zu massieren und ihm auf die Wangen zu schlagen. Er knurrte ihn an. Konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen? Doch dann spürte er Wärme im Gesicht, und Licht schimmerte vor seinen eisverklebten Augenlidern, und er zwang sich hinzusehen. Ein Feuer. Ein Feuer brannte vor ihm, vertrieb die Dunkelheit und warf seinen Schein auf hohe Felswände ringsum. Für eine Sekunde dachte er, daß er wieder in den Abwasserkanälen war, aber das konnte nicht sein: Es waren Bicker und Isay, die die Flammen nährten. Sie nahmen dicke Scheite von einem hohen Stapel an der Wand und ließen das Feuer hoch auflodern. Der Rauch stieg Riven in die Kehle, und er mußte husten. Zugleich spürte er den ersten Schmerz, als seine Hände langsam wieder Gefühl bekamen, 580
und stöhnte laut. Ratagan hörte auf, ihn zu massieren, und tätschelte gutmutig Rivens Kopf. Halbgeschmolzenes Eis löste sich aus den Haaren. »Schön, daß du wieder bei uns bist, mein Freund. Halt jetzt die Augen auf und zähl deine Zehen. Zieh die Kleider aus und wärm dich auf. Bicker hat ein Wunder vollbracht.« Riven stöhnte wieder. Ein stechender Schmerz durchlief seine Arme und Beine. Nase und Ohren brannten wie Feuer. Doch er zwang sich, den Rucksack abzustreifen, und humpelte hinüber zum Feuer. Bicker und Isay legten in fieberhafter Hast Holz nach und wirkten im tanzenden Licht der Flammen fast wie Besessene. Sie trugen nur noch ihre Hosen, und Schmelzwasser glitzerte in ihren Haaren. Riven begann seine tropfnasse Kleidung abzustreifen. »Wie, zum Teufel, hast du diesen Ort gefunden?« fragte er Bicker. Der dunkle Mann lächelte. »In erster Linie durch Glück. Die Myrcaner benutzen ihn manchmal, wenn sie hier oben sind. Wir haben großes Glück. Sie — oder wer immer es war — haben einen ordentlichen Vorrat an Holz zurückgelassen. Das ist hier oben eine kostbare Sache. Wahrscheinlich hat er unser Leben gerettet. Was ist mit deinen Fingern und Zehen? Spürst du sie wieder?« »Das kann man wohl sagen. Es war eine lange Nacht«, sagte Riven müde. Die Wärme 581
machte ihn benommen, noch während er sprach. Ratagan trug Jinneth zum Feuer. Er hatte ihr eine Decke umgeworfen, und sie war nackt darunter. Ihr nasses Haar hing ihr in Strähnen ins Gesicht. »Die Lady hier fühlt sich nicht wohl, glaube ich.« Er legte sie dicht an das Feuer und hüllte die Decke mit einer rauhen Zärtlichkeit um ihre Glieder, die Riven lächeln ließ. Bier war nicht Ratagans einzige Schwäche. Er konnte keine Frau leiden sehen, auch dann nicht, wenn sie versucht hatte, ihn umzubringen. Jinneth bewegte sich schwach und stöhnte. Im nächsten Moment schlug sie die Augen auf. Ihr Blick fiel auf das Feuer und auf die vier Männer, die um die Flammen herumsaßen. Sie setzte sich auf, und die Decke fiel ihr von den Schultern und enthüllte ihre Brüste. Mit funkelnden Augen zog sie die Decke wieder hoch. »Ihr Tiere!« fuhr sie die Gefährten an. Bicker betrachtete sie müde. »Wir Tiere haben dir das Leben gerettet, nachdem du versucht hast, uns zu töten, also zähme deine Wut und beantworte uns lieber ein paar Fragen.« Sie starrte ihn an, sagte aber nichts. Er seufzte und stocherte in dem Feuer herum. »Warum bist du uns gefolgt?« fragte Riven sie. »Was sollte das?« Seine Stimme zitterte ein wenig. Er wünschte, er hätte sie nicht nackt 582
gesehen. Es hatte zu viele geheime Erinnerungen ausgelöst. »Du hast Macht in dir. Ich wollte sie haben«, sagte sie einfach, aber es klang nicht ehrlich. Sie wirkte für einen Augenblick verwirrt und schüttelte dann verärgert den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich mußte euch folgen. Ich weiß nicht, warum.« Sie klang verstört, und Riven mußte den Impuls unterdrücken, sie zu berühren. Hier, in einer Umgebung, in der es keinen Reichtum und keine Intrigen gab, ähnelte sie Jenny mehr als je zuvor. Sie war einfach ein junges Mädchen. Er schluckte und blickte zur Seite. Rauchschleier hingen in der Luft. Das einzige Geräusch in der Höhle war das Prasseln des Feuers. Jinneth musterte ihre verschlossenen Gesichter. »Wo geht ihr hin?« fragte sie fast flehentlich. »Wir suchen die Zwerge«, polterte Ratagan. »Wir suchen Antworten, suchen einen Weg, Minginish zu erlösen.« »Und du bist der Schlüssel dazu«, sagte sie zu Riven. Er nickte stumm. »Ihr seid Narren.« »Und was bist du?« fragte Bicker sie ruhig, aber sein Blick war hart. »Was für eine Art Frau bist du — oder bist du überhaupt gar keine Frau?« »Bringt sie hinaus in den Blizzard«, sagte Isay zum Erstaunen der Gefährten gleichmütig. »Ich sehe nur Böses in ihr.« 583
»Nein!« rief Riven plötzlich. Sie starrten ihn an, und er stotterte, als er unter ihren forschenden Blicken fortfuhr. »Sie muß mit uns kommen. Ich weiß nicht warum, aber es ist bestimmt, daß sie hier ist, daß sie uns begleitet.« »Ist es wegen der Ähnlichkeit, die sie mit jemand anderem hat?« fragte Bicker. Riven senkte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht. Ich glaube, daß es kein Zufall ist, daß sie hier ist. Ich glaube, daß sie genauso hierhergezogen wurde wie ich selbst.« Jinneth sah Riven verwundert an. »Wem sehe ich ähnlich? Was soll mich hierhergezogen haben?« Er sah sie an. »Du bist das Ebenbild meiner verstorbenen Frau.« Riven erklärte es ihr. Sie blinzelte. »Du bist ein Zauberer«, flüsterte sie. »Du und deine Gefährten. Wie wärt ihr sonst aus dem Kerker entkommen?« Ratagan lachte schallend. »Wir hatten Hilfe, Lady, Hilfe aus einer Richtung, die euch im Traum nicht eingefallen wäre. Wir brauchten keine Zauberei. Aber selbst wenn, was würde es ausmachen? Würde dich das berechtigen, uns aus den bewohnten Gebieten zu vertreiben, uns in diese Berge zu hetzen, unsere Kinder zu mißhandeln, unser Eigentum zu beschlagnahmen? Ich denke nicht.« Er spuckte ins Feuer. Jinneth antwortete nicht, sah sie aber über das lodernde Feuer hinweg an. Isays 584
unbewegliches Gesicht, Bickers Wachsamkeit, Ratagans Wut, Rivens verzerrten Mund. »Ihr seid Männer«, sagte sie verbittert. »Was wißt ihr davon, wie es ist, in dieser Welt eine Frau zu sein, ein Bett wärmen zu müssen, um zu erreichen, was man will? Ihr, die ihr euch mit euren Schwertern und Rüstungen durch das Leben schlagt — was wißt ihr davon?« »Du bist doch damit bisher ganz gut gefahren«, sagte Bicker. »Ganz gut gefahren? Weißt du, wie oft ich, um mein Ziel zu erreichen, die Sklavin eines Mannes war, den ich verabscheute? Wie oft ich nachts unter einem Mann liegen mußte und absurde Geräusche von mir geben mußte, damit er dachte, er bereitet mir Vergnügen? Weißt du das? Und du glaubst, es gehört Mut dazu, ein Schwert zu schwingen ...« Sie brach ab. »Nicht jede Frau ist so machtbesessen, daß sie für jeden Fürsten, den sie trifft, die Beine breitmachen muß«, meinte Ratagan spitz. Jinneth stand plötzlich auf und ließ die Decke fallen. Nackt stand sie vor ihnen, die Arme in die Hüften gestemmt. Das Licht der Flammen tanzte über ihre Haut. Riven starrte sie für einen Augenblick an und schloß dann mit einem lauten Stöhnen die Augen. Ratagan sah mit rotem Kopf zur Seite. Bicker blickte finster in das Feuer. Nur Isay sah sie weiterhin mit einer Zornesfalte auf der Stirn an. »Denkt euch ein ruhiges Fleckchen und eine Flasche Wein dazu, und jeder von euch hier 585
wäre glücklich, sich meines Körpers zu bedienen. Warum soll ich im Austausch dafür nichts bekommen?« Sie setzte sich wieder und hüllte sich in die Decke. Ihre Augen funkelten. »War das nötig?« flüsterte Riven, aber sie hörte ihn nicht. Ein unbehagliches Schweigen folgte. Plötzlich begann Bicker in seinem Gepäck herumzustöbern. »Essenszeit. Eine warme Mahlzeit wird uns guttun.« Isay half ihm dabei, einige der gefrorenen Suppenblöcke aus ihren Behältern zu lösen. Seit Rim-Armishir schleppte er die Suppe mit sich herum. Bald brodelten zwei Rationen in dem einzigen Kupferkochtopf, den sie bei sich hatten. Langsam gingen ihnen die Vorräte aus. Es gab noch getrocknetes Fleisch und etwas Obst, weitere Suppe und einen kleinen Beutel mit Mehl, aber sie waren jetzt schon seit über zwei Wochen unterwegs, und ihre Rucksäcke, die ihnen anfangs bleischwer vorgekommen waren, waren jetzt, da sie nur noch die persönliche Ausrüstung der Männer beeinhalteten, federleicht. Während das Essen zubereitet wurde, nutzte Riven die Gelegenheit, einen brennenden Ast aus dem Feuer zu nehmen und ein Stück in die Höhle hineinzugehen. Ihn interessierte, wie tief sie sich erstreckte, und er wollte Jinneth eine Weile nicht sehen. Ratagan begleitete ihn. Die Höhle führte weiter, als ihre improvisierte Fackel sie sehen ließ. Sie war eng, aber hoch, 586
und der Boden war eben. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. »Kommt mir mehr vor wie ein Durchgang als wie eine Höhle«, murmelte Riven. Seine Stimme klang laut durch die Stille. Sie konnten die anderen nicht mehr hören und auch den Schein des Feuers nicht mehr sehen. Der Rauch des brennenden Astes ließ Riven husten. »Vielleicht befinden wir uns im Flur einer Zwergenbehausung«, meinte Ratagan, nur halb im Scherz. Er setzte sich auf einen stumpfen Stalagmiten und verschränkte die Arme. »Schmerzt es immer noch, sie in der Nähe zu haben?« fragte er mitfühlend. Riven sah ihn an. In dem dämmrigen Licht schien der große Mann mit den Felsen zu verschmelzen. »Ja. Und hier oben ganz besonders. Sie sind sich noch ähnlicher geworden.« »Und es ist bestimmt, daß sie hier sein soll, sagst du«, meinte Ratagan nachdenklich. »Aber von wem? Das frage ich mich wirklich. Und ist das gut oder schlecht?« Riven schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß es eine Frage von Gut und Böse ist. Es ist einfach so. Wie eine Gleichung. Es muß einfach so sein. Ein Zusammentreffen mit den Zwergen könnte vielleicht der Katalysator für eine bestimmte Reaktion sein.« »Aha.« Ratagan versuchte, nicht allzu verwirrt auszusehen. Riven mußte lächeln. 587
»Glaubst du, daß sie böse ist?« fragte er den großen Mann. Ratagan zog die Augenbrauen hoch. »Böse! Was für ein Wort. Ein zu großes Wort, um einfach damit herumzuwerfen. Nein, ich glaube nicht, daß sie böse ist, obwohl sie für erbärmliche Ziele schlechte Dinge tut. Ich glaube, sie weiß einfach nicht genau, was sie will.« Er rieb die Hände aneinander, als wolle er sie waschen. »Töten ist böse — und Freude daran zu haben. Es lächerlich zu machen. Das ist böse.« Sein Stimme klang traurig. Riven erinnerte sich daran, wie Ratagan die Söldner am Lagerplatz niedergemacht hatte, an das wilde Lachen, das er den Überlebenden hinterhergeschickt hatte. »Wir alle verlieren mal die Kontrolle«, sagte er lahm. Ratagan sah zu ihm auf und lächelte schwach. »Aye.« Ein kalter Lufthauch fuhr durch den Gang, und sie fröstelten. Sie waren immer noch halbnackt, ihre Kleidung hing zum Trocknen am Feuer. Die Fackel in Rivens Hand flatterte wie ein gefangener Vogel und erlosch beinahe. »Wir gehen besser zurück«, schlug er vor, aber aus irgendeinem Grund bewegte sich keiner von ihnen. Es war, als Warteten sie darauf, daß etwas geschah. Sie lauschten und hörten nichts als das langsame Tropfen von Wasser und ihren eigenen schneller werdenden Atem. Dann erlosch der Ast, und Dunkelheit umfing sie. Riven schob sich instinktiv an Ratagans Seite 588
und ließ den Ast fallen. Sein Herzschlag pochte dumpf an seinem Hals. Dann sahen sie das Licht. Einen blau-weißen Schein, der langsam aus dem Inneren der Höhle auf sie zukam, der Wände und Decke erhellte und sich in alle Richtungen ausbreitete. Sie erkannten vier Gestalten, die um sie herumstanden. Vier Gestalten, die nicht größer als anderthalb Meter, aber von kräftiger Statur waren. Ihre Schultern waren breit wie eine Tür. Sie hatten lange, dichte Bärte und hielten schwere Hämmer in den mächtigen Fäusten. Ihre Stirn war kahl und zerfurcht, und in ihren Augen schien ein rotes Feuer zu leuchten. »Zwerge«, sagte Ratagan heiser.
