Margaret Weis Don Perrin Der Zorn des Drachen Ein Drachenlanze-Roman Aus dem Amerikanischen von Imke Brodersen
BLANVAL...
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Margaret Weis Don Perrin Der Zorn des Drachen Ein Drachenlanze-Roman Aus dem Amerikanischen von Imke Brodersen
BLANVALET
1. Buch »Dein Name kümmert mich nicht, Roter. Ich will ihn nicht wissen. Wenn du deine ersten drei Schlachten überlebt hast, werde ich ihn mir vielleicht merken, vorher nicht. Früher habe ich mir die Namen gemerkt, aber das war eine verdammte Zeitverschwendung. Kaum kannte ich so ein Milchgesicht, kippte es mir schon in die Arme und starb. Inzwischen ist mir das egal.« Horkin, Meister der Zauberkunst
1. Kapitel Nebelschwaden umgaben den Turm der Erzmagier von Wayreth, und es nieselte. Der Regen ließ die Mittelpfosten der Fenster schimmern, und auf den dicken Steinsimsen sammelten sich die Tropfen, bis sie die schwarzen Obsidianmauern des Turms herunterrannen, um schließlich im Hof zu Pfützen zusammenzulaufen. In diesem Hof standen ein Esel und zwei Pferde, die reisefertig mit eingerollten Decken und Satteltaschen beladen waren. Die Eselstute ließ Kopf und Kreuz hängen, selbst ihre Ohren baumelten nach unten. Sie war verwöhnt – sie liebte trockenen Hafer, einen gemütlichen Stall, einen sonnenbeschienenen Weg und ein langsames, gemächliches Tempo. Jenny begriff nicht, weshalb ihr Herr an einem so feuchten Tag auf Reisen ging, und hatte sich störrisch jedem Versuch widersetzt, sie aus ihrem Stall zu zerren. Der breitschultrige Mann, der das versucht hatte, rieb sich jetzt seinen schmerzenden Oberschenkel. Die Eselin wäre noch immer in ihrem warmen Stall gewesen, wenn sie nicht auf eine List hereingefallen wäre, einen gemeinen Streich, den ihr der große Kerl gespielt hatte. Der verlockende Geruch einer Mohrrübe, der saftige Duft eines Apfels – damit hatte man sie in Versuchung geführt und überlistet. Jetzt stand sie beleidigt im Regen und war entschlossen, es dem Großen heimzuzahlen. Sie würde es ihnen allen heimzahlen! Par-Salian, Oberhaupt der Versammlung und Herr des Turms von Wayreth, betrachtete die Eselin vom Fenster seiner Räume im Nordturm aus. Er sah ihre Ohren zucken und fuhr unwillkürlich zusammen, als ihr linker Hinterhuf
nach Caramon Majere ausschlug, der es wagte, ein Gepäckstück an ihrem Sattel festzuzurren. Caramon war heute schon einmal ihr Opfer gewesen, und diesmal war er auf der Hut. Auch er hatte das verräterische Ohrenzucken gesehen, die Botschaft verstanden, sodass er dem Tritt hatte ausweichen können. Er tätschelte der Eselin den Hals und holte noch einen Apfel heraus, doch Jenny senkte den Kopf. Wenn Par-Salian sie so ansah – er wusste einiges über Esel, auch wenn ihm das kaum jemand zugetraut hätte –, überlegte das schlecht gelaunte Tier wahrscheinlich, ob es sich auf dem Boden wälzen sollte. Ohne zu merken, dass seine sorgsam gepackte Ladung in Gefahr war, abgeworfen, plattgedrückt und obendrein in einer Pfütze durchnässt zu werden, begann Caramon, die beiden Pferde zu beladen. Im Gegensatz zu dem Esel waren die Pferde froh, der Enge und Langeweile des Stalls zu entkommen. Sie freuten sich auf einen schnellen Galopp und die Aussicht, ihre Muskeln spielen zu lassen und etwas Neues sehen zu können. Aufgeregt stampfend tänzelten sie über das Pflaster, schnaubten in den Regen, blähten die Nüstern und warfen eifrige Blicke auf die Straße hinter den Toren hinaus. Auch Par-Salian blickte zur Straße hin. Er konnte sehen, wohin sie führte, konnte den Weg viel deutlicher erkennen als andere zu jener Zeit auf Krynn. Er sah die Prüfungen und die Mühsal, er sah die Gefahren. Er sah auch Hoffnung, obwohl das Licht schwach und flackernd war wie das magische Licht eines Kristalls auf dem Stab eines jungen Zauberers. Par-Salian hatte sich diese Hoffnung erkauft, doch zu einem entsetzlich hohen Preis, und im Augenblick konnte ihm das Licht der Hoffnung höchstens
weitere Gefahren enthüllen. Doch er musste Vertrauen haben. Vertrauen zu den Göttern, Vertrauen in sich selbst, Vertrauen zu dem, den er als sein Schwert erwählt hatte. Sein »Schwert« stand dort unten in dem verregneten Hof und sah hustend und fröstelnd zu, wie sein Bruder – der wegen des Eseltritts etwas humpelte – die Pferde für die Reise vorbereitete. Ein Krieger wie sein Bruder hätte ein solches Schwert ohne Umschweife abgelehnt, denn dem Anschein nach war es schwach und brüchig und würde vermutlich beim ersten Schlag zerbrechen. Par-Salian wusste vielleicht mehr über dieses Schwert als das Schwert selbst. Er wusste, dass der eiserne Wille in der Seele des jungen Magiers, mit Blut gehärtet, im Feuer erhitzt, durch den Hammer des Schicksals geformt und von seinen eigenen Tränen gekühlt, jetzt bester Stahl war, stark und scharf. Par-Salian hatte eine gut geschliffene Waffe geschaffen, doch wie alle Waffen war sie zweischneidig. Man konnte sie benutzen, um die Schwachen und Unschuldigen zu verteidigen, aber man konnte sie damit auch angreifen. Er wusste noch nicht, welchen Weg das Schwert einschlagen würde. Er bezweifelte, ob das Schwert selbst es wusste. Der junge Magier in seinen neuen, roten Gewändern – einfache, handgewebte Roben ohne Zierrat, denn für bessere hatte er kein Geld – stand mit hochgezogenen Schultern unter einem Rosenbusch, der im Hof blühte und ein wenig Schutz vor dem Regen bot. Gelegentlich zuckten die mageren Schultern des jungen Mannes, und er hustete in ein Taschentuch. Bei jedem Hustenanfall unterbrach sein gesunder, kräftiger Bruder seine Arbeit, um einen besorgten Blick auf seinen kränklichen Zwillingsbruder zu werfen. ParSalian konnte sehen, wie der junge Mann vor Ärger steif
wurde, während seine Lippen sich bewegten. Die schroffe Ermahnung an den Bruder, mit seiner Arbeit fortzufahren und nicht auf den Zwilling zu achten, konnte er sich nur vorstellen. Eine weitere Gestalt eilte auf den Hof, gerade rechtzeitig, um die Eselin davon abzuhalten, sich auf ihrer Ladung zu wälzen. Der elegante Herr mittleren Alters in grauen Roben – seine weißen Gewänder würde Antimodes nicht dem Schmutz einer Reise aussetzen – und Kapuzenmantel war ein willkommener Anblick. Seine muntere Ausstrahlung schien die trübe Stimmung des Tages zu vertreiben, als er das Tier zwar schalt, es dabei aber freundlich hinter den Ohren kraulte und zugleich dem kräftigeren Zwilling unter deutlichen Gesten weitere Anweisungen zum Packen gab. Seine Worte hörte Par-Salian nicht, doch schon das Zuschauen brachte ihn zum Lächeln. Antimodes war ein alter Freund, Mentor und Gönner des jungen Zauberers. Jetzt hob er den Kopf und blickte zum Nordturm auf, von dem aus Par-Salian zu ihm hinunterschaute. Obwohl Antimodes das Oberhaupt seines Ordens von seinem Platz unten im Hof aus nicht sehen konnte, wusste er sehr wohl, dass Par-Salian dort oben stand und zusah. Antimodes machte ein finsteres Gesicht, damit Par-Salian seinen Unmut deutlich sehen konnte. Der Regen und der Nebel waren natürlich Par-Salians Schuld. Das Oberhaupt der Versammlung kontrollierte das Wetter um den Turm der Erzmagier. Er hätte seine Gäste auch an einem sonnigen Frühlingstag fortschicken können, wenn er es denn gewollt hätte. In Wahrheit störte sich Antimodes gar nicht so sehr am Wetter. Das war nur eine Ausrede. Der eigentliche Grund
für Antimodes’ Zorn war, dass er es missbilligte, wie ParSalian den jungen Magier im Turm der Erzmagier geprüft hatte. Antimodes’ Ärger darüber war so groß, dass nun ein Schatten über der alten Freundschaft der beiden lag. Der Regen war Par-Salians Art zu sagen: »Ich verstehe deine Sorge, mein Freund, aber wir können nicht das ganze Leben auf der Sonnenseite stehen. Um zu überleben, braucht der Rosenbusch den Regen wie die Sonne. Und diese Düsternis, dieses trübe Zwielicht, mein Freund, ist nichts im Vergleich zu dem, was noch kommen wird!« Antimodes schüttelte den Kopf, als hätte er Par-Salians Gedanken gehört, und er drehte sich verdrossen um. Praktisch und pragmatisch, wie er war, hielt er wenig von Symbolen und ärgerte sich darüber, dass man ihn dazu zwang, seine Reise in nassen Kleidern anzutreten. Der junge Magier hatte Antimodes genau beobachtet. Als dieser sich umdrehte und wieder daran ging, seine störrische Eselin zu besänftigen, blickte Raistlin Majere selbst zum Nordturm hoch, genau zu dem Fenster, hinter dem Par-Salian stand. Der Erzmagier spürte, wie der Blick dieser Augen – goldener Augen, deren Pupillen die Form von Stundengläsern hatten – ihn berührte und in sein Fleisch stach, als wäre die Spitze einer Schwertklinge in seine Haut eingedrungen. Die goldenen Augen mit ihrem verfluchten Sehvermögen verrieten nichts über die Gedanken, die sich hinter ihnen verbergen mochten. Raistlin verstand noch nicht alles, was ihm widerfahren war. Par-Salian fürchtete den Tag, an dem Raistlin es begreifen würde. Doch das war ein Teil des Preises gewesen. Par-Salian fragte sich, ob der junge Magier trotzig und verbittert war. Sein Körper war hinfällig, seine Gesundheit
zerstört. Von nun an würde er kränkeln, leicht ermüden, Schmerzen leiden, sich auf seinen stärkeren Bruder verlassen müssen. Trotz wäre natürlich und verständlich. Oder nahm Raistlin sein Schicksal einfach hin? Glaubte er, dass der feine Stahl seiner Klinge den Preis wert war? Vermutlich nicht. Er kannte seine eigene Stärke noch nicht. Wenn die Götter es wollten, würde er Zeit zum Lernen haben. Bald würde er seine erste Lektion erhalten. Alle Erzmagier in der Versammlung hatten entweder an Raistlins Prüfung teilgenommen oder von ihren Kollegen gehört, was während der Prüfung geschehen war. Keiner von ihnen wollte ihn als Lehrling aufnehmen. »Seine Seele gehört nicht mehr ihm selbst«, sagte Ladonna von den Schwarzen Roben, »und wer weiß, wann der Käufer kommt, um seinen Besitz abzuholen.« Der junge Magier brauchte Unterweisung, brauchte eine Ausbildung, und zwar nicht nur im Zaubern, sondern auch im Leben. Par-Salian hatte diskrete Erkundigungen eingeholt und einen Lehrer gefunden, von dem er hoffte, dass er einen passenden Lehrgang anbieten würde. Ein ziemlich ungewöhnlicher Lehrer, aber einer, zu dem Par-Salian viel Vertrauen hatte, obwohl es diesen Lehrer erstaunt hätte, das zu hören. Auf Par-Salians Anweisung hin erkundigte sich Antimodes, ob der junge Magier und sein Bruder Interesse daran hätten, im Frühling nach Osten zu ziehen, um sich in der Armee des berühmten Barons Ivor von Langbaum zu Söldnern ausbilden zu lassen. Eine solche Ausbildung wäre ideal für den jungen Magier und seinen Bruder, den Kämpfer, um sich das Brot und die Butter darauf zu verdienen und zugleich ihre
kämpferischen Fähigkeiten zu schulen. Fähigkeiten, die sie in der Zukunft brauchen würden, wenn Par-Salian sich nicht sehr irrte. Es gab keinen Grund zur Eile. Es war erst Anfang Herbst, die Jahreszeit, in der Krieger allmählich daran denken, ihre Waffen einzupacken und sich einen angenehmen Platz zu suchen, an dem man die kalten Wintertage am Feuer verbringen und von den eigenen Ruhmestaten erzählen kann. Die Jahreszeit für den Krieg war der Sommer, und im Frühling bereitete man sich auf den Krieg vor. Der junge Mann würde den ganzen Winter über Zeit haben, gesund zu werden. Beziehungsweise Zeit, sich an seinen Zustand zu gewöhnen, denn richtig gesund würde er nie mehr werden. Solche anständige Arbeit würde Raistlin davon abhalten, sein Talent auf kleinen Jahrmärkten zur Schau zu stellen, um damit Geld zu verdienen, was er zum Entsetzen der Versammlung früher getan hatte. Für Illusionisten oder bloße Liebhaber der Zauberei war es durchaus akzeptabel, ein öffentliches Schauspiel ihrer Kunst zu geben, aber nicht für jemanden, den die Versammlung aufgenommen hatte. Par-Salian hatte jedoch noch einen Beweggrund, Raistlin zu dem Baron zu schicken, einen Grund, den der junge Mann – mit etwas Glück – nie erfahren würde. Antimodes hatte bereits Verdacht geschöpft. Sein alter Freund ParSalian tat nichts ohne Grund, stets war sein Vorgehen gezielt und auf einen ganz bestimmten Zweck gerichtet. Antimodes hatte versucht, diesen Zweck herauszufinden, denn er liebte Geheimnisse wie ein Geizhals seine Münzen, zählte sie des Nachts, liebkoste sie und brütete über ihnen. Doch Par-Salian wusste den Mund zu halten und tappte
auch nicht in die geschickteste Falle. Schließlich war die kleine Gruppe zum Aufbruch bereit. Antimodes kletterte auf seinen Esel. Raistlin bestieg mit Hilfe seines Bruders sein Pferd, einer Hilfe, die er allem Anschein nach nur notgedrungen und mürrisch annahm. Caramon vergewisserte sich mit beispielhafter Geduld, dass sein Bruder richtig und bequem saß, ehe er sich ohne Mühe in den Sattel seines eigenen, grobknochigen Pferdes schwang. Antimodes übernahm die Führung. Die drei hielten auf das Tor zu. Caramon hatte gegen den inzwischen peitschenden Regen den Kopf gesenkt. Antimodes warf noch einen letzten Blick auf das Fenster des Nordturms, einen Blick, der deutlich zeigte, wie sehr ihn dieses Wetter ärgerte. Raistlin zügelte im letzten Augenblick sein Pferd und drehte sich nach dem Turm der Erzmagier um. Par-Salian konnte sich denken, was den jungen Magier bewegte. Als er jung gewesen war, waren ihm ganz ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. Wie sehr sich mein Leben in diesen wenigen Tagen geändert hat! Stark und zuversichtlich habe ich diesen Ort betreten. Nun verlasse ich ihn schwach und gebrochen, mit verfluchten Augen und krankem Körper. Aber dennoch gehe ich im Triumph. Ich gehe mit der Magie. Um die zu erringen, hätte ich selbst meine Seele verkauft… »Ja«, murmelte Par-Salian, während er den dreien nachsah, bis sie in den magischen Wald von Wayreth geritten waren, der sie vor seinen Augen verbarg. Mit dem inneren Auge jedoch behielt er sie noch viel länger im Blick. »Ja, das hättest du. Du hast es. Aber das weißt du noch nicht.« Der Regen wurde stärker. Inzwischen dürfte Antimodes
seinen Freund kräftig verfluchen. Par-Salian lächelte. Sobald sie aus dem Wald kämen, würde die Sonne scheinen. Die Sonnenwärme würde sie trocknen, sodass sie nicht lange in nassen Kleidern reiten würden. Antimodes war ein reicher Mann, der es komfortabel liebte. Er würde schon dafür sorgen, dass sie ein Bett in einem ordentlichen Gasthof bekamen. Er würde auch dafür bezahlen, wenn er eine Möglichkeit fand, dies auf eine Weise zu bewerkstelligen, die die Zwillinge nicht kränkte. Die hatten zwar nur wenige Münzen in ihren Börsen, aber ihr Stolz hätte die königlichen Truhen von Palanthas füllen können. Par-Salian drehte sich vom Fenster weg. Er hatte zuviel zu tun, um hier stehen zu bleiben und in den Regen hinauszustarren. Er versah die Tür mit einem starken Zauberschloss, das auch die mächtigsten Magier, Magier wie Ladonna von den Schwarzen Roben, fern halten würde. Zugegeben, Ladonna hatte dem Turm seit langer, langer Zeit keinen Besuch mehr abgestattet, doch sie kam mit Vorliebe unerwartet und im ungelegensten Moment. Bei diesen speziellen Forschungen durfte sie ihn keinesfalls ertappen. Und er konnte auch nicht zulassen, dass einer der anderen Zauberer, die im Turm lebten oder zu Besuch kamen, herausfand, womit er sich beschäftigte. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um das Wenige zu enthüllen, was er wusste. Er wusste noch nicht genug. Er musste mehr herausfinden, um sicher zu sein, ob sein Verdacht richtig war. Er musste mehr herausfinden, um sich zu vergewissern, ob die Informationen, mit denen seine Spione ihn versorgt hatten, stimmten. Nachdem er sicher war, dass höchstens Solinari, der Gott der Weißen Magie, den Spruch an der Tür hätte brechen
können, setzte sich Par-Salian an den Schreibtisch – eine Zwergenarbeit, Geschenk eines Lehnsherrn aus Thorbardin zum Dank für geleistete Dienste. Dort lag ein Buch. Das Buch war alt, sehr alt. Alt und vergessen. Par-Salian hatte das Buch nur durch Fußnoten in anderen Texten gefunden, die darauf hingewiesen hatten, sonst hätte er nie von seiner Existenz erfahren. Daraufhin war er gezwungen gewesen, viele Stunden danach zu suchen, die ganze Bibliothek im Turm der Erzmagier zu durchstöbern, in der Nachschlagewerke, Zauberbücher und magische Spruchrollen enthalten waren. Die Bibliothek war so unüberschaubar, dass man sie nie katalogisiert hatte. Und außer in Par-Salians Kopf würde es auch nie einen Katalog geben, denn hier lagerten gefährliche Texte – Texte, über deren Existenz sorgfältig gewacht werden musste, Texte, die nur den Oberhäuptern der Drei Orden bekannt waren, gewisse Texte, die nur der Herr des Turms selbst kannte. Es gab sogar Texte, deren Existenz nicht einmal ihm selbst bewusst gewesen war, wie das Buch vor ihm bewies, ein Buch, das er schließlich in der Ecke eines Lagerraums gefunden hatte, wo es entweder versehentlich oder absichtlich in einer Kiste mit der Aufschrift »Spielzeug« gelandet war. Der restliche Inhalt der Kiste deutete darauf hin, dass sie aus dem Turm der Erzmagier von Palanthas kam und noch aus Humas Zeiten stammen musste. Die Kiste hatte zweifellos zu jenen gehört, die man eilig zusammengepackt hatte, als die Zauberer ihren Stolz bezwungen und lieber ihren Turm verlassen hatten, als allen Bewohnern von Ansalon den Krieg zu erklären. Danach hatte man die Kiste mit der Aufschrift »Spielzeug« in eine Ecke geschoben, wo sie im
Chaos nach der Umwälzung vergessen worden war. Par-Salian fuhr vorsichtig mit der Hand über den ledernen Einband des alten Buches, des einzigen in jener Kiste. Er fegte Staub, Mäusekot und Spinnweben beiseite, welche den geprägten Titel teilweise verdeckten, einen Titel, dessen Buchstaben er wie kleine Höcker unter seinen Fingerspitzen fühlte. Einen Titel, bei dem ihn eine Gänsehaut überlief.
2. Kapitel Die Bäume im Wald von Wayreth, diesem launischen, zauberischen Wächter des Turmes der Erzmagier, standen hoch, schweigend und gerade unter den tief hängenden Wolken Spalier wie Soldaten bei der Parade. »Eine Ehrengarde«, befand Raistlin. »Für ein Begräbnis«, knurrte Caramon. Er mochte diesen Wald nicht, der kein natürlicher Wald war, sondern ein herumwandernder, unberechenbarer Wald. Es kam vor, dass man morgens noch nichts von ihm sah und abends mittendrin steckte. Ein gefährlicher Wald für den, der ihn unvorbereitet betrat. Caramon war dankbar, als sie ihn schließlich verließen – aber vielleicht war es auch der Wald, der sie schließlich entließ. Wie auch immer, die Bäume nahmen die Wolken mit sich. Caramon zog den Hut ab und hob sein Gesicht der Sonne entgegen, um ihre strahlende Wärme zu genießen. »Ich komme mir vor, als hätte ich monatelang keine Sonne mehr gesehen«, sagte er mit leiser Stimme und einem hasserfüllten Blick zurück auf den Wald von Wayreth, der jetzt wie eine eindrucksvolle Wand aus nassen Bäumen mit schwarzen, in Nebel gehüllten Stämmen hinter ihnen stand. »Es tut gut, diesen Ort zu verlassen. Ich will nie wieder dorthin zurück, solange ich lebe.« »Dafür gibt es auch nicht den geringsten Grund, Caramon«, meinte Raistlin. »Glaub mir, man wird dich nicht wieder dorthin einladen. Genauso wenig wie mich«, fügte er mit einem bedeutungsvollen Unterton hinzu. »Das ist auch gut so«, erklärte Caramon fest. »Ich wüsste nicht, was dich dorthin zurückziehen sollte. Nach allem…«
Er warf einen Blick auf seinen Bruder, sah dessen finsteres Gesicht und die blitzenden Augen und stammelte: »Nach allem… na ja… was sie dir angetan haben.« Caramons Mut, der im Turm der Erzmagier zermalmt worden war, lebte in der warmen Sonne jenseits der Schatten dieser misstrauischen, wachsamen Bäume auf wundersame Weise wieder auf. »Es ist nicht recht, was diese Zauberer dir angetan haben, Raist! Jetzt kann ich das sagen, nachdem wir diesen schrecklichen Ort verlassen haben. Jetzt, da ich sicher bin, dass mich keiner in einen Käfer oder eine Ameise oder sonst was verwandelt, bloß weil ich meine Meinung sage. Nichts gegen Euch, Herr«, fügte Caramon zu ihrem Reisegefährten Antimodes gewandt hinzu, dem Erzmagier der Weißen Roben. »Ich weiß wohl, was Ihr alles für meinen Bruder getan habt, aber ich finde, Ihr hättet versuchen sollen, diese Fanatiker davon abzuhalten, ihn zu quälen. Das war nicht nötig. Raistlin hätte sterben können. Um ein Haar wäre er auch gestorben. Und Ihr habt keinen Finger gerührt. Keinen Finger!« »Das reicht, Caramon!«, ermahnte ihn Raistlin schockiert. Er warf einen nervösen Blick auf Antimodes, der an Caramons offenen Worten glücklicherweise keinen Anstoß zu nehmen schien. Es sah sogar danach aus, als teile der Erzmagier seine Meinung. Trotzdem benahm sich Caramon wie ein Tölpel, was durchaus nicht ungewöhnlich war. »Du vergisst dich, Bruder!«, stellte Raistlin verärgert fest. »Entschuldige dich – « Raistlins Hals zog sich zusammen; er bekam keine Luft mehr. Er ließ die Zügel los, um sich am Sattelknauf festzu-
halten, denn ihm war so schwindelig, dass er fürchtete, er würde vom Pferd fallen. Über den Sattelknauf gebeugt, rang er verzweifelt nach Luft. Seine Lungen brannten wie damals vor Jahren, als er so krank gewesen war, nachdem er in das Grab seiner Mutter gestürzt war. Er hustete und hustete, bekam aber einfach keine Luft. Blaue Flammen zuckten vor seinen Augen. Das ist das Ende, dachte er entsetzt. Das überlebe ich nicht! Plötzlich ließ der Anfall nach, und Raistlin holte zitternd Luft, wieder und wieder. Seine Sicht klärte sich. Der brennende Schmerz ließ nach. Er war in der Lage, sich aufzusetzen. Nachdem er ein Taschentuch herausgesucht hatte, spie er den Schleim und das Blut aus und wischte sich mit dem Tuch die Lippen ab. Seine Hand schloss sich schnell um das Taschentuch, und er stopfte es in den aus Seide geflochtenen Gürtel zurück, den er um die Taille trug, in die Falten seiner roten Robe, damit Caramon nichts bemerkte. Caramon war vom Pferd gesprungen und stand neben Raistlin. Besorgt und mit ausgestreckten Armen beobachtete er seinen Bruder und hätte ihn aufgefangen, wenn er vom Pferd gefallen wäre. Raistlin war wütend auf Caramon, aber noch wütender auf sich selbst, auf diesen Anflug von Selbstmitleid, der ihn am liebsten hätte schluchzen lassen: »Warum haben sie mir das angetan? Warum?« Er warf seinem Bruder einen scharfen Blick zu. »Ich bin durchaus in der Lage, ohne Hilfe auf einem Pferd zu sitzen, mein Bruder«, sagte er schroff. »Entschuldige dich bei dem Erzmagier und dann lass uns weiterreiten. Und setz deinen Hut wieder auf, sonst brutzelt die Sonne noch dein bisschen Gehirn weg.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Caramon«, sagte Antimodes milde, obwohl er Raistlin mit einem ernsten Blick bedachte. »Du hast nur auf dein Herz gehört. Das macht nichts. Deine Sorge um deinen Bruder ist völlig verständlich, ja, lobenswert.« Und das ist als Vorwurf an mich gemeint, sagte sich Raistlin. Du weißt es, nicht wahr, Meister Antimodes? Haben sie dich zusehen lassen? Hast du mit angesehen, wie ich meinen Bruder getötet habe? Oder das, was sich als Trugbild meines Bruders erwiesen hat. Nicht, dass es eine Rolle spielt. Das Wissen, dass ich in der Lage dazu bin, eine solch abartige Tat zu vollbringen, ist genauso schlimm wie die Tat selbst. Ich erschrecke dich, nicht wahr? Du behandelst mich nicht mehr wie früher. Ich bin nicht mehr die einmalige Entdeckung, der junge, begabte Schüler, mit dem du dich so gern geschmückt hast. Du bewunderst mich – widerwillig. Du bemitleidest mich. Aber du magst mich nicht. Nichts davon äußerte er laut. Caramon bestieg schweigend sein Pferd, und schweigend ritten die drei langsam weiter. Sie hatten noch keine zehn Meilen zurückgelegt, als Raistlin, der schwächer war, als er gedacht hatte, erklärte, er könne nicht mehr weiter. Nur die Götter wussten, wie er es so weit geschafft hatte, denn er war so erschöpft, dass er Caramon gestatten musste, ihm beim Absteigen zu helfen und ihn auf dem Weg zum Gasthaus zu stützen. Antimodes machte viel Aufhebens um Raistlin, verlangte das beste Zimmer im Haus – obwohl Caramon viele Male wiederholte, dass der Gemeinschaftsschlafsaal für sie beide reichen würde – und empfahl Raistlin eine Hühnerbrühe, um seinen Magen zu beruhigen.
