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G.F. UNGER Ein Begriff für Western-Kenner G. F. UNGER ist der erfolgreichste WesternSchriftsteller deutscher Sprache. BASTEILÜBBE veröffentlicht in dieser Reihe exklusiv seine großen Taschenbuch-Bestseller.
Der Wolf von Golden City Die Gier nach Beute machte George Prouster, den ungekrönten König der Goldgräberstadt Golden City, blind. Und als er sein Wolfsrudel auf Ty Cane hetzte, sah er nicht, dass sie gegen den gefährlichen Einzelgänger keine Chance hatten …
BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH
Band 43 383
1. Auflage: Oktober 2002 Vollständige Taschenbuchausgabe
Bastei Lübbe Taschenbücher
ist ein Imprint der
Verlagsgruppe Lübbe
All rights reserved
© 2002 by
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Lektorat: Will Platten
Titelillustration: Boada/Norma Agency, Barcelona
Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg
Satz: Wildpanner, München
Druck und Verarbeitung:
AIT SA, Trondheim, Norwegen
Printed in Norway
ISBN 3-404-43383-1
Sie finden uns im Internet unter
http://www.bastei.de
oder
http://www.luebbe.de
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
1
Als sie die tausend Lichter von Golden City in der Nacht erblicken, halten sie an und betrachten schweigend das große Goldgräber- und Minencamp. Der alte Mann wendet sich an das Mädchen. »Das ist es. Und George Prouster ist dort der große Boss. Einst hat er mich reinlegen können, und deshalb ist er mir noch etwas schuldig. In einer Stunde werde ich mich revanchieren. Bell, wir landen jetzt den großen Coup, und du weißt ja, was du zu tun hast. Wir haben alles immer wieder genau durchgesprochen. Der Plan ist gut. Wir werden reich ohne viel Mühe. Und Gewissensbisse brauchst du dir nicht zu machen. George Prouster ist der mitleidloseste Wolf, den du dir denken kannst. Er hat längst verdient, dass ihm jemand ein Stück von seinem stolzen Fell abzieht – ein Stück nur. Also reite, Mädchen, reite voraus, damit sie uns nicht zusammen ankommen sehen. Ich warte hier noch eine halbe Zigarrenlänge.« Das Mädchen neben ihm im Sattel des etwas kleineren Pferdes erwidert vorerst nichts. Es ist wie ein junger Bursche gekleidet. Es sitzt locker
im Sattel, so als hätte es das Laufen und das Reiten zu gleicher Zeit erlernt. »Na schön, Onkel Jones«, sagt sie nach einer Weile. »Nachdem ich dich nicht davon abbringen konnte, will ich dir helfen bei deinem Coup. Ja, ja, ich glaube dir, dass George Prouster dir etwas schuldig ist. Aber es ist wohl so, dass ein alter Fuchs einem Wolf ein Stück Beute wegnehmen will. Das könnte dir schlecht bekommen, Onkel Jones. Pass nur gut auf dich auf.« Nach diesen Worten reitet sie vorwärts, genau auf die Goldgräber- und Minenstadt zu, die sich Golden City nennt und nichts anderes als ein modernes Babylon in den Bergen ist. Jones Hackberry sieht seine Nichte vor sich auf dem Wagenweg in Richtung Stadt immer kleiner werden und zwischen all den Fußgängern, Reitern und Fahrzeugen verschwinden. Sie könnte sich auch ohne mich behaupten, denkt er nicht ohne Stolz. Oha, sie gehört nicht zu der Sorte, die sich nur in den Tingeltangels über Wasser halten könnte. Nein, Bell würde sich überall durchsetzen. Er zündet sich eine Zigarre an. Es ist die letzte, die er – schon etwas zerdrückt und beschädigt – aus dem Etui zum Vorschein bringt. Aber sie schmeckt ihm. Er denkt immer konzentrierter an George Prouster, stellt sich ihn immer wieder vor, erinnert sich an seine Stimme, an viele andere Einzelheiten,
die zusammen den ganzen Mann ergeben, einen Mann, der wie ein erfahrener, narbiger, schon grau gewordener Wolf ist – und immer noch so gefährlich. Indes Jones Hackberry die Zigarre raucht, ziehen nur einen halben Steinwurf entfernt auf dem Wagenweg immer noch Fußgänger und Reiter vorbei, dazu Fahrzeuge verschiedenster Art. Der Strom reißt nicht ab. Das ist jeden Abend so. Von all den Claims und Camps, Minen und von dort, wo an den Creeks die Stampfwerke und Erzmühlen stehen, ziehen die Männer nach Golden City. Sie sind durstig nach allen Dingen, nach denen Männer sich sehnen, also nach Wärme, Freundlichkeit, Geselligkeit – dem Lachen von Frauen. Ja, sie werden sich auch Liebe kaufen – oder das, was sie dafür halten. Und sie werden spielen, sich betrinken, raufen und lärmen. Und gegen Ende der Nacht werden sie sich müde auf den Heimweg machen, um nach Sonnenaufgang wieder zu schwitzen bei der Suche nach dem Gold. Jones Hackberry weiß das alles. Er kennt die Welt. Einst war er ein berühmter Artist. Er wirft die halbe Zigarre weg und macht sich auf den Weg zu George Prouster. Und er denkt an die Worte seiner Nichte: »Aber es ist wohl so, dass ein alter Fuchs einem Wolf ein Stück Beute wegnehmen will. Das
könnte dir schlecht bekommen, Onkel Jones. Pass nur gut auf dich auf.« Das waren ihre Worte. »Und wie ich auf mich aufpassen werde – und wie …«, sagt er grimmig und entschlossen zugleich. George Prousters Blick ist immer noch so offen und fest und sein Lachen hört sich immer noch so herzlich und ehrlich an wie früher. Und auch der Händedruck ist von der Art der redlichen Burschen. Er sagt: »Schön, dich mal wiederzusehen, Jones. Ich habe mich manchmal an dich erinnert und mich dann stets gefragt, wie es dir wohl gehen mochte. Auf unserer Welt verliert man sich manchmal schnell aus den Augen, nicht wahr? Kann ich etwas für dich tun? Du siehst nicht gerade besonders nobel aus. Brauchst du einen Job? Ich habe in einem meiner Spielsaloons gewiss einen Rouletttisch für dich mit Beteiligung am Gewinn. Recht so?« Jones Hackberry setzt sich unaufgefordert in den bequemsten Sessel des noblen Zimmers, von dem aus George Prouster die Geschicke von Golden City lenkt. »Es war schwer, zu dir vorzudringen, George«, sagt Hackberry. Er legt seine Hände gefaltet auf den Bauch, streckt die Beine von sich und beginnt die Daumen zu drehen.
Die beiden Satteltaschen, die er mitbrachte, liegen neben ihm auf dem recht kostbaren Teppich. »Du solltest mir einen guten Whisky und eine gute Zigarre anbieten, George«, redet er weiter. »Denn ich bin gekommen, um mit dir ein Geschäft zu machen – ein großes Geschäft.« Sie betrachten sich – und es wirkt so, als beschnupperten sich ein alter, schlauer Fuchs und ein erfahrener Wolf. George Prouster trägt einen Maßanzug. An ihm wirkt alles gepflegt, solide, seriös. Wer ihn so sieht, der kann ihn sich nicht dreckig und stinkend vorstellen, auch nicht voller Läuse und Flöhe nach einem langen Winter in einem Indianerzelt. Prouster ist immer noch prächtig proportioniert. Trotz seiner grauen Haare wirkt er in seinen Bewegungen jugendlich. Seine Zähne sind noch makellos. Nur die Narben im Gesicht verraten, dass sein Leben gewiss nicht immer friedlich verlaufen ist. Seine etwas schrägen Augen haben eine grüngelbe Farbe – und sie sind es, die fast immer den Gegenüber beherrschen. Jones Hackberry ist älter, grauer, kleiner, ein Mann, der seine besten Jahren hinter sich hat. Als er hereinkam, hinkte er leicht. Schließlich murmelt Prouster: »Ich mach nur noch große und lohnende Geschäfte. In welcher
Größenordnung würde sich denn unser Geschäft etwa bewegen. Na?« Er fragt es gönnerhaft, dabei schon die Grenze deutlich aufzeigend. Aber Jones Hackberry grinst mit seinen braunen Zahnstummeln. Sein Gesicht wird noch faltiger. Doch es wirkt triumphierend. Und dies wieder erzeugt in George Prousters Kern Warnsignale. Oha, Prouster hat noch niemals einen Mann unterschätzt, selbst dann nicht, wenn er ihn eigentlich für einen kleinen Pinscher hielt. »Na, die Größenordnung?«, fragt Jones Hackberry zurück. »Nun, sagen wir mal fünfzigtausend Dollar. Die müsste ich von dir bekommen. Dann kämen wir zu einem Abschluss. Na?« Die Warnsignale in Prouster werden stärker. Ja, nun sagt ihm sein Instinkt ganz deutlich, dass eine Gefahr auf ihn zukommt. »Gib mir erst von deinem guten Whisky und eine deiner vorzüglichen Zigarren«, verlangt Jones Hackberry. »Bei Fünfzigtausend-DollarGeschäften sollte man mit den Spesen nicht so knickrig sein. Nicht wahr?« Georg Prouster macht den Eindruck, als habe er eine Kröte schlucken müssen. Aber dann schnauft er wie ein Mann, der damit zugleich warnend sagen will: »Nun gut, dies will ich noch tun. Doch dann wird meine Geduld am
Ende sein, und das schreib dir hinter deine Segelohren, Jones Hackberry!« Sie schweigen. Dann prostet Hackberry dem Boss von Golden City zu und leert das Glas. »Der ist wirklich gut«, sagt er. »Das ist der richtige Besiegelungstrunk für unser Geschäft. Und nun zur Zigarre … Aaah, was kostet das Stück? Einen Dollar? Nobel, nobel! Ja, am Whisky und den Zigarren erkennt man den erfolgreichen Geschäftsmann. Aber du brauchst gar nicht so ungeduldig zu schauen, alter Freund und Partner. Ich komme zur Sache, sobald die Zigarre richtig brennt. Bei solch einer Zigarre dauert das seine Zeit. Das ist eine geradezu heilige Handlung. Für einen Dollar das Stück … Du lieber Vater im Himmel, dass ich dies noch erleben darf – für einen Dollar das Stück …« George Prouster setzt sich halb auf die Ecke seines mächtigen Schreibtisches, dessen Transport hier in die Berge ein Vermögen gekostet haben muss. Er lässt ein Bein lässig baumeln und wirkt gelassen. Doch Jones Hackberry kennt ihn gut genug. Er weiß, dass er seinen Triumph nicht zu lange auskosten darf. Er raucht nur drei Züge. Dann öffnet er eine der Satteltaschen, entnimmt dieser einen hühnereigroßen Steinbrocken und wirft ihn Prouster ohne jede Warnung zu.
Doch Prousters Reflexe sind bestens. Er fängt das Ding lässig. Dann wiegt er es in der Hand und betrachtet es schließlich genau. Er geht damit sogar hinter den Schreibtisch und kratzt mit einem Messer an dem Steinbrocken, der allerdings keiner ist. Schließlich sieht er Hackberry an und fragt: »Wo?« Aber Jones Hackberry grinst nur. »Na, warum kommst du her und zeigst mir das?«, will Prouster knirschend wissen. Hackberry aber hält ihm rauchend das leere Glas hin. »Solch einen Whisky werde ich mir auch bald leisten können«, sagt er dabei. »So oder so kann ich ihn mir bald leisten. Was glaubst du, George?« Dieser kommt mit der Flasche und füllt das Glas. Er gießt es doppelt so voll wie zuvor. Vielleicht hofft er, dass der Whisky Hackberry die Zunge löst. Aber Hackberry hat jetzt listig glitzernde Augen. Er nippt nur an dem bernsteinfarbenem Stoff, grinst dann wieder. »Deine Geschäfte hier, George«, spricht er dann, »würden aber schnell schlechter gehen, wenn es etwas leerer würde in diesem Land rings um Golden City, nicht wahr? Stell dir vor, wenn all deine Lokale, die Tingeltangels, die Spielhallen, die Freudenhäuser und was sonst noch alles dir gehört oder an dich Beteiligungen zahlt, nur noch zur Hälfte gefüllt wären – oder sogar nur zu einem
Drittel! –, stell dir vor, was dann wäre. Ja, kannst du dir das vorstellen?« George Prousters schräge Augen werden schmal. »Willst du mir Angst machen, Jones?«, fragt er scheinbar lässig. Doch in seinen Augenschlitzen glitzert es nun gelb. »Ach«, sagt Hackberry, »wir waren doch mal vor vielen Jahren als Artisten gute Partner am Trapez. Weißt du noch? Und dann die Jahre danach. Aaah, es täte mir Leid, wenn Golden City plötzlich so leer sein würde wie mein Geldbeutel. Dabei ließe sich das mit meinem Geldbeutel schnell ändern. Ich brauche mit den Erzproben nur zum Claimbüro zu gehen und das Ding zum Laufen zu bringen. Noch in dieser Nacht wären Hunderte unterwegs zu den neuen Fundstellen – morgen sogar schon Tausende. Nur die guten Claims und Minen hier würden in Betrieb bleiben. Die vielen anderen Claims, auf denen man in zehn oder zwölf Stunden harter Arbeit nur für wenige Dollars Gold herausholt, wären rasch verlassen. Denn die neuen Fundstellen würden größere Chancen versprechen. Deine Stadt hier, George, brächte nicht mehr viel Gewinn. Sie wäre nicht mehr viel wert. Sehe ich das richtig?« George Prouster nickt und betrachtet nochmals den Erzbrocken. Dann erhebt er sich, kommt hinter dem Schreibtisch hervor und tritt zu Hackberry, beugt
sich nieder zu diesem und stützt sich rechts und links auf die Lehnen des Sessels. »Seitdem ich dich damals am Trapez nicht halten konnte als Fänger nach deinem doppelten Salto und du in die Manege stürztest, habe ich immer deinen Hass gespürt, Jones«, murmelt er. »Und ich wusste immer, dass du mich auch mal gern sehr tief fallen sehen würdest. Richtig?« »Richtig, George«, erwidert Hackberry und sieht zu ihm auf ohne Furcht. Prouster nickt langsam. »Aber George«, sagt er schließlich, »du weißt doch genau, wie einfach das ist für mich. Meine Jungens brauchen dir nur ein wenig die Haut abzuziehen oder dich mit den Füßen nach Indianerart in ein Feuer zu legen. Dann erzählst du alles, was ich hören möchte. Oder zweifelst du wirklich daran?« »Nein, daran nicht«, pflichtet ihm Hackberry bei. »So viel könnte ich gewiss nicht ertragen, wenn deine harten Jungens mich erst mal haben und klein machen. Nein, ich hielte das wirklich nicht aus. Aber da ist noch etwas, was du wissen solltest, George. Ich hab einen Partner. Den aber kennt ihr nicht. Und wenn mir etwas zustoßen sollte – wenn mich mein Partner zum Beispiel in der nächsten Stunde nicht umherspazieren sehen sollte –, nun, dann wird er in irgendeinem Saloon auf einen Tisch springen, seine Goldbrocken zeigen und in die Gegend brüllen, wo er das Zeug gefunden hat. Es ist zweihundert Meilen weit weg
von hier. Du müsstest deine ganze Stadt verlegen, zumindest jedoch dort eine neue bauen. Das alles kannst du dir sparen. Und das müsste dir fünfzigtausend Dollar wert sein, nicht wahr? Überleg doch mal, mein Guter.« Er nippt wieder am Glas. Dann beugt er sich zur Seite und stellt es auf den Schreibtisch. Wieder faltet er die Hände über dem Bauch und dreht die Daumen. »Ich habe dich«, sagt er zufrieden. »Diesmal hab ich dich. Weißt du, ich könnte vielleicht auch auf der Fundstelle aus meinem Entdeckerclaim fünfzigtausend rausholen. Doch was für eine Arbeit würde das machen. Überdies ist das Gebiet auch ziemlich unzugänglich. Es gäbe keine Zivilisation bis zum nächsten Frühjahr. Es wäre ja alles so schrecklich primitiv, so wie vor mehr als zwei Jahren hier. Ich habe auch gar keine Zeit mehr zu verschenken. Also, gib mir Fünfzigtausend für die Gefälligkeit, dass in dieser Stadt niemand etwas von den neuen Fundstellen erfahren wird und hier alles so bleibt, wie es jetzt läuft. Dann reise ich bald schon über die Bitter Roots zur Westküste. Ich bin alt geworden und möchte keinen einzigen Tag länger fern der Zivilisation leben. Und selbst Golden City ist mir noch zu mies, zu primitiv, zu stinkend. Na, hast du es dir überlegt? Du hast nicht mehr viel Zeit. Du musst fünfzigtausend Dollar rausrücken – oder du
wirst hier einen neuen Goldrun erleben, der die große Hammelherde, der du die Wolle scherst, in eine andere Gegend lockt. Es gab hier in den letzten Monaten keine weiteren Funde mehr. Viele Leute wären schon weg, wüssten sie nur, wohin. Das weißt du alles genau, mein Guter. Ich hab dich in der Klemme. Und wenn mir etwa zustoßen sollte, wird mein Partner handeln. Mein Tod nützt dir nichts. Im Gegenteil.« Er verstummt wie ein Mann, der alles gesagt hat. In seinen Augen funkelt es hart und entschlossen. George Prouster denkt mit fast geschlossenen Augen nach. Ja, vor vielen Jahren gehörten sie zu einer berühmten Artistengruppe, die am Trapez arbeitete. Er war der Fänger, und einmal konnte er den Flieger Jones Hackberry nicht halten. Dadurch wurde Hackberry berufsunfähig. Und weil er nicht bei der Truppe bleiben konnte, verlor er auch jede Chance auf Stella. Stella gehörte bald schon ihm, George Prouster. Dies alles fällt ihm wieder ein. Seitdem sind viele Jahre vergangen. Inzwischen brach hier der Goldrun aus, und nun trafen sie sich wieder, und Hackberry will ihm ein Stück Fell abziehen. Fünfzigtausend Dollar! So viel wirft eine gute Goldmine nach Abzug der Unkosten vielleicht in einem halben Jahr ab.
Prouster rechnet, wie viel Monate er Golden City in Betrieb halten muss, um diesen Reingewinn zu haben. Gewiss, er macht hier viel Geld. Doch er muss auch viele Leute bezahlen. Auf seiner Lohnliste steht zum Beispiel der Revolverheld Harvey Spade, und Spade kostet ihn allein schon mehr als tausend Dollar im Monat. Nein, so schnell kann er fünfzigtausend Dollar nicht verdienen, wie sich Jones Hackberry das vorstellt. George Prouster war schon immer ein Mann endgültiger Entscheidungen. Und so geht er um den Schreibtisch herum, setzt sich und zieht die Schublade auf. »Ich kaufe dir dein Wissen für dreißigtausend ab und gebe dir jetzt gleich einen Vorschuss von zehntausend«, sagt er. Doch Jones Hackberry schüttelt den fuchsgesichtigen Kopf. »Fünfzigtausend sofort«, sagt er. »In großen Scheinen, die ich leicht transportieren kann. Und entscheide dich! Ich muss gleich auf die Straße hinaus, damit mein Partner mich sehen kann und nicht den Goldrun wie einen Präriebrand entfacht. Also!« Seine Stimme ist zuletzt hart, spröde, erbarmungslos. »Du hast mich damals zum Krüppel gemacht«, flüstert er tonlos. »Und du konntest mir bald schon Stella wegnehmen. Sie wurde unglücklich
bei dir. Ich hätte sie glücklich gemacht. George, heute musst du bezahlen. Ich habe dich in der Klemme.« Georg Prouster nickt langsam. Er greift in die Schublade, doch er bringt daraus kein Geld zum Vorschein, sondern einen kurzläufigen Colt. »Du bist ja verrückt, George«, sagt Jones Hackberry schnell und hebt wie beschwörend seine Hände. »Du kannst mich nicht bluffen. Wenn du mich erledigst, kostet es dich mehr als fünfzigtausend Dollar.« »Vielleicht«, sagt Georg Prouster ruhig, »aber vielleicht auch nicht. Ich war eigentlich immer ein Spieler, Jones. Du aber, du warst immer ein Narr.« Nachdem er dies gesagt hat, drückt er dreimal ab. Die Schüsse krachen laut. Doch in der Amüsierhalle nebenan lärmt die Musik. Prousters Leibwache, die draußen vor der Tür steht, stürzt herein. »Schafft diesen Narren fort«, sagt Prouster zu den beiden Männern. »Doch durchsucht vor der Beerdigung seine Kleider. Ich will alles haben, was er bei sich hatte, alles. Los, hinaus mit ihm! Er wollte mir fünfzigtausend Dollar stehlen.«
2
Auch Bell Hackberry hört die Schüsse nicht. Golden City lärmt zu sehr. Das wilde Goldgräberund Minencamp in den Bergen der Bitter Roots Mountains ist jetzt voll in Betrieb, und es tobt mit all seinen Ausschweifungen wie ein riesenhaftes Untier. Vielleicht ist Golden City ein Geschwür an einem Riesenkörper. Solche Gedanken jedenfalls sind in Bell. Sie hat ihr Pferd an eine Haltestange gelenkt, angebunden und ist dann in den Schatten einer Hausnische getreten. Die Männerkleidung ist ihr etwas zu weit, aber das ist gut. So bleibt ihre Figur verborgen. Auch der Hut ist ihr etwas zu groß. Er verbirgt die langen Haare und lässt ihr Gesicht noch kleiner und schmaler erscheinen. Sie wartete hier bereits länger als eine Stunde. Sie behielt den Eingang fortwährend unter Kontrolle, obwohl ihr nichts vom Leben und Treiben auf der Straße entging. Aber Onkel Jones kam nicht mehr zum Vorschein – auch nicht nach reichlich einer Stunde. Sein Pferd steht verlassen an der Haltestange zwischen anderen Tieren. Es ist müde und erschöpft. Man sieht ihm den langen Zweihundert
Meilen-Ritt an. Auch die große Gepäckrolle hinter dem Sattel lässt erkennen, dass der Besitzer dieses Pferdes nicht aus unmittelbarer Nähe nach Golden City geritten kam. Bells Gedanken jagen sich nun. Gewiss, Onkel Jones hat ihr genau gesagt, was sie tun soll, wenn er nach einer Stunde nicht mehr zum Vorschein kommt. Doch sie glaubt nicht mehr, dass Onkel Jones die Entwicklung der Dinge richtig voraussehen konnte. Er war sehr siegessicher und vom Gelingen seines Bluffs überzeugt. Doch er hat sich wahrscheinlich von Anfang an getäuscht. Sonst wäre er schon herausgekommen, hätte sich zumindest kurz gezeigt. Er wusste ja, dass Bell sonst zum Handeln gezwungen war. Sie denkt: Er ist bei diesem George Prouster nicht mit seinen Forderungen durchgekommen. Prouster ließ sich gewiss nicht erpressen. Oh, sie erinnert sich noch recht gut an diesen George Prouster, obwohl sie damals noch ein Kind war, als sie alle zu einer Artistengruppe gehörten und Onkel Jones aus großer Höhe nach seinem doppelten Salto in der Luft in die Manege stürzte. Ja, sie kann sich an Prouster noch gut erinnern. Sie überlegt, was sie tun soll. Vor ihr auf den Plankengehsteigen und der Fahrbahn, da bewegt und schiebt sich die Menge der durstigen Kehlen. Viele der Goldgräber und Minenleute sind schon betrunken. Sie lärmen,
drängen aus den Lokalen und schon beim nächsten Eingang wieder hinein in andere. Die Anreißer vor den Eingängen schreien ihre Sprüche. Sie blasen mit Trompeten, lassen Trommeln und Pauken dröhnen. Auch vor der Golden Hall steht ein Anreißer in einer Fantasie-Uniform. Er hat einen Trommler neben sich, bläst selbst prächtig auf einer Trompete. Dann ruft er: »Dies ist das Paradies für alle prächtigen Burschen! Kommt nur herein zu uns, Freunde! Wir haben nicht nur die meisten, sondern auch die schönsten Girls. Wir schenken den besten Whisky aus! – Und in unserer Spielhalle teilt sogar eine echte russische Gräfin die Karten aus. Kommt, Freunde! Kommt ins Paradies! Gleich treten die Seven Sisters auf! Sie tanzen ohne Röcke und singen dazu! Seht euch die sieben schönsten Honeys mit den längsten Beinen und den schönsten Stimmen an. Sie zeigen euch ihre langen Beine und singen dazu die frechsten Lieder im Westen! Kommt nur, Jungens! Hier seid ihr richtig!« Er unterbricht seinen Wortschwall, setzt wieder die Trompete an und schmettert einen herausfordernd klingenden Marsch. Sein Trommler begleitet ihn mit einem Wirbel. Sogar Reiter halten an. Und Minenwagen, die bei Tag sonst das Erz zu den Stampfwerken und Mühlen befördern, werden abgebremst. Die
Männer auf diesen Wagen – manchmal mehr als ein Dutzend – springen herunter. Johlend vor Vorfreude drängen sie hinein. Bell aber weiß immer noch nicht, was sie tun soll. Sie möchte nachsehen. Doch sie weiß sogleich, dass dies falsch wäre. Nicht einmal das müde Pferd darf sie dort wegholen. Es könnte sein, dass man das Tier schon unter Beobachtung hält. Ja, sie muss sogar befürchten, dass man auch ihr eigenes Tier beobachtet. Denn ihm sieht man ja ebenfalls einen langen Trail an, und es trägt fast das gleiche Gepäck. Sie verspürt die scharfen Warnsignale ihres Instinktes. Ihr Onkel hat ihr eine Menge über Prouster erzählt. Sie weiß, dass Prouster in dieser Stadt der Boss ist, sozusagen das Leittier der Townwölfe von Golden City. Bells Wege waren rau genug. Sie kennt sich aus. Doch was soll sie tun? Bitterkeit und Resignation wollen sie lähmen. Aber etwas muss sie ja wohl unternehmen. Denn sie kann nicht ewig hier verharren und hoffen. Dass sie auf ihren Onkel nicht mehr rechnen kann, ist ihr völlig klar. Onkel Jones wollte einem Wolf ein Stück Beute wegnehmen.
Doch er wurde wahrscheinlich selbst eine Beute. Als sie die Nische schon verlassen will, kommt ein ziemlich betrunkener Bursche von links in ihr Blickfeld. Er hält an, brummt etwas und will in die Nische. Dabei öffnet er schon seinen Hosenschlitz. »Hau ab«, sagt Bell zu ihm. Sie gibt ihrer Stimme dabei einen heiseren, möglichst tiefen Klang. Der Mann hält inne. »Hey, wen hahahaben wir denn da? He, Bübchen, wawawas stehst du denn hihihier in den dududunklen Ecken rum? He, hau du ab! Sonst begieße ich dich wie eine Primel. Verstehst du?« Er lacht zufrieden. In Bell ist Bitterkeit. Sie denkt: Da bin ich also mitten drin in diesem Leben der Primitiven. Oha, ich wollte heraus mit Onkel Jones’ Hilfe. Aber es ging schief. Ja, es ging schief. Sie will sich an dem Betrunkenen vorbeidrücken. Der Mann ist einen Kopf größer. Er stinkt nach Schnaps und rülpst kräftig. Nun greift er nach ihr. »He, Bübchen«, sagt er dabei, »lass dich mal an sehen. Du scheinst ein hübsches Kerlchen zu sein. Und …« Sie tritt ihm mit aller Kraft gegen das Schienbein, reißt sich los und beginnt zu laufen. Er brüllt böse und folgt ihr. Der Schmerz macht
ihn jäh nüchterner, und er schafft einige schnelle und lange Sprünge. Doch als er das Bürschchen am Kragen fassen will, fällt dieses vermeintliche Kerlchen dicht vor ihm in die Hocke, kauert sich zusammen. Und der große, gewiss zweihundert Pfund schwere Mann fällt über das Hindernis und kracht schwer auf die Planken des Gehsteiges. Das flinke Bürschlein aber verschwindet. Der Betrunkene flucht. Die Trunkenheit wird nun auch wieder stärker in ihm. »Wenn ich den noch erwische …«, grollt er und erhebt sich. Bell beobachtet ihn von der anderen Straßenseite. Sie geht schließlich langsam weiter. Was soll sie tun? Wohin soll sie gehen? Ob sie vielleicht doch ihr Pferd von der Haltestange holt? Das alles sind Fragen, auf die sie gern eine Antwort wüsste. Und immer wieder muss sie an Onkel Jones denken. Was ist ihm zugestoßen? Was haben sie mit ihm gemacht? Oder hält George Prouster ihn nur in Gewahrsam, um aus ihm das Geheimnis herauszupressen wie den Saft aus einer reifen Frucht? Immer wieder verhält sie, stellt sich an die Hauswände, in Nischen oder dunkle Hauslücken,
um zu beobachten. Sie fühlt sich nicht sicher, glaubt instinktiv, dass Prousters Leute schon nach ihr suchen. Überall ist Bewegung. An einer Ecke steht ein Feuer- und Schwertschlucker, zeigt seine Kunststücke, und seine Frau und die beiden Mädchen gehen mit Blechtellern umher und sammeln die Spenden ein. Vor Bell kommt ein Mann aus einer Hauslücke. Sie verhält, doch er beachtet sie kaum. Offenbar hat er es sehr eilig. Er pocht nach einigen Schritten gegen die Tür des Hauses, um dessen Ecke er bog. Bell verhält immer noch. Und sie weiß eigentlich nicht so recht, warum sie plötzlich hier wartet. Ist es eine Eingebung? Oben öffnet sich ein Fenster. Jemand streckt den Kopf heraus und fragt nach unten: »He, was ist denn?« Der Mann tritt einen Schritt zurück und blickt nach oben. »Arbeit für dich, Ballinger«, ruft er hinauf, denn sonst könnte ihn der Mann oben am Fenster nicht verstehen bei dem Lärm in der Stadt. »Arbeit für dich, Ballinger. Wir haben einen Toten in deinen Schuppen gelegt. Du kannst ihn morgen einsargen und beerdigen. Ein namenloser Toter. Der Boss bringt morgen mit dem Marshal alles in Ordnung. Verstanden?«
»Dann bekomm ich die fünfzig Dollar aus der Stadtkasse?« »Sicher, Ballinger, sicher. Es ist doch ein namenloser Toter, den man irgendwo in einem Hof fand. Die Stadtkasse zahlt die Beerdigung. Er ist völlig ausgeraubt worden.« Nach diesen Worten wendet sich der Mann ab und kommt zurück. Er streift den scheinbar schmächtigen Jungen nur mit einem schnellen Blick. Offensichtlich hat er es eilig. Bell aber verharrt still. Ein namenloser Toter, denkt sie, wer kann es sein? Doch nicht etwa … Sie weigert sich, den Gedanken weiter zu verfolgen. Und dennoch kommt sie nicht davon los. Auch scheint ihr der Zufall, dass sie Zeugin dieses Gespräches wurde, eher Bestimmung zu sein. Sie verharrt eine Weile an der Gassenecke, indes das pulsierende Leben von Golden City an ihr vorbeiströmt. Das Fenster ist längst wieder geschlossen. Sie geht bis zur Tür. Hier kann sie sehen, dass dies der Laden des Möbelschreiners und Sargmachers ist, der zugleich auch das Bestattungsunternehmen betreibt. Sie wendet sich zur Gassenmündung zurück, aus der jener eilige Bursche kam. Als sie der
Gasse folgt, erreicht sie bald schon die Einfahrt zum Hof. Unter einem Schutzdach steht hier eine noble Leichenkutsche. Sie geht daran entlang und erreicht einen Schuppen. Einen Moment zögert sie, und sie muss mehrmals hart schlucken. Der Puls klopft ihr im Hals und dröhnt in den Ohren. Aber sie überwindet sich. Sie öffnet die kleine Tür im rechten Torflügel und schiebt sich hinein in den Schuppen. Ein Toter soll hier liegen. Sie betet zum Himmel, dass dieser Tote nicht ihr Onkel Jones ist, der einen Coup landen wollte, wie ihm noch niemals im Leben einer glückte. Aber eigentlich war Onkel Jones nie der Mann, dem ein großer Coup gelang. Jetzt, da sie sich so sehr fürchtet, wird ihr das klar. Da sie unterwegs stets das Kochen und Feuermachen besorgte, befinden sich in einer ihrer Taschen auch noch einige Schwefelhölzer. Sie streicht eines an der Innenwand des Tores an. Der Schuppen ist gewissermaßen die Leichenhalle des Bestattungsunternehmens. Der Tote liegt auf einem der Tische. Noch bevor das kleine Flämmchen erlischt, kann sie erkennen, dass es sich um Onkel Jones handelt. Dann ist es wieder dunkel im Raum.