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ACHTZEHNTES KAPITEL »Wir sind die Graijnehr, das Steinvolk«, sagte einer der Zwerge. Seine Stimme war so tief wie das Grollen einer unterirdischen Lawine, und das rote Licht in seinen Augen leuchtete wie zwei glühende Kohlen. »Wir sind das älteste aller Völker der Welt, und wir leben am längsten. Wir kennen das Leben in Minginish seit der Zeit, in der der Große Wald das Vale bedeckte und kein Turm den Hügel von Talisker krönte, bis heute, da der Winter den Sommer verdrängt hat, die Bestien durch das Land streifen und die Menschen sich gegeneinander wenden.« Der unterirdische Raum hatte eine niedrige Decke, an der Ratagan sich fast den Kopf stieß, aber er erstreckte sich in jede Richtung sehr weit. Man hatte massive Felspfeiler stehengelassen, die die Decke stützten. In die Pfeiler waren Abbildungen von Männern, Frauen, Tieren, sogar von Eisriesen und Grypeshs eingemeißelt. Riven sah einen wütenden Gogwolf auf einer Säule, auf einer anderen einen Vyrmann und auf einer dritten einen Myrcaner. Auf dem Boden der Kaverne hatte man in unregelmäßigen Abständen runde Feuerstellen angelegt. Die Flammen, die aus ihnen loderten, 590
tauchten die Säulen und die ganze Kaverne in ein bizarres Licht, das sie wie eine Vision der Hölle erscheinen ließ. Ein Dutzend Zwerge saß auf hochlehnigen Stühlen vor den Gefährten. Das Leuchten ihrer Augen paßte zum Licht der Feuerstellen. Hinter ihnen befanden sich eine Reihe von Säulen, die sich von den anderen unterschieden. Jede von ihnen stellte einen gigantischen Zwerg dar, der sich gegen das Gewicht der Felsdecke stemmte, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. Es waren insgesamt zwölf verschiedene, doch allen war die ungeheuere Belastung ins Gesicht geschrieben. Sie wirkten beängstigend echt. In der Kaverne war es unangenehm warm, und Riven trat Schweiß auf die Stirn. Schweigend stand er mit den anderen vor den Zwergen. Die vier Zwerge, denen Ratagan und er in dem Gang begegnet waren, hatten sie entwaffnet und hierher gebracht. Jetzt standen sie hier wie vor Gericht. Und der Zwerg, der zu ihnen sprach, hatte das Gesicht von Calum Mackinnon, Jennys Vater. »Wir haben schon viele Männer in diese Berge kommen sehen. Viele von ihnen haben sie nicht lebendig verlassen. Einigen haben wir geholfen, einige haben wir ignoriert, einige haben wir getötet. Ihr habt einen Myrcaner bei euch. Das ist gut, denn das Soldatenvolk entstand aus Fels, der von Zwergen bearbeitet worden war. Ihr habt einen großen und einen dunklen Mann bei euch. Ihr habt eine Lady bei 591
euch. Und ihr habt jemanden bei euch, in dem sich Kräfte drängen, wie das Wasser gegen die Staumauer. Jemanden, der nicht von dieser Welt ist, der so fremdartig ist, daß wir ihn gerochen haben, als er den ersten Schritt in diese Berge setzte. Wirklich eine interessante Gesellschaft. Und sie wird von Riesen und Menschen verfolgt. Das Vyrvolk hat ihr geholfen, und das Verborgene Volk ist mit ihr befreundet. Eine interessante Gesellschaft.« Der Zwerg schwieg, so als versuche er, sie einzuschätzen. Keiner seiner Kameraden bewegte sich oder sprach. Sie hätten selbst aus Stein sein können. Aber in Rivens Kopf klang ein leises Summen, wie eine weit entfernt geführte Unterhaltung. Er starrte den Zwerg an, der wie Calum aussah. Der Bart änderte das Gesicht, und die Augen waren anders, aber er war es, bis hin zu dem verschmitzten Zug um den Mund. Ein Zug, den Calum Jenny vererbt hatte und den auch Jinneth aufwies. Aber das Gesicht des Zwerges war unbeweglich, hatte nichts von der lebhaften Mimik, die Calum ausgezeichnet hatte. Die roten Augen hatten etwas Unmenschliches. Hinter den Gefährten standen noch viel mehr Zwerge. Als Riven und seine Freunde die Halle betreten hatten, hatten diese ihnen eine Gasse zu den hohen Stühlen gebildet, und der Gang unter ihren Blicken war wie ein Spießrutenlaufen gewesen. Die Zwerge unterschieden sich in Größe und Aussehen. 592
Einige waren fast so groß wie ein Mensch, wenn auch doppelt so breit. Andere waren sehr klein, reichten Riven noch nicht einmal bis zur Hüfte. Ihre Hände berührten fast den Boden. Allen gemeinsam waren die überproportional großen Gliedmaßen. Ihre Hände waren groß wie Kehrbleche, ihre Hüften glichen Baumstämmen, und ihr Brustumfang entsprach dem eines Fasses. Die meisten trugen Bärte, entweder kurzgeschnitten oder lang wie Frauenhaar. Einige hatten ihre lange Bärte hinter die breiten Gürtel geschoben. Es gab auch geflochtene Bärte. Manche Zwerge hatten Schnurrbärte, die bis tief ans Kinn hinunter wuchsen oder mit einer fettigen Substanz gezwirbelt waren und wie bleiche Fangzähne wirkten. Einige waren kahl; ihre zerfurchten Glatzen glänzten im Licht der Feuerstellen. Andere trugen dichtes langes Haar, das ihnen auf den Rücken fiel. Alle wirkten alt. Sie hatten faltige Gesichter und lange Nasen, die Augen lagen tief in ihren Höhlen, über denen dichte Brauen wuchsen, die ihnen einen zornigen Ausdruck verliehen. Die Augen glühten in dem dämmrigen Licht wie die Augen eines Tieres in einem Scheinwerfer, aber mit einem rötlichen Glühen, als brenne in ihren Köpfen ein schauriges Feuer. Als die Gefährten die Halle betreten hatten, hatte es ein Gemurmel gegeben, aber jetzt schwiegen die Zwerge. Riven spürte ihre Blicke in seinem Rücken. 593
»Was führt euch in diese Berge?« fragte der Zwerg. Es war Bicker, der antwortete. »Wir haben euch gesucht, Herr des Felsens. Wir erhoffen uns Hilfe von eurer Weisheit.« Der Zwerg hob eine Augenbraue. »Tatsächlich? Nun, ihr habt uns gefunden. Welche Fragen habt ihr an das Steinvolk?« Bicker zögerte und warf Riven einen Blick zu. Der nickte dem dunklen Mann zu und trat vor. »Ich muß euch zuerst eine Geschichte erzählen«, sagte er. Lange stand er schweißüberströmt in dem roten Licht und erzählte den Zwergen, die den Blick nicht von ihm ließen, die Geschichte von sich und Minginish. Er berichtete von seinen Abenteuern und dem, was ihm in seiner eigenen Welt widerfahren war. Er erzählte von Hugh und Jenny, Calum und dem dunkelhaarigen Mädchen. Sprach von Murtachs und Bickers Suche, den Kämpfen in Talisker und den Dales, den Leiden des Verborgenen Volkes und den Säuberungen. Und er erzählte ihnen von seinen Büchern. Er schilderte ihren Inhalt und wies auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem, was er geschrieben hatte, und dem, was wirklich passierte, hin. Er sagte ihnen, daß er diese Halle schon lange gekannt hatte, bevor er sie zum ersten Mal betreten hatte. Er kannte sie aus einer Szene seines dritten Buches, die er noch nicht geschrieben, aber sich schon vorgestellt hatte. Er wußte, daß der Zwerg, der aussah wie Calum, Thormod hieß, 594
und er meinte zu wissen, daß dieser Ort Kasnrim Jhaar war, was in seiner eigenen Sprache die Eiserne Festung hieß. Bei dieser Feststellung lief ein Raunen durch die anwesenden Zwerge, und einige von ihnen murrten ärgerlich. Aber die meisten betrachteten Riven mit unverhohlenem Erstaunen, und Thormod zeigte den Anflug eines Lächelns, der ihn noch mehr wie Calum aussehen ließ. »Wir haben einen Magier der Menschen in unserer Mitte«, sagte einer der anderen Zwerge. »Er ist nicht der erste, und er ist zweifellos ein begnadeter Erzähler, aber können wir seinen Worten Glauben schenken?« »Er hat den Namen dieses Ortes in unserer Sprache ausgesprochen. Das hat noch nie ein Mensch getan«, sagte ein anderer. »Er hat Kräfte in sich, wie ich sie noch nie bei einem Menschen gespürt habe«, meinte ein dritter nachdenklich. »Seine Beschreibung der Vorkommnisse in Minginish ist zutreffend«, sagte ein vierter. »Zumindest insoweit sagt er die Wahrheit.« »Er reist mit einem Myrcaner. Sie bieten ihre Dienste nicht leichtfertig an«, warf jemand ein, und die Zwerge, die auf den hohen Stühlen saßen, murmelten zustimmend. Thormod ergriff das Wort, unterbrach die Diskussion. »Was wollt ihr von uns?« fragte er mit weicher Stimme. 595
Riven erwiderte seinen Blick müde. Seine Kleider waren schweißnaß, und er fühlte sich benommen. Seine Kehle war von dem langen Sprechen staubtrocken. Er schwankte ein bißchen und fühlte sofort Isays Hand, die ihn stützte. »Antworten«, sagte er. »Ich möchte, daß ihr mir von Zauberei erzählt und davon, wie sie nach Minginish gekommen ist.« Einer der Zwerge schnaubte spöttisch, doch Thormod runzelte die Stirn. »Was möchtest du tun?« Riven seufzte. »Ich dachte, das hätte ich euch klargemacht. Ich möchte die Türen zwischen Minginish und meiner Welt schließen. Beenden, was hier geschieht.« Und ich möchte, daß meine Frau in Frieden ruhen kann. Aber irgendwie konnte er das nicht aussprechen, solange Jinneth hinter ihm stand. Thormod betrachtete ihn für einen Moment schweigend. »Wir wußten, daß ihr kommt«, gab er schließlich zu. »Und zumindest ich wußte, was euch herführt. Wir haben Kontakt zum VyrVolk in den Städten und zum Verborgenen Volk in den Bergen. Wir kennen Phrynius, obwohl er noch ein junger Mann war, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Du sprichst die Wahrheit, und du erschreckst mich. In dir stecken genügend Kräfte, um diese Welt einstürzen zu lassen und neu aufzubauen. 596
Vielleicht ist es das, was du und deine Geschichten bewirken. Wir wissen auch von der Existenz der Tür von Arat Gor, dem Roten Berg, obwohl kein Angehöriger meines Volkes sie jemals passiert hat. Wir haben dort eine Wache aufgestellt, und niemand ist in den letzten Monaten hindurchgeschritten. Aber wir haben das dunkelhaarige Mädchen gesehen, das eine Schwester der Lady in eurer Gesellschaft ist. Sie wanderte durch die Berge, und die Bestien taten ihr nichts an. Auch unsere Kräfte sind gegen sie machtlos, und die Jäger des Verborgenen Volkes konnten ihrer nicht habhaft werden. Aber wir spüren sie, selbst hier unten, in den Tiefen von Kasnrim Jhaar. Sie ist nicht menschlich. Sie besteht aus purer Magie, dem Stoff, aus dem Minginish geschaffen wurde.« »Erzähl mir mehr von dieser Magie«, widerholte Riven mit unsicherer Stimme. Thormod schüttelte den Kopf. »Du und deine Gefährten braucht Erholung und etwas zu Essen, bevor wir uns die Köpfe über diesem Rätsel zerbrechen. Ausgeruht und mit einem warmen Essen im Bauch wird euch das Nachdenken leichterfallen. Ihr habt einiges durchgemacht. Laßt mich euch die Gastfreundschaft von Jhaar anbieten und mich für unser Mißtrauen entschuldigen.« »Ich wäre für ein paar Bier zu haben«, murmelte Ratagan, nicht allzu leise. Einige der Zwerge kicherten. 597
»Ein Mann, der die guten Dinge des Lebens zu schätzen weiß. Wir werden für dich Bier herbeischaffen, sei unbesorgt, großer Mann. Und nachdem du Zwergenbier getrunken hast, wirst du nie mehr mit anderem Bier zufrieden sein.« Ratagan verbeugte sich tief. »Hyval und Thiof werden euch zu euren Quartiere weiter unten im Berg führen, wo ihr euch waschen und erholen könnt. Ich werde euch später dort aufsuchen.« Thormod nickte den Zwergen im Hintergrund zu, und als die Gefährten sich umdrehten, stellten sie fest, daß man wieder eine Gasse für sie gebildet hatte. Zwei sehr kleine Zwerge deuteten in den Hintergrund der Halle. »Bis später also«, sagte Riven. Er stolperte ihren beiden stämmigen Führern nach, dicht gefolgt von Ratagan, Isay, Jinneth und Bicker. Thormod hat recht, dachte er. Er fühlte sich, als könne er eine Woche lang schlafen. Gleichzeitig durchlief ihn die Aufregung wie ein Fieber. Die Quartiere, die man ihnen zugewiesen hatte, entpuppten sich als zwei geräumige Kammern, die aus den Felsen herausgehauen worden waren und über Feuerstellen verfügten. In einem der Kamine brannte ein Holzfeuer, und Bicker sinnierte laut über die Schwierigkeiten, die es mit sich bringen mußte, Holz in diese Höhe zu bringen. Oder in diese Tiefe, erinnerte ihn Ratagan grinsend. Sie hatten keine Ahnung, wie tief sie sich 598
innerhalb des Berges befanden, aber der Weg von ihrem Lagerplatz in der Höhle war lang gewesen, und die vier Zwerge, die sie entdeckt hatten, hatten sie die ganze Zeit über zur Eile gemahnt. Die Räume waren mit niedrigen Tischen und Bänken möbliert, die aus Marmor geschnitten zu sein schienen. An den Wänden befanden sich couchähnliche Betten, auf denen sich Felle stapelten. Zahlreiche irdene Töpfe und Krüge standen auf den Tischen. Sie verströmten einen Geruch, der den Gefährten das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Sie hatten vergessen, wann sie zuletzt ein richtiges warmes Essen bekommen hatten. Ihre beiden Führer, Hyval und Thiof, rückten die schweren Bänke um die Tische, als seien sie aus Sperrholz. Sie schütteten Bier in große Becher und zerlegten fachmännisch Fleischkeulen, die von irgendeiner Art Rotwild zu stammen schienen. Dann verbeugten sie sich und verließen schweigend den Raum. Die Steintür schlossen sie hinter sich. Bicker versuchte als erstes die Tür zu öffnen. Er zog an der Steinplatte, bis ihm der Schweiß über das Gesicht lief, aber auch als Isay und Ratagan ihm zu Hand gingen, ließ sich die Tür nicht bewegen. »Wir sind also Gefangene«, stellte Ratagan fest. Er wischte sich über die Stirn und betrachtete interessiert das dunkle Bier. Dieser Gedanke schien ihn nicht besonders zu beunruhigen. 599
»So könnte man sagen«, sagte der dunkle Mann. »Zwerge behalten ihre Geheimnisse gerne für sich. Vielleicht gefällt ihnen die Vorstellung nicht, daß wir in ihren Höhlen herumlaufen und in jeden Winkel spähen.« Ratagan trank mit einem ekstatischen Ausdruck auf dem Gesicht. »Bei allem, was heilig ist!« rief er. »Ein Volk, das so gutes Bier machen kann, kann nicht so schlimm sein. Sie können mich hierbehalten, solange sie wollen, wenn sie nur dafür Sorge tragen, daß mein Becher nicht leer wird. Colbans Bier schmeckt dagegen wie Flußwasser, und er ist kein schlechter Braumeister.« Bicker lachte. »Du bist leicht glücklich zu machen«, sagte er, aber auch sein Gesicht veränderte sich, als er von dem Zwergenbier trank. Für eine Weile sprachen sie nicht viel, sondern bedienten sich von dem Essen und den Getränken. Von Zeit zu Zeit rühmte jemand eine besonders wohlschmeckende Speise. Es gab Äpfel und Birnen, frischen Käse, ofenwarmes Brot, Räucherfleisch, Zwiebeln, Tomaten, Wabenhonig, heiße Brühe und erlesenen Schweine- und Wildbraten, der außen knusprig und innen zartrosa war. Und es gab natürlich Bier: einen mächtigen, schaumgekrönten Krug der dunklen und kalten Flüssigkeit. Jinneth trank zwei Becher davon, stürzte es hinunter, als würde sie verdursten. Dann riß sich ein Stück Brot ab, 600
nahm von dem Käse und setzte sich mit dem Rücken zu den anderen ans Feuer. Riven sah Bicker an, und der dunkle Mann zuckte mit den Schultern. Ratagan, Isay, Bicker und Riven zogen sich in den anderen Raum zurück, um sie in Ruhe zu lassen. Sie schoben Steinsessel vor den Kamin und setzten sich Schulter an Schulter hinein. Müdigkeit legte sich wie eine dunkle Wolke über sie. Sogar Isay schien zu dösen. Ratagan kicherte plötzlich, und Riven sah ihn an. »Was ist?« »Ich denke an die Gesichter unserer Gastgeber, als du ihnen den Namen dieses Ortes sagtest. Ich könnte wetten, daß es nicht viele Bewohner dieser Welt gibt, die einen Zwergenrat so sprachlos gesehen haben.« »Es war eine gut erzählte Geschichte«, lobte Bicker. »Sogar für einen Geschichtenerzähler.« Isay rappelte sich aus seinem Dösen auf. »In den alten Geschichten heißt es, daß alle Zwerge das Streiten und Argumentieren lieben und gerne Probleme und Rätsel lösen. Sie hassen es, zu kämpfen. Man sagt, daß dies einer der Gründe dafür ist, daß sie dabei geholfen haben, die Myrcaner zu erschaffen: Sie sollten Minginish für die Zwerge verteidigen. Unser Volk wurde auch der Hammer des Steinvolks genannt, und es gibt Leute, die behaupten, daß Zwergenblut in unseren Adern fließt. Dies sei der Grund für unsere Härte und unser langes Leben. Auf jeden Fall fühle ich mich hier so zu Hause wie in Dun Merkadal 601