Caramon saß an Raistlins Bett und sah ihn hilflos an, bis Raistlin sich darüber derartig ärgerte, dass er seinem Bruder befahl, sich um sich selbst zu kümmern und ihn schlafen zu lassen. Aber er konnte nicht schlafen. Er war nicht müde, denn im Gegensatz zu seinem Körper war sein Geist hellwach. Er dachte an Caramon, der unten mit den Kellnerinnen schäkern und zu viel Bier trinken würde. Auch Antimodes würde dort unten sitzen, Gesprächen lauschen und Informationen sammeln. Dass der Zauberer einer von ParSalians Spionen war, war unter den Bewohnern des Turms ein offenes Geheimnis, ein Geheimnis, das unschwer zu enträtseln war. Ein mächtiger Erzmagier, der sich mit wenigen Zauberworten von Ort zu Ort befördern konnte, zog nicht auf dem Rücken eines Esels über die staubigen Straßen von Ansalon, wenn er nicht einen guten Grund hatte, sich in Gasthäusern aufzuhalten und mit den Wirten zu schwatzen. Obendrein behielt er stets im Auge, wer in die Gaststube kam und wer wieder verschwand. Raistlin stand auf und setzte sich an einen kleinen Tisch am Fenster, einem Fenster, aus dem man über ein Weizenfeld blicken konnte, das sich goldgelb von dem Grün der Bäume und dem sonnenhellen, blauen Himmel abhob. Unter seinen Augen, den verfluchten Stundenglasaugen – einer Verzauberung, die vor langer Zeit einmal eine Lektion für die arrogante und gefährliche Abtrünnige Relanna gewesen war –, sah Raistlin den Weizen herbstlich braun werden und verdorren, bis die Halme so brüchig waren, dass sie unter der Last des fallenden Schnees abknickten. Er sah die Blätter an den Bäumen welken und sterben, sah sie auf die Erde fallen, bis sie vom kalten Winterwind fortge-
weht wurden. Er wendete seine Augen von diesem erschütternden Anblick ab. Seine kostbare Zeit, die Zeit, in der er mit sich allein war, wollte er zum Lernen verwenden. Er schlug das Büchlein auf, das Informationen über den kostbaren Stab des Magus enthielt, jenen magischen Gegenstand, den ihm Par-Salian zum Geschenk gemacht hatte. Wofür? Als Wiedergutmachung? Raistlin wusste es besser. Dass er sich der Prüfung unterzogen hatte, war seine Entscheidung gewesen. Als er sich ihr gestellt hatte, hatte er gewusst, dass sie ihn verändern würde. Jeder Kandidat erhielt diese Warnung. Raistlin hatte Caramon daran erinnern wollen, bevor ihn der Hustenanfall gepackt und geschüttelt hatte wie ein Hund, der ein verknotetes Geschirrtuch schüttelt. Immer wieder kamen Zauberer bei der Prüfung um, und ihren Familien wurde nur ein sauberes Bündel Kleider und ein bedauernder Brief vom Oberhaupt der Versammlung zugeschickt. Raistlin zählte zu den Glücklicheren. Er hatte überlebt, wenn auch nicht gesund. Er war auch nicht verrückt geworden, obwohl er mitunter befürchtete, dass er nahe davor stand. Er griff nach seinem Stab, der immer in seiner Reichweite war. Während der Zeit im Turm hatte Caramon eine Möglichkeit gefunden, den Stab hinten am Sattel so zu befestigen, dass er immer dicht bei Raistlins Hand lag. Das glatte Holz prickelte beim Knistern der Magie unter seinen Fingern, wirkte belebend und linderte seine Schmerzen – den Schmerz des Körpers, den Schmerz in seinen Gedanken und den Schmerz der Seele. Er hatte vor, das Buch zu lesen, merkte aber, dass er abgelenkt war, weil er über diese merkwürdige Schwäche
nachdachte, mit der er geschlagen war. Er war nie so stark gewesen wie sein gesunder, robuster Zwillingsbruder. Das Schicksal hatte ihm grausam mitgespielt, denn es hatte seinem Bruder Gesundheit, ein angenehmes Äußeres und einen arglosen, gewinnenden Charakter geschenkt. Raistlin hingegen hatte einen schwächlichen Körper erhalten, ein unauffälliges Äußeres, angeborenen Scharfsinn, einen schnellen Verstand und ein Herz, das niemandem vertrauen konnte. Doch zum Ausgleich dafür hatte das Schicksal – oder die Götter – ihm die Magie gegeben. Das Prickeln des magischen Stabs sickerte in sein Blut und erwärmte es so angenehm, dass er Caramon weder das Bier noch die Mädchen unten neidete. Nur diese Schwäche, dieses glühende Fieber in seinem Körper; der ständige Husten; die Unfähigkeit, Luft zu holen, als wäre seine Lunge voller Staub; das Blut auf dem Taschentuch! Die Schwäche würde ihn nicht umbringen, das hatte Par-Salian ihm jedenfalls versichert. Nicht, dass Raistlin Par-Salian ein Wort geglaubt hätte – weiß gekleidete Magier logen nicht, aber sie sagten einem auch nicht unbedingt die Wahrheit. Par-Salian war sehr ausweichend geworden, als er Raistlin erklärt hatte, was eigentlich nicht mit ihm stimmte, was ihm während der Prüfung zugestoßen war, sodass er nun in einer solch jämmerlich schwachen Verfassung war. Raistlin erinnerte sich deutlich an die Prüfung, jedenfalls an das meiste davon. Die Zauberprüfungen sollten die angehenden Zauberer etwas über sich selbst lehren und feststellen, welche Robenfarbe sie tragen sollten – welchem der Götter der Magie sie die Treue gelobten. Zu Ehren seines Gönners Antimodes hatte Raistlin die Prüfung in weißen
Roben angetreten, war jedoch in den roten Roben der Neutralität, die die Göttin Lunitari ehrten, herausgekommen. Raistlin beschritt weder die Pfade des Lichts noch die schattigen Pfade der Finsternis. Er ging seinen eigenen Weg auf seine eigene Weise nach seiner eigenen Wahl. Raistlin erinnerte sich an einen Kampf mit einem Dunkelelfen. Er erinnerte sich – eine schreckliche Erinnerung –, dass der Elf ihn mit einem vergifteten Dolch verwundet hatte. Raistlin erinnerte sich an den Schmerz und daran, wie seine Kräfte ihn verlassen hatten. Er erinnerte sich daran, wie er im Sterben lag, und daran, dass er den Tod begrüßt hatte. Und dann war Caramon gekommen, um ihn zu retten. Caramon hatte seinen Bruder mit dessen einziger Gabe gerettet – der Magie. Und da hatte Raistlin seinen Bruder aus eifersüchtiger Wut getötet. Allerdings nur die Illusion seines Bruders. Und Caramon hatte gesehen, wie sein Bruder ihn umbrachte. Par-Salian hatte Caramon diesen letzten Teil der Prüfung mit ansehen lassen. Jetzt kannte Caramon die Finsternis, mit der sein Bruder innerlich rang. Eigentlich hätte Caramon seinen Zwillingsbruder für das, was er ihm angetan hatte, hassen müssen. Raistlin wünschte, Caramon würde ihn hassen. Der Hass seines Bruders wäre soviel leichter zu ertragen gewesen als sein Mitleid. Aber Caramon hasste Raistlin nicht. Er »verstand«, jedenfalls sagte er das. »Ich wünschte, ich könnte das«, stellte Raistlin verbittert fest. Er erinnerte sich an die Prüfung, aber nicht an alles. Ein Teil fehlte. Wenn er innerlich an die Prüfung zurückdachte,
war es, als sähe er ein Bild, das jemand absichtlich beschmiert hatte. Er sah Leute, doch die Gesichter waren unkenntlich, von schwarzer Tinte besudelt. Und seit der Prüfung hatte er ein sehr eigenartiges Gefühl, ein Gefühl, als ob ihm jemand folgte. Es war, als würde ihm gleich jemand die Hand auf die Schulter legen, als wäre da ein kalter Atemhauch an seinem Nacken. Raistlin hatte den Eindruck, er müsse sich nur schnell genug umdrehen, um einen Blick auf das zu erhaschen, was hinter ihm lauerte. Mehr als einmal hatte er sich dabei ertappt, wie er herumfuhr und über die Schulter blickte. Doch da war nie jemand. Nur Caramon mit seinen traurigen, besorgten Augen. Raistlin seufzte und schob die Fragen beiseite, die ihn sinnlos ermüdeten, weil sie ins Nichts führten. Er setzte sich an sein Buch, das von einem Schreiber stammte, der zu Humas Armee gehört hatte. Hin und wieder wurden Magus und sein wundersamer Stab erwähnt. Magus – einer der größten Zauberer, die je gelebt hatten, und Freund des legendären Ritters Huma – Magus hatte Huma in seinem Kampf gegen die Königin der Finsternis und deren böse Drachen beigestanden. Magus hatte den Stab mit vielen Bezauberungen versehen, doch darüber gab es keine schriftlichen Aufzeichnungen, die von ihm gestammt hätten. Das war unter Magiern so üblich, zumal bei sehr mächtigen Gegenständen, bei denen zu befürchten war, dass sie in falsche Hände geraten könnten. Gewöhnlich gab ein Meister den Gegenstand und das Wissen um seine Macht an einen vertrauenswürdigen Lehrling weiter, der beides dann seinerseits weitergeben würde. Doch Magus war gestorben, bevor er den Stab weiterreichen konnte. Wer ihn jetzt benutzen wollte, musste
seine Eigenschaften schon selbst herausfinden. Schon nach wenigen Tagen hatte Raistlin dem Buch entnommen, dass der Stab seinem Besitzer die Fähigkeit verlieh, leicht wie eine Feder in der Luft zu schweben, und dass er, als Keule benutzt, die Kraft eines Schlages verstärken konnte, sodass sogar jemand, der so schwach war wie Raistlin, einem Feind beträchtlich schaden konnte. Das waren nützliche Eigenschaften, aber Raistlin war sich ziemlich sicher, dass der Stab noch weitaus mächtiger war. Das Lesen war mühsam, denn die Sprache war eine Mischung aus Solamnisch, das er von seinem Freund, Sturm Feuerklinge, gelernt hatte, der allgemeinen Umgangssprache und dem Slang der Soldaten und Söldner. Oft brauchte Raistlin eine ganze Stunde, um die Bedeutung einer einzigen Seite zu erfassen. Jetzt las er wieder eine Passage, die bestimmt wichtig war, deren Bedeutung er jedoch noch nicht begriff.Wir wussten, dass der schwarze Drache in der Nähe war, denn wir konnten das Zischen des harten Gesteins hören, das sich in der tödlichen Säure auflöste, die der schreckliche Wurm spie. Wir konnten das Knattern seiner Flügel hören und das Kratzen seiner Klauen an den Burgmauern, als er sie auf der Suche nach uns überkletterte. Aber wir konnten nichts sehen, denn der Drache hatte uns mit einer Art schwarzer Magie belegt, die das Sonnenlicht abschirmte und alles so finster machte wie sein eigenes Herz. Der Drache hatte vor, in dieser Finsternis über uns zu kommen und uns zu töten, bevor wir ihn bekämpfen konnten. Huma rief nach Fackeln, doch in der stickigen Luft, die von den Dämpfen des tödlichen Drachenodems vergiftet war, konnten wir keine Flammen schlagen. Wir hatten Angst, es wäre alles verloren und wir müssten in dieser heillosen Finsternis sterben. Doch dann trat Magus vor und brachte Licht! Ich weiß nicht, wie er es
geschafft hat, doch der Kristall an dem Stab, den er trug, vertrieb die Finsternis und zeigte uns das furchtbare Monster. Wir hatten ein Ziel für unsere Pfeile, und auf Humas Zeichen hin griffen wir an…Mehrere Seiten lang wurde beschrieben, wie sie den Drachen getötet hatten, doch diese Informationen übersprang Raistlin ungeduldig, weil er sie vermutlich niemals brauchen würde. Seit Humas Zeiten hatte man auf Krynn keinen Drachen mehr gesehen, und mittlerweile behaupteten schon manche, sie seien selbst damals nur mythische Wesen gewesen. Huma hätte das alles erfunden, um sich selbst zu glorifizieren, er wäre nichts als ein Hochstapler gewesen, ein prahlerischer Lügner.Ich fragte einen Freund, wie Magus seinen Stab dazu gebracht hatte, dieses segensreiche Licht zu spenden. Der Freund, der zu jenem Zeitpunkt in seiner Nähe gestanden hatte, sagte, Magus hätte nur ein einziges Wort gesagt. Ich fragte nach dem Wort, weil ich dachte, es könnte uns anderen von Nutzen sein. Er behauptete, es hätte geklungen wie »Schnickschnack«. Ich glaube nicht, dass das stimmt, denn ich habe das Wort selbst heimlich ausprobiert, als Magus seinen Stab eines Nachts in eine Ecke gelehnt stehen ließ, und ich konnte den Kristall nicht zum Leuchten bringen. Ich vermute, es ist ein Wort aus einer anderen Sprache, vielleicht Elfisch, denn man weiß, dass Magus Kontakte zu Elfen pflegt.Schnickschnack! Raistlin verzog das Gesicht. Elfisch! Was für ein Dummkopf. Das Wort entstammte offensichtlich der Sprache der Magie. Eine endlose Stunde lang hatte Raistlin im Turm jede Wendung benutzt, die ihm in dieser geheimen Sprache geläufig war, jedes Wort, das »Schnickschnack« auch nur entfernt ähnelte. Er hatte den Kristall auf dem Stab ebenso wenig zum Leuchten gebracht wie jener längst tote, unbekannte Soldat.
Lautes Gelächter schallte von unten zu ihm herauf. Raistlin hörte Caramons dröhnendes Prusten zwischen den schrilleren Stimmen der Frauen. Wenigstens war sein Bruder beschäftigt und würde demnach nicht hereinplatzen und ihn stören. Raistlin sah den Stab an. »Elem shardish«, sagte er. Das bedeutete »Auf meinen Befehl«, ein Satz, mit dem viele magische Gegenstände aktiviert wurden. Aber nicht dieser hier. Der Kristall, der in der goldenen Nachbildung einer Drachenklaue ruhte, blieb dunkel. Stirnrunzelnd betrachtete Raistlin den nächsten Ausdruck, den er auf seine Liste geschrieben hatte. Sharcum pas edistus, noch ein verbreiteter, magischer Befehl, der ungefähr bedeutete: »Tu, was ich sage.« Auch dieses Kommando bewirkte nichts. Der Kristall leuchtete, doch nur deshalb, weil er einen Sonnenstrahl reflektierte. Raistlin arbeitete seine Liste weiter durch, auch Befehle wie omus sharpuk derli für »So sei es« oder shirkit muan, was bedeutete: »Gehorche mir.« Schließlich verlor er die Geduld. » Uh, Lunitari’s idish, shirak, damen du!« Der Kristall auf dem Stab verströmte ein strahlend helles Licht. Erstaunt starrte Raistlin ihn an und versuchte, sich zu erinnern, was genau er eben gesagt hatte. Mit zitternder Hand schrieb er den Satz auf, während seine Augen zwischen dem wundersamen, magischen Licht und seiner Arbeit hin und her wanderten: Uh, Lunitari’s idish, shirak, damen du! Dazu die Übersetzung: Oh, bei Gott, Licht, verdammt noch mal! Und das war die Antwort.
Raistlin merkte, wie sein Gesicht vor Scham brannte, und war ausgesprochen dankbar, dass er seine Verwirrung niemandem offenbart hatte, am allerwenigsten Antimodes, woran er schon gedacht hatte. »Ich bin der Dummkopf«, sagte er sich, »der einfache Dinge kompliziert macht. ›Schnickschnack‹. ›Shirak‹. ›Licht‹. Das ist der Befehl. Und um das Licht zu löschen, ›Dulak‹. ›Dunkel‹.« Das magische Licht im Kristall ging aus. Triumphierend packte Raistlin seine gute Schreibfeder aus, einen kleinen Kiel aus einer beschnittenen Gänsefeder, und eine versiegelte Tintenflasche. Er trug seine Entdeckung gerade in sein eigenes, kleines Tagebuch ein, als seine Kehle sich zuschnürte und anschwoll, bis ihm die Luft wegblieb. Er ließ die Feder fallen, wodurch ein Tintenklecks in sein Tagebuch gelangte, hustete, würgte und rang nach Luft. Als der Krampf nachließ, war er so erschöpft, dass er nicht einmal mehr die Feder halten konnte. Mühsam kroch er ins Bett zurück, wo er sich dankbar, aber auch trotzig ausstreckte, um zu warten, bis der Schwindel und die Mattigkeit nachließen. Unten hörte er wieder brüllendes Gelächter. Caramon war offenbar in Bestform. Draußen auf dem Gang bemerkte er die Schritte von zwei Leuten, dazu Antimodes’ Stimme: »Ich habe eine Karte in meinem Zimmer, guter Freund. Sei doch bitte so nett und zeig mir, wo diese Goblinarmee steht. Hier hast du etwas Stahl für deine Mühe…« Raistlin lag im Bett und rang nach Luft, während um ihn herum das Leben weiterging. Die Sonne zog über den Himmel, und der Schatten des Fensterrahmens glitt über die Decke. Raistlin sah ihm zu und sehnte sich nach einer
Tasse des Tees, den er gegen seine Schmerzen zu trinken pflegte. Ungeduldig fragte er sich, wieso Caramon nicht kam und nach ihm sah und sich erkundigte, ob er etwas brauchte. Doch als Caramon am späten Nachmittag wirklich kam, stolperte er, obwohl er sich sehr bemühte, geräuschlos einzutreten, über ein Gepäckstück und weckte Raistlin aus dem ersten friedlichen Schlaf seit Tagen. Dafür wurde Caramon bitter gescholten und aus dem Zimmer geschickt. Zehn Meilen an einem Tag. Noch Hunderte von Meilen bis zu ihrem Ziel. Es sollte eine lange Reise werden.
3. Kapitel Während der folgenden Tage ging es Raistlin besser, und er fühlte sich stärker. Er konnte auch mehr Stunden am Tag unterwegs sein, sodass sie frühzeitig den Randbereich von Qualinesti erreichten. Obwohl Antimodes ihnen versicherte, dass sie es nicht eilig hatten, weil der Baron seine Armee nicht vor dem Frühjahr ausheben würde, hofften die Zwillinge, noch vor Anbruch des Winters das Hauptquartier des Barons, eine Festung an einer Bucht des Neumeers weit im Osten von Solace, erreichen zu können. Sie hofften, wenigstens ihre Namen eintragen lassen zu können, damit sie, wenn sie denn im Dienste des Barons standen, vielleicht eine Möglichkeit fanden, sich etwas Geld zu verdienen, denn inzwischen waren die Zwillinge nahezu mittellos. Ihre Pläne wurden jedoch durchkreuzt – eine Flussüberquerung wurde ihnen zum Verhängnis. Sie durchquerten eine Furt des Elfenflusses, als Raistlins Pferd auf einem Stein ausglitt und stürzte, wobei es seinen Reiter ins Wasser warf. Zum Glück war der Strom jetzt im Herbst nicht mehr so reißend wie nach der Schneeschmelze im Frühling, sondern floss gemächlich und träge dahin. Das Wasser milderte den Sturz, sodass nur Raistlins Stolz verletzt wurde. Aber er war durch und durch nass. Ein heftiger Regenguss an jenem Abend verhinderte, dass er wieder trocken wurde, und er bekam eine Erkältung, die ihm bis in die Knochen drang. Am nächsten Tag ritt er bibbernd in der heißen Sonne dahin und fiel gegen Abend in ein Fieberdelirium. Antimodes, der kaum jemals krank gewesen war, wusste nichts über die Behandlung von Krankheiten. Wäre Raistlin bei
Bewusstsein gewesen, so hätte er sich selber helfen können, denn er kannte sich ausgezeichnet mit Kräutern aus. Doch der junge Zauberer durchlitt düstere Träume, entsetzliche Träume, seinem Schreien und Stöhnen nach zu urteilen. Vor lauter Verzweiflung und Angst um seinen Bruder wagte es Caramon, die Wälder der Elfen von Qualinesti zu betreten, wo er jemanden zu finden hoffte, der seinem Bruder zur Hilfe kommen würde. Dicht wie Weizenhalme hagelten die Pfeile vor seinen Füßen nieder, doch das schreckte ihn nicht. Er rief den unsichtbaren Bogenschützen zu: »Lasst mich mit Tanis, dem Halbelf, sprechen! Ich bin ein Freund von Tanis! Er wird für uns bürgen! Mein Bruder liegt im Sterben! Ich brauche eure Hilfe!« Leider schien die Erwähnung von Tanis’ Namen die Dinge nicht besser, sondern schlimmer zu machen, denn der nächste Pfeil durchbohrte Caramons Hut, und ein weiterer streifte seinen Arm, der zu bluten begann. Nachdem er sich seine Niederlage eingestanden hatte, verfluchte er alle Elfen von ganzem Herzen (wenn auch tonlos) und zog sich aus den Wäldern zurück. Am anderen Morgen war Raistlins Fieber etwas gesunken, sodass es ihm möglich war, vernünftig zu sprechen. Deshalb nahm er Caramon am Arm und flüsterte: »Haven! Bring mich nach Haven! Unser Freund Lemuel wird wissen, was zu tun ist.« Eilig ritten sie nach Haven. Caramon hielt seinen kranken Bruder vor sich im Sattel sitzend im Arm. Antimodes galoppierte mit Raistlins Pferd am Zügel hinterher. Lemuel war ein Zauberer. Unerfahren und zurückhaltend, aber dennoch ein Zauberer, und er und Raistlin hat-
ten bei einem früheren Besuch in Haven, der unter einem schlechten Stern gestanden hatte, eine recht ungewöhnliche Freundschaft geschlossen. Lemuel hatte Raistlin immer noch gern und hieß ihn, seinen Bruder und den Erzmagier bereitwillig in seinem großen Haus willkommen. Nachdem er Raistlin das beste Zimmer zugewiesen hatte, sorgte er dafür, dass Antimodes und Caramon ebenfalls gute Zimmer bekamen, und ging dann daran, dem schwer kranken jungen Mann nach besten Kräften zu helfen. »Er ist sehr krank, daran besteht kein Zweifel«, verriet Lemuel dem erschöpften Caramon, »aber ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen. Eine Erkältung, die ihm auf die Brust geschlagen ist. Hier ist eine Liste einiger Kräuter, die ich brauche. Du weißt noch, wo das Geschäft des Kräuterhändlers ist? Wunderbar. Dann lauf. Und vergiss nicht die Brechwurz.« Fast taumelnd vor Müdigkeit ging Caramon los, denn bevor er nicht sicher war, dass sein Bruder behandelt wurde, konnte er weder Schlaf noch Ruhe finden. Lemuel vergewisserte sich, dass Raistlin es so bequem wie möglich hatte. Dann ging er in die Küche, um kaltes Wasser zu holen, mit dem er den glühenden Körper des jungen Mannes abwaschen wollte, um das Fieber ein wenig zu senken. Dort traf er Antimodes, der sich eine Tasse Tee schmecken ließ. Antimodes war ein Mann mittleren Alters, der auf elegante Kleidung Wert legte und gern feine, teure Roben trug. Er war ein mächtiger Zauberer, auch wenn er mit seinen Kräften sparsam umging. Er machte sich nicht gern die Hände schmutzig, wie man so sagt. Lemuel hingegen war klein, rundlich und von fröhlichem Gemüt. Die Arbeit in
seinem Garten liebte er über alles. Was seine Magie anging, so reichte sie kaum zum Wasser Kochen. »Eine ausgezeichnete Mischung«, lobte der Erzmagier, der sich sein Wasser selbst gekocht hatte. »Was ist das?« »Kamille mit einem Hauch Pfefferminze«, verriet Lemuel. »Wie geht es dem jungen Mann?«, fragte Antimodes. »Nicht gut«, seufzte Lemuel. »Ich wollte nichts sagen, solange sein Bruder in der Nähe war, aber er hat eine Lungenentzündung. Beide Lungenflügel sind mit Flüssigkeit gefüllt.« »Kannst du ihm helfen?« »Ich tue, was ich kann. Aber er ist sehr krank. Ich fürchte…« Lemuels Stimme wurde leiser. Wieder schüttelte er den Kopf. Antimodes schwieg einen Moment, schlürfte seinen Tee und betrachtete stirnrunzelnd die Teekanne. »Nun, vielleicht ist es besser so«, befand er schließlich. »Guter Mann!«, rief Lemuel schockiert aus. »Das meinst du doch wohl nicht im Ernst! Er ist noch so jung!« »Du siehst doch, wie er sich verändert hat. Du weißt, dass er die Prüfung abgelegt hat.« »Ja, Erzmagier. Sein Bruder hat es mir erzählt. Die Veränderung ist… sehr… bemerkenswert.« Lemuel erschauerte. Er warf dem Erzmagier einen forschenden Blick zu. »Trotzdem nehme ich an, dass der Orden weiß, was er tut.« Er lauschte in den Gang hinein nach seinem Patienten, den er unruhig schlafend zurückgelassen hatte. »Schön wär’s«, murmelte Antimodes trübsinnig. Diese Reaktion machte Lemuel unsicher und er wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. Nachdem er sei-
ne Schüssel mit Wasser gefüllt hatte, wollte er gehen. »Ich glaube, du kennst Raistlin schon länger«, stellte Antimodes übergangslos fest. »Ja, Erzmagier«, bestätigte Lemuel, indem er sich wieder zu seinem Gast umdrehte. »Er hat mich einige Male besucht.« »Was hältst du von ihm?« »Er hat mir einst einen sehr großen Dienst erwiesen«, erwiderte Lemuel errötend. »Ich stehe in seiner Schuld. Vielleicht kennst du die Geschichte? Ich wäre beinahe aus meinem Haus vertrieben worden, und zwar von fanatischen Anhängern eines Kultes, der einen Schlangengott anbetete. Ich glaube, er hieß Belzor oder so ähnlich. Raistlin konnte beweisen, dass die Magie, die, wie die Kultanhänger behaupteten, von den Göttern stammte, in Wahrheit gewöhnliche Zauberkunst war. Er wäre beinahe umgekommen – « Antimodes erhob den Zuckerlöffel, als wolle er die Erwähnung von Tod und Dankbarkeit beiseite wischen. »Ich weiß. Ich habe davon gehört. Ganz unabhängig davon – was hältst du von ihm?« »Ich mag ihn«, meinte Lemuel. »Oh, zugegeben, er hat seine Fehler. Aber wer von uns hat die nicht? Er ist ehrgeizig. Ich war in seinem Alter auch ehrgeizig. Er ist der Kunst voll und ganz ergeben – « »Man könnte auch sagen besessen«, warf Antimodes düster ein. »Aber das war mein Vater auch. Ich glaube, du kanntest ihn.« Antimodes neigte den Kopf. »Ich hatte die Ehre. Ein guter Mann und ein ausgezeichneter Zauberer.«
»Danke. Ich selbst war für meinen Vater eine arge Enttäuschung, wie du dir sicher vorstellen kannst«, sagte Lemuel mit selbstironischem Lächeln. »Als ich Raistlin kennen lernte, sagte ich mir: Das ist der Sohn, den mein Vater sich gewünscht hat. Ich hatte ihm gegenüber irgendwie ein brüderliches Gefühl.« »Brüderlich! Sei dankbar, dass du nicht sein Bruder bist!«, mahnte Antimodes streng. Der Erzmagier legte seine Stirn in so düstere Falten, und seine Stimme war so ernst geworden, dass Lemuel, der mit dieser seltsamen Bemerkung nichts anfangen konnte, sich damit entschuldigte, dass er nach seinem Patienten sehen müsse. Eilig verließ er die Küche. Antimodes blieb am Tisch sitzen, war aber so in Gedanken versunken, dass er den eingeschenkten Tee vergaß. »Dem Tode nahe, ja? Ich wette, er stirbt nicht. Du«, er funkelte die Luft an, als enthielte sie einen körperlosen Geist, »du lässt ihn nicht sterben, oder? Nicht ohne alles zu tun, um ihn zu retten. Denn wenn er stirbt, stirbst auch du. Und wie kann ich über ihn richten? Wer ahnt schon, welche Rolle ihm in den schrecklichen Zeiten zugedacht ist, die so schnell auf uns zukommen? Ich nicht, soviel steht fest. Und auch nicht Par-Salian, so gerne er uns das auch glauben machen möchte!« Bedrückt blickte Antimodes in die Teetasse, als könnte er in den Teeblättern die Zukunft lesen. »Ja, ja, kleiner Raistlin«, sagte er nach einer Weile, »du tust mir leid, soviel ist sicher. Du und dein Bruder. Die Götter – wenn es Götter gibt – mögen euch helfen. Auf deine Gesundheit!« Antimodes hob die Tasse an die Lippen und nahm einen
