Duncan Steen
Der Weg zum gelassenen Leben Einführung in die Meditation
scanned by unknown corrected by minyaia Gelassen leben - gar nicht so einfach angesichts ständig steigender Ansprüche und Leistungserwartungen. Im Alltag Zeiten der Ruhe zu schaffen, um in Kontakt mit den eigenen Gefühlen zu kommen, kann dabei helfen -und zu nachhaltigem Glückserleben führen. Wie buddhistische Meditation dazu beiträgt, zeigt diese kompakte und praxisnahe Einführung. ISBN 3-451-05359-4 Titel der englischen Originalausgabe: „Meditating" Aus dem Englischen von Bernardin Schellenberger Verlag Herder Freiburg im Breisgau 2003 Umschlaggestaltung und Konzeption: Roland Eschlbeck, Liana Tuchel Umschlagmotiv: © ZEFA
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Gelassen leben statt ständig dem Glück hinterher zu jagen: gar nicht so leicht in einer Zeit, in der wir täglich einer Vielzahl von Ansprüchen ausgesetzt sind und die Anzahl der Glücksangebote nahezu unüberschaubar geworden ist. Die buddhistische Meditatio n bietet die Möglichkeit, Freiräume im Alltagsleben zu schaffen, in denen man zur Ruhe und in Kontakt mit den eigenen Gefühlen kommt. Sie ist so auch der Weg zu einer gelassenen Haltung dem Leben gegenüber: Glück ist nicht etwas, das das Leben uns schuldet, sondern etwas, das wir ins Leben einbringen. Geistig wach zu sein und ein offenes Herz zu haben: das sind die zwei Qualitäten, die wir dazu brauchen. Wie sie sich durch Meditation kultivieren lassen, erklärt der Autor prägnant und einfach - und stets mit Rücksicht darauf, dass die wenigsten Menschen die Möglichkeit haben, sich einfach aus dem Alltag „auszuklinken". Zu Beginn reichen 20 bis 30 Minuten täglich, um sich in die richtige Körperhaltung beim Meditieren einzufühlen und in der Konzentration auf den eigenen Atem Abstand zu gewinnen vom ständigen Fluss der Gedanken. Beides wird Schritt für Schritt erklärt. Mit zunehmender Vertrautheit - auch mit den Ablenkungen, die beim Meditieren vorkommen können - wird der positive Einfluss der Meditation auf das tägliche Leben spürbar: Wer Tag für Tag eine Zeit lang ganz bei sich ist, kann sich der Welt auf eine neue, aufmerksamere und liebevollere Weise zuwenden. Meditation führt so auch zu einer Ethik des besseren Umgangs mit anderen und mit sich selbst. Die überschaubare Anleitung zum gelassenen Leben realistisch, gehaltvoll und sehr inspirierend.
Der Autor
Duncan Steen, geb. 1952, wurde 1986 in den „Westlichen Buddhistischen Orden" ordiniert und erhielt dabei seinen geistlichen Namen „Jinananda" („Glück des Eroberers"). Er ist Schüler von Urgyen Sangharakshita, dessen Schriften er seit 1990 herausgegeben hat, und Autor mehrerer Bücher, u.a. zum Mittleren Weg des Buddhismus. Seit über 15 Jahren lehrt er Meditation am „West London Buddhist Centre".
Meinem Sohn Antoine in Liebe gewidmet.
Inhalt Vorwort................................................................................... 6 Einführung ........................................................................... 10 Erster Teil Die Vorbereitung auf die Meditation ............. 14 1 Aus der Welt heraustreten............................................................... 15 2 Unsere Sinne neu entdecken .......................................................... 22 Zweiter Teil Achtsamkeit .................................................... 28 3 Was ist Achtsamkeit? ........................................................................ 29 4 Die Achtsamkeit beim Atmen....................................................... 33 5 Achtsamkeit im Alltag ...................................................................... 40 Dritter Teil Güte .................................................................. 44 6 Metta - eine Haltung umfassender liebevoller Zuwendung ............................................................................................................................ 45
7 Sein Fühlen kennen lernen.............................................................. 52 8 Die Metta Bhavana - wie Güte zur Entfaltung gebracht werden kann ................................................................................................. 58 9 Umfassende Freundlichkeit und Güte entfalten - eine Herausforderung ........................................................................................ 67 Vierter Teil Vertiefung der Meditation............................. 79 10 Ablenkungen........................................................................................ 80 11 Ausgewogene Bemühung ............................................................. 92 12 Konzentration...................................................................................... 97 13 Die Einsichts-Meditation.............................................................103 Dank .................................................................................... 115 Weiterführende Literatur ................................................. 116
Vorwort Die Frage, wie man ein Leben im Geiste des Buddhismus führt, ist deshalb so wichtig, weil die Praxis des Buddhismus den ganzen Menschen betrifft. Es geht dabei sowohl um unser körperliches Verhalten wie auch um unser Sprechen und Denken - kein Aspekt des Lebens ist davon ausgenommen. Die Lehre des Buddha lässt sich auf den einfachen Nenner bringen: „Handlungen haben Folgen". Alle unsere Gedanken, Worte und Taten wirken sich auf die Welt aus, zum Guten oder Schlechten, und führen entweder zu Glück oder Leiden. Unzureichende Handlungen - solche, die aus Geisteshaltungen der Gier, der Bosheit und der Unwissenheit erwachsen schaffen Leiden. Angemessene Handlungen führen zu Glück, weil sie aus Einstellungen der Großmut, Liebe und Weisheit erwachsen. Will man genau erkennen und unterscheiden, aus welcher Einstellung heraus man handelt, so muss man achtsam sein. Aus diesem Grund lebt ein Buddhist ganz achtsam oder versucht das jedenfalls, und er möchte jeden Bereich des Lebens mit den Eigenschaften der Großmut, Liebe und Weisheit prägen. Das ist kein leichtes Unterfangen, aber es wirkt sich auf vielfältige Weise positiv aus. Bei den im Buddhismus gepflegten Übungen - also der Meditation, den Ritualen und dem Studium des Dharma (der Lehre des Buddha) - geht es darum, ein höheres Maß an Achtsamkeit und Freundlichkeit zu entwickeln. Hinzu kommt, dass unsere Alltagstätigkeiten unendlich viele Möglichkeiten bieten, uns darin einzuüben und uns zu verändern. Auf diese Weise geben wir unserem persönlichen wie auch gemeinsamen -6-
Leben ein klareres Ziel und eine verheißungsvolle Richtung. Ich habe das Glück, in einem Meditationszentrum in einem wunderschönen Tal in Südwales leben und arbeiten zu können. Am oberen Ende dieses Tals liegt ein großer Stausee, und an den Tagen, an denen ich Meditationskurse halte, gehe ich meistens an diesen See und blicke über die weite Wasserfläche hinaus. Ganz gleich, welche Tageszeit und welches Wetter gerade ist, immer gibt es bestimmte Wirkungen des Lichts, der Farben und der Bewegungen, die mir ins Auge fallen und mich reich beschenken. Wenn dann der Kurs voranschreitet und mein Meditieren an Intensität zunimmt, empfinde ich oft ein tiefes Gefühl der Erfüllung, ein Freisein von Herz und Geist, bei dem ich alles, was ist, in seiner Schönheit „sein" lasse und gerade dadurch von ihm mit soviel Freude beschenkt werde. Zugleich spüre ich, dass ich zunehmend einfühlsamer für die Menschen werde, mit denen ich zusammen bin. Selbst wenn etliche meiner Kursteilnehmer für mich noch ganz neu sind und ich vielleicht sogar gewisse Widerstände in mir gespürt hatte, wieder mit einer neuen Gruppe von Leuten zusammen zu sein, steigert sich deutlich mein Empfinden für unsere Gemeinsamkeit als Menschen, nimmt mein Interesse zu, an den Erfahrungen anderer Anteil zu nehmen, auch an den Anliegen und Sorgen, die sie bewegen, und fühle ich mich bereitwilliger und besser in ihr Bemühen ein, etliche ihrer womöglich lebenslangen Gewohnheiten zu verändern. Manchmal ist es mir, als fließe mein Herz vor Zuneigung und Wärme über für alle diese Menschen, die sich neben mir ihrer Übung widmen. Ich weiß, diese Freude an der Welt und an anderen Menschen steht in direktem Zusammenhang mit der Praxis der Meditation. Die Meditation ist nicht die einzige Form der buddhistischen Praxis, mittels derer man größere Achtsamkeit und positivere Geisteshaltungen entwickeln kann, aber vermutlich der direkteste und am leichtesten zugängliche Weg zur Entwicklung dieser Eigenschaften. Jeder, der genügend Interesse dafür -7-
aufbringt und fähig ist, länger als einige wenige Minuten am Stück still zu sitzen, kann mit der Praxis der Meditation anfangen und ihre positiven Wirkungen erfahren. Die Meditation bringt uns in Berührung mit uns selbst. Zeitweise heißt das auch, viel deutlicher als sonst in Berührung mit den Schmerzen wie auch den Freuden der eigenen inneren Erfahrung zu kommen. Oft überspielen wir ja unsere Unzufriedenheiten mit allen möglichen Ablenkungen. Die Meditation bringt diese von den Ablenkungen überlagerten Zustände ans Licht. Es tut weh, seine Unzufriedenheit deutlich zu spüren, aber die Meditation, durch die sie aufgedeckt wird, eröffnet zugleich den Weg zu einer sehr viel befriedigenderen Erfahrung. Das ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Duncan Steen beschreibt zunächst, wie man sich auf die Meditation vorbereitet, und dann leitet er zu zwei grundlegenden Meditationsübungen an, mittels derer man wirksam an der Umwandlung von Geist und Herz arbeiten kann; außerdem liefert er praktische Hinweise dafür, wie sich die Meditation weiter vertiefen lässt. Ich selbst war viele Jahre in einem buddhistischen Zentrum in der Stadt tätig und lebe jetzt in einem Meditationshaus auf dem Land. Während dieser langen Zeit durfte ich erleben, wie sich viele Menschen dank des Einflusses der Meditation und anderer buddhistischer Übungen veränderten und wesentlich glücklicher wurden. Ich konnte sehen, wie Menschen oberflächliche und gehemmte Rollen ablegen und tief eingefleischte Haltungen ändern konnten, so dass aus ihnen authentischere Einzelpersönlichkeiten wurden, die ein viel intensiveres Verhältnis zu sich selbst und anderen entwickeln konnten. Schon das allein wäre ein hinreichender Grund zum Meditieren. Aber wenn uns dann darüber hinaus auch noch aufgeht, dass uns die ständige konze ntrierte Praxis der Meditation auch noch zu transzendenter Einsicht führen und eine tiefe, unumkehrbare Wesensveränderung in uns bewirken -8-
kann, die uns in die Lage versetzt, die Ursachen des Leidens zu durchschauen, wird erst recht klar, von welch unschätzbarem Wert die Praxis der Meditation ist. Maitreyi Tiratanaloka Wales, im März 2000
-9-
Einführung
Der Wunder sind viele, doch ist deren keines, das wunderbarer und unergründlicher wäre als der Mensch, der Wanderer, der durchschweift sogar das von Winterwinden gepeitschte graue Meer. Sophokles, Antigone Unserem Streben nach Glück liegt eine merkwürdige Vorstellung zugrunde: Wir meinen, für ein ganz und gar befriedigendes Leben müssten wir unbedingt bestimmte Dinge finden, die uns tiefe Befriedigung schenken: Filme, Beziehungen, Essen und Trinken, Sex, Bücher, Meditation… Daraus ziehen wir den Schluss: Man ist umso glücklicher, je besser es einem gelingt, in einem möglichst kurzen Zeitraum möglichst viele befriedigende Erfahrungen zu machen. Tatsächlich sind wir willens, eine Menge Ärger - ja sogar beträchtliches Elend - auf uns zu nehmen, um möglichst viele befriedigende Dinge zu bekommen. Sehen wir uns indes etwas genauer das an, was uns wirklich Freude macht, so besteht es aus denjenigen Tätigkeiten ganz gleich, ob wir sie als Arbeit oder als Spiel bezeichnen, gegen die wir uns nicht sperren. Wer voll darin aufgeht, einen Film anzuschauen, eine Windel zu wechseln oder einen Berg zu besteigen, ist glücklich, weil er oder sie keinen Zwiespalt empfindet. Lange weile, Groll, Scham, Angst, Gier sind dabei aus dem Spiel. Und vor allem: Der Geist ist nicht anderswo. Bei der Meditation handelt es sich um die praktische -10-
Anwendung dieser einfachen Wahrheit: dass Zufriedenheit, Glück und Erfülltsein nicht Endprodukte einer befriedigenden Sache oder Erfahrung sind, sondern eine Art und Weise, mit allen Dingen umzugehen. Glück ist nicht etwas, das uns das Leben liefern muss, sondern wir bringen es ins Leben ein. Das mag ganz geistreich klingen, ist aber genau genommen sehr eigenartig. Es unterstellt, dass wir jenen Zustand des ganz in Beschlaggenommen-Seins, den wir als Glück bezeichnen, ganz unabhängig davon erreichen können, ob wir uns in glücklichen äußeren Umständen befinden oder nicht. Und hier kommt die Meditation ins Spiel. Es ist möglich, das Glück als Kraftquelle für den Dienst an dem uns umgebenden Leben zu entdecken, statt unser Leben dem vergeblichen Versuch zu verschreiben, irgendein problemfreies Glück zu erlangen. Der Zweck der Meditation besteht darin, sich voll in die Erfahrung zu versetzen, wie sich das eigene Herz auf nicht beschreibbare Weise in der Welt betätigt. Sie hilft, ganz in der realen Welt gegenwärtig zu sein, statt sich immer nur unkonzentriert halb von der „Außenwelt" in Beschlag nehmen zu lassen und halb in seiner inneren Eigenwelt zu sein und beide Welten ständig miteinander zu verwirren. Nur wenn man in seiner inneren Welt voll präsent ist, kann einem auch die äußere Welt voll präsent sein. Die Erfahrung, keine richtige Verbindung zu den uns umgebenden Dingen und Menschen zu haben, ist in Wirklichkeit die Erfahrung eines Selbst, das sich abgesetzt, ja abgehängt hat. Je schneller unser Geist auf seiner ruhelosen Suche nach etwas, das seine Aufmerksamkeit richtig fesseln könnte, von einem Kanal unserer Erfahrung zum anderen zappt, desto fragmentarischer und oberflächlicher neigt diese Erfahrung zu werden. Dieses geradezu schmarotzer-, ja vampirhafte Suchen danach, Nahrung aus dem uns umgebenden Leben zu saugen, spielt sich im Wesentlichen unbewusst ab. Eine Eigenschaft der Vampir-11-
Natur des unheimlichen Grafen Dracula ist es bezeichnenderweise, dass ihn Spiegel nicht reflektieren, das heißt: Es gehört zu seiner Natur, nie sich selbst zu sehen. Zudem ist er unsterblich: Er hat das Geschenk, nicht für immer sein zu müssen, abgelehnt - aber in seiner Angst vor Verlust und Abgeschnitten-Sein ist er vom Leben und vom Licht abgeschnitten. Folglich können ihn nur zwei Umstände zu einer Handvoll Staub zusammensinken lassen: dass er entweder dem Tageslicht ausgesetzt oder dass ihm ein Pfahl durchs Herz gestoßen wird. Um es weniger drastisch zu sagen: Er ist eine Symbolfigur für das jeglichen Sinnes entleerte Leben, und folglich ist für ihn das Licht der Bewusstheit unerträglich, das Öffnen seines Herzens tödlich. Genau um diese beiden grundsätzlichen Dinge geht es mir aber, wenn ich in diesem Buch die Grundübungen des Buddhismus vorstelle: um die Entfaltung der Fähigkeiten, in voller Bewusstheit und mit offenem Herzen zu leben. Die methodische Einübung dieser beiden Fähigkeiten hat direkt mit dem Alltagsleben zu tun. Das Bild des auf Leben und Tod mit seinem Erzfeind Dr. van Helsing kämpfenden Grafen Dracula habe ich jedoch beschworen, um deutlich zu machen, dass es bei der Meditation um etwas ziemlich Kompromissloses geht, nämlich um eine radikale Richtungsänderung für unsere Psyche. Man muss dabei seine eigenen Bewusstseinszustände, wie sie sich einem in der Meditation offenbaren, geduldig annehmen, offen für sie sein und behutsam mit ihnen umgehen. Oder, mit traditionelleren buddhistischen Begriffen formuliert: Die Weisheit geht mit einem bedingungslosen Mitgefühl einher, das niemanden ausschließt, nicht einmal sich selbst. Es gibt niemanden, der unsere Bewusstseinszustände „von außen" erfährt. Wir sind unsere Bewusstseinszustände. Wollen wir andere Zustände erfahren, so müssen wir sie werden. Der Prozess dahin setzt in dem Moment ein, in dem man den festen Vorsatz fasst zu meditieren. Die Meditation ist eine Übung, -12-
keine Leistung. Um gleich mit der Meditation anzufangen, ist nur eines notwendig: dass man in seinem Tageslauf einen kurzen Zeitraum dafür freimachen kann. Zum Beispiel gleich jetzt. Wenn Sie das unverzüglich versuchen wollen, brauchen Sie nur einige Augenblicke lang alles beiseite zu lassen, worum Sie sich heute kümmern müssen, und sich hinzusetzen: ruhig, entspannt, in sanfter Wachheit, mit leicht geschlossenen Augen. Versuchen Sie als Nächstes, diese leeren Momente als solche zu verkosten. Diese Momente gehören gar niemandem. Sie sind auch keine Investition in etwas, das sich später auszahlen wird. Sie müssen nicht einmal das Beste aus ihnen machen. Nehmen Sie sie einfach ganz absichtslos wahr. Beobachten Sie, wie sie wie Blasen aus Ihrem Geist aufsteigen… und schauen Sie zu, mit welchem Wust von Reaktionen Sie sie gleich befrachten wollen… Sehen Sie zu, ob Sie genügend Geduld aufbringen, die lichtvolle, stetige, geräumige Qualität, die diesen Momenten eigen ist, hochkommen zu lassen.
-13-
Erster Teil Die Vorbereitung auf die Meditation
-14-
1 Aus der Welt heraustreten
In jedem Konsultationszimmer sollten zwei ziemlich furchtsame Menschen sein: der Patient und der Psychoanalytiker. Ist das nicht der Fall, so stellt sich die Frage, warum sie sich die Mühe machen, herauszufinden, was schon allgemein bekannt ist. W. R. Bion Warum meditieren? Um von seinem Stress loszukommen? Um sich besser konzentrieren zu können? Oder um die Geheimnisse des Universums auszuloten? Welchen Zweck Sie auch immer damit verfolgen - er wird sich vermutlich im Lauf der Zeit auch ändern -, Sie werden jedenfalls nicht ohne einen solchen Zweck zum Meditieren fähig sein. Die Meditation kann in den Augen von Menschen, die jeden Tag rundum beschäftigt sind, nicht als besonders nützliche Tätigkeit erscheinen, und selbst wenn ihre Wirkung zunächst durchaus intensiv wäre, kann diese sich ziemlich rasch wieder legen. Die Meditation ist eine derart von allem anderen unterschiedene Tätigkeit, dass ihr Wert, wenn man ihn nach den Maßstäben unseres übrigen Alltagslebens einschätzt, gar nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Aus diesem Grund müssen wir unseren Geist willentlich bemühen, damit er für dieses Unternehmen einen handgreiflichen Zweck findet, auf den er bereitwillig anspricht. Worin immer wir diesen Zweck sehen wollen - etwa ruhiger zu werden, konzentrierter sein zu können oder die Tiefen unseres menschlichen Bewusstseins auszuloten -, wir tun jedenfalls gut daran, ihn fest im Auge zu behalten. Die leichteste Möglichkeit, motiviert zu bleiben, besteht darin, sich einer Gruppe -15-
anzuschließen, die regelmäßig gemeinsam meditiert. Das Zitat zu Anfang der Einleitung ist als eine Art behutsamer Warnung gedacht, dass die Suche nach dem inneren Frieden ein langwieriges und gelegentliches schwieriges Unternehmen werden kann. Realistischerweise muss man sagen, dass die meisten Menschen, die sich ohne regelmäßigen Kontakt mit Gleichgesinnten im Meditieren versuchen, bald wieder aussteigen. Wenn Sie sich zunächst alle Mühe geben, um die regelmäßige Meditation in Ihrem normalen Tageslauf unterzubringen, merken Sie vielleicht, dass Sie dazu ziemlich viel Disziplin brauchen. Sofern Sie es schaffen, sie aufzubringen, werden Sie diese beiden Erfahrungsbereiche besser verstehen, ja sogar spüren, wie sie sich gegenseitig beeinflussen. Sie können es als sicheres Anze ichen dafür werten, dass Ihre Meditation zu greifen beginnt, wenn Sie merken, dass sie sich auf Ihr übriges Leben auswirkt. Und Sie werden feststellen, dass sich umgekehrt auch Ihr Alltagsleben auf Ihr Meditieren auswirkt, vor allem auf die Art, wie Sie andere Menschen behandeln und wie Sie mit sich selbst umgehen. Folglich werden Sie erleben, dass das richtige ethische Verhalten ebenso ein Geistestraining ist wie die Meditation. Eine grundlegende buddhistische Einsicht lautet, dass nichts ganz isoliert für sich geschieht. Folglich besteht zwischen der Meditation und allem anderen, was Sie tun, ein innerer Zusammenhang. Auch wenn das Ziel darin besteht, immer auf seine Mitte konzentriert, achtsam und inmitten aller Stürme und Flauten des Alltagstreibens gelassen zu bleiben, muss aber jeder, der meditieren will, einen Weg finden, auf dem er aus dem Alltagsleben in die Zone der Meditation steuern kann. Eine Hilfe ist es, sich für das Meditieren eine bestimmte Zeit vorzusehen, die für absolut nichts anderes verfügbar ist. Das hilft einem selbst, diesem Vorhaben treu zu bleiben, und auch allen anderen, einen darin zu unterstützen. Wenn Sie -16-
herumgehetzt sind, werden Sie erst einige Gänge zurückschalten müssen, bevor Sie sich ans Meditieren begeben können, vielleicht, indem Sie zunächst etwas Ruhigeres, Einfacheres, Langsameres tun: etwa den Boden kehren oder die Beete im Garten gießen, eine Tasse Tee trinken oder einige YogaDehnübungen machen. Dann sind Sie schließlich zum Anfangen bereit. Wo wäre nun dafür ein geeigneter Platz? Wenn Sie die Augen schließen, müsste es doch eigentlich gleich sein, wo Sie sich hinsetzen, oder nicht? Das müssen wir etwas genauer überlegen. Falls Sie sich zum ersten Mal zum Meditieren hinsetzen, ist es ganz natürlich, sich etwas unsicher zu fühlen. Das ist sogar ganz gut so. Es bedeutet nämlich, dass Sie für die Möglichkeit offen sind, dass sich etwas Neues ereignen könnte. Wenn Sie sich beim Meditieren stattdessen gleich „ganz daheim" fühlen und sich von Anfang an darin wie in etwas Sicherem und Vertrautem einrichten würden, wären Sie vermutlich für diese Möglichkeit gar nicht so offen. In der Tradition des Zen spricht man von der Notwendigkeit des „Anfänger-Geistes" und meint damit die Frische und Aufgeschlossenheit eines Kindes, das mit weit geöffneten Augen durch die Welt geht. Um sich mit dieser Haltung ans Meditieren begeben zu können, braucht man geradezu dieses leichte Gefühl der Bangigkeit und Verunsicherung. Unser Wissen hat uns von der Angst vor den alten Göttern befreit, aber in der Meditation muss man wieder ein Gespür dafür bekommen, dass man sich durch eine Welt bewegt, die man gar nicht kennt. Man betritt einen völlig anderen Bereich, in dem ganz andere Spielregeln gelten; in gewisser Hinsicht verlässt man die Welt, in der man gewöhnlich lebt, oder sollte jedenfalls das Gefühl haben, dass man das tut. Aus diesem Grund braucht man einen regelmäßigen Zeitpunkt, zu dem man aus dem üblichen Vorwärtseilen in seinem Tageslauf aussteigt. Folglich muss man sich eine Zeit am Tag vorne hmen, während -17-
der alles andere aufhört (oder vielleicht diese Zeit als erstes am Morgen vorsehen, bevor überhaupt alles andere anfängt), sowie in seiner Wohnung einen ruhigen, stillen Platz finden, an dem man nicht von äußerlichen Ablenkungen behelligt wird. Allerdings stammt, wie wir sehen werden, die wichtigste Ablenkung immer aus uns selbst: Es ist das Geplapper unseres Geistes, der sich im Finstern selbst beschwichtigt. Der stille Platz, den wir suchen, ist der Raum einer inneren Stille, den wir erst noch entdecken müssen. Es dient unserer Suche nach diesem inneren Ort, wenn wir zunächst einen äußeren Ort schaffen, der noch unerschlossen und zugleich dennoch geschützt ist. Wie stellen wir das an? Die Antwort klingt recht traditionell: Wir gestalten uns einen heiligen Ort, einen rituellen Raum. Wenn man gemeinsam mit anderen meditiert, hilft das, einen kraftvolleren rituellen Raum zu schaffen; aber Sie können sich auch für sich allein einen solchen Raum einrichten, indem Sie einen Winkel Ihrer Wohnung nur der Meditation vorbehalten und dort etwas aufstellen, das Sie deutlich auf die Geisteshaltung hinweist, die Sie dort einüben wollen: ein Bild, eine Blumenvase oder was auch immer. Buddhisten meditieren vor einem einfachen oder auch kunstvollen Schrein. Das bietet dem Geist eine Art Eingangstor und weckt zugleich ein Gefühl des Heiligen und der Ehrfurcht, das sich grundsätzlich bei allen einstellt, die über menschliches Bewusstsein verfügen, jedoch in dem Staub, den unser Alltagsgetriebe aufwirbelt, zu versinken neigt. Auf den meisten Schreinen ist die zentrale Stelle irgendeiner Buddha-Darstellung vorbehalten, also einem Bild, das klarer und deutlicher auf das hinweist, um was es uns geht, als es noch so viele Worte ausdrücken könnten. Unabhängig davon, ob Sie sich als Buddhist verstehen oder nicht, bedeutet das Sitzen vor einem Buddha-Bild (rupa genannt, was „Form" bedeutet) nicht, dass Sie in eine merkwürdige Religiosität verfallen sind. Auch ohne den festen Glauben an -18-
irgendetwas, das über den Grund hinaus geht, aus dem Sie üben, können Sie fruchtbar meditieren, ja sogar den Buddhismus praktizieren. Beim Buddhismus handelt es sich um eine Praxis. Dazu muss man nicht eine Menge seltsamer Vorstellungen übernehmen. Er ist alles andere als exotisch, sondern weist uns den Weg heim und eröffnet uns den Raum, um alle die Dinge schmecken und schätzen zu lernen, die so schlicht und unauffällig sind, dass wir sie gewöhnlich überhaupt nicht sehen. Es geht darum, die Lücken zwischen dem zu öffnen, was wir meist für die wichtigsten Tagesereignisse halten, um den Wert aller der zwischen unseren praktischen Tätigkeiten aufblitzenden Augenblicke zu entdecken, damit wir von den Gleisen unserer eigenen engen Sorgen springen und entdecken, dass es in Wirklichkeit sozusagen direkt daneben eine ganz andere Welt gibt, auf die wir nur achten müssen. Ein Buddha-Bild auf einem Schrein ist kein Götzenbild. Es stellt nicht irgendeine Art Gott dar, sondern hält vor Augen, dass das Erkunden von Geist und Herz ein offener Weg ist und dass dieser Erkundungsprozess nie an ein Ende kommt und wir uns daher nie vorstellen können, wohin er uns führen wird - oder genauer: welche tieferen Prozesse sich womöglich unterschwellig in uns abspielen und welchen Sinn wir ihnen schließlich geben. Diese Sichtweise ist verblüffend praktisch. Wenn Sie irgendwann den Mut verlieren, weil Sie das Gefühl haben, überhaupt nicht die Ergebnisse zu erzielen, die Sie angepeilt hatten, oder wenn Sie ganz aufgeregt werden und sich nur noch schwer konzentrieren können, weil Sie das Gefühl haben, dass es so überraschend gut klappt - was durchaus zuweilen geschehen kann -, dann ist es wichtig, dass Sie wissen, wie Sie Ihre Konzentration über kurzzeitige Ziele hinaus verlagern können. Eine Möglichkeit, um das zu tun, besteht darin, die Meditation ihrer unerforschlichen Dimension zu weihen: sie -19-
dem Buddha darzubieten, der das Ideal darstellt, das Sie in Ihrem Leben verwirklichen möchten. Danach sind Sie frei, mit dem Meditieren weiterzumachen. Sie verfangen sich dann nicht in irgendwelchen verkrampften oder oberflächlichen Bewusstseinszuständen und schwimmen auch nicht haltlos davon in aufgeblähten Phantasievorstellungen, kurz vor der Erleuchtung zu sein. Unabhängig davon, ob Sie den Eindruck haben, es gehe gut voran oder gar nicht, können Sie sich dann entspannen und einfach weitergehen, indem Sie beharrlich einen Fuß vor den anderen setzen. Wenn sich Buddhisten vor dem Meditieren vor dem Schrein verbeugen und vielleicht auch Blumen oder Weihrauch darbieten, dann tun sie das gewö hnlich deshalb, um sich in diese Haltung einzuüben, einen Weg mit völlig offenem Ende beschreiten zu wollen. Genau wie das Singen von Versen oder Mantren ist auch das sich Verneigen eine schlichte Art und Weise, sich ganz, mit Herz und Seele, in die Meditationspraxis hineinzubegeben. Für das, was wir tun, brauchen wir ein lebhaftes Gefühl, ja eine Leidenschaft. Solange es sich bei unserer Absicht, zu meditieren, lediglich um einen Gedanken handelt, wird uns das keinen langen Atem geben; der Gedanke allein ist nicht mehr als die regelmäßigen Neujahrsvorsätze, die man immer spätestens Mitte Januar wieder vergessen hat. Grundsätzlich läuft es auf das Gleiche hinaus, ob Sie sich beim Verbeugen vor einem Schrein vorstellen, dass Sie sich dadurch tief mit Ihrer positiven inneren Motivation verbinden oder ob Sie dabei das Gefühl haben, eine lebendige Gegenwart jenseits oder außerhalb Ihrer selbst anzurufen. Die Verbeugung vor einem Schrein kann das eine wie das andere zum Ausdruck bringen. Sie rufen eine Instanz außerhalb der Verfügungsgewalt Ihres rein begrifflich denkenden Verstandes an, sich Ihrer Praxis anzunehmen. Es gibt auch andere Weisen, sich ganz bewusst enger mit seiner Inspiration und Absicht zu verbinden. So kann man etwa -20-
einige Zeilen eines Gedichts lesen oder sich lebhaft jemanden vorstellen, dessen Eigenschaften man bewundert. Das muss nicht irgendein großartiger Buddhist sein. Man kann auch einem Kind zuschauen, das mit einem Holzlöffel auf den Boden klopft oder mit einem Stück Kreide malt, und sich dabei seine eigene kindhaftunschuldige Freude, Einfachheit und Hingabefähigkeit vergegenwärtigen. Das Geheimnis der Meditation liegt in ihrer Vorbereitung. Entwickeln Sie das starke Gefühl, dass Sie sich und Ihre Zeit und Ihren bestimmten Platz der Meditation weihen.