selbst. Ich denke, das wird uns helfen.« Er nahm einen Schluck von dem starken Bier. Ratagan stieß ihn an. »Zwergenbier ist tatsächlich ein kräftiges Gebräu. Isay, ich glaube, das war die längste Rede, die ich je von dir gehört habe.« Bald darauf übermannte sie die Müdigkeit. Sie legten sich auf die fellüberzogenen Liegen an den Wänden und schliefen fast augenblicklich ein. Nur Riven blieb wach und kämpfte mit sich selbst. Schließlich fluchte er leise und ging hinüber in den anderen Raum, wo Jinneth zusammengesunken mit ihrem Becher in der Hand neben dem Feuer lag. Er kniete nieder und starrte sie an. Ihr Mund war einen Spalt breit geöffnet, ihre Augen waren geschlossen und ihre Wangen von der Hitze gerötet. Die Flammen warfen Schatten über ihr Gesicht und ihre Haare. »Jenny«, sagte er flüsternd und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Er hätte seine Seele dafür gegeben, sie als die Frau aufwachen zu sehen, die er einst gekannt hatte. Aber wie Guillamon einmal gesagt hatte: Der Tod war endgültig — auch in einem Land der Träume und Geschichten. Und das hatte Riven mittlerweile auch akzeptiert. Madras Verdienst. Das Eingeständnis, seine ernst blickende junge Krankenschwester zu lieben, war gleichzeitig das Erlöschen einer letzten, irrationalen Hoffnung gewesen. Seine Frau war tot, und diese schlafende Frau hier vor ihm war jemand 602
anderer, war nie seine Frau gewesen. Aber auch er war nur ein Mensch, und er konnte nicht anders, als in dieses Gesicht zu starren, das er einmal geliebt hatte. Es war, als wolle er sich diese Züge unauslöschlich in sein Gedächtnis brennen. Unendlich zärtlich küßte er Jinneth auf die Stirn. Dann nahm er sie auf die Arme und bettete sie auf eine der Liegen. Er deckte sie zu und ging dann, ohne sich noch einmal umzublicken, zu seinem eigenen Bett zurück. Er wurde von Gesprächen geweckt, von murmelnden Stimmen und dem Klirren von Geschirr. Er tauchte aus einem tiefen traumlosen Schlaf auf und rieb sich die Augen, bis er sie öffnen konnte, ohne zu blinzeln. Ein großes Feuer war angefacht worden, und auf dem Tisch brannten große Kerzen. Riven setzte sich auf. Der Zwerg Thormod saß am Kamin, rauchte eine lange Tonpfeife und unterhielt sich mit Ratagan und Bicker. Isay stand neben ihnen und hörte zu. Jinneth schien noch zu schlafen. Ein Bierkrug stand neben der Sitzbank, und alle hielten Becher in der Hand. Der Zwerg bemerkte, daß Riven aufgewacht war. »Guten Morgen, mein Freund, denn draußen ist tatsächlich Morgen. Ich hoffe, deine erste Nacht in Jhaar war angenehm.« Riven murmelte etwas Unverständliches. Das Bier der vergangenen Nacht hatte seine Spuren hinterlassen. Ihm war nicht nach einer Unterhaltung zumute. 603
Der Zwerg lächelte und zog an seiner Pfeife, während Ratagan und Bicker von ihrem Bier tranken. Neben Rivens Couch fanden sich eine Schüssel mit Wasser und ein Handtuch. Er wusch sich gründlich, spürte die erfrischende Kälte des Wassers auf der Haut. Danach fühlte er sich etwas besser und setzte sich zu den anderen ans Feuer. Der Raum war jetzt heller wegen der Kerzen. Riven fragte sich, wie Thormod wissen konnte, ob draußen Tag oder Nacht war. »Was gibt's denn?« fragte er, während er zum Tisch hinüberging und sich einen Apfel aussuchte. Ratagan reichte ihm einen Becher mit Bier. Thormod nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete sie für einen Moment, eine Geste, die Riven so sehr an Calum erinnerte, daß er den Zwerg verblüfft anstarrte. »Der Rat trifft sich heute morgen, um darüber zu beraten, was wir euch später am Tag erzählen werden«, sagte Thormod. »Unser Geschichtenerzähler wird tief in sein Repertoire greifen und die Ältesten von uns um Rat fragen, damit er euch eine Sage erzählen kann, wie ihr sie noch nie gehört habt.« »Eine Sage?« rief Riven. »Du meinst, er wird uns Geschichten erzählen?« »Eine Geschichte«, korrigierte ihn Thormod. »Eine Geschichte.« Erbitterung klang aus Rivens Stimme, und Bicker warf ihm einen warnenden Blick zu, den er ignorierte. »Wir 604
haben keine Zeit, hier herumzusitzen und Geschichten zu erzählen. Ich brauche Anworten, um entscheiden zu können, wie es weitergeht, was ich als nächstes tun soll.« Thormod stieß Rauch aus, der schlangengleich im Kerzenlicht aufstieg. Seine Stimme klang mild, doch seine Augen strahlten jetzt heller. »Die Geschichte wird deine Fragen beantworten«, versprach er. Seine Stimme war so tief, daß Riven das Gefühl hatte, sie ließe seine Knochen vibrieren. Er beruhigte sich. Geschichten und Zauberei. Er wußte, daß der Zwerg recht hatte. Geschichten und Zauberei waren das Wesen von Minginish und bildeten die entscheidende Verbindung zu seinem eigenen Leben. Genau wie der Berg. Sgurr Dearg würde auch noch eine Rolle spielen, da war er sicher. Jinneth kam in den Raum und nahm sich einen Becher Bier. Thormod warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Calum, der seine Tochter beobachtet. Riven schüttelte den Kopf und biß in sein Brot. »Warum starrst du mich an?« fragte Jinneth den Zwerg trotzig. »Habe ich etwas an mir, das dich interessiert?« Thormod nahm die Pfeife aus dem Mund und legte seinen dicken Daumen auf ihre Öffnung. »Exakt«, sagte er zu ihrer Verblüffung. »Du hast etwas an dir. Ich könnte es nicht besser sagen.« Seine Augen funkelten wie Rubine über seinem Bart. 605
»Erklär mir das!« forderte Jinneth mit zitternder Stimme. Riven setzte sich neben Ratagan. »Du bist gezeichnet. Mit dir stimmt etwas nicht«, sagte Thormod. Er wies auf Riven. »Mit unserem Geschichtenerzähler hier stimmt auch etwas nicht, aber bei ihm ist es eine Art Überlastung. Er hat zuviel in sich, während bei dir ... etwas fehlt. In dir ist eine Leere, die ich nicht ausloten kann. Hätte ich nicht den Verdacht gehabt, daß du in dieser Geschichte noch eine Rolle zu spielen hast, hätte ich dich und deine Desperados wahrscheinlich schon in dem Moment niedermachen lassen, als ihr den ersten Schritt in diese Berge gesetzt habt. Doch Orquil, einer der Ältesten im Rat, war der Ansicht, wir sollten dich gewähren lassen, und bestätigte damit meinen eigenen Instinkt. Du bist eine Mörderin, aber ich glaube nicht, daß du durch und durch schlecht bist.« Ratagan und Riven sahen sich an. »Und der Geschichtenerzähler würde nicht zulassen, daß wir dir etwas antun, glaube ich, auch wenn es ihm dann selbst an den Kragen ging.« Isay öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, und schloß ihn dann stirnrunzelnd wieder. »So sieht es aus. Du bist hier und lebst, weil andere es so wollten, nicht aus eigenem Verdienst. Hüte also deine Zunge.« Thormod hatte die ganze Zeit mit der gleichen weichen Stimme gesprochen, aber 606
Jinneth sah aus, als habe er sie geschlagen. Ihre Finger zitterten, und ihr Becher fiel auf den Boden und zerbrach. Alle zuckten zusammen. Riven konnte sie nicht ansehen und starrte in sein Bier. »Was wollt ihr von mir?« flüsterte Jinneth. »Das wissen wir noch nicht«, antwortete Thormod. »Aber wir werden es herausfinden.« Sein Gesicht war unbeweglich wie eine Felswand, und seine Augen brannten wie Lava. Und doch war es immer noch Calums Gesicht. Riven hatte Calum nur selten wütend gesehen, aber er hatte es nicht vergessen. Und er hatte nie erlebt, daß er mit seiner Tochter die Geduld verloren hatte. Er schämte sich irgendwie dafür, dies hier mitansehen zu müssen. »Waren es du und deinesgleichen, die mich hier heraufgelockt habt?« fragte Jinneth. Röte war ihr ins Gesicht gestiegen, und ihr Haar war noch vom Schlaf zerzaust. Sie wirkte wie ein gezüchtigtes Kind. Thormod zog eine Augenbraue hoch. »Heraufgelockt? Niemand hat dich dazu gezwungen, diesen Weg einzuschlagen. Du selbst hast ihn gewählt.« Sie schüttelte den Kopf, und Tränen liefen ihr im Kerzenlicht glänzend die Wangen hinunter. Sie schien gar nicht zu bemerken, daß sie barfuß in einer Bierpfütze stand. Vielleicht war es ihr auch gleichgültig. »Nein«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Irgend etwas hat mich hierhingezogen. Irgend 607
etwas, was mich zu ihm treibt, seit ich ihn zum ersten Mal gesehen habe.« Sie blickte zu Riven hinüber, aber er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Bickers Augen brannten plötzlich vor Ärger. »Wenn das wirklich so ist, hast du eine seltsame Art zu zeigen, daß du jemanden attraktiv findest.« »Attraktiv!« Ihre Stimme wurde scharf, und sie nahm eine Haltung ein wie eine Königin, die einem Tagelöhner gegenübersteht. »Attraktiv! Das ist das einzige, wie ihr euch sehen könnt, nicht wahr? Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest, also halt den Mund!« Überraschenderweise folgte Bicker dieser Aufforderung. Ratagan strich sich mit der Hand durch den Bart, um sein Lächeln zu verbergen. Riven schlug das Herz bis zum Hals. Sie hatte sich also zu ihm hingezogen gefühlt. Sollte doch etwas von Jenny in ihr stecken? Er fluchte lautlos und leerte seinen Becher. »Wann werden wir diese Geschichte von euch hören?« fragte er Thormod. Der Zwerg zuckte mit seinen breiten Schultern. »Wir wollten euch eigentlich noch etwas ausruhen lassen. Ihr saht so aus, als hättet ihr es nötig.« Er grinste unerwartet, und weiße Zähne leuchteten aus seinem Bart. »Aber ich habe das Gefühl, wenn wir euch allzu lange ausruhen lassen, werdet ihr euch heillos zerstreiten.« 608
»Die Frau gehört nicht zu uns«, sagte Isay scharf. »Ich glaube, du irrst dich, Bruder Myrcaner. Ob du es magst oder nicht, sie wird gebraucht.« Thormod schwieg für einen Moment. »Ich werde mein Volk so bald wie möglich noch einmal für euch zusammenrufen, aber wie ich schon sagte, braucht unser Erzähler noch etwas Zeit, bis er alle nötigen Informationen von den Ältesten erfahren hat.« »Muß ja eine ganz schöne Geschichte sein«, sagte Ratagan. »Vielleicht. Ich weiß nur eins. Sie beginnt, wo alle guten Geschichten beginnen sollten: am Anfang.« »Ich habe eine Frage«, unterbrach Bicker abrupt. »Bei uns erzählt man sich, daß das Verborgene Volk vor den Säuberungen in die Berge floh und von den Zwergen aufgenommen wurde. War das wirklich so, oder handelt es sich dabei nur um eine Legende?« Thormod zog ein paarmal an seiner Pfeife, bevor er antwortete. »Einige kamen«, gab er schließlich zu. »Die meisten gingen in die östlichen Berge, und einige durchquerten sie und zogen durch die Wüste nach Nalbeni — so heißt es jedenfalls. Nur wenige kamen in die Greshorns. Sie sind zu hoch, zu feindlich. Niemand kann in den Bergen leben, außer den Bestien und uns Zwergen, und doch kamen einige hierher. Wir nahmen sie freundlich auf, und sie blieben für eine Weile, aber auch mein Volk war damals in Bedrängnis. Es mußte die 609
Wohnungen und Minen am Fuß der Berge verlassen. Die Märkte und Messen, die die Zwerge einst zusammen mit den Völkern von Drinan, Talisker, Idrigill und Ullinish abgehalten hatten, konnten nicht mehr stattfinden. Langsam zog sich das Steinvolk zurück. Es war bei den Menschen nicht mehr willkommen. Diese armen Menschen aus den Städten und dem Vale kamen also zu uns in die höchsten Berge, inmitten eines Zauberwinters, wie er jetzt wieder herrscht. Ja, sie waren selbst ein magiebegabtes Volk, aber die meisten von ihnen hatten nur schwache Kräfte, die sie nur im Guten nutzten. Einige wenige beherrschten Elemente der höheren Magie, und sie hatten nur einen oder zwei mächtige Zauberer in ihren Reihen, und die blieben unter sich.« Thormod lächelte kalt. »Es gibt längst nicht so viele Magier, wie einige Menschen in diesem Land glauben wollen. Sie blieben eine Zeitlang bei uns, doch dann begannen sie, sich nach dem Licht von Sonne und Mond und dem Gefühl des Windes im Gesicht zu sehnen. Ein Mann namens Birkinlig — ein alter Mann, der nach eigenen Angaben aus dem Land jenseits der Greshorns kam — tauchte auf und führte sie fort. Sie folgten ihm in das Herz der mächtigsten Bergkette, in der Hoffung, daß irgendwo dahinter ein unbekanntes Land läge, und verschwanden. Keiner von ihnen kehrte jemals zurück, die Zwerge haben nichts mehr von 610
ihnen gehört. Es war, als hätte die Erde sie verschluckt. Sie hatten Schutztruppen bei sich und sogar einige Myrcaner, die verbannte Fürsten begleiteten. Doch niemand kehrte zurück. Wir suchten nach ihnen, fanden aber keine Spur. Sie waren nach Norden gewandert, soviel brachten wir in Erfahrung. Aber die Berge dort sind schroff, und es gibt dort nichts, was Spuren aufnimmt. Auch unsere Kräfte reichen nicht bis dorthin; sie werden weit oben im Greshorn-Massiv von irgend etwas wirkungslos gemacht. Wir haben sie nicht gefunden.« »Was liegt hinter den Greshorns?« fragte Riven. »Wir wissen es nicht. Vielleicht das Ende der Welt. Vielleicht aber auch ein anderes Land — eine andere Welt gar, in der die Flüchtlinge in Frieden leben. Wer weiß es?« »Birkinlig ist eine Sagengestalt, der Mann, dem das Steinvolk Zauberkraft verlieh, um sie den Menschen zu bringen«, stellte Bicker fest. »Wie kann es sich um den gleichen Mann handeln?« »Er hat uns diesen Namen genannt«, erwiderte Thormod. »All diese Menschen«, sagte Bicker. »Ob ihre Knochen wirklich zwischen den Berggipfeln bleichen?« Niemand anwortete ihm. Thormod klopfte seine Pfeife über dem Feuer aus und reckte sich. 611
»Es ist Zeit für mich, zu gehen und zu sehen, was mit unserer Geschichte ist. Wenn ihr wollt, lasse ich euch von Hyval und Thiof noch mehr Essen und Getränke bringen.« »Wo ist unser Gepäck?« fragte Riven. »An einem sicheren Ort. Es ist in keinem guten Zustand, und wir bringen es für euch in Ordnung. Wir können euch mit besserer Winterkleidung ausstatten als irgendwer in dem Land, aus dem ihr kommt.« Amüsiert ließ er den Blick über Ratagans mächtige Gestalt gleiten, Calums humorvollen Zug um den Mund. »Obwohl die Kleidung etwas umgearbeitet werden muß. Man wird euch später abholen.« Ohne ein weiteres Wort ging er zur Tür und schob sie mit einer Hand auf. Sie schwang zurück und fiel krachend zu. Das Feuer knisterte in der plötzlichen Stille. »Also sind auch die Zwerge nicht allwissend«, sagte Bicker nachdenklich. »Es gibt Dinge, von denen auch sie nichts wissen.« Riven wurde klar, daß er gehofft hatte, daß die Zwerge ihm genau sagen würden, was er tun sollte, aber nun begriff er, daß er genau soviel wußte wie sie — oder wissen würde, wenn er ihre Geschichte gehört hatte. Also bleibt am Ende alles an mir hängen. Der einsame Held. Er fühlte sich müde, obwohl er eben erst aufgestanden war. Er blickte auf die Bierpfütze und sah, daß feuchte Fußabdrücke in den Nebenraum führten. Es sah so aus, als habe 612
Jinneth sie schon wieder verlassen. Er war gleichzeitig froh und traurig. Ihre Worte hatten zu viele Möglichkeiten angedeutet, und sie wurde hier oben der Jenny, die er gekannt hatte, zu ähnlich. Aber vielleicht sollte auch das so sein. Widerstrebend folgte er ihren Fußspuren in den anderen Raum. Es war dort dunkler, das einzige Licht kam von dem Kaminfeuer. Sie saß vor dem Feuer und starrte in die Flammen, blickte aber auf, als er herankam. Verärgerung glitt über ihr Gesicht, und ihre Augen funkelten, aber sie sagte nichts. Nebeneinander saßen sie in dem hellen, halbkreisförmigen Lichtschein, den das Feuer warf, und minutenlang sah Riven sie schweigend an. Er genoß ihren Anblick ebensosehr, wie er ihn quälte. »Warum starrst du mich so an?« fragte sie ihn. Dann schnaubte sie verächtlich. »Aber nein, das weiß ich ja. Deine tote Frau — ich bin ihr Ebenbild. Kein Wunder, daß deine Blicke mir folgen.« »Das stimmt«, sagte Riven mit rauher Stimme. »Du bist ihr Ebenbild, aber du bist nicht sie. Du hast sonst nichts von ihr. Nichts!« Sie sah ihn aufmerksam an. »Du sagtest, daß ich auf eurer Mission gebraucht werde. Wozu? Was glaubst du, welche Rolle ich dabei spiele?« Ihre Stimme klang immer noch verärgert. »Ich weiß es nicht.« Er stieß einen widerspenstigen Scheit mit dem Fuß in das Feuer zurück. Er konnte sie riechen. 613