Sie steht still da, spürt, wie ihr die Tränen über die Wangen rinnen. Oh, sie hätte nie gedacht, dass sie in dieser miesen Welt noch einmal weinen würde. Sie glaubte, dies längst verlernt zu haben. Jetzt aber weint sie still, ohne Schluchzen. Nach einer Weile geht sie wieder hinaus. Sie kann für Onkel Jones nichts tun. Und was kann sie für sich tun? Diese Frage wird stärker in ihr, und das ist ja wohl auch ganz natürlich. Der Wille zum Überleben und zur Selbsterhaltung wird bei jedem Menschen letztlich bestimmend sein. Als sie später dort vorbeigeht, wo ihres Onkels Pferd stand, ist das Tier verschwunden. Sie geht weiter, blickt nicht noch einmal auf die freie Stelle an der Haltestange. Sie denkt: Sie haben also schon herausgefunden, auf welchem Pferd er kam. Es entgeht ihnen nichts in ihrer Burg, gar nichts. Sie haben den Daumen am Puls. George Prouster hat seine Stadt fest unter Kontrolle. Und gewiss fanden sie schon heraus, dass es noch ein zweites Pferd gibt, das einen ähnlichen Weg hinter sich hat. Sie werden es beobachten. Doch wenn sie das Gepäck untersuchen, finden sie schnell heraus, dass dieses Pferd keinem Reiter, sondern einer Reiterin gehörte. Und wenn es Tag wird, sieht ohnehin fast jeder Mensch, dass ich kein Junge bin, sondern eine Frau. Morgen kann ich mich nicht mehr verstecken in einer Verkleidung. Was
soll ich tun? Sie halten alles unter Kontrolle. Es entgeht ihnen nichts. Was soll ich tun? Sie lehnt wieder an einer Hauswand. Wenn sie schräg über die Straße blickt, kann sie auf der anderen Seite ihr eigenes Pferd zwischen anderen Tieren an einer der Haltestangen stehen sehen. Ihr Blick wird schärfer, und weil sie die Nische kennt, in der sie lange genug auf den Onkel gewartet hat, richtet sich ihr Blick dorthin. Sie kann in der dunklen Ecke die Silhouette eines Mannes erkennen. Er raucht eine Zigarette und schirmt den Glühpunkt dabei nicht gut genug ab. Sie weiß also Bescheid und denkt: Sie bewachen mein Pferd. Vielleicht durchsuchen sie schon mein Gepäck. Dann suchen sie nach einer Frau. Morgen schon werden sie mich finden. Nein, da ist es schon besser, wenn ich den Stier sozusagen bei den Hörnern packe. Denn ich will überleben. Nach diesen Gedanken setzt sie sich in Bewegung, und sie geht genau auf den Eingang der Golden Hall zu, in der – wie sie von Onkel Jones weiß – der große Wolf von Golden City sein Hauptquartier hat. George Prouster staunt nicht schlecht. Sie wurde sehr schnell zu ihm geführt, nachdem sie einem der Hauspolizisten in der Golden Hall ein paar Worte sagte. Nun steht sie vor Prouster, und als
sie ihren Hut abnimmt und ihr langes Haar ausschüttelt mit einer einzigen Kopfbewegung, da verändert sie sich gewaltig. Alles wirkt mit einem Mal anders an ihr. Man ahnt plötzlich, dass sich unter der zu weiten und schmutzigen Männerkleidung ein makelloser und geschmeidiger Frauenkörper verbirgt. Und man wird neugierig. Auch George Prouster ergeht es so. Aber er zuckt leicht zusammen, als sie zu ihm sagt: »Hallo, Onkel George. Oder darf ich nicht mehr Onkel sagen? Es gab eine Zeit, da tat ich das gern. Und wenn ich auf dem Seil tanzte und fertig war mit meiner Nummer, da ließ ich mich einfach fallen. Du fingst mich sicher auf. Die Zuschauer klatschten. Das war der große Trick meiner Nummer. Du hast mich immer sicher aufgefangen. Erkennst du mich wieder, Onkel George?« Der staunt immer noch. »Sooo, dann bist du also die kleine Bell«, murmelt er schließlich, und sein gelbgrünäugiger Blick wird einen Moment sanft, wirkt weit in die Vergangenheit zurückgerichtet. »Little Bell«, murmelt er. »Ja, ja, ich erinnere mich. Du warst noch sehr klein, denn es ist ja schon lange her. Du warst die älteste Tochter von Laurel und Sally Hackberry. Und dein Onkel Jones war der Bruder deines Vaters. Ja, wir gehörten damals alle zusammen – alle. War eine
schöne Zeit damals. Leider endete sie traurig. Wo kommst du denn her, Little Bell?« Er tritt nun vor sie, umfasst ihre Schultern und blickt auf sie nieder. »Du bist eine reizvolle Frau geworden, Bell«, murmelt er. »Wie alt bist du jetzt? Halt, lass mich nachrechnen. Du musst etwa fünfundzwanzig sein, nicht wahr?» »Sechsundzwanzig«, sagt sie. Er nickt und führt sie zum gleichen Sessel, in dem vor etwa zwei Stunden Jones Hackberry den guten Whisky trank und die Ein-Dollar-Zigarre rauchte. Nun reicht er Bell einen Drink aus seiner guten Flasche. »Du siehst ziemlich – nun, sagen wir abenteuerlich aus, Bell«, murmelt er, indes sie einen kleinen Schluck nimmt, der offensichtlich ihre Lebensgeister anregt. Denn die Müdigkeit in ihrem Gesicht schwindet. »Ich kam mit Onkel Jones«, sagt sie herb. »Er wollte zu dir. Er sagte, dass es uns gut gehen würde, wenn er erst bei dir gewesen wäre. Aber er kam nicht mehr von dir zurück. Wo ist er?« Ihre Fragen kommen zwar ruhig, doch irgendwie unerbittlich. Das macht ihn wütend. Denn er ist es schon längst nicht mehr gewöhnt, Antwort zu geben auf Fragen, die ihm nicht gefallen. Doch er beherrscht sich.
»Bist du seit damals mit ihm zusammen?«, fragt er und kehrt hinter seinen Schreibtisch zurück, so als wollte er Abstand gewinnen zu Bell. Sie schüttelt den Kopf. »Aber nein«, sagt sie. »Damals, als du Onkel Jones nicht halten konntest, als er abstürzte, unsere ganze Truppe auseinanderbrach und du mit Stella abhautest – nun, da ging auch ich bald meine eigenen Wege. Mit fünfzehn lief ich meinen Eltern fort. Meine Eltern hatten beide zu trinken begonnen. Sie führten zuletzt ein Hotel, das nichts anderes als eine Absteige war im Hafen von Boston. Der Sturz von Onkel Jones, deine Flucht mit Stella – das alles hatte die berühmte Trapeztruppe Flying Birds zerstört. Aus mir wurde die Boston Bell. Ich tanzte weiter auf dem Seil und sang dazu. Später sang und tanzte ich auf der Bühne – oder in den Tingeltangels. Ich war keine besonders gute Sängerin und Tänzerin. Onkel Jones fand mich in einem ziemlich miesen Saloon. Er nahm mich mit.« »Wohin?« George Prouster fragt es gierig. »Wohin, Bell, wohin?« Sie sieht ihn ruhig und fest an. »Von einer Stadt in die andere, von einem Camp zum anderen. Er arbeitete als Spieler, und er konnte uns damit recht gut am Leben erhalten.« »Und dann?« George Prouster fragt es scharf fordernd. »Erzähl mir alles, Bell – und du wirst es
nicht zu bedauern haben. Ich hab immer noch eine Schwäche für dich. Und du bist schön geworden. Du bist doch hergekommen, um auf meine Seite zu wechseln – oder? Du bist schlau genug gewesen. Ich kann mir deine Gedankengänge recht gut vorstellen. Ich schätze schlaue Katzen. Du bist eine schwarze Katze mit grünen Augen. Also, unterwirf dich. Und erzähl mir alles.« Sie nickt langsam, leert das Glas, dreht es zwischen ihren schmutzigen Fingern. »Er gewann als Spieler den Besitztitel auf einen Claim«, sagt sie. »Er liegt in den Crazy Mountains. Ja, von dort holten wir die Goldbrocken. Dann wollten wir zu dir. Das schien Onkel Jones leichter als die mühevolle Ausbeute. Er wollte nicht in den rauen Bergen überwintern.« »Er war ein Narr«, sagt Prouster. »Und jetzt ist er tot. Ich bin der Boss hier in Golden City. Bell, hat Jones dir gesagt, was du tun solltest, wenn ihm etwas zustoßen sollte bei seinem Besuch bei mir?« Sie nickt. »Sicher hat er das«, sagt sie. »Ich sollte in einen großen Saloon laufen und einen neuen Goldrun entfesseln. Aber ich habe das nicht getan.« Er beugt sich weit vor. Seine etwas schrägen Augen glitzern. »Und warum nicht, Bell?« Sie lächelt ernst. »Ich wurde die bekannte Boston Bell«, sagt sie. »Ich fand schon heraus,
wie mies die Welt ist, und dass man zuerst für sich selbst sorgen muss. Ich erinnerte mich an die alten Zeiten, als ich mich vom Hochseil vertrauensvoll in deine Arme fallen ließ. Als Onkel Jones nicht wieder zum Vorschein kam, da begriff ich, dass es besser ist, sich mit dir gut zu stellen. Oder war das falsch?« »Du bist klug«, sagt er, »klug und schön. Du hast bisher immer nur Pech gehabt, weil du nicht den richtigen Beschützer hattest. Dein Vater und auch Jones waren Nieten. Jetzt bist du bei dem richtigen Mann. Aber sag mir, ob du den Claim in den Crazy Mountains wiederfinden wirst.« Sie scheint mit geschlossenen Augen nachzudenken. Dann sieht sie Prouster wieder an. »Vielleicht«, erwidert sie, »vielleicht aber auch nicht. Liegt dir denn so viel daran, Onkel George? Bist du denn nicht mehr daran interessiert, dass kein neuer Goldrun ausbricht und die Leute nicht von hier fortlaufen, weil sie hoffen, anderswo bessere Claims zu bekommen, Goldadern zu finden und …« »Du solltest mich nicht Onkel George nennen«, unterbricht er sie. »Nenn mich einfach George. Was glaubst du denn, wie viel ich älter bin? Na?« Sie betrachtet ihn kritisch, und sie hat auf ihren rauen Wegen gelernt, Männer einzuschätzen. Sie sieht ihn unter langen Wimpern hervor an, und
alles, was in ihrem Blick vielleicht erkennbar ist, bleibt ihm so verborgen. Sie denkt: Der ist noch kein alter Wolf – nein, er ist in den besten Jahren, ein Bursche, der nicht nur jagen und Beute machen, sondern auch noch eine Menge anderen Spaß haben möchte. Ich gefalle ihm. Und ich weiß die Lage eines reichen Goldvorkommens. Was mag ihm wichtiger sein? Er denkt: Oha, diese Bell hat sich herausgemacht. Wie schön wird sie erst in Seide sein. Sie müsste ein Kleid tragen von der Farbe ihrer Augen. Dieses Grün müsste ihr besonders gut stehen. Ich mochte sie schon als kleines Mädchen, damals, als ich sie stets so sicher fing, wenn sie sich vom Seil fallen ließ. Und sie kennt die Lage von einem reichen Claim irgendwo in den Crazy Mountains. Das sind zwei gewichtige Gründe. Ihre Schönheit und ihr Geheimnis machen sie doppelt wertvoll für mich. Und indes er das denkt, wartet er immer noch auf eine Antwort auf seine Frage. Sie sagt: »Ich glaube, du bist nur wenig mehr als ein Dutzend Jahre älter als ich, George. Früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, kamst du mir sehr alt vor. Aber jetzt … Oh, wie sich das doch mit der Zeit alles ändert, nicht wahr? Jetzt sehe ich dich an und spüre, dass du gar nicht so sehr viel älter bist.« »Nur vierzehn Jahre«, sagt er. »Und das ist nichts. Ich bin sehr froh, dass du jetzt alles so
siehst, Bell. Pass auf, du wirst die Queen von Golden City sein. Dies ist meine Stadt. Ich bin der mächtigste Mann im Land. Deine Pechsträhne ist beendet. Du gehörst nicht mehr zu einem Verlierer. Und Jones Hackberry … Nun, vergiss ihn! Wirst du das können?« Als er die Frage stellt, spürt sie sein scharfes Misstrauen. Es prallt gegen sie und versucht einzudringen in ihren innersten Kern. Sie begreift jäh, wie fein sein Instinkt ist. Ihm wird sie nie etwas vormachen können – und wenn, dann nur mit den raffiniertesten Waffen einer schönen Frau. Sie erwidert: »Ich werde ihn nicht so schnell vergessen können. Gewiss nicht. Doch ich habe in meinem Leben und auf meinen Wegen schon sehr viel vergessen müssen. Denn das Leben geht weiter. Es ist wie ein reißender Fluss. Man schwimmt darin und muss oben bleiben, darf nicht untergehen, sonst ertrinkt man. Eine Frau wie ich, die klammert sich da und dort fest, versucht sich über Wasser zu halten und will das rettende Ufer erreichen. Was ist falsch daran?« »Es ist alles richtig«, sagt er. »Und jetzt bringe ich dich ins nobelste Hotel von Golden City. Komm nur! Wir gehen dort durch diese Tür. Dies ist mein ganz privater Ein- und Ausgang. Komm nur, Little Bell.« »Die bin ich nicht mehr«, erwidert sie und sieht ihn gerade an.
»Aus Little Bell wurde Boston Bell. Unter diesem Namen kennt man mich zwischen New Orleans und Saint Louis. Das musst du wissen, George.« »Ich weiß es«, erwidert er. »Jetzt weiß ich es.«
3
Schon am dritten Tage hat Bell genug vom Nichtstun und der Pflege ihrer Schönheit. Ihre Haut ist wieder samtweich, glatt und frisch. Ihr Haar glänzt blauschwarz und fällt in kaum zu bändigender Fülle über ihre Schultern. Sie riecht nicht mehr nach Pferdeschweiß und dem Rauch vieler Campfeuer. Sie trägt jetzt zarteste Wäsche und Kleider nach der neuesten Mode aus New Orleans. Auch mit Schmuck war George Prouster nicht knauserig. Und dennoch sagt sie ihm am Abend des dritten Tages beim Abendessen: »So geht das nicht weiter, George. Ich kann nicht herumsitzen. Ich muss etwas tun, mich behaupten. Das gehört zu meinem Lebensgefühl, verstehst du. Gib mir einen Spieltisch in der Golden Hall. Und ich würde auch gern etwas für die Unterhaltung deiner Gäste tun. Du kannst mich ankündigen als die berühmte Boston Bell, deren Lieder die härtesten Herzen erweichen. George, ich will selbstständig sein. Ich will nicht von dir wie ein Paradiesvogel in einem Käfig gehalten werden. Sonst fliege ich bald davon. Kannst du mich verstehen?«
Er betrachtet sie nachdenklich und nickt schließlich. »Du gefällst mir immer besser«, sagt er. »Ja, so mag ich schöne Frauen. Sie stehen mitten im Leben und behaupten sich. Ja, das mag ich. Doch ich frage mich, wie es kam, dass du mit einem Burschen wie Jones Hackberry zusammen gewesen bist, mit solch einer Niete, einem alten Mann und halben Krüppel. Er war an die zehn Jahre älter als ich und sehr verbraucht. Der konnte sich doch kaum selbst über Wasser halten. Ihr passtet doch überhaupt nicht zusammen.« »Ich war krank«, erklärt sie ihm. »Und ich hatte Pech mit einem Mann. Ich musste wieder ganz von unten anfangen. Ich wäre nicht mit Jones Hackberry geritten, wenn er nicht mein Onkel gewesen wäre und nicht den Besitztitel eines offenbar sehr guten Claims gewonnen hätte beim Poker. George, ich brauchte Spielkapital. Ohne Spielkapital kann sich auch die beste Spielerin nicht behaupten. Denn ich habe nie mit kleinen Burschen um ein paar Dollar gespielt. Ich hatte immer die großen Haie an meinem Spieltisch. Darf ich, George?« Er nickt und hat funkelnde Augen. »Du überraschst mich immer mehr«, sagt er. »Ich glaube, ich werde noch viel Spaß mit dir haben. Wir werden viel Spaß miteinander haben. Denn dies ist meine Stadt. Ich bin hier der starke
Wolf. Und wenn du die richtige Wölfin bist, wird unsere Beute nur noch größer.« Noch an diesem Abend sitzt Bell an einem Spieltisch. Es ist der beste Tisch in der ganzen Spielhalle, etwas abseits in der Ecke neben der nach oben führenden Treppe. Es finden sich schnell Spielpartner ein, offensichtlich Männer mit genug Geld in den Taschen, die es reizvoll finden und auch bereit sind, es sich etwas kosten zu lassen, mit einer schönen Frau zu pokern. Und Bell bietet ihnen eine Menge zum Ansehen. Ja, sie ist auf eine eigenwillige Art reizvoll, sehr lebendig, mit weiblicher Ausstrahlung, die sie alle berührt. Ihr Lächeln, ihre Stimme, ihr grünäugiger Blick – das alles ist hier in der wilden Goldgräber- und Minenstadt für so manchen Mann ein ganz besonderes Erlebnis. Und überdies spielt sie auch sehr gut Poker, kann sich in diesem Spiel gegen die härtesten und gerissensten Männer behaupten. Denn Poker ist nicht nur ein Glücksspiel. Nein, beim Poker ist der Bluff zumindest ebenso wichtig. Und dazu gehört Instinkt. Bis Mitternacht gewinnt Bell eine Menge Geld. Da an ihrem Tisch ohne Limit gespielt wird und die Männer ihr imponieren wollen, erhöhen sie oft um hundert und noch mehr Dollar.
Sie gewinnt mehrmals einen großen »Pott« mit mehr als tausend Dollar. Und damit wird ihr Pokertisch für sie zu einer Goldmine. Dennoch wäre ihr das ohne das von George Prouster vorgestreckte Spielkapital nicht möglich gewesen. Man hätte sie schon aus dem ersten Spiel hinausbieten können, sie hätte passen müssen und wäre blank gewesen. Zum Poker um viel Geld gehört Spielkapital. Man muss völlig sicher sein, niemals von den Gegenspielern aus dem Spiel geboten werden zu können – was beim ständigen Erhöhen des Einsatzes möglich ist. Denn nur auf diese Art wird in Golden City Poker gespielt. Manchmal, wenn sie Karten mischt und auszuteilen beginnt, plaudert sie mit ihren Spielpartnern. Und das hört sich zum Beispiel so an: »Nun, Gentlemen, ist Ihnen eigentlich bekannt, wie das Pokerspiel entstanden ist? Nein? Nun, dann will ich Ihr Wissen um diese Kleinigkeit bereichern. Vor etwa dreihundert Jahren entstand es am Hof von Persien unter dem Namen ›Ass Nas‹, und es war von Anfang an ein dreistes Bluff- und Lügenspiel. Es entwickelte sich in Europa, wurde variiert und hieß im achtzehnten Jahrhundert schließlich in Frankreich Poque. Und unter diesem Namen brachten es französische Siedler und Soldaten nach Nordamerika. Wir
kennen es seither als Poker und spielen es in den verschiedensten Varianten.« Die Männer staunen, und in ihren Blicken ist Bewunderung und Respekt zu erkennen. Einer der Spieler, er besitzt die große und sehr ertragreiche Aurora-Mine, sagt begeistert: »Lady, solch eine Frau von Format, Klugheit und reizvoller Schönheit hat uns hier in Golden City gefehlt. Ich wette, es werden bald Männer weiter als hundert Meilen reiten, nur um Sie einmal ansehen zu können. Es wird sich in Windeseile herumsprechen, was für eine Queen jetzt in Golden City residiert. Dieser George Prouster ist zu beneiden.« Es ist schon nach Mitternacht – und einige der Spieler an ihrem Tisch verabschiedeten sich bereits, weil ihr Heimweg lang ist –, da sieht Bell einen Mann an ihren Tisch treten, bei dessen Anblick ihr Instinkt sofort noch wacher wird. Und sie verspürt Warnsignale – ohne einen Grund dafür zu erkennen. Denn dieser Mann wirkt nicht so, dass ein Mädchen bei seinem Anblick Warnsignale seines Instinkts bekommen müsste. Im Gegenteil, dieser große, hagere Bursche, dunkelhaarig und helläugig, ist leicht einzuordnen. Bell war weit genug im Süden, um diese Typen zu kennen. Und noch bevor er den Mund aufmacht und sie höflich fragt, ob es gestattet wäre, Platz zu
nehmen und zu spielen, weiß sie, dass er ein Texaner ist, womöglich ein ehemaliger Cowboy und Rindermann. Sie nickt nur. Aber dann warnt sie mit freundlicher und bestimmt nicht abweisender Stimme: »Wir spielen hier ohne Limit, Mister.« »Das ist mir recht, sehr recht«, erwidert er, holt einen Packen Geld hervor und beginnt es zu sortieren. Sie kann auf seinen Handrücken die Lassonarben erkennen – und sie sieht auch seinen Colt, den er links an der Hüfte trägt. Seine Sprechweise ist die eines Texaners. Er wirkt wie ein Mann, der stets lässig und etwas gelangweilt durch den Westen trailt. Aber sie glaubt, dass er so schnell wie ein Blitz sein kann. Auch die anderen Mitspieler betrachten ihn genau. Einer – ihm gehören zwei Dutzend schwere Frachtwagen, die von der Schiffslandestelle am Missouri ständig Fracht herbeischaffen auf eigene Rechnung und diese teuer an die Goldgräber in den entlegensten Camps verkaufen – sagt schließlich: »Mister, wir müssen Sie warnen. Diese Lady ist Fortunas Erbin. Und Sie kennen doch Fortuna, die Glücksgöttin, nicht wahr?« Der Texaner grinst unter seinem Sichelbart. »Sie hieß Tyche«, sagt er. »Das ist griechisch und bedeutet so viel wie Schicksalsgöttin. Sie
schwebt mit einem Füllhorn auf einer Kugel. Manchmal schüttet sie ihr Füllhorn über einem Glücklichen aus. So hab ich es mal von jemanden erklärt bekommen.« Er sieht Bell an. »Ja, das glaube ich«, sagt er. »Sie könnten wahrhaftig eine Nachfahrin dieser Tyche sein, die wir Fortuna nennen, was auch der Name für Glück ist. Fortuna war sicherlich so schön wie Sie, Lady.« Sie dankt mit einem Lächeln und teilt die Karten aus. Und schon beim ersten Spiel gewinnt er den Pott von mehr als tausend Dollar. Bell weiß plötzlich, warum ihr Instinkt ihr vorhin Warnsignale gab. Sie hat das alles als Spielerin schon einige Male erlebt. Es gab dann und wann Männer, gegen die sie nicht gewinnen konnte. Und es hatte sich dann letztlich als falsch erwiesen, sich mit diesen Männern auf eine nähere Bekanntschaft einzulassen. Sie ließ stets Federn dabei wie ein gerupfter Vogel. Der Texaner gewinnt auch das zweite, das dritte – und schließlich auch das vierte Spiel. Dann passen alle anderen Mitspieler. Es ist auch schon in der dritten Morgenstunde. Sie wollen nicht noch mehr Geld verlieren und hören auf. Dabei hatten sie stets gute Karten, Blätter, mit denen sie vorher an diesem Tisch so manchen
Gewinn machten. Doch jetzt klappt das nicht mehr. Der lange Texaner hat stets eine noch bessere Karte. Sie geben nacheinander auf, verabschieden sich höflich von Bell und betrachten den Texaner noch einmal nachdenklich. Er bleibt am Tisch sitzen, lacht leise und sieht Bell an. »Die fragen sich jetzt«, sagt er, »was es mit meinem Kartenglück wohl für eine Bewandtnis haben mag. Die fragen sich, ob ich ein geschickter Falschspieler bin, einfach nur Glück habe …« »… oder?« »Sie gaben dreimal die Karten, Lady. Erst dann kam Ihr Nachbar an die Reihe. Ich selbst habe also nie gegeben und konnte deshalb auch keine Tricks anwenden. Wenn ich ein Spieler des Hauses wäre, würden sie glauben, dass Sie mir die Gewinnkarten gaben.« Sie möchte wütend antworten. Doch da kommt einer der Spieler zurück. Es ist der Minenbesitzer. Er fragt den Texaner: »Ich hätte da noch eine Frage. Gehören auch Sie zu den Rinderleuten, die manchmal eine Fleischherde ins Goldland bringen? Die letzte kam vor einigen Wochen. Sie war wie ein paar Tropfen Wasser auf den heißen Stein. Man muss sich jetzt vor dem Winter eindecken. Haben Sie Rinder?« »Nein«, sagt der Texaner knapp und sieht starr zu ihm auf.
Aber der Minenbesitzer nickt nur und geht wieder. Bell sieht zu, wie der Texaner das gewonnene Geld sortiert und in seinen Taschen unterbringt. Die langen und geschmeidigen Finger des Mannes sind flink. Er ist bestimmt sehr schnell mit seinem Colt, denkt Bell. »Werden Sie morgen wieder an meinen Tisch kommen, um Ihr Glück zu versuchen?« Er sieht sie fest an. Seine Augen sind rauchgrau und stehen weit auseinander. In seinem dunkelbraunen, hageren und etwas hohlwangigen Gesicht sind dunkle, tiefe Linien. »Vielleicht, Ma’am – vielleicht auch nicht«, erwidert er sanft. »Ihre Lassonarben auf den Handrücken«, sagt sie, »sind noch ziemlich frisch.« Er lächelt ein wenig. »Sie waren gestern noch nicht hier«, sagt er. »Es tut mir Leid, dass ich Ihren Spielgewinn so sehr schmälerte. Ich gewann hintereinander vier Pötte, und das meiste Geld stammt von Ihnen. Aber ich spürte sofort, als ich Sie sah, dass ich bei Ihnen nur gewinnen kann. Übrigens, mein Name ist Cane, Ty Cane.« »Aus Texas«, sagt sie. »Laredo.« Er grinst. »Ist das nicht seltsam? Man sieht eine schöne Frau am Pokertisch, sieht auch, dass sie bisher nur gewonnen hat. Und man
spürt, dass man selbst gegen sie jede Chance hat. Ist das nicht seltsam?« Sie denkt an die Warnsignale ihres Instinktes beim Anblick dieses Mannes. Und so schüttelt sie den Kopf. »Nein«, sagt sie, »es ist alles Schicksal. Hoffentlich haben Sie auch morgen noch Glück, wenn Sie mir Revanche geben.« »Sicher.« Er grinst blitzend. »Ich weiß genau, dass ich bei Ihnen immer Glück haben werde, Lady. Darf ich Ihren Namen nicht erfahren?« Da lacht sie leise, indes sie ihren jetzt recht kargen Spielgewinn zu zählen beginnt. »Morgen werden die Plakate mit meinem Bild und meinem Namen draußen an der Hauswand zu beiden Seiten der Eingänge hängen. Ich bin Boston Bell.« Sie will sich erheben. Doch da sieht sie einen der Hauspolizisten auftauchen. Diese Hauspolizisten sind entweder bullenhafte Rauswerfer oder Revolverschwinger. Und jener, der sich hinter dem Texaner Ty Cane aufbaut, gehört zur zweiten Sorte. Er sagt laut: »He, Texas, leg das Geld wieder auf den Tisch! Schön langsam! Und dann die Hände in die Luft, aufstehen und umdrehen! Na, wird’s bald?!« Es war ohnehin nicht laut in der Spielhalle. Doch das gedämpfte Gemurmel verstummt jäh.
Nur an einem Roulettrad klickt noch eine Kugel. Dann endet auch dieses Geräusch jäh. Der Texaner dreht den Kopf und blickt über die Schulter auf den Hauspolizisten. »Was bedeutet das?« »Es wurde Anzeige erstattet wegen Falschspiels«, erwidert der Revolverschwinger. Er hält seinen Revolver bereits schussbereit in der Hand, und niemand gibt dem Texaner eine Chance. Ty Cane legt das Geld, welches er noch in den Händen hielt, langsam auf den Tisch zurück. Er sieht nicht mehr über die Schulter, sondern auf Bell. Und er sagt: »Das ist aber gefährlich für ihn – ich meine, für den Narren da hinter mir. Sie sitzen in der voraussichtlichen Schussrichtung. Wenn er mich verfehlen sollte, könnten Sie getroffen werden. Glauben Sie, dass ich ein Falschspieler bin, Boston Bell?« »Nein«, sagt sie ruhig – und bedauert es fast im selben Moment. Aber sie gleitet mit einer geschmeidigen Bewegung von ihrem Stuhl und bringt sich aus der Schusslinie. Indes sagt der Revolverschwinger hinter dem Texaner: »Hast du nicht verstanden, Texas? Du sollst jetzt deine Patschhändchen heben, aufstehen und dich umdrehen!«
»Sicher, sicher, mein Freund, sofort. Aber ich würde an deiner Stelle nicht schießen, denn ich hab noch einen Freund in diesem Laden, der dir ein Loch machen wird, wenn du jetzt nicht aufhörst.« Er hat kaum ausgesprochen, als er geradezu explodiert. Er wirbelt auf dem Stuhl herum, hechtet aus seiner sitzenden Haltung heraus nach vorn und schießt. Er zog während des Herumwirbeins. Der Colt des Hauspolizisten kracht zwar – doch die Kugel trifft nicht. Der lange Texaner ist zu schnell. Der Hauspolizist lässt seine Waffe fallen und stöhnt schmerzvoll. Er beugt sich vor und presst beide Unterarme gegen den Leib. Stöhnend fällt er auf die Knie. »Warum hilft mir denn niemand?« Es tauchen jetzt noch weitere Hauspolizisten und Rauswerfer auf. Sie kommen aus der großen Amüsierhalle nebenan oder die Treppe von der Galerie herunter. Auch George Prouster taucht durch eine kleine Tür auf, die in der tapezierten Wand kaum zu erkennen ist. Der Texaner kauert am Boden, hält den rauchenden Colt schussbereit. Er erhebt sich langsam, wirkt jedoch kampfbereit. Sein Blick richtet sich auf George Prouster.
»Pfeifen Sie Ihre Jungens zurück«, sagt er, »oder Sie werden noch ein paar von ihnen beerdigen müssen. He, Sie sind doch Prouster, der große Boss von Golden City? Los, mein Freund! Geben Sie Ihre Befehle – so oder so!« In der Stimme ist ein wilder, herausfordernder und furchtloser Klang. Jeder, der seine Worte und den Klang seiner Stimme hört, weiß Bescheid. Dieser Texaner wird kämpfend untergehen – aber vorher hier noch eine kleine Hölle loslassen. Bell hört sich plötzlich in die sekundenlange Stille sagen: »George, man hat ihn beschuldigt, falsch gespielt zu haben an meinem Spieltisch. Aber er hat nicht falsch gespielt. Diese Anschuldigung ist erlogen. Und jener Mann dort hat ihn mit schussbereitem Colt bedroht, hat auf seinen Rücken gezielt. Er hat sich in Notwehr befunden. Das kann ich bezeugen. George …« »Schon gut«, sagt dieser, tritt langsam vor und wendet sich an Ty Cane. »Wenn Boston Bell sich für einen Mann so verbürgt wie jetzt, dann muss dieser Mann ein Gentleman sein. Mein Hauspolizist war etwas voreilig und wollte die Sache wohl im Alleingang erledigen. Nun, er hat jetzt ziemlich hoch dafür bezahlt. Mister, Sie können gehen. Wahrscheinlich muss ich mich entschuldigen.« Ty Cane grinst nur.