-21-
2 Unsere Sinne neu entdecken
Die Geheimnisse der Liebe reifen in den Seelen, doch der Körper ist ihr Buch. John Donne, „The Ecstasy" Es mag den Anschein haben, als trage Ihr Körper zur Meditation nicht viel bei: Sie lassen ihn auf dem Boden sitzen, während sich Ihr Geist mit der Meditation beschäftigt. Doch das ist nicht die Art, wie man das im Buddhismus sieht. Nach buddhistischer Vorstellung geht es nicht darum, eine wahre, spirituelle Natur des Menschen aus ihren Verwicklungen in die materielle Form zu befreien. Laut dem Buddhismus entstehen Geist und Körper in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, da es sich nicht um zwei getrennte Wirklichkeiten handelt, sondern um zwei verschiedene Kategorien ein und derselben Wirklichkeit. Wir gehen allerdings mit unserem Körper meistens nur wie mit einem Apparat um, mittels dessen wir die Welt fühlend wahrnehmen, auf sie emotional reagieren und über unseren Willen tätig eingehen. Er ist dabei für uns eher eine Art Medium oder Werkzeug, das wir gebrauchen. Aber in der Meditation versucht man nicht, den Geist nur auf sich selbst zu konzentrieren. Zur Konzentration gehört nämlich auch, dass man seine Körpererfahrung wahrnimmt. Dabei lässt man sich von innen her auf seinen Körper ein, das heißt, man eignet sich ihn voll und ganz an und beginnt, sich in ihm wohl zu fühlen. Merkwürdigerweise ist das gewöhnlich nicht unser Ansatz; unsere normale Lebenserfahrung vermittelt uns eher den Eindruck, dass unser Ich sozusagen außerhalb unseres eigenen Körpers sei, also anderswo. Wir verfügen über eine verblüffende Fähigkeit, uns aus unserer gegenwärtigen Lage auszuklinken -22-
und mit unserer Phantasie andere Situationen auszuprobieren, und zuweilen verwenden wir das als eine Art Fluchtmechanismus. Wenn wir nicht voll und ganz in der Gegenwart da sind, dann im Allgemeinen deshalb, weil wir darin nicht ganz da sein wollen, denn wir möchten nicht alle unsere Gefühle empfinden oder alle unsere Emotionen zum Ausdruck bringen. In Wirklichkeit können wir ihnen jedoch nie ganz entkommen, denn sie werden unbewusst von unserem Körper registriert und kommen in Form von Verspannungen in bestimmten Körperzonen ans Licht, vielleicht im Kiefer oder in den Händen, den Hüften oder im Magen. Solche Spannungen bremsen den Energiefluss in andere Bereiche und führen zu verschiedenen Formen der Steif- oder Schlappheit in Gangart und Haltung. Das Wissen um diesen engen inneren Zusammenhang hat sich in unserer Sprache niedergeschlagen, wenn wir zum Beispiel davon sprechen, jemand sei „herzlos", uns „liege etwas im Magen" oder wir „bekämen kalte Füße". Unsere Körper verändert jeden Tag ein wenig seine Gestalt, je nach unserer Stimmung und allgemeinen Geisteshaltung, und wenn wir in ein bestimmtes Alter kommen, prägt er immer deutlicher die Spuren unseres Charakters und unserer Lebenseinstellung aus. Auf diese Weise werden unsere mentalen Zustände buchstäblich verleiblicht. Mit all dem soll ganz einfach gesagt werden, dass Geist und Körper die beiden Enden ein und desselben Prozesses darstellen und dass wir sowohl auf dem Weg über unseren Körper als auch auf dem Weg über unseren Geist damit anfangen können, uns zu ändern. Die Konzentration auf sich selbst, die in der buddhistischen Tradition als „Achtsamkeit" - mindfulness bezeichnet wird, umfasst die Konzentration sowohl auf die Körperhaltung als auch auf den Geist. So ist sie also zugleich auch „bodyfulness" und „heartfulness" - volles Da-Sein im Körper und im Herzen. Aus diesem Grund besteht der erste -23-
Schritt zur Meditation darin, Anspannungen loszulassen, sich zu entkrampfen und zu lösen und so den Körper aufgeschlossen werden zu lassen. Das hilft dann den mit diesen Spannungen verknüpften Gedanken und Gefühlen, im Zuge des Sich-Lösens langsam ins Bewusstsein hochzukommen. Vielleicht hilft es Ihne n, vor dem Meditieren einige Körperübungen zu machen, etwa einige Yoga-Dehnübungen oder Qigong-Übungen, um auf diesem Weg die ersten Schritte zu Ihrer bewussteren Körpererfahrung zu machen. Suchen Sie sich daran anschließend dann eine hilfreiche Meditationshaltung, nämlich eine, die jene Geisteshaltung verkörpert, die Sie pflegen möchten. Sie sollte sicher und stabil, jedoch zugleich bequem und Ihnen entsprechend, entspannt und energiegeladen sein. Stellen Sie sich jemanden vor, der einen Eimer Wasser auf dem Kopf trägt: Die Körperenergie ist geeint und konzentriert und verleiht der Haltung eine ganz natürliche Würde und Kraft. Keine Stelle der Wirbelsäule ist starr oder schlaff. Im Allgemeinen ist es am besten, mit verschränkten Beinen oder kniend zu sitzen, wobei man sich mit Kissen oder einem Hocker abstützen kann. Passen Sie die Kissenhöhe sorgfältig so an, dass Sie deutlich spüren können, wie der Boden Sie mittels Ihrer Knie und Beine trägt. Zugleich sollte Ihre Wirbelsäule in ihrer ganzen Länge frei und elastisch bleiben. Es kann sein, dass Sie sich anfangs körperlich noch etwas unbequem fühlen, genau wie auch Ihr Geist sich nicht gleich rundum wohl fühlen wird, aber auf längere Sicht sollten Sie merken, dass Sie die schließlich gewählte Körperhaltung am leichtesten längere Zeit beibehalten können. Ihre Hände sollten auf etwas ruhen, vielleicht auf einer Decke, die Sie um sich legen. Wenn Sie wollen, können Sie eine Hand in die andere legen, aber verflechten Sie nicht Ihre Finger, weil das zu Spannung in den Händen führen kann. Neigen Sie Ihr Kinn leicht nach unten, damit die Energie durch Ihren Nacken frei fließen kann; Ihren -24-
Rücken und Nacken lassen Sie dabei voll entspannt. Falls Sie auf einem Stuhl sitzen müssen, ist es am besten, wenn Sie sich nicht hinten anlehnen. Sie können auch die hinteren Stuhlbeine mit einem Stück Holz oder Büchern unterlegen, damit sich die Sitzfläche etwas nach vorne neigt. Das nimmt etwas Spannung aus dem unteren Ende Ihrer Wirbelsäule. Stellen Sie beide Füße fest auf den Boden. Sollten Sie krank sein oder Schmerzen haben und deshalb im Bett sitzen oder liegen müssen, können Sie trotzdem meditieren. Die meisten Menschen verspüren ganz unabhängig davon, welche Meditationshaltung sie einnehmen, hie und da beim Meditieren körperliche Schmerzen. Oft lassen diese sich schon durch eine leichte Verlagerung oder Bewegung des Körpers lindern. Sofern Sie chronische Schmerzen haben, versuchen Sie einen mittleren Weg zwischen den Alternativen zu finden, den Schmerz aus Ihrer Aufmerksamkeit zu bannen oder sich ganz von ihm beherrschen zu lassen. Versuchen Sie, ihm seinen Platz zwischen anderen Aspekten Ihrer Erfahrung zu lassen. Das ist leichter gesagt als getan, aber in der Meditation gibt es keine einfachen Antworten. Die Meditation ist so angelegt, dass sie uns über jene auf unseren Sinnen beruhende Erfahrung hinausführt, bei der Wohlgefühl oder Schmerz den Geist ganz in Beschlag nehmen können. Aber Schmerz kann uns natürlich viel eher hartnäckig auf den Bereich unserer Sinnesempfindungen festnageln als körperliches Wohlbehagen. Da hilft dann nur noch die traditionelle buddhistische Vorstellung, der Schmerz könne eine besonders starke Motivation dafür liefern, effektiv zu meditieren. Wenn Sie eine möglichst bequeme Sitzhaltung gefunden haben, sind Sie so weit, dass Sie mit dem Meditieren beginnen können. Schließen Sie die Augen oder lassen Sie Ihren Blick sacht auf dem Boden vor sich ruhen (beides ist gleich gut). Wenn man ganz still sitzt, reduziert das unverzüglich den Zufluss an Sinneseindrücken - wie das natürlich auch das -25-
Schließen der Augen tut -, und man findet sich mit einer gesteigerten Wahrnehmung all der Gedanken und Gefühle konfrontiert, die sonst immer zwischen all den Sinneseindrücken ein Stück weit untergehen. Man fängt nun am besten auf die Weise an, sich mit diesen Gedanken und Gefühlen abzugeben, dass man sich genauer mit seiner Körpererfahrung beschäftigt. Auf diesem Weg beginnt man dann, langsam im gegenwärtigen Augenblick Fuß zu fassen. Überraschenderweise kann es einiger Übung bedürfen, bis Sie sich wirklich Ihres Körpers bewusst werden. Anfangs kommen Sie sich vielleicht so vor, als sähen Sie von einem Hügel herab Ihrer körperlichen Erfahrung zu, die sich auf einem darunter liegenden fremden Gelände abspielt. Dieses Gelände können Sie nicht mit Gewalt übernehmen; Sie können es sich nicht wie eine Firma oder wie mit einem militärischen Handstreich aneignen, sondern es bedarf großen Feingefühls, um sich mit ihm vertraut zu machen vergleichbar vielleicht dem Versuch, scheue Vögel zu beobachten. Ihr Körper ist für Sie kein Ihnen gegenüberstehendes Objekt, sondern eine Wirklichkeit, die Sie unmittelbar von innen her erfahren. Sehen Sie sich also leise in der Innenwelt Ihrer sinnlichen Erfahrung um und warten Sie darauf, dass sic h eindeutige, klare Empfindungen bemerkbar machen, und zwar einfach als das, was sie sind: Sinnesempfindungen. Der Großteil unserer Rohenergie stammt aus den niedrigeren Teilen unseres Körpers, und die Meditation braucht Energie. Daher sollte Ihre Haltung das Gefühl vermitteln, zur Erde zu gehören. Auf dieser soliden Grundlage kann sich dann Ihr Rumpf mit einem Gefühl der Leichtigkeit, Spannkraft und Weite aufrichten, und Sie spüren dabei, dass Sie so viel Raum einnehmen können, wie Sie brauchen, um ihn mit Ihrer Gegenwart zu erfüllen, und dass immer noch genügend Raum bleibt, um Ihre Grenzen auszuweiten. Nach und nach erfahren Sie dann Ihren Körper als ein einziges, in sich stimmiges -26-
Ganzes. Lassen Sie sich dafür Zeit. Wenn man einfach nur sitzt, hilft das zu einem stilleren mentalen Zustand. Der ruhige Körper bietet dem Geist wie ein still daliegender See einen Spiegel. Es besteht nicht die Notwendigkeit, auf bestimmte Erfahrungen aus zu sein, irgendetwas zu überdenken oder sich etwas vorzustellen. Richten Sie einfach Ihre Aufmerksamkeit auf jeden Winkel Ihrer Sinneswelt, von den Zehenspitzen bis zur Kopfhaut, und lassen Sie jede Anspannung oder Dumpfheit los, damit allmählich Ihr gesamter Körper wach wird und sich entkrampft. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Haut, Ihre Muskeln, Ihre einzelnen Organe, Ihren ganzen Körper. Indem Sie das tun, beginnt sich auch Ihr Geist zu entkrampfen und wach zu werden. Damit Sie eine genauere Vorstellung davon bekommen, um welche Art Körperhaltung es Ihnen gehen soll, können Sie einem Kleinkind zuschauen, wie es aufrecht sitzt. Sein Rücken ist gerade und zugleich weich. Sein ganzer Körper ist entspannt und dennoch völlig auf den Gegenstand konzentriert, auf den das Kind gerade fasziniert achtet. Ein Kind ist tief verwurzelt wie ein Baum und reicht so leicht und natürlich zur Welt hinauf, wie die Äste eines Baumes sich der Sonne entgegenstrecken. Vor allem ist die Körperhaltung nicht statisch fixiert, sondern durch und durch lebendig.
-27-
Zweiter Teil Achtsamkeit
-28-
3 Was ist Achtsamkeit?
Dem Geistesabwesenden geht es insgeheim gleichzeitig unschuldig und schuldig zu sein. Saul Bellow, More Die of Heartbreak
darum,
Wenn Sie schließlich relativ gut präsent, gesammelt, ruhig und achtsam sind, sind Sie so weit, dass Sie eine ganz spezifische Übung machen können. Meditationsübungen dienen dem Zweck, Eigenschaften des Geistes zu entwickeln, über die wir in einem gewissen Maß bereits verfügen. Dabei geht man so vor, dass man das, was man in einem bestimmten Augenblick tut, bewusst mit dem verknüpft, was man im nächsten Augenblick zu tun gedenkt. Das bringt uns die Konflikte zu Bewusstsein, die unsere Erfahrung so unzusammenhängend machen, und schon dieses Bewusstsein als solches verfügt über die Kraft, diese Konflikte zu lösen. Das erste Ziel jeder Meditationstechnik besteht darin, einen ständigen Fluss positiver mentaler Zustände zu schaffen. Dabei kommt es auf das Wort „ständig" an. Denn von Zeit zu Zeit hat natürlich jeder Mensch positive mentale Zustände. Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlt, glücklich, zufrieden, froh, liebenswürdig und großzügig zu sein. Bei der Meditation geht es darum, bewusst einen ständigen Fluss solcher positiver Zustände aufrechtzuerhalten. Folglich besteht der Einstieg in die Meditation darin, sich des Flusses alles dessen, was den Geist durchströmt - sei es positiv oder negativ gefärbt -, bewusst zu werden, um dann zu lernen, diesen Fluss zu lenken. Wenn man sich die Meditation als eine Erfahrung vorstellt, -29-
die man unbedingt haben möchte, kommt man nicht weit. Dann bleibt man einfach bei seiner üblichen Lebensstrategie, sich auf Erfahrungen zu konzentrieren, die Pluspunkte einbringen, und Erfahrungen, die das nicht tun, zu ignorieren oder vor ihnen zurückzuschrecken. Die Meditation bringt nicht einfach eine Erfahrung mehr. Sie zieht vielmehr einen Faden der Achtsamkeit durch alle unsere Erfahrungen. Natürlich werden wir vermutlich beim Meditieren alle Arten von wunderbaren oder gelegentlich auch unangenehmen - Erfahrungen machen, aber die Meditation an sich besteht in der Tätigkeit, unsere Erfahrung zu dem zusammenzufassen, was wir als Achtsamkeit bezeichnen. Man entwickelt dieses sorgfältige Aufmerksamsein, indem man sich auf einen ganz bestimmten Eindruck oder auf eine ausgewählte Reihe von Eindrücken konzentriert, entweder äußere - etwa die Flamme einer Kerze oder ein Bild oder einen Klang - oder innere, die von körperlichen oder seelischen Vorgängen herrühren, seien das der Atem oder die Gefühle oder sonst ein tief im eigenen Inneren vorhandenes Phänomen. Ganz gleich, welchen Eindruck man dafür wählt, immer kanalisiert es die Aufmerksamkeit in eine einzige Richtung, wenn man sich ganz auf ihn konzentriert. Die ganz besondere Art der Konzentration, um die es uns dabei geht, wird als „Achtsamkeit" bezeichnet. Dabei handelt es sich nicht um eine bemühte Konzentration, sondern um das Bündeln seiner Aufmerksamkeit auf den Gegenstand der Meditation. Beim Achtsamsein nimmt man also alle seine Fähigkeiten zusammen. Es ist folglich nicht nur ein allgemeines, sondern ein zielgerichtetes Aufmerksamsein, ein bewusstes Achten auf etwas ganz Bestimmtes. Dazu gehört, dass man sich dessen bewusst ist, was geschah, wachsam auf das achtet, was geschehen könnte, und seinem Ziel treu bleibt. Wenn man im Lauf der Zeit immer achtsamer wird, lenkt man immer mehr Energie ausschließlich auf den gegenwärtigen Augenblick. Der -30-
springende Punkt beim vollen Präsentsein ist nicht, dass man sich ganz auf den gegenwärtigen Augenblick konzentriert, sondern vielmehr, dass man seine Energien, die man auf ihn richtet, konzentriert. Das Ergebnis ist, dass man sogar die schlichtesten Verrichtungen als tief erfüllend erfährt. Namentlich in der Tradition des Zen sieht man das Ziel der buddhistischen Praxis vor allem in diesem Staunen über Alltägliches: Wie wunderbar, wie zauberhaft: Ich spalte Holz, ich trage Wasser. Diese Art von stillem Wunder erschließt sich uns vermutlich am ehesten im Frieden und der Weite der Natur. Aber grundsätzlich könnten wir genauso staunend ausrufen: „Wie wunderbar, wie zauberhaft: Ich nehme den Bus, ich koche Tee." Die Achtsamkeit intensiviert alle Farben, Klänge und Bedeutungen des Lebens, wo immer man gerade ist, was immer man tut, und was immer geschieht, sei es banaler oder dramatischer Natur. Doch geht es keineswegs darum, ab jetzt aus jeder alltäglichen Verrichtung eine zauberhafte Erfahrung herauszupressen, sondern darum, einfach ganz achtsam bei dem zu sein, was man jeweils gerade erfährt. Dann nimmt man wahr, dass man nicht nur Gegenstände vor sich hat, sondern Gegenstände, auf die man achtet. Man nimmt wahr, dass das, was man anschaut, anhört oder riecht oder kostet oder fühlt oder denkt, angeschaut, angehört, gerochen, gekostet, gefühlt oder gedacht wird. So einfach ist das. Tatsächlich können Sie damit auf der Stelle anfangen, nicht erst später, wenn Sie sich erst einmal ein Meditationskissen gekauft haben oder die Kinder groß geworden und aus dem Haus sind. Sie können jetzt anfangen. Nehmen Sie wahr, dass Sie jetzt hier lesen. Es ist unglaublich einfach. Das Schwierige daran ist allerdings, das -31-
ununterbrochen weiter zu tun. Bei der Übung geht es darum, immer wieder dazu zurückzukehren. Ganz allmählich lernt man dann, aus den einzelnen zufälligen Punkten seiner jeweiligen kurzen Achtsamkeitsblitze eine kontinuierliche Kette werden zu lassen.