Biergeruch haftete an ihr und noch etwas anderes. Schweiß oder Blutgeruch vielleicht. Er erinnerte sich daran, wie sie nackt in der Höhle vor ihnen gestanden hatte, und schüttelte ärgerlich den Kopf. Sie lächelte. »Du hast deine Frau geliebt, das ist nicht zu übersehen. Mich haßt du, aber du kannst doch nicht von mir lassen. Ich bin ein Dorn in deinem Fleisch.« Ich bin ein dunkler Raum, den du nie betreten hast. Die Stimme aus seinem Traum klang spöttisch in seinem Kopf. »Das ist jetzt auch egal.« Er machte Anstalten, aufzustehen. Es hatte keinen Sinn, sich hier selbst zu quälen. Sie packte ihn am Arm und zog ihn zurück, zu sich heran. »Nein, laß mich nicht allein.« Sie nahm seine Hand und legte sie in ihren Schoß. Ein merkwürdiges Lächeln lag auf ihren Lippen. Langsam entspannte sich sich seine Hand, die er zur Faust geballt hatte, und sie schob ihre Finger zwischen seine. »Wer war das Mädchen in Talisker, das nicht sprechen konnte?« fragte sie ihn. »Um das du so besorgt warst?« »Das Mädchen, das du vergewaltigen lassen wolltest«, sagte Riven, und ihre Finger verkrampften sich. »Ja.« »Sie hat mich ... gepflegt.« »Hast du sie geliebt?« 614
Er dachte an Madras ernstes Lächeln und ihre beweglichen Augenbrauen, an ihre Alterslosigkeit. An die Ruhe, die von ihr ausging. »Ja, das habe ich.« Und tue es noch. Jinneth senkte den Kopf, so daß ihr Haar einen Schatten über ihr Gesicht legte. »Was würdest du zu deiner Frau sagen, wenn ich sie wäre?« Riven verzog das Gesicht. »Du bist nicht sie.« »Aber wenn ich es wäre?« Er versuchte seine Hand wegzuziehen, aber sie ließ ihn nicht los. »Bitte.« Verwirrt schüttelte er den Kopf. Spielte sie wieder ein Spiel mit ihm? »Sie ist tot, um Himmels willen!« »Vielleicht nicht. Vielleicht ist sie in mir. Vielleicht bin ich deshalb hier, habe dich deshalb in Talisker nicht töten lassen, bin euch deshalb in diese Berge gefolgt.« Ihre Stimme klang unsicher, und er spürte einen Knoten der Angst im Magen. »Der Tod ist endgültig«, sagte er. »Werden du und deine Freunde mir den Tod bringen?« »Nein, natürlich nicht. Wir sind keine Mörder.« »Ihr habt große Ziele. Da kann manches überflüssig werden. So wie ich, zum Beispiel. Euer Myrcanerfreund würde mich ohne mit der Wimper zu zucken umbringen.« 615
»Das ist wegen deiner und Bragads Lügen, die ihn gegen sein eigenes Volk kämpfen ließen. Überrascht es dich, daß er dich lieber tot sehen würde?« »Willst du das auch?« »Nein.« Sie lachte. »Ich glaube, du weißt es nicht genau. Du willst mich, das ist klar, aber du haßt mich auch.« Riven konnte nicht antworten. Er fragte sich, warum er hier saß und sich das anhörte. Plötzlich sprang Jinneth ihn an. Er stürzte unter ihrem Gewicht nach hinten. Ihre Hände umklammerten seine Handgelenke wie Fesseln, und ihr schwarzes Haar fiel ihm ins Gesicht. Sie war überraschend kräftig, und für einen Augenblick fragte er sich, ob sie ihm ein Messer in die Rippen jagen würde. Doch ihr Körper zitterte. Sie lachte leise, den Mund dicht an seinem Hals. Ihre Finger lösten sich von seinen Handgelenken und suchten die seinen. Sie schmiegte ihre Wange an sein Gesicht, drückte ihre Lippen auf seine Augen. Er streichelte ihren Rücken und spürte das Spiel ihrer Muskeln unter seinen Fingern. Dann packte er sie am Nacken und preßte ihren Mund auf seinen. Er spürte ihr Lächeln und küßte sie wild. Sie rollten vom Feuer weg, ineinandergekrallt wie bei einem Kampf auf Leben und Tod. Er schwang sich über sie, und ihre Beine schlossen sich um seine Hüften. Auf ihrem Gesicht lag immer noch ein Lachen, 616
und ihre Augen glühten im Licht des Feuers wie die eines Wolfes. »Hat deine Frau es so gemacht?« fragte sie mit einem verzerrten Grinsen. Er ohrfeigte sie so heftig, daß ihr Kopf zur Seite flog, aber sie löste die Umklammerung ihrer Beine nicht. Er schlug sie noch einmal und sah danach Blut auf ihrer Lippe. Ihre Beine sanken auf den Boden. Reglos lag sie unter ihm, das Gesicht merkwürdig leer bis auf die Tränen, die ihr in die Augen getreten waren. »Sieht so aus, als hätte sie es nicht so gemacht«, murmelte sie. Tränen liefen ihr über das Gesicht und verschwanden in ihrem Haar. »Es tut mir leid«, sagte Riven heiser. Sie zog ihn zu sich heran. »Was soll's.« Sie lagen sich vor dem Feuer in den Armen, die Gesichter dicht beieinander. Er wischte ihr das Blut vom Mund. »Warum?« fragte er sie mit weicher Stimme. »Ich liebe und haße dich«, sagte sie und drückte ihn fester an sich. »Und du wirst mein Tod sein.« Dann stieß sie ihn zurück. »Geh jetzt. Laß mich allein. Geh zurück zu deinen Freunden und laß die Wölfin in Ruhe.« Er stand auf und betrachtete sie lange. Sah das Blut auf ihrem Gesicht, das langsam anschwoll. Die Augen, aus denen sie ihn durch die Tränen hindurch spöttisch ansah. Dann verließ er sie und ging wieder zu den anderen.
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Stunden vergingen. Riven wartete. Sie sprachen nicht viel. Sie fühlten, daß das Ende ihrer Reise vor ihnen lag, aber keiner von ihnen wußte, wie dieses Ende sein würde. Riven hatte zwar Ahnungen wie damals, als er zu der Überzeugung gekommen war, daß sie in den Bergen jemanden treffen würden, aber er konnte sich nicht sicher sein. Es war, als habe er eine vage und unbestimmte Idee für einen Roman im Kopf, dessen Ende schon feststand, ohne daß er wußte, wie er die Geschichte zu diesem Ende bringen sollte. Wissen und es doch nicht wissen; dieses Gefühl beherrschte ihn seit dem Tag, an dem er an der Seite einer seiner Romanfiguren diese Welt betreten hatte. Irgendwie war ihm das schon bei seiner Geburt bestimmt gewesen. Er hätte viel darum gegeben, zu wissen, wie genau das passieren konnte, wie so etwas möglich war. Er glaubte an Magie, denn sie umgab ihn hier überall. Aber in seiner eigenen Welt gab es nichts dergleichen, überhaupt nichts. Die Toten können nicht wieder auferstehen. Schließlich öffnete sich die Tür zu ihrer Kammer knirschend, und die beiden stämmigen Zwerge, Hyval und Thiof, standen auf der Schwelle. Sie verbeugten sich so tief, daß ihre Bärte den Boden berührten. »Es ist Zeit«, sagte einer von ihnen. »Unser Volk erwartet euch.«
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Ratagan stand als erster auf und reckte sich. »Einen Zwerg oder eine Frau sollte man nicht warten lassen«, sagte er lächelnd. Auch die anderen rappelten sich hoch. Jinneth kam aus dem Nebenraum zu ihnen, die untere Hälfte ihres Gesichts hinter einem Schal versteckt. Um die Spuren seines Schlages zu verbergen, begriff Riven, und sein Gesicht brannte vor Scham und Selbstverachtung. Er hatte noch nie zuvor eine Frau geschlagen. Sie folgten ihren beiden Führern aus der Kammer. Diesmal wurden sie an einen anderen Ort gebracht, der weiter entfernt lag. Tiefer im Berg, dachte Riven. Er spürte förmlich den gewaltigen Druck der titanischen Felsmasse über ihm. Die Gänge, durch die sie sich bewegten, waren nur dünne Adern im Körper des Berges. Der Berg brauchte nur einmal mit den Schultern zu zucken, und sie wären verschwunden, er, Riven, wäre versteinert tief unten in seiner eigenen Geschichte. Ihre Führer leiteten sie unbeirrt durch enge Korridore und breite Durchbrüche, an Abzweigungen und Kreuzungen vorbei. Sie passierten gähnende Abgründe und riesige Hallen. Und sie waren nicht allein. Überall in der Dunkelheit waren Lichter, begleitete sie das Leuchten von Zwergenaugen, leise Schritte, gemurmelte Unterhaltungen, harsches Gelächter und dunkle Stimmen, die 619
fremdartige Melodien summten. Vor und hinter ihnen wanderten zahlreiche Zwerge. Es schien, daß sich alle Bewohner von Jhaar sammelten, um die Geschichte zu hören, die heute abend erzählt werden würde. Sie kamen schließlich in eine große Halle von unbestimmbarer Größe. Sie war so groß, daß Luftströme sie wie ein richtiger Wind durchwehten. Sie konnten nichts erkennen als das Leuchten zahlreicher Augenpaare, die um sie herum funkelten wie vergessene Edelsteine in einer Mine. Es waren hunderte, einige ganz nah, andere so weit entfernt, daß sie nur noch als undeutlicher Schimmer sichtbar waren. Von überall her erklang das Wispern von Stimmen und das Scharren von Füßen. Riven stolperte in der Finsternis und wurde sofort von Isay und Ratagan gestützt. Er streckte die Hand aus, um sich an Bicker festzuhalten. Blindlings stolperten die Gefährten vorwärts. Ratagan fluchte leise, als er fast über etwas stürzte. Endlich blieben sie stehen, und plötzlich strahlte über ihren beiden Führern ein blauweißes Licht, wie sie es niemals zuvor gesehen hatten. Hyval und Thiof deuteten auf den Boden, und sie sahen, daß sich dort Steinbänke befanden, die aus dem Fels herausgehauen zu sein schienen. Sie sprossen aus dem Boden wie seltsame Pilze. Die Gefährten setzten sich, und das Licht erlosch wieder. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, 620
als auf den kalten Bänken den Geräuschen der Zwerge in der gewaltigen Halle zu lauschen. Nach einer Weile verstummten die Gespräche, und niemand schien sich mehr zu bewegen. Kein Laut war zu hören. Ein Licht begann zu leuchten. Es war ein warmes, gelbliches Licht, das keinen Ursprung zu haben schien. Es wuchs aus dem Nichts und enthüllte um sie herum unglaublich steile Felswände, die über ihnen in unbestimmbare Höhen ragten. Weit oben neigten die Wände sich einander zu wie die Pfeiler einer Kathedrale — nur daß in dieser Höhle leicht zehn Kathedralen Platz gefunden hätten. Die Kaverne war rund, und in ihrer Mitte befand sich eine schwarze Grube, die von Bänken, wie denjenigen, auf denen die Gefährten saßen, umgeben war. Fünftausend Menschen konnten hier mühelos zusammenkommen. Die Bänke wuchsen in endlosen Reihen vom Mittelpunkt der Halle empor zu den gewaltigen Felswänden. Aus der Grube in der Mitte züngelten jetzt Flammen und warfen Schatten auf die Gesichter der reglos Dasitzenden. Riven hörte, wie Bicker tief Luft holte. »Ich hätte nicht gedacht, daß es auf der ganzen Welt so viele Zwerge gibt«, sagte er und starrte auf die bärtigen Gestalten. Ihre Augen funkelten in dem dämmrigen Licht, und Rauch stieg aus den langen Pfeifen, die viele von ihnen in den Händen hielten. 621
Dann erhob sich einer der Zwerge und schritt an den Rand der flammengefüllten Grube in der Mitte der Kaverne. Er war größer als die meisten seiner Kameraden, und sein Bart war kurz und grau. Auf der Brust seines Lederwamses war das Flammensymbol eingestickt, das Riven einst getragen hatte: das Abzeichen der Geschichtenerzähler. Der Zwerg blieb stehen und ließ seinen Blick über die in der Halle Versammelten schweifen, betrachtete kurz die Gefährten auf ihren Bänken. »Kirgaern«, hörte Riven einen ihrer Führer flüstern. »Der Geschichtenerzähler von Kasnrim Jhaar.« Kirgaern löste den Blick von seinen Zuhörern und starrte wie meditierend in das Feuer, die Daumen in den Gürtel gehakt. Riven erkannte hinter ihm Thormods Gesicht in dem dämmrigen Licht — Calums Gesicht, flammenbeleuchtet und nachdenklich. Dann sprach Kirgaern. »Am Anfang war das Wasser, und über dem Wasser war Finsternis. Und unter dem Wasser waren Schlamm und Gestein und nachtschwarze Dunkelheit. Nichts regte sich auf dem Wasser und in seinen Tiefen, und kein Lichtstrahl erhellte die Finsternis.« Seine Stimme war tief wie die Stimmen aller Zwerge, aber sie hatte einen melodischen Tonfall, und seine Erzählung klang beinahe wie ein Lied. 622
»Dann bewegte sich etwas tief unten im Wasser, reckte und streckte sich, schlug die Augen auf und sah in die Dunkelheit. Es war ein Zwerg, und sein Name war Modi. Modi stieß mit der Hand an einen Stein, wer weiß, ob es Zufall oder Bestimmung war? Der Stein regte sich unter seiner Hand. Der Stein verschob sich und stieß an einen anderen, der umstürzte und einen dritten streifte. Und so ging es weiter, bis überall auf dem Grunde des Wassers Gestein rollte und knirschte, Geröll rieselte und Felsblöcke mahlten. Und das war der wahre Beginn aller Dinge. Gewaltige Berge von Fels und Stein und Schlamm türmten sich aufeinander und stürzten wieder zusammen, doch der Grund hob sich stetig, und schließlich durchbrach der oberste Kiesel der höchsten Erhebung die Wasseroberfläche. Auch an anderer Stelle hob sich Gestein aus dem Wasser, gezackte Felsen, mächtige runde Steinblöcke und graue Geröllfelder — solange, bis schließlich ein riesiger Berg tropfnaß aus den Fluten ragte. Diesen Berg nennen die Zwerge Arat Gor, den Ersten Berg. Er war so hoch, daß sein Gipfel die dunkle Kuppel des Himmels berührte und sie durchlöcherte, so daß Licht aus den Welten jenseits des Himmels hereinfiel und die erste Morgendämmerung sich über die Meere legte. Dann grub sich Modi der Zwerg mit bloßen Händen aus den Tiefen des Felsens hervor, bahnte sich seinen Weg, bis seine Augen das Licht sahen und er den Wind im Gesicht 623
spürte. Staunend sah er, was er verursacht hatte. Doch die Meere zürnten ihm, weil er trockenes Land geschaffen hatte, das ihre Vorherrschaft bedrohte, und sie sandten ihre Heere, die Wellen der See, zum Angriff auf den Berg und den Zwerg, und das Wasser toste wie ein entsetzlicher Sturm um den Arat Gor und versuchte Modi herunterzuspülen. Und langsam begann das Gestein zu brechen, barst und zersplitterte unter dem Ansturm der See. Der Berg begann, in den Fluten zu versinken, und Modi mit ihm. Und die Meere lachten fröhlich, denn sie dachten, daß sie wieder alles beherrschen würden. Dann schrie Modi durch das Toben der Wellen und bat die Meere, von ihm und dem Berg abzulassen, und wieder lachten sie und fragten ihn, warum sie das tun sollten. Also versuchte Modi zu verhandeln. Er bot ihnen an, ein Rätsel zu erzählen, doch sie verspotteten ihn nur. Dann schlug er vor, ihnen ein Lied vorzusingen, aber auch davon wollten sie nichts wissen. Und schließlich bot er ihnen an, eine Geschichte zu erzählen, die beste Geschichte von allen, und die Wellen legten sich, die Wasser wurden ruhig, und die Meere versprachen, zuzuhören und ihn zu verschonen, bis er seine Geschichte beendet hatte. Also begann Modi der Zwerg zu erzählen, und er erzählte eine Geschichte, wie man sie nie wieder hören wird. Jahrelang saß er auf 624
dem kalten Fels des Ersten Berges, während die Meere sich um ihn geschart hatten, um seinen Worten zu lauschen, der ersten Geschichte, die jemals erzählt wurde. Er sprach vom Wasser, seiner Kraft und Erhabenheit, der Macht der Wellen im Sturm. Und dann sprach er vom sanften Blau der windlosen Meere, der Ruhe eines Teiches, den kein Hauch kräuselt, sprach von der Musik des fließenden Wassers, von Flüssen und Bächen, Strömen und Seen, Wasserfällen und Stromschnellen. Und während er sprach, entsprangen um ihn herum Quellen aus dem Fels des Berges, und aus der größten Quelle floß ein rasch anwachsender Fluß über Fels und Schlamm zu seinen Brüdern im Meer; und das war der Große Fluß. Dann sprach er von der Zähigkeit des Gesteins, der trotzigen Härte des Granits. Er sprach von Bergen und Gipfeln, Tälern und Klippen, Felsstürzen und Geröllfeldern, und während er sprach, erhoben sich um den Ersten Berg erst einer, dann viele und schließlich eine unübersehbare Zahl von Brüdern und Schwestern — Nachbarberge, die knirschend in das Licht des ersten Tages wuchsen. Die Greshorns. Seine Geschichte ging weiter. Er sprach von der Wärme und Vielfalt des Bodens, der Bedeutung der Äcker, dem Nährwert der einfachen Erde. Und um ihn herum begann sich der Schlamm zu regen. Farnkraut sproß hervor, dann Gras und Schneeglöckchen, die 625