Er schiebt seinen Colt langsam ins Holster zurück, sehr langsam. Kein Zuschauer, der das sieht, würde auf die Idee kommen, dass er die Waffe so schnell in die Linke zaubern kann. Er wendet sich an Bell. »Lady«, sagt er laut, »Sie werden Boston Bell genannt, wie ich hörte. Doch Sie sollten noch einen dritten Namen bekommen: Fair Boston Bell. Sie sind ein Gewinn für diesen Laden hier, ein sehr großer Gewinn. Denn es ging heute mal sehr fair hier zu. Meinen Respekt, Lady, Fair Lady.« Nach diesen Worten geht er. Und alle schweigen sie und blicken ihm nach. Auch George Prouster tut es. Bell beobachtet ihn, sieht ihn an der Unterlippe nagen. Prouster sieht zu ihr her, macht dann eine Kopfbewegung. Sie folgt ihm durch die Tapetentür in sein Hauptquartier. Sie schließt hinter sich die Tür. Er steht hinter seinem Schreibtisch. Sie aber lehnt sich innen gegen die Tür und fragt spröde: »Was hab ich falsch gemacht? Dass ich fair war?« Er starrt sie erst eine Weile lang wortlos an. In seinen Augen funkelt es, und sie spürt Furcht in ihrem Innern. Oh, sie ahnt, dass er Onkel Jones getötet hat. Als sie zu ihm ging vor einigen Nächten, da trat sie gewissermaßen die Flucht nach vorn an.
Jetzt hat sie ihm geschadet. Denn sie hat einen Mann gegen ihn und seine Leute in Schutz genommen. Er sagt nach einer Weile des Schweigens: »Sicher, Bell, das war schon ein sauberer Trick. Sie werden dich hier in Golden City vielleicht bald wirklich Fair Boston Bell nennen. Und das ist auch gut für die Golden Hall. Du hast dir Ansehen verschafft bei all den Goldgräbern, Minenleuten, Frachtfahrern. Schön, schön, ich versuche deinen Gerechtigkeitssinn zu begreifen. Doch er ist falsch. Komm her! Setz dich! Denn ich will es dir erklären. Ich will ganz offen mit dir reden. Komm nur, Fair Bell!« Sie gehorcht und geht zu dem Sessel. Als sie sich gesetzt hat, kommt er um seinen mächtigen Schreibtisch herum und setzt sich auf die Ecke, baumelt wieder mit einem Bein, stemmt das andere auf den dicken Teppich. »Wir machen hier Beute«, sagt er, »Beute, verstehst du? Und hier kommt niemand mit einem dicken Gewinn davon – niemand! Wie viel hättest du in dieser Nacht am Spieltisch verdient, wenn dieser Texas nicht gekommen wäre? Nun, wie viel etwa?« Sie hebt leicht ihre Schultern. »Zwischen vier- und fünftausend Dollar«, erwidert sie. Er nickt. »Genau! Meine Leute haben das registriert. Du hättest fast fünftausend Dollar
Gewinn gemacht. Doch nun sind es kaum fünfhundert. Die Differenz nahm dir dieser Texas ab. He, das Wort Texas heißt Freund, weißt du das? Aber er war noch nicht dein Freund – oder?« »Ich sah ihn zum ersten Mal«, erwidert sie. Er nickt. »Ich will es dir glauben. Er durfte mit seinem Gewinn nicht davonkommen. Dafür habe ich meine rauen Jungens. Und wenn er als Falschspieler erschossen worden wäre, hätte auch das dem Ansehen dieser Spielhalle gedient. Der Unterschied wäre nur gewesen, dass wir ihm seine Beute abgenommen hätten. Ob ihn jetzt meine harten Jungens noch erwischen können draußen … Nun, das ist sehr fraglich. Seine Chancen sind jetzt sehr viel größer. Und er ist gefährlich wie ein Tiger. Bell, wenn er noch welche von meinen Jungens tötet, hast du sie gewissermaßen in den Tod geschickt.« Er verstummt kalt und hart. In seinen Augen glitzert Wut. Sie kann es deutlich erkennen. Doch sie erwidert nichts. Sie sieht ihn nur an, hält ihre Furcht tief im Innern verborgen. Er beugt sich vor. »Tu das nie wieder«, sagt er, »nie mehr! Verstehst du? Wir machen hier Beute. Wir sind hier auf der Jagd. Wir rasieren die Hammel. Wir leben von der Hammelherde. Das musst du zuerst begreifen. Ich bin der Leitwolf des Rudels. Wenn du meine Gefährtin sein willst, dann musst du mir beim Beutemachen helfen. So einfach ist das.
Diese Stadt läuft so, wie ich es haben will. Es ist meine Stadt. Schon morgen kann das alles hier vorbei sein. Man braucht nur irgendwo neue Goldvorkommen zu finden, die vielversprechender erscheinen. Dann läuft hier alles weg. Dann stirbt Golden City von einem Tag zum anderen. Deshalb gibt es hier keine Gnade bei der Jagd auf Beute. Wir verschenken hier keinen Dollar und kein Gramm Goldstaub. Denk mal darüber nach. Und denke auch an das schöne und noble Leben, das wir führen werden an den schönsten Plätzen dieser Erde, wenn wir erst genug haben. Dafür lohnt jeder Einsatz. Oder?« Sie nickt. »Ja, George«, sagt sie. »Ich verspreche dir, dass ich schnell lerne.« Sie macht eine kleine Pause. Dann fragt sie: »Und deine harten Jungens jagen jetzt diesen Texaner?« »Sicher«, sagt er. »Denn er darf mit seiner Beute nicht entkommen.«
4
Ty Cane gleitet schnell in die dunkle Gasse, denn er weiß, dass sie gleich hinter ihm her sein werden. Er muss sich eingestehen, dass er die Townwölfe unterschätzt hat. Er hätte nicht geglaubt, dass sie es schon drinnen in der Spielhalle vor vielen Zeugen und Zuschauern versuchen würden. Er muss auch zugeben, dass diese Boston Bell ihm wahrscheinlich das Leben rettete, denn ihr Eintreten für ihn hielt Prouster davon ab, seine Männer auf ihn zu hetzen. Boston Bells Hinweis, dass er kein Falschspieler sei, war zu deutlich. Dennoch werden ihn Prousters Männer jagen, um ihm die Beute abzunehmen. Und das ist ihm recht. Jawohl, denn als er die Frau am Pokertisch sah, als ihm klar wurde, dass sie zum Haus gehörte – und als ihm sein Instinkt sagte, dass er vielleicht gegen sie gewinnen könnte beim Pokerspiel –, da war es seine Absicht, Prouster und seine Killer herauszufordern. Er weiß, dass sie schnell herausfinden werden, wo er sein Pferd untergestellt hat. Wahrscheinlich wissen sie es schon, denn sie beobachteten
bestimmt jeden Rindermann aus dem Süden. Sie taten es aus gutem Grund. Ty Cane gleitet durch die Gasse und sucht sich dann hinter den Häusern, Hütten und Schuppen seinen Weg. Er erreicht den großen Mietstall von der Rückseite und öffnet die kleine Tür im großen Torflügel. Er schiebt sich hinein, lautlos wie ein Schatten. Vorn ist es sehr viel heller. Denn dort ist links das Stallbüro mit dem Schlafverschlag des Stallmannes. Dort stehen auch die Futterkisten, hängen die Sättel über Stangen im Sattelraum. Er hört Stimmen und gleitet durch den Stallgang. Rechts und links stehen Pferde in den Boxen. Sein Pferd schnaubt leise, als er in die Box gleitet und in der dunklen Ecke verharrt. Er streckt die Hand aus und legt dem Tier die Finger auf die Nüstern. Es wird wieder still. Von vorn klingen die Stimmen von zwei Männern. »Ich kann dich beim Halma nie schlagen, Barny«, sagt eine Stimme bitter. »Jetzt spielen wir schon wochenlang jede Nacht, und ich gewinne kein einziges Spiel. Wie machst du das?« »Ich hab eben ein kluges Köpfchen«, erwidert eine andere Stimme. »Und ich setze es auch immer ein wenig unter Alkohol. Dann kann ich wie geschmiert denken und spielen. Warum lässt
du dir eigentlich nicht von mir das Schachspielen beibringen, Archi?« »Weil ich das nicht kapieren würde«, erwidert die erste Stimme, die wahrscheinlich dem Stallmann gehört. »Du bist schlauer als ich, Barny. Deshalb muss ich auch als Stallmann arbeiten, und du bekommst überall alles umsonst, ohne zu arbeiten. Die Leute mögen dich, weil du so klug bist.« Jener Barny lacht. »Ach«, sagt er, »mit der Klugheit ist es gar nicht weit her. Ich hab damals als junger Bursche nur eines begriffen: Der Mensch hat Arme und Hände, um zu arbeiten, aber er hat auch Beine und Füße, um vor der Arbeit wegzulaufen. Hahhaha, ich …« Er kommt nicht weiter, denn vorn betritt nun jemand den Stall. Eine Stimme sagt hart: »Na, ihr alten Schnapsgurgeln, könnt ihr nichts anders als Halma spielen und Pumaspucke schlucken? Hört mal, hat hier ein langer Texaner, der wie ein zu groß geratener Comanche aussieht, sein Pferd stehen?« Der Stallmann und dessen Spiel- und Gesprächspartner Barny schweigen einen Moment. Dann sagt die Stimme des Stallmannes. »Ich hab zwar noch keinen Comanchen gesehen, doch ich denke mir, dass diese Sorte von Indianern so ähnlich aussieht wie die Kiowa oder
Cheyenne. Und solch ein Texaner hat hier sein Pferd. Dritte Box rechts. Was ist denn mit ihm?« »Haut ab – beide! Wir übernehmen die Stallwache. Haut ab! Kauft euch einen Drink. Hier habt ihr jeder einen Dollar. Haut ab!« Der Stallmann und sein Besucher schweigen. »Sicher«, sagt der Stallmann dann. »Ich arbeite für Prouster. Und ihr arbeitet für Prouster. Ihr gebt mir Befehle – und ich führe sie aus. Komm, Barny, gehen wir zu Jacksons Inn. Dort bekommen wir für zwei Dollar eine ganze Flasche Feuersaft. Ich wette, dass mir von diesem Zeug beim ersten Schluck die Knöpfe vom Hemd springen. Komm nur, Barny. Ich habe frei. He, wie lange müssen wir denn fortbleiben?« »Bis Sonnenaufgang bestimmt.« Ty Cane hört das alles. Er grinst grimmig im Halbdunkel. Er hört den Stallmann mit Barny hinausgehen. Das Tor wurde nur wenig geöffnet und wieder geschlossen. Einen Moment ist es still im Stall; nur die Geräusche der Tiere in den Boxen sind in dieser Stille – ein ständiges Atmen, leichtes Schnauben, manchmal auch Stampfen. Der Stall ist voller Leben. Aber die meisten der Tiere schlafen, manche im Stehen, manche liegend. Einer der Männer sagt: »Er wird bestimmt kommen, sein Pferd zu holen. Er weiß, dass er bei Anbruch des Tages keine Chance mehr hat, uns zu entkommen. Ich werde bei seinem Pferd auf ihn
warten. Du bleibst im Stallbüro. Wir werden ihn erledigen wie jenen anderen Tex vor einigen Wochen. Entweder kommt er sofort zu seinem Pferd, dann gebe ich es ihm. Oder er will den Stallmann im Office wecken – und dann bekommt er es von dir.« Der andere Mann stößt einen zustimmenden Laut aus. Und dann kommt einer von ihnen den Stallgang entlang zur dritten Box rechts. Ty Cane wartet schon auf ihn, und er ist im Vorteil, weil der Mann aus dem hellen Vorraum kommt und seine Augen sich noch nicht an den dunkleren Hintergrund gewöhnt haben. Er trifft ihn mit einem linken Haken in die Magenpartie. Der Mann verbeugt sich zwangsläufig. Ty Cane muss ihn unschädlich machen, bevor er seinen Partner durch einen Schrei warnen kann. Und so reißt Ty Cane sein Knie hoch. Er trifft damit das Kinn des Mannes. Dieser stößt auch wirklich keinen Laut mehr aus. Cane findet bei dem Burschen zwei Revolver und im Stiefelschaft ein Messer. Er wirft die drei Dinge irgendwohin ins Stroh. Dann macht er sich auf den Weg zum Stallbüro. Als er mit gezogenem Colt eintritt, überrascht er den anderen Mann. Dieser ist dabei, sich eine Zigarette zu drehen, und er blickt einen Moment
zu spät auf, weil er glaubt, dass sein Kumpan noch etwas von ihm wollte. »Na, was ist …«, fragt er – und erst dann erkennt er Cane. Er springt brüllend auf, stößt sich an der niedrigen Decke des Verschlages den Kopf. »Na los doch«, sagt Cane grimmig. »Mach nur weiter! Schnapp den Colt heraus! Los, versuch es!« Aber der Mann ist inzwischen erstarrt. Er sieht im Lampenlicht in die dunkle Mündung und dann in das harte Gesicht des Texaners. »He«, sagt er, »du bist aber einer von der ganz raffinierten Sorte. Du warst gewiss schon vorher im Stall und hast auf uns gewartet, ja?« Ty Cane grinst ihn an und stößt ihm die Rechte ins Gesicht, so dass der Mann in die Ecke des Schlafverschlages fliegt. Halb benommen will er den Colt aus dem Holster zerren. Doch Ty Cane tritt unbarmherzig zu. Der Mann jault vor Schmerz. Seine Revolverhand wird vielleicht nie wieder so brauchbar werden wie sie es bisher war. Und selbst wenn er lebend aus dieser Sache hier herauskommen sollte, wird er keinen Job mehr als Revolverschwinger annehmen können. Nach einer Weile fragt er stöhnend: »Wawawarum machst du es so hart mit mir, du verdammter Hundesohn aus Texas? Macht es dir Spaß, einen Mann so zu erledigen?«
»Nein«, erwidert Ty Cane, »das macht mir gewiss keinen Spaß. Zu dieser Sorte gehöre ich nicht.« »Und warum bist du dann so gnadenlos hart zu mir?« Der Mann nuschelt. Seine Lippen sind zerschlagen und schwellen an. Er wendet den Kopf zur Seite und spuckt zwei Zähne aus. »Du bist wohl krank, du Texasbulle. Du bist sicher einer dieser Burschen, die schon als kleine Kinder Tiere quälten.« »Nein«, wiederholt Cane, »aber ich hatte einen Partner, der vor einiger Zeit mit einer Fleischherde herkam. Er wurde in einer Gasse erschlagen und ausgeraubt. Er hatte fünftausend Dollar für unsere Rinder bekommen – fünftausend Dollar. Aber in dieser Stadt lässt man keinen Menschen mit dem Gewinn eines Geschäftes, eines Spieles oder eines Goldfundes fort. Nur mit leeren Taschen kann man abziehen, mit vollen nie. Das fand ich längst heraus. Und jetzt will ich wissen, wer meinen Partner Josua Clayton umgebracht und ausgeraubt hat. Ich will alles wissen, einfach alles. Erzähl mal, Freundchen! Ich will hören, wer der Boss ist, wer die Befehle gibt, wie hier alles läuft. Ich will meine Vermutungen bestätigt haben. Und du wirst mir alles erzählen. Na los, fang an.« »Du kannst zur Hölle gehen«, sagt der Mann. Da tritt Ty Cane zu – mehrmals. Nein, er kennt keine Gnade. Sie wollten ihn hier töten und
ausrauben, wie sie in dieser Stadt, die eine Wolfsburg ist, schon viele Männer getötet und ausgeraubt haben. Sie haben das auch bei seinem Partner getan. Nun will er wissen, an wen er sich zu halten hat, will er die Bestätigung einiger Vermutungen. Doch der Mann hat die Besinnung verloren. Ty Cane verlässt das Stallbüro und holt den anderen Mann aus der Box seines Pferdes. Er schleift ihn am Jackenkragen über den Boden, und als der Bursche sich zu bewegen und zu wehren beginnt, da lässt er ihn fallen und nimmt eine zusammengerollte Maultierpeitsche von einem Haken an der Stallwand. Er rollt die Peitsche aus und tritt um fast ihre ganze Länge zurück. Dann beginnt er zu schlagen, und der Metallknaller an ihrem Ende fügt dem Mann schmerzhafte Wunden zu. Der Mann beginnt sich zu wälzen und zu schreien, aber er lässt das bald sein. Denn Ty Cane sagt zu ihm: »Hör auf oder ich schlag dich tot. Ich schlag dich tot, wie ihr meinen Partner in der Gasse erschlagen habt.« Er kehrt ins Stallbüro zurück und holt dort den anderen Mann heraus. Als er sie beide nebeneinander am Boden liegen hat, tritt er wieder zurück und holt mit der Maultierpeitsche aus. »Also«, sagt er, »jetzt kommen wir richtig zur Sache. Wer ist euer Boss? Ist es Prouster? Gab er
die Befehle? Wer brachte meinen Partner Josua Clayton um und raubte ihn aus, nachdem er seine Fleischherde verkauft hatte? Ich will alles wissen.« Sie finden die beiden zerschlagenen Handlanger George Prousters nach Sonnenaufgang im Vorraum des Stalles – und es sind mehrere Augenzeugen zugegen, die das, was sie zu sehen bekommen, nicht für sich behalten werden. Prouster bekommt die Meldung dann beim Frühstück, und er erhebt sich sofort und sucht die Männer in deren Quartier auf. Es befindet sich in einem Anbau der Golden Hall. Und die beiden zerschlagenen Burschen liegen stöhnend auf ihren Lagern. Ein bärtiger Bursche, der bei der Armee einmal Sanitätssergeant war, kümmert sich um sie. Aber er hört bei Prousters Eintritt damit auf und sagt: »Boss, die sind einem harten Mann in die Hände gefallen, der mit einer Maultierpeitsche umgehen und der sie auch hätte totschlagen können, wenn er es gewollt hätte. Aber das hat er nicht.« Nach diesen Worten geht er mit einer Schüssel blutigen Wassers hinaus. Prouster aber fragt die beiden stöhnenden Kerle mit trügerischer Sanftheit: »Na, geht’s euch denn schon etwas besser? Dann erzählt mal, Jungens. Na los, erzählt mal. Reißt euch zusammen. Oder wollt ihr nicht?«
»Oh, Boss, wir wollen schon«, stöhnt einer. »Es war dieser lange Texaner, dem wir den Spielgewinn abnehmen sollten. Er hat uns aufgelauert. Und dann wollte er alles wissen über Sie, Boss – und über uns alle hier. Seinen Worten nach ist er gekommen, um seinen Partner Josua Clayton zu rächen. Oh, das war der Bursche, der mit zwei Halbbluts die Fleischherde brachte und den wir mit dem Erlös nicht …« »Schon gut«, unterbricht ihn Prouster. Er wendet sich ab und geht zur Tür. Von dort sagt er: »Ihr beide seid Nieten. Aber zum Glück habe ich auch noch Jungens, die ihr Handwerk verstehen. Ich verspreche euch, dass dieser Texas nicht mehr lange unter den Lebenden weilen wird. Ich verspreche es euch!« Damit geht er, um die Jagd in Gang zu bringen. Denn ihm ist jetzt klar, dass er den Texaner immer noch mächtig unterschätzt hat. Der Mann ist mehr als ein Revolverschwinger. Ich muss ihn bekommen, denkt er. Denn sonst richtet er eine Menge Schaden an. Verdammt, an diesem Fiasko ist vor allem Bell schuld. Durch Bell bekam er die Chance. Und jetzt … Bell hört es von ihm selbst, denn er stürmt in ihr Zimmer ohne anzuklopfen. Und als sie ihn ansieht, da ist die heiße Furcht in ihr. Er tritt zu ihr, fasst ihr Kinn und biegt ihren Kopf zurück. Sie sieht zu ihm auf und erkennt
seine unbeherrschte Wut und den Wunsch nach Gewalttat. Sein Griff ist schmerzhaft. Morgen wird sie blaue Flecken am Kinn haben. Aber sie stößt keinen Schmerzenslaut aus. Sie sieht ihm fest in die Augen. Da lässt er sie los und erzählt, was geschehen ist. Er endet mit den Worten: »Mach nie wieder solch einen Fehler – nie wieder, Bell! Denn sonst …« Er wandert im Raum umher, rastlos vor Wut wie ein gereizter Wolf im Käfig. Nun kehrt er zu ihr zurück. »Du hast mir eine Menge Schaden zugefügt, Bell«, sagt er. »Es ist nicht so einfach, diese Stadt und das Land unter Kontrolle zu halten. Es ist nur möglich, wenn meine rauen Burschen immer Sieger bleiben. Jetzt wird sich herumsprechen, dass jemand sie mit einer Maultierpeitsche verprügeln konnte. Es ist möglich, dass nun einige Burschen Mut bekommen und zu den Anführern eines Aufstandes werden. Dann wird die große Hammelherde zu einem Element, das wie eine Stampede alles überrennt. Bell, ich will noch nicht annehmen, dass du mir nicht aus Naivität, sondern aus kühler Berechnung geschadet hast. Ich will es noch nicht glauben. Aber hüte dich! Oh, hüte dich vor einem weiteren Fehler. Denn so schön und reizvoll du auch bist – ich würde dich zertreten wie eine Laus, verstehst du?«
Er starrt sie zwingend an. Sie nickt. »Ja«, sagt sie, »ich bin in deiner Hand. Und du kannst mich vernichten wie eine Laus. Ich werde keinen Fehler mehr machen.« Er erwidert nichts, sondern geht hinaus, wirft die Tür mit einem Knall hinter sich zu. Er ist voll böser Wut. Bell Hackberry sitzt still auf ihrem Hocker. Sie wendet sich dem Spiegel zu. Sie betrachtet sich, befühlt die Stellen rechts und links des schmerzenden Kinns, wo Prousters Zeigefinger und Daumen zupackten, als wollte er ihr die Kinnlade zerbrechen. In ihr ist eine heiße Furcht. Sie würde jetzt gern fortlaufen, weit, weit fort von Golden City. Aber da ist so sehr viel, nicht nur die Ermordung von Onkel Jones. Da ist auch die Erinnerung an all die bitteren Jahre, nachdem die Flying-Bird-Truppe auseinanderbrach durch George Prousters Schuld. Sie denkt an ihre eigenen bitteren Jahre und daran, wie ihre Eltern aus der Bahn geworfen wurden. Nein, sie kann nicht fortlaufen. Sie will weiterführen, was Onkel Jones begonnen hat. Doch sie muss es anders anpacken, geschickter, schlauer – und es wird jetzt nicht mehr nur um fünfzigtausend Dollar gehen, sondern einzig und allein um Vergeltung.
Als sie zu Prouster ging und sich ihm scheinbar unterwarf, trat sie gewissermaßen die Flucht nach vorn an. Es wäre ihr sonst gewiss so ergangen wie jenem Texaner Ty Cane, den man jetzt suchen wird, um an ihm ein Exempel zu statuieren. Ob die rauen Burschen, diese Town- und Goldwölfe von Golden City, Ty Cane wohl erwischen? Sie fragt es sich, und sein Bild ist noch einmal vor ihren Augen. Ihre Gedanken werden unterbrochen, denn es klopft an die Tür. Einer der Musiker, die mit ihr eine Gesangsnummer einüben sollen, tritt auf ihren zustimmenden Ruf hin ein. »Wir wollen heute Vormittag üben, Miss Bell«, sagt der Mann. »Ist das noch richtig?« »Ja«, erwidert sie. »Ich bin in fünf Minuten auf der Bühne. Und ich hätte gern eine Gitarre.« »Aber selbstverständlich«, sagt der Mann. »Was für Lieder werden wir üben?« »Irische, schottische und spanische Lieder – vielleicht auch ein französisches Chanson.« Der Mann strahlt und geht weiter. Bell aber überlegt. Und ihre Gedanken sind ganz nüchtern und klar. Sie denkt: Ich habe mir schon einen guten Ruf verschafft durch mein Eintreten gegen einen zu Unrecht des Falschspiels beschuldigten Gast. Man will mich Fair Boston Bell nennen. Wenn ich jetzt
auch noch auf der Bühne Erfolg habe und geliebt werde von all den Goldgräbern, Minenleuten, Fracht- und Erzfahrern, dann – nun, dann hab ich bald schon eine Masse hinter mir, die nicht zulassen wird, dass mir ein Unrecht zugefügt wird. Dann brauche ich mich nur während meines Auftrittes an die Zuschauer zu wenden und diese um Hilfe bitten. Denn dann werden sie gemeinsam handeln und keine Furcht vor Prousters rauen Burschen haben. Ein paar Wölfe können keine Herde aufhalten – selbst eine Hammelherde nicht, wenn sie in Stampede ausbricht. Und so macht sie sich für die erste Probe fertig. Denn sie will tausend und noch mehr Männer für sich einnehmen und sie zu ihren Beschützern machen. Sie muss an diesem Abend gut sein. Noch vor Ende der Nacht erreicht Ty Cane einen Claim, der sich in einer ansteigenden Schlucht befindet. Die Claims in dieser Schlucht liegen ziemlich weit auseinander, weil der Boden meist zu felsig ist, um sich in ihn hineinarbeiten zu können. Drei Männer erwarten Ty Cane schweigend. Und als er absitzt, führt einer von ihnen Canes Pferd weg. Er bringt es in eine Höhle in der südlichen Schluchtwand. Die Hütte des Claims steht am Creek dicht neben der Waschanlage.
Zwei der Männer sind Gäste wie Ty Cane, dem dritten gehört der Claim. Und alle drei hocken bald darauf mit Cane in der Hütte beim Frühstück. Cane berichtet dabei, was in Golden City geschehen ist. Er endet dann kauend mit den Worten: »Diese Spielerin war wirklich fair. Ich frage mich immer wieder, warum sie Partei für mich ergriff. Denn sie stellte sich damit gegen die Interessen dieser gnadenlosen Bande. Sie wird einige Schwierigkeiten mit dem großen Wolf von Golden City bekommen haben – mit Sicherheit.« Er macht eine Kunstpause. Dann fährt er fort: »Well, ich weiß jetzt, dass Prouster wirklich der Boss aller Banditen und Claimräuber dieses Landes ist. Ich weiß auch, dass er den Befehl gab, meinen Partner Josua Clayton zu töten und ihm den Erlös aus der Fleischherde abzunehmen. Und euch danke ich, dass ihr mir eine Nachricht zukommen ließt.« »Das konnten wir nur«, sagte einer der Männer, »weil wir zuvor mit Josua eine Nacht durchzechten und er uns sagte, woher er kam. Als man ihn später ausgeraubt in der Gasse fand …« Er verstummt und zuckt mit den Achseln, so als wollte er damit seinen Satz beenden und wortlos sagen: »… konnten wir nicht mehr für ihn tun.« Ty Cane nickt.
Er sieht den Hütten- und Claimbesitzer an. Sein Name ist Tom Elder, und sein Claim bringt gerade so viel ein, dass er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Tom Elder ist schon ein Jahr hier und hat bisher nur ein einziges Säckchen Goldstaub sammeln können, kaum mehr als für fünfhundert Dollar Gold. »Ich will euch meinen Plan erklären«, sagt Ty Cane. »Und damit es keinen Irrtum gibt, frag ich euch jetzt noch mal: Wollt ihr wie ich hier in diesem Land mit den Banditen aufräumen?« Sie nicken. »Ja«, sagt Tom Elder. »Wir wollen uns zu den Anführern von tausend Goldgräbern machen. Doch damit diese an uns glauben und uns folgen, wenn wir mit dem Aufräumen beginnen, brauchen wir Erfolge. Mit deiner Hilfe, Ty Cane, hoffen wir das zu schaffen. Ja, wir sind uns einig. Wie soll es laufen?« »Geht nach Golden City und betrinkt euch – so wie damals mit meinem Partner Josua Clayton. Josua feierte den Verkauf unserer Fleischherde. Ihr solltet einen guten Goldfund feiern, den Tom Elder hier auf seinem Claim machte. Und wenn ihr euch scheinbar so richtig betrunken habt, dann muss Tom Elder sich damit brüsten, dass er seinen Schatz gut versteckt hat und niemand außer ihm das Versteck finden kann. Ihr müsst Tom Elder dann heimbegleiten und ihn hier verlassen, um selbst heimzugehen auf die eigenen Claims. Und du, Tom Elder, musst mir vertrauen und glauben,
dass ich dich hier beschützen werde, wenn die Goldwölfe kommen.« Er verstummt ernst. Sie sehen ihn an, und sie wissen, dass er hergekommen ist, um Vergeltung zu üben für den Mord an seinem Partner. Sie wissen inzwischen auch, dass er mit seinem Revolver umgehen kann wie ein Revolverheld. Aber genügt das? Sie entschließen sich und nicken. »Ja, wir machen es genauso, wie du es vorgeschlagen hast«, sagt Tom Elder.
5
Es beginnt schon am nächsten Mittag. Da kommt Tom Elder mit seinen beiden Freunden und Claimnachbarn Paul Poladis und Eric Standman nach Golden City und beginnt mit ihnen eine Feier. Zuerst tun sie ganz geheimnisvoll, wenn man sie nach dem Grund fragt, warum sie heute nicht auf ihren Claims arbeiten. Sie feiern Geburtstag, erklären sie dann feixend. Aber schließlich bekommen die Barmänner, die Mädchen und einige gute Bekannte heraus, dass Tom Elder auf seinem Claim eine große Goldtasche fand, also Nuggets in einer Art Nest, die aus irgendeiner Ader stammen müssen, die es in der Schlucht noch zu finden gilt. Es wird eine riesengroße Feier, und zum Schluss ziehen die drei Freunde und Claimnachbarn nach Mitternacht singend heim zu ihren Claims. Sie scheinen sinnlos betrunken, so als wüssten sie nicht mehr, was sie tun. Dabei haben sie alles getan, die Goldwölfe in die Falle zu locken, in der ein zweibeiniger Tiger auf sie wartet: Ty Cane.