-32-
4 Die Achtsamkeit beim Atmen
Wie ein langbeiniges Insekt über den See huscht sein Geist über das Schweigen. W. B. Yeats, „Long-Legged Fly" Die in der buddhistischen Tradition am weitesten verbreitete Form der Achtsamkeitsmeditation ist die Achtsamkeit beim Atmen. Dass gerade diese Übung so wichtig ist, hat mehrere Gründe. Das Atmen wird als äußerst wohltuend und angenehm empfunden. Es ist die grundlegendste Erfahrung dafür, ein lebendiger Mensch zu sein. Beim Atmen verbinden wir uns zudem am unmittelbarsten mit der uns umgebenden Welt. Jeder Atemzug, den wir tun, erinnert uns, dass wir unser Leben nur geliehen haben. Unablässig empfangen wir in kurzen Abständen wieder eine Lunge voll frischer Luft, die uns gut tut. Zugleich geben wir unseren Atem immer wieder her, und eines Tages werden wir ihn zum letzten Mal aushauchen. Der Atem führt auch vor Augen, wie unser Geist mit unserem Körper verknüpft ist, etwa wenn wir beim Lösen einer schwierigen Aufgabe den Atem anhalten oder nur ganz langsam loslassen. Der Atem ist das, was wir am unmittelbarsten mit unseren Gefühlen und Emotionen verknüpfen: Je nachdem, was wir gerade empfinden, beschleunigen wir ihn, keuchen oder halten ihn kurz an, oder wir setzen ihn zum Lachen, Pfeifen oder Singen ein. Oft „holen wir tief Luft", um uns zusammenzunehmen, bevor wir etwas Schwieriges anpacken, und das ist eine ganz brauchbare Art, mit der Achtsamkeit auf das Atmen zu beginnen. Wenn Sie sich zum Meditieren hingesetzt und Ihre -33-
Aufmerksamkeit auf Ihre Körpererfahrung gerichtet haben, dann atmen Sie einfach einige Male tief durch, um Ihr Atmen in den Gesamtrahmen Ihrer Aufmerksamkeit zu stellen. Lassen Sie jetzt Ihren Atem ganz natürlich kommen und gehen. Zur Meditation gehört das Achten auf den Atem, nicht aber der Versuch, ihn unter Kontrolle zu halten oder irgendetwas Besonderes mit ihm zu tun. Ihr Körper holt sich von allein jeden Atemzug. Lassen Sie das einfach nach seinem eigenen Zeitmaß kommen und gehen und achten Sie beharrlich darauf. Als Hilfestellung zum Erreichen dieser anhaltenden Konzentration teilt man die Einübung darin meist in sieben Stufen auf. Ich vereinfache sie hier zu vier Stufen. Wenn Sie sich als Anfänger in die Meditation einüben, dann nehmen Sie sich für jede dieser Stufen wenigstens fünf Minuten Zeit. Die erste Stufe Auf der ersten Stufe der Übung zählen Sie jeden Zug des Ausatmens. Zählen Sie also nach einem Ausatmen „eins" (im Geist, nicht laut), nach dem nächsten Ausatmen „zwei", und so weiter, bis Sie zehn Aus-Atemzüge gezählt haben. Dann fangen Sie wieder mit „eins" an und zählen Sie wieder zehn Züge, und so weiter. Wenn Sie aus dem Zählen kommen oder merken, dass Sie über zehn hinausgezählt haben, fangen Sie einfach wieder mit „eins" an. Dieses Zählen ist deshalb nützlich, weil es Sie früh warnt, wenn Ihr Geist abzuschweifen beginnt: Dass Sie aus dem Zählen gekommen sind, fällt Ihnen schon auf, bevor Sie in Gedanken wieder ganz woanders hin geraten sind. Außerdem ist es eine direkte Messlatte, wie lange Sie bei jedem Anlauf jeweils voll achtsam bleiben können. Die Zahlen an sich sind kein wichtiger Teil der Übung; sie heften lediglich Ihre -34-
Achtsamkeit an den Atem, bis es Ihnen gelingt, Ihre Achtsamkeit ohne die Zahlen etliche Zeit ununterbrochen beizubehalten. Bleiben Sie also beim Zählen ganz stumm, oder wenn Sie eher ein visueller Typ sind, lassen Sie die einzelnen Zahlen unauffällig in einer Ecke des „Bildschirms" aufleuchten. Der Atem ist der Star der Show, ja, Sie können auf Ihren Atem regelrecht so achten, als hörten Sie sich Musik an. Versuchen Sie nicht, Ihr Atmen zu steuern, sondern lassen Sie es so kommen, wie es selbst will und machen Sie dabei mit. Es besteht auch kein Grund, sich Sorgen darüber zu machen, dass der Geist ständig abschweift. Er will abschweifen. Sie können sich das so vorstellen, als hätten Sie Ihren Geist wie eine Ziege an einen Pflock mitten in einer Wiese angebunden. Lassen Sie ihm einen ziemlich langen Strick, so dass er ein weites Feld zum Grasen hat, aber ziehen Sie ihn immer wieder sanft näher her. Die spannende Aufgabe besteht darin, Ihre Aufmerksamkeit immer wieder gleich zu Ihrem Atem zurückzulenken, sobald Sie merken, dass Sie wieder abgeschweift ist. Das ist Achtsamkeit. Versuchen Sie zugleich zu erfühlen, ob Ihr Atem nicht ein Gefühl der Weite und des Lichts in Ihnen weckt, in dem sich alle Verwicklungen aus Anspannung, Ungeduld oder Mattheit auflösen und vergehen. Die zweite Stufe Zählen Sie auf der zweiten Stufe vor jedem Einatmen „eins" (einatmen, ausatmen), „zwei" (einatmen, ausatmen) und so weiter bis „zehn", und dann fangen Sie wieder mit „eins" an. Das heißt, zählen Sie jetzt immer im Voraus, was gleich geschieht, statt das jeweils Geschehene zu zählen. Das ist eine leichte Änderung, die jedoch eine wichtige Verlagerung anzeigt. Sie mag unbedeutend erscheinen, sagt jedoch etwas ganz Wesentliches über die Natur der Achtsamkeit. Man könnte sogar sagen, dass ein wirklich ethisches Verhalten auf dieser Art von -35-
Verlagerung beruht: der Verlagerung vom Wahr nehmen, dass etwas geschehen ist, zum Wahrnehmen, dass gleich etwas geschehen wird. Das Wahrhaben nach dem Ereignis - nachdem Sie auf etwas reagiert haben - ist ein Anfang: der Anfang der Achtsamkeit. Aber das Ziel besteht darin, den Impuls im Geist zu fassen zu bekommen, bevor er in Rede oder Handlung umgesetzt wird. Erst dann sitzen Sie endlich am Steuer: Ihre Handlungen sind dann wirklich Ihre eigenen und Sie übernehmen die Verantwortung für sie. Auch dabei sind Sie keineswegs gewaltsam hinter Ihrem Atem her. Es ist eher so, als hielten Sie nach ihm Ausschau, wie er nach und nach im Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit auftaucht, wobei ihn ein allgemeines Wahrhaben des ganzen Körpers umgibt. Von Zeit zu Zeit mag er von Ablenkungen verdunkelt werden, aber diese ziehen wie Wolken über den Himmel des Geistes. Hinter ihnen ist der Atem immer da, wie die Sonne hinter den Wolken, und Ihr Körper ist entspannt und lebendig und zugleich reglos wie ein Berg. Um Berge bilden sich gern Wolken, und gelegentlich werden in dieser besonderen Atmosphäre Stürme um Sie toben. Aber lassen Sie sich von den Wolken - den Ablenkungen - nicht entmutigen. Im Wahrhaben, dass man in einer negativen mentalen Verfassung ist, steckt immer schon der Keim ihres Gegenteils. Richten Sie Ihren Blick auf die Ruhe im Herzen Ihres Wahrhabens, ruhelos zu sein. Die dritte Stufe Hier hören Sie mit dem Zählen ganz auf. Jetzt merken Sie vielleicht, dass Sie genügend gegenwärtig sind - Ihre Energien also genügend integriert sind -, um einfach zu sitzen und zu spüren, wie das Atmen an sich sehr befriedigend ist, und das ist das Ziel dieser Stufe. Sie fühlen einfach, wie der Atem kommt und geht, wie die Wellen im Meer. Sie beobachten ihn nicht von außen, sondern nehmen ihn wahr; Ihr Wahrnehmen ist bei ihm, -36-
in ihm. Begrüßen Sie jeden Augenblick, in dem der Atem in Ihnen ist, und spüren Sie, wie er wieder draußen ist. Fühlen Sie, wie Ihr Bauch mit dem Atem Energie einzieht. In der Atemwende, wenn der Fluss Ihres Atems sich umkehrt, lassen Sie Ihre Brust und Schultern sich weiten. Auf dieser Stufe ist es, als schaue man einem Kind auf der Schaukel zu: Man hat ein Wohlgefühl, das mit Sorgfalt und Wachsamkeit gewürzt ist. Versuchen Sie, ein Gespür für den Atem als ganzen zu bekommen, wie er die Kreisbewegung von Einatmen und Ausatmen durchläuft. Erfühlen Sie die Bewegung Ihres gesamten Rumpfs. Schenken Sie Ihre ganz besondere Aufmerksamkeit dem Umkehrpunkt des Atems, denn das ist die Stelle, an der Sie am ehesten die Konzentration verlieren. Experimentieren Sie damit, wie Sie Ihre Aufmerksamkeit vertiefen und erweitern können. Wenn Sie abdriften, holen Sie Ihre Aufmerksamkeit wieder zum Atmen zurück. Konzentrieren Sie sich im Atem, nicht nur auf ihn. Die vierte Stufe Konzentrieren Sie sich auf der letzten Stufe der Meditation auf eine kleine Einzelheit des Atemverlaufs: auf den Punkt, an dem Sie spüren, dass der Atem in Ihren Körper eintritt oder ihn verlässt. Gewöhnlich ist das der Bereich Ihrer Nasenflügel, in dem Sie ein ganz leichtes Vorbeistreichen der Atemluft spüren. Sich auf diese Stelle zu konzentrieren, ist gar nicht so einfach: denn der Geist muss bei diesem ständig sich wandelnden Empfindungsfluss sachte und doch unablässig aufmerksam mitgehen. Man kann ihn nicht packen oder festhalten; versucht man das, so ist er schon vorbei. Er geht ständig, und man kann nichts anderes tun, als ihn gehen zu lassen. Zugleich darf man es sich aber nicht erlauben, mit seiner Aufmerksamkeit auch nur für einen Augenblick nachzulassen. Man muss völlig entspannt sein und zugleich vollkommen aufmerksam. Man lässt seinen -37-
Geist ganz frei und nimmt ihn zugleich strenger in Dienst. Jetzt spürt man den Atem kaum mehr als etwas, dem man zuschaut. Man kann sich gar nicht mehr auf Abstand zu ihm begeben; man ist in ihm, absorbiert von ihm. Abschluss der Meditation Am Schluss der Meditation müssen Sie natürlich Ihre Aufmerksamkeit von Ihrem Atem lösen und sie anderen Dingen zuwenden. Lassen Sie sich für diesen Übergang Zeit. Teilen Sie sich Ihre Zeit so ein, dass Sie nicht unvermittelt aufspringen und schleunigst etwas anderes erledigen müssen. Und versuchen Sie, sich das Gefühl zu bewahren, konzentriert zu sein, voll präsent, achtsam, aufmerksam für Ihre Aufgabe. Falls Sie morgens meditieren, versuchen Sie den Duft Ihrer Meditation durch den ganzen Tag an sich zu tragen. Das ist so wichtig wie die Meditationsübung selbst. Es ist auch der Grund, weshalb Meditierende meist versuchen, ihr Leben zu verlangsamen und zu vereinfachen, um dadurch dem Achtsamsein Raum geben zu können. Die Achtsamkeit auf den Atem scheint eine recht einfache Übung zu sein, ja sie wirkt vielleicht sogar ziemlich langweilig. In Wirklichkeit ist sie alles andere als eintönig und monoton. Wenn man sorgfältig und genau auf sein Atmen achtet, entdeckt man, dass das Atmen nie genau die gleiche Erfahrung schenkt; immer ist es neu, immer ändert es sich ein wenig. Und es zeigt sich, dass man dabei nicht mental auf einen Punkt fixiert bleibt, denn in Wirklichkeit geht es gar nicht um das Beobachten des eigenen Atmens. Es geht um das Beobachten des Geistes, dessen also, was in einem selbst vorgeht. Nach und nach führt die Meditation lebhaft vor Augen, dass unsere Erfahrung nicht ein objektiver Vorgang ist, sondern dass wir sie erschaffen. Wenn wir meinen, dass wir etwas erfahren, ist das, was wir in Wirklichkeit erfahren - in gewisser Hinsicht -, unser eigenes -38-
Selbst. So ist der Atem in Wirklichkeit überhaupt kein „Objekt", also nichts, was wir vor uns stellen und „objektiv" beobachten können. Der Atem ist auch der Geist.
-39-
5 Achtsamkeit im Alltag
O warum gehst du mit Handschuhen durch die Felder, versäumst so viel, ja so viel? Frances Cornford, „To a Fat Lady seen from the Train" Möchtest du den Sinn finden, so höre auf, hinter so vielem herzurennen. Ryokan, One Robe, One Bowl In der buddhistischen Tradition gibt es die Übung der GehMeditation. Sie hat ihre Ursprünge in der Lehre des Buddha, man solle versuchen, immer achtsam bei dem zu sein, was man gerade tut: beim Stehen, Sitzen, Gehen oder Liegen. Es mag den Anschein haben, als brächten wir diese Art von elementarster Aufmerksamkeit von ganz allein und ganz natürlich auf, aber in der Praxis kennen wir alle die Erfahrung, wie uns immer wieder einmal aufgeht: Ich habe mich von A nach B bewegt, ohne zu merken, dass und wie ich das getan habe. Da sitzt man gerade noch vor dem Fernseher, und eine Minute später stellt man in der Küche einen Topf auf den Herd und hat keine Ahnung, wie man so schnell dorthin gekommen ist. Es ist, als treffe eine unserer Kontrolle entzogene Instanz unsere Entscheidungen für uns. Die Geh-Meditation ist eine der traditionellen Weisen, mit denen man anfangen kann, mehr Achtsamkeit in seine körperlichen Aktivitäten zu bringen. Dabei geht man ziemlich langsam und schränkt den Zufluss visueller Reize stark ein, indem man sich auf den Boden unmittelbar vor sich konzentriert. So wie es herkömmlicherweise geübt wird, hat -40-
dieses Gehen kein weiteres Ziel und muss nirgendwohin führen. Ein Zen-Lehrer hat es mit dem sorgfältigen Nähen eines Gewands verglichen, denn man setze dabei jeden Schritt bedächtig wie einen genau vorgenommenen Stich mit der Nadel. Dieses wunderbare Bild zeigt deutlich, dass dieser Übung eine wichtige ästhetische Dimension eigen ist. Sie verbindet unsere Achtsamkeitsübung mit der Welt unserer Alltagstätigkeiten, und indem sie das tut, fügt sie unsere fragmentarische Welterfahrung, die wie aus Fetzen zusammengeflickt wirkt, zu einem harmonisch ganzen, präsenten Gesamtbild zusammen. Die Achtsamkeit ist eine Übung für jeden Tag und jede Zeit. Achtsamkeit kann man in alle seine Tätigkeiten bringen. Falls man dafür wenig Raum hat, kann man sich selbst gönnen, geräumig zu sein, indem man seinen inneren Raum nicht mit lauter verschwommenen, halbbewussten Ablenkungen voll stopft. Bei der Achtsamkeit geht es darum, immer wieder bewusst zu sich selbst zu kommen, sein Ziel wieder deutlich ins Auge zu fassen und die Bedingungen dafür zu schaffen, dass diese Achtsamkeit sich vertiefen kann. Dabei bewegt man sich nach und nach von einer Achtsamkeit, die man nur ge legentlich und mehr oder weniger zufällig herbeiführt, zu einer Achtsamkeit, die sich immer wieder von selbst einstellt. Eine Möglichkeit, diesen Prozess in Gang zu setzen, besteht darin, ein Tagebuch zu führen: dann fängt man ganz von allein an, mehr wahr zunehmen. Man kann sich auch vornehmen, sich jedes Mal, wenn man durch eine Tür geht oder Treppen hinauf oder hinunter steigt oder Kirchenglocken hört, bewusst in Erinnerung zu rufen, dass man achtsam bleiben möchte. Oder wenn man das Telefon klingeln hört, kann man sich rasch vor Augen halten, dass man mit anderen Menschen verbunden ist, und ehe man nach dem Hörer greift, kann man seinen Vorsatz erneuern, bewusst auf die Qualität seiner eigenen Kommunikation zu achten. Für den Versuch, an bestimmte Tätigkeiten die Erinnerung an bestimmte Vorsätze zu knüpfen, -41-
bedarf es einer festen Entschlossenheit, denn nur allzu leicht vergisst man das wieder tagelang. Aber wenn man es beharrlich übt, kann man grundsätzlich aus allem, was sich im Leben mit großer Regelmäßigkeit wiederholt, einen Weckruf zu größerer Achtsamkeit machen. Eine herkömmliche buddhistische Übung besteht darin, seine Achtsamkeit durch das Ins-Wort-Bringen zu steigern. Das heißt, man sagt sich selbst, was man tut: „Ich halte jetzt die warme Tasse…, ich nippe am Tee…, ich überlege, was ich heute koche…, ich setze die Tasse ab…, ich greife wieder nach dem Buch…, ich tue jetzt hier das." Dieses Aussprechen dessen, was man gerade tut, ist natürlich nur ein Hilfsmittel, und je behutsamer es geschieht, desto mehr Achtsamkeit auf das, was man gerade tut, kann es wecken. Aber auf keinen Fall sollte man mit einer solchen Übung seine Achtsamkeit auf alltägliche Dinge übertreiben, denn sonst könnte es sein, dass daraus eine Übung in Entfremdung wird, weil man sich selbst dauernd aus einer gewissen Distanz zuschaut. Dann würde es zu einem kalten Registrieren der eigenen Erfahrung. Zum Achtsamwerden gehört, dass man sich gegen Ablenkungen schützt; aber denken Sie auch daran, dass Achtsamkeit ziemlich ansteckend sein kann. Unterschätzen Sie nicht die Auswirkung der Achtsamkeit auf andere oder die Wirkung, die andere, die sich in Achtsamkeit einüben, auf Sie haben können. Die Buddhisten aller Zeiten haben klar darum gewusst, dass die beste Hilfe für ihre Einübung der regelmäßige Kontakt mit anderen sein kann, die sich ebenfalls in die Achtsamkeit einüben. In mancher Hinsicht unterscheidet sich die Achtsamkeit außerhalb der Meditation sehr stark von der Achtsamkeit, die man beim Meditieren übt. Statt dass der Geist intensiv auf die sich bei ihm abspielenden Prozesse eingeht, lässt sich das Selbst auf die Welt ein, und zwar vornehmlich in ethischer Hinsicht. Wenn Sie sich im Lauf der Zeit in zunehmendem Maß dessen -42-
bewusst werden, dass Ihre Erfahrung immer zwei Pole umfasst Subjekt und Objekt, Selbst und Andere -, wächst auch Ihr Gespür dafür, dass es dabei immer um Beziehung geht. Wir können unsere Erfahrung nicht einfach für uns genießen, sondern müssen sorgfältig auf sie hören - denn jeden Augenblick werden wir um etwas gebeten. Zur Achtsamkeit gehört zum einen die Aufmerksamkeit auf alles, was wir tun und auf jeden, dem wir begegnen - selbst wenn uns eine Situation noch so schwierig oder fordernd vorkommen mag -, und zum anderen die Bereitschaft, das Wahrgenommene als eine Aufgabe anzusehen, mit der wir uns beschäftigen müssen. Achtsamkeit bedeutet auch, auf kleine Details zu achten und die schlichten Umstände des Daseins gemäß ihrer Eigenart und ihrem Anspruch zu respektieren: einen Stuhl, Toast und Butter, Tee und unseren Appetit. Die Achtsamkeit verknüpft die uns bekannte Welt, die sauber gebunden ist wie dieses kleine Buch hier, mit der uns unbekannten Welt, nämlich derjenigen, die sich ständig neu ereignet. Die Meditation ist ein elementares Training für den Geist, aber worauf sie sich letztlich auswirkt, ist die Beziehung zwischen dem Selbst und der Welt. Wenn sich unser Geist wandelt, dann wandelt sich auch unsere Beziehung zur Welt.
-43-
Dritter Teil Güte
-44-
6 Metta - eine Haltung umfassender liebevoller Zuwendung
Auf der Straße ging ich, durch die Stadt, da war's mir jäh, als strahlt' mein Leib. Zwanzig Minuten hielt's wohl an, dass mich das Glück ganz überströmt', ich Segen spürt' und segnen konnt'. W. B. Yeats, „Vacillation" IV Emotionen kultivieren Die Metta Bhavana, das Entwickeln der allumfassenden liebevollen Güte, ist eine genauso grundlegende Meditationsübung wie die Achtsamkeit auf den Atem. Doch hier ist der Gegenstand der Aufmerksamkeit nicht der Fluss des Atems, sondern derjenige der Emotionen. Dabei achtet man nicht nur genau auf seine Emotionen, sondern kultiviert aktiv bestimmte Emotionen ganz besonders. Diese Vorstellung, die eigenen Emotionen zu kultivieren, mag auf den ersten Blick etwas künstlich wirken. Schließlich möchten wir authentisch sein und neigen dazu, Menschen, die ihre Emotionen zu rasch ändern, nicht ganz über den Weg zu trauen. Tatsächlich hilft uns das Unterdrücken oder Erzwingen von Emotionen nicht, authentisch zu sein. Der gesunde Mittelweg besteht darin, sich sorgfältiger um seine Emotionen zu kümmern: genauer auf die Gefühle zu achten, die man empfindet, und der emotionalen Reaktion, die sich aus dieser Erfahrung ergibt, eine klarere Richtung zu geben. Oft verwenden wir die Begriffe „Gefühl" und „Emotion" so, -45-
als meinten sie genau dasselbe; wenn es aber um die Meditation geht, ist es wichtig, beide genau voneinander zu unterscheiden. Unsere Gefühle können wir uns nicht aussuchen: Wir haben nicht die freie Wahl, ob etwas, das uns zustößt, bei uns ein angenehmes oder unangenehmes Gefü hl auslöst. Anders ist es bei der Emotion. Sie ist eine aktive Handlung: Die Emotion ist die praktische Umsetzung dessen, was wir fühlen. Wenn man zum Beispiel an einem Wintertag aus dem warmen Haus in den eiskalt schneidenden Wind hinausgeht, kann sich das unangenehm anfühlen, und gegen dieses Gefühl lässt sich schlecht etwas tun. Aber Reaktionen wie die, sich grimmig gegen die Kälte zu stemmen und auf den verdammten Winter zu fluchen oder stattdessen diese Einstellung zu überwinden und zu versuchen, Kälte und Wind positiv zu sehen, enthalten eindeutig ein Element der freien Wahl. Mehr noch: Wenn man es schafft, ein bisschen sensibler und achtsamer zu sein, kommt man vielleicht sogar noch auf weitere Möglichkeiten des emotionalen Reagierens, die womöglich viel interessanter sind als diese beiden Alternativen. Sofern man sich mit seiner Achtsamkeit näher an den inneren Ort heranzutasten vermag, an dem man seine emotionalen Entscheidungen trifft, nämlich in die Abgeschiedenheit des eigenen Herzens, kann man seine Wahl auf kreativere Weise treffen. Bei der Metta Bhavana geht es darum, bewusst die Art und Weise zu kultivieren, wie man auf die Welt reagiert. Das ist keine Frage des Kultivierens von Gefühlen, sondern von emotionalen Reaktionen, also nicht des Kultivierens von Erfahrungen, sondern von Handlungen, denn die Wahl unserer Handlungen treffen wir zunächst auf einer emotionalen Ebene. Aus diesem Grund sollte man damit aufhören, Gefühle mit Emotionen zu verwechseln, oder zumindest deutlich sehen, dass sich in jeder emotionalen „Erfahrung" zwei Prozesse abspielen. Deshalb ist es auch so hilfreich, das Ganze mittels der Meditation zu verlangsamen und zu versuchen, es in zwei -46-
aufeinander folgende Schritte aufzuteilen. Weil wir von Natur aus nicht dazu neigen, unsere Emotion getrennt von unserem Gefühl zu erfahren, betrachten wir Emotionen selten unter dem Aspekt, dass man sie wählen kann: Sie verschwimmen mit dem Bereich der Gefühle, in dem wir keine Wahlmöglichkeit haben. Die Folge ist, dass wir unfähig sind, unsere emotionalen Reaktionen zu wählen. So versuchen wir zum Beispiel allzu oft schon im selben Augenblick, in dem wir etwas als schmerzvoll fühlen, uns dieser Erfahrung zu entziehen, indem wir unverzüglich emotional darauf reagieren, etwa mit Wut, Angst oder Schuldgefühl. Das kann dann wiederum schwer zu ertragen sein, so dass wir es neuerlich mit einer anderen, akzeptableren Reaktion überlagern, etwa: „Ich bin gar nicht wütend, ich wundere mich nur." So kann man ganze Bereiche seiner Emotionen ausblenden, ohne überhaupt zu wissen, dass sie ausgefallen sind. Wenn man auf diese Weise unbewusst einen ganzen Teil seiner Erfahrungen meidet, kann man schließlich ganz den Kontakt mit dem gegenwärtigen Augenblick verlieren. Unter „emotionaler Reaktion" stellt man sich oft ziemlich grob und oberflächlich das Herausplatzen mit bestimmten Gefühlen vor, wie das vielleicht besonders bei Männern öfter geschieht, denn sie sind sich häufig gar nicht sicher, was sie eigentlich fühlen, bis sie eine starke emotionale Reaktion überkommt. Aber selbst wenn man sich einer emotionalen Reaktion bewusst ist, ist man nicht immer sicher, um was es sich dabei genau handelt. Manchmal ist man auch zu sehr mit seinen Emotionen eins, um sich ihrer überhaupt bewusst zu sein; und manchmal leugnet man sie rundweg. Die Fähigkeit, unsere Emotionen zu überspielen, bietet einige Vorzüge. So kann sie uns etwa helfen, bestimmte Dinge durchzuziehen. Doch sollte man aus diesem praktischen Nutzen nicht schließen, dass Emotionen grundsätzlich zweitrangig sind. Wir mögen uns ihrer bewusst sein oder nicht es sind unsere -47-
Emotionen, die unsere Entscheidungen für uns treffen. Sie bestimmen die Qualität unseres Lebens, die Natur unserer Beziehung zur Welt und die Richtung, in die sich unsere Energie bewegt. Alles, was wir erfahren, fühlen wir; alles, was wir tun, kommt aus dem Herzen, ganz gleich, ob wir das wissen oder nicht. Die Vernunft ist ein lebensnotwendiges Werkzeug, aber wenn wir uns nicht der Emotionen bewusst sind, die sie informieren und lenken, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass wir dieses Werkzeug in unangemessener Weise einsetzen. Die Entwicklung allumfassender liebevoller Güte Das zentrale Bemühen, in Kontakt mit seinen Emotionen zu kommen - statt sie nur zu erraten, zu unterstellen oder zu versuchen, sie zu vermeiden - und dann aus diesem Kontakt mit den eigenen Emotionen heraus ein gesundes Maß an Freiheit zu beanspruchen, wird als „Metta Bhavana" bezeichnet. Zum genaueren Verständnis des Anliegens und der Bedeutung dieser Übung ist es notwend ig, sich genauer das Ziel anzusehen, um das es dabei letztlich geht. „Bhavana" bedeutet „Kultivieren von" und „metta" bedeutet Güte im Sinn von „Liebe". Dabei handelt es sich nicht um die Art Liebe, die wir gewöhnlich unter diesem Begriff verstehen. Ich kann meine Frau, meine Kinder, meine Freunde und mein Land lieben; manchmal sagt man sogar, dass man Trüffelschokolade, Rotwein, einen Fußballstar oder Vivaldi „liebe". Diese Art Liebe muss man kaum kultivieren, so wichtig und schätzenswert alle diese Objekte der Zuneigung sein mögen (oder auch nicht). „Metta" ist etwas anderes. Sie ist eine unparteiische Liebe, eine gütige Zuneigung zu allen Lebewesen, und als solche ist sie etwas, das wir womöglich gar nicht allzu oft erfahren. Das ist eine Emotion, aber keine von der Art, wie wir sonst Emotionen -48-
empfinden. Metta hebt nicht etwa unsere Vorlieben und Abneigungen auf, aber wenn wir allmählich Übung darin bekommen, Metta zu entwickeln, werden unsere Vorlieben und Abneigungen immer weniger absolut, weniger starr, weniger reizbar. Die Gipfel und Täler unserer Emotionen bleiben bestehen, aber uns wird bewusst, dass sie lediglich die Oberfläche jenes Meeres sind, das uns in der Tiefe mit allem Lebendigen verbindet. Laut dem Buddha in der „Metta Sutta" - der Lehrrede von der Güte - besteht das Ziel der „Metta Bhavana" darin, allen Lebewesen gegenüber jene Haltung zu entwickeln, die eine Mutter ihrem einzigen Kind entgegenbringt. Dieses Bild enthält drei Aspekte. Erstens: Es geht nicht darum, eine Art von noblem Wohlwo llen zu entwickeln, sondern man soll eine lebendige, praktische, unzerbrechliche Bindung an alle Wesen eingehen. Das geht weit über die rein emotionale Reaktion hinaus: Es wird zu einer Grundtatsache, aus der man lebt. Zweitens: Man verwirklicht metta nicht, indem man sich vorstellt, was sie ist, sondern indem man sich echte Emotionen bewusst macht. Und drittens: Metta schreitet von Natur aus zur Tat. Der Umstand, dass die Tätigkeiten einer Mutter um die Bedürfnisse ihres Kindes kreisen, lässt sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden stehen und ganz praktisch denken. Die Erfahrung von metta ist eine natürliche, wenn auch selten deutlich wahrgenommene Ausweitung unserer typischsten menschlichen Eigenschaften. Die meisten von uns kümmern sich um das Wohl anderer, mit denen sie sichtbar eigentlich gar nichts verbindet. So setzt uns etwa das Leiden der Opfer von Unterdrückung zu und wir nehmen innerlich lebhaft daran Anteil, wenn sie mit einem Aufstand ihre Freiheit beanspruchen. Oder wir bringen unsere Solidarität mit anderen zum Ausdruck, indem wir Geld an Wohlfahrtseinrichtungen überweisen, Blut spenden, ehrenamtliche Einsätze leisten usw. Damit haben wir mit metta zu tun; aber es kann sein, dass wir -49-
sie nicht sehr weit in uns hineinlassen. Metta lockert unsere Identität auf, und das mögen wir ganz und gar nicht. Wir möchten weiter unsere Vorlieben und Abneigungen pflegen, ja, wir möchten sogar, dass sie absolut, unabänderlich bleiben. Aber Tatsache ist: Wenn meine Umstände auch nur ein kleines Stück anders wären, dann würde ich über eine völlig andere Zusammenstellung von Freunden, Ansichten und Zugehörigkeiten verfügen. Ich könnte Christ oder Hindu oder Moslem sein. Ich könnte mich ganz leicht auf der anderen Seite des derzeitigen Zauns befinden. Ja, eine volle Erfahrung von metta lässt einen erkennen, dass es in Wirklichkeit überhaupt keinen Zaun gibt. Metta ist eine Fähigkeit des Herzens, eine emotionale Haltung, eine Art und Weise, auf andere Lebewesen zu reagieren, wo und wann immer man auf sie aufmerksam wird. Metta ist nichts Spekulatives oder Abstraktes. Erst recht ist sie nicht süßlich oder sentimental. Was die anderen von uns brauchen, sind nicht Gefühlswallungen, sondern Achtsamkeit und Ernstgenommen-Werden. Bei metta geht es darum, aus seiner eigenen Subjektivität auszubrechen und sich auf die Bedürfnisse eines anderen Menschen einzulassen, und zwar in Form ganz praktischer Überlegung statt bloß eines Gefühls. Dieses Herausgehen aus uns selbst schenkt uns paradoxerweise das Empfinden, in unserem eigenen Inneren ganzer zu werden. Umgekehrt ist es so, dass wir uns von uns selbst abschneiden, wenn wir uns von anderen abschneiden. Das ist keine bloße Theorie. Sie können zum Beispiel deutlich spüren, dass das passiert, wenn Sie ungeduldig mit jemandem sind: Dabei geht in Ihrem Geist eine Klappe zu. Sie wollen etwas nicht wissen. Wenn man sich in die Metta Bhavana einübt, erschließt einem das ein schärferes Empfinden für die Gefühle anderer Menschen. Man merkt dann, dass man besser mit Menschen umgehen kann, die man nicht besonders mag oder über die man sich ärgert. Man wird dann nicht mehr von frei schwebenden -50-
Emotionen überrollt, die nicht in einem Kontext der Achtsamkeit und Sorge verankert sind, und man kommt darüber hinaus auch mit den schwierigen Emotionen anderer Leute besser zurecht. Vor allem aber hat man mehr Freude an den Menschen. Das Kind in uns wird es immer genießen, wenn es geliebt wird, aber wenn ein erwachsener Mensch Liebe sucht, sollte es eher darum gehen, zu der Fähigkeit zu finden, andere Menschen zu lieben, zu schätzen, ja ihre Gegenwart zu genießen.