ersten Blumen nach dem Winter. Und die großen Bäume streckten ihre Wurzeln aus und reckten sich und schoben dichtbelaubte Kronen der Sonne entgegen. Und die Kraft von Modis Erzählung war so groß, daß auch die Welten jenseits des Himmels ihr zuhören wollten. Sie versammelten sich um das Loch, das der erste Berg in den Himmel gestoßen hatte, und um die Nadelstiche, die seine Nachbarberge verursacht hatten, und das Licht dieser Welten fiel als Sternenlicht durch diese Löcher. Doch während die jenseitigen Welten gebannt der Erzählung lauschten, purzelten ihre Bewohner durch die Löcher im Himmel in unsere Welt, und sie fielen auf das Land, das unter ihnen entstand. Und so kamen die Riesen, die Vyrmänner, die Wölfe, die Grypeshs, die Pferde und die Menschen in diese Welt. Sie fielen auf den Boden und lagen zwischen den Wurzeln der Bäume. Dann blickten sie empor zu den Welten, aus denen sie gekommen waren. Sie hatten keine andere Wahl, als sich hier eine Heimat zu schaffen. In diesem Lande, das den Namen Minginish trägt, gediehen sie und vermehrten sich rasch. Und noch immer war Modis Geschichte nicht beendet. Jetzt wußten die Meere, daß Modi ihnen einen Streich gespielt hatte. Das Land seiner Erzählung war groß und mächtig geworden, die Berge hoch und unbezwingbar. Wütend brandeten die Wogen gegen die Küsten des Landes, versuchten sie zu zerstören, doch es 626
gelang ihnen nicht. Und bis zum heutigen Tag kämpfen sie gegen die Felsen des Landes und zermahlen sie zu Sand, versuchen sie zu schlucken. Eines Tages wird es ihnen gelingen, aber das liegt noch in ferner Zukunft. Schließlich hatte Modi seine Geschichte beendet, und er legte sich hin, und das Leben strömte aus ihm, denn er hatte es gegeben, um seiner Geschichte Leben einzuhauchen. Und als er starb, brachten die Berge ihm ihre Ehrungen dar. Sie nahmen seine Knochen und begruben sie. Nach seinem Schädel formten sie den Berg von Talisker, und aus seinem Bart wucherten die Wälder und bedeckten das Land. Und das Leben, das in ihm gewesen war, sickerte tief in den Fels und die Erde des Landes und wurde zu der Magie, die es erhält. Und dann formten die Berge aus seinen Knochen andere Wesen nach seinem Ebenbild, und die Zwerge schlugen die Augen auf und wanden sich aus dem Grab ihres Vaters. Sie bewohnten die Berge, wie die Menschen die Wälder bewohnten, und sie gruben tiefe Gänge in die Felsen, auf der Suche nach dem Erbe ihres Vaters, der Magie. Äonen vergingen. Die Jahrhunderte vergingen wie die Blätter der herbstlichen Bäume. Die Zwerge gruben sich in die Tiefe, und die Menschen zähmten die Wälder und bauten Städte — die erste auf dem hohen Berg von Talisker, neben dem Großen Fluß. Und die Riesen degenerierten, begannen zu schrumpfen. Ihre Gestalt und ihre Intelligenz 627
verkümmerten, und sie wurden bösartig. Sie wurden Geschöpfe des Schnees und der einsamen Gipfel und wurden bald das Eisvolk genannt. Ihre Raubzüge im Winter begann man zu fürchten. Nur wenigen blieb ihre ursprüngliche Statur, und einer von ihnen war Myrca, aus dessen Statue die Zwerge die Myrcaner schufen. Das Steinvolk hatte ungezählte Jahre damit verbracht, die Bestien der Berge und der Wälder abzuwehren, die Welt vor ihnen zu beschützen. Sie hatten in der Tiefe ihrer Minen und auf den höchsten Gipfeln gegen sie gekämpft, und sie waren des Kämpfens müde. Also übernahmen die Myrcaner diese Aufgabe, wie die Zwerge es vorausgesehen hatten. Damals war Magie in der Welt. Nach langem Graben fanden die Zwerge das Erbe ihres Vaters, belebten es neu und nutzten seine Kraft zu erstaunlichen Dingen. Überall in den Bergen bauten sie Anlagen wie Jhaar, bis schließlich die Greshorns zu einer großen Stadt aus Minen und Festungen geworden waren. Aber die Magie war zu stark für eine einzige Rasse. Zwerg kämpfte gegen Zwerg um den Besitz der Zauberkräfte, und es gab schreckliche Bruderkriege in den Bergen, die das Steinvolk dezimierten. Viele ihrer großartigen Projekte verfielen, und viele Wohnstätten verödeten, und bei den Menschen waren die Greshorns bald als Ort von bösem Zauber und tückischem Wetter bekannt. 628
Schließlich beriefen die Zwerge einen großen Rat ein und beschlossen, daß es nicht gut war, wenn nur sie allein über die Kraft der Magie verfügten. Sie verliehen einem Krüppel namens Birkinlig einige Zauberkräfte und beauftragten ihn, sie zu den Völkern von Minginish zu bringen; er tat, was ihm geheißen wurde. Den mächtigsten Zauber nahmen die Zwerge jedoch und verschlossen ihn im Gipfel des Arat Gor, den die Menschen heute Staer nennen. Dort ruhte er im Fels der Unbezwingbaren Zinne und richtete keinen Schaden an. Und Minginish wurde ein blühendes Land. Die Menschen begannen, die Abfolge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter in Jahre zu gliedern und die vergangenen Jahre als ihre Geschichte zu bezeichnen, und sie schrieben Bücher darüber. Sie rodeten die Wälder, machten das Land urbar und führten Kriege gegeneinander, während die Zwerge all dies von den Bergen aus schweigend beobachteten. Einige behaupten, daß Modis Geschichte niemals geendet hat, daß er immer noch irgendwo ist und sie weitererzählt, und daß an dem Tag, an dem die Geschichte ihr Ende findet, die Meere schließlich das Land wieder verschlingen werden. Andere wiederum sind der Ansicht, daß die Geschichte niemals enden kann, weil immer jemand da sein wird, um sie fortzusetzen, um ein neues Kapitel anzufügen. Ob es so ist, wissen auch wir nicht, denn wir sind Teil der Geschichte und können nicht aus ihr hinausblicken. Wir alle — Mensch und 629
Zwerg, Vyrmann und Riese — können nur eines tun: ein Leben leben, das die Geschichte erzählenswert macht.« Die kraftvolle Stimme des Zwerges brach ab, und lautlose Stille füllte die Kaverne. Sogar die Felswände schienen zu lauschen und auf eine Fortsetzung zu warten. Doch dann lächelte der Zwerg, verbeugte sich vor seinen Zuhörern und nahm wieder seinen Platz auf einer der Bänke ein. Ein dröhnendes Geräusch wie der Ton weit entfernter Trommeln ertönte, und Riven sah, daß die Zwerge sich applaudierend mit der Faust auf die Brust schlugen. Das Geräusch wuchs zu einem Crescendo an, und neben ihm schlossen sich Isay, Bicker und Ratagan dem Applaus an. Riven starrte auf den Boden. Er hatte endlich seine Antworten erhalten, wußte jetzt, was Minginish von ihm erwartete. Er sah Jinneth an. Sie hatten den Schal abgelegt, und die Schramme an ihrer Lippe war sogar im dämmrigen Licht des Feuers zu sehen. Ihre Augen waren leer, ihr Gesicht ausdruckslos. Sgurr Dearg, oder Arat Gor, wie die Zwerge ihn nannten. Er hatte immer gewußt, daß dieser Berg der Schlüssel war, daß dort an dem Sommermorgen von Jennys Tod etwas geschehen war. Er wußte, daß die Suche auf einer bestimmten Felsleiste unterhalb der Unbezwingbaren Zinne ihr Ende finden würde. Dort, wo alles begonnen hatte. 630
Magie und Geschichtenerzählen. Darauf war es immer wieder hinausgelaufen. Und jetzt wußte er auch warum. Irgend etwas war auf dem Sgurr Dearg geschehen, das die Zauberkräfte freigesetzt hatte, die die Zwerge dort eingeschlossen hatten. Und er hatte sie in sich aufgenommen und damit eine Tür von seiner Welt in diese hier aufgerissen. Thormod hatte gesagt, daß das dunkelhaarige Mädchen aus purer Magie bestand, und genau so war es — aus der gleichen Magie, die jetzt auch in ihm war. Er und Jenny waren mit der Kraft ausgestattet worden, diese Welt zu erschaffen oder zu zerstören, eine Welt, die sogar in ihren eigenen Sagen und Mythen nichts als eine endlose Erzählung war. Und Riven war ihr Erzähler geworden. Er wurde nicht nur von Minginish inspiriert; er kontrollierte es. Jenny war tot, aber die Magie hatte etwas von ihr genommen und auf die Suche nach ihm nach Minginish geschickt. Er hatte mal wieder eine Verabredung einzuhalten. Aber das war noch nicht alles. Es hatte lange vor Jennys Tod eine Verbindung zwischen ihm und dieser Welt gegeben — daher seine Romane. Und was Jinneth anging, die mit jedem Schritt, den sie sich dem Roten Berg näherten, Jenny ähnlicher wurde: Welche Rolle sie zu spielen hatte, würde sich erst noch zeigen. 631
Die Zwerge standen auf und verließen in dichten Kolonnen die Halle. Riven wurde klar, daß er seine Umgebung minutenlang nicht wahrgenommen hatte. Thormod stand vor ihm. »Hast du deine Antworten gefunden?« fragte der Zwerg mit weicher Stimme. Riven stand langsam auf. Die Gefährten starrten ihn an, als erwarteten sie eine bedeutsame Feststellung. Er mußte lächeln. »Ich glaube, ja. Ich weiß jetzt, wohin ich gehen muß. Und ich habe eine Vorstellung davon, was dort zu geschehen hat.« Thormod nickte befriedigt. »Ihr müßt bald aufbrechen. Das Wetter verschlechtert sich draußen, habe ich gehört. Und die Greshorns sind auch bei bestem Wetter erbarmungslos genug. Euer Gepäck wird in diesem Moment bereitgelegt.« »Ihr seid fleißig gewesen«, bemerkte Riven. »Euer Weg ist nicht lang«, sagte Thormod. »Jedenfalls dann nicht, wenn euer Ziel der Ort ist, den ich vermute. Aber es ist eine mühsame Strecke. Wir werden euch zu einem Pfad bringen, der direkt auf den Berg führt.« »Danke.« Riven betrachtete die Gesichter seiner Gefährten. Isay hatte die Augen zusammengekniffen und sah unternehmungslustig aus. Ratagan wirkte humorvoll wie immer, aber auf seiner Stirn waren viele Falten. Bicker sah nachdenklich aus, musterte ihn aber mit einem Lächeln, das ein wenig spöttisch war. Und schließlich Jinneth mit ihrem verschwollenen Gesicht, das 632
ihn schuldbewußt machte, und einem hoffnungslosen Blick, der ihm einen Stich ins Herz versetzte. »Ich denke, wir sind bereit«, sagte er.
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NEUNZEHNTES KAPITEL Der Schnee lag blendend weiß vor ihnen in der Sonne, und sie mußten die Augen erst einmal zusammenkneifen. Der Himmel über ihnen war wolkenlos, ein weites blaues Gewölbe, das auf den Berggipfeln zu ruhen schien, die sie an allen Seiten umgaben. Riven schätzte, daß sie sich etwa in dreitausend Meter Höhe befanden. Er sog die dünne Luft in die Lungen und atmete sie in einer Dampfwolke wieder aus. Er kannte diese Berge. Sie waren zu groß, zu hoch, aber er erkannte sie trotzdem. Er konnte die lange Reihe der Cuillin-Bergkette von hier aus sehen. Er erkannte Sgurr nan Gillean, Sgurr a Ghreadaidh, Sgurr na Banachdich ... all' diese Berge, die er einst bestiegen hatte, lagen jetzt vor ihm, so hoch wie die Alpen. Es würde nicht leicht sein, sie zu erklimmen. Wenn das Wetter wieder schlechter wurde, würde es vielleicht unmöglich sein. Er sah Jinneth an. Die frische Luft hatte ihre Wangen gerötet und ihre Augen funkelten. Der heftige Wind, der den Schnee in langen Fahnen von den Gipfeln wehte, ließ ihre Haare flattern. Nichts mehr wirkte fremdartig an ihr. Ihr Gesicht war ihm so vertraut wie sein eigenes. Er sah woandershin. 634
Die Zwerge hatten sie über endlos lange Treppen, die sich durch den Berg wanden, hierhergebracht, auf den schneebedeckten Abhang eines Berges, von dem aus sich ein guter Blick auf die anderen Greshorn-Berge im Norden bot. Thormod hatte ihnen gesagt, daß der Staer etwas weiter als eine Tagesreise entfernt war. Die Wache, die die Zwerge auf dem Berg aufgestellt hatten, war abgerufen worden. Riven fragte nicht, wie man sie benachrichtigt hatte. Er ahnte, daß die Vyrmänner nicht das einzige Volk dieser Welt waren, das sich durch Gedankenübertragung verständigen konnte. Dann waren die Zwerge wieder in ihre unterirdischen Behausungen zurückgekehrt und hatten die Steintür hinter sich geschlossen, ohne daß auf dem Felsen eine Spur zurückgeblieben war. Damit lag auch das hinter ihnen. Die Zwerge waren nun niemand mehr, den man um Rat fragen konnte, dessen Weisheit einen Weg weisen würde. Er war jetzt ganz auf sich selbst gestellt. Fast am Ziel. »Ich hoffe, du kennst den Weg, Bicker«, sagte er. »Den werde ich niemals vergessen«, erwiderte der dunkle Mann. »Obwohl ich diese Stelle hier damals nicht passiert habe. Ich bin weiter unten entlanggegangen, durch ein flaches Tal, das auf der anderen Seite des Bergkamms liegt. 635
Wir werden uns einfach zu diesem Pfad durchschlagen.« Riven schob einen schmerzhaft auf sein Schlüsselbein drückenden Rucksackriemen zurecht. »Dann laßt uns gehen.« Die Zwerge hatten sie mit einer guten Ausrüstung versorgt. Sie trugen dicke Kleidung aus Rentierleder, die mit etwas gesäumt war, das verdächtig nach dem Fell von Eisriesen aussah. An den Füßen trugen sie Eisenrahmen mit Spikes, die so ähnlich aussahen wie Steigeisen. Dazu hatten sie Eisäxte und Seile. Die Zwerge hatten genügend Winter in den Bergen erlebt, um solche Ausrüstungsgegenstände zu entwickeln. Ratagan und Isay wirkten dennoch ein wenig skeptisch, als sie das Gerät in Augenschein nahmen. Langsam trotteten sie hinter Bicker her, erst Riven, dann Isay, Jinneth und zum Schluß Ratagan. Ihre Füße sanken im Schnee ein, bevor die Stahldornen unter ihren Füßen Halt auf der darunterliegenden Eisschicht fanden. Sie stützten sich auf die Eisäxte und kämpften sich mühsam vorwärts. Der scharfe Wind ließ ihnen Tränen in die Augen treten und fegte ihnen das Haar aus dem Gesicht. Es war eine eiskalte Brise, die über die Berge peitschte und dichte Schneewolken von den Gipfeln wehte. Der Atem dampfte ihnen vor dem Mund, bevor der Wind ihn wegriß. Am Kragen ihrer Mäntel bildete sich Eis. Der Frost fand den Weg selbst durch ihre dicke Kleidung, und trotz des 636
anstrengenden Marsches zitterten sie vor Kälte. Riven fragte sich, ob auch in den Dales Schnee lag, ob Talisker weiß war, ob Madra jetzt in Quirinus' Haus beobachtete, wie der Schnee sich vor einem Fenster türmte, und dabei an ihn dachte. Und schneite es bei ihm zu Hause, bei der Hütte? Es passierte nicht oft, daß so nahe am Meer Schnee fiel, aber in einem Jahr, an einem wunderbaren Wintertag war es geschehen, und er und seine Frau hatten gestaunt wie die Kinder, waren durch die Hügel gelaufen und durch den Schnee zu dem sechs Meilen entfernten Postamt in Elgol gewandert. Schneegepudert waren sie dort angekommen, völlig durchgefroren, aber glücklich wie die Sommerschwalben. Ein Tag wie im Märchen, an den man sich später gerne erinnerte, bei einem hellen Feuer im Kamin, wo das Treibholz inmitten der Torfstücke knisterte. Das war Luxus. Der wahre Reichtum. Er war ein reicher Mann gewesen und hatte es nicht einmal gewußt. Und jetzt war er wieder mitten in diesen Bergen, nur daß sie unglaublich hoch geworden waren, wild und erbarmungslos, mit der schrecklichen Schönheit einer Schwertklinge. Er war glücklich, daß er genug erlebt hatte, um für solche Dinge dankbar zu sein. Sie waren es wert, aufgehoben zu werden. Sie wanderten den ganzen Tag. Während sie auf den Pfad zugingen, den Bicker kannte, verloren sie langsam an Höhe. Sie rammten die Äxte in das Eis und stapften mit den Füßen 637
tief in den Schnee, um Halt zu finden. An manchen Stellen mußten sie Stufen in das Eis schlagen oder sich aneinanderseilen. Sie stolperten, glitten, rutschten und taumelten vorwärts, halfen einander und ließen sich helfen, ohne viele Worte zu verlieren. Riven sah sogar einmal, wie Isay Jinneth über eine Eisplatte half. Er begriff, daß sie zu weit gekommen waren, um sich um Verrat zu sorgen oder zu streiten. Es gab nur noch das letzte Stück des Weges, den sie gehen mußten. Nach vier Stunden, in denen sie ständig bergab gegangen waren, erreichten sie Bickers Pfad. Ihre Beine zitterten vor Anstrengung, doch sie gingen ohne Aufenthalt weiter, auf den Bergkamm zu. Wenn sie ihn erreicht hatten, waren sie auf dem Hauptsattel des Gebirges und würden auf dieser Höhe bleiben können. Riven fragte sich unwillkürlich, wo sie die Nacht verbringen würden, wenn ein Sturm aufkam. Noch war der Himmel fast klar, aber am Horizont ballten sich Wolken, und graue Nebelschleier zogen um die Gipfel der Berge. Der Wind wurde noch schärfer. Sogar die Zwergenkleidung konnte ihn nicht abhalten. Schließlich verschnauften sie einen Moment und sahen sich um. Sie hatten ungefähr ein Drittel des Weges hinauf zum Bergkamm zurückgelegt. Vielleicht noch fünfzehnhundert Höhenmeter und sie befanden sich auf einer Höhe mit den Berggipfeln.