Schluck. Da der Tee kalt geworden war, spuckte er ihn sofort wieder aus.Raistlin starb nicht. Ob es nun Lemuels Kräuter waren oder Caramons geduldige Pflege, Antimodes’ Gebet oder die wachsame Aufmerksamkeit von jemandem auf einer anderen Existenzebene, jemandem, dessen Lebenswerk untrennbar mit dem Leben des jungen Magiers verbunden war, oder nichts davon und allein Raistlins Wille, der ihn rettete, konnte niemand sagen. Nach einer Woche, während derer er im Niemandsland zwischen Leben und Tod geschwebt hatte, gewann das Leben den Kampf. Das Fieber sank, er atmete leichter und fiel in einen erholsamen Schlaf. Er war schwach – unglaublich schwach. So schwach, dass er ohne den starken, stützenden Arm seines Bruders nicht einmal den Kopf vom Kissen heben konnte. Antimodes verschob seine eigene Reise und blieb noch so lange in Haven, bis er sicher war, dass der junge Mann es geschafft hatte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Raistlin überleben würde, zog der Erzmagier in seine eigene Heimat, denn er hoffte, Balifor noch zu erreichen, bevor die Winterstürme die Straßen unpassierbar machten. Er gab Caramon ein persönliches Empfehlungsschreiben an Baron Ivor. »Bringt euch nur nicht um, um dorthin zu gelangen«, mahnte Antimodes am Tag seiner Abreise. »Ich habe bereits versucht, euch zu erklären, dass der Baron sich im Augenblick sowieso nicht über eure Ankunft freuen würde. Er und seine Soldaten werden den ganzen Winter über untätig herumsitzen, und ihr zwei wärt einfach nur zwei zusätzliche Mäuler, die es zu stopfen gälte. Im Frühling wird er anfangen, Angebote für den Dienst in seiner Armee an-
zunehmen. Keine Sorge, ihr werdet schon Arbeit bekommen! Der Baron von Langbaum und seine Söldner sind bekannt und haben in diesem Teil von Ansalon einen guten Namen. Er und seine Soldaten sind sehr gefragt.« »Vielen Dank, Herr«, erwiderte Caramon dankbar. Er half Antimodes, die widerspenstige Jenny zu besteigen, die sich an Lemuels süße Äpfel gewöhnt hatte und nicht gerade auf den Aufbruch versessen war. »Danke für den Brief und für alles, was Ihr für uns getan habt.« Caramon wurde rot. »Und was ich gesagt habe, als wir damals aus dem Wald geritten sind – das tut mir leid. Ich habe es nicht so gemeint. Ohne Euch hätte Raist sich seinen Traum nie erfüllen können.« »Ach was, junger Freund«, meinte Antimodes mit einem Seufzer und legte Caramon eine Hand auf die Schulter. »Lade mir nicht auch noch diese Last auf.« Er klatschte Jenny auf die breite Kruppe, was ihre Laune nicht eben verbesserte, und die Eselin trottete davon und ließ den verwirrten Caramon mitten auf der Straße stehen. Raistlins Genesung brauchte ihre Zeit. Caramon fürchtete, sie würden Lemuel lästig werden, und deutete mehr als einmal an, dass er glaubte, sein Bruder könne die Heimreise nach Solace durchaus bewältigen. Aber Raistlin hatte nicht den Wunsch, in die Heimat zurückzukehren, noch nicht. Nicht solange er schwach und äußerlich so schrecklich verändert war. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass einer ihrer Freunde ihn so sah. Er stellte sich Tanis’ Besorgnis vor, Flints Erschrecken, Tolpans bohrende Fragen, Sturms Abscheu. Bei diesem Gedanken wand er sich und gelobte bei den Göttern der Magie – bei allen drei Göttern der Magie –,
dass er nicht nach Solace zurückkehren würde, bevor er stolz auf sich sein konnte und Macht in den Händen hatte. Wie zur Antwort auf Caramons Bedenken lud Lemuel die beiden jungen Männer ein, so lange zu bleiben, wie es nötig war, den ganzen Winter, wenn sie wollten. Der schüchterne Zauberer genoss die Gesellschaft der Zwillinge. Er und Raistlin teilten das Interesse an Kräutern und Kräuterkunde, und als Raistlin wieder zu Kräften kam, verbrachten die beiden angenehme Tage damit, Blätter im Mörser zu zerreiben, mit verschiedenen Salben und Einreibungen zu experimentieren oder Tipps auszutauschen, wie man am besten Rosen von Blattläusen und Chrysanthemen von Spinnmilben befreit. In Lemuels Gesellschaft war Raistlin grundsätzlich besser gelaunt als sonst. Er hielt seine sarkastische Zunge im Zaum und behandelte Lemuel freundlicher und geduldiger als seinen eigenen Bruder. Da Raistlin sich gern selbst erforschte, fragte er sich nach dem Grund dafür. Ein nahe liegender Gedanke war, dass er den fröhlichen, bescheidenen Zauberer wirklich mochte. Leider stellte er aber auch fest, dass ein Teil seiner Freundlichkeit einem vagen Schuldgefühl Lemuel gegenüber entsprang. Raistlin konnte dieses Gefühl nicht genau in Worte fassen und verstand auch nicht, woher es rührte. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er Lemuel nie etwas getan oder gesagt, wofür er sich entschuldigen müsste. Er war auch nicht kleinlich gewesen. Aber er kam sich so vor, und dieses Gefühl machte ihm zu schaffen. Merkwürdigerweise stellte Raistlin fest, dass er Lemuels Küche nicht betreten konnte, ohne überwältigende Angst zu verspüren, bei der ihn immer die Vorstellung von einem Dunkelelfen überkam. Raistlin konnte nur vermu-
ten, dass Lemuel etwas mit seiner Prüfung zu tun gehabt hatte, aber wie und weshalb wusste er nicht, und so sehr er sich auch konzentrierte, er konnte die Erinnerung nicht greifen. Nachdem Caramon sicher war, dass Raistlin außer Gefahr war und Lemuel sie wirklich bei sich haben wollte und nicht einfach nur höflich war, begann er, den Winter in Haven zu genießen. Mit Gelegenheitsarbeiten – Holzhacken, Dachreparaturen nach den herbstlichen Regenfällen und Hilfe beim Einbringen der Ernte – verdiente er ein paar Münzen, denn er und Raistlin bestanden darauf, ihren Teil zu Lemuels täglichen Ausgaben beizusteuern. So lernte Caramon eine große Zahl der Bewohner der Stadt kennen, und es dauerte nicht lange, bis der Hüne in Haven ebenso bekannt und beliebt war wie früher in Solace. Caramon hatte scharenweise Freundinnen. Mehrmals pro Woche verliebte er sich und war immer kurz davor, ein Mädchen zu heiraten, doch dazu kam es nie. Immer heirateten die Mädchen am Ende jemand anderen – einen, der reicher war, einen, der keinen Zauberer zum Bruder hatte. Caramons Herz war nie wirklich gebrochen, obwohl er das oft genug schwor. Dann erzählte er Lemuel am Nachmittag mit leidender Stimme, dass er von Frauen für alle Zeiten die Nase voll hätte – nur um noch am selben Abend in zwei weichen, warmen Armen zu liegen. Caramon fand eine Taverne, die »Waffen von Haven«, und erklärte sie zu seinem Stammlokal. Das Bier war fast so gut wie bei Otik, und das Geschnetzelte – Schweinefleischstreifen, die in Mehl gebraten und zu Küchlein geformt wurden – war viel besser als bei Otik, obwohl Caramon eher sich selbst hätte in Mehl braten lassen, als das
zuzugeben. Doch nie ging er in die Taverne, zur Arbeit oder auch nur aus dem Haus, ohne sich zuvor zu vergewissern, dass sein Bruder nichts brauchte. Die Beziehung zwischen den beiden – die nach dem furchtbaren Ereignis im Turm bis zum Zerreißen gespannt gewesen war – besserte sich im Laufe des Winters. Raistlin hatte Caramon verboten, den Vorfall je wieder zu erwähnen, und so sprachen die beiden nie darüber. Ich hatte es verdient, dass mein Bruder mich tötet, war der Gedanke, der sich irgendwo in Caramons Gehirn eingenistet hatte. Er gab seinem Bruder nicht die geringste Schuld. Wenn ein Teil von Caramon ganz tief in seinem Inneren trauerte und unglücklich war, so trampelte er absichtlich so lange auf diesem Teil herum, bis dieser in den Grund seiner Seele gestampft, mit Schuldgefühlen bedeckt und großzügig in Zwergenschnaps ertränkt war. Schließlich war er der stärkere Zwilling. Sein Bruder war schwach und schutzbedürftig. Tatsächlich schämte sich Raistlin seiner eifersüchtigen Wut. Das Bewusstsein, dass er zum Brudermord imstande war, erschütterte ihn. Auch er zertrat seine Gefühle und glättete den Boden darüber, damit niemand – am allerwenigsten er selbst – je herausfinden würde, dass dort etwas begraben lag. Raistlin tröstete sich mit dem Gedanken, er hatte die ganze Zeit gewusst, dass das Abbild von Caramon nicht echt gewesen war, dass er nichts als eine Illusion ermordet hätte. Zur Julzeit war die Beziehung zwischen den Zwillingen wieder fast wie vor der grausamen Prüfung. Raistlin hatte für Schnee und Kälte nichts übrig. Nie verließ er Lemuels behagliches Haus, doch Caramons Klatsch und Tratsch
hörte er gerne zu. Raistlin fand es immer wieder befriedigend, festzustellen, dass alle übrigen Sterblichen hirnlose Esel waren, während Caramon sich unglaublich freute, wenn er Raistlin ein Lächeln – und sei es ein sardonisches Lächeln – auf die Lippen zaubern konnte, diese Lippen, auf denen viel zu oft Blutflecken zu sehen waren. Die Wintermonate verbrachte Raistlin mit Studieren. Inzwischen kannte er wenigstens einen Teil der Magie, die im Stab des Magus verborgen lag. Er haderte mit dem Wissen, dass der Stab noch mehr Sprüche enthielt, von denen er nichts wusste, von denen er vielleicht nie wissen würde, doch er schwelgte in dem Bewusstsein, dass er und kein anderer diesen Stab besaß. Auch an seinen Kriegszaubern arbeitete er, um sich auf den nahenden Tag vorzubereiten, an dem er und Caramon sich der Söldnerarmee anschließen würden, um dort ihr Glück zu machen – wovon die beiden jungen Männer fest überzeugt waren. Raistlin las zahlreiche Texte zu diesem Thema, vieles davon aus dem Nachlass von Lemuels Vater, und er übte, seine Magie mit Caramons Schwertkunst zu verbinden. Die beiden töteten unzählige eingebildete Gegner, dazu einen oder zwei Bäume (von Raistlins ersten Sprüchen, die sich mit dem Element Feuer befassten, gingen viele schief), und waren bald sicher, dass sie eigentlich schon erfahrene Kämpfer waren. Wenn sie sich gegenseitig gratulierten, stimmten sie darin überein, dass sie ganz alleine mit einer Armee Hobgoblins fertig werden würden. Halb hofften sie, eine solche Armee würde Haven während des Winters angreifen, und als sich kein Hobgoblin zeigte, beschimpften die Zwillinge die gesamte Rasse als Weichlinge, die sich offenbar lieber in warmen Höhlen herumdrückten als in
den Krieg zu ziehen.Der Frühling kam nach Haven und brachte die Rotkehlchen, die Kender und andere Wanderer und damit den Beweis, dass die Straßen frei waren und die Reisezeit begonnen hatte. Für die Zwillinge war es an der Zeit, nach Osten zu ziehen, wo ein Schiff sie zum Haus Langbaum in der Stadt Langbaum im Grünen bringen konnte, der größten Stadt in der Baronie Langbaum. Caramon packte die Kleider und Vorräte für die Reise, Raistlin sein Zaubermaterial, und beide bereiteten ihre Abreise vor. Lemuel tat es aufrichtig leid, dass sie gingen. Am liebsten hätte er Raistlin von jeder Pflanze aus seinem Garten einen Ableger mitgegeben, doch das ließ dieser nicht zu. Die Taverne, in der Caramon Stammgast gewesen war, hätte vor Bedauern am liebsten dichtgemacht, und auf der Straße aus Haven hinaus wimmelte es nur so vor schluchzenden Frauen – jedenfalls kam es Raistlin so vor. Raistlins Gesundheit hatte sich den Winter über gebessert; vielleicht hatte er sich aber auch an sein Leiden gewöhnt. Zuversichtlich und entspannt saß er auf seinem Pferd, erfreute sich an der lauen Frühlingsluft, die seiner Lunge besser tat als die klare, kalte Luft des Winters. Das Wissen, dass Caramon aufmerksam über seinen Bruder wachte, ließ Raistlin jede Schwäche herunterspielen. Er fühlte sich so gut, dass sie schon bald in der Lage waren, bis zu dreißig Meilen am Tag zu reiten. Zu Caramons großem Bedauern umgingen sie Solace auf einem versteckten Wildpfad, den sie einst als Kinder entdeckt hatten. »Ich kann Otiks Kartoffeln riechen«, stellte Caramon sehnsüchtig fest und setzte sich schnuppernd im Sattel auf. »Wir könnten im Gasthaus essen.«
Auch Raistlin konnte die Kartoffeln riechen – jedenfalls kam es ihm so vor –, und plötzlich überwältigte ihn das Heimweh. Wie leicht wäre jetzt die Rückkehr! Wie leicht, wieder in jenes bequeme Leben zurückzufallen, in dem er kolikgeplagte Säuglinge und rheumatische, alte Männer behandelt hatte. Wie leicht, in dieses Leben zurückzusinken, das ihm jetzt wie ein weiches, warmes Federbett vorkam. Er zögerte. Sein Pferd, das die Unentschlossenheit seines Reiters spürte, wurde langsamer. Caramon sah seinen Bruder hoffnungsvoll an. »Wir könnten dort auch übernachten«, drängte er. Das Gasthaus »Zur Letzten Bleibe«. Wo Raistlin Antimodes kennen gelernt hatte. Wo er zum ersten Mal gehört hatte, wie ihm der Magier vom Stählen einer Seele berichtet hatte. Das Gasthaus »Zur Letzten Bleibe«. Wo die Leute ihn anstarren und tuscheln würden… Raistlin stieß seinem Pferd die Absätze seiner Stiefel so heftig in die Flanken, dass das Tier – das eine solche Behandlung nicht gewöhnt war – zu traben begann. »Raist? Die Kartoffeln?«, rief Caramon, dessen Pferd hinterhergaloppieren musste. »Wir haben kein Geld«, gab Raistlin knapp und kalt zurück. »Die Fische im Kristallmirsee kosten nichts. Und im Wald schlafen wir umsonst.« Caramon wusste sehr wohl, dass Otik kein Geld von ihnen verlangen würde, und er seufzte tief, zügelte sein Pferd und drehte sich mit einem sehnsüchtigen Blick nach Solace um. Er konnte die Stadt in den Bäumen nicht sehen, doch seine Vorstellung von ihr war umso lebhafter. Raistlin zügelte sein Pferd. »Caramon, wenn wir jetzt nach Solace zurückkehren, gehen wir nie wieder fort. Du
weißt das ebenso gut wie ich.« Caramon antwortete nicht. Sein Pferd scharrte nervös. »Ist das das Leben, das du willst?«, fragte Raistlin und erhob dabei die Stimme. »Willst du dein Leben lang bei Bauern arbeiten? Mit Heu in den Haaren und den Händen im Mist? Oder willst du mit Beuteln voller Stahl nach Solace zurückkehren, mit Geschichten von deinen stolzen Taten und Narben aus den Schlachten, die du bewundernden Kellnerinnen zeigen kannst?« »Du hast Recht, Raist«, gestand Caramon und wendete sein Pferd. »Natürlich ist es das, was ich will. Ich hatte nur so ein ziehendes Gefühl. Als würde ich zurückgerufen. Aber das ist Unsinn. In Solace ist keiner mehr. Keiner von unseren alten Freunden, meine ich. Sturm ist nach Norden gezogen, Tanis ist bei den Elfen, Flint bei den Zwergen. Und wer weiß, wo Tolpan steckt.« »Wer will das schon wissen«, fügte Raistlin bissig hinzu. »Es könnte allerdings jemand anderes da sein«, überlegte Caramon. Er sah Raist verstohlen an. Der Zauberer verstand den unausgesprochenen Gedanken. »Nein«, widersprach Raistlin. »Kitiara ist nicht in Solace.« »Woher weißt du das?« wollte Caramon erstaunt wissen. Sein Bruder hatte mit felsenfester Überzeugung gesprochen. »Du… du hast doch keine Visionen, oder? Wie unsere Mutter?« »Ich leide nicht am Zweiten Gesicht, mein Bruder. Und ich halte auch nichts von Omen und Vorahnungen. Meine Aussage stützt sich auf das, was ich von unserer Schwester weiß. Sie kommt nie mehr nach Solace zurück«, erklärte Raistlin bestimmt. »Sie hat jetzt wichtigere Freunde. Wich-
tigere Sorgen.« Der Weg zwischen den Bäumen wurde so schmal, dass die beiden gezwungen waren, hintereinander zu reiten. Caramon zog voran, Raistlin folgte ihm. Schweigend ritten sie weiter. Durch die Äste fiel Sonnenlicht, das quer verlaufende Schatten auf Caramons breiten Rücken warf, Schatten, die über ihn hinwegglitten, wenn er ins Licht und wieder hinaus ritt. Die Kiefern dufteten durchdringend. Sie kamen nur langsam voran, denn der Weg war zugewuchert. »Vielleicht ist es nicht recht, so zu denken, Raist«, sagte Caramon nach sehr langem Schweigen. »Ich meine, Kit ist schließlich unsere Schwester und so. Aber… es ist mir ziemlich egal, ob ich sie je wieder sehe.« »Das werden wir wohl auch kaum, Caramon«, erwiderte Raistlin. »Es gibt keinen Grund, weshalb unsere Wege sich kreuzen sollten.« »Mhm, ich schätze, du hast Recht. Trotzdem habe ich manchmal ein komisches Gefühl, was sie angeht.« »Ein ›ziehendes‹ Gefühl?«, erkundigte sich Raistlin. »Nein, eher wie ein Stich.« Caramon erschauerte. »Als würde sie mit einem Messer nach mir stechen.« Raistlin schnaubte. »Wahrscheinlich hast du nur Hunger.« »Natürlich habe ich das.« Caramon war geduldig. »Es ist fast Essenszeit. Aber das ist nicht das Gefühl, das ich meine. Ein hungriges Gefühl ist ein leeres Gefühl in der Magengegend. Es nagt an dir. Dieses andere Gefühl ist, als wenn man eine Gänsehaut bekommt – « »Das war sarkastisch gemeint!«, fauchte Raistlin mit einem finsteren Blick unter seiner roten Haube hervor, die er
über den Kopf gezogen hatte für den Fall, dass sie zufällig jemanden träfen, den sie kannten. »Oh«, gab Caramon nur zurück. Er schwieg einen Moment, weil er seinen Bruder nicht noch mehr reizen wollte. Der Gedanke an Essen war zuviel für ihn. »Sag mal, Raist, wie willst du den Fisch heute Abend zubereiten? Ich mag es am liebsten, wenn man Zwiebeln und Butter darauf gibt, ihn in Lattich einschlägt und auf einen richtig heißen Stein legt…« Raistlin ließ seinen Bruder weiter über die verschiedenen Methoden der Fischzubereitung plaudern. Er war nachdenklich, und Caramon drang nicht in seine Gedanken vor. Am Ufer des Kristallmirsees schlugen die beiden ihr Lager auf. Caramon fing die Fische, vierzehn kleine Flussbarsche. Raistlin kochte die Barsche – allerdings nicht in Lattich, da dessen Blätter zu dieser Jahreszeit noch nicht groß genug waren. Danach schüttelten sie ihre Schlafrollen auf. Caramon mit seinem vollen Magen schlief bald ein. Sein Gesicht wurde von dem warmen, freundlichen Licht des roten Mondes, Lunitari, beleuchtet. Raistlin lag wach und sah zu, wie das rote Mondlicht über das Wasser glitt, auf den leichten Wellen tanzte und ihn neckend lockte, sich diesem Spaß anzuschließen. Er lächelte darüber, blieb aber in seiner warmen Decke. Er glaubte wirklich an das, was er zu Caramon gesagt hatte. Er würde Kitiara nie wieder sehen. Einst hatten die Fäden ihrer Leben ein Tuch gebildet, doch der Stoff ihrer Jugend war ausgefranst und zerfiel. Jetzt stellte er sich den Faden seines eigenen Lebens vor, der sich vor ihm abrollte, um schnurgerade auf seine persönlichen Ziele zuzulaufen. Damals war es ihm nicht in den Sinn gekommen, dass
der Schussfaden seiner Schwester, der rechtwinklig zu seinem eigenen verlief, die Kettfäden seines Lebens und des Lebens seines Bruders durchqueren würde, um ein seltsames und tödliches Gewebe zu bilden.
4. Kapitel Es war Frühling in Sanction. Das heißt, im übrigen Ansalon war Frühling, und der Tag, an dem die Gefährten sich im Gasthaus »Zur Letzten Bleibe« zum Abschied versammelt und gelobt hatten, sich fünf Jahre später im Herbst wiederzutreffen, lag fast ein Jahr zurück. Nach Sanction kam der Frühling nicht. Der Frühling brachte keine knospenden Bäume, keine gelben Narzissen im schmelzenden Schnee, keine süßen Düfte, keine fröhlich zwitschernden Vögel. Die Bäume hatte man gefällt, um Sanctions Schmiedefeuer zu nähren, die Narzissen waren durch die Dämpfe der Fürsten des Unheils, jener feuerspeienden Berge, vergiftet worden. Und falls es hier jemals Vögel gegeben hatte, so waren die schon vor langer Zeit erwürgt, gerupft und verzehrt worden. In Sanction war der Frühling die Zeit der Feldzüge. Man feierte, weil die Straßen jetzt frei waren und marschiert werden konnte. Die Soldaten, die General Ariakas unterstanden, hatten den Winter über halb erfroren in Sanction in ihren Zelten gehockt und um das bisschen Nahrung gestritten, das ihre Anführer, die eine magere, hungrige Armee wollten, ihnen zuwarfen. Für die Soldaten war der Frühling die Gelegenheit für Überfälle, zum Töten und Beute machen. Sie würden Vorräte für ihre ausgehungerten Mägen rauben und Sklaven erbeuten, die ihnen die niederen Arbeiten abnehmen und die Betten wärmen sollten. Die Mehrzahl der Bevölkerung von Sanction waren Krieger, und die streiften gut gelaunt durch die Stadt und scheuchten die anderen herum, welche Rache nahmen, indem sie unverschämte Preise für ihre Waren verlangten
oder als Wirte billigsten Wein, verwässertes Bier und Zwergenschnaps aus Knollenblätterpilzen ausschenkten. »Was für ein gottverlassener Ort«, meinte Kitiara zu ihrem Begleiter, als die beiden durch das Gedränge in den schmutzigen Straßen liefen. »Aber irgendwie kann man sich daran gewöhnen.« »Wie an den Schaum auf einem Tümpel«, lachte Balif. Kitiara grinste. Natürlich war sie schon an schöneren Orten gewesen, aber sie hatte die Wahrheit gesagt – sie stellte fest, dass ihr Sanction gefiel. Die Stadt war rauh, einfach und ungehobelt, aber auch aufregend, interessant und unterhaltsam. Aufregung war genau das Richtige für Kitiara, die in den letzten paar Monaten ans Bett gefesselt gewesen war und von den großen Ereignissen, die sich ankündigten, nur Gerüchte gehört hatte. Sie hatte mit ihrem Schicksal gehadert und sich darüber aufgeregt, dass ihr verfluchtes Pech sie hinderte, daran teilzuhaben. Inzwischen hatte sie sich von der unbedeutenden Unannehmlichkeit befreit, die sie kurzfristig belastet hatte. Frei von allen Banden konnte sie nun ihre ehrgeizigen Pläne weiterverfolgen. Noch aus dem Wochenbett hatte Kit eine Botschaft in den »Trog« geschickt, ein verrufenes Gasthaus in Solace. Die Botschaft war für einen Mann namens Balif bestimmt, der gelegentlich in der Stadt Halt machte und seit Monaten auf eine Nachricht von Kit wartete. Ihre Mitteilung war kurz: Wo finde ich deinen General? Seine Antwort war ebenso kurz und knapp gewesen: Komm nach Sanction. Sobald sie reisefähig war, hatte Kitiara genau das getan. »Was ist das für ein Ekel erregender Gestank?«, fragte sie und rümpfte die Nase. »Wie nach verfaulten Eiern!«
»Die Schwefelgruben. Man gewöhnt sich daran«, antwortete Balif achselzuckend. »Nach ein, zwei Tagen merkt man nichts mehr davon. Das Beste an Sanction ist, dass niemand herkommt, der nicht hierher gehört. Wer es doch tut, bleibt nicht lange. Sanction ist sicher, und es liegt abseits. Deshalb hat der General es ausgewählt.« »Immerhin passt der Name. Sanction – es ist schon eine Strafe, hier zu leben.« Kit war stolz auf ihren kleinen Scherz. Balif lachte pflichtschuldigst und sah sie bewundernd an, während sie neben ihm durch die engen Straßen schlenderte. Sie war schlanker als bei ihrer letzten Begegnung vor über einem Jahr, aber ihre dunklen Augen glänzten wie früher, ihre Lippen waren ebenso voll und ihr Körper geschmeidig und anmutig. Da sie gerade erst in Sanction angekommen war, trug sie ihre Reisekleider – eine schöne Lederrüstung über einer braunen Tunika, die den Oberschenkel zur Hälfte bedeckte und dann wohlgeformte Beine in grünen Strumpfhosen enthüllte. Dazu Lederstiefel, die ihr bis an die Knie reichten. Kitiara bemerkte Balifs Blick, verstand seinen Vorschlag und antwortete – nachdem sie ihre kurzen, dunklen Locken geschüttelt hatte – mit einem verschleierten Versprechen in den Augen. Sie suchte Abwechslung und Spaß, und Balif war von kalter, scharfgeschnittener Schönheit. Darüber hinaus war er ein hochrangiger Offizier in General Ariakas’ neu gebildeter Armee, ein Spion und Mörder, der größtes Vertrauen genoss. Der General hörte auf Balif und ließ ihn zu sich vor, eine Ehre, die Kit sich nicht erhoffen durfte, ohne wertvolle Zeit zu verschwenden und Mittel aufzubringen, die sie nicht besaß. Kit war völlig blank.
Sie hatte ihr Schwert verpfänden müssen, um das Geld für die Reise nach Sanction aufbringen zu können, und den größten Teil dieses Geldes hatte sie für die Schiffspassage über das Neumeer verbraucht. Inzwischen hatte sie überhaupt kein Geld mehr und hatte sich schon gefragt, wo sie die Nacht verbringen sollte. Dieses Problem war nun gelöst. Ihr Lächeln, das verschmitzte Lächeln, das sie so charmant aufsetzen konnte, wurde breiter. Balif hatte seine Antwort. Er leckte sich die Lippen und schob sich einen Schritt näher heran. Dann legte er ihr die Hand auf den Arm, um sie um einen betrunkenen Goblin herumzuführen, der die Straße herunterstolperte. »Ich bringe dich zu meinem Gasthaus«, schlug Balif vor, dessen Griff fester wurde. Auch sein Atem ging schneller. »Es ist das beste in Sanction, obwohl ich zugebe, dass das nicht viel heißt. Immerhin können wir allein – « »He, Balif.« Ein Mann in einer schwarzen Lederrüstung blieb mitten auf der aufgesprungenen, holprigen Straße vor ihnen stehen und versperrte ihnen den Weg. Lüstern betrachtete der Mann Kitiara. »Was haben wir denn da? Eine hübsche Kleine. Du wirst sie doch mit deinen Freunden teilen?« Er streckte die Hand nach Kitiara aus. »Komm her, Süße. Gib mir einen Kuss. Balif macht das nichts. Er und ich haben schon öfter zu dritt ein Bett geteilt – uff!« Der Mann klappte stöhnend zusammen und hielt sich den Schritt. Kitiaras Stiefelspitze hatte seinen Eifer deutlich gedämpft. Ein schneller Schlag auf den Nacken warf ihn auf das zerbrochene Pflaster, wo er reglos liegenblieb. Kit leckte den Schnitt an ihrer Hand ab – der Mistkerl hatte einen ledernen Stachelkragen um den Hals getragen – und riss ihr Messer aus dem Stiefel.