-51-
7 Sein Fühlen kennen lernen
Ich bekam starkes Interesse für diejenigen meiner Gedanken, die ich nie richtig in den Griff bekam… Sie fühlten sich ganz merkwürdig matt an. Ted Hughes, Poetry in the Making Beginnen Sie das Einüben der Metta Bhavana wie jede andere Meditation, indem Sie sich zunächst Ihre grundsätzliche Absicht zu Bewusstsein bringen und sich dann der Achtsamkeit auf Ihren Körper zuwenden. Fangen Sie hierauf an, eine andere Art von Empfindsamkeit zu entwickeln, die eng verwandt ist mit der Achtsamkeit auf Ihren Körper. Sie beginnen dann, ein Gespür dafür zu bekommen, welche Emotionen sich in Ihnen regen. Emotionen sind nicht eigentlich Geisteszustände, sondern eher Geistesbewegunge n (das aus dem Lateinischen abgeleitete Wort Emotion heißt wörtlich übersetzt: „Herausbewegung" ), und der Geist verändert sich ständig. Wir versuchen zwar zwischendurch immer wieder, diesem ewigen Fluss unserer Emotionen eine bestimmte Richtung zu geben, aber das ist selten hilfreich. Wenn ich etwa gereizt bin, kann ich mir vornehmen, geduldiger zu sein, aber ich kann diesen Vorsatz nicht konsequent durchziehen. Falls ich nicht achtsam bin, folgt dem Vorsatz bald ein weiterer Entschluss: „Schluss damit, ein friedlicher Zeitgenosse zu sein!" Lässt man dann diesem Ärger freien Lauf, kann er sich zum Wutausbruch steigern, je nachdem, welche anderen Umstände und Zusammenhänge noch dazukommen. Doch mit Hilfe der Achtsamkeit können wir es so weit bringen, dass unsere Emotionen für uns etwas Fruchtbareres -52-
leisten. Greifen Sie sich also erst einmal eine Emotion heraus. Sie brauchen dabei nicht nach großen, starken Emotionen Ausschau zu halten, auch wenn man diese anscheinend am ehesten am Schöpf packen kann. Bei den meisten von uns sind große, starke Emotionen große rohe Emotionen, und große rohe Emotionen halten uns nieder. Wenn Emotionen stark sind, machen sie uns meist starr - vor Angst, Wut oder Begehren. Starke Emotionen stärken einem den Rücken, denn sie verhärten das Ego. Im Gegensatz dazu ist eine kreative Emotion mit dem Bewusstsein verbunden, dass der eigene Geisteszu„stand" kein „Stand" ist, sondern eine Bewegung. Daher ist sie in gewisser Hinsicht flüchtiger; die eigenen Energien konzentrieren sich nicht so bereitwillig um sie. Wenn Sie die sich ständig regenden feineren Emotionen einfangen wollen, dann müssen Sie sich ganz still und ruhig hinsetzen, wie ein Angler, der darauf wartet, dass etwas anbeißt. Am besten fangen Sie so an, dass Sie zunächst auf etwas Körperliches achten, also auf Emotionen, die Sie als Empfindungen in Ihrem Körper, als Anspannung oder Schlaffheit wahrnehmen. Wenn Sie die verspannten Stellen sanft lösen oder sich sachte aufrichten, lässt das die jeweilige Emotion frei, die in dieser Haltung steckte. Eine andere Möglichkeit, an Emotionen heranzukommen, ist das Denken: Schnappen Sie sich einen vorüberziehenden Gedanken, identifizieren Sie ihn genau, und dann tasten Sie sich in die genaue Eigenart der Emotion zurück, die ihn ausgelöst hatte, und verweilen Sie darin. Es kann manchmal sein, dass Sie etliche Zeit wartend dasitzen müssen, bis Sie spüren, dass etwas an der Angel zieht. Oder horchen Sie einfach nach Emotionen, bis sie Ihnen wie das Geräusch sanften Regens an der Fensterscheibe zu Bewusstsein kommen. Manchmal kann es auch sein, dass man beim Achten auf seine Emotionen ein wirres Knäuel auseinander sortieren muss. Oder es kann vorkommen, dass man merkt, dass man nichts fühlt. Gibt es -53-
etwas, das Sie nicht bemerken oder worüber Sie nicht nachdenken möchten? Wenn Sie unbesorgt darüber, was das sein könnte, darauf achten, können Sie sich dieses abgeschotteten Bereichs Ihrer Erfahrung bewusst werden. Es kommt überhaupt nicht darauf an, ob Sie sich dabei starker, unangenehmer Emotionen wie etwa einer heftigen Begierde, der Verzweiflung, der Eifersucht oder der Wut oder leichter, flüchtiger Anwandlungen oder fast gar keiner richtigen Emotion bewusst werden. Entscheidend ist, dass Sie auf diese Weise bereits mit der Meditation angefangen haben, indem Sie immer wieder aufmerksam auf sich selbst geachtet und sich wahrgenommen haben. Es kann sein, dass Sie sich hier auf einem Ihnen noch unvertrauten Gelände bewegen und deshalb eine gute Portion Geduld brauchen. Bei vielen von uns ist es so, dass unsere starken Emotionen das Bewusstsein davon, dass wir sie haben, erdrücken. Im Schwung der Äußerung „Ich liebe dich" oder „Ich verabscheue dich" ist man diese Emotion. Bei der Meditation geht es um den Versuch, sich bereits in dem Moment, in dem einen eine Emotion überkommt, ihrer bewusst zu sein und zwischen sich und der Emotion einen kleinen Spalt Abstand zu schaffen. Damit wird man ihr gegenüber ein Stück weit frei, weil man die Emotion als eine Eigenschaft seiner selbst zu sehen vermag und folglich merken kann, dass man nicht nur aus dieser Emotion besteht, sondern sie hat, aber größer und mehr ist als sie. Man kann dabei auch lernen, genau die emotionale Gestimmtheit seiner Erfahrung wahrzunehmen, so wie man die Farbe von Gegenständen sehen kann. Damit erlangt man die Fähigkeit, seine natürliche Neigung zu unterbinden, ständig zwischen Geisteszuständen, deren man gewahr ist und solchen, die man gar nicht richtig bemerkt, hin und her zu pendeln. Wenn man sich zum Beispiel bei seiner Arbeit mit einem Problem beschäftigt, gibt es bestimmte dafür hilfreiche Emotionen: Inspiriertsein, Begeisterung, Humor, Interesse, -54-
Wertschätzung, Zufriedenheit, Hingabe, Eifer, Zuversicht. Man braucht sie gar nicht zu benennen, um zu wissen, dass sie positiv sind, denn das kann man unmittelbar spüren. Sie wirken weitend und klar, geben Schwung, sind zielgerichtet und flexibel, machen wach und aufmerksam. Daneben gibt es andere Emotionen, die die Energie blockieren, auslaugen oder sie zerbröseln lassen: Abneigung, Hass, Langeweile, Angst, Sorge, Schuldgefühle, Begehrlichkeit, Sarkasmus. Auch sie erkennt man daran, wie sie sich anfühlen. Sie sind kalt, eng, verschlossen, starr, entfremdend, unbewusst. Sie laufen auf nichts hinaus, sondern drehen sich im Kreis. Nimmt man das deutlich wahr, so wird es einem möglich, sein Knäuel von Emotionen allmählich zu entwirren und ihnen bewusst eine klare Richtung zu geben. Emotionen entstehen wie alles andere in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen. Lernt man genauer wahrnehmen, welche Bedingungen zum Entstehen positiver Emotionen führen, so kann man bewusst die entsprechenden richtigen Bedingungen schaffen - zumindest im eigenen Inneren; denn die äußeren Bedingungen entziehen sich häufig unserer Kontrolle, wenn auch nicht alle. Mein Herz in seinem Versteck, aufgewühlt durch den Flug eines Vogels das zu erreichen, das zu können! Gerard Manley Hopkins, The Windhover Ein mentaler Zustand kann sich immer in eine neue Richtung entwickeln. Aus Zuversicht können Glaube oder Mut werden oder, falls sie nicht gepflegt wird, kann sie zu Selbstgefälligkeit verkommen. Überlässt man die Liebe sich selbst, so wird daraus womöglich ein ängstliches Festklammern, oder aus Güte wird Sentimentalität, während sie, achtsam gepflegt, zu metta und einfühlsamem Mitempfinden werden kann. Weiß man erst einmal deutlicher um die Wege des Herzens, so kann man sie bewusster auf bestimmte Ziele hin anlegen. -55-
Emotionen kann man sich nicht von außen her einpflanzen, aber man kann in seinem Herzen kleine Keimlinge und Pflänzchen aufspüren und fördern, die bereits in ihm stecken: schüchterne Ansätze des Gefühls, dass das Leben von absoluter Wichtigkeit ist und der Aufmerksamkeit bedarf; zarte Knospen der Überzeugung und Bereitschaft, das eigene Leben und dasjenige anderer etwas anders zu gestalten und damit das Glück zu vertiefen. Einen Pflänzling kann man nicht zwingen, zur großen Pflanze heranzuwachsen. Alles, was man tun kann - und tun muss -, ist, ihm möglichst günstige Bedingungen zu verschaffen. Wenn Sie Achtsamkeit, Interesse, Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit aufwenden, versorgen Sie die Pflänzlinge der metta mit dem, was sie brauchen: Licht, Raum, Boden und Spalier. Das Bild vom Garten legt die entscheidenden Tugenden nahe, die den Gärtner ausmachen und auch hier wichtig sind: das Wissen, dass es längere Zeit dauert, bis sich Erträge einstellen, sowie die Geduld. Eine genauso wichtige Eigenschaft ist die Zuversicht, dass man es auf jeden Fall schaffen wird, wie man sie zum Beispiel braucht, wenn man an einem verregneten Abend im Freien mit lauter feuchtem Material ein Lagerfeuer in Gang bringen will (der Buddha bringt den Vergleich, das sei, als reibe man zwei Stöckchen aneinander). Diese Bilder - die beide auf ihre Weise hilfreich sind - veranschaulichen etwas sehr Wichtiges. Die buddhistische Praxis beruht auf dem Prinzip von Ursache und Wirkung: Schaffe die richtigen Bedingungen, und die Wirkung stellt sich ein. Daran ist überhaupt nichts Unheimliches, Magisches. Wenn etwas überhaupt nicht wirken will, dann schau dich gründlich um, ob du beim Schaffen der Bedingungen dafür nicht irgendetwas Wichtiges vergessen hast. Vor allem kommt es darauf an, keine fixe Vorstellung davon zu haben, welche Ausdrucksform metta annehmen wird. Sie ist eine sehr wandelbare Kraft, die sich in zahllosen verschiedenen Formen äußern kann, je nachdem, mit wem oder was sie in Kontakt kommt. Sehen wir jemanden, der voller Schmerz oder -56-
Hass ist, so nimmt unsere metta die Form des Mitgefühls an; angesichts von jemandem, der voller Liebe ist, wird aus unserer metta Freude und Wertschätzung. Und hebt sich unser Herz angesichts eines hoch am Himmel seine Kreise ziehenden Vogels in Sehnsucht und Freude empor, so ist auch das metta.
-57-
8 Die Metta Bhavana - wie Güte zur Entfaltung gebracht werden kann
Wer wahrhaft sich selbst liebt, schadet nie einem anderen. Udana Die Freude ist die Mutter aller Tugenden, Goethe Die folgende Fassung der „Metta Bhavana" ist in fünf Stufen unterteilt: Auf der ersten Stufe geht es um die Einübung von metta gegenüber sich selbst, auf der zweiten gegenüber einem guten Freund, auf der dritten gegenüber jemandem, dem man ziemlich neutral gegenübersteht, auf der vierten gegenüber einem Menschen, mit dem man sich schwer tut, und schließlich weitet man dann noch metta auf ausna hmslos alle Menschen, ja sogar alle Lebewesen aus. Es gibt viele Möglichkeiten, die geeigneten Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich metta in einem entfalten kann; hier will ich nur einige von ihnen vorstellen. Vielleicht möchten Sie alle hier vorgeschlagenen Anregungen ausprobieren, aber es ist sinnvoll, in einer einzelnen Meditationssitzung immer nur eine oder zwei von ihnen zu verwenden. Es wäre natürlich schön, wenn man sagen könnte, dass alles „nur" darauf ankomme, die richtigen Bedingungen zu schaffen, aber das zu tun, ist nicht so einfach. Man kann nicht einfach eine Münze einwerfen und das Gewünschte erhalten. Die Achtsamkeit entzieht sich allen vorgefertigten Lösungsversuchen. Bei der Meditation handelt es sich nie um eine Wiederholung; sie ist immer etwas Lebendiges. Man gerät dabei immer wieder in eine andere Konstellation von Umständen - was natürlich auch bedeutet, dass man nie bei etwas Bestimmtem stehen bleibt. -58-
Die erste Stufe Fangen Sie also mit sich selbst an. Eine einfache Art, in die metta einzusteigen, besteht darin, schlicht zu sich selbst zu sagen: „Möge es mir gut gehen. Möge ich glücklich sein." Lassen Sie diese Worte in Ihr Bewusstsein fallen und horchen Sie auf ein emotionales Echo, auf eine Art Bestätigung von irgendwoher, dass Sie glücklich sein möchten. Sofern Sie empfindsam genug sind, erhaschen Sie vielleicht auch eine Wunschregung, Ihr eigenes Glück zu vereiteln. Das ist ganz natürlich; in gewisser Hinsicht geht es bei dieser Meditationsübung genau darum, sich damit zu befassen. Wenn Sie metta für sich selbst wecken, geht es nicht unbedingt bloß um ein glückliches Gefühl im schlichten Sinne von „Gott sei Dank, es ist wieder Freitag". Sie bringen dabei Ihrer eigenen Erfahrung eine freundliche und ermutigende Einstellung entgegen, so, als käme diese von außen, und sehen zu, was dann geschieht. Versuchen Sie, sich so zu sehen, wie ein guter Freund Sie sehen würde, also mit Zuneigung. Beobachten Sie, wie Sie dabei lockerer werden, wie sich der Bereich um Ihre Augen entspannt und ebenso Ihr Kiefer, Ihre Schultern, Ihr Magen. Oder rufen Sie sich eine Zeit in Erinnerung, in der Sie glücklich waren. Versuchen Sie, deutlich mit einem positiven Gefühl in Kontakt zu kommen, das Sie früher einmal hatten, etwa, wie es war, als Sie träge im warmen Wasser des Mittelmeers schwammen. Fügen Sie einige Einzelheiten hinzu: den Himmel, den Strand, die Wärme, die Abwesenheit von Anlässen zur Sorge - und lassen Sie das damalige Gefühl der Gelassenheit wieder erstehen, das Gefühl, innerlich in Frieden und lebendig zu sein, ein stilles Sprudeln der Freude inmitten tiefer, allumfassender Stille. Oder noch einfacher: Kommen Sie ganz in die Gegenwart -59-
zurück und genießen Sie aus dem Bauch heraus Ihr Dasein. Genießen Sie das Wunder, jetzt hier sitzen und überhaupt etwas fühlen zu können. Freuen Sie sich einfach, über Sinne zu verfügen und achten Sie darauf, wie Sie körperlich bestimmte angenehme Empfindungen erfahren können, Empfindungen, im Gleichgewicht, in der Mitte, ganz präsent zu sein. Oder sammeln Sie Ihre Aufmerksamkeit um den Herzbereich und achten Sie darauf, ob sich dort ein gewisses Wärmegefühl einstellt oder vielleicht eine warme Farbe, Rot oder Gold, oder ein Gefühl, sich langsam wie eine Blume zu öffnen. Erfühlen Sie die Blume in Ihrem Herzen: wie ihre Blütenblätter im Licht der Achtsamkeit leuchten, ihre Wurzeln von unten her Energie aufsaugen. Oder falls Sie lebhafter auf Klänge als auf Visuelles ansprechen, können Sie metta auch als Klang, als Musik zu hören versuchen. Das mag alles sehr wohltuend klingen, und das ist es zuweilen auch. Aber hier geht es nicht nur um eine Einübung ins Wohlfühlen, denn zeitweise fühlt es sich überhaupt nicht angenehm an. Worum es geht, ist, dass Sie sich selbst gegenüber ein Empfinden der Wärme und Fürsorge entwickeln und das auch dann, wenn Sie - während Ihnen allmählich bewusst wird, wie Sie sich fühlen - feststellen, dass Sie gerade in einer ziemlich schmerzlichen Geistesverfassung sind. Um ganz für das Glücksgefühl aufgeschlossen zu werden, können Sie vielleicht auch das Wissen um ein verlorenes Glück wachrufen. Wenn man diesen Verlust annimmt, wird man zur Annahme eines tieferen Glücks fähig. Hinter dem Wunsch, glücklich zu sein, steckt in Wirklichkeit der Wunsch, ganz zu sein. Halten Sie sich vor Augen, dass der Weg der Meditation immer nach vorne offen ist. Metta ist kein mentaler Zustand, in den Sie eintreten; es handelt sich um eine Bewegung, einen emotionalen Strom. Der aktive Bestandteil von metta ist eine bestimmte Qualität der Intention. Ich wähle hier bewusst den Begriff „Intention" für die zielgerichtete Absicht, um durch den sprachlichen Gleichklang -60-
anzudeuten, dass er eng mit der „Intensität" verwandt ist. Metta ist nämlich oft mit der Absicht verbunden, aus einer bequemen Geisteshaltung herauszuwachsen und stattdessen in einem tieferen Sinne auf sein eigenes Wohl bedacht zu sein. Die zweite Stufe Auf der zweiten Stufe lassen Sie sich stärker von jener freundlichen Zuneigung erfüllen, die Sie ohnehin ganz spontan empfinden. Stellen Sie sich lebhaft vor, Sie treffen einen guten Freund oder eine Freundin. Am besten wirkt das, wenn Sie dazu jemanden wählen, dem Sie ganz eindeutig positive Gefühle entgegenbringen oder jedenfalls so eindeutig, wie Gefühle eben sein können, also nicht jemanden, der bei Ihne n ablenkende Emotionen wie Lust, Bedauern, Trauer oder mütterliche oder väterliche Wünsche weckt. Sehen Sie Ihren Freund oder Ihre Freundin lebhaft im Geist vor sich; stellen Sie sich eventuell vor, wie er bzw. sie mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht auf Sie zukommt und dann erspüren Sie genau, wie Ihr Herz darauf reagiert und Sie das Gefühl der Freude darüber überkommt, dass es diesen anderen Menschen gibt und er da ist. Oder wecken Sie bei sich einfach das Gefühl, Ihre Freundin oder Ihr Freund sei jetzt bei Ihnen; spüren Sie die Gegenwart dieses Menschen, die Art Energie, die er ausstrahlt, seine Redeweise, den Klang seiner Stimme, sein Lachen. Erinnern Sie sich deutlich an glückliche Zeiten, die Sie miteinander hatten, und achten Sie darauf, ob dadurch in Ihrem Herzen eine bestimmte Art der Reaktion erwacht, sich ein Gefühl der anhaltenden Entspannung einstellt, Freude hochquillt, ja vielleicht sogar festliche Dankbarkeit. Konzentrieren Sie Ihre Achtsamkeit auf dieses Spiel der Emotion, diese emotiona le Geste des Sich-Ausstreckens, um an einen anderen Menschen zu rühren. Sie können sich auch diesen -61-
Menschen in einer Situation vorstellen, in der er ganz glücklich ist, oder Sie stellen sich vor, wie das Glück aus seinem Herzen aufsprießt; oder wecken Sie sogar das Bild, wie daraus eine Blume aufbricht. Wenn Sie auf diese Weise innerlich mit Ihrer Liebe zu dem von Ihnen geschätzten Menschen in Kontakt gekommen sind, sehen Sie zu, ob Sie das Empfinden des aktiven Wünschens, er möge glücklich sein, aufbringen können und sprechen Sie ihm zu: „Möge es dir gut gehen. Mögest du glücklich sein. Mögest du frei von Leiden bleiben." Die dritte Stufe Auf der dritte Stufe geht es darum, sich nicht mehr nur einem Menschen zuzuwenden, mit dem man befreundet ist, sondern jemandem, den man nicht so genau kennt und dem gegenüber man mehr oder weniger neutral eingestellt ist, weil man nur oberflächlich mit ihm zu tun hat. Vielleicht erfüllt dieser Mensch eine praktische Funktion in Ihrem Leben, etwa als Briefträger, oder er bewegt sich ohne direkten Kontakt mit Ihnen durch die Landschaft Ihres Lebens, wie etwa ein regelmäßiger Kunde oder jemand, der täglich in der gleichen Straßenbahn wie Sie zur Arbeit fährt. Das Ziel besteht darin, metta lebendig am Fließen zu halten. Auch wenn Sie für den betreffenden Menschen nur schwaches Interesse empfinden und sich nicht um ihn kümmern, geht es jetzt darum, dass Sie sich bewusst für seine grundsätzliche Sehnsucht nach Glück öffnen. Es kann sein, dass Ihnen diese Aufgabe etwas seltsam vorkommt. Für diesen Menschen haben Sie schließlich keine Zeit und wollen sie auch nicht aufbringen; nichts verbindet Sie mit ihm; Sie wüssten gar nicht, was Sie mit ihm reden sollten. Aber jetzt geht es um die Anerkenntnis, dass diese Grenzen zufälliger, nicht wesentlicher Natur sind. So stellen Sie also wenigstens für einige Minuten diesen Menschen ins Zentrum Ihrer Aufmerksamkeit. Üben Sie es, deutlich den -62-