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»Da liegt noch Arbeit vor uns«, sagte Ratagan und spähte hinauf zum Kamm. »Ein langer, beschwerlicher Weg.« »Wir müssen es schaffen, bevor es dunkel wird«, sagte Bicker. »Die andere Seite des Kamms liegt im Windschatten, dort können wir lagern.« »Und ein Feuer aus Schnee machen«, ergänzte der große Mann. Bicker lachte. »Das Steinvolk hat uns genügend Scheite in die Rucksäcke gepackt, um ein paar Stunden einheizen zu können, also verzweifle nicht ganz.« Ratagans Miene hellte sich auf. »Das ist schon mal ein Lichtblick. Und dann ist da noch der Krug mit ihrem Bier, den ich eingepackt habe. Er wird unser Wohlergehen beträchtlich steigern.« »Der kluge Mann baut eben vor«, sagte Bicker. Dann winkte er sie weiter. Sie erkletterten mühsam die Südflanke des Kamms, bis die Dämmerung hereinbrach und eine sturmdurchtoste Nacht ankündigte. Ein schwach glänzendes Licht ging in der Dämmerung von dem Schnee aus. Mächtige Wolken schoben sich jetzt über die Berge. Als sie den Kamm erreichten, war es fast völlig dunkel, und der Wind heulte ihnen über die Köpfe, peitschte gegen den Südhang. Sie taumelten über den messerscharfen Kamm und auf der anderen Seite ein Stück den Hang hinunter, zogen sich gegenseitig mit den Seilen, durch die sie miteinander verbunden waren. 639
Isay und Ratagan brachten sie schließlich zum Stehen. Ihre eisenbeschlagenen Schuhe sanken tief in Eis und Schnee, doch der Wind ließ nach, wurde von dem Bergkamm abgeschirmt. Sie konnten in der Finsternis kaum etwas anderes sehen als ihre eigenen Umrisse. Keuchend lagen sie im Schnee. Es hatte zu schneien begonnen. Der Wind ließ die Flocken in dichten Wirbeln um sie herumtanzen, und schon bald sahen sie aus wie gepudert. Bicker streifte als erster das Seil ab und stand auf. »Wir brauchen einen besser geschützten Lagerplatz. Kommt!« Fluchend folgten sie ihm. Das Schneetreiben wurde immer dichter, und sie konnten nur ein paar Meter weit sehen. Der Sturm wurde so heftig, daß sie nach ein paar Minuten stehenbleiben mußten. Links von ihnen erhoben sich gewaltige Felsmonolithen, und die Gefährten suchten sich einen Weg zwischen ihnen hindurch, bis sie schließlich eine Stelle fanden, die geräumig genug für sie war. Riven setzte sich, denn es war nicht Platz genug, um die Beine auszustrecken und sich hinzulegen. Der Wind heulte über die großen Felsen, in deren Schutz sie saßen. Ratagan war schon damit beschäftigt, die Zunderdose in seinem Rucksack zu suchen, während Bicker und Isay Holzscheite aus ihrem Gepäck holten. Riven und Jinneth folgten ihrem Beispiel, doch es dauerte eine unangenehme halbe Stunde, bis es Ratagan gelungen war, den Zunder in Brand zu setzten und die 640
Flamme so weit zu nähren, daß der spärliche Holzvorrat Feuer fing. Das zuckende Licht der Flammen fiel in ihre Gesichter, und die Wärme des Feuers linderte den krampfartigen Schmerz in Rivens angezogenen Beinen. »Wie lange können wir das Feuer unterhalten?« fragte er Ratagan. Er mußte schreien, um sich im Heulen des Windes verständlich zu machen. Der große Mann verzog das Gesicht. »Nicht lange genug. Wir können für drei, vier Stunden ein ordentliches Feuer machen. Bei einer kleinen Flamme reicht das Holz vielleicht doppelt so lange. Aber wir brauchen die Wärme. Ich werde es groß halten. Hoffentlich hört es auf zu schneien.« Sie rückten eng um das Feuer zusammen. Es würde eine lange Nacht werden, erst recht dann, wenn das Feuer erloschen war. Einer nach dem anderen holten sie die Schlafsäcke aus ihrem Gepäck und hüllten sich hinein. Es war nicht Platz genug, um hineinzukriechen, also wickelten sie sie um Beine und Schultern und schoben sich so nah an das Feuer, daß man bald das versengte Fell der Schlafsäcke riechen konnte. Riven döste. Er hatte sich an die fehlende Blutzirkulation in seinen verschränkten Beinen gewöhnt. Traumsequenzen gingen ihm durch den Kopf, wirre Bilder von Riesen und Zwergen, unterirdischen Hallen und hochummauerten Städten. Es waren so viele Eindrücke, so viele Bilder, und er erkannte sie 641
alle. Aber er begriff, daß da noch mehr war: ein neues Kapitel, oder ein Gesicht, das noch nicht aufgetaucht war. Seine Träume machten ihn unruhig, und er schüttelte den Schlaf ab und fand sich in der Wirklichkeit wieder, ungeschmolzenen Schnee im Gesicht und das rötliche Glühen des ersterbenden Feuers vor sich. Es war immer noch dunkel, und der Wind heulte nach wie vor unablässig über sie hinweg. Er spürte für einen Moment einen glühenden Haß auf das Wetter, die Berge, für alles, das sich dazu verschworen hatte, ihn in diese Situation zu bringen. Das Leben ist ein Miststück. Er betrachtete seine Gefährten. Sie schliefen alle, sogar Isay. Bicker hatte sich freiwillig für die erste Wache gemeldet, doch jetzt lag er zusammengekrümmt mit geschlossenen Augen neben Ratagan. Ein bitterer Ausdruck lag auf seinem Gesicht, so als sei ihm sogar im Schlaf bewußt, daß er seine Pflicht vernachlässigte. Riven wußte, daß er völlig erschöpft war. Seit sie die Berge betreten hatten, hatte er sich um alles gekümmert. Bicker hatte sie angeführt, Isay war für das Kämpfen zuständig und Ratagan für die gute Laune. Riven und Jinneth würden noch für eine andere Aufgabe gebraucht. Was wäre das für eine Geschichte, wenn ich sie jemals erzählen könnte! Es würde nicht leicht sein, diese Leute, die seine Romanhelden gewesen und seine 642
Freunde geworden waren, wieder in Romanfiguren zu verwandeln. Aber vielleicht war es ihm auch gar nicht bestimmt, noch einen Roman zu schreiben. Schließlich erlosch das Feuer, und Schnee sammelte sich auf den anderen, die unter den dicken Fellschlafsäcken lagen, mit denen die Zwerge sie ausgestattet hatten. Langsam aber sicher sickerte die Kälte ein, und Riven sah wie sie zitterten und sich im Schlaf bewegten. Jinneth rückte wärmesuchend näher an ihn heran. Er selbst konnte nicht schlafen. Er hatte das deutliche Gefühl, daß noch etwas geschehen mußte. Er hatte dieses Gefühl schon einmal gehabt, vor der Begegnung mit Jinneth und ihren Söldnern, aber jetzt war es stärker, eindringlicher. Je näher er an den Roten Berg herankam, desto schärfer wurde er sich gewisser Dinge bewußt. Es war fast, als löse er sich bereits langsam aus dieser Welt und würde wieder zu ihrem Autor. Der Gedanke machte ihn traurig. Er hatte hier Wurzeln, von denen manche stärker waren als diejenigen, die ihn mit der Welt verbanden, in die er gehörte. Er war sich nicht sicher, ob er bereit war, sie einfach abzuschneiden, aus diesem Traum zu erwachen. Denn wenn jemandem der Traum lieber ist als die Wirklichkeit, warum sollte er dann aufwachen? Er lächelte über seinen absurden Gedanken. Irgendwann in der Nacht erwachte Bicker. Riven hörte, wie er fluchte und sich selbst 643
verwünschte. Dann rüttelte er jeden der Gefährten wach und fragte sie nach ihren Namen, um sich zu vergewissern, daß sie nach den dunklen, feuerlosen Stunden nicht kurz vor dem Erfrieren waren. Ratagan fluchte wüst, wünschte ihn zum Teufel und verlangte, in Ruhe gelassen zu werden. Nur Jinneth antwortete zögernd, wie benommen, und der dunkle Mann verbrachte eine Weile bei ihr, bis er sicher war, daß sie bei vollem Bewußtsein war. Erst, als sie sich aufrichtete und ihn im gleichen Tonfall wie Ratagan aufforderte zu gehen, ließ er mit einem Grinsen von ihr ab. Es hatte aufgehört zu schneien. Riven spürte den Druck des Schnees auf dem Schlafsack an seinen Schultern und Knien. Von den Überresten des Feuers war unter der Schneedecke nichts mehr zu sehen, aber ihm war nicht kalt. Der Schnee schirmte ihn anscheinend von der Kälte ab. Nur sein Gesicht war durchgefroren, und er massierte es für eine Weile, bis wieder Gefühl in Nase und Wangen zurückkehrte. Seine Augen fühlten sich an wie gefrorene Glasscherben, und er zwinkerte heftig. Langsam dämmerte es. Bicker hatte die schützenden Felsen schon verlassen und untersuchte, in welche Richtung sie weitergehen mußten. Der letzte Tag. Sgurr Dearg war nicht mehr fern. Sie schüttelten das Gewicht der schneebedeckten, feuchten Schlafsäcke ab und wühlten im Schnee nach ihren Rucksäcken. Ein unkontrolliertes Zittern 644
durchlief Riven, als er den nassen Schlafsack in seinem Gepäck verstaute. Um sie herum wuchsen im Licht der Dämmerung die hohen Berggipfel aus der Dunkelheit. Schweigend packten sie ihre Sachen, nur gelegentlich hörte man jemanden die Kälte verfluchen. Riven hatte das Gefühl, daß der Frost sich in sein Gehirn eingeschlichen hatte, er war unkonzentriert und benommen. Ratagans plötzlicher Triumphschrei riß ihn aus seiner Lethargie. Der große Mann hielt einen irdenen Krug hoch und löste den Verschluß mit hastiger Sorgfalt. Dann bot er ihn den anderen an. »Ich wußte doch, daß wir das irgendwann einmal brauchen würden.« Zwergenbier. Riven nahm zwei große Schlucke und spürte, wie das Getränk ihm warm durch die Kehle rann und Sekunden später in seinem Magen glühte. Das Zittern hörte auf. Er betrachtete die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne am östlichen Horizont, und das Eis in seinem Kopf schmolz. Er erwiderte Ratagans Grinsen und Bickers schiefen Blick und nickte Isay zu, der mit seinen länger gewordenen Haaren und dem vom Frost geröteten Gesicht unglaublich jung aussah. Dann betrachtete er Jinneth, bis sie unwillig eine Augenbraue hob und einen Schluck aus dem Krug nahm. Er wußte, daß es der letzte gemeinsame Morgen mit diesen Menschen war, und so traurig ihn diese Vorstellung auch machte, so wußte er doch, 645
daß es so sein mußte. Die schönsten Dinge genießt man besser nicht zu lange. Jenny hatte ihm das gezeigt, aber erst Madra hatte es ihn glauben lassen. Es war eine Lektion, die diese Welt ihn gelehrt hatte. Vielleicht war er einfach lange genug hier gewesen. Vielleicht. Er kam sich vor wie ein Kind, das man vom Schaufenster eines Spielwarenladens fortzieht. Er hatte keine Zeit, keine Chance gehabt, stehenzubleiben und hineinzustarren. Und jetzt gab es nur noch die Berge zu sehen, in denen alles angefangen hatte. Der Erzähler dieser Geschichte hatte wenigstens einen Sinn für Schauplätze! Als sie ihre Sachen gepackt und etwas kaltes Essen heruntergeschlungen hatten, schnallten sie ihre Steigeisen wieder unter und marschierten in den grauen Morgen. Wie immer unter Bickers Führung. Obwohl Riven den Weg, der noch vor ihnen lag, besser kannte als er. Sie befanden sich auf einer Höhe mit den Gipfeln und konnten den Greshorns jetzt ins Auge sehen. Eine Gipfelkette nach der anderen ragte in den Himmel empor, an dem die Wolken aufrissen und blaue Stellen sichtbar wurden. Gelegentlich brach die Sonne durch und ließ den Schnee glänzen. Die Berge waren riesig und wirkten mit ihren messerscharfen Graten bedrohlich. Riven spürte, daß er eine eigene Welt betreten hatte, in der die Angelegenheiten der Menschen keine Rolle 646
spielten und keine Beachtung fanden. Er war so unbedeutend wie ein Käfer. Aber nein, das stimmte nicht. In ihm war eine Kraft, gegen die sogar diese Berge winzig wirkten. Der Pfad, dem sie folgten, wurde schwieriger: Er führte über eine endlose Kette sich aneinanderreihender Gipfel, die sich hoben und senkten wie die Wellen der Brandung. Sie mußten langsamer gehen, sich anseilen und ihre Eisäxte als Stützen benutzen. An manchen Stellen unterbrachen zerklüftete Felsblöcke den Weg und mußten mühsam überklettert werden. Gewöhnlich sicherte Bicker dabei die Gefährten von oben. Riven hätte sich dazu nicht in der Lage gesehen. Der Himmel klarte weiter auf, und der Wind ließ etwas nach. Sie begannen unter ihrer dicken Kleidung zu schwitzen, bekamen in den Fellhandschuhen feuchte Hände. Es war kein Laut zu vernehmen, außer dem Knirschen des Schnees, ihrem eigenen Atmen und dem Heulen des Windes in den Gipfeln. Mittags rasteten sie und aßen etwas. Sie hatten noch Brot, etwas Obst und Dörrfleisch. Sie leerten ihre Feldflaschen und füllten sie dann mit Schnee. Rivens Augen schmerzten von der Helligkeit der Schneefelder, und er mußte sie zusammenkneifen. Seine Lippen waren spröde und wund, und, er fuhr immer wieder mit der Zunge darüber. Dann ging es weiter. Die Zwerge hatten mit einer anderthalbtägigen Reise zum Staer gerechnet, aber sie brauchten länger als 647
geplant. Sie waren erschöpft, sogar Isay, und sie konnten nur noch kraftlos hinter Bicker hertrotten. Der Rote Berg war hier nicht nur höher als auf Skye, sondern auch höher im Verhältnis zu den Bergen seiner Umgebung. Sein Gipfel ragte hoch über die Bergkette hinaus, obwohl er in Rivens Welt nicht der höchste der Cuillin-Berge war. Seine Gestalt war jedoch unverändert und Riven so vertraut wie Jinneth' Gesicht. Der Nachmittag verging schnell. Riven zuckte fast zusammen, als er begriff, daß es langsam dunkel wurde. Es war fast völlig windstill geworden, doch es schneite jetzt wieder. Sie blieben stehen und blickten nach vorn. Der Bergkamm verlief hier in einer scharfen Kurve. Links ragte ein hoher Gipfel auf. Unterhalb davon erstreckte sich ein gewaltiges, spiegelglattes Eisfeld vor ihnen, das steil über die Nordseite des Höhenzugs abfiel. »Wir haben die Wahl«, unterbrach Bicker ihr ratloses Schweigen. »Entweder klettern wir über den Gipfel, oder wir überqueren das Eisfeld. Auf jeden Fall müssen wir noch heute abend den Berg erreichen. Wir können nicht mehr anhalten. Wir haben kein Brennmaterial mehr und würden eine weitere Nacht hier oben kaum überstehen.« Er sprach nicht davon, was sie tun würden, wenn sie den Berg erreicht hatten, wie sie wieder nach Jhaar zurückgelangen würden. »Das Eisfeld«, sagte Riven sofort. »Es wird zu dunkel zum Klettern.« 648