»Kommt schon«, forderte sie die beiden Freunde des Mannes auf, die ihm zunächst hatten beistehen wollen, es sich jetzt aber noch einmal überlegten. »Kommt schon. Wer möchte noch als Dritter zu mir ins Bett steigen?« Balif, der Kit schon früher im Kampf erlebt hatte, dachte nicht daran, sich einzumischen. Er lehnte sich mit verschränkten Armen an eine bröckelnde Mauer und sah amüsiert zu. Kitiara tänzelte leichtfüßig auf den Zehenspitzen. Ihr Messer hielt sie mit geübter Leichtigkeit. Die beiden Männer vor ihr bevorzugten Frauen, die ängstlich vor ihnen zurückschreckten. In diesen dunklen Augen, die jede ihrer Bewegungen beobachteten, lag keine Furcht. Diese Augen leuchteten, weil sie sich auf den Kampf freuten. Kit sprang los und ließ ihr Messer vorschnellen, so geschwind, dass die Klinge wie ein Blitz durch die wenigen, schwachen Sonnenstrahlen zuckte, die sich durch die raucherfüllte Luft gekämpft hatten. Einer der Männer starrte verständnislos auf den blutigen Schnitt an seinem Oberarm. »Eher nehme ich einen Skorpion mit ins Bett«, fauchte er und presste seine Hand auf den Schnitt, um den Blutfluss aufzuhalten. Nach einem rachsüchtigen Blick auf Kit trollte er sich. Sein Freund begleitete ihn, doch ihren dritten Kameraden ließen sie auf der Straße liegen, wo sich sofort Goblins auf den Bewusstlosen stürzten und ihm alles Wertvolle stahlen, das er bei sich hatte. Kit steckte ihr Messer wieder in den Stiefel und schenkte Balif einen anerkennenden Blick. »Danke, dass du nicht ›geholfen‹ hast.« Er applaudierte. »Dir zuzusehen ist ein Genuss, Kit. Nicht für eine Tasche voll Stahl hätte ich das versäumen
wollen.« Kit führte ihre verwundete Hand zum Mund. »Wo ist denn nun dein Gasthaus?«, fragte sie, während sie das Blut von der Wunde leckte, ohne Balif aus den Augen zu lassen. »Ganz nah«, antwortete er mit heiserer Stimme. »Gut. Du lädst mich zum Essen ein.« Kit schob ihre Hand unter seinen Arm und drückte sich an ihn. »Und dann erzählst du mir alles über General Ariakas.«»Und wo hast du die ganze Zeit gesteckt?«, fragte Balif. Nachdem seine Lust befriedigt war, lag er neben ihr und zog mit der Hand die Kampfnarben auf ihrer nackten Brust nach. »Ich hatte erwartet, schon letzten Sommer oder wenigstens im Herbst von dir zu hören. Nichts. Nicht ein Wort.« »Ich hatte zu tun«, erwiderte Kit träge. »Wichtige Dinge.« »Es heißt, du wärst nach Solamnia gezogen, in Begleitung eines jungen Ritters. Feuerschwert oder so ähnlich.« »Feuerklinge. Ja.« Kitiara zuckte mit den Schultern. »Wir hatten dasselbe Ziel, aber wir haben uns bald getrennt. Ich konnte seine Gebete und Nachtwachen und das priesterliche Getue nicht länger ertragen.« »Zu Beginn der Reise war er vielleicht noch ein Knabe, aber bestimmt nicht mehr, als du mit ihm fertig warst«, sagte Balif mit anzüglichem Zwinkern. »Und wo warst du anschließend?« »Ich bin eine Zeit lang durch Solamnia gezogen und habe nach der Familie meines Vaters gesucht. Er hat immer gesagt, sie wären Adlige und besäßen Land. Ich dachte, sie wären vielleicht froh, ihre verschollene Enkeltochter kennen zu lernen. So froh, dass sie sich von ein paar Schmuckstücken und einer Truhe Stahlmünzen trennen
würden. Aber ich konnte sie nicht finden.« »Du brauchst doch kein Geld von irgendwelchen verstaubten Blaublütigen, Kit. Du kannst dir ein Vermögen verdienen. Du hast einen Kopf, und du hast Talent. General Ariakas sucht beides. Wer weiß, eines Tages könntest du Ansalon beherrschen.« Er liebkoste die Narben auf ihrer rechten Brust. »Du hast also doch endlich diesen Halbelfen verlassen, von dem du so eingenommen warst.« »Ja, ich habe ihn verlassen«, bestätigte Kitiara ruhig. Sie zog die Decke um sich und rollte auf die andere Bettseite. »Ich bin müde«, sagte sie mit kalter Stimme. »Blas die Kerze aus.« Balif zuckte mit den Schultern und befolgte ihren Wunsch. Er hatte ihren Körper, was kümmerte ihn ihr Herz? Bald war er fest eingeschlafen. Kit lag mit dem Rücken zu ihm und starrte ins Dunkel. In diesem Moment hasste sie Balif, denn er hatte sie an Tanis erinnert. Sie hatte sich sehr darum bemüht, den Halbelfen aus ihrem Gedächtnis zu streichen, und das war ihr auch fast gelungen. Sie sehnte sich nicht mehr jede Nacht nach seiner Berührung. Die Berührungen anderer Männer dämpften ihr Verlangen, obwohl sie immer noch sein Gesicht sah, wenn ein anderer Mann sie liebte. Dass sie den kleinen Feuerklinge verführt hatte, war vor lauter Enttäuschung und Ärger über Tanis geschehen: Sie hatte ihn bestrafen wollen, indem sie seinen Freund als Liebhaber nahm. Und als sie den Jungen ausgelacht und verhöhnt hatte, hatte sie eigentlich Tanis treffen wollen. Doch am Ende war sie diejenige gewesen, die gestraft war. Ihr Techtelmechtel mit Feuerklinge hatte ihr ein Kind beschert, und sie war zu krank und zu schwach gewesen, um
sich von der unerwünschten Schwangerschaft zu befreien. Die Geburt war so schwer gewesen, dass sie fast gestorben wäre. Halb verrückt vor Schmerzen hatte sie nur von Tanis geträumt, war in ihren Träumen zu ihm gekrochen und hatte ihn um Vergebung angefleht, hatte im Traum seine Frau sein wollen, um in seinen Armen ihren Frieden zu finden. Wenn er nur damals zu ihr gekommen wäre! Wie oft hätte sie ihm beinahe eine Botschaft gesandt! Beinahe. Und dann hatte sie sich daran erinnert, dass er sie zurückgewiesen hatte. Er hatte ihren Vorschlag abgelehnt, mit ihr nach Norden zu ziehen, um sich »gewissen Leuten anzuschließen, die wussten, was sie vom Leben wollten, und sich nicht scheuten, es sich zu nehmen«. Im Grunde hatte er gesagt, sie könne ruhig packen. Sie würde ihm niemals verzeihen. Solange sie schwach und niedergeschlagen war, war die Liebe zu Tanis stark gewesen. Mit ihren Kräften kehrte auch der Zorn zurück. Zorn und Entschlossenheit. Verdammt sollte sie sein, wenn sie zu ihm zurückgekrochen kam. Sollte er doch bei seinen spitzohrigen Verwandten bleiben. Sollten sie ihn doch hochnäsig behandeln, ihn verspotten und hinter seinem Rücken verhöhnen. Sollte er doch so eine kleine Elfenhure lieben. Er hatte von einem Mädchen aus Qualinesti erzählt. An den Namen konnte sich Kit nicht erinnern, aber er hatte die Elfe gern. Mit dem Rücken zu Balif lag Kitiara im Dunkeln, so weit von ihm entfernt, wie sie konnte, ohne aus dem Bett zu fallen, und verfluchte Tanis, den Halbelfen, bitterlich und gründlich, bis sie einschlief. Doch am Morgen liebkoste sie im Halbschlaf wieder Tanis’ Schulter.
5. Kapitel »Du wolltest mir doch von General Ariakas erzählen«, erinnerte Kit Balif. Die beiden waren den halben Vormittag im Bett geblieben. Jetzt liefen sie durch die Straßen von Sanction zu dem befestigten Lager nördlich der Stadt, wo der General sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. »Gestern Abend war ich ganz mit dir beschäftigt«, sagte Balif. »Da hatte ich anderes zu tun.« Kit hatte General Ariakas nie ganz vergessen, aber sie vermengte Geschäft und Spaß nur, wenn es unerlässlich war. Gestern Abend hatte sie ihren Spaß gehabt. Heute ging es ums Geschäft. Balif war ein angenehmer Begleiter und ein geschickter Liebhaber, und glücklicherweise drängte er sich nicht auf, indem er seinen Arm um sie legen oder ihre Hand halten wollte, um sie als seinen Privatbesitz zu beanspruchen. Denn Kitiara war viel zu hungrig, um mit dem kleinen Fisch zufrieden zu sein, den sie jetzt an der Angel hatte. Zur rechten Zeit würde sie ihn zurückwerfen und auf einen größeren Fang warten. Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob sie damit Balifs Gefühle verletzen würde. Erstens hatte er keine Gefühle. Zweitens machte er sich keine Illusionen. Er wusste, wie sie zu ihm stand. Sie hatte ihn für seine Mühen entschädigt, und sie vermutete, dass er sie benutzen würde, um eine noch wertvollere Belohnung von General Ariakas zu bekommen. Kit kannte Balif zu gut, um anzunehmen, dass er aus reiner Herzensgüte den Kontakt zu ihr gehalten hatte. »Soll ich dir erzählen, was ich von Ariakas weiß oder
welche Gerüchte es über ihn gibt?«, fragte Balif, ohne sie anzusehen. Sein wachsamer, misstrauischer Blick musterte jeden, der ihnen entgegenkam, und sah jedem nach, der an ihnen vorbeiging. In Sanction achtete man auf das, was vor und hinter einem geschah. »Beides«, erwiderte Kit, die sich ebenso verhielt. Die Soldaten, die ihnen begegneten, sahen sie respektvoll an, wichen aus, damit sie weitergehen konnte, und warfen ihr bewundernde Blicke zu. »Offenbar bist du das Stadtgespräch«, stellte Balif fest. Kitiara ging es an diesem Morgen bestens, und sie bedachte ihre Bewunderer mit ihrem verschmitzten Lächeln und einem Schütteln ihrer Locken. »Wenn die Wahrheit das Fleisch ist, ist das Gerücht die Soße«, zitierte sie das alte Sprichwort. »Wie alt ist Ariakas?« »Ach, keine Ahnung.« Balif zuckte mit den Schultern. »Er ist nicht jung, das steht fest, aber er ist auch kein Opa. Irgendwo in der Mitte. Er ist unverschämt stark. Einmal hat ein Minotaurus General Ariakas beschuldigt, beim Kartenspiel zu mogeln. Ariakas hat ihn mit bloßen Händen erwürgt.« Kitiara zog skeptisch ihre dunklen Brauen hoch. Dieses spezielle Gerücht war etwas unglaubhaft. »Die Wahrheit! Ich schwöre bei Ihrer Dunklen Majestät!«, beharrte Balif, der seine Hand zum Schwur erhob. »Ein Freund von mir war dabei und hat den Kampf gesehen. Apropos Ihre Majestät, es heißt, dass unsere Königin ihm wohlgesinnt ist.« Er dämpfte die Stimme. »Es heißt sogar, er sei ihr Liebhaber gewesen.« »Und wie hat er das angestellt?«, fragte Kit spöttisch. »Ist
er zum Rendezvous in den Abgrund geeilt? Welchen von ihren fünf Köpfen hat er geküsst?« »Schsch!«, machte Balif aufgebracht und vorwurfsvoll. »So etwas sagt man nicht, Kit. Nicht einmal im Scherz. Ihre Dunkle Majestät ist überall. Und wo sie nicht ist, sind ihre Priester«, fügte er mit hasserfülltem Blick auf eine schwarz gekleidete Gestalt hinzu, die durch die Menge schritt. »Unsere Königin hat viele Gestalten. Sie kam im Schlaf zu ihm.« Kit kannte auch andere Bezeichnungen für derartige Begegnungen, aber die erwähnte sie lieber nicht. Für andere Frauen hatte sie wenig übrig, und das bezog sich auch auf diese so genannte Königin der Finsternis. Kitiara war in einer Welt aufgewachsen, in der es keine Götter gab, einer Welt, in der ein Mann auf sich selbst gestellt war und es von ihm selbst abhing, was aus ihm wurde. Die ersten Gerüchte von dieser neu aufgetauchten Königin der Finsternis hatte sie vor Jahren gehört, auf einer ihrer vielen Reisen durch Ansalon. Diese Gerüchte hatte sie nicht ernst genommen, denn sie war der Meinung, diese Königin der Finsternis wäre wieder nur eine Schöpfung eines betrügerischen Priesters, mit der die Leichtgläubigen beschwindelt wurden. Genau wie jene hinterhältige Priesterin des angeblichen Schlangengottes Belzor, die durch Kits Hand gestorben war, mit Kits Messer an der Kehle. Zu Kitiaras Überraschung hatte sich die Verehrung der Königin der Finsternis nicht gelegt. Ihre Anhängerzahl war gewachsen und mächtig geworden, und nun hieß es, dass diese Takhisis versuchte, aus dem Abgrund auszubrechen, in dem sie seit langem gefangen saß. Sie wollte zurückkehren und die Welt erobern.
Kit war durchaus bereit, die Welt zu erobern, aber das wollte sie in ihrem eigenen Namen tun. »Ist dieser Ariakas ein gut aussehender Mann?«, fragte sie. »Was hast du gesagt?«, gab Balif zurück. Sie passierten gerade den Sklavenmarkt und hielten sich beide die Nase zu, um den Gestank nicht einzuatmen. Deshalb nahmen sie ihr Gespräch erst wieder auf, als dieser Bereich ein Stück hinter ihnen lag. »Puh!«, machte Kit. »Und ich fand schon diesen Geruch nach verfaulten Eiern schlimm. Ich habe gefragt, ob Ariakas gut aussieht.« Balif wirkte befremdet. »Nur eine Frau kann eine solche Frage stellen. Wie zum Teufel soll ich das wissen? Jedenfalls ist er nicht mein Typ. Er versteht etwas von Magie«, fügte er hinzu, als hätte das eine etwas mit dem anderen zu tun. Kit runzelte die Stirn. Ihre Familie stammte aus Solamnia, und ihr Vater war Ritter von Solamnia gewesen, bevor seine Schandtaten dazu geführt hatten, dass er ausgestoßen wurde. Kitiara hatte von ihrer Familie das Misstrauen und die Abneigung gegenüber Zauberern geerbt. »Das ist keine Empfehlung«, befand sie knapp. »Warum darf er denn kein Zauberer sein?«, wollte Balif wissen. »Dein kleiner Bruder hat doch auch sein Glück in dieser Kunst gesucht. Du warst sogar diejenige, die ihn darauf brachte, wenn ich mich recht entsinne.« »Für alles andere war Raistlin zu schwach«, entgegnete Kit. »Er brauchte etwas, um in dieser Welt überleben zu können. Dass es nicht das Schwert sein konnte, wusste ich. Nach allem, was du mir erzählt hast, hat dieser General
Ariakas keine solche Entschuldigung.« »Er benutzt seine Magie nicht oft«, verteidigte ihn Balif. »Er ist durch und durch ein Kämpfer. Aber es schadet nicht, eine zweite Waffe parat zu haben. Wie du dein Messer im Stiefel hast.« »Möglich«, räumte Kit grollend ein. Bis jetzt beeindruckte das, was sie von diesem General Ariakas hörte, sie noch nicht so besonders. Balif sah das und verstand es auch. Er wollte mit einer weiteren Geschichte über seinen bewunderten General beginnen, einer Geschichte, die Kit bestimmt gefallen würde – wie Ariakas an die Macht gekommen war, indem er seinen eigenen Vater umgebracht hatte. Aber Kits Aufmerksamkeit war abgeschweift. Sie hatte vor einer Schmiede Halt gemacht und starrte gebannt ein glänzendes Schwert an, das vor dem Laden auf einem Holzgestell ausgestellt war. »Sieh dir das an!«, sagte sie und streckte die Hand aus. Es war ein Bastardschwert oder eher ein Anderthalbhänderschwert, denn seine Klinge war länger und schmaler als die eines traditionellen Bastardschwerts – ein Merkmal, das Kit zu schätzen wusste, denn männliche Gegner hatten oft längere Arme als sie. Ein solches Schwert konnte ihre geringere Reichweite ausgleichen. Noch nie hatte Kitiara ein so wunderbares Schwert gesehen, eines, das wie für sie persönlich gemacht zu sein schien. Vorsichtig nahm sie es vom Ständer und hatte beinahe Angst, es auszuprobieren, Angst, einen Mangel daran zu finden. Probeweise legte sie ihre Hand um den lederumwickelten Griff. Die meisten Griffe an Bastardschwertern waren für Männerhände gemacht und für sie zu dick. Um diesen jedoch schlossen ihre Finger sich liebevoll, denn
er passte perfekt in ihre Hand. Sie prüfte die Ausgewogenheit und vergewisserte sich, dass das Schwert nicht zu schwer war (weil dies zu Schmerzen im Ellenbogen führen würde), aber auch nicht zu leicht. Dann prüfte sie, ob der Griff das Gewicht der Klinge ausbalancierte. Die Balance war ideal; das Schwert kam ihr vor wie eine Verlängerung ihrer selbst. Sie begann, sich in dieses Schwert zu verlieben, aber sie musste vorsichtig und kühl vorgehen, nicht einfach blind in die Sache hineinstolpern. Sie hielt es ans Licht, um alle Teile zu untersuchen, und zog und schüttelte, um sicherzugehen, dass nichts schepperte oder wackelte. Nachdem diese Prüfung bestanden war, probierte sie aus, wie der Griff in ihrer Hand lag. Kit begutachtete den Abstand zwischen Handschutz und Hand, indem sie kleine Testbewegungen mit dem Handgelenk vollzog. Der Schutzkorb war kunstvoll gestaltet und schön anzusehen, aber der äußere Anschein half nichts, wenn der Korb sich in Hand oder Unterarm grub. Sie trat auf die Straße und nahm Kampfhaltung ein. Dann hielt sie das Schwert nach vorne, um festzustellen, wie lang es war und wie es sich anfühlte, wenn es ausgestreckt war. Sie versuchte ein paar Testhiebe und hielt mitten im Schlag an, um den Schwung zu prüfen und zu sehen, ob eine einmal begonnene Bewegung leicht zu ändern war. Schließlich setzte sie die Schwertspitze auf den Boden. Sie hielt das Schwert mit beiden Händen am Handschutz und übte Druck darauf aus, bis die Klinge sich zu einem leichten Bogen wölbte. Wer wollte schon eine Klinge, die so brüchig war, dass sie zersprang, oder eine, die sich verbie-
gen ließ und gebogen blieb? Diese Klinge war geschmeidig wie eine Liebkosung. Der Schmied in seinem Laden hämmerte weiter an seiner Arbeit herum. Sein Gehilfe, der nach möglichen Kunden Ausschau halten und Kender wegscheuchen sollte, eilte an die Tür. »Hier drinnen haben wir noch viel bessere Klingen, mein Herr«, sagte er, während er sich förmlich verbeugte und in das heiße, rauchverhangene Geschäft zeigte. »Wenn Ihr bitte eintreten würdet, mein Herr – Verzeihung, meine Dame –, dann zeige ich Euch die Arbeiten des Meisters.« »Stammt das hier von deinem Meister?«, fragte Kit, die das Schwert nicht mehr aus der Hand gab. »Nein, nein, meine Dame«, erwiderte der Gehilfe mit verächtlichem Blick. »Seht Euch lieber diese anderen Schwerter an. Das sind Arbeiten meines Meisters. Wenn Ihr nun einfach eintreten würdet…« Wieder versuchte er, sie in den Laden zu locken, wo er die Oberhand hätte. »Wer hat dieses Schwert gemacht?«, erkundigte sich Kitiara, nachdem sie pflichtschuldigst einen Blick auf die anderen Schwerter geworfen und die schlechte Qualität des Stahls und die schlampige Herstellung bemerkt hatte. »Wie hieß er noch?« Stirnrunzelnd versuchte der Gehilfe, sich an dieses unwichtige Detail zu erinnern. »Eisenfeld, glaube ich. Theros Eisenfeld.« »Wo ist sein Laden?«, wollte Kitiara wissen. »Abgebrannt«, antwortete der Gehilfe und verdrehte die Augen. »Kein Unfall, wenn Ihr mich fragt. Manche in Sanction fanden ihn zu hochnäsig und zu mächtig. War zu sehr von sich eingenommen. Man hat ihm eine Lektion erteilt. Normalerweise würden wir so minderwertige Ware nicht
führen, aber der arme Schlucker, der es uns verkauft hat, hatte viel Pech gehabt, und mein Meister ist ein äußerst großzügiger Mann. Ihr scheint eine Frau von auserlesenem Geschmack zu sein. Wir können Euch etwas viel Besseres anbieten. Wenn Ihr nun einfach in den Laden treten würdet…« »Ich will dieses Schwert«, sagte Kit. »Wieviel?« Der Gehilfe verzog missbilligend die Lippen, versuchte noch einige Male, sie zu überreden, und nannte dann einen Preis. Kit zog die Augenbrauen hoch. »Das ist viel für ein Schwert von so schlechter Qualität«, befand sie. »Es hat im Regal Platz weggenommen«, widersprach der Gehilfe mürrisch. »Wir haben zuviel dafür bezahlt, aber der arme Kerl hatte – « »Pech gehabt. Ja, das sagtest du schon.« Kitiara feilschte mit dem Mann. Schließlich willigte sie ein, seinen Preis zu zahlen, wenn er eine lederne Scheide und einen Gürtel dazulegte. »Du zahlst«, wies sie Balif an. »Ich geb’s dir zurück, sobald ich das Geld habe.« Balif zog seine Börse heraus und zählte die Münzen ab – alle aus Stahl und alle mit dem Abbild von General Ariakas. »Was für ein Geschäft!«, sagte Kit, während sie den Gürtel umschnallte und so verschob, dass er bequem saß und das Schwert an ihrer Hüfte leicht zu erreichen war. Wäre sie nur einen Zoll kleiner gewesen, so hätte die lange Klinge am Boden geschleift. »Dieses Schwert ist zehnmal soviel wert, wie dieser Dummkopf dafür gefordert hat! Ich zahl’s dir wirklich zurück«, fügte sie hinzu.
»Nicht nötig«, lehnte Balif ab. »Mir geht’s zurzeit wirklich gut.« »Ich verschulde mich bei niemandem«, stellte Kitiara mit einem Aufflackern ihrer dunklen Augen fest. »Ich zahle auf meine Weise. Entweder du bist einverstanden, oder du gibst das Schwert zurück.« Sie legte eine Hand an die Schnalle, als wollte sie es auf der Stelle ablegen. »Na gut!« Balif zuckte mit den Schultern. »Wie du willst. Hier, wir gehen da lang, am Lavafluss. Das Hauptquartier des Generals befindet sich in einem großen Tempel zu Ehren von Königin Takhisis. Dem Tempel von Luerkhisis. Sehr eindrucksvoll.« Eine lange, breite, natürliche Brücke aus Granit überspannte den Lavafluss, wie ihn die wenigen Einheimischen nannten, die seit der Ankunft der Soldaten der Takhisis noch in Sanction übrig waren. Der Fluss ergoss sich aus den Schicksalsbergen im Khalkistgebirge, das Sanction von drei Seiten umgab, bis hinunter ins Neumeer, wo er zischend erlosch. Die Stadt lag abseits und war gut geschützt, denn es führten nur zwei Pässe durch die Berge, und die waren schwer bewacht. Jeder, der auf diesen Wegen aufgegriffen wurde, wurde gefangen genommen und nach Sanction gebracht – in einen zweiten Tempel zu Ehren der Königin der Finsternis und ihrer bösen Anhänger, den Tempel von Huerzyd. Hier wurden alle verhört, die nach Sanction kamen, und wer die richtigen Antworten gab, wurde freigelassen. Für die, die nicht richtig antworteten, gab es Kerkerzellen, die praktischerweise gleich neben der Folterkammer und »nur einen kurzen Hüpfer« (so die letzten Worte eines Kenders) vom Leichenschauhaus entfernt lagen.
Wer Sanction angenehmer erleben und wieder verlassen wollte, brauchte einen von General Ariakas persönlich unterzeichneten Pass. Alle anderen wurden festgenommen und entweder gezwungen, in der Stadt zu bleiben, oder zum gefürchteten Tempel von Huerzyd geführt. Balif hatte Kitiara mit Passierschein und Losung ausgestattet, damit sie Sanction ohne Umwege betreten konnte. Sie war mit dem Schiff gekommen, dem einzigen anderen Weg nach Sanction. Sanctions Hafen wurde von Schiffen aus Ariakas’ Armee blockiert, welche die Oberfläche bewachten, dazu von furchtbaren Seeungeheuern, die in der Tiefe lauerten. Alle kleinen Ausflugs- oder Fischerboote der Bewohner von Sanction waren beschlagnahmt und verbrannt worden, damit niemand heimlich die Blockade durchbrechen konnte. So hielt General Ariakas seinen Truppenaufmarsch vor dem Rest von Ansalon geheim, der allerdings wohl ohnehin nicht daran geglaubt hätte. Zu dieser Zeit, fast vier Jahre vor der Zeit, die als Krieg der Lanze bekannt werden sollte, hatte General Ariakas gerade erst damit begonnen, Soldaten zusammenzuziehen. Agenten wie Balif, die von Grund auf loyal und treu ergeben waren, reisten in geheimer Mission durch ganz Ansalon, um mit allen Kontakt aufzunehmen, die den Wegen der Finsternis zugeneigt waren. Sie appellierten an deren Gier und an ihren Hass, versprachen ihnen Beute, Plünderungen und die Vernichtung ihrer Feinde, wenn sie Ariakas ihr Leben und Königin Takhisis ihre Seele verschrieben. Goblins und Hobgoblins, die seit Jahren von den Rittern von Solamnia gejagt wurden, kamen bandenweise nach Sanction und schworen dort Rache. Die Oger lockte man aus ihren Bergfestungen, indem man ihnen ein Gemetzel
versprach. Minotauren kamen, um in der Schlacht Ruhm und Ehre zu ernten. Menschen trafen ein, die auf einen Anteil an dem Reichtum hofften, den man erbeuten würde, wenn die Elfen aus ihrer angestammten Heimat vertrieben und der Rest von Ansalon unter dem Absatz von General Ariakas zertreten werden würde. Die bösen Kleriker genossen ihre neue Macht – eine Macht, die niemand anders auf Ansalon erhalten hatte. Königin Takhisis hatte ihre Rückkehr in die Welt vor den anderen Göttern geheim gehalten – mit einer Ausnahme, ihrem Sohn Nuitari, Gott der Schwarzen Magie. In seinem Namen arbeiteten die schwarz gekleideten Zauberer heimlich an ihren magischen Werken und bereiteten den glorreichen Einzug ihrer Königin in die Welt vor. Nuitari hatte einen Cousin, Solinari, den Sohn des Gottes Paladin und der Göttin Mishakal, und Lunitari, der Tochter des Gottes Gilean. Solinari war der Gott der Weißen Magie, Lunitari, die Göttin der Roten oder Neutralen Magie. Die drei Götter der Magie standen einander sehr nahe, weil die Liebe zur Magie sie verband. Ihre drei Monde – der weiße, der rote und der schwarze – umkreisten Krynn, sodass es ihnen schwer fiel, etwas vor den anderen geheimzuhalten, selbst für jemanden, der so kalt und dunkel und verborgen war wie Nuitari. Und deshalb gab es einzelne Personen auf Ansalon, welche die Schatten der Finsternis bemerkt und mit eigenen Vorbereitungen begonnen hatten. Als die Königin der Finsternis schließlich zuschlug, waren die Mächte des Guten nicht gänzlich unvorbereitet. Aber dieser Tag war noch nicht gekommen, sondern kündigte sich erst an.
Die Steinbrücke über den Lavafluss mündete auf dem Gelände des Tempels von Luerkhisis. Die Brücke wurde von Ariakas’ Leibgarde bewacht – zu jener Zeit die einzige, gut ausgebildete Truppe in Sanction. Kitiara und Balif folgten einem unglücklichen Wirt, der darauf beharrte, er müsse General Ariakas sprechen. »Seine Männer haben meine Gaststube verwüstet!«, jammerte er händeringend. »Sie haben die Einrichtung zerschlagen und meinen besten Wein getrunken. Sie haben meine Frau belästigt, und als ich sie hinauswerfen wollte, drohten sie, mir das Gasthaus anzuzünden! Sie sagten, General Ariakas würde für den Schaden aufkommen. Ich möchte zu ihm.« Daraufhin lachten die Wachen laut. »Na klar, General Ariakas zahlt«, sagte der eine. Er holte eine Münze aus seiner Börse und warf sie auf den Boden. »Da hast du deine Bezahlung. Heb’s auf.« Der Wirt zögerte. »Das ist nicht annähernd genug. Ich will zu General Ariakas.« Der Wächter runzelte die Stirn und befahl unwirsch: »Heb’s auf!« Schluckend bückte sich der Wirt, um die Stahlmünze aufzuheben. Der Wächter trat den Mann ins Hinterteil, sodass er der Länge nach auf den Boden fiel. »Nimm deine Bezahlung und verschwinde. General Ariakas hat Besseres zu tun, als deinem Gewinsel zuzuhören.« »Noch eine Beschwerde von dir«, warnte die andere Wache, »und wir suchen uns ein anderes Lokal zum Trinken.« Der Wirt rappelte sich wieder auf, umklammerte die Münze und hinkte in die Stadt zurück. »Einen wunderschönen guten Tag, Leutnant Lugash«,
begrüßte Balif den Wachtposten. »Schön, Euch wiederzusehen.« »Hauptmann Balif.« Der Leutnant salutierte. »Meine Freundin und ich haben heute Nachmittag eine Audienz bei General Ariakas, Leutnant.« »Wie heißt Eure Freundin?«, erkundigte sich Lugash. »Kitiara Uth Matar«, erwiderte Kit. »Und wenn Ihr eine Frage habt, fragt mich. Ich habe selbst einen Mund.« Lugash grunzte. »Uth Matar. Klingt solamnisch.« »Mein Vater war ein Ritter von Solamnia«, bestätigte Kit und reckte ihr Kinn, »aber er war kein Dummkopf, wenn es das ist, was Ihr sagen wollt.« »Wurde aus der Bruderschaft ausgeschlossen«, erklärte Balif gedämpft. »Ein Spieler, der für die falschen Leute arbeitete.« »Das hat sie Euch erzählt«, höhnte Lugash. »Die Tochter eines Solamniers. Sie könnte eine Spionin sein.« Balif trat zwischen den Leutnant und Kitiara, die ihr neues Schwert schon halb aus der Scheide gezogen hatte. »Beruhige dich, Kit«, riet Balif, der ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm legte. »Das hier ist Ariakas’ Leibwache. Die sind nicht wie die Hosenscheißer, die gestern versucht haben, dich herumzuschubsen. Das sind Veteranen, die sich im Kampf bewährt und sich seinen Respekt verdient haben. Das wirst du auch tun müssen, Kit.« Balif warf ihr einen Seitenblick zu. »Wird nicht leicht sein.« Er wandte sich wieder an den Leutnant. »Du kennst die Informationen, die ich dem General über Qualinesti geliefert habe. Du warst dabei, als ich ihm Bericht erstattet habe.« »Ja, Hauptmann«, bestätigte Lugash, der selbst die Hand
am Schwert hatte und Kit mit finsterem Blick beobachtete. »Und?« »Diese Informationen stammen von ihr.« Balif nickte in Kits Richtung. »Der General war sehr beeindruckt. Er wollte sie kennen lernen. Wie gesagt, Leutnant, wir haben eine Audienz bei ihm. Lasst uns durch – uns beide –, sonst melde ich Euch Eurem Vorgesetzten.« Der Leutnant ließ sich nicht einschüchtern. »Ich habe meine Befehle, Hauptmann. Mein Befehl ist, dass heute niemand über den Fluss darf, der nicht der Armee angehört. Ihr dürft passieren, aber Eure Freundin muss ich hier festhalten.« »Verdammt noch mal!«, fluchte Balif frustriert. Der Leutnant war unerbittlich. Balif drehte sich zu Kit um. »Du wartest hier. Ich suche den General.« »So langsam glaube ich, das lohnt sich nicht«, meinte Kitiara mit wütendem Blick auf die Soldaten. »Es lohnt sich, Kit«, mahnte Balif ruhig. »Geduld. Da ist nur etwas schief gelaufen. Ich bin bald wieder da.« Er eilte über die Brücke. Die Wachen kehrten auf ihre Posten zurück, aber beide behielten Kitiara im Auge. Die schlenderte mit betontem Gleichmut zum Rand der Brücke, wo sie über den Lavafluss zum großen Tempel von Luerkhisis hinüberstarrte. Balif hatte den Tempel als beeindruckend bezeichnet. Kitiara musste ihm zustimmen. Man hatte die Bergflanke zum Abbild eines gewaltigen Drachenkopfes geformt, dessen Nüstern den Eingang zum Tempel bildeten. Zwei riesige Schneidezähne dienten als Wachtürme, wie Balif ihr erklärt hatte. Im Maul des Drachen befand sich der große
Audienzsaal. Früher hatten dort die dunklen Kleriker der Königin ihren Sitz gehabt, doch sie waren bei der Ankunft der Armee von dort vertrieben worden. General Ariakas hatte selbst im Tempel Quartier bezogen und dort eine Kaserne für seine Leibgarde eingerichtet. Die dunklen Kleriker waren geblieben, mussten sich aber mit weniger anspruchsvollen Räumen zufrieden geben. Wie es wohl sein mochte, eine solche Macht zu haben, fragte sich Kitiara. Sie stützte sich auf die Brüstung der Steinbrücke und starrte über den dicken, roten Lavafluss zum Tempel hinüber. Sie fühlte die Hitze, die der Fluss ausstrahlte, eine Hitze, die die dunklen Kleriker nach Kräften zerstieben ließen, die aber nie ganz nachließ. Ariakas wollte es auch nicht kühl haben. Die Hitze sollte seinen Soldaten ins Blut dringen und sie wie einen roten Fluss des Todes nach Ansalon strömen lassen. Kitiaras Hände verkrampften sich vor Verlangen. Eines Tages werde ich die Antwort kennen, schwor sie sich insgeheim. Eines Tages werde ich solche Macht besitzen. Nachdem sie merkte, dass sie wie ein dummes Mädchen vom Lande den Tempel anstarrte, begann sie sich damit zu unterhalten, Steine in den Lavafluss zu werfen. Obwohl der Fluss tief unter der Brücke verlief, war sie bald schweißgebadet. Aber Balif hatte Recht. Man gewöhnte sich an den Geruch. Als Balif zurückkam, brachte er einen von Ariakas’ Beratern mit. »Der General erklärt, dass Uth Matar passieren darf«, sagte der Berater. »Und der General wünscht zu erfahren, warum er wegen solcher Lappalien belästigt wird.« Leutnant Lugash wurde blass, hielt sich aber wacker.