Cane hat es sich bequem gemacht in der Hütte. Es ist eine recht gut ausgebaute Hütte, in der man es auch im kältesten Winter aushalten kann. Es gibt oben einen Speicher, auf dem man allerdings nur geduckt stehen kann. Tom Elder lagert hier seine Wintervorräte. Eine Leiter führt hinauf. Es gibt keine Luke, nur ein Viereck. Bevor es sich Ty Cane auf diesem Speicher bequem macht, probiert er aus, wie gut und schnell er hinunterspringen kann. Er übt dies einige Male, und es zeigt sich, dass er trotz seiner Größe sehr geschmeidig und beweglich ist. Er hat eine Decke und ein Kopfkissen mit hinaufgenommen und schläft den ganzen Tag. Aber nach Anbruch der Dunkelheit liegt er auf der Lauer wie ein Puma. Er lauscht auf alle Geräusche, und seine Überzeugung, dass irgendwann Besuch kommen wird, ist unerschütterlich. Wenn Tom Elder und seine Freunde in Golden City ihre Rolle richtig spielen, werden die Goldwölfe in die Falle tappen. Sie sind zu gierig, denkt Ty. Sie wollten mich ja auch nicht mit meinem Spielgewinn davonkommen lassen. Sie schnappen stets sofort zu und kennen keine Vorsicht. Sie fühlen sich zu sicher, weil sie sich organisiert haben und als zwar kleine, doch zielstrebig handelnde Minderheit im Vorteil sind gegen eine uneinige und führungslose Hammelherde. Aber wenn …
Er denkt nicht zu Ende, denn nun kommen sie. Die Tür hat kein Schloss, nur einen Riegel, den man auch von außen mit einem besonders gebogenen Haken öffnen kann. Offenbar sind solche Riegelsysteme hier als Schlossersatz üblich, denn die beiden Kerle vermögen es schnell, sich Einlass zu verschaffen. Sie verharren dann einige Minuten lauschend. Einer späht dabei durch die noch einen Spalt geöffnete Hüttentür nach draußen. »Nein, da rührt sich nichts«, sagt er schließlich und schließt die Tür endgültig. Der andere Mann fragt: »Was meinst du, Larry, sollen wir die Hütte schon mal durchsuchen nach seinem Schatz? Die meisten dieser ClaimMaulwürfe verstecken doch ihre Ausbeute unter einer Steinplatte ihres Kamins oder einem Brett im Fußboden, so ihre Hütten überhaupt einen haben. Dann sind noch die Mehlfässer, die Ölkrüge und die Latrinen hinter den Hütten beliebte Verstecke. Wollen wir suchen, Larry?« »Nein«, sagt dieser. »Warum sollen wir uns die Mühe machen, hier alles umzudrehen? Wir werden den Hausherrn fragen. Und wenn er sein Gold in der Latrine versteckt hat, soll er es selbst rausholen.« Nach diesen Worten machen sie es sich bequem in der Hütte. Einer beginnt bald schon leise zu schnarchen. Es ist jener, der sich auf Tom Elders Lager
ausstreckte. Der andere sitzt offenbar in dem selbstgefertigten Sessel am Tisch. Doch er tritt gegen das Lager des Schnarchers und flucht leise: »Oha, bist du närrisch? Dein Schnarchen ist fast bis nach Golden City zu hören. Deine Nerven möchte ich haben.« »Nur keine Aufregung«, murrt der andere Mann. »Aber wenn du mich soeben getroffen hättest mit dem Tritt, dann hätte ich dich mit meinem Hut erschlagen.« Er bekommt nur ein Knurren zur Antwort. Ty Cane, der oben auf dem Speicher liegt, rührt sich nicht, hört jedoch alles. Die Kaltschnäuzigkeit der beiden Goldwölfe sagt ihm, dass sie solch einen Überfall wie den hier geplanten gewiss schon oft durchführten. Was sie zu tun beabsichtigen, ist für sie nichts anderes als ein Routinejob. Er denkt: Vielleicht waren es sogar diese beiden, die meinen Freund und Partner Tom Clayton in der Gasse erschlugen und bestahlen. Ja, vielleicht waren sie es. Denn sie sind offensichtlich üble Killer, die ihr Opfer kaltblütig in der eigenen Behausung erwarten. Einer heißt Larry. Und der andere? Die Zeit vergeht jetzt sehr langsam für Ty Cane. Es ist gar nicht so einfach, unbeweglich zu liegen und keinerlei Geräusche zu verursachen. Wenn er zum Beispiel niesen müsste, könnte er
dies gewiss nicht so unterdrücken, dass es nicht zu hören wäre. Aber Ty Cane ist ein Mann, der nicht zum ersten Mal geduldig auf der Lauer liegt. Er musste seine Haut gegen Comanchen und mexikanische Banditen verteidigen, gegen Pferdediebe und Revolverhelden. Ty Canes Wege waren rauchig und oft auch sehr rau. Er war Deputy in Laredo, Wildpferdjäger, Postkutschenbegleiter bei Geldtransporten, Treibherdenführer – und zuletzt Rancher. Ja, es ist wohl so, dass die beiden Banditen in eine Höhle kamen, in der schon ein Tiger auf sie lauert. Und dieser Tiger lässt sich nur etwas Zeit. Es ist lange nach Mitternacht, als sie in der Hütte den Gesang trunkener Stimmen hören. Die Zecher kommen vom Hauptcanyon in die Querschlucht, und sie spielen ihre Rolle gut. Das muss auch Ty Cane anerkennen. Einige Male hat er Angst, dass die Sänger wirklich so betrunken sein könnten, wie sie es vorgeben. Sie kommen näher, und sie singen ein bekanntes Spottlied aus dem Krieg gegen Mexiko. Das war so abgemacht. Es ist das Zeichen für Ty Cane, dass sie in Golden City alles wie besprochen ausgeführt haben. Der Gesang verstummt. Tom Elder fragt laut: »Nun liebe Freunde und Nachbarn – Amigos, Compadres –, ay, wollt ihr noch mit in mein Schloss kommen?
Ich hab noch eine Flasche Pumaspucke! WhiteHorse-Geist aus Kentucky!« Sie johlen durcheinander. Doch dann verschafft sich Paul Poladis Gehör. »Ich hab genug! Genug von dieser gottverdammten Sauferei! Ah, im Fass vom letzten Whisky lag ein toter Hund. Ein verdammt toter Hund, sag ich euch. Ich muss …« Er verstummt und taumelt offenbar davon. Denn schon nach wenigen Sekunden klingt seine Stimme etwas weiter entfernt. »Ich geh mit ihm«, sagt Eric Standman mühsam, so als müsste er mit aller Energie gegen seine Trunkenheit ankämpfen. »Ich geh mit ihm, denn sonst fällt er noch in seine Latrine. Ich muss ihm helfen! Helfen muss ich ihm, oje!« Er torkelt dem anderen Mann offensichtlich nach. Denn man hört bald schon weiter entfernt seine trunkene Stimme rufen: »Nun warte doch auf mich! He, warte doch auf den guten alten Eric.« Indes steht Tom Elder draußen vor der Hütte und erleichtert seine Blase. Dabei lacht er immer wieder trunken und öffnet endlich die Tür. Er taumelt in die Hütte, findet am Tisch Halt und bringt es fertig, die Laterne anzuzünden, die an einem Stück Draht von der Decke taumelt. Als sich dann im Raum etwas Helligkeit ausbreitet, sieht er seine beiden Besucher. Sie grinsen ihn an – wortlos.
Er aber fragt, noch immer scheinbar betrunken: »Wer seid ihr denn? Bin ich in einer anderen Hütte? Aber es sieht doch alles so aus wie bei mir.« »Du bist daheim, mein Bester«, sagt einer der Banditen. »Wir haben dich nur besucht, um dir all die Sorgen abzunehmen, die hier jeder Bursche bekommt, der auf sein Gold aufpassen muss. Gib es uns, Bruder – und du bist alle Sorgen los. Na, geht das rein in deinen Schädel?« Tom Elder steht schwankend da. Es sieht so aus, als mühte sich sein Hirn, alles zu begreifen. Dann fragt er: »Und – und wenn ich mich weigere? Was ist, wenn ich euch sage, dass ihr Dummköpfe seid und zur Hölle gehen mögt?« »Dann machen wir in deinem Kamin ein Feuer und stecken dich mit dem Kopf hinein«, erwidert einer der Banditen hart. »Wir sind schon mit härteren Nummern als du eine bist zurechtgekommen«, sagt der andere Kerl. Tom Elder steht still, so als müsste er mühsam nachdenken. Dann aber jagt er einem der Kerle einen Aufwärtshaken unters Kinn. Und von oben springt Ty Cane herunter. Er landet voll auf dem anderen Mann und hilft Tom Elder dann, der dem Burschen, den er zwar hart traf, doch nicht gewachsen wäre. Es geht eine Weile sehr laut zu in der Hütte.
Doch dann liegen die beiden Banditen am Boden und stöhnen nur noch. Eric Standman und Paul Poladis kommen herein. »Na, habt ihr ihnen schon die erste Abreibung verpasst?«, fragt Poladis. »Ich hätte gern geholfen dabei«, lässt Eric Standman wissen und tritt einem der Kerle kräftig in die Seite. Seine Erbitterung muss schlimm sein, und das ist kein Wunder. Alle vier Männer sind grimmig und ohne Gnade. Denn sie wissen zu gut, dass ihnen hier zwei Mörder und Goldräuber in die Falle gingen. An diesem Morgen ändert sich einiges im Big Golden Canyon, und die Nachricht dringt schnell nach Golden City, der »Hauptstadt« des Goldlandes. George Prouster wird geweckt. »Verdammt, Boss, die Hölle ist ausgebrochen! Larry Slaughter und Chet Cloud sind in die Falle gerannt. In eine verdammte Falle! Tom Elder und seine beiden Nachbarn Poladis und Standman haben uns reingelegt, als sie gestern hier in der Stadt schon am späten Vormittag die große Feier begannen. Es gab bei Tom Elder kein verstecktes Gold zu holen. Larry und Chet rannten in eine Falle. Und nun sind sie die Gefangenen von mehr als hundert Goldgräbern. Jede Minute kommen einige Dutzend Digger hinzu. Die Nachricht, dass
zwei Goldwölfe und Claimräuber erwischt worden sind, breitet sich aus wie ein Präriefeuer. Sie kommen alle, um Larry und Chet zu hängen. Ja, ja, darauf wird es hinauslaufen. Verstehst du, Boss! Die Hammelherde ist keine mehr. Sie formiert sich zu einer Stampede von brüllenden Biestern. Was machen wir? Und noch etwas, Boss! Dieser Texaner, dieser Ty Cane, der uns entkommen ist, weil diese verdammte Honigbiene ihn vor allen Gästen in Schutz nahm, dieser verdammte Texaner ist mit im Spiel. Ich wette, dass er für die Falle verantwortlich war. Boss, dieser Texaner kam gewiss von Anfang an als unser Feind her. Was tun wir?« Der Mann sprudelte seine Worte nur so heraus. Nun verstummt er schnaufend und tritt ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. George Prouster flucht nicht einmal. Er schnauft nur böse, erhebt sich und geht zum Waschtisch in der Ecke neben dem Fenster. Er steckt den Kopf in die gefüllte Waschschüssel und zieht ihn prustend wieder heraus. »Nur keine Aufregung«, brummt er dann, sich abtrocknend. »Nur nicht durchdrehen, sondern kühlen Kopf und die Nerven behalten. Wir meistern auch diese Situation. Schließlich sind wir keine Pinscher! Wir schaffen auch diese Sache. Pass auf, Sloan! Ich gebe dir jetzt genaue Befehle …«
Es ist die erste große Goldgräberversammlung. Zuerst sind es nur einige Dutzend Goldgräber, vornehmlich die Nachbarn von Elder, Poladis und Standman. Doch es schwärmen Boten aus, und als dann die Nachricht in den großen Canyon kommt, wird sie zum Lauffeuer. Bei Sonnenaufgang sind schon an die dreihundert Goldgräber und Minenleute versammelt. In einer Bergfalte der Schlucht bereiten sie sich auf eine Gerichtsverhandlung vor. Es ist ein so genanntes »Goldgräbergericht«, das sich rasch bildet. Nicht wenige Digger haben dies alles schon in anderen Fundgebieten erlebt und wissen Bescheid. Es werden Geschworene gewählt. Ein Mann wird vorgestellt, der früher wirklich einmal Richter war in einer kleinen Stadt. Er wird fast einstimmig gewählt. Die beiden Gefangenen bekommen einen Verteidiger. Und indes dies alles schon unter Beteiligung von mehr als dreihundert Goldgräbern und Minenleuten geschieht, kommen immer noch mehr hinzu, nun aber nicht mehr zu Fuß, sondern im Sattel oder auf Wagen. Auf einem Wagen stehen die Geschworenen, auf einem zweiten befinden sich die beiden Gefangenen mit ihren Bewachern und dem Verteidiger.
Der dritte Wagen ist das Podium des Richters. Ein Tisch und ein Stuhl stehen auf der Wagenplattform bereit. Auf dem vierten Wagen thront der Ankläger. Und alles wird eingeschlossen vom immer dichter und größer werdenden Halbkreis der Zuschauer. Der weißhaarige Richter schlägt mit einem kleinen Steinhammer auf den Tisch. »Ich eröffne den ersten Goldgräber-Gerichtshof des Golden-Canyon-Landes«, sagt er laut und klar. »Der Ankläger mag jetzt die Anklage vortragen.« Auch der Ankläger ist ein Mann »vom Fach«. Denn irgendwo war er einmal Anwalt – bis auch ihn das Goldfieber packte und er in die Bitter Roots nach Montana zog. Er spricht leidenschaftlich und endet mit den Worten: »Es handelt sich also unzweifelhaft um zwei der so genannten ›Goldwölfe‹, denen bisher kaum einer der wenigen wirklich fündigen Goldgräber entkam. Wir hier wissen das ja alle. Die Goldwölfe lassen keines ihrer Opfer am Leben. Sie haben Angst, erkannt zu werden. Auch diese beiden hier haben – nicht zum ersten Male – einen Überfall ausgeführt. Es ist davon auszugehen, dass wir es hier mit zwei gnadenlosen Mördern zu tun haben. Dennoch wäre die Anklage bereit, ihnen jene Gnade zuzubilligen, welche allgemein Kronzeugen gewährt wird. Aber dazu wäre die
ganze Offenheit der Angeklagten notwendig. Sie müssten reden und dürften nichts verschweigen. Sie müssten uns die Namen ihrer Kumpane und vor allen Dingen die Namen ihrer Anführer nennen. Die Anklage ist der Meinung, dass die Kronzeugen frei ausgehen können, wenn sie das ganze Wolfsrudel mitsamt den Leitwölfen anprangern.« Nachdem der Ankläger dies laut genug gesagt hat, bekommt er Beifall. Es wird für eine Weile laut. Eine Stimme ruft schrill über den Lärm hinweg: »Legt ihnen schon mal die Schlingen um den Hals! Und dann fragt sie, ob sie reden oder sterben wollen! Ihr werdet sehen, wie schnell sie reden.« Die Menge ist einen Moment leiser geworden, hat zuletzt fast schweigend zugehört. Doch nun brüllt sie auf. Die Erbitterung der Goldgräber ist zu groß. Zu viele von ihnen wurden schon überfallen, ausgeraubt und getötet – manchmal auf dem Heimweg von Golden City, manchmal im Camp selbst –, und oft genug auf ihren eigenen Claims, in ihren Hütten. Und auch die Postkutschen, die noch Gold transportieren, werden immer wieder ausgeraubt. Die Postgesellschaft und die Versicherungen übernehmen keine Garantie mehr für Geldtransporte. Auch Goldgräber, die glaubten, sich mit ihrer Ausbeute heimlich aus
dem Land schleichen zu können, wurden von den Banditen geschnappt. Denn die Organisation der Goldwölfe funktioniert reibungslos. Die Goldgräber fühlen sich diesen Banditen ausgeliefert. Doch jetzt soll es anders werden. Jetzt haben sie zwei der Goldwölfe. Und nun wollen sie Rache, Vergeltung, Schutz, Sicherheit. Ja, der brodelnde Topf läuft über. Der Richter klopft mit seinem Prospektorenhammer wieder auf den Tisch. Und erst allmählich wird es still. Er wendet sich an die beiden Gefangenen, die trotzig mit hinter dem Rücken zusammengebundenen Handgelenken vor ihren Bewachern auf dem Wagen stehen. Doch hinter den trotzigen Mienen arbeitet bereits die nackte Angst. Sie sind bleich unter der gebräunten Haut. Und der Richter fragt laut und klar: »Wollt ihr reden, eure Kumpane offenbaren, alles schonungslos ausbreiten? Wollt ihr das? Nun, dann werden euch gewiss mildernde Umstände gewährt. Denn ihr rettet als reuige Sünder vielen anderen Goldgräbern das Leben.« Sie bringen vorerst noch keinen Ton heraus. Aber sie nicken beide, und sie tun es heftig.
Endlich stößt jener, der unter dem Namen Larry Slaugther bekannt ist, mühsam hervor: »Ja, wir wollen unsere Hälse retten. Wer kann uns das verdenken? Ja, wir wollen reden …« Weiter kommt er nicht. Denn vom oberen Schluchtrand gegenüber krachen zwei Gewehre. Es sind schwere Sharpsgewehre, mit denen man auf dreihundert Yards noch einen Büffel fällen kann. Die Entfernung vom jenseitigen oberen Schluchtrand beträgt jedoch keine zweihundert Yard. Die beiden Gefangenen werden in der gleichen Sekunde getroffen, beide an der gleichen Stelle, nämlich in der Herzgegend. Die Banditen des Goldlandes haben gute Gewehrschützen, und sie ermorden ihre eigenen Kumpane, bevor diese reden können. George Prouster, der Leitwolf des Rudels, hat seine Goldwölfe schnell genug ausgesandt. Dies rettet ihn noch für eine Weile. Ihm und seinem rauen Rudel kann so weiterhin nichts nachgewiesen werden, obwohl nicht wenige Leute wissen, dass er der Anführer der Goldwölfe ist, nicht nur der große Boss von Golden City. Die vier Männer sitzen eine halbe Stunde später in Tom Elders Hütte zusammen, verbittert und deprimiert.
Tom Elder spricht es dann aus: »Wir müssen abhauen. Denn das erbarmungslose Rudel wird uns jagen, bis sie uns erledigt haben. Wir waren schon fast am Ziel. Tausend Goldgräber hätten uns geholfen. Doch jetzt …« Er verstummt, blickt auf Paul Poladis und Eric Standman, die seine Freunde und Nachbarn sind. Sie erwidern seinen Blick. Dann nicken sie. Poladis sagt: »Ja, wir müssen fort. Sonst werden wir abgeknallt. Die Goldwölfe haben uns als ihre gefährlichsten Feinde erkannt. Schließlich haben wir diese Falle gestellt, zwei von ihnen gefangen und fast Erfolg gehabt mit unserem ganzen Plan. Sie werden uns zu töten versuchen.« Standman nickt zu Poladis’ Worten. Dann blicken sie alle drei auf Ty Cane. »Kommst du mit uns, Ty?«, fragt Tom Elder. Der Texaner scheint tief in sich hineinzulauschen. Dann schüttelt er den Kopf. »Nein«, sagt er, »ich reiße noch nicht aus. Ich versuche erst noch einmal, den Leitwolf des Rudels zu erwischen. Ich will ihn abschießen und dann versuchen zu entkommen. Ich gebe noch nicht auf. Aber ich reite noch ein Stück mit euch. Ich begleite euch aus dem Land. Sie sollen glauben, dass auch ich aufgegeben habe und meinen Skalp retten möchte vor ihrer Rache. Doch ich kehre in der Nacht zurück.« Er macht eine kleine Pause.
Dann sagt er hart: »Wenn ihr reiten wollt, dann reitet jetzt, zögert keine Minute länger. Denn sonst lassen sie euch gar nicht mehr aus ihrem Revier.« Die drei Goldgräber springen auf. Ja, sie haben Angst vor der Rache der Banditen. Wer kann ihnen das verdenken? Die große Menge der wütenden Goldgräber lief auseinander. Sie alle sind schon wieder auf ihren Claims und in den Minen. Die große Abrechnung fand nicht statt. Denn die Redlichen brauchen nun mal Beweise und wüten nicht auf bloßen Verdacht hin. »Ja, wir müssen weg, so schnell wie nur möglich«, schnappt Tom Elder. Er blickt aus dem kleinen Fenster der Hütte. »Sie können uns ebenfalls von den oberen Schluchträndern erschießen«, sagt er. »Sie können diese Hütte in Fetzen schießen mit schweren Gewehren. Wir sind hier keine Sekunde mehr sicher. Denn die Hammelherde, die sich schon gewandelt hatte zu einer Gemeinschaft, ist wieder eine Hammelherde. Wir haben verloren. Reiten wir.«
6
Sie reiten schon bald – vier Reiter, die auf der Flucht sind. Von vielen Claims sieht man ihnen nach – verstohlen. Niemand ruft ihnen etwas zu, zeigt Teilnahme. Denn sie sind die Verlierer gegen die Banditen. Wer jetzt offen zu ihnen steht, setzt sich damit selbst auf die Abschussliste der wilden Horde. »Wir sind jetzt gewissermaßen Aussätzige«, grollt Tom Elder einmal, als sie längst im Hauptcanyon reiten. Sie umreiten Golden City, die Burg der Goldwölfe, und streben dem südlichen Ausgang des Canyons zu. Die drei Goldgräber wollen in Richtung Bozeman. Erst dort wollen sie sich entscheiden, ob sie in eines der vielen anderen Goldfundgebiete gehen wollen, um dort nochmals ihr Glück zu probieren – oder ob sie sich einem Wagenzug anschließen, der leer aus dem Goldland nach Laramie zurückfährt. Von Fort Laramie aus können sie dann mit Postkutschen nach Kansas City fahren. In Kansas City können sie sich ausrüsten und es mit der Büffeljagd versuchen. Vielleicht kommen sie dabei schneller zu Dollars. Denn als Goldgräber hatten sie nicht sehr viel
Erfolg. Jeder von ihnen hat kaum mehr als für fünfhundert Dollar Goldstaub geschürft. Der Tag geht langsam zur Neige, und als die Sonne im Westen hinter den Bergen verschwindet, den Himmel rötet, kommen sie in die Deckung von Wald und Felsformationen, die sich aus dem Grün erheben als dunkle Rücken. Ty Cane hält an. »Ich bewache eure Fährte«, sagt er. »Bis zum Anbruch der Nacht wird euch von hier aus niemand folgen. Viel Glück. Es tut mir Leid, dass ich euch dazu gebracht habe, mir zu helfen.« »Das braucht dir nicht Leid tun«, erwidert Tom Elder. »Wir wollten ja selbst die großen Anführer der Herde werden, der Hammelherde. Wir wollten … Aaah, viel, viel Glück. Vielleicht erwischst du den Wolf von Golden City.« Er winkt und reitet weiter, ganz und gar ein verbitterter Mann, dem es nicht gefällt, nun auf der Flucht zu sein nach einer Niederlage. Seine beiden Freunde und Partner sagen gar nichts. Aber sie nicken Ty Cane zu und machen vielsagende Handbewegungen. Er sieht ihnen schweigend nach. Er kann sie gut verstehen. Sie wollten sich bewähren, Ordnung schaffen, Missstände beseitigen, Verantwortung übernehmen. Doch nun fühlen sie sich als Verlierer.
Und tief in ihrem Innern ist da gewiss ein Gefühl, das ihm, Ty Cane, die Schuld gibt. Denn er gewann sie für seinen Plan. Ihm vertrauten sie. Er ist gewiss der größere Verlierer. Und weil er dies fühlt, kann er nicht aufgeben. Er zieht sich mit seinem Pferd zu einer kleinen Felsgruppe zurück, die aus dem Grün der Bäume ragt wie ein Elefantenrücken. Er lässt sein Pferd dort zurück und geht dann mit einem Zweig seine Fährte ab, um sie zu verwischen. Denn vielleicht merken die Verfolger nicht, dass von dieser Stelle nur drei Reiter weitergeritten sind. Er hält sich dann verborgen und wartet. Die Dämmerung fällt über das Land. Das Rot am westlichen Himmel wird gelöscht von einem zunehmenden Blau. Aber dann kommen sie. Es ist ein starkes Rudel. George Prouster will keine Niederlagen mehr. Es sind ein Dutzend Reiter, und sie kommen genau auf der Fährte, angeführt von einem Halbblut als Scout. Ty Cane spannt sich an. Er hält sein Gewehr schussbereit. Denn dieser Halbblut-Mann ist gewiss ein guter Scout. Aber er hält nicht an. Er merkt nicht, dass statt vier nur noch drei Reiter ritten. Er erkennt es deshalb nicht, weil die Dämmerung schon zu stark fortschritt. Er müsste absitzen und tief am Boden suchen, dann würde er es gewiss noch erkennen.
Doch sie haben es zu eilig. Sie wollen ihr Wild noch vor der Nacht einholen. Aber das schaffen sie nicht. Ty Cane weiß es. Die Nacht kommt nun schnell, und die drei Goldgräber werden sofort ihre Fluchtrichtung ändern. Dann müssen die Verfolger auf den neuen Tag warten. Sie reiten vorbei, schnell, stetig, zäh und verbissen, und all das ausstrahlend, was von einem Wolfsrudel ausgeht, welches nach einem langen Blizzard der Fährte eines Elches folgt: gnadenlose Entschlossenheit. Auch Ty Cane sitzt wieder auf. Und er folgt dem Rudel. Das ist leicht für ihn. Denn wenn er anhält, kann er stets den Hufschlag hören. Als dann die Nacht mit ihrer ganzen Schwärze kommt, hält er an. Der Hufschlag vor ihm ist verklungen. Die Reiter haben auf der Fährte angehalten. Das mussten sie tun, wenn sie bei Tag die Fährte nicht erst wieder suchen wollen. Ty Cane wartet im Sattel. Und dann sieht er das Feuer. Sie haben ihr Camp auf der Fährte aufgeschlagen und ein Feuer entfacht. Ty Cane reitet nach rechts einen ansteigenden Hügel hinauf. Er ahnt die Bodenformation mehr, als dass er sie erkennen kann. Aber dann ist er auf einem Hügelkamm und blickt auf das Feuer hinab.
Die Pferde befinden sich in einem Seilcorral aus zwischen einigen Büschen ausgespannten Lassos. Am Feuer steht ein Mann, der den Boden einer Flasche gen Himmel hebt. Ty Cane trifft die Flasche, und ihr Inhalt spritzt ins Feuer, trifft auch den Mann. Es ist hochprozentiger Schnaps. Eine Flamme sticht empor. Der Mann beginnt wie eine Fackel zu brennen, wirft sich zu Boden und wälzt sich. Die Hölle ist los. Ty Cane feuert in den Corral auf die Pferde. Er muss es tun, denn sonst würde das Rudel der Goldwölfe ihn noch in der Nacht zu jagen beginnen. Und die Goldwölfe von Golden City laufen aus dem Bereich des Feuerscheins und suchen Deckung. Aber Ty Cane hält sich nicht länger auf. Er macht sich auf den Rückweg nach Golden City. Und weil er hier eine starke Mannschaft von Reitern zu Fußgängern machte und diese Männer im Golden Canyon jetzt nicht alle Wege bewachen können, wird er sich vielleicht sogar unbemerkt nach Golden City hineinschleichen können. Und dann? Er weiß es nicht. Er weiß nur, dass er George Prouster töten wird.
Schon Bells erster Auftritt war ein Erfolg. Die Gäste klatschten, trampelten, pfiffen, johlten vor Begeisterung und verlangten immer wieder eine Zugabe. Als sie nach diesem ersten Auftritt in ihr Zimmer ging, welches sie leicht durch einen Durchgang zum benachbarten Hotel erreichen kann, kam bald schon George Prouster herein. Er klopft niemals an. Denn Bell ist sein Besitz. »Du bist wirklich gut«, sagte er. »Das war eine gute Idee, dich auftreten zu lassen. Du bist jetzt endgültig die Queen von Golden City, die Fair Boston Queen, wie sie dich soeben gerufen haben.« Sie sah ihn an, und sie erkannte den lauernden und wachsamen Ausdruck in seinen etwas schrägen Wolfsaugen. »Passt dir etwas nicht an meinem Erfolg?« Er grinste. Dann trat er zu ihr, umfasste sie und küsste sie. Er tat es auf eine raue und besitzergreifende Art. Sie wehrte sich nicht. Ja, sie ließ es geschehen – aber sie zeigte ihm nichts, erwiderte nichts. Sie blieb unbeteiligt. Da gab er sie mit einem Fluch frei. »Da ist nichts zu spüren«, sagte er, »kein Feuer – nicht einmal Abneigung. Bin ich dir als Mann nicht gut genug, Bell?« »So kannst du mich nicht bekommen«, sagte sie, »so wirst du in mir nichts spüren als Kälte.
Wann wirst du endlich begreifen, dass ich keines deiner Flittchen bin, die sich geehrt fühlen, dem Boss gefällig zu sein!« Er wollte wütend reagieren. Dann aber lachte er und ging. Und da wusste er noch nicht, dass ihm am Morgen die böse Nachricht gebracht würde, dass zwei seiner Burschen vor ein Goldgräbergericht gestellt werden sollten. Auch Bell wusste nicht, was der nächste Tag bringen würde. Sie erfährt es erst gegen Mittag, als sie mit Prouster im Hotel beim Essen sitzt und einer von Prousters Männern meldet: »Boss, jemand hat die beiden gefangenen Banditen mitten aus der Gerichtsverhandlung herausgeschossen. Ist das nicht schlimm?« Der Mann feixt. Dann meldet er weiter: »Die drei Goldgräber und jener Texaner Ty Cane, die sind losgeritten. Die flüchteten aus dem Canyon und …« Bell hört einen Moment nicht mehr richtig zu. Sie denkt plötzlich sehr stark an diesen Texaner Ty Cane. Sie hat ihn kämpfen und siegen sehen. Seine Furchtlosigkeit hat ihr imponiert, denn irgendwie spürte sie instinktiv, dass hinter dieser Furchtlosigkeit mehr steckte als nur der Wunsch, sich durch Kühnheit zu behaupten.