»Das denke ich auch«, sagte Bicker. Sie waren noch immer aneinandergeseilt. Sie verließen den Felsboden und schoben sich vorsichtig wie eine Prozession von Blinden auf das Eis. Das Eisfeld hatte ein Gefälle von ungefähr dreißig Prozent, und sie mußten mit ihren Äxten Halt suchen und ihre Steigeisen fest in das Eis rammen. Schritt für Schritt tasteten sie sich vorwärts. Unter ihnen fiel das Eis entlang der Bergflanke in unbekannte Tiefe ab. Rivens Ohren dröhnten von seinem eigenen Atmen, dem Knirschen und Scharren unter seinen Füßen und dem Knacken seiner überstrapazierten Gelenke. Der leise fallende Schnee dämpfte alle übrigen Geräusche. Die Stille war fast surreal, sogar das ständige Heulen des Windes in den Gipfeln war nicht mehr zu hören. Weiter oben am Hang brach das Eis auf, mit einem Geräusch, das wie ein Gewehrschuß klang. Eine kleine Lawine von Eissplittern rutschte an den Gefährten vorbei. Sie blieben stehen und versuchten, in der Dämmerung etwas zu erkennen. Riven sah Bicker fragend an und bemerkte, daß der dunkle Mann kreidebleich geworden war. »Was war das?« »Ich weiß es nicht. Geht weiter! Bleibt nicht stehen!« Riven wurde von dem Seil um seine Hüften weitergezogen. Er sah noch einmal den Hang hinauf, konnte aber nur die spiegelglatte Eisfläche erkennen. Fluchend ging er weiter. 649
Dann explodierte das Eis vor seinen Füßen. Er sah etwas graues, schlangenähnliches wie einen Torpedo aus dem Eis schnellen, und dann traf es ihn vor die Brust, und er wurde den Hang hinuntergeschleudert. Er überschlug sich und prallte hart auf das Eis, das unter ihm knackte. Das Seil schnitt wie Draht in seine Haut, und er schrie vor Schmerz. Schreie erfüllten die Luft um ihn herum. Er zappelte wie eine Fliege im Spinnennetz und spürte, wie sich das Seil gefährlich spannte. Verzweifelt krallte er seine Axt in das Eis, um nicht weiter abzurutschen. Dann blickte er auf und sah über sich eine riesige steingraue Säule aufragen. Ein ohrenbetäubendes Kreischen zerriß die Luft. »Ein Eiswurm!« brüllte Ratagan. Riven hörte Bicker schreien, sah, wie die Kreatur auf ihn zuschoß und ihn umwarf. Der dunkle Mann verlor den Halt und rutschte die Eisfläche hinunter. Rivens Seil zog sich mit einem Ruck noch fester um seine Taille zusammen, und der Schock nahm ihm den Atem. Er spürte Blut im Mund. Dann verlor auch er wieder seinen Halt und rutschte ein Stück weiter den Hang hinab. Schließlich wurde er mit einem Ruck aufgefangen, der Lichter vor seinen Augen tanzen ließ. Er hing noch immer an dem Seil, Bickers Gewicht als zusätzliche Last unter sich. Isay. Isay und Ratagan mußten sie festhalten. Wieder ertönte das wilde Kreischen, wie der Schrei eines Raubvogels, und er hörte das 650
Zischen und Aufprallen von Waffen und das Splittern von Eis. Oben wurde gekämpft. Mühsam drehte er sich um, bis er das Gesicht dem Hang zuwandte und rammte die Axt mit aller Kraft in das Eis. Sie war an seinem Handgelenk festgebunden, sonst hätte er sie schon längst verloren. Er bohrte die Füße in das Eis und stöhnte vor Anstrengung bei dem Versuch, sich festzuklammern. Dann löste sich das Gewicht, das ihn nach unten zog, plötzlich. Er spähte zwischen seinen Beinen hindurch den Hang hinab und sah, daß Bicker mit funkelnden Augen zu ihm hinaufkroch. »Schneide das Seil durch!« zischte der dunkle Mann, und Riven durchtrennte es ohne nachzudenken mit der Axt. Sie waren frei voneinander. Etwas Schweres prallte auf das Eis und ließ den Untergrund in der Umgebung ächzen und knacken. »Er taucht!« rief Isay von oben. Sie kletterten zu ihm hoch und sahen, daß das Eis sich dort in ein Durcheinander von Splittern und Platten verwandelt hatte. Mitten darin lagen Ratagan, Isay und Jinneth, die Äxte kampfbereit. »Er wird wiederkommen. Er kommt zurück«, krächzte Bicker. »Wir müssen vom Eis, auf Felsgrund. Hier haben wir keine Chance.« Doch plötzlich brach eine Eisfontäne aus dem Boden, und das Wesen stand mit aufgerissenem Maul vor ihnen. Es war so dick wie der Stamm eines alten Baumes. Sein Kopf glich dem eines Drachens, und seine Augen 651
leuchteten grünlich. Der Eiswurm wand sich empor, bis er doppelt so groß wie Ratagan war, und betrachtete Riven. Isay sprang vor und schlug mit einem wilden Schrei seine Axt in die Kreatur. Das Wesen schrie auf und wand sich wie ein aufgespießter Wurm. Dann schmetterte es den Myrcaner zur Seite. Sein Seil zog Jinneth mit und riß Ratagan auf die Knie. Dann senkte sich der Wurm auf Isay herab und schloß seine großen Kiefer um dessen Bein. »Nein!« schrie Riven und stürzte mit erhobener Axt vor. Der Wurm hob Isay in die Luft und schüttelte ihn wie ein Hund eine Ratte schüttelt. Die schreiende Jinneth wurde von dem Seil ebenfalls in die Luft gezogen. Riven schwang die Axt, durchtrennte das Seil, und sie fiel zurück auf das Eis. Der Wurm schleuderte Isay von sich. Er flog zwanzig Meter weit, und sie hörten das Krachen des Eises als er aufschlug. Ratagan ging brüllend vor Wut zum Angriff über. Seine Axt hinterließ eine lange rote Furche auf dem Leib des Wurms, der zischend vor Schmerz und Haß zurückfuhr. Sein Kopf stieß auf Ratagan nieder, doch der warf sich rechtzeitig zur Seite, taumelte durch das aufgerissene Eis, und die Bestie verfehlte ihn knapp. Ihr Kopf bohrte sich in das Eis, und der Körper folgte ihm. Riven begriff, daß der Wurm sich mit unglaublicher Geschwindigkeit in das Eis fräste. Vor seinen Augen verschwand er in dem selbstgeschaffenen Loch. 652
Unbeweglich standen sie da und rangen nach Luft. Dann packte Bicker Riven am Arm. »Nimm die Frau — flüchtet euch auf die Felsen. Wir werden ihn hier beschäftigen.« »Isay«, sagte Riven verzweifelt. »Geht! Wir werden uns um ihn kümmern. Ihr müßt jetzt gehen.« Riven war zum Heulen zumute. Er nahm Jinneth am Arm und zog sie mit sich, aber nach wenigen Metern splitterte das Eis wieder, und der Wurm schoß neben ihm aus dem Boden und schleuderte ihn zur Seite. Die grünen Augen kamen auf ihn zu, und er hob kraftlos die Axt, aber dann rammte Ratagans mächtige Gestalt die Kreatur, und seine Axt grub sich tief in ihren Körper. Riven dachte, daß der Schrei, den das Wesen ausstieß, ihm die Trommelfelle zerreißen mußte. Der Wurm wich zurück, schlängelte sich über das Eis nach hinten. Ratagan stand wie ein blutverschmierter Riese über Riven und Jinneth. Sie hörten ihn lachen, das wildeste und ungezwungenste Lachen, das Riven jemals von ihm gehört hatte. »Komm doch, du verfluchter Wurm! Dann kannst du noch einmal Zwergenstahl probieren und Ratagans Streiche kosten!« Bicker und Isay tauchten aus dem Schneegestöber auf und eilten an seine Seite. Ein Arm des Myrcaners hing nutzlos an seiner Seite herunter, Kochensplitter ragten aus der Wunde, und sein Gesicht war blutüberströmt, aber er hielt die Axt mit der anderen Hand 653
bereit, und seine Augen funkelten wie Sterne. Bicker stützte ihn mit einer Hand, in der anderen glänzte sein Kurzschwert. Schnee sammelte sich auf ihren Köpfen und Schultern. Der Wurm zischte sie haßerfüllt an. Eine dunkle Flüssigkeit strömte aus der tiefen Wunde, die Ratagan ihm zugefügt hatte. Seine Augen warfen ein grünes Licht auf die tanzenden Schneeflocken. Sein Kopf schwankte einen Augenblick, dann tauchte er in einem Wirbel von splitterndem Eis in den Boden und verschwand mit einem mahlenden Geräusch. Das Eisfeld bebte noch einen Moment unter ihren Füßen, dann war alles wieder ruhig. Isay ließ sich auf den Boden fallen, und Riven bemerkte erst jetzt, daß sein Bein von der Hüfte an eine einzige blutige Masse war. Das Eis um ihn herum verfärbte sich bereits rötlich. Bicker ging zu ihm und schnitt die Kleidung an Arm und Bein auf, um die Wunden behandeln zu können. »Wird er zurückkommen?« fragte Jinneth sie heiser. »Vielleicht«, antwortete der dunkle Mann. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er einen Riemen um Isays Oberschenkel festzog, um die Blutung zu stoppen. »Vielleicht werden es noch mehr«, sagte Ratagan. »Ich habe schon von diesen Kreaturen gehört. Man trifft sie selten allein.« »Laßt mich hier«, flüsterte Isay, aber Bicker warf ihm nur einen wilden Blick zu. 654
»Wir versorgen Isay, so gut wir können, und sehen dann zu, daß wir von dem Eisfeld herunterkommen. Die Würmer sind Kreaturen aus Schnee und Eis und begeben sich nicht gerne auf Gestein.« Riven beugte sich hinunter zu Bicker und dem Myrcaner, dessen Blut bereits auf dem Schnee festfror. »Wie geht es ihm?« »Nicht sehr gut. Er wird in der nächsten Zeit nicht tanzen können, und sein Blut wird die Würmer anlocken.« »Arm«, murmelte Isay. Er verlor immer wieder das Bewußtsein und kam dann wieder zu sich. Es war schockierend, ihn so hilflos zu sehen. So habe ich auch einmal ausgesehen, damals, als ich vom Berg gefallen war. Viel Blut und zersplitterte Knochen. »Er kommt wieder in Ordnung«, sagte Riven mit fester Stimme und nahm den Blick von den Knochensplittern, die aus dem Fleisch von Isays Unterarm ragten. Plötzlich zerriß in der Ferne, vom Schnee gedämpft, ein Kreischen die Luft. Unter ihnen in der Dunkelheit ertönte ein Antwortschrei. »Sie riechen uns«, sagte Ratagan und klopfte sich mit seiner Waffe auf den Oberschenkel. Seine Handschuhe waren schneeverklebt. »Es wird hier gleich mehr als ungemütlich. Bist du fertig, Bicker?« Der dunkle Mann nickte. Isay war bewußtlos. Sein Bein war mit verschiedenen Pelz-, Lederund Leinenlappen verbunden. Bicker hatte 655
seinen Arm in einen Umhang gewickelt und mit dem Schaft einer Axt geschient. »Es ist nur provisorisch, aber das muß vorerst genügen«, sagte er. »Gehen wir.« Ratagan bückte sich und nahm Isay vorsichtig auf. Er legte sich ihn über die Schulter, so daß sein zerschmetterter Arm frei über den Rucksack des großen Mannes nach unten hing. Dann brachen sie auf. Diesmal seilten sie sich nicht aneinander. Es ging langsamer voran als zuvor. Rivens Beine zitterten, und er mußte Jinneth helfen, die alleine kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Seine Armmuskeln brannten wie Feuer, während er die Axt in das Eis stieß und sie beide darauf stützte. Die Sicht wurde immer schlechter. Die Nacht brach an, und es schneite dicht und geräuschlos. Riven war sich sicher, daß der Rote Berg nicht mehr weit entfernt war, aber das war unmöglich festzustellen. Die Größe dieser Berge und die verwirrende Dunkelheit hatten ihm die Orientierung geraubt. Außerdem hatten sie das Eisfeld noch nicht einmal zur Hälfte überquert. Oberhalb von ihnen krachte es, und ein Hagel von Eissplittern ging auf sie nieder. Kreischen zerriß die Luft. Sie blieben stehen und spähten hektisch in die Dunkelheit. »Sie kommen näher«, sagte Bicker ruhig. »Sie riechen das Blut.« »Wie weit ist es noch zu den Felsen?« fragte Ratagan. Er klang erschöpft, doch in seinem 656
Gesicht war in der Finsternis nichts zu erkennen. »Zu weit. Wir werden es nicht schaffen.« Wieder ertönte das Kreischen, das an einen gefangenen Raubvogel erinnerte. Von zwei anderen Stellen ertönte die Antwort. Die Würmer waren oberhalb und unterhalb von ihnen und hinter ihnen. Vorne hörten sie nichts. »Wir können immer noch weitergehen«, sagte Riven. Ratagan legte Isay vorsichtig auf das Eis und gab ihm Halt, indem er die Axt des Myrcaners neben ihm in den Boden schlug. Riven glaubte zu sehen, daß er lächelte. Der große Mann wandte sich an Bicker. »Sagst du es ihm, oder soll ich es tun?« Der dunkle Mann stützte sich auf den Stiel seiner Axt und senkte den Kopf. Sie hörten, wie sich oberhalb von ihnen etwas bewegte, das Geräusch eines schweren Körpers, der sich über das Eis schob. Jinneth zuckte zusammen, als sie es hörte, und klammerte sich an Rivens Arm. In einiger Entfernung hinter ihnen krachte es, und danach durchlief ein schwaches Vibrieren das Eis unter ihren Füßen. Die Eiswürmer kamen schnell näher. »Sie orientieren sich an dem Blutgeruch«, stellte Bicker fest. »Du gehst jetzt mit Jinneth los, und wir bleiben hier und halten sie für eine Weile auf. Wir werden euch Zeit genug verschaffen, um auf den Felsen zu gelangen.« Riven starrte ihn an. »Nein.« 657
»Du mußt es tun, mein Freund«, sagte Ratagan. »Du mußt um jeden Preis entkommen, sonst war alles umsonst, was wir durchgemacht haben. Du hast noch etwas zu erledigen — und die Lady muß dich begleiten.« »Nein«, flüsterte Riven. »Du mußt, Michael«, sagte Bicker und legte die Hand auf Rivens Arm. »Darum sind wir hier: um dafür zu sorgen, daß du es tust, um sicherzustellen, daß du dorthin gelangst. Laß uns jetzt nicht im Stich — und laß Minginish nicht im Stich.« »Ich kann es nicht«, sagte Riven. »Ich kann nicht ohne euch gehen. Ich schaffe es nicht allein.« »Du mußt es tun«, sagte Ratagan eindringlich. »Außerdem hast du eine schöne Lady an deiner Seite. Du bist nicht allein.« »Du wirst nie allein sein«, prophezeite Bicker. »Nicht solange diese Geschichte weitergeht.« Eine andere Stimme sprach aus der Vergangenheit zu ihm: »Es wird immer eine Geschichte geben. Vielleicht ändern sich die Personen, vielleicht erzählt sie sogar ein anderer. Aber sie geht weiter.« Sie geht weiter. Großartige Fantasiegestalten. Er hatte sie geschaffen, getroffen und geliebt. Er zählte sie zu seinen Freunden, vielleicht den besten, die er je gehabt hatte. Und jetzt war er im Begriff, sie zu verlassen, sie sterben zu lassen. Ich werde es nicht tun. 658
Irgendwo in der Dunkelheit zersplitterte Eis. In der Nähe zischte etwas, und sie sahen das grüne Funkeln von Augen durch den Schnee. Ratagan hob bedächtig seine Axt. »Du mußt gehen, Michael Riven.« Ich weiß. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Er konnte nicht sprechen. Bicker und Ratagan sahen ihn nicht mehr an, sondern fixierten die Augen, die langsam herankamen. Drei Augenpaare. »Laßt euch nicht erwischen«, warnte Ratagan. »Geht jetzt, solange ihr es noch könnt.« Tränen liefen Riven über die Wangen. Er ging ein Stück zurück. »Eines Tages werde ich eine Geschichte über euch schreiben«, stieß er hervor. Dann stapfte er mit seinen eisenbewehrten Schuhen los, Jinneth dicht hinter sich. Er hörte das Kreischen der näherkommenden Würmer, und Ratagans Lachen stieg glockenhell in die Nacht. »Laß es eine gute Geschichte werden!« rief er. Dann begannen die Kampfgeräusche, und Riven wandte sich ab. Er ließ sie zurück und blickte dem Berg entgegen, der wie eine Kathedrale aus der Nacht ragte.