»Ich dachte-« »Das war Euer erster Fehler«, befand der Hauptmann trocken. »Uth Matar, ich darf Euch im Namen von General Ariakas begrüßen. Der General hält heute keine Audienz im Tempel ab. Er hat heute Nachmittag als Ausbilder zu tun. Ich soll Euch in sein Kommandozelt führen.« »Danke, Hauptmann«, sagte Kitiara mit bezauberndem Lächeln. Als Kitiara, begleitet von Balif und dem Berater, über die Brücke ging, warf sie noch einen Blick auf den Leutnant, um sich jede Einzelheit seines hässlichen Gesichts einzuprägen. Eines Tages würde sie ihm sein höhnisches Grinsen heimzahlen.
6. Kapitel Vor dem Tempel der Takhisis standen tausend Soldaten in vier Reihen zu je zweihundertfünfzig Mann auf dem Exerzierplatz. Sie befanden sich in Habachtstellung – linker Fuß vor, rechter Fuß hinten, Schild erhoben und Schwert bereit. Die Sonne brannte aus einem klaren, blauen Himmel auf die Soldaten herab, und die Hitze des Lavaflusses umwogte sie. Unter den schweren Stahlhelmen bildete sich Schweiß, der ihnen über das Gesicht lief. Ihre Körper, die in Polstern und Trainingsrüstungen steckten, waren schweißgebadet. Vor der Linie stand ein Offizier in einer bronzenen Prunkrüstung, mit poliertem Bronzehelm und einem blauen Mantel mit großen, goldenen Schulterklammern. Der Mantel war zurückgeworfen, sodass man seine bloßen, muskulösen Arme sah. Er war ein großer Mann, grobknochig und kräftig. Unter seinem Helm lugten schweißnasse, schwarze Haare hervor. An seiner Seite hing ein Schwert, das er jedoch nicht zog. »Fertig zum Stoß«, befahl er. »Stoß!« Jeder Soldat machte einen Schritt nach vorn und streckte sein Schwert vor, um in dieser Position innezuhalten. Tausend Stimmen stießen den kurzen Angriffsschrei aus. Dann setzte lastendes Schweigen ein. Der Offizier runzelte die Stirn. Die Männer, die in der glühenden Sonne keuchten, warfen einander verstohlene Blicke zu. General Ariakas hatte mehrere Männer in der vorderen Reihe bemerkt, die entweder aus Nervosität oder aus Übereifer losgesprungen waren, bevor er den Befehl gegeben hatte, oder ihre Schwerter zu weit vorstreckten. Sie waren
nur wenige Sekunden zu früh gewesen, doch das verriet einen Mangel an Disziplin. Ariakas zeigte auf einen dieser Soldaten. »Kompaniechef Kholos, nehmt diesen Mann aus der ersten Reihe und lasst ihn auspeitschen. Greift niemals einem Kommando vor, ehe es gegeben wird.« Ein Mann mit der fahlen Haut und dem sabbernden Kiefer, der auf Goblinblut unter seinen Vorfahren hinwies – einer der vier Offiziere, die hinter dem Regiment standen –, führte den voreiligen Soldaten an die Seite des Exerzierplatzes. Auf seinen Wink hin nahmen zwei mit Peitschen ausgestattete Feldwebel ihre Plätze ein. »Rüstung ausziehen«, befahl der Kompaniechef. Gehorsam streifte der Soldat die Trainingsausrüstung und die schwere Wattierung darunter ab. »Achtung!« Der Soldat nahm Haltung an. Der Kompaniechef nickte. Beide Feldwebel hoben die Peitschen und verpassten dem bloßen Rücken des Mannes abwechselnd jeder drei Schläge. Der Soldat versuchte, seine Schreie zu unterdrücken, doch als beim sechsten Schlag das Blut seinen Rücken hinunterrann, stieß er doch einen erstickten Schrei aus. Nachdem die Feldwebel ihre Pflicht getan hatten, rollten sie die Peitschen ein und traten an der Seite nach hinten. Der Soldat biss die Zähne zusammen, weil der salzige Schweiß schmerzhaft in seinen frischen Wunden brannte. So schnell wie möglich zog er unter dem unbarmherzigen Auge von Ariakas seine Polsterung wieder an, die bald blutrot war, und schnallte die Rüstung darüber. Der Kompaniechef nickte wieder, worauf der Soldat wieder auf seinen Platz in der Linie eilte und dieselbe Hal-
tung einnahm wie die anderen Soldaten, die immer noch ihre Schwerter vorgestreckt hielten. Ihre Arme und Beine zitterten vor Anspannung. »Fertig«, befahl Ariakas. »Zurück!« Alle zogen ihre Schwerter zurück, als ob sie sie aus dem Bauch eines Phantomfeindes holten, und kehrten in die Habachtposition zurück. Dort ruhten sie aus, warteten aber gleichzeitig aufmerksam auf den nächsten Befehl. »Besser«, befand Ariakas knapp. »Fertig zum Stoß. Stoß! Fertig. Zurück!« Der Drill ging fast eine Stunde weiter. Noch zweimal ließ Ariakas Männer auspeitschen. Diesmal wählte er Männer aus den hinteren Reihen – zum Zeichen, dass er nicht nur die vordere Reihe beobachtete. Am Ende der Stunde war er beinahe zufrieden. Die Soldaten bewegten sich als Einheit, jeder Fuß stand korrekt, jeder Schild befand sich an der richtigen Stelle, jedes Schwert war genau dort, wo es sein sollte. »Fertig zum Stoß – «, setzte Ariakas ein, dann brach er ab. Die Worte hingen in der heißen Luft. Ein Soldat hatte nicht gehorcht. Er trat aus der vorderen Reihe der Formation und warf sein Schwert auf den Boden. Dann zog er mit einem Ruck den Helm ab und warf auch den hin. »Für solchen Mist habe ich mich nicht anwerben lassen«, sagte er so laut, dass es jeder hören konnte. »Ich gehe!« Keiner der anderen Soldaten wagte es, auch nur ein Wort zu äußern. Nach einem kurzen Blick schauten sie weg, aus Angst, man könnte sie für Komplizen halten. Mit steinernen Gesichtern hielten sie ihre Augen nach vorn gerichtet. Ariakas nickte einmal kühl.
»Erste Reihe, vierte Kompanie«, befahl er den Kameraden des aufsässigen Soldaten. »Tötet diesen Mann.« Der Verurteilte drehte sich mit erhobenen Händen zu seinen Freunden um. »He, Jungs, ich bin’s! Nicht doch!« Sie starrten durch ihn hindurch. Der Mann wollte fliehen, stolperte aber über seine eigene Rüstung und stürzte. Einundsechzig Mann bewegten sich gleichzeitig. Drei von ihnen, die drei direkt neben dem Verurteilten, taten genau das, was sie geübt hatten. Fertig zum Stoß. Stoß. Der Mann schrie auf, als drei Schwerter seinen Körper durchbohrten. Fertig. Zurück. Die Soldaten rissen ihre Waffen aus der blutigen Leiche und nahmen wieder die Ausgangsstellung ein. Die Schreie des Mannes waren abrupt verklungen. »Sehr gut«, lobte Lord Ariakas. »Das ist das erste Mal, dass ich bei euch Anzeichen für diszipliniertes Verhalten gesehen habe. Kompaniechefs, die Kompanien bekommen eine Pause von zwanzig Minuten. Sorgt dafür, dass die Männer Wasser erhalten.« General Ariakas war bewusst, dass er jetzt einen Zuschauer hatte – eine junge Frau, die am Rand des Paradeplatzes stand und zusah. Sie hatte die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf leicht zur Seite gelehnt und ein herausforderndes Lächeln aufgesetzt. Nachdem Ariakas den Helm abgenommen und sich den Schweiß vom Gesicht gewischt hatte, ging er vom Feld zu seinem Kommandozelt, einem großen Zelt, über dem seine Flagge wehte, die einen schwarzen Adler mit ausgebreiteten Flügeln zeigte.
Die Kompanieführer eilten auf das Gelände und befahlen den Männern, ihre Formation aufzulösen. Die durstigen Männer liefen zu den Pferdetränken an der Seite des Platzes, wo sie die Hände in das abgestandene, schweflige Wasser tauchten, es in sich hineinkippten und dann über ihre Körper gossen. Schließlich sanken sie erschöpft zu Boden und sahen zu, wie die Feldwebel den Toten in eine andere Ecke des Lagers zogen. Heute Nacht würden die Lagerhunde gut zu fressen haben. In seinem Kommandozelt nahm Ariakas den Mantel ab und warf ihn in eine Ecke. Ein Berater half ihm, den schweren, bronzenen Brustpanzer abzunehmen. »Verdammt, das war harte Arbeit!«, stöhnte Ariakas und massierte seine verspannten Rückenmuskeln. Ein Sklave brachte eine große Kürbisflasche voll Wasser. Ariakas trank sie leer, schickte den Sklaven los, um noch eine zu holen, trank einen Teil der zweiten und kippte sich den Rest über den Kopf. Dann streckte er sich auf dem Feldbett aus und befahl dem Sklaven, ihm die Stiefel auszuziehen. Die vier Kompaniechefs kamen zum Zelt und klopften an den Mittelpfosten. »Herein.« Ariakas blieb auf dem Feldbett liegen. Die Offiziere nahmen ihre Helme ab, salutierten nervös. Kholos, der Anführer der Vierten Kompanie, sprach als erster: »Lord Ariakas, ich entschuldige mich für diese Aufsässigkeit – « Ariakas winkte ab. »Ach was, macht Euch keine Gedanken darüber. Wir versuchen, aus Gesindel so etwas wie eine anständige Armee zu machen. Einige Rückschläge sind da zu erwarten. Ihr habt im Gegenteil gute Arbeit ge-
leistet, Kompaniechef. Eure Männer machen sich gut. Sie lernen alle besser, als ich gehofft habe. Das dürfen sie natürlich nicht merken. Die Männer sollen glauben, dass ich äußerst unzufrieden bin. In fünfzehn Minuten geht Ihr wieder hinaus und setzt den Drill der Kompanie fort. Dasselbe wie eben – Zustoßen und zurück. Wenn das perfekt sitzt, können sie alles andere lernen.« »Sir«, meldete sich der Anführer der Zweiten Kompanie zu Wort. »Sollen wir den Feldwebeln befehlen, Männer auszupeitschen, wenn es nötig ist?« Ariakas schüttelte den Kopf. »Nein, Beren, Auspeitschen ist mein Instrument. Ich will, dass sie mich fürchten. Mit der Angst kommt der Respekt.« Er grinste. »Gebt Ihr Euch damit zufrieden, gehasst zu werden, meine Herren. Begnügt Euch mit strengen Blicken und gezielten Worten. Wenn jemand ungehorsam ist, schickt ihn zu mir, und ich kümmere mich darum.« »Ja, Sir. Habt Ihr noch weitere Befehle?« »Ja. Noch mindestens anderthalb Stunden Drill, dann Pause und Abendessen. Danach dürfen sich die Männer zurückziehen. Wenn es richtig dunkel ist und die Männer fest schlafen, reißt Ihr sie aus dem Bett und lasst sie die Zelte von der Nordseite zur Südseite des Lagers umsetzen. Sie müssen lernen, schnell aufzuwachen, wenn Alarm geschlagen wird, im Dunkeln zu arbeiten und dabei so organisiert zu bleiben, dass sie das Lager jederzeit bei jedem Wetter abbrechen können.« Die vier Offiziere wandten sich zum Gehen. »Eines noch«, rief Ariakas ihnen nach. »Kholos, in zwei Wochen übernehmt Ihr das Kommando über dieses Regiment. Ich werde dann mit allen neuen Rekruten ein weiteres Regiment ausbilden. Beren, Ihr bleibt als erfahre-
ner Kompaniechef bei mir, Ihr anderen geht beide mit Kholos. Für die anderen Positionen werde ich neue Offiziere befördern. Verstanden?« Alle vier salutierten und kehrten zu ihren Kompanien zurück. Kholos wirkte besonders zufrieden. Es war eine gute Beförderung, und nach diesem unglückseligen Zwischenfall bewies sie, dass Ariakas ihm immer noch etwas zutraute. Ariakas legte sich bequemer hin und stöhnte wieder, als er bewusst die Rückenmuskeln zu entspannen versuchte. Er erinnerte sich an seine Jugend, in der er mit dreißig Pfund Kettenrüstung und einem schweren stählernen Brustpanzer zehn Meilen am Tag marschiert war und immer noch genug Energie gehabt hatte, den Lärm der Schlacht zu genießen. Damals hatte er die berauschende Liebe zum Leben gespürt, die erst kommt, wenn man kurz davor steht, das Leben zu verlieren. Er kannte das ohrenbetäubende Krachen, mit dem die ersten Reihen aufeinander prallen. Und er erinnerte sich an den heftigen Kampf, der entschied, wer überleben und wer sterben würde… »Sir. Seid Ihr wach?« Sein Berater wartete am Zeltpfosten. »Bin ich ein alter Mann, der sein Mittagsschläfchen hält?« Ariakas saß im Bett und funkelte den Mann an. »Also, was ist?« »Hauptmann Balif ist da, Herr. Auf Euer Geheiß. Und er hat eine Besucherin dabei.« »Ach, ja.« Ariakas erinnerte sich an die hübsche junge Frau, die am Rand des Exerzierplatzes gestanden hatte. Bei den Göttern, er wurde doch alt, wenn er sie vergessen hatte! Er war nur mit seinen Stiefeln und dem kurzen Rock aus Lederstreifen bekleidet, den er unter seiner Kettenrüstung
trug, aber wenn es stimmte, was man sich über diese Frau erzählte, würde der Anblick eines halbnackten Mannes sie nicht stören. »Schickt sie herein.« Die Frau trat zuerst ein, gefolgt von Balif, der salutierte und Haltung annahm. Die Frau warf einen Blick auf ihre Umgebung, dann fixierte sie Ariakas. Das war keine schüchterne Jungfrau, die bescheiden die Wimpern niederschlug. Sie war auch keine dreiste Hure, deren Augenklimpern das harte Glitzern der Gier verbergen sollte. Der Blick dieser Frau war kühn und unerschrocken, durchdringend und ohne Furcht. Ariakas, der selbstverständlich erwartet hatte, dass er derjenige wäre, der die Besucherin taxierte, stellte fest, dass sie ihn begutachtete. Sie musterte ihn eingehend, und wenn ihr nicht gefiel, was sie sah, würde sie wieder gehen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Ariakas vielleicht irritiert oder gar beleidigt reagiert, aber heute freute er sich über das, was die Soldaten geleistet hatten, und diese Frau mit den Locken, der guten Figur und den dunklen Augen reizte ihn gewaltig. »Sir«, meldete Balif sich zu Wort, »ich möchte Euch Kitiara Uth Matar vorstellen.« Solamnisch. Daher also hatte sie diese stolze, trotzige Haltung, als wolle sie die ganze Welt herausfordern. Jemand hatte sie gelehrt, ein Schwert zu tragen, es mit solcher Leichtigkeit zu tragen, als wäre es ein weiterer Teil ihres Körpers – eines so schönen Körpers. Dennoch hatte diese Kitiara etwas Übermütiges an sich. Ihr verschmitztes Lächeln stammte nicht von einem selbstgerechten Ritter. »Kitiara Uth Matar«, begrüßte Ariakas sie, die Hände über dem Gürtel seines Lederrocks gefaltet, »willkommen in
Sanction.« Seine Augen verengten sich. »Ich glaube, wir kennen uns bereits.« »Diese Ehre kann ich nicht bestätigen, Sir«, erwiderte Kitiara. Ihr schiefes Lächeln wurde etwas breiter. In ihren dunklen, verschleierten Augen flackerte etwas auf. »Ich bin sicher, ich würde mich erinnern.« »Ihr habt sie gesehen, Herr«, warf Balif ein, dessen Anwesenheit Ariakas fast vergessen hatte. »Ihr seid einander jedoch nicht vorgestellt worden. Es war in Neraka. Letztes Jahr, als Ihr dort den Bau des großen Tempels beaufsichtigt habt.« »Ja! Jetzt erinnere ich mich. Ihr habt Qualinesti ausspioniert, wenn ich mich recht entsinne. Kommandant Kholos war mit Eurem Bericht sehr zufrieden. Ihr werdet Euch freuen zu hören, dass wir beabsichtigen, die von Euch gelieferten Informationen gegen die barbarischen Elfen zu nutzen.« Ihr schiefes Lächeln gefror einen Augenblick, dann verhärtete es sich. Das Feuer in den dunklen Augen flammte auf, verschwand aber gleich wieder. Ariakas fragte sich, welchen Nerv er wohl bei ihr getroffen hatte, dass ein solches Aufflackern das Ergebnis war. »Ich bin froh, dass ich Euch nützlich sein konnte, Sir«, war jedoch alles, was sie in kühlem, respektvollem Ton dazu sagte. »Bitte, setzt Euch. Andros!« Mit einem Händeklatschen rief Ariakas einen der Sklaven herbei, einen sechzehnjährigen Jungen, den man bei einem Überfall auf irgendeine unglückliche Stadt gefangen genommen hatte. Auf seinem verschwollenen Gesicht waren die Spuren seines harten Lebens und gnadenloser Bestrafung zu sehen. »Bring Wein
und Fleisch für unsere Gäste. Ihr teilt doch das Abendessen mit mir, nicht wahr?« »Mit Vergnügen, Sir«, willigte Kitiara ein. Ein zweiter Sklave wurde losgeschickt, um weitere Klappstühle zu holen. Ariakas wischte eine Karte von Abanasinia von einem Tisch auf den Boden, und die drei nahmen Platz. »Vergebt mir die Einfachheit des Mahls.« Ariakas sprach zu beiden Gästen, obwohl seine Augen nur Kitiara fixierten. »Wenn Ihr mich in meinem Hauptquartier besucht, werde ich Euch das beste Essen von Ansalon auftischen. Eine meiner Sklavinnen ist eine ausgezeichnete Köchin. Ihre Kochkunst hat ihr das Leben gerettet, deshalb kocht sie mit ihrem Herzblut.« »Ich freue mich schon darauf, Sir«, antwortete Kitiara. »Esst! Esst!«, drängte Ariakas, der auf die frischgebratene Lende zeigte, die Sklaven auf einem großen Servierteller hereintrugen und auf den Tisch stellten. Nachdem er sein Messer aus dem Gürtel gezogen hatte, schnitt er sich ein Stück Fleisch ab. »Macht es Euch bequem. Bei Ihrer Dunklen Majestät, ich bin hungrig! Wir haben da draußen heute ziemlich geschwitzt.« Er warf einen Blick auf die Frau, denn er war gespannt, was sie sagen würde. Kitiara schnitt sich mit ihrem eigenen Messer Fleisch ab. »Ihr achtet streng auf Disziplin, Sir«, stellte sie fest, während sie das fettige Fleisch mit dem Genuss eines erfahrenen Kämpen aß, der nie sicher ist, wann und wo er zu seiner nächsten Mahlzeit kommt. »Und Ihr habt reichlich Soldaten, möchte man meinen. Oder Ihr plant eine weitere Armee aus Untoten.«
»Wer sich meiner Armee anschließt, wird gut bezahlt«, gab Ariakas zurück. »Und ich zahle pünktlich. Im Gegensatz zu anderen Kommandanten verliere ich nicht im Frühling die Hälfte meiner Männer, weil sie nach Hause gehen und die Saat ausbringen müssen. Meine Soldaten brauchen auch nicht von der Beute zu leben, die sie in den Städten machen – das ist ein Vorteil. Regelmäßiger Sold macht einen Mann stolz; er ist die Belohnung für gute Arbeit. Aber dennoch«, er zuckte mit seinen breiten Schultern, »habe ich Unzufriedene – wie jeder Kommandant. Am besten entledigt man sich ihrer gleich. Wenn ich anfange, ihnen entgegenzukommen, auf sie einzugehen, wird der Rest der Männer nachlässig. Sie verlieren den Respekt vor mir und meinen Offizieren und zum Schluss vor sich selbst. Und wenn eine Armee den Respekt vor sich selbst verliert, ist sie am Ende.« Kitiara hatte ihr Mahl unterbrochen, um ihm zuzuhören, und zollte ihm damit das Kompliment ihrer vollen Aufmerksamkeit. Als er fertig war, machte sie ihm ein weiteres Kompliment, indem sie über seine Worte nachdachte und dann einmal kurz und zustimmend nickte. »Erzählt mir etwas von Euch, Kitiara Uth Matar«, forderte Ariakas sie auf, während er den Sklaven mit einer Handbewegung anwies, Wein nachzuschenken. Er bemerkte, dass Kitiara ihren Becher genussvoll austrank, ihn jedoch auch beiseite schieben konnte. Im Gegensatz zu Balif, der bereits zwei Becher geleert hatte und jetzt den dritten ansetzte. »Da gibt es nicht viel zu erzählen, Sir«, sagte sie. »Ich bin in Solace in Abanasinia geboren und aufgewachsen. Mein Vater war Gregor Uth Matar, ein Solamnier und Ritter von
edler Herkunft. Er war einer ihrer besten Krieger«, fügte sie hinzu – nicht aus Prahlerei, sondern als Feststellung. »Aber er hielt nichts von ihren lächerlichen Regeln und der Art und Weise, wie sie versuchen, das Leben eines Mannes zu lenken. Er hat sein Schwert und sein Können verdingt, wo er wollte. Als ich fünf war, hat er mich zum ersten Mal eine Schlacht mit ansehen lassen, und er lehrte mich den Umgang mit dem Schwert und das Kämpfen. Er ist von zu Hause fortgegangen, als ich noch klein war. Seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen.« »Und Ihr?«, fragte Ariakas. Kitiara reckte das Kinn. »Ich bin die Tochter meines Vaters, Sir.« »Das heißt, Ihr haltet nichts von Regeln?« Er runzelte die Stirn. »Ihr befolgt ungern Befehle?« Sie überlegte sich ihre Antwort sorgfältig, denn sie war klug genug, um zu wissen, dass davon ihre Zukunft abhing, aber auch so stolz und zuversichtlich, um die Wahrheit zu sagen. »Wenn ich einen Anführer fände, den ich bewundern kann, einen Anführer, dem ich vertraue und den ich respektiere, jemanden, der gesunden Menschenverstand und Scharfsinn hat, dann würde ich den Befehlen eines solchen Kommandanten gehorchen. Und…« Sie zögerte. »Und?« wiederholte Ariakas mit drängendem Lächeln. Sie senkte die Lider, sodass ihre dunklen Wimpern den Glanz ihrer Augen verbargen. »Und natürlich müsste ein solcher Kommandant meine Mühe wert sein.« Ariakas lehnte sich zurück und lachte. Er lachte lange und laut und schlug seinen Becher auf den Tisch, lachte so lange, bis einer seiner Berater – entgegen aller Konvention
– ins Zelt lugte, um zu sehen, was seinem Herrn derartig gefallen hatte. Ariakas war normalerweise nicht für seine gute Laune berühmt. »Ich glaube, ich kann Euch einen Kommandanten versprechen, der allen Euren Anforderungen entspricht, Kitiara Uth Matar. Ich brauche noch eine Reihe Offiziere. Ich denke, Ihr wärt geeignet. Ihr müsst Euch natürlich noch bewähren. Beweist mir Euren Mut, Eure Fähigkeiten und Euren Einfallsreichtum.« »Ich bin bereit, Sir«, antwortete Kitiara kühl. »Nennt mir die Aufgabe.« »Hauptmann Balif, Ihr habt Eure Sache gut gemacht«, lenkte Lord Ariakas ab. »Ich werde dafür sorgen, dass man Euch belohnt.« Nachdem er etwas auf einen Zettel geschrieben hatte, rief Ariakas nach seinem Berater, der eilig eintrat. »Bringt Hauptmann Balif ins Kontor. Gebt das hier den Zahlmeistern.« Er händigte ihm den Zahlschein aus. »Kommt morgen wieder, Hauptmann. Ich habe einen neuen Auftrag für Euch.« Balif kam etwas unsicher hoch. Er nahm seinen Rausschmiss gut gelaunt hin, da er gesehen hatte, welchen Betrag Ariakas aufgeschrieben hatte. Er wusste sehr wohl, dass er Kitiara verloren hatte. Sie hatte eine höhere Stufe erklommen, auf die er ihr nicht folgen konnte. Er kannte sie gut genug, um zu erraten, dass sie sich in Zukunft kaum für ihn einsetzen würde. Er hatte seine Belohnung. Im Vorbeigehen legte er ihr noch die Hand auf die Schulter. Sie schüttelte die Berührung ab, und das war ihr Abschied. Sobald Ariakas seinen Berater und Hauptmann Balif los war, zog er die Zeltklappen zu. Er trat hinter Kitiara, griff in ihre dunklen, widerspenstigen Locken, zog ihren Kopf
zurück und küsste sie fest auf die Lippen. Seine Leidenschaft wurde erwidert, und zwar mit solcher Macht, dass es ihn überraschte. Sie küsste ihn wild und grub dabei ihre Nägel in das nackte Fleisch seiner Arme. Und dann, als er mehr wollte, riss sie sich von ihm los. »So soll ich mich bewähren, Sir?« wollte sie wissen. »In Eurem Bett?« »Nein, verdammt! Natürlich nicht«, widersprach er rau. Dennoch drehte er sie um und zog sie an sich. »Aber wir könnten trotzdem unseren Spaß miteinander haben!« Sie lehnte sich von ihm weg, bog den Rücken durch und stemmte sich mit den Händen gegen seine Brust. Sie war nicht prüde und kämpfte auch nicht gegen ihn. Im Gegenteil, ihre glänzenden Augen und ihr beschleunigter Atem verrieten, dass sie eher gegen ihre eigenen Wünsche ankämpfte. »Denkt nach, Sir! Ihr sagt, Ihr wollt mich zum Offizier machen?« »Richtig. Das will ich!« »Wenn Ihr mich jetzt in Euer Bett holt, werden die Soldaten sich zuflüstern, dass Ihr Euer Spielzeug zum Offizier gemacht habt, ein Betthäschen. Ihr habt selbst gesagt, die Männer sollten ihre Vorgesetzten respektieren. Werden sie vor mir Respekt haben?« Ariakas betrachtete sie schweigend. Noch nie war er einer solchen Frau begegnet, einer Frau, die sich ihm auf seinem eigenen Terrain stellte – und ihn schlug. Dennoch, er konnte sie nicht gehen lassen. Noch nie war er einer Frau begegnet, die ihn so in ihren Bann gezogen hatte. »Erst will ich mich vor Euch bewähren, Sir«, fuhr Kitiara fort, ohne sich ihm zu entziehen. Sie blieb so nahe, dass er
ihre Wärme und die bebende Spannung in ihrem Körper fühlen konnte. »Ich will mir in Eurer Armee einen Namen machen. Die Soldaten sollen von meinem Mut in der Schlacht erzählen. Dann werden sie sagen, Fürst Ariakas holt eine Kämpferin in sein Bett, nicht eine Hure.« Ariakas ließ seine Hand durch ihre gelockten Haare gleiten, bis seine Finger sich verfingen. Seine Hand packte zu und zog an den Haaren, bis es schmerzte. Er sah, wie ihr unwillkürlich die Tränen in die Augen schossen. »Noch nie hat eine Frau zu mir ›Nein‹ gesagt und es überlebt«, warnte er sie. Er sah sie lange an, denn er wartete auf ein furchtsames Flackern in diesen dunklen Augen. Wenn er es gesehen hätte, hätte er ihr den Hals gebrochen. Sie erwiderte seinen Blick ruhig und fest, mit der Andeutung ihres verschmitzten Lächelns. Ein wenig wehmütig lachte Ariakas und ließ sie los. »Also gut, Kitiara Uth Matar. Was Ihr sagt, klingt klug. Ich werde Euch die Gelegenheit geben, Euch zu bewähren. Ich brauche einen Boten.« »Ich denke doch, Ihr habt reichlich Laufburschen«, meinte Kitiara leicht verstimmt. »Ich wünsche Ruhm in der Schlacht.« »Sagen wir mal, ich hatte reichlich Laufburschen«, widersprach Ariakas mit unangenehmem Lächeln. Er goss ihnen beiden Wein ein, um ihr unerfülltes Verlangen zu dämpfen. »Ihre Zahl nimmt ab. Ich habe bereits vier von ihnen ausgeschickt, und nicht ein einziger ist zurückgekehrt.« Kitiaras gute Laune kehrte zurück. »Das klingt schon vielversprechender, Sir. Wie lautet die Nachricht, und für wen ist sie bestimmt?«
Ariakas zog seine schweren, schwarzen Brauen zusammen und machte ein ernstes Gesicht. Seine Hand umschloss den hölzernen Weinbecher. »So lautet die Botschaft. Ihr werdet sagen, dass ich, Ariakas, General der Armeen Ihrer Dunklen Majestät, ihm im Namen Ihrer Dunklen Majestät befehle, sich hier bei mir in Sanction zu melden. Ihr werdet ihm sagen, dass ich ihn brauche und dass Ihre Dunkle Majestät ihn braucht. Ihr werdet ihm sagen, dass er mir – und seiner Königin – auf eigene Gefahr trotzt.« »Ich werde Eure Botschaft überbringen, Sir«, erklärte Kitiara. Sie zog eine Augenbraue hoch. »Aber es könnte sein, dass man den Mann überzeugen muss. Habe ich Eure Erlaubnis, zu tun, was nötig ist, um sein Einverständnis zu erzwingen?« Ariakas lächelte verschlagen. »Ihr habt meine Erlaubnis, zu versuchen, seinen Gehorsam zu erzwingen, Kitiara Uth Matar. Obwohl diese Aufgabe nicht leicht sein könnte.« Kitiara warf den Kopf zurück. »Ich habe noch keinen getroffen, Sir, der zu mir ›Nein‹ gesagt und das überlebt hätte. Wie heißt er? Und wo kann ich ihn finden?« »Er lebt in einer Höhle in den Bergen bei Neraka. Sein Name lautet Immolatus.« Kitiara runzelte die Stirn. »Immolatus. Ein merkwürdiger Name für einen Mann.« »Für einen Mann, ja«, bestätigte Ariakas, der ihr noch einmal nachschenkte. Er hatte das Gefühl, sie würde den Wein brauchen. »Aber nicht für einen Drachen.«
7. Kapitel Kitiara lag unter ihren Decken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte den roten Mond an – den lachenden, roten Mond. Kit wusste genau, warum der Mond lachte. »Schnepfenjagd«, schäumte Kitiara laut und biss wütend die Zähne aufeinander. »Das ist eine verfluchte Schnepfenjagd!« Sie warf die Decken ab, weil sie nicht schlafen konnte, stapfte um das kleine Feuer und trank einen Schluck Wasser, um sich dann gelangweilt und verärgert wieder hinzusetzen und mit einem Stock in den rot glühenden, verkohlten Holzstücken herumzustochern. Damit ließ sie zwar einen Funkenschauer in den Nachthimmel aufstieben, löschte aber versehentlich den Rest des Feuers. Kitiara erinnerte sich an eine Schnepfenjagd, einen Streich, den sie dem leichtgläubigen Caramon einst gespielt hatten. Bei diesem Streich waren alle ihre Kameraden beteiligt gewesen, ausgenommen Sturm Feuerklinge, der – wenn sie ihm davon erzählt hätten – nur einen endlosen Vortrag gehalten und ihnen so den Spaß verdorben hätte. Er hätte sozusagen die Schnepfe aus dem Sack gelassen. Sobald die Freunde sich trafen, erzählten Kitiara, Tanis, Raistlin, Tolpan und Flint von den Freuden der Schnepfenjagd, von der Aufregung beim Aufspüren, der Wildheit der in die Ecke getriebenen Schnepfe und der Delikatheit ihres Fleisches, das angeblich besser schmeckte als Hähnchenfleisch. Caramon lauschte mit großen Augen, offenem Mund und knurrendem Magen. »Schnepfen kann man nur fangen, wenn Solinari
scheint«, berichtete Tanis. »Man wartet im Wald, leise wie ein schlafwandelnder Elf, mit einem Sack in der Hand«, riet Flint. »Und man muss rufen: Komm in den Sack und friss, Schnepfe! Komm in den Sack und friss!« »Weißt du, Caramon«, erklärte Kitiara ihrem Bruder, »Schnepfen sind nämlich so leichtgläubig, dass sie, wenn sie das hören, direkt zu einem kommen und in den Sack laufen.« »Aber dann muss man den Sack schnell zuknoten«, wies Raistlin ihn an, »und gut festhalten, denn wenn die Schnepfe merkt, dass man sie reingelegt hat, wird sie versuchen, sich zu befreien, und wenn sie das schafft, reißt sie ihren Fänger in Stucke.« »Wie groß sind die denn?«, fragte Caramon etwas eingeschüchtert. »Oh, nicht größer als ein Eichhörnchen«, versicherte ihm Tolpan. »Aber sie haben Zähne wie ein Wolf und Klauen wie Untote und einen langen Stachelschwanz wie ein Skorpion.« »Nimm lieber einen guten, festen Sack, Junge«, empfahl Flint, der daraufhin dem Kender, der plötzlich von einem Kicheranfall überwältigt wurde, den Mund zuhalten musste. »Aber kommt ihr denn nicht mit?«, wollte Caramon überrascht wissen. »Den Elfen ist die Schnepfe heilig«, meinte Tanis feierlich. »Mir ist es untersagt, eine zu töten.« »Ich bin zu alt«, seufzte Flint. »Meine Schnepfenjägertage sind vorbei. Jetzt müsst ihr die Ehre von Solace hochhalten.«
»Ich habe meine Schnepfe erlegt, als ich zwölf war«, erklärte Kitiara stolz. »Ui!« Caramon war beeindruckt, aber auch niedergeschlagen. Er war bereits achtzehn und hatte noch nie von Schnepfen gehört. Er hob den Kopf. »Ich werde euch nicht enttäuschen!« »Das wussten wir, mein Bruder«, lobte Raistlin, der seinem Zwillingsbruder eine Hand auf die breiten Schultern legte. »Wir sind alle sehr stolz auf dich.« Wie sie in jener Nacht gelacht hatten, als sie alle in Flints Haus zusammensaßen und sich ausmalten, wie Caramon bleich und zitternd da draußen im Dunkeln stand und rief: »Komm in den Sack und friss, Schnepfe!« Und am Morgen hatten sie noch lauter gelacht, als Caramon atemlos vor Aufregung auftauchte und einen Sack mit der seltenen Schnepfe hochhielt, die ziemlich zappelte. »Wieso kichert sie?«, fragte Caramon, der den Sack musterte. »Dieses Geräusch machen gefangene Schnepfen immer«, beschwichtigte Raistlin, obwohl er vor unterdrücktem Lachen kaum sprechen konnte. »Erzähl uns von deiner Jagd, mein Bruder.« Caramon erzählte ihnen, wie er gerufen hatte und wie die Schnepfe aus der Dunkelheit herbeigerannt und in den Sack gesprungen war und wie er, Caramon, tapfer den Sack zugeknotet und die gefährliche Schnepfe nach kurzem Kampf unterworfen hatte. »Sollen wir ihr eins über den Kopf geben, bevor wir sie rauslassen?«, fragte Caramon, der schon nach einem Stock griff. »Nein!«, quiekte die Schnepfe. »Ja!«, brüllte Flint, der einen erfolglosen Versuch machte, Caramon den Stock zu entreißen.