Nun begreift sie, dass tatsächlich mehr dahinter steckte. Denn Ty Cane war ganz offensichtlich einer der Initiatoren des Widerstandes gegen die Goldwölfe. Er hat mit drei Partnern den Versuch gemacht, George Prouster und seine BanditenOrganisation zu vernichten. Doch sie konnten es nicht schaffen. Jetzt sind sie auf der Flucht. Sie denkt mit Bedauern an diesen Texaner, und sie kann ihm jetzt nur noch Glück wünschen. Nein, sie glaubt nicht, ihn nochmals wiederzusehen. Dann kommt sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie hört Prouster sagen: »Harvey Spade soll ein Dutzend Jungens nehmen und sie verfolgen. Ich will die Skalpe dieser vier Hundesöhne haben, die uns so sehr schadeten. Verstehst du, Calder, ich will den Tod dieser vier Narren gemeldet bekommen! Also los, Calder! Harvey Spade soll reiten. Und er soll Blue Rock als Scout mitnehmen. Vorwärts, Calder!« Der Mann läuft hinaus. Bell aber sieht Prouster an. Sie wurde soeben Zeugin eines klaren Mordauftrags. Der Appetit ist ihr vergangen. Doch sie bezwingt die Übelkeit. Sie denkt: Er hat auch Onkel Jones umbringen lassen oder selbst getötet. Er hat viele Menschen töten lassen. Er ist ein grausamer Wolf ohne Gnade, der Beute machen will, koste es, was es wolle. Ich verachte ihn. Ich hasse und verabscheue
ihn. Und dennoch muss ich mich von ihm küssen lassen. Wie lange kann ich das ertragen? George Prouster sieht sie fest an. Es scheint ihr fast, als könnte er ihre Gedanken und Gefühle erraten. Sein scharfer Instinkt strömt gegen sie, versucht in ihre Gedanken einzudringen. Ja, sie spürt es deutlich. »Du armer Verrückter«, sagt sie da. »Du tust mir Leid. Seit dem Tag, da du meinen Onkel Jones nach dem doppelten Salto absichtlich nicht aufgefangen hast, sondern abstürzen ließest, um Stella zu bekommen, ist es schlimm mit dir bergab gegangen. Ich glaube nicht, dass ich bei dir bleiben kann.« »Doch« sagte er, denn er fühlt sich herausgefordert. »Du musst bei mir bleiben. Bell. Du musst! Ich will es so! Und wenn du dich nicht bald unterwirfst, dann lasse ich dich auf andere Weise den Schaden bezahlen, den du angerichtet hast. Dann wirst du bald in einem der Häuser leben, vor deren Türen die roten Laternen hängen. Ich wette, du hättest dort besonders gut zahlende Kundschaft. Verstehst du? Ich will deine Unterwerfung. Ich will dich haben. Du sollst endlich ganz und gar zu mir überlaufen. Und heute Abend stehst du auf der Bühne und machst mir wieder die Zuschauer heiß. Sie haben gestern mehr getrunken nach deinem Auftritt. Und später waren meine Häuser am Stadtrand voller als sonst. Sie erhöhen dort die Preise. Du hast einigen
hundert Gästen eingeheizt. Sie sehnen sich in ihrer Einsamkeit plötzlich nach Wärme, Liebe, Zärtlichkeit – und den Stimmen und dem Lachen der Mädchen. Ja, es sind alles mehr oder weniger einsame Burschen, die schwere Arbeit verrichten und von einem besseren Leben träumen. Deshalb kann ich ihnen auch so leicht die Taschen leeren. Mit deiner Hilfe ist es noch leichter. Ich lasse dich nicht mehr aus, schöne Bell. Damit solltest du dich abfinden. Doch wenn du mir eine gute Jagdgefährtin bist, wirst du gleichrangig neben mir sein. Dann sind wir wie ein Wolfspärchen auf der Jagd. Denk mal darüber nach.« Er wirft die Serviette auf den Tisch, erhebt sich und geht. Sie bleibt noch sitzen, und sie wundert sich bald darauf, dass ihre Gedanken ganz ruhig, sachlich und präzise sind. Es ist keine Panik in ihr, keine Resignation. Und sie denkt an diesen Texaner Ty Cane, der – so furchtlos er auch war – keinen Erfolg hatte gegen den Wolf von Golden City und sein Rudel. Vielleicht habe ich mehr Erfolg, denkt sie. Der Tag vergeht langsam. Bell übt mit den Musikern der Golden Hall einige weitere Lieder ein und legt sich am späten Nachmittag noch einmal hin, um frisch zu sein für die lange Nacht. Immer wieder muss sie an Ty Cane und die drei Goldgräber denken. Sie sind auf der Flucht, und
niemand hilft ihnen. Die große Menge der Goldgräber und Minenleute, die sich einfand zur Gerichtsverhandlung unter freiem Himmel, hat sich wieder verlaufen. George Prousters Revolvermann und Stellvertreter Harvey Spade ist mit einem Rudel von Killern hinter ihnen her. Ob die vier Männer den Killern entkommen? Sie verspürt ein tiefes Bedauern. Dieser Texaner hat sie irgendwie beeindruckt. Das lag nicht daran, dass er gegen sie beim Poker gewann – nein, es war eine Strömung zwischen ihnen. Vielleicht war sie deshalb eine solch schlechte Pokerspielerin. Ich werde ihn niemals Wiedersehen, denkt sie mehrmals. Sie schläft ein. Es wird ein tiefer Schlaf. Als sie erwacht, ist es draußen dunkel geworden. Es muss schon spät in der Nacht sein. Sie erhebt sich, zündet die Lampe an und geht zum Fenster, um es zu schließen, weil sonst bald schon Nachtfalter und dergleichen hereingeflogen kommen, angelockt vom Lichtschein in ihrem Zimmer. Sie beugt sich im Lampenschein noch einmal weit aus dem Fenster, und sie hat einen Moment den Eindruck, als bewegte sich im dunklen Hof die Silhouette eines Mannes. Aber als sie genauer hinsieht, ist nichts mehr zu erkennen.
Sie schließt das Fenster, zieht den Vorhang zu. Und als sie sich umwendet, kommt Prouster herein. »Was ist denn los mit dir?«, fragt er. »Die Gäste reißen mir fast das Haus ein. Die brüllen nach dir. Warum lässt du sie warten? Willst du mich ärgern? Hast du Launen?« Er kommt näher, hält dicht vor ihr inne. Aber sie wendet sich zur Seite und tritt vor den Spiegel, um ihre Haare zu ordnen. Er aber reißt sie am Arm herum. »Pass auf«, sagt er, »ich sag es dir nur noch diesmal. Du kannst es gut haben bei mir. Du bist schön und kannst die Menge begeistern. Mit deiner Hilfe wird sehr vieles für mich leichter. Aber wenn du Launen hast, wenn du mich ärgern möchtest, dann …« Er greift ihr in den Ausschnitt des Kleides und reißt es mit einer einzigen wilden Bewegung von oben bis unten auf. »Damit es schnell geht mit dem Umziehen«, sagt er. »Und jetzt antworte.« Sie steht ruhig vor ihm. »Ich habe verschlafen«, sagt sie. »Ich schlief wie betäubt, weil ich wahrscheinlich in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekam. Ich werde in Zukunft nicht verschlafen, da kannst du sicher sein. Es wäre dumm von mir, dich mit irgendwelchen Launen ärgern zu wollen. Für so naiv wirst du mich doch wohl nicht halten – oder?«
»Nein«, sagt er, und er blickt an ihr nieder. Sie erkennt das Glitzern in seinem Blick, doch sie rafft das zerrissene Kleid nicht zusammen. Sie steht vor ihm, zeigt ihm eine Menge und lässt ihn erkennen, wie gut gewachsen sie ist. Denn er hat ihr die verführerischste Reizwäsche besorgt, die hier in der Campstadt zu bekommen ist. Doch er erinnert sich – da er in ihre kühlen Augen blickt – wieder daran, wie kalt sie blieb, als er sie küsste und wie vergeblich er auf das Feuer wartete, welches er in ihr zu entfachen hoffte. Nein, sie ist nicht mehr das kleine Mädchen von damals, das ihn bewunderte als den wichtigen Fänger einer berühmten Artistengruppe. Sie ist erwachsen, reif und schön, voll bitterer Erfahrungen. Vielleicht hasst sie ihn sogar. Er wendet sich mit einem Ruck ab und geht zur Tür. Von dort aus sagt er: »Wenn ich rausfinden sollte, dass es zwischen uns nichts wird, Bell, dann lass ich dich fallen hier in Golden City. Und dann wirst du bald eines der vielen Flittchen sein. Ich lass dich jetzt gleich unten ankündigen. In fünf Minuten stehst du auf der Bühne.« Er geht hinaus, und er lässt die Tür offen. Bell beeilt sich. Und wenige Minuten später steht sie auf der Bühne, empfangen von brüllendem Beifall, Fußgetrampel, Händeklatschen, Pfiffen, Rufen. Sie wartet, bis es still wird.
Und dann singt sie von dem Burschen, der auszog, sein Glück zu machen, und von dem Mädchen, das daheim zu warten schwor – und welches alt und grau wurde dabei. Erst nach vielen, vielen Jahren kommt der einst so junge Bursche als erfolgloser, grauhaariger Mann zurück. Doch sie liebt ihn immer noch und ist froh, dass er endlich da ist. Als sie verstummt, brüllen sie los wie ein Orkan, denn sie hat ihnen aus dem Herzen gesungen. So viele von ihnen haben daheim eine Frau oder ein Mädchen, die auf sie warten, und so viele von ihnen sind losgezogen, das Glück zu machen und fanden es bis jetzt nicht, trauen sich nicht heim. Ja, sie sang ihnen aus dem Herzen. Sie singt noch zwei Lieder. Im Scheine der Karbidlampen bewegt sie sich ganz natürlich, und dennoch können die Männer sich an ihr nicht satt sehen. Sie ist ganz einfach eine reizvolle Frau mit enormer Ausstrahlung. »Ich komme in einer Stunde wieder«, ruft sie von der Bühne und wirft einige Kusshände in den Saal. »Weil ihr heute so lange auf mich warten musstet, komme ich in einer Stunde noch mal und singe für euch.« Beifall folgt ihr. Als sie in ihr Zimmer im Hotel kommt, das sie ja von der Golden Hall aus mühelos erreichen kann, ist sie darauf gefasst, George Prouster zu sehen. Als sie sang, stand er hinter der Bühne und
sah zu. Aber bevor sie die Bühne verließ, war er weg. Doch hier in ihrem Zimmer ist er nicht. Sie ist froh darüber, denn offensichtlich muss er sich um andere Dinge kümmern. Denn es geschieht hier in Golden City nichts ohne seinen Willen und seine Erlaubnis. Sie tritt vor den Spiegel. Und da sieht sie den Mann. Ja, es ist der Texaner Ty Cane. Sie erkennt ihn sofort wieder. Bei ihrem Eintritt hat er sich hinter dem Wandschirm verborgen. Doch nun erhob er sich vom Hocker. Er überragt den Wandschirm, und dies ist kein Wunder, denn schon Bell kann darüber hinwegsehen. »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagt er. »Doch sie suchen in der Stadt schon nach mir. Jemand hat mich kommen sehen. Ich musste durch eine Lichtbarriere reiten. Sie haben schon mein Pferd. Ich dachte mir, dass ich hier bei Ihnen besonders sicher bin.« »Das ist falsch«, sagt sie schnell. »Ich darf die Tür dort nicht abriegeln. Zwar muss jeder Mensch – außer George Prouster – anklopfen, der zu mir will, und Prouster würde jedem Narren die Haut in Streifen schlagen lassen, der das missachtet, doch er selbst kommt einfach hier herein. Ich bin sein Besitz, verstehen Sie, Ty Cane, ja?«
»Sie haben sich meinen Namen gemerkt«, sagt er und bleibt hinter dem Wandschirm, sodass er sich wieder leicht dahinter ducken könnte. Sie aber beobachtet ihn nicht länger im Spiegel, sondern wendet sich ihm zu, tritt näher an den Wandschirm heran. Sie betrachten sich einige Atemzüge lang schweigend. Es ist ein ernstes Forschen. »Waren Sie das vorhin im Hof, als ich das Fenster schloss?«, fragt sie schließlich. »Sie standen im Dunklen und erkannten mich im Fenster.« Er nickt. »Ohne Ihre Fairness, Fair Bell, würde ich vielleicht nicht mehr leben. Hatten Sie große Schwierigkeiten, weil Sie nicht duldeten, dass man mich des Falschspiels bezichtigte?« Sie nickt. »Ja«, sagt sie. »Doch ich steckte schon vorher in Schwierigkeiten. Ich kann Ihnen das nicht erklären.« »Warum nicht?«, fragt er ernst. Sie schüttelt nur leicht den Kopf. Ruhig fragt sie: »Warum sind Sie zurückgekommen? Wir hörten, dass Sie zusammen mit jenen drei Goldgräbern geflüchtet seien, nachdem die gefangenen Goldwölfe vor dem Goldgräbergericht nicht dazu kamen, die Kronzeugen zu machen und die ganze Bande bloßzustellen. Warum sind Sie zurückgekommen? Ich glaube nicht, dass dies eine gute Idee war.«
»Vielleicht«, sagt er ernst und hart, »will ich mir den Leitwolf schnappen.« Sie erschrickt. Er kann es erkennen. Und er sieht ihr an, dass sie seine Worte sofort richtig einschätzt. »Sie haben hier meinen Freund und Partner erschlagen und ausgeraubt«, sagt er. »Er hatte eine Rinderherde hergetrieben und verkauft. Sie ließen ihn nicht mit dem Erlös entkommen, so wie sie mich nicht mit meinem Spielgewinn abziehen lassen wollten. Verstehen Sie?« Oh, wie gut sie plötzlich alles versteht. Sie fragt: »Und wie konnten Sie wissen, Ty Cane, dass Sie ausgerechnet bei mir einen solch hohen Spielgewinn machen würden?« Er zuckt mit den Achseln. »Eine Eingebung, der ich nachgab. Ich sah Sie an, Bell, und wusste, dass ich bei Ihnen immer gewinnen würde.« »Immer?« Er nickt. »Auch jetzt, nicht wahr? Oder sind Sie nicht seine Gefangene, Bell? Als Sie für mich eintraten, da wusste ich, dass Sie nicht auf seiner Seite sein konnten. Nein, das war meiner Meinung nach nicht möglich – Sie und er, nein. Ich werde hier auf ihn warten.« »Und dann?« »Er trägt doch wohl einen Colt – oder?« Sie nickt. »In einem Schulterholster«, sagt sie, »und er übt damit. Es ist eine Sprunghalfter.
Wenn er mit dem Innenarm dagegen drückt, springt ihm der Colt in die offene Hand. Sie wollen ihn hier erwarten und mit ihm kämpfen?« Er nickt. Sie schüttelt den Kopf. »Und was dann?« »Wenn Sie wollen, Bell«, sagt er, »bringe ich Sie von hier fort. Ich habe eine hübsche Ranch in Oregon. Es ist ein schönes Land. Mein Partner ist tot. Ich bin jetzt sehr allein dort mit ein paar Helfern. Vielleicht würden Sie gern ein neues Leben beginnen, Bell.« Sie staunt. Denn was er ihr da so selbstverständlich vorschlägt, ist nicht nur in einer Hinsicht ungeheuerlich. Er ist hergekommen, George Prouster zu töten. Doch zugleich aber wirbt er um sie. Macht er Letzteres nur deshalb, um sich ihrer Hilfe zu versichern? Oder hatte auch er damals am Spieltisch, als sie an ihn fast ihr ganzes Geld verlor, das gleiche Gefühl wie sie? Hat auch er danach immerzu an sie gedacht wie sie an ihn? Sie glaubt es ziemlich sicher. Und sie fragt sich, wie sie ihm helfen kann – und sich selbst.
7
Noch bevor sie etwas sagen kann, überstürzen sich die Ereignisse. Die Tür geht auf – jäh und unerwartet. George Prouster erscheint. Ty Cane duckt sich rechtzeitig hinter den Wandschirm. Bell wendet sich Prouster zu. »Verdammt«, sagt sie, »ich bin bestimmt keine Lady und will auch nicht wie eine solche behandelt werden. Aber wenn du einen Funken Anstand hättest, würdest du anklopfen.« »Ich habe keinen«, erwidert er grimmig und bleibt in der offenen Tür stehen. Er sagt von dort drohend: »Pass auf, dieser Ty Cane ist in meiner Stadt. Du hast ihm schon einmal einen großen Dienst erwiesen. Vielleicht – wenn wir ihn erst aufgespürt haben und zu jagen beginnen, versucht er …« George Prouster spricht nicht weiter. Denn Ty Cane erhebt sich hinter dem Wandschirm und tritt hervor. George Prouster zeigt nun, dass er nicht nur ein Boss ist, der die raue Arbeit seinen Banditen überlässt. Er entschließt sich in Sekundenbruchteilen zum Kampf, und der
Revolver springt ihm unter der offenen Jacke in die geöffnete Hand. Es gleicht einer Zauberei. Aber Ty Cane ist schnell, unheimlich schnell, obwohl er die schwere Waffe ziehen und hochschwingen muss und ihm dabei keine raffiniert eingebaute Feder eines so genannten »Sprungholsters« hilft. Ihre Schüsse krachen wie ein einziger. Und beide treffen. Ty Cane scheint von einer unsichtbaren Keule getroffen zu werden. Er dreht sich zur Seite und fällt halb hinter den Wandschirm. Nur noch seine langen Beine sind ausgestreckt am Boden sichtbar. George Prouster dreht sich ebenfalls getroffen ab. Die Kugel muss ihn böse in die Seite getroffen haben. Er taumelt wie ein Betrunkener, wird unsichtbar. Man hört ihn draußen auf den Gang fallen. Bell aber handelt instinktiv. Sie weiß später nicht zu sagen, von welchen Kräften sie angetrieben wurde zu ihrer Handlungsweise, aber vor allen Dingen ist es die Angst um Ty Cane. Sie zieht den Wandschirm ein Stück zur Seite, sodass Cane wieder völlig hinter ihm verborgen wird. Dann eilt sie zum Fenster, reißt es auf und beugt sich weit hinaus.
»Dort läuft er! Hilfe! Hilfe! Dort läuft er!« Hinter ihr kommen einige von Prousters Männern ins Zimmer. Sie fanden Prouster schon draußen auf dem Gang. Bell wendet sich ihnen zu. »Er schoss durch das Fenster auf Prouster«, ruft sie wild. »Er muss draußen an der Hauswand hochgeklettert sein oder eine Leiter benutzt haben. Er schoss durch das offene Fenster auf Prouster, als dieser durch die Tür zu mir hereinkam. Na, los, verfolgt ihn doch! Sucht ihn doch endlich! Was steht ihr hier herum?« Sie starren Bell an – aber dann handeln sie. Drei von ihnen machen kehrt und laufen die Treppe hinunter. Zwei aber klettern über die Fensterbank und springen in den Hof. Sie landen geschmeidig und machen sich auf die Suche. Bell blickt hinter den Wandschirm. Ty Cane liegt dort wie tot. Doch sie kann nichts für ihn tun – gar nichts. Denn draußen auf dem Gang befindet sich Prouster. Sie muss nach Prouster sehen. Ob er tot ist? Dies fragt sie sich, und zum ersten Mal in ihrem Leben erhofft sie den Tod eines Menschen. Schnell eilt sie hinaus. Draußen auf dem Gang liegt Prouster. Zwei Männer kümmern sich um ihn. Offenbar lebt er noch. Denn als Bell bei der
Gruppe ist, beginnt Prouster sich stöhnend zu bewegen. Panik will Bell erfassen. Denn was kann sie schon tun, um sich und Ty Cane zu retten – wenn letzterer überhaupt noch lebt und zu retten ist? Was also kann sie tun? Plötzlich weiß sie es. Sie hat Angst, dass sie Prouster aufheben und in ihr Zimmer tragen könnten. Dann würden sie gewiss auch den noch wie bewusstlos oder gar tot am Boden liegenden Ty Cane finden, denn auf dem Weg zum Bett, auf welches sie Prouster legen würden, kämen sie am Wandschirm vorbei und könnten den Mann dahinter am Boden liegen sehen. Sie sagt schnell: »Bringt ihn in sein Zimmer! Legt ihn auf sein Bett! Und dann holt einen Doc. Los, vorwärts! Macht schon!« Sie gehorchen, denn ihrer Meinung nach ist sie schon seine Geliebte. »Kommen Sie mit, Fair Bell?« »Nein«, sagt sie. »Ich muss auf die Bühne. Ich halte möglichst viele Gäste im Saal. Dann laufen nicht so viele Männer draußen in der Nacht umher. Die Jagd auf den Texaner ist dann leichter für euch alle. Oder nicht?« »Sie sind klug«, sagt einer der Männer. Sie heben den sich schwach bewegenden Prouster auf und schleppen ihn ein Stück den Gang entlang bis zu seinem Zimmer.
Bell kehrt noch einmal zurück zu Ty Cane. Dabei eilen ihre Gedanken tausend Meilen in der Sekunde. Ja, sie weiß schon, was sie tun wird. Doch sie muss sich überzeugen, ob Ty Cane noch lebt. Und das stellt sie schnell fest. Er hat eine üble Kopfwunde. Es muss eine tiefe Schramme sein. Die Kugel muss ihn wie eine Keule getroffen haben. Überdies schlug er auch noch mit dem Kopf schwer auf den Boden. Das Blut läuft aus der Wunde, aber dies ist auch ein Zeichen für Bell, dass er noch lebt. Sie eilt zum Waschtisch, nimmt das Handtuch, macht es etwas nass und kniet dann bei Ty Cane. Sie bindet ihm das Handtuch um den Kopf, so gut sie kann. Hastig zerrt sie ihn in eine etwas günstigere Lage, sodass er etwas besser hinter dem Wandschirm verborgen liegt. Dies alles geht schnell, dauert kaum mehr als zwei Minuten. Als sie sich dann auf den Weg macht, da ist ihr bewusst, dass sie einen verzweifelten Versuch machen muss, ihn und sich zu retten. Und das geht nur, wenn sie George Prouster vernichten kann, ihn und sein böses Rudel der Town- und Goldwölfe. Aber Golden City ist ja keine richtige Town, mehr eine Campstadt. Also sollte man Camp- oder Goldwölfe sagen. Sie begibt sich geradewegs auf die Bühne.
Die Kapelle spielt sofort einen Tusch. Beifall lärmt. Begeisterte Rufe klingen. Man ruft ihren Namen: »Fair Boston Bell! Fair Bell!« Ja, sie hat einen Namen in dieser Campstadt. Es sprach sich herum, dass sie für einen Spieler eintrat. Sie freut sich plötzlich sehr über ihren Namen. Der Beifall und das Rufen dieses Namens machen ihr Mut. Sie hebt die Hände, bittet mit unmissverständlicher Bewegung um Ruhe. Und da wird es auch bald still, sehr still, denn sie alle wollen hören, was Fair Boston Bell ihnen zu sagen hat. Sie spüren, dass es etwas sehr Wichtiges sein muss. Und sie sagt es laut und klar. Ihre Stimme hat einen Klang, der die Gäste der Golden Hall von Anfang an aufhorchen lässt. »Da gab es unter euch ein paar Männer«, beginnt sie, »die fingen zwei Goldwölfe. Und dann gab es andere Männer, die stellten sich als Jury, als Richter, Ankläger und Verteidiger zur Verfügung. Ein Goldgräbergericht sollte tagen. Und die beiden gefangenen Goldwölfe waren schon bereit, als Kronzeugen auszusagen und die ganze Bande der Mordbanditen zu verraten – auch den Boss endlich bloßzustellen. Aber da krachten Schüsse. Man tötete die Kronzeugen, bevor sie etwas sagen konnten – und alle, alle, alle liefen
wieder auseinander! Jetzt sitzen sie hier. Ja, die meisten von euch waren doch wohl dabei. Und ihr wollt von mir Lieder hören, statt aufzuräumen mit dieser Mordbande und ihrem Boss.« Sie macht eine Pause. Und eine trunkene Stimme ruft aus dem Hintergrund des Saales: »Ja, wer ist denn der Boss? Wer nennt denn endlich seinen Namen?!« Geraune wird laut. Bell aber verlangt mit einer Handbewegung wieder Ruhe. »George Prouster ist der Boss«, ruft sie. »Das wissen doch die meisten von euch. Gewiss, man konnte ihm das bis jetzt nicht beweisen. Doch ich, ich sage es euch jetzt! Er ist der Boss der Goldwölfe! Ich war heute gegen Mittag Zeugin, wie er ein Dutzend seiner Banditen hinter den Flüchtlingen herschickte. Er gab ihnen den Auftrag zum Töten. Einen Mordauftrag! Ich schwöre euch, dass ich es hörte. Die Männer, die für euch alle etwas in Gang brachten, die mit den Banditen aufräumen wollten und dann flüchten mussten, wurden bald schon verfolgt. Und das lasst ihr zu? Was seid ihr denn für eine miese Bande von Feiglingen! Ich soll mich hier auf die Bühne stellen und euch romantische Lieder singen. Und ihr betrinkt euch, lasst es euch gut gehen, indes die Mörder eure …« Sie kommt nicht weiter. Ihre Stimme geht nun unter im Gebrüll.
Denn sie hat die Goldgräber und Minenleute nun angestachelt. Sie hat all das in ihnen geweckt, was schon lange in ihnen gärte. Zuerst ruft eine gellende Stimme: »Dann holen wir uns doch endlich den großen Wolf! Ziehen wir ihm das Fell ab! Dann wird er seinen Killern keine Mordaufträge mehr geben können!« Die Forderung wird zuletzt vom wilden Gebrüll der anderen Stimmen übertönt. Und alles gerät in Bewegung. Vier- oder fünfhundert Goldgräber und Minenleute sind sich plötzlich einig. Sie brechen los – und es fängt damit an, dass sie Stühle und Tische umkippen, aus dem Weg stoßen, gegen die Wände werfen und die Golden Hall – von der ja jeder weiß, dass sie George Prouster gehört – auseinandernehmen und klein machen. Sie steigern sich dabei in einen wilden Rausch, und sie haben ja eine Menge abzureagieren. Viele von ihnen leben schon lange in Angst vor den Gold- und Claimwölfen. Es ist ihnen seit langer Zeit schon nicht mehr möglich, ihren Familien daheim etwas von ihrer Goldausbeute oder ihrem Verdienst in den Minen zu schicken. Denn stets wurden die Gold- und Geldtransporte überfallen. Bell steht einige Atemzüge lang still auf der Bühne. Sie hat zwar das, was jetzt losbricht, gewollt. Er schien ihr als die einzige Möglichkeit. Denn sie
will Prouster vernichten und sich selbst und Ty Cane retten. Nun erlebt sie, wie schnell eine mehr oder weniger betrunkene Masse von wilden Burschen verrückt gemacht werden kann, wie rasch eine scheinbar friedliche Versammlung von Tingeltangel-Gästen zu einer tobenden Menge wird. Soll sie das bedauern? Sie weiß, dass diese wilde Menge jetzt in ganz Golden City aufräumen wird. Sie hat die große Herde auf die Wölfe gehetzt. George Prouster und seine rauen Burschen wird man jetzt in der ganzen Stadt jagen und klein machen. Es fehlen ja ohnehin gut ein Dutzend der gefährlichsten Revolverschwinger. Prousters wilde und harte Horde ist geschwächt. Aber sie wäre auch vollzählig diesen losbrechenden Goldgräbern und Minenleuten nicht gewachsen. Mit Schüssen ist die Menge nun nicht mehr aufzuhalten. Bell erinnert sich an Ty Cane. Und so eilt sie zu ihm. Als sie zu ihm kommt, kniet er am Boden und hält sich den Kopf. Das Handtuch, welches sie ihm um den Kopf und über die Wunde band, ist blutdurchtränkt. Sie hockt bei Ty Cane nieder, berührt ihn, spricht zu ihm. »Steh auf«, sagt sie. »Ich helfe dir dabei! Komm hoch, Texas. Wir müssen zum Waschtisch
in die Ecke dort drüben. Da kann ich nach deiner Kopfwunde sehen. Komm nur, mein Freund – komm nur.« Sie zerrt ihn hoch. Er gehorcht, aber er schwankt wie ein Betrunkener. Seinem Kopf muss es sehr schlimm gehen. Er stößt ein grollendes Seufzen aus. Aber er lässt sich von ihr in die Ecke führen, stützt sich dann vorgebeugt mit beiden Händen auf den Waschtisch und erträgt alles schnaufend, was sie mit ihm macht. Nur einmal fragt er gepresst: »Was ist mit Prouster?« »Seine Leute trugen ihn weg. In sein Zimmer. Er ist zumindest schwer angeschossen worden und …« Sie verstummt, denn hier oben wird es laut. Draußen auf dem Gang lärmen Männer. Sie rufen und trampeln. Schüsse krachen. »Meinen Colt«, verlangt Ty Cane knirschend. »Bell, mein gutes Mädchen, bring mir meinen Colt!« Sie verlässt ihn, sucht im Zimmer nach seinem Revolver. Sie findet ihn. Und draußen auf dem Gang brüllt eine Stimme: »Los, schafft den Boss über die Hintertreppe hinaus! Sie zünden die Golden Hall an. Das Feuer wird übergreifen! Schießt auf alles, was sich auf der Treppe zeigt. Lasst sie von der Golden Hall her nicht herauf!«
Die Stimme überschlägt sich. Auf dem Gang sind viele Geräusche. Doch Bell kann sich gut vorstellen, was das alles zu bedeuten hat. Prousters Männer haben alle Goldgräber und Minenleute, die von unten heraufkamen und nach Prouster suchten, noch einmal mit heißem Blei zum Rückzug gezwungen. Doch sie wissen, dass sie sich nicht halten können. Nun wollen sie mit ihrem Boss über die Hintertreppe flüchten. Sie dürfen keine Sekunde zögern, denn sonst haben die Goldgräber und Minenleute alles umstellt. Dann kommt auch niemand mehr über die Hintertreppe in die Seitengasse. Sie beeilen sich mächtig, jagen Kugeln den Gang entlang zur Treppe zurück, über die ihre Verfolger nach oben drängen. Und auch diese Verfolger schießen. Auch draußen auf der Straße ist der Teufel los. Bell gibt Ty Cane den Revolver. Er lehnt an der Wand, hat dort Halt gesucht. Es sieht so aus, als könnte er sie gar nicht sehen. Er scheint sich nur auf sein Gehör zu verlassen. Aber es kommt niemand zu ihnen herein, vorerst wenigstens nicht. Prousters Männer sind zu sehr mit ihrer Flucht und dem Transport ihres Bosses beschäftigt. Immer noch krachen draußen auf dem Gang Schüsse, und erst ein wenig später drängen die brüllenden Goldgräber nach.
Einige kommen ins Zimmer gestürmt. Bell drückt Ty Canes Hand mit dem Colt nieder, verdeckt ihn halb mit ihrem Körper, so als wollte sie ihn schützen. Den Männern ruft sie zu: »Dies ist Ty Cane, der Texaner! Er ist zurückgekommen und hat mit Prouster gekämpft! Prouster ist angeschossen!« »Und wir holen ihn uns und hängen ihn auf!« Eine heisere Stimme brüllt es. Andere Stimmen fallen ein – und dann stürmen sie wieder aus Bells Zimmer, folgen den anderen, die Prousters Männern über die Hintertreppe folgen. Das Krachen der Schüsse entfernt sich, klingt schon vom Hof herein oder von der Seitengasse, zu der die Hintertreppe führt. Durch das Fenster leuchtet nun Feuerschein. Die Golden Hall scheint schon lichterloh zu brennen. Bell wendet sich an Ty Cane. »Kannst du sehen? Was ist mit deinem Kopf? Was ist mit deinen Augen?« »Manchmal«, sagt er, »sehe ich etwas – aber dann … Aaah, dann wieder sind dunkle Schatten vor meinen Augen. Mein Kopf scheint bei jedem Atemzug platzen zu wollen.« »Du hast ein blutende Wunde am Kopf und bist überdies auch noch hart damit auf den Boden geprallt«, sagt sie. »Morgen oder übermorgen wird es dir besser gehen. Überhaupt wird morgen
oder übermorgen alles hier besser sein. Sie sind dabei, George Prouster und seine Mordbanditen, die Gilde der Spieler und Handlanger zum Teufel zu jagen. Sie machen jetzt hier in Golden City reinen Tisch. Ty, wir gehen gleich. Ich bringe dich hier raus. Aber erst packe ich noch ein wenig Zeug zusammen.« In dieser Nacht werden alle Goldwölfe und Banditen, die Revolverschwinger in Prousters Diensten, die Spieler, Rauswerfer und viele der Barkeeper, von denen man weiß oder auch nur vermutet, dass sie willige Handlanger von George Prouster waren, aus der Stadt gejagt. Einige Häuser und Lokale brennen ab, zuerst die Golden Hall und das sich an sie anschließende Hotel, von denen jeder weiß, dass sie Prouster gehören. Es werden in dieser Nacht auch Unschuldige geschädigt. Denn die Meute wird mehr und mehr zu einem wilden Mob. Diese Menge, die zuerst in gerechtem Zorn losbrach, steigert sich in einen Rausch der Macht, der Zerstörung und Vernichtung. Und all jene, die vorher Furcht hatten, wandeln sich zu erbarmungslosen Jägern. Ty Cane hat Bell erklärt, wo etwa sein Pferd stehen muss. Und so hat sie ihn zu diesem Platz geführt, dabei ihr weniges Gepäck mitschleppend. Die Stadt ist in Rauchschwaden gehüllt.