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ZWANZIGSTES KAPITEL Sgurr Dearg. Sie befanden sich auf seinen unteren Hängen und kämpften sich eine Böschung hoch, die mit trügerischem, eisüberzogenem Geröll bedeckt war. Es hatte aufgehört zu schneien, und Riven meinte, hinter den Wolken das Schimmern des Mondes zu erkennen. Er hörte, wie seine Steigeisen über Felsgrund scharrten und sank auf die Knie. Erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, daß er weinte. Sie waren nicht mehr bei ihm. Er war fast allein. Jinneth kniete sich neben ihn und legte den Arm um seine Schultern. Kein Laut war in der Nacht zu hören. Wenn der Kampf noch andauerte, drangen seine Geräusche nicht herauf in die mächtigen Ausläufer des Berges. Er unterdrückte das Schluchzen, das ihm in die Kehle stieg, und knurrte trotzig. Dann stand er auf. Bring es zu Ende, Riven. Er ging weiter, ohne ein Wort mit seiner Begleiterin zu sprechen. Er hatte Angst davor, daß ihm hier, so kurz vor dem Ziel, seine Frau antworten könnte. Das wäre zuviel gewesen. Seine Nerven waren ohnehin zum Zerreißen angespannt. 660
Zu viele Gesichter waren in seinem Kopf, zu viele Bilder. Zwei Welten beanspruchten ihn, brachten ihn in einen unerträglichen Loyalitätskonflikt. Im Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher, als zurück auf dem Eis zu sein und seinen Freunden im Kampf beizustehen. Sie hatten unzählige Male sein Leben gerettet, und als Dank hatte er sie in Todesgefahr zurückgelassen. Und Ratagan hatte gelacht! Er sah den Fluß in Beechfield im Mondlicht glänzen, sah Wellen an den Strand von Camasunary rauschen, sah den Roten Berg an einem Sommernachmittag, an dem die Sonne die Felsen aufheizte. Er spürte Schwester Cohens Arm um seine Schultern, ihre Lippen auf seiner Stirn, doch dann verwandelte sie sich in Madra, die vor ihm saß, den Kopf eines Wolfes im Schoß. Zu viele Dinge. Zu viele unmögliche Bilder. Die Wolken verzogen sich, und plötzlich umgab sie fahles Mondlicht, das ihre Schatten wie dunkle Pfützen auf den Grund warf und die Berge grau färbte. Die Leere und unwirkliche Stille der Umgebung ließen ihn grinsen, doch die Erinnerung an Ratagans Lachen ernüchterte ihn sofort wieder. Egal. Egal. Der Traum lag hinter ihm. Und vor ihm lag nur noch der Berg. Und Jenny. Sgurr Dearg ragte vor ihnen in den Himmel, drohte im Mondlicht düster über ihnen. Dünne Wolkenschleier umgaben den Gipfel. 661
Es war eine klare Winternacht auf Skye, und er wanderte mit der deutlichen Erinnerung an einen unglaublichen Traum durch die Berge. Wanderte in seine eigene Welt zurück, mit einem Geist an seiner Seite. Sie hielten an, und er entfernte die Steigeisen von ihren Schuhen. Der Weg wurde schwieriger und steiler. Geröll löste sich unter ihren Füßen und polterte den Hang hinunter. Der Wind hatte dem Schnee hier oben keine Chance gelassen. In einigen geschützten Ecken hatte sich etwas angesammelt, aber überwiegend war der Berg kahl wie ein Grabstein. Eisüberzogener Fels schimmerte im Mondlicht. Seine Glieder schmerzten. Alle Knochen, die er sich jemals gebrochen hatte, brachten sich in Erinnerung. Neben sich hörte er das rasselnde Atmen von Jinneth. Sie hielt mit ihm Schritt. Er blickte in ihr starres Gesicht. Es sah leblos aus wie das einer Statue, und ihre Augen waren silbrige Schlitze unter den zusammengewachsenen Brauen. Erschöpft und keuchend mußte er nach einer Weile stehenbleiben. Sie sank neben ihm zu Boden. Bilder aus der Vergangenheit tauchten auf. Er selbst, frisch rasiert und gesund, beim Durchstreifen der Berge von Brecon, fast ohne sich eine Pause zu gönnen. Leutnant Riven. Und weiter, mit pfeifendem Atem. Seine Lunge klang wie die von George, als er mit dem 662
Splitter in der Brust auf dem Pflaster von Derry lag. Soldat sein. Auch das lag hinter ihm. Der erste der Steilhänge, die zum Gipfel führten, ragte vor ihnen auf, eine schwarze Masse, auf der vereinzelt Schneeflecken schimmerten. Sie mußten jetzt klettern. Sie hatten kein Seil mehr. Sie trugen immer noch die Schlingen um die Hüften, aber der Rest war jetzt irgendwo da unten bei Bicker, Ratagan und Isay; und bei den Würmern. Er streifte seine Handschuhe ab, weil er wußte, daß er seine Finger brauchen würde, und veranlaßte Jinneth, das gleiche zu tun. Sie wirkte völlig benommen, wie in Trance, hilflos wie ein vor Angst erstarrtes Kaninchen, und sie folgte ihm, ohne Fragen zu stellen. Er begann, sich an der Wand hochzuziehen, fand leicht Halt für die Hände, doch seine Füße rutschten immer wieder ab. Falsche Gipfel erschienen und blieben hinter ihnen zurück. Scharfe Felskanten rissen seine Hände auf, und die Kälte ließ sie langsam taub werden. Unbeholfen tastete er nach Halt. Zweimal mußte er seine Axt in einer Felsspalte verkeilen und Jenny zu sich hochziehen. Sie zitterte und biß vor Angst oder Kälte die Zähne fest aufeinander. Ihre Hände waren blutig. Die Steilhänge endeten schließlich, und sie erreichten eine flache Stelle kurz unterhalb der Gipfelzinne. Erschöpft taumelten sie über den Vorsprung. Auf halbem Weg zur Zinne streifte 663
er seinen Rucksack ab und ließ ihn zu Boden fallen. Dann nahm er Jinneth ihr Gepäck ab und stützte sie, als sie schwankte. Sie blieben vor dem letzten Stück zum Gipfel für einen Augenblick stehen, und sie lehnte sich mit der Stirn gegen seine Schulter. »Hier ist mein Tod«, flüsterte sie und schluchzte leise. Er strich ihr über das eisverkrustete Haar, sagte aber nichts. Er war schon zu weit gekommen. Als sie weitergingen, reichten sie sich die Hände, wie zwei Kinder, die gegenseitig Trost suchen. Und dann waren sie am Ziel. Er hatte fast erwartet, das baumelnde Seil mit dem ausgefransten Ende zu sehen, aber hier war nichts als nackter Granit, Schneereste und die Dunkelheit über dem Tal, das er unter sich wußte. Vor ihnen klaffte ein unendlicher Abgrund, und dahinter schlief Minginish. Wenn es hell gewesen wäre, hätte er die Lehen und Dörfer rund um Talisker sehen können, vielleicht sogar die steile Silhouette der Stadt selbst, umgeben vom silbrigen Band des Flusses und der unendlichen Weite des Vales. Vielleicht könnte er auch nur Glenbrittle sehen, die langgezogene Häuserreihe entlang der Straße durch das Tal. Das Haus, in dem Jenny auf die Welt gekommen war und das jetzt leerstand. Er hockte sich mit Jinneth auf den Felssims, von dem aus er vor einem Jahr und einem 664
Jahrhundert Jenny gesichert hatte, und wußte, daß sie nicht allein waren. Sie war bei ihnen, auf dem Sims. Jinneth schreckte zurück, aber Riven starrte sie wie gelähmt an. Er konnte sich nicht bewegen. Das dunkelhaarige Mädchen. Sie trug noch immer ihren dünnen Umhang, und ihre Hände und Füße waren blutig. Sie war völlig abgemagert, das Gesicht hohlwangig und ausgemergelt. Die Haut spannte sich über ihre Knochen. Sie lächelte. Jinneth schrie und sprang auf, aber ein Blick aus den grauen Augen ließ sie erstarren. Die beiden Frauen sahen sich an, das Gesicht der einen schreckverzerrt, das der anderen von unmenschlicher Ruhe, unbeweglich wie das einer Leiche. Riven saß wie angewurzelt zwischen ihnen. Ein Ächzen drang aus Jinneth' Mund. Sie schüttelte heftig den Kopf, ließ den Blick nicht von ihrem Ebenbild. Dann trat sie langsam einen Schritt zurück ... »Nein!« schrie Riven und warf sich nach vorn. Zu spät. Sie taumelte ohne einen Laut über die Felskante, überschlug sich einmal und war verschwunden. O Gott! Riven preßte sein Gesicht auf den Felsboden und legte die Hände auf die Ohren. Er wollte nichts sehen und hören — wollte den Aufschlag nicht hören, konnte es nicht ertragen, ihren Schrei zu hören. Er meinte, 665
weit entfernt sich selbst schreien zu hören, spürte für eine Sekunde Sonnenschein auf dem Rücken. Dann war es vorbei. Er fühlte kalten Fels unter seiner Wange. Zwischen seinen Fingern war Eis. Und eine Hand tastete über seinen Arm. Mit weit aufgerissenen Augen wich er von der Felskante zurück. »Michael.« Jennifer Mackinnon saß vor ihm auf einem Stein. Sie sah besorgt aus, aber ein Lächeln lag auf ihren Lippen. Das gleiche Lächeln, das so charakteristisch für ihren Vater gewesen war. Seine Frau. Nicht irgendein Ebenbild, eine Vision oder ein Traum. Seine Frau, hier vor ihm auf dem Berg, der sie getötet hatte. Er streckte seine rissige, verschrammte Hand nach ihr aus, und ihre Finger schlossen sich um die seinen. Menschlich. Echt. »Jenny?« flüsterte er mit rauher Stimme. Sie wirkte für einen Moment verwirrt. Dann klärte sich ihr Blick. »Jenny. Ja. Ich glaube, die bin ich.« »Du ...du lebst.« Wieder lächelte sie. »Ich bin mehr als lebendig. Ich bin in der Geschichte, so wie du es jetzt bist. Man wird von diesen Bergen hier bis zum Meer von dir reden. Du bist ein Held geworden, Michael.« Tränen traten in seine Augen. »Ich möchte kein Held sein. Ich möchte dich zurückhaben. Ich möchte dich mit nach Hause nehmen.« 666
Sie schüttelte den Kopf. »Dieser Teil der Geschichte ist vorüber. Er kann nicht noch einmal erzählt werden. Ich kann nicht zurückkommen.« Da wußte er, daß sie nicht die Frau war, mit der er an jenem Tag den Sgurr Dearg bestiegen hatte. Jedenfalls nicht ganz. Und Trauer stieg in ihm hoch, als ihm endgültig klar wurde, daß seine Jenny für immer von ihm gegangen war. »Minginish ist der Name des Landes, in dem du eine Heimat gefunden hast«, sagte sie. »Und es ist hier, denn du hast es nie verlassen. Es umgibt die Welt, die du deine eigene nennst, ist Bestandteil von ihr, auch wenn die Menschen, die du in der einen Welt gekannt hast, Menschen der anderen Welt geworden sind.« »Wer war Jinneth?« fragte Riven. »Sie war ein Teil von dir und ein Teil von mir. Sie war die Angst, die du um mich hattest. Und sie war mehr als das. Magie, Michael. Glaubst du jetzt daran?« In ihm war ein dumpfer Schmerz. Ein Schmerz, den er schon einmal empfunden hatte. »Ja, das tue ich. Jetzt glaube ich daran.« »Minginish ist aus Magie gemacht. Es ist nicht so unveränderlich wie die Welt auf Skye. Es ändert sich laufend, und du bist es, der es ändert. Du bist geboren worden mit einer Geschichte im Kopf, einer Geschichte, die der Wirklichkeit dieser Welt so nahe kam, daß sie von dir angezogen wurde und in dich eindrang. 667
Wer kann sagen, warum oder wie das geschah? Vielleicht wirst du es eines Tages herausfinden. Aber du hast einen Teil der Zauberkräfte dieser Welt in dich aufgenommen. Ihr Schicksal wurde in deine Hände gelegt. Du hast diese Welt geändert, und sie hat dich geändert. Aber zuviel vom Wesen dieser Welt ging auf dich über. Die Verbindung wurde zu stark, und als ich ... als ich starb, war das wie eine Explosion. Für eine Weile floß alle Magie zurück in eine Richtung — nach Minginish, und schuf ... Jennifer. Das dunkelhaarige Mädchen, das dir seit deiner Ankunft wie ein Schatten gefolgt ist. Weil sie dich liebte.« Er blickte zu ihr auf und sah, daß ihr Blick in den gähnenden Abgrund vor ihnen gerichtet war. Trauer lag auf ihrem Gesicht. »Die Magie war in mir«, fuhr sie fort. »In mir gefangen. Und das Land begann zu sterben. Erst als ich geheilt wurde, wurde es erlöst.« »Dadurch, daß Jinneth und ich hierherkamen?« fragte Riven, und sie nickte. »Jetzt kann das Land sich selbst heilen, und ich bin frei.« Er versuchte, sie an sich heranzuziehen, doch sie bewegte sich nicht. »Warum?« fragte er. »Der Tod ist endgültig«, sagte sie mit weicher Stimme. »Doch die Geschichte geht weiter.« »O ja, wie konnte ich das vergessen? Das Leben geht weiter«, sagte er verbittert und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Und was bleibt mir jetzt noch?« 668
Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. »Eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden, vielleicht. Ein Grund, weiterzumachen.« »Es ist verschwunden, nicht wahr? Ich bin wieder zurück.« Sie nickte schweigend. »Werde ich jemals nach Minginish zurückkehren?« »Du wirst jetzt nach Hause gehen, und du wirst vergessen. Du würdest sonst niemals zufrieden sein können.« »Alles vergessen?« fragte er und erinnerte sich an Riesen und Zwerge, Berge und Städte, Freunde und Feinde, und eine Geliebte, die fast noch ein Kind gewesen war. Alles. Eine Brise war aufgekommen und strich um den Berg, als sei sie auf der Suche nach etwas. Es war kalt. Seine Kleidung war abgetragen und zerrissen, und Steine drückten sich in seinen Rücken. Im Osten dämmerte rötlich der Morgen über den zerklüfteten Gipfeln der Cuillin-Berge. Er setzte sich fröstelnd auf und schlang sich die Arme um die Brust. Was, in aller Welt, war geschehen? Die Konturen des Tals zeichneten sich unter ihm in der Dämmerung ab. In einigen Häusern war schon Licht hinter den Fenstern. Taumelnd erhob er sich, wunderte sich, warum seine Kleidung sich so ungewohnt 669
anfühlte. Er hatte Hunger, und Schmerz durchzuckte seine Hände. Er setzte sich wieder hin. Irgend etwas war da am Rande seines Bewußtseins, wie ein unscharfes Bild. Er fühlte sich wie zerschlagen. Aber lebendig — merkwürdig lebendig. Er hätte am liebsten laut gelacht und dem überschwenglichen Widerhall seines Lachens aus den Bergen gelauscht. Ich kann nicht den ganzen Tag hier oben herumsitzen. Er stand auf. Es war ein weiter Weg bis zu der Hütte, aber der Himmel klarte auf, und es sah aus, als läge ein herrlicher Tag vor ihm. Er lächelte und betrachtete die Berge um sich herum, den blauen Himmel und die weit entfernte Brandung an der Küste von Skye. Dann brach er eilig nach Hause auf. Er hatte eine Geschichte zu schreiben.
ENDE
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