Unterschied zwischen der grundsätzlichen Wichtigkeit eines Menschen und seiner Wichtigkeit für Sie zu machen. Auf dieser Stufe liegt der Angelpunkt der ganzen Meditation; hier kann die entscheidende Wende geschehen. Sie besteht darin, dass dank des in Ihnen noch lebendigen Schwungs Ihrer Wertschätzung und Ihrer Gefühle gegenüber dem Menschen, dem Sie in Liebe zugetan sind, eine Tür in Ihrem Herzen weit aufgeht. Das ist eine Tür, die wir meist ängstlich verschlossen halten, weil wir uns selbst dadurch definieren, dass wir uns gegen andere abgrenzen. Erspüren Sie diesen Widerstand angesichts Ihrer Unrast und Ungeduld, wieder zu Ihren eigenen Belangen zurückkehren zu können. Dann stellen Sie sich vor, wie ein strahlendes Lächeln das Gesicht dieses Menschen erhellt. Stellen Sie sich vor, wie er sich irgendwo befindet, wo er sich rundum wohl fühlt. Wenn Sie ihm auf diese Weise weiten Raum geben, spüren Sie, wie auch Ihr Herz weiter wird. Die vierte Stufe Auf der vierten Stufe schmuggeln Sie sozusagen Ihre metta hinter feindliche Linien oder eher umgekehrt: Sie schmuggeln Ihren Feind in die liebenswürdige Zone Ihrer metta. Hier fängt die Meditation an, zu einer Art von alchemistischem Prozess zu werden: Alles noch Halbherzige an Ihrer gütigen Zuwendung wird ausgebrannt, echte metta geschmiedet. Dabei kann ein Stück realer Abneigung die Funken stieben lassen. Starke Emotion ist ein grobes Material und liefert große Mengen von Energie, sofern Sie diese Emotion mittels Ihrer Achtsamkeit und Zielstrebigkeit zu verfeinern vermögen. Um jedoch die gesamte Übung davor zu bewahren, in Rauch aufzugehen, dürfte es klug sein, dass Sie sich zumindest anfangs lediglich auf jemanden konzentrieren, der Ihnen bloß ein bisschen auf die Nerven geht, statt gleich auf den Menschen, der -63-
Ihr Leben ruiniert hat. Vielleicht finden Sie sogar, dass hier am besten jemand passt, den Sie eigentlich für einen Ihrer guten Freunde halten, und dass Sie ihn in die Meditation einbeziehen, hilft vielleicht zur Lösung einer Schwierigkeit, die Sie gerade mit ihm haben. Normalerweise ist es ganz gut, sich nicht allzu sehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wen genau man sich für die Übung auf jeder dieser Stufen auswählen sollte. Worauf es ankommt, ist, dass Sie den Fluss von metta beibehalten, so dass Sie Übung darin bekommen, immer mit Wohlwollen zu reagieren, wenn Sie jemandem begegnen oder an jemanden denken. Bleiben Sie genau wie auf allen anderen Stufen auch hier einfach. Lassen Sie sich Zeit, um sich an die Tricks und Widrigkeiten Ihres Geistes zu gewöhnen. Denken Sie daran, dass Meditation auf lange Sicht wirkt. Entspannen Sie Ihre Hände, Ihren Magen, Ihre Hüften, Ihre Schultern und lassen Sie Ihren „Feind" so nahe wie möglich an sich herankommen, ohne dass sich Ihre Animosität in ihm verbeißt. Wehren Sie es sanft ab, dass in Ihnen alte Geschichten hochkommen. Die fünfte Stufe Greifen Sie auf dieser letzten Stufe noch einmal die Personen der ersten vier Stufen auf: sich selbst, einen Freund oder eine Freundin, den „neutralen" Menschen und den „Feind". Erfühlen Sie in Ihrem Herzen eine Reaktion, die zwischen ihnen allen keinen Unterschied macht; wecken Sie die Anerkenntnis der Schönheit des Lebens, wo und wie immer es aufsprießt. Erkunden Sie hierauf genauer, wie das ist, wenn man sich voller Verständnis und Einfühlungsvermögen auf den Schrecken und die Schönheit einlässt, die es bedeutet, ein lebendiges Wesen zu sein. Lassen Sie Ihre metta über die gesamte Welt schweifen und horchen Sie auf die stille Musik der Menschheit, wie sie Ihnen aus allen Ecken der Welt entgegenklingt. Das Geheimnis -64-
liegt in den Details und der Lebendigkeit der Vorstellungskraft. Es kommt darauf an, dass Sie die Menschen genau genug beobachten und versuchen, in ihr Innenleben einzutreten, sich ihre äußere Umgebung vorzustellen und zu sehen, wo die Entscheidungen, die sie treffen, entspringen. Wenn Ihnen das gelingt, können Sie sie unmöglich verurteilen oder ablehnen. Halten Sie sich Menschen aus allen möglichen Kulturen vor Augen, die unter allen nur erdenklichen Umständen leben. Hören Sie die Stimmen von Menschen mit den unterschiedlichsten Sprachen. Schauen Sie in ihre Gesichter, in ihre Augen. Betrachten Sie alle möglichen Arten, wie Menschen ihr individuelles Leben gestalten. Rümpfen Sie über niemanden die Nase. Ganz gleich, ob Sie mit dem Leben dieser Menschen einverstanden sind oder nicht, ob sie reich oder arm, Schurken oder Unschuldige, glücklich oder leidend sind, versuchen Sie, alle mit dem gleichen Blick zu sehen, als unersetzlich kostbare Lebewesen mit ein und derselben Sehnsucht nach Glück und Freiheit. Weiten Sie hierauf Ihre metta über alle Menschenwesen hinaus auch auf alle anderen Lebewesen aus. Das ist unsere uns allen gemeinsame Welt, unser uns allen gemeinsames Leben, und jedes Lebewesen, jedes Tier auf dem Land, jeder Vogel in der Luft, jeder Fisch im Wasser ist wirklich und kostbar. Sie können mit Ihrer Imagination sogar noch über die Grenzen unseres Planeten hinausgehen und an alle Lebewesen überall im Universum, ja an alle irgendwo existierenden Universen Ihre liebevolle Zuneigung und Ihr Wohlwollen senden. Sie haben jetzt vielleicht den Eindruck, dass das ja eine ziemlich aufwendige Übung ist, aber ich denke, Sie finden schon Ihre eigene Weise, sich meditierend allen diesen Bereichen zuzuwenden. Denken Sie dabei immer daran, dass der Brennpunkt im Zentrum Ihres Herzens sein sollte. Lenken Sie zum Abschluss der Meditation Ihre Aufmerksamkeit wieder darauf zurück, wie Sie für sich selbst -65-
dasitzen und halten Sie sich voll und ganz in dieser Erfahrung des Ausgeweitetseins auf. Stellen Sie sich dann langsam darauf ein, Ihre emotionale Achtsamkeit und freundschaftliche Ausrichtung von der kontrollierten Umgebung der Meditation aus auf die große böse Welt zu lenken. Manchmal kann einem die Meditation während der Übung langweilig oder unbequem vorkommen, und manchmal können ihre unmittelbaren Auswirkungen auf Ihr Alltagsleben ziemlich flüchtiger Natur sein, aber Sie sollten den Erfolg der Übung nicht so sehr danach bemessen, wie sie sich unmittelbar anfühlt, sondern daran ablesen, wie sich im Lauf der Zeit Ihre Einstellungen und Verhaltensweisen anderen gegenüber und die grundsätzliche Gestimmtheit Ihres Geistes zum Besseren verändern.
-66-
9 Umfassende Freundlichkeit und Güte entfalten - eine Herausforderung
Ein sentimentaler Mensch ist jemand, der auf den Luxus eines Gefühls aus ist, ohne etwas dafür zu bezahlen. Oscar Wilde in einem Gespräch Ihm greift nicht die Tatsächlichkeit der Not ans Herz, sondern seine Phantasie wird von deren äußerem Abbild bewegt. Über seinem Bedauern um das Verderben des schönen Federkleids übersieht er den sterbenden Vogel. Thomas Paine über Ed mund Burke in The Rights of Man Der französische Schriftsteller und Politiker Andre Malraux erzählt am Anfang seiner Antimémoires, er habe einen guten Freund, der fünfzehn Jahre als Landpfarrer gewirkt habe, gefragt, was er aus seinem Beichthören gelernt habe. Der Priester habe ihm zur Antwort gegeben, im Beichtstuhl habe er zwei Dinge gelernt: dass die Menschen viel unglücklicher seien, als man sich vorstelle, und dass es Erwachsene nicht gebe. An dieser Aussage ist das besonders Interessante nicht die Offenbarung, dass wir alle traurige Kinder sind, sondern der Umstand, dass hier die Menschen in völlig andere Schubladen eingeteilt werden als diejenigen, in denen sie sich üblicherweise gern selbst vorstellen oder in die wir sie zu stecken geneigt sind. Im Beichtstuhl werden wir alle sehr menschlich und verletzlich. Die Metta Bhavana hält keine Buße oder Absolution bereit, aber sie dringt in den innersten Kern dessen vor, was es heißt, Mensch zu sein. Darüber kann überhaupt nie genug gesagt werden. Im vorliegenden Abschnitt wollen wir uns einige der -67-
Themen etwas genauer ansehen, die eventuell hochkommen können, wenn Sie damit beginnen, den Bereich der Meditation genauer zu erkunden. Metta für sich selbst Fast alle unsere Gefühle ergeben sich aus unseren Beziehungen zu anderen, und fast alle unsere Emotionen beziehen sich auf die eine oder andere Weise auf andere. Als Buddhist macht man sich daran, diese wechselseitige Verknüpfung mit anderen tiefer wahrzunehmen. Will man das aber tun, so muss man zunächst einmal deutlicher sehen, in welch hohem Maß wir voneinander getrennt sind. Im normalen Sprachgebrauch ist es üblich, Menschenmassen ein und dasselbe Gefühl zuzusprechen: etwa, am Sonntag seien fünfzigtausend Fußballfans am Boden zerstört oder vom Jubel hingerissen gewesen. Aber streng genommen kann nur der individuelle Mensch ein Gefühl haben. Selbst ein Mann, der aus Sympathie die Geburtswehen seiner Frau mit durchleidet, spürt sein ganz eigenes Leiden. In unserem fast ständigen Bedachtsein auf unsere gesellschaftliche Identität verlieren wir den Blick für die Tatsache, dass die Unterscheidung zwischen jemandem, der als das „Selbst" erfahren wird und jemandem, den man als einen anderen Menschen erfährt, einer völlig anderen Ordnung angehört als die Unterscheidung, die wir üblicherweise zwischen zwei Menschen machen. Dieser Unterschied kann die erste Stufe der Metta Bhavana als ziemlich verwickelt erscheinen lassen. Zu sich selbst liebenswürdig zu sein, klingt ja recht angenehm, genau wie die Aufforderung, sich selbst anzunehmen; aber in der Praxis kann einem das als unmöglicher Zirkelschluss vorkommen. Doch lässt es sich auf etwas Einfacheres reduzieren: das Wahrhaben Ihres Wunsches, glücklich zu sein. Das ist der Schlüssel für die gesamte Übung. Wenn man in Kontakt mit seinem eigenen -68-
Wunsch nach Glücklichsein ist, ist das auch das Erste, was man bei anderen sieht, und dann ist kein Lebewesen dem eigenen Empfinden fremd. Merkwürdigerweise kann es einem jedoch ziemlich schwer fallen, in Kontakt mit seinem Wunsch nach Glücklichsein zu kommen. Der Grund dafür ist, dass man mehr möchte, als glücklich zu sein: Man möchte das Glück besitzen, es sich verdienen, sich mit ihm verheiraten. Entweder schiebt man es auf später auf - erfüllt vorerst noch seine Pflichten, macht Geld, hält Diäten ein und widmet sich anderen, vergleichbaren Anstrengungen - oder man will es auf der Stelle erhaschen indem man habgierig wird oder einfach nur faul ist - und trauert ihm später nach. Auf diese Weisen verfällt der Mensch gegenüber seinem Wunsch, glücklich zu sein, allmählich in Gleichgültigkeit. Im extremsten Fall wird aus dem Wunsch, glücklich zu sein, der Wunsch, nicht der Mensch zu sein, der man ist. Er geht im Rahmen des Wunsches verloren, reich oder gut oder völlig abgesichert zu sein. Das Ergebnis ist dann, dass man sich vom Standpunkt einer sehr eingeschränkten Identität aus verhält und die weiteren Dimensionen der Daseinswirklichkeit aus den Augen verliert. In diesen Einstellungen gegenüber sich selbst begegnet man den Einstellungen, die man anderen gegenüber hat: der Güte, der Gleichgültigkeit, der Ablehnung, dem Mangel an Aufmerksamkeit. Die Metta Bhavana ist ohne die erste Stufe unvollständig, aber die Haltung, die auf der ersten Stufe eingeübt werden soll, lässt sich nur mittels der anderen Stufen voll entfalten. Dank seiner Beziehungen zu anderen findet man heraus, wer man ist. Bei der Metta Bhavana geht es darum, sich auf eine umfassendere Realität „da draußen" einzulassen, wie sie sich in denen verkörpert, die man als die „anderen" betrachtet, um dabei die Schranke zu durchbrechen, die die Vorstellung von „anderen" darstellt. Wir hängen uns an andere, lehnen andere ab, verurteilen andere, übersehen andere - und wir tun uns selbst das -69-
Gleiche an, weil wir nicht sehen, wie wir untereinander verbunden sind. So ist die Konzentration auf das Positive genau wie die ganze weitere Übung lediglich ein Anfang. Das Ziel der Metta Bhavana ist die Selbst-Umwandlung, und wir müssen sorgfältig darauf achten, wie wir uns diese Umwandlung vorstellen. Im Buddhismus scheut man sich nicht, hier vom radikalen Ausreißen, ja von der Zerstörung zu sprechen: von der Zerstörung des Begehrens, der Unachtsamkeit und des Leidens. Allerdings ist diese Sprache allzu leicht dazu angetan, den Selbsthass zu nähren, der bei vielen von uns an die oberste Stelle auf der Liste der mentalen Zustände gehört, die es „auszurotten" gilt. Im Buddhismus wird auch davon gesprochen, man bemühe sich um das Freiwerden von negativen mentalen Zuständen, aber auch das kann wiederum leicht in eine Art von Entfremdung umschlagen. Bei der metta geht es nicht darum, die eigenen Emotionen zu manipulieren oder negative Emotionen zu ignorieren oder sich selbst einzureden, man sei okay. Man sagt nicht: „Für eine Zeit lang möge ich die Art freundlicher Mensch sein, der es verdient, glücklich zu sein." Das buddhistische Sprechen in Begriffen von Zerstörung und Freiheit bietet dem, der dafür in der richtigen Verfassung ist, herausfordernde Perspektiven. Eine weitere Redeweise, die im Buddhismus verwendet wird, ist die des Mitempfindens, wie sie sehr oft in der Gestalt von idealisierten Bodhisattvas 1 verkörpert ist. Auch diese Sprache hat ihre Gefahren, namentlich die der Selbstgefälligkeit, aber vermutlich ist das für den Anfang der beste Ansatz. Wählt man ihn, so muss die echte metta unbedingt 1
Ein Bodhisattva ist nach buddhistischem Verständnis ein Wesen, das vom Kreislauf der Wiedergeburten befreit ist, sich aber aus Mitgefühl wieder in diesem Kreislauf (dem samsara) manifestiert, um den Lebewesen zu helfen. Handeln und Denken eines Bodhisattva sind auf das Wohlergehen anderer ausgerichtet (d.U.). -70-
auch das mit einbeziehen, was man nicht gern in den Blick nimmt. Man sagt vielleicht zwar: „Möge es mir gut gehen", aber diese Äußerung liebevoller Zuwendung bleibt eine relativ oberflächliche Anmutung und erfolgt nicht aus jenen tieferen Schichten, aus denen heraus man mit echter Energie sprechen könnte. Bevor man aus seinem gesamten Sein heraus sagen kann: „Möge es mir gut gehen", muss man sich erst einmal überhaupt mit seinem ganzen Sein identifiziert haben. Metta für uns selbst ist nicht bloß metta für unsere guten Seiten; sie muss auch metta für die Seiten unserer selbst einschließen, mit denen wir nicht besonders glücklich sind - den Feind in uns selbst. Will man metta für sich selbst entwickeln, so muss man zuerst einmal ganz man selbst sein, ohne Illusionen oder Vorwände, ohne Entschuldigungen oder Selbstvorwürfe. Von Zeit zu Zeit kommen wir alle immer wieder einmal in den Genuss der Güte anderer. Manchmal haben wir auch das Gefühl, die Natur selbst sei uns wohl gesonnen. So brauchen wir uns durchaus nicht vorzustellen, metta sei ausschließlich etwas, das wir in uns selbst nähren sollten. Wir können es uns eher so vorstellen, dass wir in metta mit einstimmen. Niemand „besitzt" metta. Statt uns vorzustellen, wir strahlten liebevolle Güte aus und seien selbst die Quelle, ist wahrscheinlich die Vorstellung hilfreicher, wir seien bislang zu wenig durchlässig für metta gewesen. Wenn wir voll und ganz wir selbst sind, ist metta unsere natürliche Reaktion auf die Wirklichkeit der Lebewesen, die authentischste Reaktion, die wir überhaupt aufbringen können. Wir ziehen sie uns nicht wie einen warmen Mantel über. Bis Sie mit metta richtig in Kontakt kommen, müssen Sie vielleicht einige recht düstere Erfahrungsbereiche durchwandern, aber achten Sie die ganze Zeit auf einen Schimmer Zufriedenheit, ein Aufflackern von Energie, einen jähen Moment Achtsamkeit, eine Nadelspitze Zuversicht, einen kurzen Zustand der Helle, ein Weitwerden, Sich-Dehnen, -71-
Elastisch- und Weich-, Warm- und Klarwerden des Herzens. Selbst Geisteszustände, die scheinbar für die Meditation überhaupt nicht hilfreich sind, liefern gewöhnlich etwas, mit dem man weiterarbeiten kann. Wenn Sie zum Beispiel schläfrig sind, sind Sie auch entspannt, vielleic ht auch ruhig, in Frieden, fühlen sich sogar wohl. Irgendwo in diesem Zustand wird schwach ein Stück Achtsamkeit aufleuchten, und Sie können sich darauf konzentrieren und langsam das Licht einziehen lassen. Oder angenommen, Sie werden sich eines inneren Knotens von Angst oder Wut bewusst. Auch dieser Knoten stellt eine Energiequelle dar, die Sie nutzen können, sofern es Ihnen gelingt, die mentale Intensität zu drosseln. Manchmal kann es sein, dass Sie eine ganze Meditationssitzung bloß durchstehen und am Schluss das deprimierende Gefühl haben, das habe Ihnen nun wieder überhaupt nichts gebracht. Aber die Tatsache, dass Sie sich hingesetzt haben und zumindest bei der Vorstellung von metta geblieben sind, zeitigt in jedem Fall eine Wirkung, so aufgewühlt oder abgelenkt Ihre Geistesverfassung auch aussehen mag. Manchmal kann es sein, dass man am Schluss einer scheinbar unwirksamen Meditationssitzung von seinem Kissen aufsteht, aber kurz danach wird einem das Herz plötzlich von metta überflutet, als Reaktion darauf, jemandem zu begegnen oder Menschen miteinander sprechen zu sehen. Metta für eine Freundin oder einen Freund Wenn Sie jetzt dazu übergehen, metta für einen Menschen zu entwickeln, dem Sie in Sympathie zugetan sind, unterscheiden zwei Aspekte diesen Prozess von einem angenehmen Tagtraum. Erstens achten Sie ausnahmsweise einmal auf die Wirkung des Gegenstands Ihrer bewussten Zuwendung auf Ihren eigenen Geisteszustand. Sie instrumentalisieren also sozusagen den betreffenden Menschen für sich, denn Sie verwenden das -72-
unwillkürlich positive Gefühl, das er bei Ihnen weckt, um damit die Entwicklung einer Liebe zu befeuern, die sich über Ihren unmittelbaren Bekanntenkreis, Ihre Freunde und Familienangehörigen hinaus ausdehnt, um sich in tief empfundener Zuneigung auch noch jenen vielen Lebewesen zuzuwenden, die außerhalb des magischen Zirkels Ihrer üblichen Sorge liegen, nämlich der übrigen Bevölkerung dieses Planeten. Zweitens geben Sie diesem Prozess ganz bewusst eine bestimmte Richtung. Die Meditation beruht auf der Tatsache, dass unser Wesen ständig im Wandel begriffen ist. Bei ihr geht es darum, darauf zu achten, wie wir uns unablässig verändern, um dann diesen Prozess der Veränderung in eine neue Richtung zu lenken. Wenn Sie metta für einen Freund oder eine Freundin entwickeln wollen, müssen Sie alle Ansprüche und Forderungen an diesen Menschen loslassen. Sie wünschen ihm, dass es ihm um seiner selbst willen wohl ergehe, nicht um Ihretwillen. Es ist hilfreich, sich ganz bildhaft vorzustellen, wie Ihre Freundin oder Ihr Freund in dem wohltuenden warmen Glühen, das Sie ihm zusenden, geradezu badet, aber genauso wichtig ist es, ganz klar zu sehen, dass sie bzw. er in keiner Weise von Ihrem Wohlwollen abhängig ist. Das ist die passende Gelegenheit, den nüchternen, unsentimentalen Aspekt von metta hervorzukehren. Eine Freundin oder ein Freund ist nicht bloß jemand, der einem ein gutes Gefühl gibt, sondern ein Mensch, von dem man sich auch etwas sagen lässt. Das ist ein entscheidender Aspekt von metta, der auch in die ganze weitere Meditation eingebracht werden muss: das Bewusstsein, dass der Umstand, diese Meditation einzuüben, dazu führen wird, die Art, wie Sie leben, zu verändern.