An diesem Punkt hatte Tanis entschieden, dass der Spaß weit genug gegangen war, und die Schnepfe befreit, die Tolpan Barfuß sehr ähnlich sah. Niemand hatte lauter gelacht als Caramon, nachdem man ihm den Streich erklärt und ihm versichert hatte, dass sie alle schon darauf hereingefallen waren. Alle außer Kit, die darauf beharrte, dass sie jedenfalls nie dumm genug gewesen war, auf Schnepfenjagd zu gehen. Jedenfalls bis jetzt. »Ich könnte mich auch gleich mit einem Sack in der Hand in diese gottverdammten Berge stellen und rufen: ›Komm, Drache, hierher! Ich hab was für dich!‹« Sie fluchte verbittert, trat gegen die Holzkohle und stellte sich dieselbe Frage, die sie sich seit sieben Tagen stellte – seit sie Sanction verlassen hatte. Warum hatte General Ariakas ihr diesen absurden Auftrag erteilt? Kitiara glaubte ebenso wenig an Drachen wie an Schnepfen. Drachen! Sie schnaubte abfällig. In Sanction redete man über nichts anderes mehr. Die Leute behaupteten, sie würden Drachen verehren, der Tempel der Königin der Finsternis war in Form eines Drachen gebaut, Balif hatte Kit einmal gefragt, ob sie sich scheuen würde, einem Drachen gegenüberzutreten. Doch soweit Kitiara wusste, hatte keiner dieser Leute je einen Drachen gesehen. Einen echten, Feuer speienden, Schwefel fressenden Drachen. Der einzige Drache, den sie kannten, war ein Drache, den man in das kalte Gestein eines Berges gemeißelt hatte. Als Ariakas ihr erzählt hatte, sie solle einen Drachen holen, hatte Kit erst einmal gelacht. »Das ist kein Scherz, Uth Matar«, hatte General Ariakas zu ihr gesagt, doch sie hatte seine dunklen Augen glitzern
sehen. Weil sie immer noch geglaubt hatte, er würde sich über sie lustig machen, war sie daraufhin wütend geworden. Das Glitzern war aus den Augen des Generals verschwunden, und er hatte sie kalt, grausam und ausdruckslos angesehen. »Ich habe Euch einen Auftrag erteilt«, hatte General Ariakas zu ihr gesagt. Seine Stimme war ebenso kalt und leer gewesen wie seine Augen. »Ihr könnt ihn annehmen oder auch nicht.« Sie hatte ihn angenommen – hatte sie eine Wahl? Sie hatte um eine Eskorte gebeten, die General Ariakas ihr schroff verweigert hatte. Er könne es sich nicht leisten, noch mehr Männer wegen dieser Sache zu verlieren. Ob sich Uth Matar nicht in der Lage fühle, diese Aufgabe selbst zu lösen? Dann müsse er vielleicht jemand anderen finden. Jemanden, der mehr Interesse an seiner Gunst hätte. Kitiara hatte General Ariakas’ Herausforderung angenommen und war in den Khalkist gezogen, wo dieser angebliche Drache mit Namen Immolatus hauste. Er lebte dort schon Jahrhunderte, behauptete Ariakas, schon bevor die Königin der Finsternis ihn geweckt hatte. Kitiara hatte keine Wahl gehabt. Während der ersten drei Tage hinter Sanction war Kitiara auf der Hut gewesen und hatte auf den Hinterhalt gewartet, der gewiss kommen musste, einen von Ariakas befohlenen Hinterhalt, der ihre kämpferischen Fähigkeiten ausloten sollte. Sie hatte sich geschworen, nicht diejenige zu sein, die den Sack hielt. Und wenn doch, dann würden hinterher Köpfe darin stecken. Aber die drei Tage waren ereignislos verstrichen. Nie-
mand hatte sie aus der Dunkelheit angesprungen, nur ein verärgertes Streifenhörnchen, das sie bei der Futtersuche gestört hatte. Ariakas hatte sie mit einer Karte ausgestattet, die ihr Ziel beschrieb, einer Karte, die angeblich von den Priestern aus dem Tempel von Luerkhisis stammte und zeigte, wo die Höhle des angeblichen Drachen zu finden war. Je weiter sie sich ihrem Ziel näherte, desto verlassener wurde das Land. Kitiara wurde mulmig zumute. Wenn sie einen Ort hätte wählen müssen, wo man einen Drachen finden mochte, wäre es bestimmt dieser hier gewesen. Am vierten Tag verschwanden unter unheimlichem Krächzen selbst die wenigen hoffnungsvollen Geier, die seit Sanction ein hungriges Auge auf sie geworfen hatten, als sie immer weiter den Berg hinaufkletterte. Am fünften Tag sah Kit keinen Vogel, keine Maus, keine Wanze. Nicht einmal Fliegen umsummten ihre Wegzehrung aus Dörrfleisch. Nicht einmal Ameisen schleppten die Krumen ihres Brotes davon. Sie war schnell und weit vorwärts gekommen. Sanction lag unsichtbar hinter den Gipfeln des zweiten Berges, der von der ewigen Rauchwolke verhüllt wurde, die über den Fürsten des Unheils hing. Manchmal konnte sie den Boden unter ihren Füßen beben fühlen. Zuerst hatte sie dies dem Grollen der unruhigen Berge zugeschrieben, doch mittlerweile war sie unsicher geworden. Vielleicht war es auch das Rumpeln eines großen Ungeheuers, das sich in seinen Träumen von Schätzen und Tod hin und her wand. Am sechsten Tag war Kitiara wirklich nicht mehr wohl zumute. Der Boden unter ihren Füßen war ohne jedes Leben, völlig unfruchtbar. Zugegeben, sie befand sich jenseits
der Baumgrenze und hatte die Wärme des Frühlings weit unter sich gelassen. Aber sie hätte ein paar struppige Büsche vorfinden müssen, die sich wagemutig in der Sonne an die Felsen klammerten, in deren Schatten noch Schnee lag. Hier aber lag kein Schnee, und sie fragte sich, was ihn zum Schmelzen gebracht hatte. Der einzige Busch, auf den sie stieß, war schwarz, und die Felsen waren rußig, als sei ein Waldbrand über die Bergflanke gejagt. Doch wo es keine Bäume gab, konnte es auch keinen Waldbrand geben. Über dieses Phänomen grübelte sie noch nach und war schon drauf und dran, sich für einen Blitzschlag zu entscheiden, als sie um einen riesigen Granitbrocken kam und auf den Leichnam stieß. Kit wich erschrocken einen Schritt zurück. Sie hatte schon viele Tote gesehen, aber so etwas noch nicht. Der Körper war von einem Feuer verzehrt worden, das so heiß gewesen war, dass es nur die größeren Knochen übrig gelassen hatte – Schädel und Rippen, Wirbelsäule und Beine. Kleinere Knochen wie die der Zehen und Finger waren verbrannt. Der Leichnam lag mit dem Gesicht nach unten. Der Mann war vor seinem Feind geflohen, als das Feuer ihn erwischt und das Fleisch seines Körpers gefressen hatte. Kitiara erkannte das Emblem des geschwärzten Helms, der noch auf dem Kopf saß. Dasselbe Emblem fand sich auf dem Schwert, das mehrere Schritte hinter ihm lag. Vermutlich würde sie, wenn sie die Leiche umdrehte, auf dem Brustpanzer, auf dem jetzt seine Knochen wie geröstete Rippchen auf einem Metallteller lagen, wiederum dasselbe Emblem finden – den schwarz gefiederten Adler mit den ausgebreiteten Schwingen, das Emblem von General Aria-
kas. Kitiara begann, es zu glauben. »Am Ende bist du derjenige, der zuletzt lacht, Caramon«, sagte sie mit einem wehmütigen Blinzeln gegen das Sonnenlicht zur Bergspitze hinauf. Sie sah nichts als den blauen Himmel, doch da sie sich am Hang des steilen Bergs nackt und angreifbar vorkam, duckte sie sich hinter den Granitfelsen und stellte dabei fest, dass der Felsen dort, wo die Flammen ihn berührt hatten, zu schmelzen begonnen hatte. »Oh, zum Abgrund und zurück«, fluchte Kit in sich hinein, als sie in der trüben Gesellschaft der verkohlten Leiche im Schatten des Felsens auf dem Boden saß. »Ein Drache. Meine Güte. Ein richtiger, lebendiger Drache. – Ach, lass das, Kit«, schalt sie sich selbst. »Das ist unmöglich. Als Nächstes glaubst du noch an Ghule. Der arme Teufel wurde vom Blitz erschlagen.« Aber sie belog sich nur selbst. Sie sah doch, dass der Mann verfolgt worden war. Auf seiner panischen Flucht hatte er sein Schwert weggeworfen, eine Klinge aus gutem, hartem Stahl, die gegen einen so furchtbaren Feind machtlos war. Kitiara steckte eine Hand in den Lederbeutel mit dem Emblem des schwarzen Adlers und zog eine kleine Schriftrolle heraus – feines Pergament, das fest zusammengerollt und durch einen Ring gesteckt worden war. Nachdenklich und stirnrunzelnd betrachtete sie die Schriftrolle und kaute dabei auf ihrer Unterlippe herum. General Ariakas hatte sie ihr gegeben und befohlen, sie Immolatus zu übergeben. Vor lauter Wut über den Streich, den man ihr spielte, hatte Kit die Schriftrolle angenommen, ohne einen Blick dar-
auf zu werfen, und sie verärgert in den Beutel gesteckt. Mit kaum verhohlener Verachtung hatte sie zugehört, wie Ariakas ihr erzählte, was er über Drachen wusste, so wie sie damals Caramon alles erzählt hatte, was sie über Schnepfen wusste. Kitiara untersuchte den Ring genauer. Es war ein Siegelring. Mit einem Siegel in Form eines fünfköpfigen Drachen. »Junge, Junge«, murmelte Kitiara. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der fünfköpfige Drache, ein altes Symbol der Königin Takhisis. Kit zögerte einen Augenblick, dann zog sie das Schriftstück heraus. Ganz behutsam rollte sie es auf und überflog den Inhalt.Immolatus, ich befehle dir, dem Ruf zu folgen, den ich dir durch diese Botin sende. Viermal hast du meinem Befehl getrotzt. Es wird kein fünftes Mal geben. Ich verliere die Geduld. Nimm menschliche Gestalt an und kehre mit der Überbringerin dieses Rings nach Sanction zurück, um deine Befehle von General Ariakas entgegenzunehmen, von mir, der ich bald General meiner Drachenarmeen sein werde. Dieser Befehl stammt von Wyrllish, Oberkleriker der Schwarzen Roben, im Namen von Takhisis, Königin der Finsternis, Königin der Fünf Drachen, Königin des Abgrunds und bald Königin von Krynn.»Oh, verdammt!«, flüsterte Kitiara. »Verflucht noch mal!« Sie stützte die Ellenbogen auf ihre angewinkelten Knie und legte den Kopf in die Hände. »Ich bin die dumme Schnepfe! Wie blöd! Aber wer hätte das gedacht? Was habe ich getan? Wie bin ich hier hineingeraten?« Sie hob den Kopf, um die Leiche anzusehen. Diesmal war ihr Lächeln konzentriert, hart und bitter. »Soviel zu meinen Hoffnungen, zu meinem Ehrgeiz. Das dürfte das Ende sein. Dass meine Knochen an einem Hang in die Steine schmel-
zen. Aber wer hätte gedacht, dass Ariakas die Wahrheit sagt? Ein Drache! Und ich bin sein gottverdammter Bote!« Lange saß sie dort oben auf dem einsamen Hang und starrte in den leeren, blauen Himmel, der so nahe zu sein schien, sah zu, wie die Sonne vom Himmel glitt, bis es so aussah, als würde sie unter ihr untergehen, so weit stand sie über dem Horizont. Die Luft kühlte bereits spürbar ab. Kit erschauerte, und unter der feinen Wolltunika, die sie unter ihrer eng anliegenden Kettenrüstung trug, bekam sie eine Gänsehaut. Sie hatte einen Mantel dabei, der mit ungesponnener Wolle gesäumt war, packte ihn aber nicht aus. »Es wird ohnehin bald wärmer«, sagte sie sich, und dabei brachte sie eine Andeutung ihres schiefen Lächelns zustande. »Zu bald und zu heiß.« Nachdem sie ihre Lethargie abgeschüttelt hatte, zog sie doch noch den Mantel heraus, legte ihn um ihre Schultern und setzte sich hin, um die Karte, die General Ariakas ihr gegeben hatte, aufmerksamer zu studieren. Sie fand alle Anhaltspunkte: den Gipfel, der wie von einer riesigen Axt gespalten war, und den Vorsprung an der Bergflanke, der wie eine Hakennase aussah. Jetzt, da sie wusste, wo sie suchen musste, fand sie die Höhle ohne größere Schwierigkeiten. Der Zugang zum Drachenhort lag unter dem Felsvorsprung verborgen, nicht weit von der Stelle, wo sie saß. Ein kurzer Weg über unwegsames Gelände, aber unschwer zu erreichen. Solinari nahm in dieser Nacht ab, doch sein Licht würde ausreichen, um ihr einen Weg durch die Felsen zu weisen. Kit stand auf und blickte die Bergflanke hinunter. Ihr war der Gedanke gekommen, den leichteren Weg zu wählen – ein einfacher Schritt über die Kante und hinunter in die Leere.
Der leichtere Weg – der Weg eines Feiglings. »Lügen, betrügen, stehlen – solche Fehler verzeiht die Welt mit einem Augenzwinkern«, hatte ihr Vater ihr einst eingeschärft. »Aber ein Feigling erntet nur Verachtung.« Vielleicht würde es ihre letzte Schlacht werden, aber sie war fest entschlossen, sich glorreich zu schlagen. Sie drehte der Sonne den Rücken zu und blickte in die aufziehende Dunkelheit. Sie hatte keinen Plan; sie sah auch keinen großen Nutzen darin. Sie konnte nur zur Vordertür hineinplatzen. Mit einer Hand am Schwertgriff trat sie entschlossen vor. Ein riesiges Ungeheuer tauchte am Rand des Eingangs unter dem Vorsprung auf. Es breitete die Flügel aus – gewaltige Flügel, die einen Adler wie einen Zwerg erscheinen ließen –, und schwang sich in die Luft. Rote Schuppen spiegelten den letzten Abendschein wider, schimmernd und glitzernd wie Funken aus einem brennenden Holzscheit oder wie die Rubine einer Edelfrau in der Sonne – oder wie Blutstropfen. Eine Schnauze, ein langer, sehniger Schwanz, ein Körper, der so schwer war, dass Flügel ihn eigentlich unmöglich hätten heben dürfen, ein Stachelkamm, der vor dem nachlassenden, fahlen Licht schwarz erschien, enorme, kräftige Beine und Füße mit langen, scharfen Klauen. Dazu suchende, glühende Augen. Zum ersten Mal in den achtundzwanzig Jahren ihres Lebens bekam Kit es mit der Angst zu tun. Ihr Magen krampfte sich zusammen, bis bittere Galle in ihren trockenen Mund aufstieg. Ihre Beinmuskeln verkrampften sich; sie wäre beinahe zusammengebrochen. Ihre Hand am Schwertgriff wurde feucht und kraftlos. Der einzige Gedanke in ihrem Gehirn schrie: »Lauf, versteck dich, flieh!«
Wenn es ein Loch gegeben hätte, wäre sie hineingekrochen. In diesem Augenblick kam ihr selbst der Sprung in die Tiefe vernünftig vor. Kitiara kauerte sich in den Schatten des Felsens und blieb zitternd dort sitzen. Kalte Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ihre Brust war beengt, ihr Herz raste, das Atmen bereitete ihr Mühe. Sie konnte die Augen nicht von dem Drachen abwenden, einem Anblick, der grauenvoll, entsetzlich und schön zugleich war. Er war mindestens vierzig Fuß lang. Vom Maul bis zur Schwanzspitze hätte er über den ganzen Exerzierplatz gereicht und noch in den Tempel hineingeragt. Sie befürchtete, er hätte sie gesehen. Immolatus hatte keine Ahnung, dass sie da war. Von ihm aus hätte sie auch eine Mücke am Fels sein können. Er wollte auf die Jagd gehen. Seit seiner letzten Mahlzeit, die freundlicherweise direkt zu ihm gekommen war, waren einige Tage vergangen. Nachdem Immolatus den Boten gefressen hatte, war er zu faul gewesen, um nach weiterem Futter zu suchen, bis der Hunger ihn aus seinen angenehmen Träumen weckte, Träumen von Plünderungen, Feuer und Tod. Als er fühlte, wie sein geschrumpfter Magen in seinem Leib rumorte, wartete er erst hoffnungsvoll ab, ob nicht noch so ein leckerer Bissen seine Höhle betreten würde. Es kam keiner. Immolatus grollte ein wenig vor sich hin, denn er bereute es zutiefst, dass er mit einem der Soldaten herumgespielt hatte. Als lebende Fackel hatte er den Mann in heller Panik den Abhang hinunterrennen lassen. Hätte der Drache weiter vorausgeschaut, so hätte er sein Opfer am Leben gelassen, bis er wieder fressen wollte.
Ach was, überlegte der Drache knurrend. Wozu vergossenem Blut nachjammern. Er schwang sich in die Luft und umkreiste einmal den Gipfel seines Berges, um sicherzugehen, dass alles seine Ordnung hatte. Kitiara blieb ganz still – starr wie ein Kaninchen, das die Hunde sieht. Sie hielt den Atem an und wünschte, ihr Herz würde leiser schlagen, denn es schien regelrecht zu donnern. Kit wünschte auch, der Drache würde davonfliegen, weit fort. Anscheinend hatte er genau das vor, denn er kreiste, als wolle er die warmen Aufwinde nutzen, die von der Bergflanke aufstiegen. Kit hätte vor Erleichterung fast geschluchzt, als sich ihr plötzlich die Kehle zusammenschnürte. Der Drache änderte seine Richtung. Er witterte und drehte den riesigen Kopf mit den roten Augen hin und her, weil er nach dem Geruch Ausschau hielt, der ihm das Wasser im Maul zusammenlaufen ließ. Schaf! Der verdammte Schafspelz! Kitiara wusste es, als könne sie seine Gedanken lesen. Das Ungeheuer hatte Schaf gewittert. Jetzt hatte es Appetit auf Schaf, würde aber nicht enttäuscht sein, wenn es seinen Irrtum bemerkte – ein Mensch im Schafspelz. Das riesige Maul wandte sich in ihre Richtung, und Kitiara konnte die scharfen Zähne sehen, als es sich erwartungsvoll öffnete. »Königin der Finsternis«, betete Kit. Zum ersten Mal in ihrem Leben flehte sie um Hilfe. »Auf dein Geheiß hin bin ich hier. Ich bin deine Dienerin. Wenn du willst, dass dein Auftrag ausgeführt wird, dann solltest du jetzt lieber etwas tun.« Der Drache kam näher und war schwärzer als die Nacht,
denn seine riesigen Schwingen hielten das Licht der ersten, blassen Sterne ab. Je tiefer die Finsternis wurde, desto röter leuchteten die grausamen Augen. Hilflos, bewegungsunfähig, sogar unfähig, ihr Schwert zu ziehen, sah Kitiara den Tod heranfliegen. Da erklang ein erschrockenes Meckern, und sie hörte Hufe über die Steine klappern. Der Drache schoss herunter. Der Wind seines Vorbeifliegens drückte Kit gegen den Fels. Die Flügel schlugen noch einmal, dann gellte ein Todesschrei durch die Felsen. Der Drachenschwanz zuckte in grausamer Wonne vor und zurück. Der Drache schraubte sich in den Himmel und flog über sie hinweg. Warmes Blut tropfte auf Kitiaras nach oben gewandtes Gesicht. In den Klauen des Drachen baumelte eine eben erlegte Bergziege. Immolatus freute sich über seinen Fang und sein Glück – noch nie hatte sich eine Bergziege so nah an seine Höhle herangewagt. Er schleuderte die blutende Beute nach hinten in seine Höhle, wo er geruhsam fressen konnte. Ein wenig wunderte er sich über den deutlichen Geruch nach Schaf, den er am Hang bemerkt hatte, ein merkwürdiger Geruch, mit Mensch vermischt, aber er fraß doch lieber einmal Ziegenfleisch als immer nur Schaf. Oder auch Mensch. Menschen hatten meist wenig Fleisch auf den Rippen, und für das Wenige musste er auch noch hart arbeiten, zum Beispiel die Rüstung wegreißen, die darüber war und immer einen metallischen Geschmack im Mund hinterließ. Als er wieder in seinem Hort war, legte er sich schwer auf die Steine, die dort lagen, wo sein Schatz hätte sein sollen – wie er immer noch voller Trotz dachte –, und zerriss das Tier. Vorläufig war Kitiara gerettet. Matt vor Erleichterung
kauerte sie hinter dem Felsen. Sie konnte sich noch nicht bewegen, denn ihre Muskeln waren völlig verkrampft. Auch die Hand konnte sie nicht vom Schwertgriff lösen. Mit erheblicher Anstrengung zwang sie sich dazu, sich zu entspannen, beruhigte ihren rasenden Herzschlag und brachte ihren Atem wieder unter Kontrolle. Zuallererst hatte sie eine Schuld zu begleichen. »Königin Takhisis«, murmelte Kitiara demütig mit einem Blick in den Nachthimmel, der der Göttin heilig war. »Danke! Bleibe bei mir, und ich werde dich nicht enttäuschen!« Nachdem das erledigt war, zog Kitiara den Mantel fester um sich, legte sich unter den sternenklaren Nachthimmel nieder und dachte an ihr Gespräch mit General Ariakas zurück, ein Gespräch, bei dem sie schlecht aufgepasst hatte. Mühsam versuchte sie, sich an das zu erinnern, was er ihr über Drachen erzählt hatte.