Das Pferd steht noch dort, wo Ty Cane es verlassen hat. Gewiss haben Prousters Leute es dort stehen lassen, weil sie hofften, dass er es sich wiederholen und dann in ihre Falle tappen würde. Sie nehmen das Tier und gehen damit zum Mietstall bei der Post- und Frachtstation. Ty Cane taumelt wie ein Betrunkener. Sein Kopf schmerzt gewiss böse. Er atmet gepresst, und immer wieder wischt er sich über Stirn und Augen, so als wollte er einen Schleier beiseite wischen. Bell führt das Pferd am Kopf. Auf der anderen Seite geht der Texaner, und auch er hat das Tier dicht neben dem Gebiss gefasst. Man sieht nicht, dass nur Bell das Pferd führt und er nur mitgeht. Manchmal stolpert er, und dann scheint sein Kopf stets explodieren zu wollen. Denn er schnauft dann schmerzvoll. Er tut ihr so Leid, und sie ahnt, dass er hilflos wäre ohne sie. Als sie den Mietstall erreichen, treffen sie auf einige Männer. Auch der alte Stallmann und sein Freund, mit dem er stets Halma spielt, sind dabei. Sie hatten offenbar bis soeben alle Hände voll damit zu tun, den Mietstall vor dem Funkenflug zu schützen. Sein Holzschindeldach und der Heuhaufen unter dem zu kleinen Schutzdach waren gefährdet. Der Stallmann sagt: »Nun, das hätten wir geschafft. Es ist zwar Prousters Stall, doch wenn sie ihn vernichten, schneiden sie sich ins eigene
Fleisch. Nur gut, dass die Jungens schließlich doch daran dachten. Wo hätten sie sonst ihre Pferde versorgen lassen können? Hey, gehen wir einen Drink nehmen. Ein paar Schnaps- und Biertränken sind gewiss erhalten geblieben. Gehen wir!« Er sieht auf Ty Cane und Bell. Sie alle erkennen jetzt erst Bell, und sie bilden einen Halbkreis, nehmen ihre Hüte oder Mützen ab. »Ma’am«, sagt einer, »Sie haben wie ein Funke, der ins Pulverfass schlägt, alles in Bewegung gebracht. Golden City ist gereinigt. Was können wir für Sie und diesen Mann da tun? Ist er schlimm verletzt?« »Nein«, sagt Cane. »Nur mein Kopf brummt mächtig. Ich möchte mich ein wenig ins Heu legen. Das Pferd versorgen wir selbst. Geht nur, löscht den Durst eurer trockenen Kehlen, geht nur!« Er wartet nicht auf Antwort, sondern macht den Ansatz zu einer Bewegung. Bell beeilt sich, das Pferd in die richtige Richtung in Bewegung zu setzen, sodass er von ihr und dem Tier geführt wird. Als sie den Heuhaufen unter dem Schutzdach erreichen, fällt er auf die Knie, stützt sich auf die Arme und legt sich dann langsam und vorsichtig hin. Er kann einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken.
Sie lässt das Pferd los, nimmt das wenige Gepäck herunter, auch die große Reisetasche, die sie mit ihren wenigen Sachen füllte, und kniet dann neben Ty Cane im Heu. In der Stadt wird es jetzt still. Der Morgen graut. Die ersten Gruppen und Rotten der Goldgräber und Minenleute machen sich auf den Heimweg – ernüchtert und übernächtigt. Jetzt denken sie wieder daran, dass sie nach Gold schürfen, hacken, graben, waschen – oder suchen müssen. Deshalb sind sie hier. Bei Tag suchen sie nach Gold. Da zählt nichts anderes. Ty Cane scheint eingeschlafen zu sein. Bell hockt neben ihm. Sie möchte etwas tun für ihn. Doch sie lässt es, denn sie glaubt, dass ihm der betäubungsähnliche Schlaf gewiss besser hilft als alles andere. Sie hockt also bei ihm und wartet. Manchmal denkt sie an Prouster, und dann fragt sie sich, ob er von seinen Männern in Sicherheit gebracht oder von den tobenden Goldgräbern und Minenleuten erwischt und getötet wurde. Sie lauscht tief in sich hinein, sucht nach Schuldgefühlen. Doch sie spürt nichts. Sie wollte Ty Cane und sich vor Prouster retten. Anders hätte sie das nicht gekonnt. Sie musste die Menge anstacheln.
Langsam wird es Tag. Ein leichter Morgenwind reinigt die rauchgeschwängerte Luft. Ty Cane erwacht plötzlich. Sie hört es an seinen Seufzern, dann an seinem veränderten Atmen. Und sie beugt sich über ihn. Er sieht sie an, streckt dann seine Hand aus und tastet nach ihr. »Ich sehe dich nur ganz schattenhaft«, murmelt er. »Ich weiß nicht, ob du mir sehr nahe bist – oder einige Schritte entfernt.« Sie hält ihm ihr Gesicht hin, sodass er mit ausgestrecktem Arm die Entfernung feststellen kann. »Mit deinen Augen, das kommt wieder in Ordnung«, sagt sie überzeugt. »Du hast eine Gehirnerschütterung, Ty, vergiss das nicht. Deine Sehnerven kommen schon wieder in Ordnung.« »Ja«, sagt er, »das wird wohl so sein. Was ist mit Prouster?« Seine plötzliche Frage erschreckt sie, obwohl sie sich diese Frage in den letzten zwei Stunden selbst immer wieder stellte. »Ich weiß es nicht«, muss sie zugeben. Sie schweigen. Nach einer Weile erhebt sie sich und holt Wasser vom Brunnen. Sie beginnt bald darauf, sein Gesicht zu waschen. Aus ihrer Reisetasche holt sie weitere Handtücher. Der Stallmann und sein halmaspielender Freund kommen aus der Stadt. Sie halten inne und sehen
Bell zu. Dann sagt der Stallmann: »Ich habe in meinem Stallbüro einen Verbandskasten. Einen Moment, Lady. Sie können diesen Texaner gleich mit richtigem Verbandszeug versorgen. Ich helfe Ihnen dabei.« Er hinkt davon. Indes kniet sein alter Freund nieder. »Prouster ist nicht erledigt«, sagt er langsam. »Der wurde von seinen Männern in Sicherheit gebracht. Aber es hat sich eine Bürgerwehr gebildet. Sie hat den Marshal, der ja auch nur Prousters Mann war, zum Teufel gejagt und einen Sheriff gewählt. Sie suchen weiter nach Prouster und seinen Handlangern. Doch die sind gewiss schon weit weg. Die haben verloren und wissen das genau. Gegen den Zorn der geschorenen Hammelherde sind jetzt auch Wölfe wie diese verloren.« Ty Cane und Bell hören es. Und es ist deprimierend für sie. George Prouster ist entkommen. Das kann noch sehr schlimm werden für sie.
8
Ty Cane liegt bis Mittag, und er trinkt manchmal ein wenig Wasser. Sein Kopf ist verbunden. Die böse Streifwunde wurde mit einem Pflaster zusammengezogen, sodass die Wundränder nicht genäht werden mussten. Bell hat ihr Pferd gefunden, mit dem sie damals in Begleitung ihres Onkels nach Golden City geritten kam. Das Tier ist im Mietstall gut versorgt worden. Nun ist sie froh, es wieder zur Verfügung zu haben. Als Ty Cane richtig wach ist, fragt sie ihn: »Wann wirst du reiten können, Ty?« »Muss ich das?« »Denk daran, was sein wird, wenn Prouster einigermaßen schnell gesund wird und …« Sie spricht nicht weiter. Denn was sie sagen würde, kann er sich leicht denken. Prouster wird bald noch ein ganzes Dutzend Männer mehr zur Verfügung haben – jene, deren Pferde Ty Cane verjagte. Er wird sein Rudel sammeln und etwas in Gang bringen. Vor allen Dingen wird er Rache nehmen wollen. Bell kennt ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass George Prouster keine Ruhe mehr findet, solange er seine Niederlage nicht in einen
Sieg verwandelt hat. Und zu diesem Sieg gehört auch die Befriedigung seines Hasses. Zum zweiten Mal ist George Prouster davongekommen. Gewiss, diesmal hat er mächtig Federn lassen müssen. Und wenn die Bürgerwehr unter dem neuen Sheriff entschlossen genug ist, wird er nie wieder in Golden City Fuß fassen. Aber das Goldland ist ein weites Revier. Dort wird er vielleicht bald schon stärker sein als je zuvor. Die Frage ist nur, wie schwer er angeschossen wurde und wann er wieder Befehle geben und das Kommando übernehmen kann. Dies alles begreift Ty Cane mit seinem immer noch schmerzenden Kopf. Und so sagt er nach einer Weile: »Ja, Bell, wir müssen fort. Wir müssen vor George Prousters Rache flüchten. Denn ich kann vorerst nicht kämpfen. Ich kann dich und mich nicht beschützen. Und ob ich das überhaupt jemals wieder …« In seiner Stimme ist tiefe Resignation. Er gibt sich Mühe, sie zu unterdrücken. Doch Bell hört sie heraus. Deshalb sagt sie schnell: »Das mit deinem Kopf kommt wieder in Ordnung. Du wirst bald wieder so sehen können wie vorher. Irgendwie wurde durch deine Wunde und die Gehirnerschütterung dein Sehnerv krank. Ich weiß ja nicht, wie und
warum das so ist, aber ich weiß, dass alle Wunden heilen.« Er erwidert nichts. Erst nach einer langen Pause sagt er: »Ich kann gewiss nicht reiten. Wir müssen uns einen kleinen Wagen verschaffen. Am besten wäre ein leichter, gut gefederter zweirädriger Jagdwagen. Dann könnten wir heimfahren nach Oregon. Du willst doch mit mir nach Oregon auf die Ranch?« Er fragt es mit einem unsicheren Klang in der Stimme, so als begriffe er jetzt erst, dass dies ja noch gar nicht so völlig sicher ist. Sie sagt schlicht: »Natürlich will ich mit dir nach Oregon, Ty. Selbstverständlich gehören wir zusammen. Doch …« Sie verstummt zögernd. »Doch was?« »Unsere Goldader«, sagt sie. »Die Goldader in den Crazy Mountains. Onkel Jones gewann damals tatsächlich einen guten Claim. Als wir hinritten, um ihn uns anzusehen und einige Tage schürften und hacken, da stießen wir auf eine kleine Goldader. Man könnte sie innerhalb einiger Monate ausbeuten. Aber es wäre eine sehr schwere Arbeit. Denn die feinen Verästelungen sind in felsiges Gestein eingebettet. Man müsste in der Wildnis leben unter primitivsten Verhältnissen. Onkel Jones war das alles zu mühevoll. Er war ja seit seinem Absturz, den George Prouster absichtlich verschuldete, ein Krüppel, zu keiner
schweren Arbeit mehr fähig. Also kam er auf die Idee, Prouster um fünfzigtausend Dollar zu erleichtern. Es schien ihm sehr einfach. Wir konnten einen neuen Goldrun in Gang bringen. Dann wäre Golden City ziemlich leer geworden. Prouster hätte nur noch die Hälfte oder noch weniger verdient. Nun, du weißt ja, wie alles ausging. Prouster hat Onkel Jones entweder selbst umgebracht oder umbringen lassen. Ich trat damals die Flucht nach vorn an und ging zu Prouster. Aber es war von Anfang an meine Absicht, Onkel Jones’ Tod zu rächen. Auch du wolltest Prouster aus ähnlichen Gründen an den Kragen. Wir haben es beide nicht geschafft. Ty, ist deine Ranch in Oregon so groß und wirft sie so viel Gewinn ab, dass wir auf eine Goldader verzichten können, die uns in wenigen Monaten zwanzigtausend Dollar in Gold einbringt?« »Nein«, sagt er sofort und legt sich seine Hand über Stirn und Augen, als könnte er so seine Kopfschmerzen lindern. »Nein«, wiederholt er. »Die Ranch ist vielleicht zwei- oder dreitausend Dollar wert. Wir hätten das Bargeld gebraucht, welches mein Freund Josua Clayton hier für unsere Fleischherde bekam. Mit diesem Geld wäre es bei uns schnell aufwärts gegangen. Oh, wir könnten wahrhaftig eine kleine Goldader gebrauchen. Doch wir würden es auch ohne dieses Gold schaffen. Die Ranch liegt wunderschön in einem Tal an einem Creek. Es ist das schönste
Tal, das ich jemals sah. Und die nächste Stadt ist zwanzig Meilen entfernt, eine Stadt mit netten Leuten, die eine Gemeinschaft bilden. Niemand von ihnen ließ sich damals vom Goldrun hier in den Bitter Roots und drüben in den Crazy Mountains anstecken. All diese Leute dort haben schon feste Wurzeln. Es ist ein gutes und sehr schönes Land mit freundlichen Nachbarn. Es wird dir gefallen. Wenn nur mein Kopf wieder in Ordnung kommt.« »Das wird bald geschehen«, sagt sie überzeugt. »Und ich will dir sagen, was wir tun sollten. Wir ziehen in die Crazy Mountains und versuchen dort, vor dem Winter noch etwas Gold zu holen, wenigstens so viel, dass du einen Ersatz für das verloren gegangenen Geld hast. Wenn wir uns beeilen, können wir das noch vor Anbruch des Winters schaffen. Vielleicht kommt der Winter dieses Jahr auch etwas später. Ty, jetzt leg dich wieder lang und versuch zu schlafen. Schlaf ist jetzt für dich die beste Medizin, und jede Stunde zählt. Ich werde mich um den Wagen kümmern.« »Hast du Geld?« »Ja«, sagt sie. »Soviel habe ich, um einen leichten Wagen und etwas Ausrüstung zu kaufen. Mein Pferd ist auch vor einem leichten Wagen zu gebrauchen.«
Es ist schon später Nachmittag, als sie ihn weckt. Sie kauert neben ihm und hält eine Schüssel mit Suppe. »Du musst jetzt etwas in den Magen bekommen«, spricht sie. »Ich habe hier eine gute Fleischsuppe mit Reis. Wie geht es dir?« Sie spricht betont forsch, aber er hört dennoch in ihrer Stimme einen nur mühsam unterdrückten Unterton, der ihm sagt, wie schwer ihr die selbstverständlich wirkende Art fällt. Langsam setzt er sich auf, wischt sich über Stirn und Augen. Dann sagt er langsam: »Bell, ich sehe dich immer noch nur sehr verschwommen, eigentlich nur als einen schwachen Schatten. Es ist immer noch nicht besser geworden.« »Dann werde ich dich füttern. Mach den Mund auf! Hier ist der erste Löffel. Das wird schon wieder werden mit deinen Augen. Vielleicht ist in deinem Kopf irgendeine Schwellung und drückt auf den Sehnerv. Und weil Schwellungen lange anhalten können, wird es vielleicht auch mit deinem Sehnerv noch etwas dauern. Mach dir nur keine Sorgen. Zu was hast du mich? Drüben im Schuppen wartet der Wagen auf uns. Mein Pferd ist schon angespannt, deines hinten angebunden. Ich habe Proviant und auch eine Ausrüstung besorgt. Wenn du gegessen hast, fahren wir los. Ich kenne den Weg genau, denn schließlich bin ich ihn mit Onkel Jones geritten.«
Indes sie diese Worte spricht, füttert sie ihn. Und sie weiß genau, dass er eine sehr kritische Zeit durchlebt. Er macht sich ernsthafte Sorgen, dass er blind bleiben könnte. Bis jetzt hatte er gehofft, dass sich sein Zustand bald bessern würde. Doch nun fragt er sich, wie es weitergehen soll, wenn er nicht wieder sehen kann. Das fragt sie sich auch. Indes sie ihm Löffel um Löffel zum Mund führt, prüft sie sich, ob sie bei ihm bleiben könnte, sollte er blind sein für immer. Denn eigentlich kennen sie sich doch nur kurze Zeit. Kann denn da schon Liebe in ihr sein, eine Liebe, die ausreicht, um mit ihm durch die Hölle und zurück zu gehen? Sie fragt es sich ehrlich, und inzwischen hat sie ihm ein halbes Dutzend Mal den vollen Löffel an den Mund gehalten. Nun nimmt er ihr den Löffel weg. »Gib mir auch die Schüssel«, sagt er ruhig. »Ich glaube, ich muss jetzt anfangen, mich allein zurechtzufinden. Und füttern sollte ich mich ja wohl allein können.« Sie gibt ihm die Schüssel und sieht dann zu, wie er zu essen beginnt. Dabei kommt sie zu der Erkenntnis, dass sie ihn liebt. Vielleicht hat sie ihn schon von jenem Moment an geliebt, da er an ihren Spieltisch kam.
In dieser Minute, da er sich nicht mehr von ihr füttern lässt, sondern selbst zu essen beginnt und sie ihn dabei beobachtet, ist sie sich über ihre Liebe völlig klar. Ja, sie würde ein ganzes Leben lang für ihn mit ihren Augen sehen. Sie fahren zwei Stunden, dann ist es Nacht, und sie halten für eine Weile an, warten auf das Mondund Sternenlicht. Die Sterne werden dann immer klarer und strahlender. Bell sieht hinauf. Sie sagt: »Ty, der Himmel heute strahlt wie eine gewaltige Glocke, deren innere Wölbung mit Edelsteinen besetzt ist. Der Mond ist noch hinter den Bergen, doch er wirft schon sein silbernes Licht über die Ränder. Er wird bald die Nacht fast taghell machen. Ich frage mich, was wohl die Sterne für uns bereit halten. Glaubst du an ein vorausbestimmtes Schicksal?« »Ja«, sagt er schlicht. »Was macht dein Kopf, Ty?« »Ich halte es aus. Wenn du weiterfahren möchtest, dann tu es. Der Wagen ist gut genug gefedert für einen Burschen mit einem kranken Kopf.« Nach diesen Worten hebt er sein Gesicht, starrt zum Himmel empor. »Ich kann die Sterne nicht sehen, Bell – strahlen sie wirklich so hell?«
»Hell und kalt«, erwidert sie. »Manchmal weiß ich nicht, ob ich mich über sie freuen oder sie fürchten soll. Aber eines weiß ich, nämlich, dass wir uns durchbeißen werden und es dir bald wieder besser gehen wird. Das weiß ich sicher!« In ihre Stimme kommt ein Klang von Trotz. Ja, sie ist eine Kämpferin. Sie wendet sich zur Seite. »Nimm mich in deine Arme, Ty«, sagt sie. Um diese Zeit etwa bekommt George Prouster die Meldung, dass Bell Hackberry und der Texaner Ty Cane Golden City in einem leichten Buggy verlassen haben, und zwar in Richtung Three Forks, also nach Osten. George Prouster geht es nicht gut. Er liegt auf einem Feldbett in einer alten spanischen Mine, in die er sich zurückzog mit den wenigen ihm noch verbliebenen Männern. Die Kugel ist zwar herausgeholt, doch der Blutverlust schwächt ihn. Er hat auch leichtes Wundfieber. Dennoch vermag er folgerichtig zu denken. »Sie wollen zu den Crazy Mountains hinüber«, sagt er heiser. »Und ich weiß auch warum. Es gibt dort einen Claim mit einer Goldader. Diesem Jones Hackberry war es zu mühsam, die Ader auszubeuten. Sie wollten nicht einen langen Winter dort ausharren. Deshalb kam Jones Hackberry, mich zu erpressen. Er glaubte, dass es
genügte, mir einige Goldbrocken zu zeigen. Jetzt will sich das verdammte Biest, die schöne Bell, das Gold holen. Und Ty Cane soll ihr dabei helfen. Ich wette, sie ergreifen vor mir die Flucht und wollen dabei zwei Fliegen mit einer Klatsche schlagen.« Nach diesem Selbstgespräch schweigt er eine Weile. Seine Leute hocken und stehen um ihn herum. Einer fragt nach einer Weile: »Was machen wir, Boss, verdammt, was machen wir? Holen wir uns die Stadt zurück, in der wir so gut lebten? Oder …« »Sei still, Flanagan«, knurrt George Prouster. »Ich muss nachdenken.« Sie schweigen und warten. Dabei beobachten sie ihn und sie denken daran, wie gut es ihnen all die Monate unter seiner Führung ging. Wie die Maden im Speck lebten sie. Und dann war plötzlich alles aus und vorbei, weil die führungslose Hammelherde, von der sie wie Raubwild lebten, plötzlich in Stampede ausbrach. George Prouster beginnt wieder zu sprechen: »Es waren dieser Texaner und Bell Hackberry, die uns einen solchen Schaden zufügten. Beide waren gekommen, um Vergeltung zu üben. Nun glauben sie …« Er bricht ab und wendet sich an seine Männer. »Flanagan, reite ihnen nach. Nimm dir zwei Mann mit. Bleibt ihnen auf der Fährte und lasst
euch nicht blicken. Hinterlasst überall Zeichen für mich. Denn ich folge in einigen Tagen, wenn es mir besser geht. Ich will diesen Texaner und die schöne Bell haben. Aber erst, wenn sie uns zum goldhaltigen Claim geführt haben. Erst dann! Verstehst du, Flanagan?« »Ja«, sagt dieser. »Und wenn wir sie dann haben und auch den goldenen Claim besitzen – was dann? Sollen wir Goldgräber werden, hacken, graben, schürfen und all diese verdammte Arbeit machen?« »Nein«, sagt George Prouster. »Wenn wir den Goldclaim haben, entfachen wir einen neuen Goldrun. Dann haben wir in einigen Wochen wieder eine Stadt wie Golden City. Es ist leichter, den Claim zu bekommen, einen neuen Goldrun zu entfachen und sich von einer anderen ahnungslosen Hammelherde eine neue Stadt bauen zu lassen – als Golden City zurückzuerobern, die Golden Hall und das Hotel wieder aufzubauen und auf die nächste Stampede der Goldgräber und Minenleute zu warten. Denn hier haben sie uns schon mal zum Teufel jagen können. Hier probieren sie es leicht noch einmal. Nein, wir geben hier auf und schaffen uns ein neues Revier. Wenn wir die Nachricht von neuen Goldfunden in den Crazy Mountains richtig ausstreuen, rennen bald aus allen Himmelsrichtungen zehntausend Narren herbei. Und sie kommen dann in unser Revier.«
9
Es ist ein weiter Weg. Manchmal glaubt Bell, ihn nicht mehr zu finden. Aber dann erreichen sie doch immer wieder die alten Camps, an denen sie mit Onkel Jones rastete. Der Weg ist nicht einsam. Dann und wann begegnen sie Goldsuchern. Diese schwärmen überall aus, ziehen mit Maultieren oder Packeseln umher und suchen nach Gold. Manchmal stoßen sie auf kleine Siedlungen, sehen oder begegnen Wagenzügen. Einige Male erblicken sie Indianer – das heißt, nur Bell kann das alles sehen. Doch sie spricht sofort zu Ty darüber. Sie beschreibt ihm ständig alles, was sie sieht. Denn er kann immer noch nicht sehen. Gewiss, es hat sich alles ein wenig gebessert. Er kann Helligkeit von Dunkelheit unterscheiden, registriert genau die Helligkeit der Sonne, weiß um deren Stand. Doch von Bell sieht er nur eine Silhouette. Bell weiß, dass er schon fast völlig die Hoffnung aufgegeben hat, jemals wieder richtig sehen zu können. Und dennoch erweist er sich als ein Mann, der ohne Klagen seinen Weg geht.
Wie sehr er noch der alte Ty Cane ist, beweist er nach Anbruch der dritten Nacht. Bell hockt noch am Feuer und brät die letzten Pfannkuchen mit Speck. Der Kaffee duftet bereits im Camp. Da hören sie Reiter kommen. Cane tritt langsam zurück bis zum Wagen, lehnt sich an das große Rad an seiner Seite. Er trägt seinen Colt. »Bin ich außerhalb des Feuerscheins, Bell?«, fragt er ruhig. »Ja«, sagt sie. »Die Grenze des Feuerscheins endet vor dir.« »Dann bleib am Feuer«, sagt er. Die Reiter sind nun schon sehr nahe. Bell sieht, dass es zwei sind. Sie haben kein Packpferd bei sich. »He, Freunde«, ruft einer, »hier riecht es aber gut. Wer seid ihr denn?« Sie kommen ans Feuer geritten – zwei hagere, abgerissen wirkende Burschen mit Colts an der Seite und Gewehren in den Sattelholstern. Es geht etwas von ihnen aus, was an hungrige Falken denken lässt. »Da können wir wohl mitessen, nicht wahr?« Einer der beiden Besucher sagt es hart. Er sieht zu dem reglos am Wagenrad lehnenden Mann hinüber. »He, Freund, was dagegen?« Die Frage klingt unverkennbar drohend.
Ty Cane nimmt sich Zeit mit der Antwort. Er lauscht, und als er am Sporenklingeln hört, dass der Mann seinen Fuß aus dem Steigbügel nimmt und ihn offenbar nun über den Pferderücken schwingen will, sagt er trocken: »Bleib nur auf deinem Pferd, Freund – bleib nur sitzen.« In seiner lässigen Stimme schwingt völlige Sicherheit. Die beiden Besucher verharren, schweigend. Dann sagt einer seufzend: »Ein Texaner, oha, ein Texaner. Aaah, deshalb also diese Schöne. Wer sonst würde es in diesem verdammten Land wagen, mit solch einer schönen Frau zu reisen? He, Texas, bist du wirklich so groß, dass du dein Honigmädchen beschützen kannst?« Er hat kaum ausgesprochen, als ein Schuss kracht und die Kugel vor seinem Pferd in den Boden fährt. Dann tritt Cane einige Schritte vor. Sein Colt ist wieder im Holster. Aber er fragt, wobei er auf den Sohlen wippt: »Wollt ihr das noch mal sehen? Auf ein paar Sattelstrolche wie euch habe ich nur gewartet. Na, wie ist es? Wollen wir mal probieren, wer schneller ist? Oder schleicht ihr euch?« Sie starren ihn an. Aber von seinem Gesicht ist nicht viel zu erkennen. Der Hut beschattet es. Bell kauert immer noch am Feuer und brät die Pfannkuchen.
Sie sagt scheinbar gnädig: »Oh, Ty, lass die beiden doch in Frieden. Du hast sie schon genug erschreckt. Lass sie nur reiten. Die verkneifen sich schon den Appetit auf ein Abendessen – und auf mich. Die wissen jetzt Bescheid.« »Ja«, sagt einer der beiden Kerle. »Wir wissen jetzt Bescheid. Aaah, so dämlich sind wir nicht, dass wir uns mit einem verdammten Texaner einlassen, obwohl der alles hat, was wir nicht haben, aber auch gerne hätten. Wir reiten. Du bist ein Glückspilz, Texas. Du hast alles, und wir leiden große Not. Vielleicht kommen wir mit einigen Freunden wieder in den nächsten Tagen oder Nächten. Na, wie wäre das?« »Kommt nur, Jungens, kommt nur«, erwidert Ty Cane, und wieder ist in seiner Stimme die ganze Unerschütterlichkeit eines Mannes, der an sich glaubt und es auch mit einem ganzen Dutzend Strolchen aufnehmen wird. »Wenn’s euch juckt, dann kommt nur«, fügt er noch einmal hinzu. Aber es ist eine eiskalte Drohung. Die beiden abgerissenen Besucher sagen nichts mehr. Sie reiten wortlos davon. Bell sieht auf Ty. Dieser kommt langsam ans Feuer, streckt dabei seine Hände aus. Als er die Hitze spürt, weiß er, dass er dicht genug herangetreten ist. Bell atmet langsam aus. Sie hat einem Moment gehofft, dass er plötzlich wieder sehen könnte. Aber er schoss die Kugel ganz nach Gefühl vor dem fremden Pferd in den Boden. Sein
Gehör sagte ihm, wie groß die Entfernung zwischen ihm und den Reitern war. Bell fragt: »Wieso hast du sofort gewusst, dass es Strolche waren?« »Sie kamen ans Feuer, ohne um Erlaubnis zu fragen«, erwidert er. »Sie waren vom ersten Moment an ruppig und herausfordernd. Sie wollten von Anfang an ausprobieren, wie weit sie gehen konnten und wie viel wir hinnehmen würden. Ja, sie hätten uns das Abendbrot weggegessen und dann dich als Nachtisch haben wollen. Das alles sagte mir meine Erfahrung mit solchen Typen. Und mein Instinkt ist jetzt wohl, da ich nicht mehr sehen kann, noch feiner und schärfer geworden.« Sie nickt, aber da ihr zugleich klar wird, dass er dies nicht sehen kann, sagt sie: »Ja, Ty, so ist es sicherlich. Als die Kerle ans Feuer kamen und mich ansahen, da spürte ich Angst. Sie grüßten nicht, nickten nicht mal – gar nichts machten sie. Nur angestarrt haben sie mich wie Wölfe ihre Beute. Ty, ist dir eigentlich richtig bewusst geworden, dass du mich beschützen konntest, so als wärest du hundertprozentig im Besitz deiner Fähigkeiten? Verstehst du, Ty, du hast mich gegen zwei gefährliche Strolche beschützen können?« Er steht am Feuer, vom roten Schein angeleuchtet. Dennoch bleiben die tiefen Linien seines Gesichtes dunkel. Das Gesicht ist
hohlwangig. Bell spürt jetzt erst richtig, welch große Sorgen er sich macht. Und da tritt sie zu ihm, umfasst ihn und legt ihren Kopf gegen seine Schulter. »Oh, Ty«, flüstert sie, »wir beide schaffen das schon. Und du wirst gewiss bald wieder so wie früher sehen können. Ganz bestimmt! Und bis dahin hast du ja mich.« Sie küssen sich. Dann sagt er: »Bell, du bist wie ein Licht in pechschwarzer Nacht. Und jetzt hab ich Hunger.« Sie geht sofort darauf ein, denn sie begreift, dass sie mit Nüchternheit besser zurechtkommen mit den Herausforderungen der nächsten Zeit. Sie reicht ihm den Blechteller mit den Pfannkuchen, sieht zu, wie er den obersten zusammenrollt und hineinbeißt. »Vor deinem linken Fuß ist ein großer Stein«, sagt sie. »Ich stell dir den gefüllten Kaffeebecher darauf. Doch du kannst noch nicht trinken. Der Kaffee ist sehr heiß.« Er nickt kauend. Nach einer Weile fragt er: »Und wie weit ist es noch bis zum Goldclaim?« »Noch zwei Tage«, erwidert sie. »Übermorgen – irgendwann am Nachmittag – sollten wir ihn erreichen. Es gibt eine kleine Goldgräbersiedlung in der Nähe – vielleicht sieben Meilen entfernt, Musselshell View heißt sie, weil von dieser Siedlung aus der Musselshell River zu sehen ist. Aber es wurde in der Umgebung noch nicht viel
Gold gefunden. Deshalb leben nur wenige Menschen dort. Aber sie alle warten auf den großen Fund. Sie sind davon überzeugt, dass es bald einen besonders großen Goldfund geben wird und dann der Run ausbricht. Darauf warten sie. Sie wissen, dass aus der primitiven Siedlung dann binnen weniger Wochen eine hektische Stadt wird, zu der jeden Tag neue Wagenzüge Material, Ausrüstung und all die vielen Dinge bringen, die dort benötigt werden, wo der Dollar rollt. Onkel Jones und ich hielten geheim, dass wir auf dem Claim, der am Anfang nicht viel wert schien, auf eine Goldader stießen. Und weil wir bald darauf fortzogen, war das für alle Nachbarn gewiss ein Zeichen, dass auf dem Claim nicht viel zu holen ist.« »Ich verstehe«, nickt Ty. »Das ist nur logisch. Wer wäre schon von einem Claim weggegangen, auf dem eine Goldader liegt?« »Richtig. Aber die Leute wussten ja auch nicht, wie schwer Onkel Jones die Arbeit fiel auf diesem felsigen Grund. Er hatte auch große Furcht vor dem Winter wegen seines Rheumas. Er wollte schnell Geld machen und Prouster dafür zahlen lassen.« Sie schweigen dann eine Weile, beenden ihr Abendbrot – und obwohl sie nichts mehr sagen, ist ein stummes Einverständnis zwischen ihnen, das keine Worte braucht.