-73-
Metta für einen Fremden Wenn man sich gerade von einem Menschen verabschiedet hat, den man sehr gern hat, und dann auf jemanden stößt, den man weniger gut kennt, stellt man fest, dass man auf dieses neue Gegenüber ziemlich positiv reagiert. Man kann dann womöglich einem Fremden das gleiche freundliche Gesicht zuwenden, das man gerade no ch dem Freund gezeigt hatte. Auf der dritten Stufe der Metta Bhavana übt man das bewusst ein. Man lässt es nicht zu, dass die Wärme der Zuneigung vergeht, sondern konzentriert sich weiter auf sein Gefühl für den Freund. Indem man das tut, bekommt man ein Gespür dafür, wie es ist, wenn man ganz offen und positiv auf diesen anderen, „neutraleren" Menschen zugeht. Dabei überschreitet man nicht unbedingt die bisherigen Grenzen seiner Beziehung zu ihm, aber man versucht, praktische Grenzen von emotional aufgerichteten Mauern zu unterscheiden. Gute Filme und Romane erzielen ihre besondere Wirkung dadurch, dass sie einem bestimmte Personen nahe bringen, so dass man sich intensiv mit ihrem Wohl und Wehe identifiziert, obwohl man sie nie persönlich kennen lernen wird. Das bringen die Autoren dadurch zustande, dass sie raffiniert bestimmte Details aus dem Alltag und Charakter dieser Personen, die einzeln genommen gar nicht besonders bewegend sind, miteinander verweben, damit sie sich schließlich zu einem Gesamtbild summieren, das bei uns jenes einzigartige Verhaltensmuster namens „menschliche Anteilnahme" auslöst. Aktivieren Sie jetzt Ihre Vorstellungskraft dafür, aus allen nur erdenklichen Details, die Sie an dem betreffenden Menschen wahrnehmen, dieses Verhaltensmuster aufzubauen. Seine Hoffnungen, Befürchtungen und Ängste sind anders als die Ihrigen, aber Sie können mit Sicherheit davon ausgehen, dass er sie hat und sie als genauso wirklich empfindet wie Sie Ihre -74-
eigenen. Mit ein bisschen Vorstellungskraft kann man jeden Menschen, dem man begegnet, auf diese Weise sehen. Wenn man einmal bewusst darauf achtet, wie man sich die Leute auf der Straße anschaut, ertappt man sich meist schnell dabei, wie man halb bewusst pausenlos seine Urteile abgibt: „attraktiv", „schäbig", „sympathisch", „primitiv". Von einem Augenblick auf den anderen kann man jemanden ablehnen, ohne überhaupt zu wissen, woher er kommt oder wohin er geht - oder genauer: ohne sich dessen bewusst zu sein, das man überhaupt nicht weiß, woher er kommt oder wohin er geht. Viel anregender und interessanter wäre es doch, auf den Straßen lauter unergründliche Persönlichkeiten daherkommen zu sehen. Versuchen Sie also, auf diesen für Sie neutralen Menschen keine Ihrer Projektionen zu werfen, ihn also nicht wie üblich sofort in eine bestimmte Schublade zu stecken. Lassen Sie ihn seinen ganz eigenen Weg gehen, ganz er oder sie selbst sein, genauso einmalig, wie Sie es sind. Achten Sie sorgfältig darauf, dass Sie auf die Emotion von metta konzentriert bleiben. Wahrscheinlich wollen Sie spontan Ihre Imagination dazu einsetzen, eine Verbindung zu diesem Menschen herzustellen, aber die Meditation sollte nicht dazu führen, dass Sie sich endlose Szenarien visualisieren. Sie beschwören das Bild eines bestimmten Menschen zu eine m einzigen Zweck herauf: um den Fluss Ihrer positiven Emotion zu verstärken und zielgerichtet zu lenken. Metta für einen Feind Jetzt bringen wir Zu- und Abneigung gemeinsam in den Ring. Aber es soll nicht darum gehen, dass die eine die andere überrollt und der Sieger dann die Szene beherrscht. Zuweilen fällt uns sogar uns selbst gegenüber das Eingeständnis schwer, -75-
dass es Menschen gibt, die wir nicht mögen, und erst recht Menschen, die wir als unsere Feinde betrachten. Aber wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, geht uns schnell auf, dass wir manche Menschen einfach nicht mögen. Üblicherweise empfindet man gegenüber irgendwelchen Gewaltherrschern oder Unterdrückern starke Ablehnung, aber auf dieser Stufe der metta ist es meist wirksamer, sich auf jemanden zu konzentrieren, mit dem man auf engerem Raum zusammenlebt. Wenn man ehrlich mit den Gefühlen umgehen kann, die man manchmal gegen jemanden hat, dann lässt sich sogar gelegentlich die Wut in etwas umwandeln, das nahe an Zuneigung heranreicht. Das erfordert allerdings einen gewissen Mut und Großherzigkeit. Groll ist eine Art von ganz natürlicher Neigung: Man braucht geradezu jemanden oder etwas, gegenüber dem man sein Unbehagen oder seinen Schmerz abreagieren kann, und man pocht auf sein Recht darauf, verbittert zu sein. Gibt man dieser Neigung nicht nach, so bleibt einem zwar das Unbehagen oder der Schmerz, aber immerhin wird man dann nicht mehr von negativen Emotionen gegenüber dem betreffenden Menschen geplagt. Manchmal hat man eine Wut auf jemanden, weil man sich selbst nicht verziehen hat. Es mag unangenehm sein, ist aber jedenfalls hilfreich, nach den Dingen Ausschau zu halten, die man sich noch nicht eingestanden hat und für die man noch Vergebung braucht. Sobald man irgendetwas klar vertritt, muss man damit rechnen, dass man bestimmten Menschen Widerstand leisten muss, die die betreffenden Werte ablehnen. Es ist nicht unbedingt ein Ausdruck von metta, wenn man immer still bleibt, Verständnis aufzubringen versucht, ja liebenswürdig ist; aber wenn man metta empfindet, kann man mit Menschen, mit denen man sich schwer tut, ohne aggressive Ablehnung, Verstellung oder Ausflüchte umgehen. Wenn Sie auf dieser Stufe Probleme bekommen, versuchen Sie sich körperlich zu entspannen und bleiben Sie dabei auf den -76-
kleinen Funken Wohlwollen konzentriert, den Sie aufgebracht haben. Denken Sie immer daran, dass die positive Einstellung, die Sie erfahren, einen unablässig sich verändernden Komplex von Emotionen darstellt, der gelegentlich fast ganz verblasst und dann in einer leicht anders komponierten Mischung immer wieder deutlicher auftaucht. Es geht dabei um eine innere Flexibilität, eine Fähigkeit, weit über Ihre beschränkte, enge Sicht des Menschen, mit dem Sie sich schwer tun, hinauszuschauen und dadurch dem mentalen Hamsterrad zu entkommen, in das Sie immer geraten, sobald nur sein Name fällt. Auch dieser Mensch erhofft sich vom Leben das Gleiche, was Sie sich erhoffen: glücklich und frei von Leiden zu sein. Eines Tages wird er genauso sterben wie Sie. Sie können ihm für sein Leben eine bessere Rolle gönnen, als nur die des Schurken in Ihrem persönlichen kleinen Drama: nämlich, dass er er selbst sein darf. Allumfassende metta Auf unserem Planeten lebt eine Unmenge Menschen, und auf dieser Stufe besteht, namentlich falls Sie im Visualisieren recht geübt sind, die Gefahr, dass Sie sich ausmalen, wie Sie in zehntausend Meter Höhe im Flugzeug über dem Globus kreisen und Menschen aus allen Kontinenten zu Ihnen da oben heraufwinken. In Wirklichkeit sollte das etwas ganz Haut nahes sein. Zwar wissen wir, dass wir alle in einer einzigen Welt leben - aber fühlen wir das auch? Wie hoch wird der Preis, wenn wir anfangen, das tatsächlich zu fühlen? Versuchen Sie ein Gefühl der Weite zu entwickeln, des Loskommens von der Vorstellung, wirklich sei nur das, was sich auf Sie selbst bezieht. Wenn man die Sorgen vieler anderer Menschen an sich heranlässt, steigert das überraschenderweise nicht die eigenen Ängste, sondern es ist eher dazu angetan, deren Knoten zu lösen. Metta stellt sich nicht ganz allein ein; sie kommt in -77-
Verbindung mit einer ganzen Reihe anderer Eigenschaften. Liebe oder Liebenswürdigkeit können Sie nicht einfach wie Zahnpasta aus einer Tube aus sich herausquetschen. Versuchen Sie, sich Ihrer selbst und anderer deutlicher bewusst zu werden bewusst auch Ihrer Angst, in zu viel Sorge um andere zu geraten, und auch dessen bewusst, dass Ihre Kapazität des Sorgens um andere sich steigern kann. Sie werden dann metta ausstrahlen, wenn Sie die Bedingungen geschaffen haben, unter denen sie sich einstellen kann. Metta kultiviert man nicht nur dadurch, dass man eine positive und freundliche Haltung einnimmt, sondern, was viel entscheidender ist, dass man sich dieser Reaktion bewusst wird und bewusst wahrnimmt, wie sie sich entwickelt und wie sie in ihrer Entwicklung gehemmt wird.
-78-
Vierter Teil Vertiefung der Meditation
-79-
10 Ablenkungen
Die gesamte Kunst des Lebens besteht darin, fähig zu sein, immer nur Eines zu einer Zeit zu tun. Sangharakshita, Peace is a Fire Was nicht Teil unserer selbst ist, verwirrt uns nicht. Hermann Hesse, Demian Wenn Sie anfangen, sich ins Meditieren einzuüben, dauert es vermutlich nicht lange, und Sie kommen zu dem Schluss, Sie sollten es doch lieber wieder bleiben lassen, denn ziemlich wahrscheinlich sagen Sie sich: „Ich kann überhaupt nicht meditieren, denn ich werde immer wieder so unkonzentriert und abgelenkt." Aber sich seiner Ablenkungen voll bewusst zu werden, ist der Anfang zum Verständnis des gesamten Prozesses der Meditation. Bei allem - was immer wir zu tun versuchen - landen wir unvermeidlich schließlich wieder bei der Erfahrung unseres eigenen Geistes. Es gibt keinen Trick, einen anderen, besseren Geist zu erfahren. Von der Meditation werden wir deshalb abgelenkt, weil wir uns nicht mit der Erfahrung zufrieden geben, die zu sein, die wir sind, also der Mensch, der zu sein wir entschieden haben. Das heißt, wir werden abgelenkt, weil wir nicht darauf gefasst sind, uns auf diesen Geisteszustand einzulassen, ihn genauer anzuschauen und schließlich anzufangen, ihn zu einer bewussten Tätigkeit anzuleiten, statt nur seine Erfahrung wahrzunehmen. Sobald wir anfangen, die Ablenkungen oder Hindernisse zu benennen, beginnen wir eine andere Art von Geist herzustellen, und zuweilen ist das schon alles, was wir tun müssen, um sie -80-
abzuschütteln. In der buddhistischen Tradition kennt man eine Liste von fünf Quellen, die mehr oder weniger alle unsere Ablenkungen auslösen. Es sind: Sucht nach Sinnes-Objekten, negatives Wollen, Rastlosigkeit und Angst, mentale oder physische Mattigkeit und Zweifel (im Sinn eines alles zersetzenden Skeptizismus). Diese Quellen und die Ablenkungen, die sie hervorrufen, liefern unsere Standardreaktionen auf das Leben; sie finden ständig Ereignisse, Dinge oder Menschen, an denen sie ansetzen können. Ein und dieselbe Situation - sagen wir, ein verspäteter Zug - kann in jedem Menschen etwas anderes auslösen: in mir Ängste, in einem neben mir stehenden Mann Ärger und Wut, in einer Frau auf einer Bank am Bahnsteig weiter vorn Resignation, in jemand anderem aus lauter Ratlosigkeit ein plötzliches Verlangen nach einem Artikel aus dem SüßwarenAutomaten und in einem Zeitung lesenden Reisenden Widerwillen gegen die heutige Zeit. Es mag so scheinen, als sei für jeden von uns auf dem Bahnsteig Wartenden die Verspätung des Zuges für diese Emotionen verantwortlich, aber in Wirklichkeit ist sie nur der Auslöser einer längst in uns steckenden emotionalen Einstellung, die uns bei diesem konkreten Anlass aktuell ins Bewusstsein tritt. Wäre der Zug pünktlich eingefahren, so hätte ziemlich wahrscheinlich irgendein anderer Aspekt unserer Reise jenen negativen mentalen Zustand aktiviert, in dem wir ohnehin steckten. Woher kommen unsere Ablenkungen? Ablenkungen sind ihrem Wesen nach unbewusst; sie lassen der Achtsamkeit keinen Raum. Sie scheinen aus dem Nirgendwo aufzusteigen und beherrschen plötzlich das Feld, als hätten sie uns wie bei einer Invasion überrannt, bevor wir uns überhaupt wehren konnten. Wenn wir mit dem Meditieren anfangen, müssen wir uns diese Beeinträchtigungen vom Leib halten und -81-
schleunigst einen Brückenkopf der Achtsamkeit bauen. Dann sind wir in der Lage, sie zu zwingen, langsam mit erhobenen Händen herauszukommen. Entspannte Konzentration führt unvermeidlich dazu, dass störende Elemente aus dem Unterholz auftauchen müssen, und das ermöglicht es uns, sie festzunehmen und zu entscheiden, was wir mit ihnen anfangen wollen. Um ein ganz offensichtliches Beispiel zu nennen: Wenn es uns irgendwo juckt, kratzen wir uns meist unwillkürlich, aber beim Meditieren werden wir uns des Juckens bewusst sowie auch des Umstands, dass wir die Wahl haben, ob wir uns kratzen oder nicht. Auch der Geist kennt seine Juckreize. Das Ziel der Meditation besteht darin, jede Regung des Geistes oder Körpers in den Bereich der Bewusstheit und damit auch der Wahl und somit der Freiheit zu heben. Wir treffen die ganze Zeit Wahlentscheidungen, meist ganz unbewusst und automatisch, und erfahren dann auch die Ergebnisse dieser Wahlentscheidungen mehr oder weniger unbewusst. Je nachdem, wohin man von seiner emotionalen Energie gelenkt wird, öffnet man unwillkürlich den Kühlschrank, greift nach einem Buch, zündet sich eine Zigarette an, gerät in Wut, schaut in eine Schaufensterauslage oder verliert den Mut - ohne es richtig zu merken. Die Meditation unterbricht diesen Prozess, indem sie das Spektrum der Sinneseindrücke, die sich uns aufdrängen, stark einschränkt. Dabei kommt der Geist weiterhin mit ablenkenden Gegenständen daher, aber nach und nach wird deutlicher, dass wir sie auf einer bestimmten Ebene selbst gewählt haben. Das tatsächliche Hindernis der Meditation (und in Wirklichkeit von allem anderen) ist nicht der Umstand, dass wir etwas haben, um das wir uns Sorgen machen müssen, oder dass jemand unfreundlich zu uns war, oder dass draußen ein Mordslärm ist, oder dass es uns irgendwo juckt, oder dass wir an etwas sehr Faszinierendes oder jemand sehr Attraktiven denken müssen, -82-
oder dass wir nicht wirklich sicher sein können, ob das, was wir tun, nicht reine Zeitverschwendung ist. Was sich uns in den Weg stellt, ist der Umstand, dass wir unbewusst unsere Initiative an solche Umstände verlieren und ihnen die Verfügung darüber einräumen, was in unserem Geist und in unserem ganzen Leben vorzugehen habe. Wir alle sind im Bann von Hindernissen aller Art. Sie sind unnütz und zuweilen schmerzlich, aber sie sind da, ungebeten. Ihre Eigenart ist es, das zu unterhöhlen, was wir gerade tun, sei es bei der Meditation oder außerhalb von ihr, indem sie Gedanken, Impulse und Willensregungen einschleusen. Sie unterhöhlen unsere Fähigkeit, ganzheitlich und aus vollem Herzen zu handeln, aber sie sind das, was sie sind, nur deshalb, weil sie unbewusst sind. Darin besteht ihre einzige Kraft. So besteht die eigentliche Arbeit der Meditation nicht so sehr darin, uns auf einen bestimmten Gegenstand zu konzentrieren, sondern darin, den Fluss mentaler Zustände, der in Folge dieser Übung einsetzt und sie entweder verstärkt oder schwächt, genau anzuschauen und zu lenken. Die Hindernisse in den Blick nehmen Es geht uns darum, unsere Energien zu einen, und dazu ist es unerlässlich, unsere inneren Konflikte zu lösen. Diese Konflikte sind „innere", weil wir Teile unserer selbst unterdrücken müssen. (Täten wir das nicht, würden wir uns vermutlich ganz in uns selbst verheddern.) Doch wenn wir zu viel unterdrücken, kostet uns das eventuell einen zu hohen Preis, denn wir laufen dann Gefahr, den Anschluss an unsere Energiequellen zu verlieren, was sich dann in Form von Groll, Apathie, Begierde, Angst und Zweifel äußert, also in Form der beschriebenen Hindernisse. Angesichts der Tatsache, dass dies alles Äußerungen von -83-
Konflikten sind, möchten Sie mit ihnen wahrscheinlich möglichst wenig zu tun haben. Versuchen Sie stattdessen lieber, das Spektrum Ihrer Selbstwahrnehmung zu verbreitern und noch möglichst viele weitere Aspekte in den Blick zu bekommen: Bringen Sie zum Beispiel Wärme und sogar Humor ins Bild. Hindernisse haben die leidige Gewohnheit, sich so zu präsentieren, als gebe es außer ihnen nichts auf der Welt, und in dieser Position möchten sie bleiben. In Wirklichkeit hockt zuweilen ein Hindernis direkt auf seinem Gegenteil. Liebe, Dynamik, Stille und Zuversicht sind nicht immer bequeme Geistesverfassungen, und wenn sie sich zu regen beginnen, können sie zuweilen nur von Wut, Teilnahmslosigkeit, Ängsten und Unentschlossenheit niedergehalten werden. So lohnt es sich, seine Aufmerksamkeit besonders darauf zu konzentrieren, welche positive Eigenschaft das jeweilige Hindernis zu überdecken versucht. Denken Sie auch immer wieder daran, dass Hindernisse nicht stabile Geisteszustände sind (für die sie sich gern ausgeben), sondern Bewegungen im Geist. Sie kommen und gehen unablässig. Wenn Sie es schaffen, eine ziemlich beharrliche Geisteshaltung einzunehmen, können Sie ihnen regelrecht dabei zuschauen, wie sie wie Flaumwolken über den Himmel Ihres Geistes ziehen. Es geht also darum, dass Sie bei sich einen „himmelgleichen Geist" fördern; heute nennen ihn manche auch einen „Teflon-Geist" oder ein „nichthaftendes Bewusstsein". Aber was macht man, wenn diese Anwandlungen durchaus nicht bloß „flaumig" sind? Hilfreich ist es, die Hindernisse nach dem traditionellen Schema einzuteilen, denn je mehr man sie verallgemeinern kann, desto leichter kann man sich auch von den ganz persönlichen Details distanzieren, die zu diesen Hindernissen geführt haben. Allerdings handelt es sich bei ihnen in Wirklichkeit immer um Mischformen: Jedes einzelne Hindernis ist auf die Unterstützung der anderen angewiesen. Manche wirken einfach in einer viel tieferen Schicht des -84-
Unbewussten als andere. Nehmen wir an, Ihre augenblickliche Geistesverfassung könnte man am ehesten als apathisch beschreiben. Sie dürfen jedoch sicher sein, dass dabei auch andere Komponenten im Spiel sind: etwa Frustration, Groll und Mangel an Selbstvertrauen. Diese Komponenten lassen jene ganz individuelle, persönliche Ausprägung von Apathie entstehen, die Sie immer und immer wieder überkommt. Wenn Sie statt gelegentlicher Flaumwolken nur gelegentliche kleine Stellen klaren blauen Himmels erleben, können Sie eventuell eine andere Metapher wählen und Ihre regelmäßigen Besucher mit schreienden Kindern vergleichen, von denen jedes seine eigene Stimmfärbung hat: eindringlich, mürrisch, panisch, bedürftig, verträumt, raffiniert, unersättlich, nörglerisch usw. Manchmal ist es wichtig, dass Sie auf der Hut sind und sich überlegen, was aus diesen scheinbar harmlosen Kindern wird, wenn sie größer werden. Das heißt, Sie sollten ein aktives Interesse für die Ausgeburten Ihres eigenen Geistes entwickeln. Man könnte meinen, alle Gedanken und Gefühle kämen und gingen, ohne großen Schaden anzurichten; aber mit ein bisschen Nachdenken kommt man schnell darauf, dass sie an unseren Strippen ziehen und wir nach ihrer leisen Kakophonie tanzen. Wenn man deutlicher auf diese Teile seiner selbst achtet, statt sie unbeachtet laufen und ihre üblen Streiche spielen zu lassen, kann man sich die in ihnen steckende Energie aneignen und bewusst zunutze machen. Man gewinnt dabei noch mehr: Wenn man gegenüber seinen eigenen negativen Geistesanwandlungen als Erwachsener auftreten kann, dann kann man das auch gegenüber den negativen Anwandlungen anderer Menschen. Echte Liebenswürdigkeit ist nicht bloß das Ergebnis eines wohlig warmen Gefühls ums Herz, sondern sie entstammt der inneren Stärke und Demut, die eigenen Gefühle beiseite zu stellen, wenn sie einem im Weg stehen. Wenn man den Lauf eines Flusses von Anschwemmungen ausbaggert, wird sein Wasser von den aufgewühlten Ablagerungen ganz schlammig. -85-
Bei der Meditation ist das genauso. Wenn man sich daran macht, sich seiner inneren Regungen deutlich bewusst zu werden, wird zunächst einmal alles chaotischer. In dieser Zeit ist es immer wieder recht hilfreich, auf seine Körpererfahrung zurückzukommen, sich bewusst zu entspannen und eine ganz aufrechte Haltung einzunehmen. Dadurch gewährleistet man immer wieder eine wesentliche, echte Grundlage der Selbstwahrnehmung. Oft kann man Hindernissen auch auf der körperlichen Ebene beikommen. Wenn Sie besonders abgelenkt sind, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre eindeutig spürbaren körperlichen Erfahrungen: wie Sie sich innerlich lösen und entspannen, wach werden, sich gerade aufrichten, weit werden, sich öffnen. Die Hindernisse positiv nutzen Gelegentlich kann einem ein hartnäckiges Hindernis etwas zu sagen haben, das anzuhören sich lohnt, und wenn man sich ihm aufmerksam zuwendet, beginnt es auch deutlicher zu sprechen. Unsere Ablenkungen liefern manchmal - vielleicht mehr mittels ihrer Gestimmtheit als mit ihrem Inhalt - wichtige Botschaften. Sie können das Mittel sein, dessen sich unsere Emotionen bedienen, um uns auf sich aufmerksam zu machen, weil sie nicht immer einen direkten Draht zu unserer Wahrnehmung haben. Umgekehrt kann ein Hindernis auch unser Mittel sein, uns vor etwas zu schützen. Wenn unser Geist abschweift, ist das vielleicht eine unbewusste Strategie, um auf einer oberflächlichen Wahrnehmungsebene bleiben zu können, weil man derzeit nicht über die emotionale Energie verfügt, sich tiefer sitzenden Fragen zu stellen. Beim Umgang mit Hindernissen geht es um die Kunst, zu unterbinden, dass sie sich überall festhaken, oder darum, eine Möglichkeit zu finden, sie loszuhaken. Dazu muss man herausfinden, woran sie sich nun eigentlich festgehakt haben. -86-
Manchmal hilft die Vorstellung, die Hindernisse seien kreative Eigenschaften, die sich von der Oberfläche unserer Erfahrung in ihren Bann schlagen lassen, so wie Narziss, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte, statt weiter hinab in die Tiefen des Wassers zu schauen. So kann zum Beispiel das Begehren etwas sehr Positives sein, sei es in Form eines gesunden Appetits oder eines edlen Bestrebens. Aber das Begehren kann sich auch an etwas Banalem festhaken und dann daran hängen bleiben, was sich dann beispielsweise so äußern kann, dass man kaum mehr über sein Bedürfnis nach einer Zigarette hinauskommt. Das passiert oft den Helden in den Märchen, die drei Wünsche frei haben: Sie verrennen sich in kurzsichtigen Wünschen und stehen am Ende schlechter da als vorher. Ähnlich ist es mit der Abneigung. Im griechischen Mythos von Perseus und Medusa wird erzählt, jeder, der die schreckliche Medusa direkt angeschaut habe, sei in Stein verwandelt worden. Da sei der Held Perseus gekommen, habe sie nur im Spiegel seines Schildes angeschaut, sich ihr auf diese Weise nähern und ihr schließlich den Kopf abschlagen können. Auch unsere Abneigung hakt sich an äußeren Widerständen fest: ein Mensch, ein Gegenstand oder eine Situation scheinen sie auszulösen. So müssen auch wir uns an das, was uns massiv abstößt, in Form seines Spiegelbildes annähern, wenn wir ihm gegenüber frei werden wollen. Genauso können einen die anderen Hindernisse auf die Möglichkeit stoßen, tiefer zu gehen. Wenn man merkt, dass man mit seiner eigenen Energie nicht über das bloße nervöse Herumzappeln hinauskommt, kann man sie davon befreien, damit sie einen in tiefere Schichten der Konzentration führt. Das tut man, indem man still wird. Dabei bleibt die Energie, die in der Rastlosigkeit gesteckt hatte, erhalten; sie wird zum Zugseil (ein Bild, das der Dichter George Herbert verwendet), das einen aus dem warmen, grauen Mief oberflächlicher Genügsamkeit heraushievt. -87-
Entsprechendes kann geschehen, wenn man den Griff seiner Angst etwas zu lockern vermag: Das kann einem helfen, seine tieferen Ängste zu erkunden und sich für das weite Feld der Wirklichkeit zu öffnen, auf dem man sich so unsicher fühlt. Was die Neigung angeht, einzudösen, um seiner Erfahrung auszuweichen, so kann auch sie zur Fähigkeit werden, die eigenen Schwierigkeiten beiseite zu lassen und dem Heilprozess Raum zu geben, der sich zu seiner eigenen Zeit und auf seiner eigenen Ebene abspielen wird. Auch das fünfte Hindernis, Zweifel und Unentschlossenheit, kann positiv genutzt werden. Wenn man es zu lenken lernt, statt bloß sein Opfer zu sein, kann man eine Menge lernen, denn man hinterfragt dann alle die Annahmen, die den Hindernissen zugrunde liegen, einschließlich des Zweifels und der Unentschlossenheit selbst. Wenn nichts zu funktionieren scheint Wenn Ihnen Ihre Ablenkungen ständig den Kopf verwirren und sich auch über einen längeren Zeitraum des Meditierens nicht beruhigen lassen, müssen Sie sich wahrscheinlich die Bedingungen genauer ansehen, die zu diesem Zustand geführt haben. Versuchen Sie, auch außerhalb Ihrer Meditationsübung aufmerksam oder achtsam zu sein? Wenn nicht, dann genügt vielleicht die Meditation allein nicht, um alle Ihre im Unbewussten angestauten Eindrücke und Reaktionen zu verarbeiten. Sollten Sie vielleicht etwas sensibler und ansprechbarer werden, oder sind Sie zu nachlässig oder verschwommen? Haben Sie das Meditieren zu pflichtmäßig angepackt, so dass Sie zu verbissen dabei sind? Befürchten Sie, etwas Schlimmes könnte passieren, wenn Sie damit aufhören? (Das wird nicht passieren.) Oder gibt es einen Aspekt in Ihrem Leben, mit dem Sie nicht zurechtkommen? Die Meditation sollte Sie sensibler für die ethischen Haltungen werden lassen, die Ihrem Handeln zugrunde liegen. Eine Taktik, sich vor diesem -88-
moralischen Aspekt zu drücken, besteht nämlich darin, bei der Meditation oberflächlich zu bleiben. Es könnte auch sein, dass Sie aufmerksamer darauf achten sollten, wie Sie sich bezüglich der Meditation fühlen. Möchten Sie tatsächlich Ihre Ablenkungen hinter sich lassen - oder haben Sie im Grunde das Gefühl, das, was sie aufs Tapet bringen, sei viel zu wichtig und interessant, um es unbeachtet vorüberziehen zu lassen? Die Hindernisse liefern einem entscheidende Schlüssel, um seine Grundüberzeugungen davon, was einem möglich ist, deutlicher zu erkennen. Halte ich einen klaren und glücklichen Geisteszustand für eine natürliche, mir zugängliche menschliche Befindlichkeit, oder bin ich von vornherein skeptisch, wie weit ich überhaupt im Geist klar und glücklich sein kann? Halte ich meine geistige Befindlichkeit für etwas Statisches, aus dem ich nicht herauskommen kann, oder für etwas seiner Natur nach Flüssiges, also für das Produkt eines unablässig sich wandelnden Komplexes von Bedingungen, die ich zu verändern vermag? Welche Grenzen des Wachstums setze ich mir selbst? Wie hoch habe ich die Obergrenze angesetzt? Nehme ich die buddhistische Vorstellung ernst, über ein grenzenloses Potenzial zur Umwandlung meines Bewusstseins zu verfügen? Und wenn ja, habe ich vielleicht Angst vor der Verantwortung, die das mit sich bringt? Treue zur Meditation Wer hätte das geglaubt: Dass mein verwelktes Herz noch einmal neu ergrünen könne? Es war dahin, im Boden schon; wie Blumenblätter fallen, verblüht, zur Mutterwurzel heimzukehren. George Herbert, „The Flower" Bei der Fähigkeit, sich in der Meditation zu konzentrieren, -89-
geht es nicht darum, sich etwas Langweiligem widmen zu können. Im Gegenteil: Es geht darum, alles - das Leben als reich und komplex und zutiefst erfüllend zu entdecken. Wenn man sagt: „Mein Geist schweift umher", heißt das in Wirklichkeit, dass sich nur ein Teil des Geistes aktiv einsetzt, und zwar ein ziemlich kleiner und welker. Die Meditation unterliegt denselben Gewohnheiten, die auch das ganze übrige Leben beherrschen: Schließlich kann man so weit kommen, dass man nur noch deshalb weiter meditiert, weil man sich vor den Konsequenzen fürchtet, die es haben könnte, wenn man aufhört, oder weil man Anerkennung braucht, oder weil man berufsmäßig meditiert, oder weil man schon immer Meditation übt, oder weil man hofft, dank ihrer etwas umsonst zu bekommen. Derweil schlummern die eigene Begeisterung, Hingabe und Freude und man wartet darauf, dass sich ein tieferer Sinn einstellt. Anfangs, wenn man erstmals das Meditieren erlernt, hat das seine eigene Bedeutung. Man tut es um seiner selbst willen. Später verrichtet man die Meditation vielleicht auf die gleiche Art, wie man morgens schnell sein Frühstück zu sich nimmt. Sie ist nützlich, sie dient einem bestimmten Zweck. Es ist ganz natürlich, die Meditation auf diese Weise zu erfahren: Wie Ihr Tag verläuft, hängt von Ihrer Meditation ab und umgekehrt. Aber während der Meditation müssen Sie ihr trotzdem ihre ganz eigene Bedeutung lassen. Sie ist nicht einfach etwas, das Sie über die Runden bringen müssen, um sich dann um etwas Wichtigeres kümmern zu können. Man kann das mit einem guten Essen vergleichen: Zwar tankt man dabei auch Energie, um andere Dinge verrichten zu können, aber es ist auch wichtig, das Essen bewusst um seiner selbst willen zu genießen, um es dann auch optimal verdauen zu können. Weil die Meditation etwas ist, das Sie selbst unternehmen, können Sie leicht vergessen, dass die Meditation nicht nur deshalb wichtig ist, weil sie sich in bestimmter Weise auf Sie -90-
auswirkt. Ob implizit oder explizit, Sie meditieren auch um anderer willen. Es ist hilfreich, wenn Sie sich immer wieder bewusst vor Augen führen, dass Sie durch Ihre Bemühungen und Absichten weit über sich selbst hinausgreifen und ein ganzes Netzwerk schaffen und prägen. Eine einfache Möglichkeit dazu bietet der Versuch, sich in einen religiösen Kontext zu versetzen. Wenn Sie sich immer lebhaft der umfassenderen Bedeutung der Meditation bewusst sind, hilft Ihnen das über Zeiten hinweg, in denen Sie das Gefühl haben, sie bringe Ihnen gar nichts. Manchma l müssen Sie einfach die Wurzeln düngen, immer wieder die Übung machen, und warten, bis der Frühling kommt.