8. Kapitel Es war eine schöne, fette Ziege gewesen. Zufrieden mit seiner Mahlzeit und dem Umstand, dass er sich dafür nicht übermäßig hatte anstrengen müssen, rückte Immolatus sich auf seinem steinigen Bett zurecht. Er stellte sich vor, die Steine wären aufgetürmte Schätze, während er wieder eindöste und in seinen Träumen Zuflucht suchte. Die meisten der anderen Drachen, die im Dienst der Königin der Finsternis standen, hatten sich gefreut, als Takhisis sie aus ihrem langen Zwangsschlaf geweckt hatte. Nicht so Immolatus. Die letzten hundert Jahre hatte er von Feuer geträumt, davon, wie er hilflose Menschen und Elfen, Zwerge und Kender vor sich her trieb, wie er ihre armseligen Behausungen in Brand setzte, wie er mit seinem großen Maul ihre Kinder packte und ihr zartes Fleisch zermalmte, wie er Burgen zerstörte und schreiende Ritter auf seinen spitzen Krallen aufspießte, Krallen, die noch die härteste Rüstung durchdrangen. Er hatte geträumt, wie er hinterher den abgekühlten Schutt durchwühlte, um funkelnde Juwelen und silbernes Geschmeide, magische Schwerter und goldene Armschienen aufzulesen, wie er alles in die wenigen Wagen lud, die er klugerweise nicht verbrannt hatte, und wie er dann die Wagen in seinen Klauen zu seinem Hort zurücktrug. Einst war seine Höhle voller Schätze gewesen, so voll, dass sein Körper kaum noch hineingepasst hatte. Huma – der verfluchte Mistritter Huma und sein verdammter Zauberer Magus – hatten Immolatus’ Glück ein Ende gemacht. Um ein Haar hätten sie auch Immolatus’ Leben ein Ende
gemacht. Die Königin der Finsternis – verflucht sei ihr schwarzes Herz – hatte Immolatus aufgerufen, sich ihr zum angeblich letzten aller Kriege anzuschließen. Ein Krieg, in dem man die lästige Plage der Ritter von Solamnia ausradieren wollte, bis sie alle vom Antlitz der leidenden Welt verschwunden waren. Die Königin der Finsternis hatte ihren Drachen versichert, sie könnten nicht verlieren, sie wären unbesiegbar. Immolatus hatte gedacht, das könnte Spaß machen – damals war er noch ein junger Drache gewesen. Er hatte seinen Schatz zurückgelassen und war ausgeflogen, um sich seinen Brüdern anzuschließen: blauen, roten und grünen Drachen, den weißen Drachen der schneebedeckten Berge, den schwarzen Drachen der Schatten. Der Krieg war nicht planmäßig verlaufen. Die hinterhältigen Menschen hatten eine Waffe erfunden, eine Lanze, deren helles, magisches Silber die Augen der Drachen blendete und deren scharfe Spitze tödlich in ihre Herzen drang. Mit dieser furchtbaren Waffe waren die grausamen Ritter in die Schlacht gezogen. Immolatus und seine Verwandten hatten tapfer gekämpft, doch am Ende hatte Huma Königin Takhisis mit seiner Drachenlanze dazu genötigt, sich aus dieser Existenzebene zurückzuziehen. Er hatte ihr einen Pakt der Verzweiflung aufgezwungen. Ihre Drachen würden nicht getötet werden, sollten sich aber schlafen legen, und um das Gleichgewicht der Welt nicht zu stören, würden die guten Drachen, die aus Silber und Gold, ebenfalls ruhen. Immolatus’ rechter Flügel war von der grausamen Lanze zerfetzt worden, sein linkes Hinterbein hatte die schreckliche Lanze aufgerissen, seinen Magen hatte die teuflische
Lanze verletzt. Der Drache war in seine Höhle zurückgehumpelt. Wie Regen hatte sein Blut die Erde getränkt. Und als er heimkam, hatte er feststellen müssen, dass in seiner Abwesenheit Diebe seinen Schatz geraubt hatten! Sein Wutgebrüll hatte die Bergspitze gespalten. Bevor er sich schlafen legte, hatte er geschworen, dass er nie wieder etwas mit Menschen zu tun haben wollte, außer um ihnen den Kopf abzureißen und ihre Knochen auszusaugen. Auch mit der Königin der Finsternis wollte er nichts mehr zu schaffen haben. Der Königin, die ihre Untertanen verraten hatte. Während des jahrhundertelangen Schlafs waren seine Wunden verheilt. Sein Körper war wieder erstarkt. Sein Gelübde hatte er jedoch nicht vergessen. Vor sieben Jahren war der Geist von Königin Takhisis, die jetzt im Abgrund gefangen saß, zu ihren Drachen gekommen und hatte auch Immolatus aus seinem langen Schlaf geweckt, damit er sich ihr zum allerletzten Krieg aller Kriege anschloss. Der Geist von Königin Takhisis hatte in seiner Höhle gestanden, seiner jämmerlich leeren Höhle, und Forderungen gestellt. Immolatus hatte versucht, nach ihr zu schnappen. Als das nicht gelang (es ist schwierig, seine Zähne in einen Geist zu schlagen), hatte der Drache sich umgedreht und war wieder eingeschlafen. Er war zu seinen angenehmen Träumen von zerfleischten Menschen und einer Höhle voller Gold, Perlen und Saphire zurückgekehrt. Doch der Schlaf wollte nicht kommen, und wenn er doch kam, durfte er ihn nicht genießen. Immer war Takhisis da und störte ihn, schickte Boten mit Befehlen und Anweisungen. Warum konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
Hatte er nicht schon genug für ihre Sache geopfert? Wie viele ihrer Boten musste er noch anzünden, um ihr seinen Standpunkt klarzumachen? Genüsslich erinnerte er sich an den letzten Menschen, der sich vor seinen Augen in Rauch aufgelöst hatte, und lächelte bei der Erinnerung an den Geruch von gebratenem Menschenfleisch, als Immolatus’ schöner Traum sich plötzlich veränderte. Er träumte von Flöhen. Drachen haben keine Flöhe. Kleinere Tiere hatten Flöhe, Tiere, die keine Schuppen hatten, sondern Haut und Fell. Dennoch träumte Immolatus von Flöhen, von einem Floh, der ihn biss. Der Biss war nicht schmerzhaft, aber doch ärgerlich und unangenehm. Der Drache träumte von dem Floh, träumte davon, ihn wegzukratzen, und hob dazu verschlafen ein Hinterbein. Der Floh hörte auf zu beißen, und der Drache begab sich wieder friedlich zur Ruhe, als das verdammte Beißen wieder anfing, diesmal an einer anderen Stelle. Der Floh war von einem Ort zum anderen gesprungen. Ernsthaft verärgert fuhr Immolatus jetzt aus dem Schlaf auf. In seine Höhle drang das Licht der frühen Morgensonne, das durch einen Luftschacht in der Bergflanke fiel. Immolatus drehte seinen riesigen Kopf, damit seine Augen nach dem Ungeziefer Ausschau halten konnten, das irgendwo auf seiner linken Schulter saß. Seine Kiefer wollten kurzen Prozess mit ihm machen. Zu seinem Erstaunen sah Immolatus keinen Floh auf seiner Schulter sitzen, sondern einen Menschen. »Häh?«, brüllte er völlig verdutzt. Der Mensch trug eine Rüstung und einen nach Schaf riechenden Mantel und hockte kühn wie einer dieser gottver-
dammten Ritter auf seinem Streitross rittlings auf Immolatus’ großer Schulter. Immolatus kochte, denn eine solche Frechheit war einfach unglaublich, doch der Mensch bohrte sein spitzes Schwert grausam in das Fleisch des Drachen. »Ihr habt hier eine lose Schuppe, Herr Drache«, sagte der Mensch und hob die Schuppe hoch, die die Größe einer ordentlichen Steinfliese hatte und auch so schwer war. »Wusstet Ihr das schon?« Da sein Verstand erst halb aus seinem Traum erwacht und außerdem wegen der Verdauung des Ziegenfleisches träge war, holte Immolatus tief Luft, um dieses ärgerliche Wesen in die nächste Ebene der Nichtexistenz zu blasen. Der Schwefelatem blieb ihm jedoch im Halse stecken, als sein Verstand etwas weiter erwachte und ihm klarmachte, dass er nicht nur den unwillkommenen Eindringling, sondern auch seine linke Schulter braten würde. Immolatus gurgelte etwas und schluckte die Flamme wieder herunter, die sich in seinem Magen gebildet hatte. Er hatte andere Waffen, eine ganze Reihe von Zaubersprüchen. Allerdings erforderten diese eine gewisse Anstrengung, und er war viel zu träge, sich die komplizierten Worte für ihre Anwendung ins Gedächtnis zu rufen. Seine beste und wirksamste Waffe war die Angst. Mit riesigen, roten Augen, deren Pupillen größer waren als der Kopf der Menschenfrau, starrte er in ihre dunklen Augen und quälte ihren kleinen Verstand mit Bildern von ihrem eigenen Tod. Tod durch Feuer, Tod durch Zähne und Klauen, Tod, indem er sich umdrehte und sie zu blutigem Brei zerquetschte. Die Frau wankte unter seinem Angriff. Sie zitterte und wurde blass, aber gleichzeitig grub sich ihr Schwert tiefer
in seine Schulter. »Ich nehme an, Herr«, sagte die Frau mit einem leichten Beben in der Stimme, einem Beben, das sie bewusst zu unterdrücken suchte, »dass Ihr noch nie ein Suppenhuhn zerlegt habt. Richtig? Dachte ich mir. Schade. Denn wenn Ihr ein Huhn zerlegt hättet, Herr, dann wüsstet Ihr, dass diese Sehne, die hier verläuft«, Stich um Stich stocherte die Klinge herum, »Euren Flügel lenkt. Wenn ich rein zufällig diese Sehne durchschneide«, ihre Klinge drang noch tiefer ein, »könntet Ihr nicht mehr fliegen.« Immolatus hatte noch nie ein Huhn zerlegt – gewöhnlich fraß er sie in einem Stück, mehrere Dutzend auf einmal, aber er wusste sehr wohl, wie sein Körper aufgebaut war. Aus Erfahrung wusste er auch, was eine Verletzung des Flügels bedeutete. Mit einer solchen Verletzung würde er in seiner Höhle festsitzen, konnte weder fliegen noch jagen und müsste Hunger und Durst leiden. »Ihr seid mächtig, Herr«, sagte die Menschenfrau. »Ihr seid in der Magie bewandert. Ihr könntet mich töten, indem Ihr einmal mit den Zähnen zuschnappt. Aber nicht, ohne dass ich Euch vorher beträchtlichen Schaden zufüge.« Inzwischen war Immolatus’ Ärger verflogen. Er hatte seine Wut überwunden. Dank der Ziege war er auch nicht hungrig, und so reagierte der Drache allmählich fasziniert. Die Menschenfrau verhielt sich respektvoll, indem sie ihn als ihren Herrn bezeichnete. Ausgesprochen passend und angemessen. Die Frau hatte Angst gehabt, hatte diese jedoch überwunden. Ein solcher Mut war beachtlich. Immolatus war von der Intelligenz und ihrem Einfallsreichtum beeindruckt. Er wollte die Unterhaltung fortsetzen, weil er sie anregend fand. Töten konnte er sie auch später noch.
»Klettere von meiner Schulter«, verlangte er. »Ich bekomme einen steifen Hals, wenn ich mich so verrenken muss.« »Das tut mir leid, Herr«, erwiderte die Frau. »Aber Ihr seht sicher ein, dass ich erheblich benachteiligt wäre, wenn ich hier weggehe. Ich werde meine Botschaft von hier aus ausrichten.« »Ich werde dir nichts tun. Jedenfalls vorläufig nicht.« »Und warum solltet Ihr mich verschonen, Herr?« »Sagen wir mal, ich bin neugierig. Ich will wissen, warum im Namen unserer treulosen Königin du hier bist. Was willst du von mir? Was ist so wichtig, dass du den Tod in Kauf nimmst, um mit mir zu sprechen?« »Das kann ich Euch alles von hier aus erzählen, Herr«, gab die Menschenfrau zurück. »Zum Donnerwetter!«, brüllte der Drache. »Komm auf Augenhöhe herunter! Wenn ich beschließe, dich zu töten, werde ich dich rechtzeitig warnen. Ich werde dir gestatten, deine armselige Verteidigung vorzubereiten, und wenn auch nur zu meiner eigenen Unterhaltung. Einverstanden?« Die Frau überlegte sich den Vorschlag und entschied, ihn anzunehmen. Gewandt sprang sie von der Drachenschulter und landete auf dem Felsboden der Höhle – dem kläglich leeren Felsboden seiner Höhle. Melancholisch betrachtete Immolatus diese Leere. »Es kann nicht mein Schatz sein, der dich hergelockt hat. Außer wenn du ein brennendes Verlangen hast, Steine zu sammeln.« Mit einem tiefen Seufzer legte er seinen gewaltigen Kopf auf einen Steinsockel, sodass seine Augen auf gleicher Höhe mit denen der Frau waren. »Das ist besser. Viel be-
quemer. Also, wer bist du, und warum bist du hier?« »Mein Name ist Kitiara Uth Matar – «, setzte Kit an. Immolatus grollte. »Uth Matar. Das klingt solamnisch.« Er funkelte sie an und schien sich noch einmal zu überlegen, ob er sie nicht doch lieber früher als später umbringen sollte. »Für Solamnier habe ich nicht viel übrig.« »Aber Ihr habt Respekt vor uns«, stellte Kitiara stolz fest. »Wie wir vor Euch, Herr.« Sie verneigte sich. »Im Gegensatz zum Rest dieser einfältigen Welt, wo man lacht, wenn von Drachen die Rede ist, und wo behauptet wird, sie wären nichts als Kendermärchen.« »Kendermärchen!« Immolatus warf den Kopf zurück. »Das sagen sie über uns?« »Allerdings, Herr.« »Keine Lieder über Verwüstung und Vernichtung? Keine Geschichten darüber, wie die Städte und ihre Bewohner verbrannten, keine Berichte über getötete Kinder und gestohlene Schätze? Wir sind…« Immolatus konnte vor Empörung kaum sprechen. »Wir sind Kendermärchen!« »Dazu seid Ihr geworden, Herr. Leider«, fügte Kitiara hinzu. Immolatus wusste, dass er wie seine Brüder, Schwestern und Vettern viele Jahrzehnte – sogar Jahrhunderte – geschlafen hatte, aber er hatte geglaubt, dass die Ehrfurcht vor den Drachen, die Berichte über ihre großartigen Taten, die Angst und der Hass, den sie geweckt hatten, die Zeitalter überdauert hätten. »Denkt an die alten Zeiten«, fuhr Kitiara fort. »Denkt an die Tage Eurer Jugend. Wie oft haben Rittertrupps versucht, Euch zu erschlagen?«
»Sehr oft«, erwiderte Immolatus. »Mindestens zweimal im Jahr kamen zehn bis zwanzig auf einmal.« »Und wie oft haben Diebe versucht, Euren Hort zu betreten, um etwas von Eurem Schatz zu stehlen, Herr?« »Jeden Monat«, überlegte der Drache, dessen Schwanz bei diesen Erinnerungen zuckte. »Noch öfter, wenn gerade reichlich Zwerge in der Gegend waren. Lästige Kerle, diese Zwerge.« »Und wie oft versuchen Diebe heute, heranzuschleichen und Euren Schatz zu rauben?« »Ich habe keinen Schatz mehr!«, brüllte Immolatus verzweifelt auf. »Aber das wissen die Diebe nicht«, hielt Kitiara dagegen. »Wie oft seid Ihr in Eurer Höhle angegriffen worden? Ich möchte wetten, die Antwort lautet: nie mehr. Und wie kommt das? Weil keiner mehr an Euch glaubt. Niemand weiß, dass es Euch gibt. Ihr seid nichts als ein Mythos, eine Legende, eine Geschichte, über die man sich bei kaltem Bier lustig macht.« Immolatus brüllte, ein Brüllen, das die Wände erzittern und Staubwolken von der Höhlendecke rieseln ließ, ein Brüllen, das den Boden zum Beben brachte, sodass die Frau sich an einem nahen Stalaktiten festhalten musste. »Es ist wahr!« Der Drache knirschte grimmig mit den Zähnen. »Du sprichst die Wahrheit! So habe ich das nie gesehen. Manchmal habe ich mich gewundert, aber ich dachte immer, es sei die Angst, die sie fernhielt. Nicht… nicht… Vergessen!« »Königin Takhisis möchte dafür sorgen, dass sie sich erinnern, Herr«, erklärte Kitiara kühl. »So?«, murmelte Immolatus und wälzte seinen großen
Körper herum. Seine Klauen scharrten über den Steinboden und hinterließen tiefe Spuren im Fels. »Vielleicht habe ich sie falsch eingeschätzt. Ich dachte… ach, was soll’s. Ist nicht wichtig. Und sie hat dich also mit einer Botschaft zu mir geschickt?« Kitiara verbeugte sich. »Mich schickt General Ariakas, Anführer der Armee der Königin Takhisis, mit einer Botschaft für Immolatus, den größten und mächtigsten Drachen Ihrer Majestät.« Kitiara zog die Schriftrolle heraus. »Wärt Ihr so freundlich, sie zu lesen?« Immolatus winkte mit einer Klaue ab. »Lies du es mir vor. Mir fällt es schwer, das winzige Gekrakel der Menschen zu entziffern.« Kitiara verbeugte sich wieder, entrollte die Botschaft und las sie vor. Als sie an die Stelle kam, »Viermal hast du meinem Befehl getrotzt. Es wird kein fünftes Mal geben. Ich verliere die Geduld«, zog Immolatus unwillkürlich ein wenig den Kopf ein. Er hörte sehr deutlich die wütende Stimme seiner Königin hinter diesen Worten. »Aber woher sollte ich wissen, dass es in der Welt so aussieht?«, murmelte Immolatus in sich hinein. »Drachen vergessen! Oder schlimmer – verlacht und verachtet!« »Nimm menschliche Gestalt an und kehre mit der Überbringerin dieses Rings nach Sanction zurück, um deine Befehle von General Ariakas entgegenzunehmen, von mir, der ich bald General meiner Drachenarmeen sein werde.« »Menschliche Gestalt!« Immolatus schnaubte einen Flammenstoß. »Das werde ich nicht tun«, erregte er sich. »Die Welt hat die Drachen also vergessen? Dann wird sie ihren Fehler bald bemerken. Sie werden mich in meinem Glanz sehen. Wie ein Donnerschlag werde ich über sie
kommen! Dann werden sie wieder wissen, was ein Drache ist, bei unserer Königin! Sie werden glauben, sie hätte die heiße Sonne vom Himmel geraubt und in ihre Mitte geschleudert!« Kitiara verzog missbilligend den Mund. Immolatus sah sie wütend an. »Und, was ist? Wenn du glaubst, ich hätte Angst, den Befehlen von Takhisis zu trotzen, die habe ich nicht«, erklärte er aufsässig. »Wer ist sie, dass sie sich zur Königin über uns aufschwingt? Die Welt wurde uns geschenkt, um damit zu verfahren, wie es uns beliebt. Dann kam sie zu uns und machte Versprechungen, mit jedem ihrer fünf Münder ein anderes. Und wohin haben ihre Versprechungen uns gebracht? Auf das scharfe Ende einer Ritterlanze! Oder schlimmer noch – wir wurden von den gottverdammten goldenen Drachen in Stücke gerissen!« »Und das ist genau das, was geschehen wird, wenn Ihr an Eurem Plan festhaltet, Herr«, warnte Kitiara. Immolatus knurrte, und der Berg ächzte. Rauch drang zwischen seinen Zähnen hervor, und er zog die Lefzen zurück. »Du beginnst mich zu langweilen, Menschenfrau. Gib Acht. Ich merke, dass ich Hunger bekomme.« »Dann zieht hinaus in die Welt – aber was wird dabei herauskommen?«, wollte Kitiara wissen, die auf den Ausgang der Drachenhöhle zeigte. »Zerstört ein paar Häuser, verbrennt ein paar Scheunen. Vielleicht verwüstet Ihr sogar die eine oder andere Burg. Ein paar hundert Menschen werden sterben.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und was kommt dabei heraus? Ihr könnt nicht alle umbringen. Die Überlebenden schließen sich zusammen. Sie werden kommen und Euch suchen, und sie werden Euch finden – al-
lein, auf Euch selbst gestellt, ohne Eure Brüder, von Eurer Königin vergessen. Die goldenen Drachen kommen auch. Und die silbernen. Denn es gibt nichts, was sie aufhält. Ihr seid mächtig, großer Immolatus, aber Ihr seid einer, und sie sind viele. Ihr werdet scheitern.« Immolatus’ Schwanz peitschte, und der Berg erzitterte. Die Frau ließ sich nicht einschüchtern. Sie trat einen Schritt vor und wagte sich damit in Reichweite der riesigen Zähne, die sie mit einem einzigen Zuschnappen entzweibeißen konnten. Obwohl der Ärger wie Schwefel in seinem Magen brodelte, war Immolatus doch wieder vom Mut dieser Menschenfrau beeindruckt. »Großer Fürst, hört mich an. Ihre Majestät hat einen Plan«, erklärte Kitiara. »Sie hat ihre Drachen geweckt – alle ihre Drachen. Zur rechten Zeit wird sie alle ihre Drachen in den Krieg rufen. Nichts auf Krynn wird imstande sein, sich Ihrem Zorn zu widersetzen. Krynn wird vor Ihrer Macht in die Knie gehen. Ihr und Eure Artgenossen werdet im Namen der Königin die Welt beherrschen.« »Und wann wird diese glorreiche Zeit kommen?« wollte Immolatus wissen. »Das weiß ich nicht, Herr«, räumte Kitiara bescheiden ein. »Ich bin nur ein Bote und habe deshalb keinen Einblick in die Geheimnisse meines Kommandanten. Aber wenn Ihr in menschlicher Gestalt mit mir in das Lager von General Ariakas zieht, wie Ihre Majestät es empfiehlt – denn es ist erforderlich, dass wir das Wissen über Eure Rückkehr geheimhalten –, werdet Ihr dort zweifellos alles erfahren.« »Sieh mich an!«, fauchte Immolatus. »Sieh meine ganze Pracht! Und du besitzt die Kühnheit, mich zu bitten, dass ich mich verkleinere und erniedrige, indem ich mich in ei-
nen schwachen, weichen, nachgiebigen, winzigen Körper wie deinen zwänge?« »Nicht ich erbitte dieses Opfer von Euch, Herr«, gab Kitiara mit einer Verbeugung zurück. »Eure Königin bittet Euch. Ich kann Euch eines sagen, mein Fürst Immolatus – Ihr seid ein Auserwählter Ihrer Majestät. Ihr allein wurdet gebeten, zu diesem Zeitpunkt in die Welt zu ziehen, um dieser schwierigen Herausforderung zu begegnen. Keiner der anderen wurde derart geehrt. Ihre Majestät braucht den Besten, und deshalb wurde ich zu Euch geschickt.« »Keiner der anderen?«, vergewisserte sich Immolatus überrascht. »Keiner, Herr. Ihr seid der einzige unter den Drachen, dem man diese wichtige Aufgabe anvertrauen konnte.« Immolatus stieß einen tiefen Seufzer aus, einen Seufzer, der jahrhundertealten Steinstaub aufwirbelte und die Frau mit einer Wolke umgab, die sie zum Husten brachte. Wieder ein Zeichen für die Armseligkeit der Gestalt, die er annehmen sollte. »Na gut«, willigte Immolatus ein. »Ich werde Menschengestalt annehmen. Ich werde dich zum Lager deines Befehlshabers begleiten. Ich werde mir anhören, was er zu sagen hat. Und dann werde ich entscheiden, ob ich weiter mitmache oder nicht.« Die Frau versuchte, eine Antwort hervorzubringen, aber sie rang immer noch nach Luft. »Geh«, befahl der Drache. »Warte draußen auf mich. Meine Gestalt zu verändern ist schon erniedrigend genug, auch ohne dass du dabeistehst und mich angaffst.« Die Frau verbeugte sich erneut. »Ja, Herr.« Sie legte eine Hand an das Ende eines Seils, das vom
Luftschacht herunterbaumelte – ein Seil, das der Drache bisher nicht bemerkt hatte. Nachdem sie es gepackt hatte, kletterte sie geschickt zur Decke der Höhle hoch und aus dem Luftschacht hinaus, von wo aus sie das Seil einholte. Immolatus sah ihr grimmig zu. Nachdem die Frau verschwunden war, ergriff er mit der Klaue einen Felsen und stopfte ihn in den Luftschacht. Er klemmte ihn so fest in das Loch, dass dort nie wieder jemand heimlich eindringen würde. Jetzt war die Höhle dunkler, als er es gern hatte, und weniger luftig; die Schwefeldämpfe seines eigenen Atems brachten sie zum Stinken. Er würde einen neuen Luftschacht bohren müssen, was ihn erhebliche Anstrengung kosten würde. Menschen! Eine verdammte Plage. Man sollte sie verbrennen. Alle miteinander. Aber das konnte warten. Im Augenblick war es nur richtig und natürlich, dass Königin Takhisis ihn um Hilfe bat. Obwohl er sie für selbstsüchtig und verschlagen, eingebildet und fordernd hielt, bestand an der Intelligenz Ihrer Majestät kein Zweifel.Kitiara wartete am Hang darauf, dass der Drache sich ihr anschloss. Es war ein furchtbares Erlebnis gewesen, und sie gestand sich offen ein, dass sie so etwas in ihrem ganzen Leben nicht mehr auf sich nehmen wollte. Sie war erschöpft. Die Anstrengung, ihre Angst zu beherrschen und zu versuchen, das schnell denkende Geschöpf auszutricksen, hatte sie völlig ausgelaugt. Sie fühlte sich so schwach, als wäre sie dreißig Meilen in vollem Plattenpanzer marschiert und hätte anschließend noch eine längere Schlacht ausgefochten. Nachdem sie zwischen den Felsen zusammengesunken war, kippte sie aus ihrer Flasche Wasser in sich hinein und spülte sich den Mund aus,
um den Feuergeschmack loszuwerden. Trotz ihrer Müdigkeit war sie stolz auf sich, stolz darauf, dass ihr Plan erfolgreich verlaufen war. Stolz, aber nicht überrascht. Das männliche Wesen, ganz egal welcher Art, ob nun Drache oder sonst wer, das gegen Schmeichelei gefeit war, musste sie erst noch kennen lernen. Und während der Rückreise nach Sanction musste sie weiterhin dick auftragen, um ihren eingebildeten, im Zweifelsfall tödlichen Gefährten lenken zu können. Kitiara sank auf einem Stein zusammen und legte den Kopf in die Arme. Ein Mann in einer Rüstung kam auf sie zugelaufen. Sein Mund war zum Schrei aufgerissen, sein Gesicht vor Angst und Schmerz verzerrt, aber sie kannte ihn. »Vater!« Kitiara sprang auf. Er rannte direkt auf sie zu. Er stand in Flammen – seine Kleider brannten, die Haare brannten. Er verbrannte bei lebendigem Leib. Sein Fleisch zischte und brutzelte… »Vater!«, schrie Kitiara. Die Berührung einer Hand weckte sie. »Komm, du Wurm«, sprach eine schneidende Stimme. Kitiara rieb sich den Schlaf aus den Augen und wünschte, sie könnte seine Überreste aus ihrem Gehirn reiben. Im Vorbeigehen warf sie einen genaueren Blick auf den Leichnam. Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass der Mann einen Fuß kleiner gewesen war als Gregor Uth Matar. Dennoch konnte Kit ein Schaudern nicht unterdrücken. Der Traum hatte sehr echt gewirkt. Der Drache piekte ihr mit einem langen, scharfen Nagel in den Rücken. »Beweg dich, du Schnecke! Ich will diese lästige Aufgabe schnell hinter mich bringen.«
Kitiara schritt schneller aus. Die nächsten fünf Tage würden lang werden. Wirklich sehr lang.