Später dann, als sie unter dem kleinen Wagen in den Decken liegen, fragt sie: »Was bedeutet Ty? Eine Abkürzung deines vollen Namens?« »Timothy«, sagt er, »meine Eltern haben mich damals so getauft.« »Und was ist mit deinen Eltern?« »Sie sind tot«, erwidert er. »Als ich aus dem Krieg heimkehrte, den wir Konföderierten verloren haben gegen die Union, waren sie nicht mehr da. Guerillas der Union hatten unsere Ranch überfallen, um sich Pferde zu verschaffen. Ich ging dann fort aus Texas, denn ich hatte einige Schwierigkeiten mit den Besatzungstruppen. In Kansas und anderen Staaten oder Territorien durften sich ehemalige Angehörige der Konföderiertenarmee nicht niederlassen – aber in Oregon. Mein Partner Josua Clayton und ich brachen mit zweihundert Rindern auf. Zwei Helfer waren bei uns. Ich glaube, wir brachten die ersten Rinder auf dem Landweg nach Oregon, ich meine, die ersten texanischen Longhorns.« Er verstummt ein wenig stolz, und Bell kann sich vorstellen, wie schwer dieses Rindertreiben von Texas nach Oregon war. Gewiss war die Herde länger als ein Jahr unterwegs. »Du warst also in der Rebellenarmee. Hattest du einen Rang?« »Ja«, sagt er einsilbig. »Welchen?«
»Ach, der nützte mir nach dem Krieg wenig«, erwidert er. »Das alles ist unwichtig geworden.« »Welchen Rang hattest du?«, fragt sie beharrlich. »Wenn ich dich richtig kennen soll, muss ich auch das wissen. Wie viele Männer führtest du? Wie viele vertrauten auf dich?« »Ich war Captain«, erwidert er. »Und als wir bei Appomattox am neunten April unsere Waffen streckten, führte ich ein Regiment, weil der Colonel und die Majors gefallen waren. Das Regiment bestand nur noch aus siebzehn Mann.« Seine Stimme klirrt vor Bitterkeit. Sie liegt eine Weile still neben ihm. Er spürt die Wärme ihres Körpers durch die Kleidung. Und er denkt: Wenn ich doch nur wieder sehen könnte! Was soll sie mit einem blinden Mann? Wenn ich nicht wieder sehen kann, ist es wohl gut, wenn ich mir eine Kugel in den Kopf jage. Doch bevor ich das tue, muss ich ihr helfen, etwas von dem Gold zu bekommen. Dann steht sie nicht mittellos da. Sie atmet jetzt tiefer neben ihm. Daran erkennt er, dass sie eingeschlafen ist. Er aber liegt noch lange wach und lauscht. Mein Gehör ist jetzt schon schärfer geworden, denkt er. Aber dann schläft auch er ein. Am übernächsten Tag – schon am frühen Nachmittag – erreichen sie Musselshell View.
Aber sie fahren nicht durch den Ort, sondern schlagen eine Bogen um ihn, der kaum mehr als ein Camp ist, in dem sich die umherziehenden Goldsucher und die wenigen Claimbesitzer im Umkreis von zwanzig Meilen versorgen. Es ist eine Siedlung, die schon von weniger als hundert Indianern restlos kleingemacht werden könnte, vielleicht sogar schon von wenigen Dutzend. Indes sie den Ort umfahren, erklärt Bell Ty alles, was sie sieht. »Da liegt Musselshell View. Sieben größere Häuser und Hütten, ein paar Schuppen und Corrals, Zelte und Zweighütten. Einige Frachtwagen werden entladen. Der Generalstore und der Saloon versorgen sich mit Vorräten für den langen Winter. Das Land senkt sich nach Nordosten zum River hinunter. Ich kann eine große Biegung des Musselshell River sehen. Zwei oder drei Leute blicken zu uns her. Wenn sie mich erkennen sollten, dann werden sie sich wundern, dass ich nicht mit dem gleichen Mann zurückgefahren komme, mit dem ich von hier weg bin.« Sie fahren dann weiter in die felsigen Hügel hinein, die nur bis zur Hälfte hinauf von Grün umgeben sind. Nach etwa sieben Meilen erreichen sie einen jämmerlichen Unterschlupf, halb Zelt, halb Zweighütte. Es ist ganz bestimmt kein winterfestes Quartier.
Es ist ja noch nicht lange her, da Bell mit ihrem Onkel hier übernachtete. Doch in der kurzen Zeitspanne scheint die Hütte noch windschiefer geworden. »Hier ist es«, sagt sie zu Ty Cane und sieht sich dann um. Er spürt es irgendwie, denn sie sitzen ja nebeneinander auf Tuchfühlung. »Und was siehst du in der Runde?« »Felsen, Büsche und Bäume da und dort. Die Grasnarbe ist nicht stark. An vielen Stellen fehlt sie ganz. Die nächsten Claims sind alle weit weg, zumindest eine halbe Meile. Früher haben hier in der Nähe Goldsucher Proben genommen. Es sind noch überall Schürfstellen. Es gibt auch einige verfallene Hütten. Sie sind noch mieser als unsere hier. Ich sehe einen Reiter, der offenbar auf unsere Spur kam. Doch jetzt reitet er in einer anderen Richtung weiter und verschwindet um die Spitze einer kleine Wald- und Buschinsel.« »Ein Reiter – was für ein Reiter?« Er scheint alarmiert. Aber sie sagt: »Ach, eben ein Reiter. Er war zu weit weg. Ich habe ihn nicht erkannt.« Er wirkt jetzt lauernd. »Sah er wie ein Jäger oder ein Goldsucher aus – oder wie ein Revolverreiter, einer von George Prousters Banditen?« Sie erschrickt sehr bei seiner Frage, denn sie versteht ihre Bedeutung sofort.
»Du glaubst doch nicht …«, beginnt sie, doch dann scheint ihr alles zu unglaublich. »Doch«, sagt er, »ich rechne schon seit gestern damit, dass sie auftauchen. Was anders ist zu erwarten, sobald sich George Prouster so weit erholt hat, dass er wieder Befehle erteilen kann. Wenn Letzteres geschehen ist, dann hat er uns zumindest Killer auf die Fährte gesetzt. Es wäre dumm von mir, dir meine Befürchtungen nicht mitzuteilen. Du musst wissen, dass wir hier sehr schnell in Gefahr geraten. Bisher hoffte ich, dass sich meine Sehfähigkeit wieder einstellen würde. Dann hätte ich Prousters Killer zum Teufel gejagt. Doch ich bin ja ein verdammter Blinder, der zu nichts mehr nützlich ist.« Die Bitterkeit in seiner Stimme ist jetzt schon tiefe Resignation. Bell begreift sofort, dass er jetzt die erste wirkliche Krise durchmacht. Bis jetzt hat er gehofft – und vielleicht sogar gebetet. Doch jetzt muss er begreifen, dass er sie gegen Prousters Revolverschwinger und Mordbanditen nicht beschützen kann. Dieses Gefühl der Ohnmacht, der Wehrlosigkeit muss schrecklich für ihn sein. Es muss ihm jetzt so ähnlich ergehen wie einem Tiger in der Falle. Was soll sie ihm sagen? »Nein, ich glaube nicht, dass dieser Reiter wie einer von Prousters Revolverschwingern aussah –
nein, ich glaube es nicht. Aaah, Ty, wir werden sicherlich noch oft hier von unserem Platz aus Reiter sehen, die vom Fluss heraufkommen und nach Musselshell View wollen. Mach dich nur nicht irre. Ich hab unterwegs immer wieder scharf in die Runde gesehen und niemals Verfolger entdeckt. Komm, steigen wir aus.« Er gehorcht schweigend. Und er hilft ihr beim Abladen und dem Versorgen der beiden Pferde. Er trägt ihre Vorräte und die Ausrüstung bis zur Hütte, und er hat schnell ein gewisses Raumgefühl und bewegt sich dann sehr sicher in dem ihm bekannten Bereich. Bell beobachtet ihn mehrmals, indes sie den beschädigten Corral wieder repariert. Sie glaubt zu wissen, warum er sich so betont sicher bewegt und offensichtlich den Eindruck zu erwecken versucht, als spähte er oft in die Runde und könnte die Umgebung beobachten. Er lässt sich auch immer wieder das Gelände und die Bodenbeschaffenheiten in der näheren und weiteren Umgebung von ihr beschreiben, prägt sich alles genau ein. Als die Sonne sinkt, hält er jäh inne und fragt: »Ist die Sonne weg?« »Sie verschwand soeben im Westen hinter den Bergen wie ein Golddollar im Schlitz einer Sparbüchse«, sagt sie. Da nickt er.
»Die Helligkeit ist fort«, sagt er. »Das sehe ich immerhin schon. Bis soeben konnte ich noch die Schatten von aufragenden oder sich bewegenden Dingen gegen die Sonne erkennen. Jetzt ist es völlig dunkel.« »Das ist doch gewiss eine Hoffnung, Ty!« Sie eilt zu ihm, stellt sich auf die Zehenspitzen, schlingt ihre Arme um seinen Nacken und küsst ihn. Da hält er sie fest. Und sie stehen lange so beisammen, so als wollten sie sich nicht wieder loslassen.
10
Am nächsten Vormittag arbeitet sie dort, wo ihr Onkel die Goldader wieder zuscharrte. Sie bricht mit Hammer und Meißel einige Brocken heraus und bringt diese zu Ty, der im Corral die Pferde striegelt, eine Arbeit, die er verrichtet, als könnte er sehen. »Hier, nimm es in die Hände, befühl es, Ty! Das sind Brocken aus der Goldader, fast reines Gold. Es ist zwar eine dünne und verästelte Ader, aber mit Hammer und Meißel breche ich in ein bis zwei Wochen gewiss für zwei bis dreitausend Dollar Gold heraus. Dann verschwinden wir von hier. Vielleicht wartet der Winter so lange.« Er nimmt die Goldbrocken, wiegt sie in den Händen, befühlt sie. Doch er bleibt ganz ruhig dabei. Bell sieht sich um, weil sie jemanden kommen hört. Es sind zwei Männer. Sie kommen in einem Wagen, der von einem Maultier gezogen wird. Auch Ty hört die Geräusche. Bevor er fragen kann, sagt Bell: »Die sind in Ordnung. Das sind unsere Nachbarn, etwa eine halbe Meile von hier genau nach Osten. Die kennen mich gewiss noch.«
Sie hat kaum ausgesprochen, als auch schon einer der Goldgräber-Nachbarn ruft: »Dürfen wir kommen? Einen kurzen Besuch machen und Sie willkommen heißen, Miss Bell?« »Sind es wirklich Nachbarn, Bell?« Ty fragt es eindringlich. »Aber ja, Ty«, erwidert sie und ruft zurück: »Kommt nur, Nachbarn, kommt nur.« »Sag ihnen nur nicht, dass ich blind bin«, verlangt Ty. »Häng dich bei mir ein und dreh mich in ihre Richtung.« Sie tut es sofort. Die beiden Männer kommen mit ihrem rumpelnden Wagen heran. »Hallo, das ist aber schön, dass wir uns Wiedersehen, Miss Bell«, sagt einer laut und mit wirklicher Freude in der Stimme. »Wo ist denn Ihr Onkel Jones?« »Er starb vor etwa zwei Wochen in Golden City« erwidert sie ernst. »Und dies ist mein Mann, Ty Cane. Ty, dies sind Ben Hacket und Robert Kearny. Wollt ihr nach Musselshell View?« »Vorräte holen.« Einer der Männer nickt. Sie blicken beide auf Ty Cane. Bell, die ihn untergehakt hat und in die richtige Richtung drehte, drückt nun mit den Fingern seinen Unterarm. Er sagt: »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Nachbarn. Ja, es stehen einige Frachtwagen in Musselshell View, die entladen werden. Wir sahen es im Vorbeifahren.«
»Habt ihr denn genug Vorräte für den Winter? Und was ist mit eurer Hütte? Sollen wir euch in den nächsten Tagen helfen, eine winterfeste Hütte daraus zu machen?« »Nein, Robert Kearny. Wir bleiben nicht lange. Wir wollen hier nur noch ein wenig herumkratzen. Doch wenn wir nicht mehr finden als bisher, als ich mit Onkel Jones hier war, geben wir auf und suchen anderswo. Den Winter werden wir dann wahrscheinlich in Bozeman abwarten. Lasst euch nur nicht aufhalten, Nachbarn! Wir sehen uns ja noch einige Tage und besuchen euch mal.« Sie stimmen zu und fahren sogleich weiter. Offenbar fehlt es ihnen an vielen Dingen, und da sie hörten, dass Frachtwagen in Musselshell View ausgeladen werden, haben sie es eilig. Bell wendet sich an Ty. »Die haben nichts gemerkt«, sagt sie. »Doch es sind gute Nachbarn. Wir hätten sie einweihen sollen in unser Geheimnis. Warum traust du keinem, Ty?« »Weil man sich letztlich nur auf sich selbst verlassen kann«, erwidert er. Sie sagt nichts zu seinen Worten, denn sie will nicht mit ihm streiten und versteht seine Bitterkeit zu gut. Sie verlässt ihn, um wieder zu ihrer Arbeitsstelle zu gehen. Er hält noch die Goldbrocken in seinen Händen. Vor den beiden Besuchern hat er sie
versteckt. Er senkt den Kopf und blickt auf seine Hände nieder. Doch er kann nichts sehen – nur fühlen. Aus seiner Kehle löst sich ein gepresstes Seufzen, obwohl er den Mund fest geschlossen hält. Aber dann wird dieses Seufzen zu einem Knurren, und er ballt die Rechte zur Faust und schlägt sich damit von der Seite her gegen den Kopf, dicht bei der Wunde. Es ist ganz klar, dass er hofft, auf diese Art vielleicht alles wieder zurechtrütteln zu können. Es geht ihm wie einem Laien, der eine stehengebliebene Uhr schüttelt in der Hoffnung, das verklemmte Rädchenwerk setzte sich dadurch wieder in Bewegung. Dann steht er da und starrt augenzwinkernd in die Ferne. Sieht er nun etwas oder nicht? Es ist ihm nichts anzumerken. Am nächsten Tag bekommt die kleine Goldsuchersiedlung Musselshell View Besuch. Zuerst freuen sich die paar Leute der Siedlung über die Reiter. Denn sie wissen ja noch nicht, wer da gekommen ist. George Prouster lässt den Wagen vor dem primitiven Saloon halten und seine Männer absitzen. Er klettert ziemlich mühsam aus dem Wagen. Er ist noch längst nicht gesund. Die Fahrt hat ihn
angestrengt, denn immerhin sind es etwas mehr als zweihundert Meilen von Golden City nach hier. Der Saloonwirt wartet grinsend hinter dem Schanktisch. Es ist ein primitiver Raum. Prouster sieht sich naserümpfend um. Alles ist hier primitiv. Selbst die mieseste Kneipe in Golden City war besser eingerichtet als dieser einzige Saloon hier in Musselshell View. »Wir haben gestern erst Whisky und Bier bekommen«, sagt der Wirt. »Darf ich einschenken? Sind Sie mit Ihren Reitern auf der Durchreise, Sir?« Er behandelt George Prouster sofort wie einen großen Boss. Und Prouster, der Wolf aus Golden City, der hergekommen ist, sich eine neue Stadt zu verschaffen, grinst zurück. »Wir bleiben hier«, sagt er. »Wir machen aus diesem verdammten Drecknest eine noble Riesenstadt mit viel Wirbel. Du wirst bei mir einen Job als Barmann bekommen. Aber wenn ich dich noch einmal so schmierig und unsauber sehe wie jetzt, dann lasse ich dir das Fell in Streifen schlagen. Verstanden?« Der Wirt bekommt einen dunklen Kopf. Er ist ein schwergewichtiger, narbiger Bursche. Seine Narben lassen erkennen, dass er einmal Preiskämpfer war. Doch er besitzt auch genug Lebenserfahrung und Menschenkenntnis. Er sieht George Prouster
schweigend an, betrachtet dann dessen sporenklingelnd eintretende Männer. Er wittert mit vibrierenden Flügeln seiner Boxernase. Und dann weiß er, dass ein großer Wolf mit seinem Rudel nach Musselshell View gekommen ist. »Wenn ich als Barmann mehr verdienen kann – nun, dann sind Sie mein Boss und werden keinen Grund zu Beanstandungen finden. Dies ist ein verdammtes Nest ohne Zukunft. Und nur ein großer Mann kann das ändern. Wenn Sie der Mann sind, Sir, dann frisst Ihnen hier alles aus der Hand.« »Dann schenk ein«, sagt Prouster. »Und dann geh dich waschen und rasieren. Zieh sauberes Zeug an. Verstanden?« »Yes, Sir!« Der Wirt gehorcht. Seine Besucher trinken nur jeder einen einzigen Whisky. Dann brechen sie wieder auf. Der Wirt überlegt, ob er sich wirklich waschen, rasieren und umkleiden soll. Aber als er noch einmal nachdenkt, da weiß er, dass seine Gäste wiederkommen werden. Sie haben diese Siedlung schon jetzt übernommen. Wahrscheinlich sehen sie sich nur noch in der Umgebung um. Jedes Wolfsrudel will das neue Revier möglichst rasch kennen lernen. Das versteht Prady, der Wirt, sehr gut. Er ist sich auch
völlig darüber klar, dass er nicht genügend Format hat, selbst etwas ganz Großes in Gang zu bringen und dann unter Kontrolle zu halten. Er wird immer nur ein kleiner Saloonwirt bleiben. Und Line Tanner, der ihm gegenüber das Hotel gebaut hat, das nur eine ganz primitive Bude ist, hat auch nicht mehr Format. Bei Line Tanner sind drei Amüsiermädchen, die anderswo in diesem frauenarmen Lande keinen Job mehr bekamen. Line Tanners Hotel ist eine Absteige. Die drei Amüsiermädchen holen sich in Pradys Saloon ihre Kunden und gehen dann mit ihnen in Line Tanners Hotel. Dies ist ein erbärmliches Leben, denkt Prady. Für uns alle. Er hält inne in seinen Gedanken. Denn es ist fast wie ein Erschrecken in ihm, ein freudiges Erschrecken. Seine Frau tritt aus dem Nebenraum, wo sie aus einem großen Fass billigsten Fusel in Flaschen füllte. Sie hat mehr als ein halbes Dutzend Flaschen in den Armen wie kleine Babys und beginnt sie ins Regal zu stellen. »Wer waren die Burschen?« Prady hat ein ganz verklärtes Gesicht. Richtig glücklich wirkt er. »Es kommt etwas in Gang«, sagt er. »Ein großer Bursche ist gekommen, so ein richtiger großer Wolf mit einem harten Rudel. Er will aus unserem Drecksnest eine noble Riesenstadt mit
viel Wirbel machen. Er muss sich etwas ausgedacht haben, etwas Großes. Er ist auch unsere Chance. Vielleicht weiß er mehr als wir hier alle. Denn es muss etwas geschehen sein, was wir hier in Musselshell View noch nicht wissen. Denn wenn er aus unserem Nest eine Riesenstadt mit viel Wirbel machen will, dann kann er das nur, wenn er einen Goldrun entfesselt. Nur auf diese Art bekommt er genug Menschen her, die alles, was sie haben, investieren. Aaah, es braucht in diesem Land hier nur eine einzige Goldader entdeckt zu werden. Dann suchen hier bald tausend, zweitausend, dreitausend und noch mehr Glücksjäger nach weiteren Goldadern. Und wenn eine solche Menge Menschen suchen, werden zwangsläufig noch weitere Goldvorkommen entdeckt. Dann geht es erst richtig los. Clara, wir werden diesem neuen Mann gute Helfer sein. Denn nur auf diese Weise kommen wir eines Tages nicht als Bettler, sondern mit Gewinn hier weg. Ich muss hinüber zu Line Tanner, um ihn auf die neuen und besseren Zeiten vorzubereiten. Er wird sich freuen. Nur unsere drei Schlampen werden sich nicht freuen. Die bekommen bald Konkurrenz. Denn wenn hier der Dollar rollt und die durstigen Burschen mit Goldstaub oder Nuggets zahlen, dann sind bald auch die Edelflittchen hier. Clara, wir werden uns jetzt äußerlich reinlicher halten müssen. Der neue Boss von Musselshell View will es so.«
Sie starrt ihren Mann an, und sie war früher gewiss einmal ein hübsches Mädchen. Auch jetzt noch könnte sie etwas aus sich machen. In ihren Augen beginnt Hoffnung zu flackern. »Verdammt«, sagt sie, »wenn wir hier mit einigem Gewinn herauskommen, dafür würde ich eine ganze Menge tun.« Indes fährt George Prouster hinter seinem Scout her, der ihn und all die anderen Reiter durch die Hügel und schließlich zu einem Aussichtspunkt führt, von dem aus sie eine gute Sicht auf den Claim haben – auf jenen Claim, der zum Anlass des ganzen Geschehens wurde. Denn hätte Jones Hackberry nicht diesen Claim beim Poker gewonnen und danach die Goldader gefunden, wäre er nicht nach Golden City zu George Prouster geritten, um diesem fünfzigtausend Dollar abzunehmen. George Prouster hat ein Fernglas im Wagen. Er nimmt es und beobachtet das arbeitende Paar. Nein, es fällt ihm nicht auf, dass Ty Cane blind ist. Er kann von Ty auch gar nicht viel sehen, denn Cane steht in einem tiefen Loch und wirft mit der Schaufel steiniges Erdreich hinaus. Manchmal nimmt er die Spitzhacke und arbeitet damit nach Bells Anweisungen. Prouster kann ja nicht hören, wie Bell immer wieder sagt:
»Etwas mehr rechts. Dann mehr nach vorn. Jawohl, das saß richtig! Jetzt weiter auf dieser Stelle. Dort genau verläuft die Ader. Wenn du genügend freigemacht hast, werd ich zu dir ins Loch springen und mit Hammer und Meißel die Feinarbeit übernehmen. Mach einen Schritt nach vorn und hack weiter in der gleichen Richtung.« Das alles kann Prouster nicht hören. Er sieht mit seinem scharfen Glas nur, dass Bell zu Ty Cane niederspricht, sich dann aber dort hinhockt, wo Cane das steinige Erdreich aus dem Loch warf. Sie durchsucht dieses Zeug – und offenbar findet sie immer wieder Gold. Denn sie wirft die herausgesuchten Brocken in eine alte Schüssel. Prouster setzt das Glas ab. »Sie finden Gold«, sagt er. »Jones Hackberry hat wirklich nicht mit ein paar Goldbrocken geblufft, als er zu mir nach Golden City kam. Er hat wahrhaftig nicht geblufft, sondern wollte nur nicht schwer und hart arbeiten und auch nicht dort überwintern. Dieser Claim dort ist wirklich goldhaltig. Nun gut.« Er sprach mehr zu sich selbst. Doch nun sieht er auf seine Leute, die rechts und links vom Wagen halten. »Das ist ganz einfach«, sagt er. »Ich schick jetzt acht von euch los. Ihr reitet stets paarweise, also immer zwei in eine Himmelsrichtung. Ihr sagt jedem, den ihr trefft, dass bei Musselshell View
eine reiche Goldader entdeckt worden ist. Besonders auf dem Wagenweg nach Gallatin, Bozeman und Livingston sagt ihr Bescheid. All die Wagenzüge müssen es erfahren. Ihr braucht gar nicht bis zu den Campstädten zu reiten. Es genügt, wenn ihr die Nachricht von den neuen Goldfunden zur Wagenstraße bringt. Ihr reitet aber auch in Richtung Last Chance City und Last Chance Gulch. Dorthin kommen die Wagenzüge von der Schiffslandestelle bei den Großen Fällen am Missouri, also von Great Falls her. Ich wette, viele Wagenzüge und all die neuen Gold- und Glückssucher halten dann nicht in Last Chance City an, sondern fahren weiter zu uns. Habt ihr verstanden?« Sie nicken eifrig. Er nennt dann die Namen der Reiter, die er auf den Weg schickt. Sie reiten sofort los. Als sie hinter Hügeln, Bodenwellen oder Waldstücken verschwunden sind, sieht er den Rest seiner Männer an. Es sind noch vier, und es sind seine gefährlichsten Revolvermänner. Sein Stellvertreter Harvey Spade ist dabei, dann Vance Jacks, der ehemalige Marshal von Golden City, der auch in Musselshell View Marshal werden soll. Die beiden anderen Männer sind Crazy Butch und Kip Gaffey, und beide werden im Süden steckbrieflich gesucht. Für ihre Ergreifung – tot oder lebendig – sind Belohnungen ausgesetzt.
Er nickt ihnen zu. »Also los, jetzt packen wir ihn. Wir brauchen die Goldbrocken aus der Ader dort unten. Wir müssen auch die Ader in Besitz nehmen. Denn sie ist der Ausgangspunkt: Sie ist der Beweis, dass Gold vorhanden ist und es sich lohnt, nach weiteren Vorkommen zu suchen. Und wenn einige tausend Menschen nach weiteren Vorkommen suchen, dann werden einige auch etwas finden. Also, wir erledigen das jetzt.« Er fährt an mit seinem leichten, gut gefederten Wagen. Die vier Reiter flankieren ihn. Fast gemächlich nähern sie sich der Hütte am Fuß des Hügels. Aber es geht etwas von ihnen aus, was nicht so leicht zu beschreiben ist. Wenn dort unten ein Elch hilflos im Schnee säße, dem sich fünf Wölfe näherten, die genau wüssten, dass ihnen die Beute nicht mehr entkommen kann – nun, dann etwa ginge auch von ihnen eine solch gelassene Sicherheit aus, eine gnadenlose Lässigkeit.
11
Als Bell sie kommen sieht, möchte sie vor Angst loskreischen und um Hilfe rufen. Doch dieser erste Moment des Schreckens geht schnell vorbei. Diesem ersten Sekundenbruchteil folgt Lähmung. Vielleicht geht es einem Kaninchen so beim Anblick der Schlange. Sie haben verloren, das begreift sie schnell. Dort kommt George Prouster mit vier seiner gefährlichsten Revolverschwinger. Selbst wenn Ty Cane nicht blind wäre, könnte er diese Übermacht nicht niederkämpfen. Sie blickt auf Ty nieder. Er arbeitet in dem größer und größer werdenden Loch, das sie ständig ausweiten müssen, wollen sie der Goldader folgen. Es ist eine feinverästelte, dünne Ader, und sie wissen noch nicht, nach welcher Richtung sie stärker und damit auch ergiebiger wird. Ty hält inne mit dem Hacken und Hauen. Sein Oberkörper ist nackt. Trotz der Jahreszeit ist der Tag noch einmal warm. Erst wenn die Sonne tiefer steht, wird die Kühle spürbar.
Es ist seltsam, aber Ty Canes ohnehin schon vorher so feine Nerven, sein ausgeprägter Instinkt oder wie man es auch nennen mag, müssen jetzt, da er nicht mehr sehen kann, noch empfindlicher geworden sein. Denn indes er sich den Schweiß von der Stirn wischt und die Haare zurückstreicht, blickt er zu Bell empor. Er weiß genau, wo sie steht. Er sieht sie an, als könnte er sie sehen. Und er fragt: »Ist was, Bell?« »Kannst du mich sehen, Ty?« Sie fragt es aus einem plötzlichen Impuls. »Ja – und nein«, sagt er. »Ich sehe dich gegen den hellen Himmel als Schatten. Aber ich kann keine Bewegung erkennen, sehe also nicht, ob du die Arme bewegst, den Kopf drehst. Und wenn du dich überhaupt bewegst und dabei nichts sagst, dann könntest du auch ein Felsen oder ein Baumstumpf sein. Verstehst du?« »Ja«, sagt sie, und sie blickt über die Schulter auf die sich nähernden Wölfe aus Golden City, denen sie mit Ty entkommen zu sein glaubte. Sie hat Angst, es Ty zu sagen. Und dennoch muss sie es tun. Denn noch ist er offensichtlich ahnungslos. In seinem Loch, das von Erd- und Geröllhügeln umgeben ist, die wie ein Wall wirken, hört er die Reiter und den Wagen noch nicht. Bell möchte eine Waffe nehmen und kämpfen. Einen Moment ist sie gewillt, an ein Glück zu
glauben, welches es gar nicht geben kann, nämlich, dass es ihr gelingen möge, diese fünf zweibeinigen Wölfe aus Golden City niederzukämpfen. Aber die könnte höchstens ein Blitz erschlagen. Sie selbst würde gewiss nicht einen einzigen schaffen. Denn sie sind nun schon nahe genug, um jede ihrer Bewegungen beobachten zu können. Bell müsste zur Hütte oder zum Wagen springen, der ja dicht bei der Hütte steht. Dort zwischen Wagen und Hütte lehnt das Gewehr an der Hüttenwand. Tys Revolvergurt mit dem Colt darin liegt auf dem Rand des Loches, in dem er noch steht. Er wartet offenbar immer noch auf eine Antwort. Was soll sie ihm sagen? Was soll sie tun? Kämpfen wäre sinnlos. »Ty, wir haben verloren. Dort kommt George Prouster mit seinen Revolverschwingern. Du hattest recht mit deinen Befürchtungen. Er ließ uns von Anfang an von einem Scout beobachten, wusste also genau, wohin wir fuhren und wo wir zu finden waren. Er kommt in einem Wagen, wahrscheinlich, weil er noch nicht reiten kann. Harvey Spade und Vance Jacks, der ehemalige Marshal von Golden City, sind bei ihm. Die beiden anderen Männer kenne ich nicht, aber sie sind gewiss nicht weniger gefährlich. Ty, es tut mir so
Leid, dass ich dir kein Glück brachte. Ich hab unterwegs ja nicht mal gemerkt, dass wir ständig beobachtet wurden. Ich glaubte wahrhaftig, wir wären entkommen.« Er erwidert nichts, doch er sucht sein Hemd, hebt es auf und zieht es sich über. Dann stopft er es in die Hose und klettert aus dem Schürfloch ihres Claims. Er weiß genau, wohin er seinen Waffengurt mit dem Colt gelegt hat. Denn er klettert genau dort aus dem Loch, bückt sich dann und findet den Revolvergürtel mit einem tastenden Griff. Als er sich den Gurt um die Hüften schwingt und die Schnalle schließt, sind Wagen und Reiter nur noch einen Steinwurf weit entfernt. Bell sagt: »Ty, du kannst doch nicht mit der Waffe kämpfen. Du siehst deine Gegner ja gar nicht. Ty, warum legst du dir den Waffengurt um?« »Soll ich ohne Waffe vor ihm stehen?«, gibt er zurück. Und er fügt hinzu: »Bell, es tut auch mir Leid, dass du mit mir eine solche Menge Pech hast. Es tut mir Leid, dass ich dich nicht länger beschützen kann. Prouster wird hier das gleiche Spiel spielen wie in Golden City. Dies aber kostet wieder einige Menschen das Leben.« Sie tritt neben ihn. Und so blicken sie auf Prouster und seine vier Revolvermänner.