-91-
11 Ausgewogene Bemühung Man kann Hühner nicht schlagen, damit sie legen. Marianne Moore, „The Student" Die Meditation kann man nur wirklich fruchtbar üben, wenn man sich ihr regelmäßig mit konsequenter Disziplin widmet, unabhängig davon, ob man gerade Lust dazu hat oder nicht. Bei jeder ernsthaften Übung, sei es auf dem Gebiet der Musik, der Kunst, des Sports, des Intellekts oder der Meditation, ge ht es darum, sich selbst etwas aufzuerlegen und abzuverlangen, und das nicht, um Geld zu verdienen oder Spaß zu haben, sondern aus Freude an dieser Sache selbst und aus Liebe zu ihr. Die Meditation verleiht einem den Schwung, zeitweise Schwierigkeiten zu überwinden, und wenn sie gut klappt, widmet man sich ihr auch mit einer Hingabe, die einen trägt. Wenn sie jedoch nur noch zäh vorangeht, stellt man oft fest, dass es gar nichts nützt, sich noch mehr Mühe zu geben. Fällt einem die Meditation ziemlich schwer, ja kommt sie einem schmerzlich vor, dann furcht man womöglich die Stirn, beißt auf die Zähne und versucht, möglichst schnell über die unnötigen Gefühle und mentalen Prozesse hinwegzukommen, die sich einem in den Weg zu dem stellen, was man für die eigentliche Erfahrung hält. Aber man kommt dieser Erfahrung auf diese Weise keinen Schritt näher. Andererseits scheint es genauso wenig zu helfen, wenn man sich nicht bemüht. Gibt man sich keinerlei Mühe, so schweift man ab und spürt am Ende nur noch verschwommen, was man nun eigentlich tut. Schließlich weiß man dann überhaupt nicht mehr recht, wozu man eigentlich meditiert. Für den Anfang kann es bereits eine gewaltige Bemühung bedeuten, sich einfach zehn Minuten lang still hinzusetzen und -92-
seine Aufmerksamkeit immer wieder zum zentralen Punkt der Meditation zurückzuholen. Aber vor jedem weiteren Versuch sollte man sich unbedingt von dieser Bemühung entspannen. Das ist, wie wenn man Auto fahren lernt: Um einen anderen Gang einzulegen, muss man das Kupplungspedal durchtreten, aber zum Anfahren muss man es wieder loslassen. Zuerst muss man etwas energisch tun, dann wieder loslassen. Hat man einige Übung darin, so wird das ein ganz lockeres Manöver, aber während der ersten Fahrstunden ruckt und hoppelt das Auto noch gewaltig. Ganz ähnlich ist es bei der Meditation: Man gewinnt an Tiefe, indem man immer mehr Energie hineinlegt, aber das erreicht man nicht dadurch, dass man sich immer noch mehr bemüht. Am Anfang ist Bemühung notwendig; aber der nächste Schritt besteht darin, die Bemühung zu reduzieren. Man könnte das mit der Geste vergleichen, die Hand auszustrecken, ohne krampfhaft nach etwas greifen zu wollen. Weniger ist mehr - und schwieriger. Es geht darum, gerade so viel Bemühung aufzubringen, dass man in der Lage ist, auf das zu achten, was im Augenblick vor sich geht. Jedes bisschen Bemühung mehr heißt schon, dass man nach einer darüber hinausliegenden Erfahrung greifen möchte. Wenn man das tut, verpasst man den gegenwärtigen Augenblick ganz. Je bemühter man sich konzentriert, desto weniger achtsam ist man. Wir möchten immer Resultate erzielen, und wenn möglich eine Abkürzung auf dem Weg zu diesen Resultaten finden. In unseren Augen wäre der Idealfall, dass wir uns ordentlich bemühen, das Resultat erzielen und uns daran entspannen können. Aber die Bemühung, die Sie für die Meditation brauchen, ist von der Art, wie Sie sie benötigen, um Ihrem Kind zuzuhören, wenn Sie eigentlich schon längst mit hunderteins Erledigungen fertig sein sollten. So wichtig alle die Dinge auf Ihrer Pflichtenliste auch sein mögen, fast immer ist es noch wichtiger, auf diese Botschaft aus der unmittelbaren Gegenwart zu achten, selbst wenn sie sich ganz banal anhören mag. -93-
Die Bemühung bei der Meditation ist nicht „irgendeine" Bemühung. Es gibt keinen Punkt, an dem Sie damit aufhören könnten. Diese Bemühung soll so gering sein, dass sie gerade genügt, und ständig so intensiv wie nur möglich. Es ist eine kontinuierliche Bemühung, und das heißt, dass man sie mit Achtsamkeit kombinieren muss. Das ist, wie wenn man eine Statue mit Blattgold überzieht. Die Statue muss ganz überzogen werden, aber ein zu dicker Überzug würde ihre feinen Konturen verwischen. Daher findet sich an keiner Stelle ihrer Oberfläche mehr als eine hauchdünne Goldschicht, doch diese genügt, um der Figur eine ganz neue Qualität zu verleihen. Aus der ausgewogenen Kombination von sanfter Bemühung und Achtsamkeit ergibt sich die Ausdauer. Hier geht es um einen entscheidenden Punkt der Meditation, und ich halte es für wichtig, deutlich auf die Notwendigkeit dieser richtigen Einstellung hinzuweisen. Viele Menschen meinen nämlich, es gehe einfach darum, sich noch mehr zu bemühen, wobei dann die Phantasie oder Achtsamkeit ganz aus dem Spiel bleiben. In Wirklichkeit muss die Bemühung ausgewogen sein, das heißt, sich mit anderen Qualitäten die Waage halten, ja mehr noch: Sie muss im Hintergrund bleiben, damit sich die scheueren Qualitäten überhaupt ans Licht trauen. Um ein klassisches Beispiel zu nehmen: Beim Judo könnte es scheinen, als käme es bloß darauf an, sich noch ein bisschen mehr zu bemühen, um seinen Gegner zu Boden werfen zu können. Das mag zutreffen, wenn der Gegner klein genug ist, aber auf lange Sicht verbaut man sich dadurch den Weg zu der Fähigkeit, sogar die stärksten Gegner mühelos aufs Kreuz zu legen, weil man zu lernen versäumt hat, jeden Gegner genau richtig zu packen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, zum genauen Zeitpunkt, mit zielgenauen Schritten, Wendungen, Zügen usw. Vorausgesetzt, das alles ist genau abgestimmt, können Sie gegen einen Mordskerl mit einer gewaltigen Bemühung vorgehen, die jedoch keine willensmäßige -94-
Bemühung ist, also nicht bloß ein Einschreiten auf Befehl des „Hauptquartiers" im Kopf, sondern eine Bemühung aus Ihren Wurzeln heraus, eine leibhaftige Kraftentfaltung, die wie eine Explosion aus der Erde heraus zündet und von Ihren Zehen- bis in Ihre Fingerspitzen hinauffährt. Der Buddha verglich die ausgewogene Bemühung mit dem Stimmen eines Saiteninstruments. Er sagte, dabei dürften die Saiten weder zu schlaff noch zu stark gespannt sein. Oder man kann es auch so sagen: Bei der richtigen Art Bemühung vibriert der gesamte Klangkörper des Instruments. Tatsächlich gelang Robert van de Walle, einem der großen Judo-Champions der letzten Jahre, der berühmt für die kraftvolle Körperlichkeit seines Judo war, spät in seiner Laufbahn noch einmal ein bemerkenswertes Comeback, nachdem sein Trainer ihn im Rahmen seines Trainingsprogramms zum Singen angeleitet hatte. Wenn Sie beim Üben träge, dumpf und uninspiriert sind, wird die bloße Steigerung Ihrer Bemühung nicht viel helfen. Die Meditation nimmt uns für etwas in Anspruch, das gegenläufig zu unseren üblichen Interessen ist. Wenn sie wirksam sein soll, müssen wir unseren Wunsch nach sinnlich wahrnehmbaren Erfahrungen aufgeben. Um das zu schaffen, sollte man eine echte Unzufriedenheit mit diesem üblichen mentalen Zustand verspüren und damit ein echtes Interesse für die Entwicklung von etwas ganz Anderem aufbringen. Die einzige Möglichkeit, das zu tun, besteht darin, zu glauben, dass es tatsächlich etwas Anderes gibt. Sie mögen sich dessen bewusst gewesen sein oder nicht: Dieser Glaube war es, der ursprünglich Ihr Interesse für das Meditieren geweckt hat; halten Sie sich also weiter an ihn. Finden Sie lieber etwas, das Sie zum Meditieren hinzieht, statt sich selbst dazu anzutreiben. Wenn Sie den Glauben an die Möglichkeit einer Veränderung in Kontakt mit Ihrer Ausdauer bringen, entwickeln Sie eine unerschütterliche Entschlossenheit, die Sie so weit bringen wird, -95-
wie immer Sie wollen. Am Anfang müssen Sie Ihre Aufmerksamkeit immer wieder mühsam ins Gleis zurückhieven, aber nach einiger Zeit wird Ihre Konzentration leichter dahinrollen und Sie müssen nur noch die Zugleine straff halten. Ist Ihre Konzentration einigermaßen stabilisiert, so können Sie sich auf den Gegenstand Ihrer Meditation einlassen, in engeren Kontakt mit ihm kommen, ihn klarer auszumachen versuchen. Dann entspannen, weiten, verbreitern Sie das Feld Ihrer Achtsamkeit. Falls Sie abgelenkt oder etwas dösig und verschwommen werden, konzentrieren Sie sich wieder auf den Gegenstand. In dem Maß, in dem sich Ihre Energie besser konzentriert, wird diese Scharfeinstellung nach und nach immer präziser. Das Ziel besteht darin, ständig Energie anzureichern und Schritt für Schritt alle Ihre vitalen Kräfte auf den Gegenstand auszurichten und dabei Ihre Achtsamkeit zu wahren. Außerhalb der Meditationszeit müssen Sie wahrscheinlich mehr Bemühung aufbieten, um achtsam zu bleiben, denn Sie müssen Ihre Achtsamkeit dann sehr viel mehr Dingen als nur Ihrem eigenen mentalen Zustand zuwenden. Wenn man mit Meditieren anfängt, denkt man, man werde dadurch den Inhalt seines Kopfes in eine bessere Ordnung bringen. Aber dann stellt man fest, dass das Meditieren auch den Inhalt des Herzens besser sortieren hilft, und das bedeutet, dass man anfängt, sich nicht nur um sich selbst, sondern auch um andere mit größerer Achtsamkeit zu kümmern. Leibhaftige Menschen können einem mehr Mühe (allerdings auch mehr Freude) machen, wenn man sich mit ihnen über den abstrakten Rahmen der Meditation hinaus beschäftigt. Es gibt eine ganze Gattung von Geschichten über Mönche oder Einsiedler, die nach Jahren der Meditation wieder in die Welt der Menschen zurückkehrten und gerade in der „Gewöhnlichkeit" des Lebens mit anderen ihre tiefste Erfüllung fanden.
-96-
12 Konzentration
Dies selige Empfinden… bei dem die Last der Weltenfragen, die Bürde, die wir mühsam tragen, weil diese Welt ein Rätsel ist, uns leicht wird: dies heiterselige Empfinden, bei dem des Herzens Regungen uns sachte führen, bis der Atem unsres schweren Leibes und auch der Fluss des Bluts in unsern Adern fast stehen bleibt und wir dem Leib nach schlummern, jedoch lebendig mit der Seele werden: Dann weitet unser Auge sich kraft einer Harmonie, die uns mit Freude überschwemmt und ins lebend'ge Herz der Dinge blicken lässt. Wordsworth, „Tintern Abbey" Ich denk', die Hoffnung ist vergeblich, vom Äußern zu gewinnen. Die Leidenschaft des Lebens, dessen Quellen innen sprudeln. S. T. Coleridge, „Dejection, an Ode" Es gibt alle möglichen Situationen, in denen wir uns unbedingt konzentrieren müssen. Meist konzentrieren wir uns jedoch so, dass wir Teile unserer selbst - oft unseren Körper und unsere Emotionen - von der Wahrnehmung ausschließen, um die anstehende Aufgabe zu erfüllen. Auf diese Weise werden unsere Energien aufgespaltet: Teile unserer selbst sind anderswo und machen sich nur in Form von Hindernissen bemerkbar, was dazu führt, dass wir mehr oder weniger unbewusst einen Konflikt empfinden. Doch bei der Meditation heißen wir diese Teile unserer selbst, die Konflikte verursachen, in unserer Wahrnehmung willkommen, mit dem Ergebnis, dass wir -97-
schließlich tatsächlich ganz konzentriert und im Einklang mit uns selbst sind. Diese harmonische Daseinsverfassung haben wir selbst geschaffen. Wir versuchen nicht länger, unsere Befriedigung aus der Welt zu beziehen und sind nicht mehr auf die „Steckdose" der sinnlich wahrnehmbaren Erfahrungen angewiesen, sondern jetzt haben wir unseren eigenen Generator. Das führt dazu, dass wir eine große Freude erfahren. Wenn Sie sich zum Meditieren hinsetzen, so halten Sie Ausschau nach der Freude, die sich daraus ergibt, dass Sie das, was Sie tun, ganz klar sehen und daran intensiv interessiert sind. Es kann sein, dass Sie einen Widerstand dagegen empfinden, ein leichtes Gefühl, sich zurückziehen und abhängen zu wollen, oder im Gegenteil ein Gefühl, danach zu greifen und über das Ziel hinauszuschießen. Das ist eine Art Ablenkung, die auf einer neuen, subtileren Ebene wirkt. Wenn man sich auf einen Prozess einlässt, der einen über die Umlaufbahn um das eigene kleine Selbst mit seinen Ängsten und Eitelkeiten hinausführt, steigt in einem ganz natürlich die Angst hoch, zu viel Energie zu verlieren, und es regt sich der ebenso natürliche Wunsch, die ganze Erfahrung fest im Griff zu behalten. Eine Deutung dieser Art von subtilem innerem Widerstand wird in der buddhistischen Mythologie in die Geschichte von Mara gekleidet, dem Herrscher der vordergründigirdischen Welt. Maras Töchter versuc hten den Buddha von jener Meditation abzulenken, die in seiner Erleuchtung gipfelte, und Maras Söhne sollen den Buddha angegriffen haben, um sein Erleuchtetwerden zu verhindern (ihre Wurfgeschosse verwandelten sich in Blumen). Mara empfindet also jedes Anzeichen dafür, dass jemand sich anschickt, seinen Bereich zu verlassen (was man in der Meditation tut), als sehr bedrohlich und stellt dem Betreffenden deshalb Hindernisse in den Weg, damit er nicht entrinnen kann. Von daher lassen sich Ablenkungen als Anze ichen dafür deuten, dass man weit genug gekommen ist, um Mara zu alarmieren. Aber Mara verfügt über -98-
keine wirkliche Macht: Es genügt schon, seine Anwesenheit wahrzunehmen und ihn als den zu erkennen, der er ist, um ihn zu entmachten. Man kann das, was da geschieht, auch so sehen: Der Raum, den Sie mit Ihrem Stillsitzen schaffen, neigt dazu, sich wie eine Art Vakuum zu verhalten und alle nur erdenklichen unter der Oberfläche lauernden zweifelhaften Geistesverfassungen anzuziehen. Gibt man sich jedoch anhaltend Mühe, so ist es, als gleiche sich der Druck nach und nach aus; Ihr Geist beginnt dann den offenen Raum Ihrer Meditation als seine ganz natürliche Umwelt zu bewohnen, in der er sich frei bewegen kann. Sofern es Ihnen gelingt, ein Gefühl der Genügsamkeit und der Begeisterung aufrechtzuerhalten, werden Sie ab einem bestimmten Punkt merken, dass Sie jedes Gefühl des Abgelenktseins oder Widerstands hinter sich gelassen haben. Sie beginnen die natürlichen Früchte des Umstands, glücklich, erfüllt, zufrieden und frei von inneren Konflikten zu sein, zu ernten. Was bleibt, ist, dass Sie weiterhin die Bedingungen für eine tiefere Konzentration aufrechterhalten müssen. Sie lenken dann weiterhin Ihre Aufmerksamkeit konsequent auf das, was Sie tatsächlich vor sich haben, statt auf das, was Sie gern vor sich hätten. Aber Sie werden sehr still. Es ist, als durchtränke die Stille ihren gesamten Körper und Geist, bis Ihr ganzes Wesen randvoll von Ruhe ist. Wenn dieser Friede in Freude umschlägt, kann es sein, dass Sie ihn am liebsten festhalten möchten oder ängstlich werden, und dann rutschen Sie eventuell aus der Konzentration heraus. Wenn das passiert, brauchen Sie nur zu lächeln und wieder neu anzufangen. Früher oder später empfinden Sie wahrscheinlich, dass Sie ein deutlich fühlbares und doch ganz subtiles Gefühl von Freude durchströmt, das Körper und Geist mit ungemeiner Frische und Klarheit erfüllt. Wenn Sie einen sanften, aber völlig kontinuierlichen Kontakt mit dem Gegenstand Ihrer Konzentration aufrechterhalten, wird dieser -99-
Konzentrationspunkt in den hellen Schein einer warmen und klaren Bewusstheit Ihrer Gedanken und Gefühle getaucht. Emotionale Knoten, auf die Sie vielleicht noch stoßen, verfügen nicht mehr über die Kraft, Sie abzulenken. Ihre Gedanken sind gefügig und reaktionsschnell und Sie können sie lenken, ohne dadurch Widerstand oder Ablenkung oder Apathie hervorzurufen. Ihre Überlegungen verfügen über eine eigenartige emotionale Wärme und Leuchtkraft, fast so, als seien sie von Samt umhüllt. Oder Sie werden wie ein Adler: vollkommen konzentriert, wachsam, jedoch zugleich wohltuend auf Strömungen emotionaler Wärme dahingleitend. Dieser Geisteszustand ist die erste Stufe der Konzentration, der erste von vier „dhyanas", wie sie genannt werden. Zunächst kann es überraschend wirken, dass ein derartiger Geisteszustand frei verfügbar ist, sobald man seine emotionale Energie zu beherrschen gelernt hat, statt in ihr festzustecken. Wenn Sie jedoch erst einmal diesen dhyana-Zustand erfahren haben, fangen Sie an, sich sowo hl im Alltagsleben wie in der Meditation mit verschärfter Sensibilität mit der Frage zu beschäftigen, wie Sie dieses Freiwerden Ihrer mentalen Zustände weiter kultivieren können. Ein entscheidender Faktor bei der Entwicklung der meditativen Konzentration ist die Freude. Wenn sich die Konzentration vertieft, entwickelt sich die Qualität des positiven Gefühls weiter und wird verfeinert, bleibt jedoch immer bestehen: Konzentration und Freude, ja sogar Glücksgefühl, steigern sich wechselseitig. Im zweiten dhyana überkommen Sie Entzücken und ekstatische Gefühle; Sie nehmen subtile Körpererfahrungen als gewaltige Energiebewegungen wahr, besonders, wenn sich emotionale Blockierungen lösen. Dann brauchen Sie vielleicht gar nicht länger die Unterstützung durch die Meditationstechnik; Sie richten einfach Ihre Aufmerksamkeit intensiv auf bestimmte Qualitäten oder Tendenzen in Ihrer Erfahrung, und vor allem achten Sie ganz genau auf jedes wohltuende Gefühl in Ihrem -100-
Körper. Nach und nach werden Sie von diesem Aufwallen ekstatischer Empfindungen - Erfahrungen eines prickelnden und intensiven, aber subtilen Vibrierens - derart erfasst, ja geradezu getragen, dass Sie damit aufhören, weiter über Ihre Erfahrung zu reflektieren. Sie leben einfach in der Bewusstheit dessen, was geschieht, aber Ihre Erfahrung ereignet sich nicht auf einer alltäglichen, begrifflichen Ebene; sie ist eher von visionärer Natur. Sie mögen nicht buchstäblich Visionen erleben, himmlische Musik oder göttliche Botschaften vernehmen, aber das ist die Ebene, auf der sich solche Erfahrungen einstellen können. Vielleicht erfahren Sie Temperaturschwankungen und was häufiger auftritt - Ihr Körper fängt zu zittern und zu frösteln an. Dann kommt es darauf an, diese Energie zu erhalten und so still wie möglich sitzen zu bleiben, ohne die Energie zu unterdrücken. Wenn Sie es zugelassen haben, dass dieses ekstatische Empfinden Sie ganz erfasst und Sie das Glücksgefühl dieses Erfülltseins erfahren haben, kann sich der dritte dhyana einstellen. Dabei spüren Sie, wie das ekstatische Gefühl sich legt und einem tieferen, rein mentalen Glücksgefühl Raum gibt. Es ist, als habe dieses Glücksgefühl verborgen im ekstatischen Zustand gesteckt, so wie alle Freuden der dhyanas im chaotischen Alltagsgeist stecken. Damit soll einfach gesagt sein, dass wir alle über dieses verborgene Potenzial verfügen und die Aufgabe der Meditation darin besteht, es freizulegen. Im dritten dhyana machen Sie kaum mehr die Erfahrung, in irgendeiner Weise vom übrigen Leben abgetrennt zu sein. Sie sind in Ihrem Inneren integriert und mit einer größeren Wirklichkeit verbunden. Wenn sich dieser intensive Zustand weiter vertieft, wird das Gefühl immer noch weiter verfeinert, bis Sie absolut still sind. Das ist der vierte dhyana, der einen über alle die Kategorien hinausführt, in denen man üblicherweise die Welt erfährt (wie -101-
etwa die von „Geist" und „Materie"). Daher entwickeln sich aus diesem höchsten Zustand der Integration des Menschen die übernormalen Kräfte. Die höheren dhyanas (es gibt nämlich über den vierten hinaus noch etliche weitere) stellen in der Tat äußerst seltene Bewusstseinszustände dar. Aber der erste dhyana ist relativ leicht zu erreichen; ja, man muss nicht einmal die Sitzmeditation üben, um ihn zu erfahren. Auch noch die Erfahrung des zweiten dhyana kommt manchmal sogar bei Menschen vor, die sich nie ausdrücklich mit Meditation befasst haben, namentlich in Verbindung mit den schönen Künsten. Das Sich-Zuwenden in höchster Achtsamkeit und innerster Klarheit ist im Reagieren auf Musik, Kunst usw. einfacher als sonst, und es ist eine Möglichkeit, diesen dhyana herbeizuführen.
-102-
13 Die Einsichts-Meditation
Von minderen Freuden zieht der Geist zurück sich in sein wahres Glück, der Geist - ein Meer, das jedem seiner Art gemäß genau das schenkt, was ihm entspricht, doch zugleich überschreitet er all dies, erschafft ganz andre Welten, Meere, vernichtet das Geschaffene, und schließlich bleibt ein grüner Gedanke nur in einem grünen Schatten. Andrew Marvell, „The Garden" Wer nicht das Unerwartete erwartet, wird ihm nie begegnen. Heraklit Die Meditation ist ein Mittel zur Entfaltung unserer natürlichen Fähigkeit zu Freude und Liebe. Aber wie weit kann sie uns tragen? Wovon hängt diese unsere Fähigkeit ab? Was geschieht, wenn unsere Welt auseinander fällt, wenn uns nahe stehende Menschen unverhofft sterben, wenn wir alt oder hilflos werden und darauf noch gar nicht gefasst sind? Was erwartet uns außerhalb unserer Freude und Liebe? Was fangen wir mit den Aspekten unserer Erfahrung an, die von der Freude und Liebe nicht erfasst werden: Angst und Trauer, Wut und Erniedrigung? Die verfeinerten, positiven Geisteszustände, wie wir sie bei der Meditation entwickeln, sind kein Ziel in sich. Unsere neu erlangte Gelassenheit muss sich in der Begegnung mit den tatsächlichen Gegebenheiten des Lebens bewähren. Vor etlichen dieser Gegebenheiten fürchten wir uns beträchtlich; in unserem Leben geht es ein gutes Stück weit darum, sie zu vermeiden. Aber nach Ansicht des Buddhismus leiden wir nicht deshalb, weil wir diese Aspekte des Lebens -103-
nicht vermeiden können, sondern weil wir mit unserem ganzen Wesen verbissen versuchen, sie zu vermeiden, also versuchen, uns Erfahrungen zu ersparen, die letztlich unvermeidlich sind. Letztlich haben wir nichts unter Kontrolle. Dem Buddhismus geht es grundsätzlich darum, mittels der Praxis von Ethik und Meditation die Selbstschutz-Gewohnheiten des Geistes aufzulösen, diese im Lauf der Evolution erworbenen wunderbaren Anpassungsmechanismen des Geistes, die wir alle aus Jahrmillionen des Versuchs, unsere Umwelt in den Griff zu bekommen, geerbt haben. Dabei geht es um das Anliegen, etwas auftauchen oder erwachen zu lassen, das nicht Teil dieses Kontrollmechanismus für unsere Erfahrung ist, den wir als das Selbst bezeichnen. Dieses Etwas wird als vipassana, Einsicht, oder auch als transzendente Einsicht bezeichnet; „transzendent" deshalb, weil sie unsere bislang beschränkte Sichtweise überschreitet. Das ist der erwachende Geist oder große Geist. Wenn er auftaucht, identifiziert man sich nicht mehr vollständig mit dem Selbst und lässt sich nicht mehr von seinem unvermeidlichen Verfall schrecken, und man wird frei von dem Zwang, ständig alle seine unmöglichen Wünsche erfüllen zu müssen. Damit fällt eine ungeheure Last weg. Das klingt großartig, aber jeder, der auch nur einen Schimmer vom Erwachen bekommt, ehe er dafür bereit ist, wird bestätigen, dass es im Grunde unerträglich ist. Und in gewisser Hinsicht gilt das Umgekehrte genauso: Was unerträglich ist, ist von der gleichen Natur wie das Erwachen. Die Einsicht ist die Natur der Wirklichkeit, wenn sie unmittelbar in die Welt unserer bequemen Illusionen einbricht. So tritt die Natur der Wirklichkeit in jeder Erfahrung des Scheiterns, des Verlusts oder der Erniedrigung auf den Plan. Sie ist immer dann am Werk, wenn unser Ich schmerzlich aufgebrochen wird und macht sich überall dort bemerkbar, wo wir uns bloßgestellt, falsch verstanden oder von Trauer gequält fühlen. Ein Herzensanliegen scheitert, ein geliebter Mensch lässt -104-
einen im Stich, ein Brief bringt eine schreckliche Nachricht: Immer schüttelt uns dabei der kalte Schock der Wirklichkeit ein Zeit lang durch, damit wir wirklicher werden. Oder, was wir sogar noch schwerer verkraften können: Zuweilen erschüttert uns auch die Schönheit oder Freude oder Liebe bis ins innerste Mark; sie kann uns auf eine Weise ergreifen, die wir als körperlich schmerzhaft empfinden. Man könnte auch sagen, dass in jenem eigenartigen Gefühl des Freiwerdens und Glücks, das sich gelegentlich im Zusammenhang mit einem schmerzlichen Verlust einstellt, ein Element der Einsicht stecken kann. Die Reiseschriftstellerin Freya Stark schreibt in ihrer Autobiografie: „Das Winken zählt, nicht das Zufallen eines Schlosses hinter dir." Wenn jemand, der Teil unseres Lebens ist, stirbt, haben wir das Gefühl, als werde uns eine tiefe Wurzel abgerissen. Diese Erfahrung ist es, die die meisten von uns am nächsten an die echte Einsicht heranbringt. Wenn man Zeuge eines Sterbens wird, erfährt man hautnah, wie beschränkt und hinfällig das Menschsein ist. Der Tod ist etwas sehr Normales. Er ist ein ziemlich eintöniges Geschäft, bei dem es eine ganze Menge praktischer Einzelheiten zu besorgen gilt. Die Uhren halten nicht an - das Leben geht weiter. In gewisser Hinsicht treffen bei der Einsicht genau diese beiden Dinge aufeinander: das ganz gewöhnliche Leben und der ganz gewöhnliche Tod - denn ein wesentliches Merkmal unseres illusionären Daseins ist, dass wir den Tod aus unserer Lebenserfahrung ausklammern. Genau besehen werden wir tagtäglich von Einsichten angesprochen, aber wir hören nicht auf sie, weil sie uns in Frage stellen und voller Konsequenzen dafür stecken, wie wir eigentlich leben sollten. Eine Einsicht ist ihrem Wesen nach eine Anerkenntnis; wir geben dabei irgendeine Wahrheit zu. Sie hört in dem Moment auf, eine Einsicht zu sein, in dem wir eine Möglichkeit finden, diese Anerkenntnis von der Art, wie wir unser Leben gestalten, abzuspalten. Um ein einfaches Beispiel -105-
zu nehmen: Wir mögen ganz klar sehen, dass industrielle Massenschlachtungen von Tieren nur um unserer Gaumenlust willen nicht gerechtfertigt sind, aber trotzdem können wir nicht auf unser regelmäßiges Schinkenbrötchen verzichten, denn Sehen ist nicht das Gleiche wie Einsicht. Genauso wird die Erfahrung, einen uns nahe stehenden Menschen sterben zu sehen, nur in dem Maß zur Einsicht, in dem sie unsere bisherige Lebensart verändert. Die Einsicht oder Wahrnehmung mag uns nicht unmittelbar während der Erfahrung selbst kommen; wahrscheinlich dämmert sie uns später auf. In diesem Sinn hat Wordsworth von der Dichtkunst gesagt, sie steige „aus der in der Stille gesammelten Emotion" auf. Meditation als Integrationsprozess ist für die Einsicht deshalb wichtig, weil sie unsere normale Gewohnheit, unsere Erfahrungen zu verarbeiten, durchbricht. Normalerweise lernen wir auf die Art, dass wir pausenlos Informationen abspeichern, so als wäre unser Geist ein riesiges Archiv. Die Fähigkeit, auf diese Weise unsere Erfahrungen in bestimmte Ordner aufteilen und ablegen zu können, ist zweifellos äußerst nützlich (und vielleicht bei Männern besonders ausgeprägt): Sie ermöglicht es uns, vieles halbbewusst zu tun und damit vieles, von dem wir gar nicht das Gefühl haben, dass wir es tun; aber sie macht es auch besonders schwer, dass sich in unserem Wesen etwas grundlegend verändert. Ein Grund dafür, dass Bücher, die versprechen, man werde nach ihrer Lektüre „sein Leben ändern", im Allgemeinen folgenlos bleiben, ist, dass unsere unbewusste Reaktion auf sie darin besteht, sie in einem separaten neuen Ordner mit dem Etikett „lebensverändernde Erfahrungen" abzuspeichern. Die buddhistische Meditation ersetzt diesen Ordner Schritt für Schritt durch eine lebendige Beziehung zu unserer Erfahrung. Das „Haben von Erfahrungen" wird zum ständigen Neugestalten der Beziehung zw ischen dem Selbst und der Welt. Solange wir darauf eingestellt sind, Erfahrungen nur zu konsumieren, lassen -106-
wir alle Erfahrungen nur in Form von Informationen an uns heran, die wir unverzüglich abspeichern und abschließen können. Etwas wirklich lebendig erfahren kann man nur dann, wenn man von ihm verändert wird oder genauer: wenn man, während man ihm begegnet, von ihm verändert wird. Metta oder Mitgefühl zu erfahren bedeutet, genau herauszuhören, was das, was uns begegnet, uns über unsere Lebensart sagt. Ursprünglich überwand der Mensch seine Angst vor der Welt, indem er sie erkundete und den Dingen Namen gab; aber dank dieser Erkundung und des dadurch erworbenen Wissens halten wir uns jetzt die Welt vom Leib und betrachten sie aus sicherem Abstand. Wir beschwichtigen unsere Angst dank unseres Wissens, wie man sich sicher durch die Welt bewegt und was sich alles in ihr abspielt, aber zugleich nähren wir diese Angst auch, denn unterschwellig plagt uns zunehmend das Unbehagen, gar nicht zu wissen, was nun eigentlich wirklich in der Welt vor sich geht. Bei der Meditation fangen wir an zu merken, was wir alles nicht wissen, denn wir machen dabei unsere Erfahrungen bewusst, statt sie unbewusst abzuspeichern, und damit eröffnen wir uns allmählich den Zugang zu einem tieferen Wissen. Die Metta Bhavana und die Achtsamkeit auf den Atem schaffen in uns die Voraussetzung dafür, dass die Einsicht aufdämmern kann. Sie tun das dadurch, dass sie still und stetig unsere fixen Vorstellungen und starren emotionalen Haltungen unterhöhlen, damit wir schließlich aushalten und akzeptieren können, dass unsere bisherige Wirklichkeitserfahrung endgültig in Trümmer geht und dann nicht am Boden zerstört sind. Jegliche Meditation kann uns bestimmte radikale Einsichten eröffnen; sie kann sogar, falls wir diesen Einsichten ein Stück Reflexion hinzufügen, die Möglichkeit zur transzendenten Einsicht enthalten. So kann man etwa die Unbeständigkeit schon allein dadurch wahrnehmen, dass man seinen Atem kommen und gehen sieht. Doch es gibt eine ga nz spezifische Form der buddhistischen -107-
Meditation, die so genannte „Einsichts-Meditation", bei der es ganz ausdrücklich um die Kontemplation oder Hinterfragung der Wirklichkeit geht. Sie wird in allen möglichen Formen dargeboten; manche sind ganz einfach, andere eher merkwürdig oder wunderbar. Der Grundansatz dabei ist immer, dass man etwas intensiv betrachtet - sei es denkerischer, sinnenhafter oder symbolischer Natur - und dazu verwendet, die Einsicht auszulösen. Man kann zum Beispiel die Wirklichkeit in Form eines symbolischen visuellen Bildes anschauen und dazu ein Mantra verwenden. Oder man kann in seinem Geist ein ZenKoan bewegen, eine Art Frage, auf die es keine rationale Antwort gibt. Oder man kann minuziös seine mentalen Zustände analysieren und beobachten, wie sie in Abhängigkeit voneinander entstehen und wie keiner von ihnen über ein unabhängiges Dasein verfügt. Die Praxis der Einsicht beginnt mit dem unablässigen Reflektieren der grundlegendsten existenziellen Fragen. Man führt diese Reflexionen fort, bis sie nach und nach die gesamte eigene Erfahrung des Lebens mit ihrer Farbe oder ihrem Geschmack zu prägen beginnen. Dann beschaut man in der Kontemplation dieses sich entwickelnde Feingespür dafür, wie die Dinge sind und bringt in diese Kontemplation alle die Qualitäten ein, die man im Lauf seiner Meditationspraxis entwickelt hat: einen voll integrierten Geist, der stetig und weit offen ist und sich von keinerlei Unbehagen des Geistes oder Körpers beeinträchtigen lässt. Das alles bereitet uns auf die Einsicht vor, die man jedoch nicht willentlich herbeiführen kann. Das Wort „Buddha" bedeutet „der Erwachte". Der träumende Geist kann aber nur träumen; erst der erwachende Geist erwacht. Letzten Endes erwachen wir für die Wirklichkeit nicht dadurch, dass wir uns selbst sagen, was wirklich ist oder wie die Wirklichkeit funktioniert, sondern indem wir wirklicher werden. Wir müssen über das Pflegen von Vorstellungen über die Wirklichkeit - im -108-
naturwissenschaftlichen, philosophischen oder religiösen Sinn hinaus bereit werden, dieser Wirklichkeit in jedem Augenblick unmittelbar zu begegnen, nicht nur in der Meditation, sondern auch außerhalb davon. Dazu befähigen wir uns mittels der Beständigkeit und der wohlwollenden Haltung unserer Achtsamkeit, wobei wir darum bemüht sind, keinen Bereich unseres Lebens aus der Meditationsübung auszuklammern und auch nicht zuzulassen, dass unsere Übung zu einer Art Schutzzaun gegen andere Bereiche unseres Lebens wird. Wir bereiten den Grund, indem wir uns selbst immer wieder aus dem Abdriften ins Tagträumen zurückholen und klarer und aufmerksamer durchschauen, auf welch unachtsame Weise wir gewöhnlich durch die Welt gehen. Beim kontemplativen Anschauen der Welt geht es darum, sein Denken heimzubringen ins Herz. Über den Versuch hinaus, kontinuierlicher achtsam zu sein, heißen wir alles, was sich unserer Aufmerksamkeit darbietet, als Einführung in einen bestimmten Aspekt der Wirklichkeit willkommen. So ist zum Beispiel die nichtdualistische Erfahrung eine wesentliche Voraussetzung für die Einsicht, aber man erreicht sie nicht, indem man sich lebhaft den Nicht-Dualismus vorstellt. Man bereitet sich darauf vor, indem man sorgfältiger die offensichtliche Dualität der eigenen Art, die Dinge anzuschauen, ins Auge fasst und sich dabei der Trennungslinien bewusst wird, die man immer wieder zwischen sich selbst (oder den verschiedenen Familien- oder Stammesgruppen, mit denen man sich identifiziert) und denjenigen zieht, die außerhalb dieses ständig sich verschiebenden magischen Kreises liegen. Man kann versuchen, sich deutlich vor Augen zu führen, wie alles zerfällt und stirbt, und man kann auch zu beobachten versuchen, wie man selbst zerfällt und stirbt; aber sogar wenn man sich auf diese Weise beobachtet, wahrt das Selbst in seiner Beobachterrolle weiterhin seine Sicherheit.. Das Einzige, was wir tun können, ist, uns selbst zuzuschauen, wie wir vergeblich -109-
versuchen, aus Häusern, Jobs, Beziehungen und allem möglichen anderem etwas Dauerhaftes zu schaffen. Indem wir geduldig immer wieder unsere ständigen Versuche durchschauen, die unwillkommene Tatsache, dass wir selbst sterblich sind, mit einem Teppich von Abstraktionen zuzudecken, beginnen wir immer hautnäher an die Wirklichkeit heranzukommen, noch ehe wir kurz einen direkten Blick auf sie erhaschen. Was wir bei dieser Art Kontemplation genauer in Augenschein nehmen, ist die Art, wie wir mit der Welt erfahrend und reagierend umgehen. Wenn man sagt, man übe sich in der „Kontemplation der Wirklichkeit", klingt das ziemlich großartig, aber es geht nur darum, genauer zu klären, was wir für die gewöhnliche Wirklichkeit halten. Man könnte dabei das Bedingtsein genauer in Augenschein nehmen - also den Umstand, wie alles in Abhängigkeit von bestimmten Bedingungen entsteht und nicht isoliert für sic h existiert, aber es geht bei dieser Übung nicht darum, ein theoretisches Verständnis dieses Prozesses zu gewinnen, sondern wahrzunehmen, wie er in uns selbst hier und jetzt stattfindet und alles, an dem sich der Geist festzumachen versucht, immer wieder mit sich reißt. Wenn wir ganz für uns sind und nichts zu tun haben, geben wir uns unwillkürlich Tagträumen und Ablenkungen hin. Aber es gäbe etwas viel Interessanteres zu tun. Man könnte diese Zeit dafür nutzen, bestimmte Inhalte in seinem Geist von allen Seiten anzuschauen und die Unterstellungen und Begriffe, von denen die eigene Lebensart bestimmt ist, in Frage zu stellen. Woran glaube ich wirklich? Was ist mir eine Herzensangelegenheit? Wo finde ich meine Freude? Auf diese Weise gräbt man dann wie ein Gärtner seinen Geist um, lockert den Boden und fördert dessen Fruchtbarkeit. Die Lehren des Buddhismus sind weniger dazu angetan, Antworten zu geben, als vielmehr, die Werkzeuge und das Licht -110-
zu liefern, womit wir uns in immer tiefere Schichten vorwagen können. Auf diese Weise hilft uns die meditative Konzentration, unsere Reflexionen immer weiter voranzutreiben, indem wir unsere Begrifflichkeit verfeinern. Um ein einfaches Beispiel zu bringen: In der Metta Bhavana fängt man vielleicht damit an, dass man sagt: „Möge es ihr wohl ergehen", aber die Worte sollten nach und nach immer leiser werden, bis man sie sozusagen nur noch so spricht, dass sie gar nicht mehr durch das eigene Bewusstsein ziehen. Auf ganz ähnliche Weise vollzieht sich der Durchbruch zur Einsicht, wenn das Denken derart subtil und verfeinert ist, dass das Begreifen sachte in die Einsicht übergeht, ähnlich wie das Denken an etwas davon abgelöst werden kann, dass man es einfach sieht. Das ist ganz analog zu der Art, wie Ihr Bewusstsein des Atems zu verschwinden scheint, sofern Sie sich tatsächlich voll und ganz auf ihn konzentrieren können. Die wesentliche Voraussetzung für die Einsichts-Übung ist die Fähigkeit, sich konzentrieren zu können. Wollte man die Einsicht ohne Konzentration entwickeln, so wäre das, wie wenn man eine Kerze in einem stark zugigen Raum am Brennen halten wollte. Im dhyana ist die Erkenntnistätigkeit stärker verfeinert als bei unserem Alltagserkennen; sie ist durchdringender, intuitiver, positiver, flexibler und achtsamer. Diese Qualitäten werden noch weiter verstärkt, wenn sie vom Aroma der Erfahrung der höheren dhyanas gewürzt werden. Aber nicht in den höheren dhyanas vollzieht sich die eigentliche Einsicht, sondern die Einsichtsmeditation wird am wirksamsten auf der Ebene des ersten dhyana geübt, wo man noch durch begriffliches Denken mit seiner Alltagserfahrung verbunden ist (die in den höheren dhyanas zurücktritt), oder in der „Zugangskonzentration", das heißt in jenem konzentrierten Zustand, der dem Anbruch des ersten dhyana vorausgeht. Das ursprüngliche Problem des Buddha war das folgende: Mochte er in der Meditation auch noch so tief seine eigene -111-
Natur erfahren, so fand er doch beim Heraustreten aus diesen himmlischen Bereichen des dhyana, dass sich die Realität seiner Natur nicht von der Realität anderer trennen ließ, sondern dass sie in der Welt außerhalb des Nährbodens seiner Meditationsübung konstruiert war. Er entdeckte, dass sich die Realität nicht innerhalb der von allem anderen abgetrennten Selbsterfahrung finden ließ, so verfeinert oder gottgleich diese auch sein mochte. Um die Einsicht zu erlangen, muss der voll integrierte Geist diese gottgleiche Selbst-Genügsamkeit aufgeben. (Aus buddhistischer Sicht ließe sich vielleicht der christliche Mythos von Gott, der sich im menschlichen Bereich als der Christus inkarniert, als Symbol für diesen unerlässlichen Prozess deuten.) Der Buddha legte seine Übung der Achtsamkeit gezielt so an, dass der konzentrierte Geist sich kritisch auf die Welt einlassen und das Gewebe ihrer Illusionen und Leiden zerreißen kann. Die andere wesentliche Voraussetzung für die Einsicht ist die Zuversicht. Man braucht sie, um ohne jegliche Erwartung oder Hoffnung warten zu können, denn, wie T. S. Eliot sagte, Hoffnung wäre eine Hoffnung auf das Falsche. Die Zuversicht unterstellt, dass sich die Einsicht uns offenbaren wird. Sie hilft einem beim Warten, wie man darauf wartet, bis einem ein seltener Vogel vor den Augen vorbeischwirrt. Wenn man zum Beispiel beschlossen hat, eine buddhistische Lehre wie die von den Vier Edlen Wahrheiten2 anzuschauen, hört man damit auf, sie verstehen zu wollen und vertieft stattdessen einfach seine Empfänglichkeit für sie. Die Realität lässt sich nicht mit Hilfe irgendwelcher Kategorien erfassen, aber da wir 2
Diese vier Kernsätze des Buddhismus lauten: l. Was geboren ist, ist dem Leiden unterworfen. 2. Leiden hat seine Ursache im Begehren. 3. Das Ausmerzen des Begehren führt zur Aufhebung des Leidens, zur Unterbrechung der Kette der Wiedergeburten. 4. Ein Weg, der Edle Achtfache Pfad, führt zur Aufhebung des Leidens, und man erlangt das Heilsziel „Nirwana" (d.U.). -112-
gewohnheitsmäßig alles kategorisierend verstehen, bleiben wir unfähig, irgendeinen weiteren Schritt auf die Wirklichkeit zuzugehen oder sie auch nur an uns heranzulassen. Stattdessen können wir einen sich ständig weiter aufbauenden Druck wahrnehmen, wenn durch unsere nach und nach klarer werdende Sicht auf die Realität unsere tiefe und deshalb äußerst verletzliche emotionale Verwurzelung in der Art, wie wir gewöhnlich die Dinge sehen, in Frage gestellt wird. Dieser dürre Schrei - er stammte von einem Choristen, dessen C dem Chor vorausgriff, war Teil der kolossalen Sonne, umgeben von ihren Sphärenklängen, noch ganz weit fort. Vergleichbar einem neuen Wissen, was denn wirklich sei. Wallace Stevens, „Not ideas about the thing but the thing itself" Wenn die transzendente Einsicht aufbricht, ist das nicht so, als ob einem eine neue Idee einfiele oder auch nur eine gewöhnliche Einsicht käme. Die transzendente Einsicht scheint nicht aus dem eigenen Inneren heraus zu kommen, sondern von außerhalb. Sie ist nicht etwas, das der eigene Geist einholt. Sie ist kein Begriff und auch keine Emotion, aber auch nicht unbedingt ein blendender Blitz oder eine Damaskuserfahrung. Eine visionäre Erfahrung kann ein Element der Einsicht enthalten oder auch nicht. Ein tiefes Empfinden von Zuversicht, Freude oder sogar Angst kann den Duft transzendenter Einsicht an sich haben, muss es aber nicht. Diese Einsicht macht sich vielleicht am ehesten einfach als ein subtiles, jedoch ungemein starkes Empfinden bemerkbar, dass im eigenen Wesen eine grundlegende und unerklärliche Verlagerung stattgefunden hat. Wir schützen uns und unser Empfinden, selbst im Mittelpunkt zu stehen, indem wir die Welt lesen statt zu leben und indem wir uns an die Idee eines Gegenstands klammern, statt den -113-
Gegenstand selbst unmittelbar zu erfahren. Einen anderen Menschen wirklich zu sehen, stellt eine ungeheure Bedrohung unserer eigenen Mittelpunktsstellung dar. Wenn man hinausgeht, um der Welt direkt zu begegnen und sich auf sie einzulassen, statt nur auf dem Weg über die eigene n Ideen oder Vorurteile oder die eigene Religion, hat man absolut nichts Sicheres mehr in der Hand. Genau das ist das offene Herz der buddhistischen Meditation. Es ist ein weises und glückliches Herz.
-114-
Dank
Herzlich möchte ich mich bei meinen Meditationslehrern Kamalashila und Vajradaka bedanken sowie bei meinem unermüdlichen Lektor Vidyadevi, der meine unzusammenhängenden Notizen in die Form eines Buches gebracht hat. Bedanken möchte ich mich ferner auch bei allen, die mich ermutigt und unterstützt und mir wertvolle Ratschläge und kritische Anmerkungen geliefert haben: Jan Parker, Nagabodhi, Kulananda, Claudia Campos, Kamalashila und Vessantara sowie bei Dharmashura, Shantavira, Sara Hagel und Padmavajri für die Beharrlichkeit, mit der sie mich zum Schreiben dieses Buches motiviert haben. Danken möchte ich schließlich auch all jenen, die ich im Lauf vieler Jahre in die Meditation einführen durfte und die mich immer wieder angeregt haben, mich ihr dabei immer neu anzunähern.
-115-
Weiterführende Literatur
Kamalashila: Meditation. Der buddhistische Weg zu Glück und Erkenntnis, Essen (Do Evolution) 1997 (ein klarer, gut verständlicher Leitfaden zu den grundlegenden Prinzipien der buddhistischen Meditation). Ayya Khema, Die Ewigkeit ist jetzt: Buddhas Lehre lebensnah erfahren und inneren Frieden finden, Bern/München Wien (O. W Barth) 1998 (wenige gute Schriftsteller über den Buddhismus reichen an die Tiefe der spirituellen Erfahrung dieser deutschen Nonne in der Theravada-Tradition heran). Sangharakshita: The Taste of Freedom, Birmingham (Windhorse) 1997 (radikale Einsichten in die Grundlagen buddhistischer Übung; das Buch liegt nur in englischer Sprache vor). Sangharakshita: Who Is the Buddha? Glasgow (Windhorse) 1994 (nur in englischer Sprache). Sangharakshita: What Is the Dharma? Birmingham (Windhorse) 1998 (ein weiteres Buch vom Lehrer des Autors; nur in englischer Sprache). Sangharakshita: Einführung in den tibetischen Buddhismus, Freiburg/Basel/Wien (Herder Spektrum 4731) 2000. -116-
Shunryu Suzuki: Zen-Geist Anfänger-Geist, Berlin (Theseus), 10. Aufl. 2001 (profunde Ausführungen über die Meditation im Soto-Zen). Rinpoche, Sogyul, Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben, München (O.W. Barth/Scherz) 1993 (eine großartige Darstellung, wie ein herausragender Lehrer den tibetischen Zugang zum Tod versteht und deutet).
Informationen zu buddhistischen Retreat-Zentren in Deutschland und anderen europäischen Ländern sowie zu Veranstaltungen sind erhältlich unter folgender Adresse: Buddhistisches Zentrum Essen Herkulesstr. 13a D-45127 Essen Tel.: 0201/230 155 E-Mail:
[email protected]
-117-