Der Wagen hält an. Prouster sitzt bewegungslos auf der ledergepolsterten Bank. Seine Reiter halten links und rechts neben ihm, und sie alle sind nun nur noch ein gutes Dutzend Schritte von Bell und Ty entfernt. »He, Texas«, sagt Prouster. »He, Texas, warst du wirklich so naiv, zu glauben, dass du mir entkommen könntest? He, Bell, das war ein feiner Trick, erst als Sängerin aufzutreten, die Männer verrückt zu machen und sie dann auf mich zu hetzen. Das war ein feiner Trick. Ich habe dich mächtig unterschätzt. Du bist viel raffinierter, als ich ahnte. Und fast hättest du deinen Onkel Jones gerächt – fast! Was glaubst du wohl, werde ich mit euch machen?« Bell schweigt. Was soll sie auch antworten? George Prouster kostet offensichtlich seine Überlegenheit aus. Er will mit ihnen herumspielen wie ein Kater mit zwei gefangenen Mäusen, die seinen blitzschnellen Pfoten nicht mehr entkommen können, weil er sie stets in Reichweite hat und es in der Nähe kein Loch gibt. Ja, er spielt mit ihnen, und das ist grausam. Er will seine Rache genießen. Er wurde zu schlimm gedemütigt. Angeschossen und gejagt, musste er sich wie ein Wolf vor den Jägern in einer alten Mine verkriechen. Und dabei hat er sich als absoluter Boss von Golden City und des weiten Umlandes gefühlt, der alles unter Kontrolle hat und nur immer dafür sorgen muss, dass sich die
Goldgräber und Minenleute niemals geschlossen hinter mutige Anführer stellen. »He, ich will eine Antwort!«, verlangt er drohend. Sein lässiger, hinterhältig-freundlicher Tonfall ist weg. Der böse Hass ist jetzt deutlich aus seiner Stimme zu hören. Ty Cane legt die Hand an den Revolverkolben. »Du hast vier Mann bei dir, Prouster«, sagt er. »Was ist das? Möchtest du es nicht mehr mit mir persönlich austragen?« In Ty Canes Stimme ist ein herausfordernder Spott, eine grimmige Verachtung. Er will kämpfen, versucht eine schwache Chance zu bekommen. Denn er müsste Prouster mit viel, viel Glück ganz nach Gehör und Gefühl als Blinder treffen. Bell begreift, dass Ty Cane seinen letzten Kampf machen will. Wahrscheinlich ist das Leben nicht mehr lebenswert für ihn. Nachdem er blind wurde, muss er nun erkennen, dass Prouster sie eingeholt hat und er Bell nicht vor ihm beschützen kann. George Prouster lacht leise. »Das könnte dir so passen«, sagt er. »Ich bin noch längst nicht wieder gesund. Deine Kugel hat bei mir ein mächtiges Loch gemacht. Nein, meine Jungens werden dich abschießen wie einen dummen Hammel – zu gegebener Zeit, nicht jetzt! Du hast dich offensichtlich hier schon gut eingearbeitet. Wir brauchen dich noch als
Maulwurf. Verstehst du? Du wirst hier arbeiten, dass die Schwarte nur so kracht. Und jetzt leg schnell den Waffengurt ab! Lass ihn fallen! Ergib dich! Komm her, Bell! Du sollst herkommen!« Seine Stimme klirrt. Aber Bell bewegt sich nur, um vor Ty hinzutreten. »Er ist blind«, sagt sie. »Er ist blind, seit ihm eine Kugel diese Kopfwunde zufügte und er mit dem Kopf beim Zusammenbrechen so hart am Boden aufschlug. Prouster, er kann nicht mehr sehen.« Sie hat kaum ausgesprochen, als Ty Cane sie zur Seite schiebt und einen Schritt nach vorn macht. »Sie will euch das nur weismachen, um mir eine Chance zu verschaffen«, sagt er. »Ich bin nicht blind. Ich kann auf euch schießen! Jetzt!« Er schnappt den Colt heraus, und er ist so schnell wie in seiner besten Zeit. Seine Revolverschnelligkeit hat nicht gelitten. Und er beginnt auch sofort zu schießen. Er weiß ja ungefähr, wo vor ihm seine Gegner sich befinden. Was er tut, ist ein Selbstmordversuch, nichts sonst. Er will lieber sterben und kämpfend untergehen, als sich demütigen lassen. Seine erste Kugel trifft ein Pferd. Und Prouster wirft sich aus dem Wagen, so wie seine vier Reiter sich aus den Sätteln werfen
und am Boden Deckung suchen. Prouster brüllt dabei: »Lasst ihn schießen! Legt ihn nicht um! Den bekommen wir lebend! Und ich will ihn lebend!« Bell wirft sich von der Seite gegen Ty, will ihn umfangen oder sich vor ihn stellen, doch er fegt sie mit einer wilden Armbewegung von den Beinen. Sie überschlägt sich fast und stürzt in das Schürfloch. Oben schießt Ty weiter – bis er alle sechs Kugeln aus dem Colt gefeuert hat. Er trifft nicht mehr, nicht einmal eines der Pferde. Er schleudert dann den Colt dorthin, wo er Prouster noch vermutet. Prouster lacht. Er erhebt sich vom Boden, wo er sich hinter einige Steine und Erdbuckel presste. Er klopft sich den Staub von der Kleidung. Dann setzt er sich in Bewegung, geht langsam und gemessen auf Ty Cane zu und umkreist diesen. Cane steht ruhig da, wartet auf seinen Tod oder was sonst kommen mag. Aber wenn er gehofft hat, dass sie ihn erschießen werden, so hat er sich getäuscht. Prouster nimmt eine langstielige Schaufel vom Boden auf. Bell, die aus dem Schürfloch kriecht – was gar nicht so einfach ist – sieht es und ruft: »Vorsicht, Ty!«
Aber Ty bewegt sich nicht. Er wartet wie ein Verurteilter, der nicht mehr gegen sein unabwendbares Schicksal ankämpfen will. Prouster schlägt mit der Schaufel zu. Mit dem Schaufelblatt schlägt er Ty Cane fast den Kopf von den Schultern. Cane stürzt. Sicherlich ist er bewusstlos, als er den Boden berührt. Prouster wendet sich keuchend Bell zu. »Ihr seid zwei Verlierer«, sagt er. »Ich hatte durch euch nur eine Pechsträhne, aber ihr seid wirkliche Verlierer.« Er wendet sich an seine Männer. »Butch und du, Gaffey, ihr bleibt hier auf dem Goldaderclaim. Lasst das Pärchen arbeiten. Sammelt das Gold. Denn wenn die ersten Scharen hier ankommen, müssen wir ihnen das Adergold zeigen können. Dann wird sich alles in Windeseile herumsprechen und alles in Goldfieber geraten. Ich lass euch ablösen, sobald die anderen Jungens zurück sind.« Er geht zu der alten Schüssel, in die Bell die Goldbrocken geworfen hat. Er hebt die Schüssel auf und betrachtet den Inhalt. »Na ja«, sagt er, »dies ist zwar noch längst kein Ersatz für Golden City, aber immerhin ein Anfang. Nehmt die Peitsche, wenn sie nicht arbeiten wollen. Ihr könnt euch auch die Schöne nehmen, wenn ihr das wollt. Sie gehört jedem, der sie haben will. Verstanden?«
Er bringt die Schüssel mit den losgebrochenen Adergoldbrocken zum Wagen, stellt sie hinein, klettert nach und nimmt die Zügel. Dann wendet er und fährt davon. Harvey Spade und Vance Jacks folgen ihm. Sie fahren nach Musselshell View zurück. Es ist schon fast Abend, als sie dort eintreffen. Line Tanner, der Hotelbesitzer, kommt herausgelaufen. »Was soll ich tun, Sir?«, fragt er. »Ich stehe zu Ihrer Verfügung.« »Nimm zwei Gläser«, sagt Prouster. »Füll sie mit diesen Goldbrocken und verschließe sie. Eines der Gläser stellst du auf dein Anmeldepult, sodass jeder sich das Gold ansehen kann. Das andere Glas soll der Saloonwirt auf seinen Schanktisch stellen, damit auch dort jeder sehen kann, dass es in unserem Land eine Goldader gibt. Verstanden?« »Yes, Sir!« »Und dann will ich in deiner Bruchbude so sauber wie nur möglich wohnen und so gut wie nur möglich essen. Ich errichte hier bei dir mein Hauptquartier, auch das Claim-Register-Office und das Büro meiner Claimund Minengesellschaft. Aaah, ihr werdet euch noch wundern, wie schnell hier alles in Gang kommt!« Ty Cane liegt lange am Boden, und als er sich endlich stöhnend zu bewegen beginnt, da fasst er
mit seinen Händen zuerst an den Kopf. Wieder hat er das Gefühl wie damals, als er glaubte, dass ihm der Kopf bei jedem Pulsschlag platzen wollte. Einer der beiden Männer – es ist Kip Gaffey – stößt ihn mit der Stiefelspitze an. »Steh auf«, sagt er. »Hier wird nicht faul herumgelegen. Hier wird gearbeitet. He, Bell, geh mit ihm ins Loch und hilf ihm. Ihr seid ja schon ein eingearbeitetes Paar. Na los, macht weiter.« »Erst muss ich seinen Kopf abwaschen und die aufgeplatze Wunde verbinden«, sagt sie scheinbar kühl. »Oder glaubt ihr, dass er in diesem Zustand arbeiten kann, ohne bald wieder umzufallen?« Sie sieht jämmerlich aus, zerzaust, staubig, voller Not. Der Sturz in das Schürfloch hat sie ziemlich in Unordnung gebracht. Ihr Haar hat sich gelöst, da sie den Hut verlor, unter dem sie es verbarg. »Na schön«, sagt Kip Gaffey, »dann kümmere dich um ihn.« Er setzt sich auf einen Stein. Crazy Butch aber geht zu seinem toten Pferd hinüber, denn sein Tier war es, das von Ty Canes Zufallstreffer gefällt wurde. Er nimmt dem Tier den Sattel, das Zaumzeug und das Gepäck ab, zerrt es hervor. Dann bindet er das Lasso um die Hinterfesseln des toten Pferdes und fragt: »Kip, kann ich deinen Gaul haben, um meinen wegzuziehen?« »Nein«, sagt Kip Gaffey. »Du nimmst doch gewiss den Gaul von diesem Texas als Ersatz.
Dann kannst du dich auch ebenso gut auch gleich mit ihm bekannt machen und ihn ausprobieren. Ich bin neugierig, ob er dir gehorcht.« Crazy Butch knurrt mürrisch. Es passt ihm nicht, dass er Canes Pferd erst aus dem Corral holen und satteln muss. Denn um das tote Tier am Lasso wegziehen zu können, muss das Zugpferd einen Sattel tragen, an dem das Lasso befestigt werden kann. Er macht sich an die Arbeit. Kip Gaffey sieht gelangweilt zu, dreht sich dabei eine Zigarette und wirft manchmal auch einen Blick auf Bell Hackberry und Ty Cane. Cane kommt wieder zur Besinnung. Er bewegt sich, stöhnt schmerzvoll – und begreift offensichtlich jetzt erst, was alles geschah und in welch einer Situation sie sich befinden. Bell kniet bei ihm. Sie hat einen Eimer Wasser aus der Hütte geholt, wo ihr Wasservorrat sich in einem Fass befindet, wie es Frachtwagen außen an der Wagenwand mitführen. Bell wäscht Ty das Blut aus dem Gesicht. Das flache Schaufelblatt hat ihn genau auf die kaum verharschte Wunde getroffen und diese wieder aufplatzen lassen. Sie muss ihm einen neuen Verband um den Kopf wickeln. Aber auch an vielen anderen Stellen wurde er vom Schaufelblatt getroffen. George Prouster schlug ihn schlimm. Es war eine entwürdigende Bestrafung.
Ty hält die Augen geschlossen. Nach einer Weile setzt er sich auf. Sie hat ihm den Kopf schon verbunden. Besorgt beobachtet sie ihn. Als er die Augen öffnet, bemerkt sie das Blinzeln, so als würde er vom Licht des Tages plötzlich geblendet. Sie hält den Atem an, denn die Hoffnung jagt ein merkwürdiges Gefühl durch ihren Körper – ein heißes, freudiges, hoffendes und zugleich wie ein heftiger Schrecken spürbares Gefühl. Sie wirft einen schnellen Blick auf Kip Gaffey. Doch dieser sieht zu, wie sein Kumpan Crazy Butch mit Ty Canes Tier das tote Pferd wegschleift. Bell blickt wieder auf Ty. Sie hockt am Boden wie er. Aus nächster Nähe sehen sie sich an – ja, er sieht sie an. Aber sie wagt es noch nicht zu glauben. Dennoch flüstert sie: »Du hast geblinzelt, Ty, so als blendete dich das Tageslicht. Du hast geblinzelt. Oh, Ty, ich wage nicht zu fragen.« Er erwidert nichts, sitzt nur aufrecht da und hebt langsam die Hände, hält sich damit den Kopf und wischt sich mit zitternden Fingern über Stirn und Augen. Dann blinzelt er wieder. Bell wirft wieder einen schnellen Blick zu Kip Gaffey hinüber. Aber dieser hat sich sogar erhoben und ruft nun zu Crazy Butch hinüber:
»Zieh das tote Vieh nur weit genug weg! Sonst haben wir bald den Gestank, all die Aasfresser und die verdammten Fliegen in der Nähe. Schaff es weit genug fort, am besten in ein altes Schürfloch.« Er macht dabei einige Schritte auf Butch zu, vielleicht um diesem zu helfen. Bell sagt zu Ty: »Wir werden jetzt nicht beobachtet, Ty. Sag mir, was ich nicht zu hoffen wage – sag es mir, oh, Ty!« Er wischt sich wieder über Stirn und Augen, und er macht ein Gesicht, als könnte er etwas nicht glauben. Dann sagte er: »Ja, ich sehe dich. Ich sehe alles in der Runde. Manchmal verschwimmt es, wird undeutlich. Dann wieder wird es scharf und klar. Bell, ich muss Prouster wohl sehr dankbar sein dafür, dass er mir mit der Schaufel den Kopf von den Schultern zu schlagen versuchte. Ich weiß nicht, was geschehen ist mit meinen Augen. Ja, ich habe Schmerzen, starke Schmerzen. Mein Kopf will zerspringen. Doch ich kann wieder sehen.« Sie schluchzt leise. Tränen rinnen ihr plötzlich über die Wangen. Aber sie wischt sie schnell mit dem Ärmel ab. Die beiden Banditen sollen nicht sehen, dass etwas zwischen ihren beiden Gefangenen vorgeht. Ty sagt leise: »Bell, ich weiß noch nicht, ob meine Sehfähigkeit bleiben wird. Ich weiß es nicht. Denn immer wieder verschwimmt mir alles
vor den Augen. Lass dir nichts anmerken, Bell, mein Liebes. Lass dir nur nichts anmerken. Denn es ist unsere einzige Chance, wenn sie mich noch für blind halten.« Sie können nun nicht länger miteinander reden. Denn Kip Gaffey wendet sich ihnen wieder zu. Er tritt einige Schritte näher und sagt: »Na, da geht’s ja wohl wieder! Oder nicht? He, ich will wissen, ob’s wieder geht! Hahaha, da fällt mir eine nette Geschichte ein. Ich will sie euch erzählen, damit ihr auch mal was zu lachen habt und fröhlich werdet. Da treffen sich zwei alte Männer. Fragt der eine den anderen: ›Na, wie geht’s denn?‹ Und da erwidert der andere Alte: ›Wie’s geht, weiß ich – aber ob’s geht, das hab ich schon lange nicht mehr ausprobiert.‹ Hahaha!« Er lacht schallend und schlägt sich dabei auf die Oberschenkel. Ty und Bell lachen nicht. Und das ärgert ihn. »Ihr sollt lachen«, verlangt er. »Ich habe euch einen Witz erzählt zum Aufheitern. Und ihr lacht nicht mal. He, das ist eine Beleidigung! Ihr sollt lachen! Oder soll ich euch zum Weinen bringen?« Seine Stimme hat einen bösartigen Klang. Er tritt langsam auf das Paar zu. »Wenn ihr keinen Humor habt, werde ich euch welchen beibringen. Na? Ihr sollt lachen, so richtig lachen! Wird’s bald?!«
Da beginnt Ty Cane zu lachen. Jawohl, er tut es. Aber er lacht aus einem anderen Grund, als Kip Gaffey annimmt. Ty Canes Lachen ist grimmig und frohlockend. Es ist ein Lachen, das Kip Gaffey nicht so recht einzuordnen vermag und das ihn irritiert. Auch Bell beginnt zu lachen. Dieses Lachen irritiert Kip Gaffey noch mehr, denn es klingt erleichtert, befreit, ja, sogar fast glücklich. Aber das kann sein billiger Witz doch nicht bewirkt haben. Gaffey sieht sich unwillkürlich nach einer Gefahr um. Doch er sieht keine. Sein Kumpan Crazy Butch hat das tote Pferd offenbar in ein altes Schürfloch gezogen und das Lasso gelöst. Nun sitzt er wieder auf und kommt zurück. Kip Gaffey wendet sich wieder den Gefangenen zu. »Also, ins Loch mit euch! Ihr sollt heute noch eine Weile arbeiten. Bis es dunkel wird, sollt ihr Goldbrocken losschlagen dort im Loch. Muss ich euch mit der Peitsche an die Arbeit prügeln?« »Nein«, sagt Ty Cane scheinbar ergeben. »Ich weiß schon, wann ich verloren habe. Komm, Bell.« Sie nimmt ihn bei der Hand und führt ihn an den Rand des Loches. Sie klettern und rutschen hinunter. Und Kip Gaffey, der sie aufmerksam beobachtet, hat keinen Zweifel daran, dass Ty
Cane blind ist. Denn so wie Cane, so benimmt sich gewiss ein Mann, der nicht sehen kann – unsicher, auf die Hilfe von Bell angewiesen. Auch als Cane wenig später im Loch die Hacke schwingt, gibt Bell ihm genaue Anweisungen – so wie vorher, als die Banditen noch nicht hier waren.
12
Es geht unheimlich schnell. Die Nachricht von einem Goldaderclaim verbreitet sich mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes in alle Himmelsrichtungen. Und schon am Abend dieses Tages kommen die Goldgräber der näheren Umgebung zu Dutzenden, um im Saloon und drüben im Hotel die Goldbrocken in den Gläsern zu betrachten. George Prouster organisiert an diesem Tag noch eine Menge. Er stellt Helfer ein, gibt Befehle, macht Pläne. Und alle hier in Musselshell View, diesem armseligen Nest, gehorchen ihm. Für sie ist er der große Boss, der die Wende bringt und ihnen gute Verdienstmöglichkeiten verschafft. Sie alle glauben an ihn, denn er ist für sie die letzte Chance. Am nächsten Tag schon setzt der Zustrom ein. Sie kommen auf Reittieren, in Wagen und zu Fuß mit Schubkarren. Und alle wollen sie möglichst nahe dem Entdeckerclaim ihren eigenen abstecken. Es sind erfahrene Goldsucher dabei. Am Abend dieses Tages kommt auch der erste Wagenzug. Er wollte ursprünglich nach Bozeman, doch änderte der Wagenboss die Route. Dieser
Wagenboss ist ein zu erfahrener Mann, um die große Chance nicht zu erkennen. Man wird ihm die Ladung binnen weniger Tage zu Überpreisen aus den Händen reißen. Denn hier in Musselshell View fehlt nahezu alles. Am zweiten Tage kommt der alte Windy Kowalski mit vielen, vielen anderen. Er hat seine Habe auf zwei Mauleseln, und er durchwatet mit den Tieren den Creek und geht geradewegs auf zwei Felsen zu, die so aussehen, als wären sie einmal von einem gewaltigen Riesen mit der Axt gespalten worden. Am Fuß dieses Felsspalts schlägt Windy Kowalski seine Spitzhacke in den Boden. Beim dritten Mal hält er inne, fällt auf die Knie und sucht im Boden. Dann erhebt er sich mit einem kinderkopfgroßen Brocken in den Händen. Er hebt ihn gen Himmel und ruft: »Halleluja! Gepriesen sei der große Vater im Himmel, der mich zu dieser Stelle gehen ließ! Halleluja …« Er beginnt zu tanzen wie ein Gnom aus einem Märchen. Und er singt und lacht, benimmt sich wie irre. Ein paar Leute aus der näheren Umgebung laufen zu ihm hin und sehen sich an, was er da mit drei Hackenschlägen bloßlegte. Es ist die wirkliche Goldader, die richtige Hauptader, von der Bell und Ty nur eine feine Verästelung auf ihrem Claim haben, deren
Verbindung zur Hauptader sie bis jetzt nicht fanden. Nun erst kennen sie die Richtung. Aber zwischen ihnen und Windy Kowalskis Claim drängen sich jetzt Dutzende von Goldsuchern rein. Sie stecken ihre Claims ab, und es gibt eine Menge Streit. Aber Bell und Ty kümmern sich nicht darum, auch ihre beiden Bewacher nicht. Die grinsen nur. Bell hört einmal Kip Gaffey zu seinem Kumpan kichernd sagen: »Aaah, diese Blödmänner um diesen alten Ziegenbock. Die freuen sich über die Goldader und dass sie so nahe am Hauptaderclaim sitzen. Die freuen sich über das Gold, das sie für uns herauskratzen. Die wissen noch gar nicht, dass wir ihnen alles abnehmen werden auf alle nur mögliche Arten. Denn keiner wird mit auch nur einer Unze Gold aus dem Land schleichen – keiner. Das hat schon in Golden City niemand geschafft. Und hier werden wir das Heft noch fester in der Hand halten. Hier machen wir keine Fehler mehr.« Sie hört es, und sie müsste ihm jedes Wort glauben, wenn – ja wenn Ty Cane nicht wieder sehen könnte. Denn dadurch ändert sich viel. Sie dürfen nur keinen Fehler mehr machen. Ihre Angst, dass Ty sein Sehvermögen wieder verlieren könnte, erweist sich mehr und mehr als
unnötig. Es geht ihm nach der ersten Nacht sogar besser. Sein Sehvermögen bleibt am Tag danach klar. Nichts mehr verschwimmt ihm vor den Augen. Er hat alles überwunden, und er kann es manchmal nicht fassen. Als Laie fällt es ihm natürlich schwer, sich das, was in seinem Kopf vorging, vorzustellen. Er spielt seine Rolle als Blinder dennoch vollendet weiter, ja, sie bereitet ihm eine grimmige Freude. Denn nun wird er George Prouster bekommen. Diesmal kann ihm Prouster nicht noch einmal entwischen. Er muss nur den richtigen Moment abwarten und sich seiner Reflexe völlig sicher sein. Und vor allen Dingen muss er sich wieder eine Waffe verschaffen, am besten den eigenen Colt. Er weiß längst, wer seinen Colt hat, den er leergeschossen und noch blind dorthin warf, wo er George Prouster und die vier Revolvermänner vermutete. Kip Gaffey hob ihn auf und reinigte ihn von Staub. Er lud ihn sogar und hantierte damit herum, indes er stundenlang auf dem Stein saß und die beiden Gefangenen bewachte. Aber offenbar lag ihm Canes Waffe doch nicht so gut in der Hand wie seine eigene. Denn er packte sie später in seine Satteltasche, bestimmte die Beutewaffe also gewissermaßen zu seinem Reservecolt.
Dies alles beobachteten Ty und Bell abwechselnd. Dass sie als Gefangene arbeiten, bekommen ihre Nachbarn, von denen es jetzt sehr viele gibt, gar nicht richtig mit. Denn das Goldfieber ist viel zu sehr in allen Menschen. Sie blicken kaum in die Runde, sind nur damit beschäftigt, möglichst gründlich den Boden ihrer Claims umzuwühlen und überall Löcher zu graben in der Hoffnung, auf Goldvorkommen zu stoßen. Der Creek ist besetzt von Goldwäschern, die das Erdreich von ihren Claims in Schubkarren oder Eimern transportieren, um es auszuwaschen. Kaum jemand kümmert sich um den Nachbarn. Alle sind nur mit sich beschäftigt. Auf solch einem neuen Goldfeld gibt es keine Gemeinschaft, nur Einzelwesen, die nichts anderes im Sinn haben, als Gold zu finden. Und manchmal kommen sie sich in die Quere. Es gibt dann Streit. Schüsse krachen. Fäuste werden geschwungen. Der Creek hat gar nicht Platz für all die Wäscher. Und indes so mancher Claimbesitzer beim Creek das Erdreich auswäscht und auf ein paar Krümel Gold in der Pfanne hofft, versetzt sein Nachbar die Grenzpflöcke, um seinen eigenen Claim ein oder zwei Yards zu vergrößern. Es erweist sich einmal mehr, wie gierig, räuberisch und rücksichtslos der Mensch ist, wenn es um Vorteile geht.
Das Goldland füllt sich am dritten Tag noch mehr. Ty und Bell wissen nicht, was in Musselshell inzwischen geschah – aber sie können es sich vorstellen. Aus der primitiven Siedlung muss inzwischen ein Riesencamp geworden sein, zu dem jetzt viele Wagenzüge unterwegs sind. Denn die Kunde von den neuen, gewaltig großen Goldfunden bei Musselshell View hat sich schon überall verbreitet. Und von überallher kommen jene, die bisher glücklos waren und auf das große Glück bei Musselshell View warten. Es kommen die Geschäftemacher, die Händler, die Spieler und Glücksritter – und auch die Frauen. Sie alle kommen in ein Revier, in dem George Prouster der Boss ist. Das wird ihnen schnell klar. Denn wenn sie sich nicht unterordnen, werden sie kleingemacht von Prousters Männern. Am Abend dieses dritten Tages kommt einer von George Prousters Männern. Kip Gaffey und Crazy Butch empfangen ihn mit Flüchen, und Gaffey sagt: »Wie lange sollen wir denn noch hier draußen die Gefangenenwächter mimen? Die Nächte sind verdammt kalt hier draußen. Die Hütte ist zu klein für uns alle. Wir schlafen im Freien, weil wir nur so die Gefangenen richtig bewachen können. Was willst du hier? Nur einen von uns ablösen?« »Ich soll das Girl zu Prouster bringen«, sagt der Mann. »Der Boss hat sich inzwischen so nobel
eingerichtet, dass er sich wohl gern wieder einmal mit einer Schönen amüsieren möchte. Und sie war ja schon in Golden City seine Favoritin – oder? Ich wette, er lässt sie vorher in einer Wanne baden, sodass sie danach wie ein Engel riecht. Hey – und dann soll ich das Gold mitbringen, das ihr inzwischen hier herausgeholt habt. Ist das kein hübscher Trick vom Boss? Zuerst lässt er das Honeygirl hier hart arbeiten – und dann holt er es zu sich und lässt sie die Annehmlichkeiten spüren, die er ihr zu bieten hat. Wenn sie nicht ausgesprochen blöd ist, weiß sie jetzt Bescheid, wie sie ihr Leben möglichst angenehm gestalten kann. Oder?« »Du bist blöd, Joe«, sagt Kip Gaffey. »Sie hat doch damals die große Masse der Goldgräber und Minenleute gegen den Boss und uns aufgehetzt. Wem haben wir denn zu verdanken, dass wir uns davonschleichen mussten?« Sie wechseln noch mehr Worte. Auch Crazy Butch mischt sich ein. Ty und Bell, die vor der Hütte am Feuer beim Abendessen hocken, hören fast jedes Wort. Ty sieht Bell an, bemerkt, wie deren Lippen zu zittern beginnen. Denn sie weiß zu gut, was ihr bei Prouster bevorsteht. Prouster will sich jetzt an ihr rächen, will ihre Erniedrigung, ihre völlige Unterwerfung – und vielleicht lässt er sie nur nach Musselshell View holen, um sie in ein frisch eröffnetes
Freudenhaus zu stecken. Ja, damit muss sie rechnen. Prouster ist zu allem fähig. Ty hält ihr den Kaffeebecher hin, damit sie ihm einschenkt. »Hab keine Angst«, sagt er. »Ich bin mir jetzt sicher, dass ich wieder kämpfen kann. Meine Reflexe stimmen. Ich hol dich heute noch von Prouster weg.« Sie weiß, was seine Worte bedeuten. Er wird kommen, um Prouster zu töten und die ganze Sache zu einem Abschluss zu bringen. Es dauert auch nicht mehr lange, dann tritt Kip Gaffey ans Feuer. »Honey«, sagt er, »Prouster will dich heute vernaschen. Reite mit Joe in die Stadt. Er soll dich holen. Ich frage mich nur, wie der Blinde nun ohne dich in dem goldenen Loch dort arbeiten soll? Denn ich oder Butch kriechen bestimmt nicht mit ihm hinunter, um ihm zu sagen, wo er hacken, graben oder schaufeln soll. Dem Boss bist du wohl noch lieber als das Gold, das dieser Texas nur mit deiner Hilfe herauskratzen kann. Na, dann hau schon ab, Honey. Der Boss will dich, obwohl er dich zuerst uns angeboten hat.« Sie gehorcht schweigend. Und sie nimmt keinen Abschied von Ty. Nein, das könnte sie nicht. Es wäre zu viel für sie. Sie würde in Weinen ausbrechen, könnte sich nicht mehr beherrschen.
Und so geht sie, klettert auf das Pferd, das Joe und Butch inzwischen aus dem Corral holten und sattelten, und reitet mit Joe davon. Gaffey und Butch sehen auf Cane. »Das macht dir wohl gar nichts aus, Texas?«, fragt Gaffey. Cane hält seine Augen fast völlig geschlossen. »Was würde es helfen, wenn ich euch zeigte, dass es mir was ausmacht?« Da lachen sie. Sie hocken sich ihm gegenüber ans Feuer. Gaffey beugt sich vor, um die Kaffeekanne aus der heißen Asche zu nehmen und sich einen Becher voll zu schütten. Butch nimmt sich einen Pfannkuchen vom heißen Stein, rollt ihn zusammen und schiebt ein ziemliches Stück in seinen großen Mund. Aber dann geschieht es. Ty Canes Hand greift über das Feuer hinweg in Gaffeys Haarschopf. Und er drückt den Mann, der sich ja ohnehin weit vorbeugte, mit dem Gesicht in das Feuer. Dann springt er auf und trifft mit der Stiefelspitze genau unter das Kinn des aufheulenden Butch, der seinen Colt sogar schon aus dem Holster hat, so schnell reagierte er. Doch er schießt nicht mehr, spürt nur noch, wie ihm das Genick bricht. Kip Gaffey wälzt sich inzwischen über den Boden. Dabei kreischt er vor Schmerz. Aber Ty Cane beachtet ihn nicht.
Er geht dorthin, wo Gaffey seine Sachen liegen hat. In einer der Satteltaschen findet er seinen Colt. Er schiebt ihn in den Hosenbund und holt sich dann sein gutes Pferd, das Butch nun nicht mehr reiten wird. Und dann macht er sich auf den Weg nach Musselshell View. Er wird nicht viel später als Bell ankommen. George Prouster sitzt im Speiseraum des Hotels beim Abendbrot. Mit ihm am Tisch sind Harvey Spade und Vance Jacks. Letzterer trägt schon die Plakette eines Town Marshals. Als Joe mit Bell eintritt, betrachten sie kauend die Gefangene. Dass an den Nachbartischen andere Männer sitzen und ihren Hunger stillen, hat nichts zu bedeuten. Bell bekäme keine Hilfe. Prouster ist schon der Boss im Camp. Niemand wagt es, auch nur den geringsten Widerstand zu leisten. Überdies ist hier jeder Mensch mit sich und seinen Problemen beschäftigt. Die Menschen in Musselshell View sind keine Gemeinschaft. Prouster deutet mit der Gabel nach oben und sagt zu Bell: »Geh hinauf! Die Frau des Wirtes hat dir eine Wanne mit heißem Wasser gefüllt. Ich möchte, dass du gut riechst, wenn ich dich zu Mrs Bulldog
bringen lasse, die heute ihr Etablissement eröffnet. Du wirst dort die ganz besondere …« Er bricht ab. Denn seine Augen sehen etwas, was er nicht glauben kann. Er sieht Ty Cane eintreten. Und Cane soll doch blind sein. Prouster begreift instinktiv, dass es jetzt ans Sterben geht. Und er ist gewillt, alles zu tun, nicht derjenige zu sein, der damit beginnt. Er springt auf und brüllt: »Der kann ja sehen!« Dabei schnappt er nach dem Colt. Einen Sekundenbruchteil später hat er eine Kugel im Kopf, genau zwischen den Augen. Und seine beiden Helfer und Komplicen Vance Jacks und Harvey Spade sind eine Idee zu langsam. Als sie sich Ty Cane zuwenden, dabei brüllend nach den Colts greifen, da bekommen sie das Gleiche heiße Blei wie ihr Boss. Die Gäste warfen sich zu Boden, suchten Deckung. Und in die Stille sagt Ty Cane: »Komm, Bell, die tun dir nichts mehr. Komm nur, Bell.« Sie geht zu ihm, legt ihre Hand in die seine. Mit der anderen Hand hält er noch den Colt. Zu den Leuten und dem Wirt sagt Cane: »Das waren Banditen. Man hat sie aus Golden City vertrieben. Es wäre euch ergangen wie den Leuten in Golden City. Aber ihr hattet Glück – obwohl ihr dies wahrscheinlich gar nicht begreifen könnt.«
Nach diesen Worten geht er mit Bell hinaus. Niemand hält sie auf. Denn in Musselshell View gibt es noch keine verwaltende Ordnung. Es gab nur einen Boss. Und der ist tot. Draußen hilft er Bell aufs Pferd. Sie reiten langsam den Weg zurück. ENDE