9. Kapitel Ivor von Langbaum war in der gesamten Umgebung als der Spinnerbaron bekannt. Seine Nachbarn und Pächter hielten ihn ernsthaft für nicht ganz richtig im Kopf. Sie liebten ihn, sie beteten ihn regelrecht an, aber wenn sie sahen, wie er in vollem Galopp durch ihre Dörfer preschte, über Heukarren setzte, die Hühner auseinander scheuchte und im Vorbeireiten noch seinen Federhut schwenkte, schüttelten sie hinterher den Kopf, räumten wieder auf und sagten zu sich: »Ei, der ist wirklich meschugge, der Kerl.« Ivor Langbaum war Ende dreißig und Nachfahre eines Ritters von Solamnia, Sir John von Langbaum, der klug genug gewesen war, während der Unruhen nach der Umwälzung seine Sachen zusammenzupacken und Solamnia in aller Stille den Rücken zu kehren. Er war mit seiner Familie nach Süden gezogen, an einen Ausläufer des Neumeers. Nachdem er dort ein abgelegenes Tal entdeckt hatte, baute er eine Holzpalisade und richtete sein Haus ein. Er bearbeitete das Land, während seine Frau die armen Flüchtlinge aufnahm, speiste und einkleidete, die aus ihrer Heimat vertrieben worden waren, als der Feuerberg auf Krynn gefallen war. Eine ganze Menge dieser Heimatlosen entschieden sich dafür, in der Nähe der Einfriedung zu bleiben, und halfen mit, sie gegen räuberische Goblins und wilde Oger zu verteidigen. Die Jahre vergingen. Der älteste Sohn der Langbaums trat die Nachfolge seines Vaters an; jüngere Söhne zogen in den Krieg und kämpften für die eine oder andere gerechte Sache. Wenn sich dies für sie auszahlte, brachten die Söhne ihren Lohn nach Hause in die Truhen der Familie. Wenn
nicht, konnten sie zufrieden sein, weil sie edel gehandelt hatten und bei ihrer Rückkehr davon ausgehen durften, dass die Truhen der Familie sie unterstützen würden. Die Töchter standen der Bevölkerung bei, linderten Not und pflegten die Kranken, bis sie heirateten und die guten Werke ihrer Mutter anderswo fortführten. Das Land blühte und gedieh. Aus der Festung wurde eine Burg, die von einer kleinen Stadt, der Stadt Langbaum, umgeben war. In dem weiten Tal entstanden zahlreiche kleine Städte und Dörfer und in einem Nachbartal noch mehr, und alle diese Menschen schworen der Familie Langbaum die Treue. Die Langbaums wurden so einflussreich, dass John III. beschloss, sich Baron zu nennen und seine Ländereien als Baronie zu bezeichnen. Die Dörfler und die Städter waren stolz darauf, zu einer Baronie zu gehören, und gerne bereit, ihren Herrn dadurch stolz zu machen. Nach dem ersten Baron von Langbaum kamen und gingen die Söhne – die meisten gingen, denn den Langbaums ging nichts über eine anständige Schlacht, und sie wurden stets halbtot – oder ganz tot – von ihren trauernden Kameraden in die Burg zurückgetragen. Der gegenwärtige Baron war ein zweiter Sohn. Er hatte nicht erwartet, Baron zu werden, doch er hatte diesen Titel durch den vorzeitigen Tod seines älteren Bruders erhalten, der gefallen war, als er eines der abseits gelegenen Güter gegen einen Stamm Hobgoblins verteidigt hatte. Als jüngerer Sohn hatte man von Ivor erwartet, dass er von seinem Schwert leben würde. Das hatte er auch getan, wenn auch nicht ganz der ehrwürdigen Tradition entsprechend. Nachdem er seine Fähigkeiten und Talente über-
prüft hatte, war Ivor zu dem Schluss gekommen, dass er besser fahren würde, wenn er andere Männer anheuerte, die zusammen mit ihm kämpften, als wenn er sich von anderen Männern anheuern ließe. Ivor war ein ausgezeichneter Anführer, ein guter Stratege, mutig, aber nicht tollkühn, und er glaubte fest an die Maxime der Ritter »Die Ehre ist mein Leben«, wenn auch nicht an die zermürbenden, bindenden Regeln des Maßstabs. Er war ein kleiner Mann – manche hielten ihn fälschlich für einen Kender, ein Fehler, den sie nur einmal begingen –, dazu schmal und dunkel, mit dunkler Haut, langen schwarzen Haaren und großen braunen Augen. Die Männer sagten von Ivor gern, dass er zwar nur fünf Komma zwei Fuß groß war, sein Mut aber sechs Komma vier maß. Ivor war drahtig und zäh, ein gewitzter Kämpfer und erstaunlich stark. Sein Plattenpanzer mit Kettenrüstung wog mehr als mancher erwachsene Mann. Er ritt eines der größten Pferde in der ganzen Baronie, und er ritt es gut. Er liebte den Kampf, und er liebte das Spiel, er liebte sein Bier, und er liebte die Frauen – weitgehend in dieser Reihenfolge, wodurch er zu seinem Spitznamen gekommen war, nämlich der Spinnerbaron. Da er nach dem Tod seines Bruders nur sehr ungern Baron geworden war, hatte Ivor zunächst die Statthalter und Sekretäre befragt, die für den täglichen Betrieb der Baronie zuständig waren, und als er festgestellt hatte, dass sie etwas von ihrer Arbeit verstanden und vertrauenswürdig waren, überließ er diese Aufgaben ihnen und tat weiterhin das, was er am liebsten tat – Männer für die Schlacht ausbilden und dann Schlachten für sie finden. Damit erging es der Baronie – und Ivor – blendend. Seine
Taten waren Stoff für Legenden und seine Söldner sehr gefragt. Geld brauchte er nicht, denn man bot ihm mehr Aufträge an, als er überhaupt annehmen konnte, sodass er nur die wählte, die ihm passten. Auch wenn man ihm Stahl versprach, konnte ihn das nicht umstimmen. Wenn er eine Sache für unrechtmäßig hielt, schlug er selbst eine Summe aus, die für den Bau einer ganzen Burg gereicht hätte. Für manche aber, die nur mit dankbaren Segenswünschen zahlen konnten, ließ er sein Geld wie Wasser und sein eigenes Blut genauso großzügig fließen. Noch ein Grund, weshalb man ihn für verrückt hielt. Es gab noch einen dritten Grund. Ivor, Baron von Langbaum, verehrte einen alten Gott, einen Gott, der Krynn bekanntlich schon vor langer Zeit verlassen hatte. Dieser Gott war Kiri-Jolit, einst ein Gott der Ritter von Solamnia. Sir John von Langbaum hatte den Glauben an Kiri-Jolit nie aufgegeben. Der Ritter hatte seinen Glauben aus Solamnia mitgebracht, und er und seine Familie hatten diesen Glauben am Leben erhalten, ein heiliges Feuer im Herzen, ein Feuer, das man niemals erlöschen ließ. Ivor machte kein Geheimnis aus seinem Glauben, obwohl er deswegen oft verspottet wurde. Dann lachte er gutmütig und gab dem Witzbold – genauso gutmütig – einen Knuff an den Kopf. Anschließend las Ivor seinen Gegner wieder auf, klopfte ihn ab, und wenn dem Scherzbold nicht mehr die Ohren klingelten, riet er ihm, den Glauben anderer zu respektieren, wenn er ihn schon nicht selbst annehmen konnte. Seine Männer glaubten vielleicht nicht an Kiri-Jolit, aber sie glaubten an Ivor. Sie wussten, dass er ein Glückspilz war, denn sie hatten unzählige Male erlebt, dass er in der
Schlacht nur um Haaresbreite dem Tod entronnen war. Sie sahen, wie der Spinnerbaron offen zu Kiri-Jolit betete, bevor er in die Schlacht zog, obwohl er nie ein Zeichen bekam, dass der Gott seine Gebete beantwortete. »Ein General braucht nicht jedem einzelnen Soldaten seine Schlachtpläne zu erklären«, lachte der Spinnerbaron dann gern. »Deshalb glaube ich nicht, dass der unsterbliche General mir seine Pläne erläutern muss, hahaha!« Soldaten sind ein abergläubisches Volk. Jeder, der tagtäglich in Lebensgefahr gerät, neigt dazu, Glücksbringern zu vertrauen – Kaninchenpfoten, verzauberten Medaillons oder den Locken einer Dame. Mehr als einer flüsterte deshalb vor dem Angriff ein kurzes Gebet an Kiri-Jolit; mehr als einer trug ein Stück Bisonfell, wenn es ins Getümmel ging, denn der Bison war Kiri-Jolit heilig. Ob es half oder nicht, es konnte immerhin nichts schaden. Der Spinnerbaron war der Edelmann, von dem Caramon und Raistlin sich anwerben lassen wollten. Caramon hatte einen kleinen Lederbeutel dabei, den er direkt auf der Haut trug und der das kostbare Empfehlungsschreiben von Antimodes an Baron Ivor von Langbaum enthielt. Für die Brüder war der Brief wertvoller als Stahl, stand er doch für ihre Hoffnungen und Pläne. Dieser Brief war ihre Zukunft. Antimodes hatte ihnen nicht viel über Ivor von Langbaum erzählt (zum Beispiel hatte er seinen Spitznamen verschwiegen, weil er glaubte, sie fanden ihn vielleicht beunruhigend). Die Zwillinge waren daher erheblich irritiert, als sie von ihrem Schiff an Land gingen und nach dem Weg zur Baronie von Ivor von Langbaum fragten. Sie ernteten breites Grinsen und Kopfschütteln und wissende Blicke und Aussagen wie: »Ah, schon wieder zwei Verrückte, die
sich dem Spinnerbaron anschließen wollen.« »Das gefällt mir nicht, Caramon«, sagte Raistlin eines Abends, etwa zwei Tagesreisen vor der Burg des Barons, wo der Spinnerbaron – einem Bauern zufolge – »den dicken Max machte«. »Ich glaube kaum, dass der Mann es so gemeint hat, Raist«, widersprach Caramon. »Ich glaube, er meinte ›Strammer Max‹. Dieses Gericht aus Eiern und Schinken – « »Ich weiß schon, was er meinte!«, unterbrach ihn Raistlin ungeduldig. Er machte eine Pause, um sich ganz auf das Kaninchen zu konzentrieren, das im Suppentopf schmorte. »Und davon wollte ich überhaupt nicht reden. Was mir nicht gefällt, ist das Augenzwinkern und die Rippenstöße, sobald wir Ivor von Langbaum erwähnen. Was hast du denn in der Stadt so gehört?« Raistlin betrat Städte nur ungern, weil er dort die Blicke auf sich zog. Man gaffte, flüsterte, zeigte mit den Fingern auf ihn, die Kinder rannten ihm nach, und die Hunde bellten ihn an. Die Zwillinge waren dazu übergegangen, außerhalb der Dörfer zu lagern, wo Raistlin sich entweder von der täglichen Reise erholen konnte oder die Felder und Wälder durchstreifte, immer auf der Suche nach Kräutern, die er zum Zaubern, zum Heilen oder zum Kochen brauchte. Caramon ging dann in die Stadt, wo er Neuigkeiten erfuhr, Vorräte kaufte und überprüfte, ob sie in die richtige Richtung zogen. Anfangs ließ Caramon seinen Bruder nur ungern allein, aber Raistlin versicherte ihm, dass er kaum in Gefahr wäre, und das stimmte. Mehr als ein Wegelagerer, der die Sonne auf Raistlins goldener Haut und das Glitzern der Kristallkugel auf dem Zauberstab gesehen hatte, war davonge-
schlichen, um sein Glück anderswo zu versuchen. Die Zwillinge waren regelrecht enttäuscht, dass sie während der langen Reise keinerlei Möglichkeit erhalten hatten, ihre neu erworbenen, kriegerischen Fähigkeiten auszuprobieren. Caramon schnupperte hungrig an dem Kaninchen. Da die Zwillinge wenig Geld hatten, konnten sie sich nur eine Mahlzeit am Tag leisten, und diese eine mussten sie sich selbst fangen. »Ist es noch nicht gar? Ich bin am Verhungern. Ich finde, es sieht gar aus.« »Du fändest auch einen Hasen gar, der sich auf einem Stein sonnt«, gab Raistlin zurück. »Die Kartoffeln und die Zwiebeln sind nicht annähernd durch, und das Fleisch braucht noch mindestens eine halbe Stunde.« Seufzend versuchte Caramon, sein Magenknurren zu vergessen, indem er die Frage seines Bruders beantwortete. »Es ist schon merkwürdig«, gab er zu. »Sobald ich nach Ivor von Langbaum frage, fangen alle an zu lachen und machen Scherze über den Spinnerbaron, aber sie meinen es nicht so, wenn du verstehst, was ich meine.« »Nein, tue ich nicht«, sagte Raistlin finster. Er hielt wenig von den Beobachtungskünsten seines Bruders. »Die Männer lächeln, und die Frauen seufzen und sagen, er wäre schon ein feiner Herr. Und wenn er wirklich spinnt, dann könnten andere Teile von Ansalon, die wir gesehen haben, solche Spinnerei vertragen. Die Straßen hier sind gepflegt, die Leute haben genug zu essen, ihre Häuser sind ordentlich gebaut und instand gesetzt. Keine Bettler auf den Straßen. Keine Räuber an den Landstraßen. Bestellte Felder. Also, ich habe mir gedacht – « »Du! Gedacht!«, schnaubte Raistlin.
Caramon hörte nicht hin. Er konzentrierte sich auf den Topf, damit das Kaninchen schneller gar wurde. » Was hast du gedacht?«, erkundigte sich Raistlin schließlich. »Hm? Weiß nicht. Mal sehen… Ach ja, jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich dachte, dass sie diesen Ivor vielleicht in derselben Weise den Spinnerbaron nennen, wie wir die irre Meggin ›irre Meggin‹ nannten. Ich meine, ich habe die Frau immer für durchgedreht gehalten, aber du sagtest immer, das wäre sie gar nicht, sie würde nur verleumdet.« Raistlin starrte auf die Straße hinaus, wo unablässig junge und alte Leute zu Fuß oder zu Pferd nach Burg Langbaum zogen, wo der Baron seine Kasernen hatte. Viele dieser Männer waren offenbar Veteranen, zum Beispiel die beiden, die Raistlin gerade beobachtete. Beide trugen ein Kettenhemd über einer Ledertunika, die unten mit Lederstreifen besetzt war, die einen kurzen Rock bildeten. An ihren Hüften klirrten Schwerter. Arme, Gesicht und die unter der Tunika nackten Beine waren von großen, hässlichen Schwielen überzogen. Die beiden Veteranen hatten anscheinend einen Freund getroffen, denn die drei Männer fielen sich in die Arme und klopften einander auf den Rücken. Caramon seufzte sehnsüchtig. »Sieh dir diese Narben an! Eines Tages – « »Schsch!«, befahl Raistlin unwirsch. »Ich will zuhören, was sie sagen.« Er schlug seine Kapuze zurück, um besser hören zu können. »Sieht so aus, als hättest du den Winter gut überstanden«, sagte einer der Männer mit einem Blick auf den dicken Bauch seines Freundes.
»Zu gut!«, stöhnte der andere. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl die Sonne bereits unterging und die Luft sich abkühlte. »Nach Marrias Kochkunst und dem Bier im Wirtshaus«, düster schüttelte er den Kopf, »ist dann auch noch meine Kettenrüstung eingelaufen – « »Eingelaufen!« Seine Freunde johlten. »Doch, ehrlich«, meinte der andere bekümmert. »Ihr wisst doch noch, wie ich bei der Belagerung von Munston im strömenden Regen Wachdienst hatte. Seitdem zwickt mich die verdammte Kettenrüstung. Mein Schwager ist Schmied, und der sagt, er hätte schon viele Kettenhemden bei Nässe einlaufen sehen. Was glaubt ihr, wieso ein Schmied seine Schwerter in Wasser taucht, wenn er sie schmiedet, könnt ihr mir das beantworten?« Er funkelte seine Kameraden an. »Damit das Metall sich zusammenzieht, darum!« »Aha«, sagte einer der Männer und zwinkerte dem anderen zu. »Und ich wette, er hat dir auch geraten, die alte Kettenrüstung wegzuwerfen und eine ganz neue zu bestellen.« »Ja, sicher«, bestätigte der rundliche Soldat. »Ich konnte mich doch nicht mit einer eingeschrumpften Kettenrüstung beim Spinnerbaron einschreiben.« »Nein, nein!«, grinsten seine Freunde und verdrehten die Augen. »Außerdem«, ergänzte der andere, »hatte sie Mottenlöcher.« »Mottenlöcher!« Sein Freund platzte fast vor unterdrücktem Gelächter. »Mottenlöcher in deiner Rüstung?« »Eisenmotten«, bestätigte der Soldat würdevoll. »Als ich in meiner Rüstung Löcher entdeckte, dachte ich, sie stammten von kaputten Gliedern, aber mein Schwager sagte, nein,
die Glieder wären in Ordnung. Es gibt eben auch Motten, die Eisen fressen…« Das war zu viel. Einer der Männer ließ sich auf die Straße fallen und wischte sich die tränenden Augen. Der andere lehnte fassungslos an einem Baum. »Eisenmotten«, murmelte Caramon tief beeindruckt. Er warf einen besorgten Blick auf seine eigene brandneue, glänzende Kettenrüstung, die er vor dem Aufbruch in Haven erstanden hatte und auf die er ungeheuer stolz war. »Raist, guckst du bitte mal nach? Sind da vielleicht auch – « »Still!« Raistlin warf seinem Bruder einen wütenden Blick zu, und Caramon gab kleinlaut Ruhe. »Ach, keine Bange«, tröstete einer der Männer seinen untersetzten Freund und schlug ihm auf die Schulter. »Meister Quesnelle wird schon dafür sorgen, dass du dir den Speck abläufst.« »Als wenn ich das nicht wüsste!« Der Mann seufzte tief. »Was gibt’s denn diesen Sommer für uns? Sind schon Aufträge da? Habt ihr was gehört?« »Nee.« Der eine Mann zuckte mit den Schultern. »Wen kümmert’s schon? Der Spinnerbaron wählt seine Kämpfe gut aus. Solange die Bezahlung stimmt.« »Und die stimmt«, sagte ein anderer. »Fünf Stahlstücke pro Woche und Mann.« Caramon und Raistlin wechselten einen Blick. »Fünf Stahlstücke!« Caramon war beeindruckt. »Das ist mehr, als ich durch monatelange Arbeit auf dem Hof verdiene.« »Allmählich glaube ich, du hast Recht, mein Bruder«, meinte Raistlin leise. »Wenn dieser Baron verrückt ist, dann sollte es mehr solcher Spinner geben.«
Raistlin betrachtete weiterhin die Veteranen. Sie hatten die ganze Zeit auf der Straße gestanden, gelacht und den neuesten Klatsch ausgetauscht. Irgendwann verfielen sie in Gleichschritt – die Macht der Gewohnheit – und marschierten die Straße hinunter. Diese Männer schliefen nicht im Freien, überlegte Raistlin. Sie aßen keine mageren Kaninchen und gekeimte Kartoffeln, die die Zwillinge einer Bäuerin für ihr letztes Geld abgekauft hatten. Diese Männer hatten Stahl im Beutel und würden die Nacht gemütlich im Wirtshaus verbringen. »Raist… können wir jetzt essen?«, erkundigte sich Caramon. »Wenn du nichts gegen halbrohes Kaninchen hast, von mir aus. Halt! Nimm den – « »Autsch!« Caramon zog schnell seine verbrannten Finger zurück und steckte sie in den Mund. »Heiß«, murrte er, während er an ihnen sog. »Das ist eine der Eigenschaften von kochendem Wasser«, stellte Raistlin bissig fest. »Hier! Nimm den Löffel! Nein, ich will kein Fleisch. Nur etwas Brühe und Kartoffeln. Und wenn du fertig bist, machst du mir meinen Tee.« »Sicher, Raist«, sagte Caramon, nachdem er fertig gekaut hatte. »Aber du solltest auch Fleisch nehmen. Du musst bei Kräften bleiben. Die brauchst du, wenn es zum Kampf kommt.« »An körperlichen Auseinandersetzungen werde ich nicht teilnehmen, Caramon.« Raistlin bedachte seinen unwissenden Bruder mit einem verächtlichen Lächeln. »Nach allem, was ich gelesen habe, bleibt ein Kriegszauberer an der Seite und hält sich ein ganzes Stück vom Kampf entfernt. Außerdem ist er von schützenden Soldaten umgeben. Da-
durch kann er seine Sprüche relativ sicher anwenden. Ein Zauberer kann es sich nicht leisten, abgelenkt zu werden, dazu muss man sich zum Zaubern zu sehr konzentrieren.« »Ich werde schon auf dich aufpassen, Raist«, versicherte Caramon, als er wieder sprechen konnte, nachdem er kurzfristig durch eine Kartoffel, die er sich ganz in den Mund gesteckt hatte, sprechunfähig gewesen war. Raistlin seufzte und dachte an die Zeit zurück, als er mit Lungenentzündung im Bett gelegen hatte. Er erinnerte sich daran, wie sein Zwillingsbruder nachts auf Zehenspitzen ins Zimmer geschlichen war und Raistlin die Decken um die Schultern gelegt hatte. Mitunter hatte Raistlin zitternd vor Schüttelfrost dagelegen und war über diese Aufmerksamkeit sehr froh gewesen. Aber es hatte auch andere Zeiten gegeben, zu denen das Fieber so hoch war, dass Raistlin glaubte, er müsse unter den Decken ersticken. Die Erinnerung an seine Krankheit brachte ihn zum Husten. Er hustete, bis ihm die Rippen schmerzten und Tränen in seinen Augen standen. Caramon war zutiefst besorgt und beobachtete ihn ängstlich. Raistlin warf seine Schale mit der Brühe, die er nicht angerührt hatte, beiseite und wickelte sich zitternd in seinen Mantel. »Mein Tee!«, krächzte er. Caramon sprang auf, verschüttete dabei den Rest seines Essens auf dem Boden, weil seine Holzschale umfiel, und beeilte sich, den gleichermaßen unangenehm riechenden wie schmeckenden Kräutertee zuzubereiten, der den Husten seines Bruders dämpfte, seinen Hals beruhigte und die unablässigen Schmerzen linderte. In seine Decke gehüllt, schloss Raistlin die Hände um den Holzbecher mit seinem Tee und schlürfte ihn langsam.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun, Raist?« wollte Caramon mit besorgtem Blick auf seinen Bruder wissen. »Mach dich nützlich«, befahl Raistlin ungehalten. »Du gehst mir furchtbar auf die Nerven! Lass mich in Frieden, damit ich mich ausruhen kann!« »Sicher, Raist«, murmelte Caramon. »Ich… ich wasch einfach das Geschirr ab…« »Gut!«, sagte Raistlin tonlos. Er schloss die Augen. Caramons Schritte dröhnten um ihn herum. Der Suppentopf und die Holzschüsseln klapperten. Nasses Holz, das aufs Feuer geworfen wurde, zischte und knackte. Raistlin legte sich hin und zog sich die Decke über den Kopf, während Caramon sich große Mühe gab, leise zu sein. Caramon ist wie dieser Tee, sann Raistlin, während er in den Schlaf glitt. Meine Gefühle ihm gegenüber sind mit Schuld durchmischt und von Eifersucht überschattet. Der Geschmack ist bitter, er ist schwer zu schlucken. Aber wenn es geschafft ist, wird mein Körper von einer angenehmen Wärme durchflutet, der Schmerz lässt nach, und ich kann schlafen – in der sicheren Gewissheit, dass er neben mir in der Nacht liegt und auf mich Acht gibt.
10. Kapitel Die Stadt Langbaum war um die Burg des Barons herum entstanden, welche den Bewohnern der Stadt Schutz und anfangs auch einen Absatzmarkt für Waren und Dienstleistungen bot. Inzwischen war die Stadt wohlhabend. Ihre kleine, aber gut gedeihende Bevölkerung produzierte nicht nur für die Burg und deren Bewohner, sondern auch für den eigenen Bedarf. Aufregung lag in der Luft, denn die Frühlingsmusterungen standen an, und die Stadt bevölkerte sich durch die Rückkehr der Veteranen und die Ankunft neuer Freiwilliger. Den Winter über, wenn kalte Winde von den fernen Bergen heranwehten und Schnee und Eis brachten, war Langbaum ein friedlicher Ort. Ein friedliches Städtchen, aber nicht verschlafen. Der Schmied und seine Gehilfen verbrachten die Wintertage mit harter Arbeit an der Esse, wo sie Schwerter und Dolche, Kettenrüstungen und Plattenpanzer, Sporen, Wagenräder und Hufeisen herstellten, die sehr gefragt sein würden, wenn die Soldaten im Frühling zurückkamen. Die Bauern, die vor lauter Schnee ihre Felder nicht mehr sahen, wandten sich ihrem Nebenberuf zu. Der Winter war die Zeit für feine Lederarbeiten, und die Hände, die im Sommer die Hacke schwangen, nähten jetzt Gürtel, Handschuhe und Tuniken und gestalteten Scheiden für Schwerter und Messer. Die meisten waren schlicht und zweckdienlich, aber manche erhielten besondere, handgefertigte Muster, die einen hohen Preis einbringen würden. Die Bauersfrauen legten Eier und Schweinsfüße ein, kochten Marmelade und Pudding und füllten Honigwaben in Glä-
ser, die sie auf dem Markt verkauften. Die Müller mahlten Mehl für das Brot, die Weber arbeiteten an ihren Webstühlen, wo sie Stoffe für Decken, Mäntel und Hemden herstellten, die alle mit dem Bison bestickt wurden, dem Wappen des Barons. Die Besitzer der Schenken und Gasthäuser verbrachten den eintönigen Winter mit Putzen und Renovieren. Sie lagerten Bier, Wein und Met ein, brauten Likör und holten Schlaf nach, der immer zu kurz kam, wenn die Soldaten in die Stadt kamen. Juweliere, Gold- und Silberschmiede fertigten Kleinodien an, die den Soldaten den Stahl aus der Tasche ziehen sollten. Jeder in der Stadt freute sich auf die Musterung im Frühling und auf den Sommer, die Zeit der Feldzüge. Während dieser hektischen, aufgeregten Zeit verdienten sie genug, um davon den Rest des Jahres leben zu können. Caramon und Raistlin hatten den Erntedankmarkt in Haven besucht – eine Menschenansammlung, die beide beeindruckend gefunden hatten. Aber auf etwas wie die Frühlingsmusterung von Langbaum waren sie nicht vorbereitet. Die Bevölkerung vervierfachte sich. Es wimmelte vor Soldaten, die gutmütig auf der Straße miteinander rangelten, mit ihrem Gelächter und ihrem Gesang die Dächer der Tavernen abheben ließen und sich in Scharen durch die Straße der Schwerter schoben, wo sie die Schmiede plagten, die Schankmädchen neckten, mit den Verkäufern handelten oder die Kender verfluchten, die überall waren, wo sie nicht hingehörten. Die Wachen des Barons patrouillierten durch die Straßen und hatten ein wachsames Auge auf die Soldaten. Wenn es Ärger gab, konnten sie jederzeit eingreifen, doch es gab nur
selten Ärger. Der Baron hatte stets mehr Freiwillige, als er brauchte. Jeder, der sich daneben benahm, konnte gleich wieder gehen. So gaben die Soldaten aufeinander Acht, ließen betrunkene Kameraden durch die Hintertür verschwinden, brachen Kämpfe ab, bevor sie auf der Straße landeten, und sorgten dafür, dass die Schenkenbesitzer gut entschädigt wurden, wenn etwas zerbrach. An jeder Straßenecke trafen sich Freunde wieder. Es gab viel Gelächter, man tauschte Erinnerungen aus, und ein gelegentliches, trauriges Kopfschütteln war dem einen oder anderen zugedacht, der »seinen Lohn gegessen« hatte. Die Zwillinge fanden bald heraus, dass er dann nicht Stahlmünzen zum Frühstück heruntergeschlungen hatte, sondern dass man ihm eine Klinge in den Leib gestoßen hatte. Die Sprache der Söldner war ein Mischmasch aus der Gemeinsprache, ihrem eigenen Jargon, etwas Solamnisch (mit einem furchtbaren Akzent, den ein echter Bewohner von Solamnia kaum erkannt hätte), etwas Zwergisch – besonders im Zusammenhang mit Waffen – und sogar ein wenig Elfisch, wenn es ums Bogenschießen ging. Die Zwillinge verstanden nur jedes fünfte Wort, und was sie verstanden, ergab wenig Sinn. Die Zwillinge hatten gehofft, die Stadt unbemerkt betreten zu können, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Das sollte schwierig werden. Caramon überragte die meisten Bewohner von Langbaum um Kopf und Schultern, und Raistlins rote Roben waren zwar schmutzig von der Reise, ließen ihn aus der nüchterner gekleideten Menge jedoch hervorstechen wie einen Papagei. Caramon war sehr stolz auf seine glänzende, neue Kettenrüstung, das neue Schwert und die neue Scheide. Er
stellte sie gern zur Schau, besonders wenn er bewundernde Blicke zu ernten glaubte. Jetzt stellte er zu seinem tiefen Verdruss fest, dass gerade diese Neuheit, auf die er so stolz gewesen war, ihn als Grünschnabel auswies. Neiderfüllt betrachtete er die abgetragenen Kettenrüstungen, in denen sich die Veteranen mit einer solchen Selbstverständlichkeit bewegten, und er hätte sieben Schwerter wie seines gegen eines mit einer schartigen Klinge eingetauscht, die von vielen harten Kämpfen zeugte. Obwohl er die meisten Kommentare, die in seine Richtung zielten, nicht recht verstand – viele hatten mit »Füchse« zu tun, was er überhaupt nicht begreifen konnte –, merkte auch der gelegentlich begriffsstutzige Caramon, dass diese Bemerkungen nicht als Kompliment gemeint waren. Wäre es auf seine Kosten gegangen, so hätte ihm dies wenig ausgemacht – Caramon war an Neckereien gewöhnt und nahm sie gutmütig hin –, doch was sie über seinen Zwillingsbruder sagten, regte ihn auf. Raistlin seinerseits war daran gewöhnt, dass ihm Misstrauen und Ablehnung entgegenschlugen – noch immer traute man den Zauberern nicht über den Weg. Doch bisher hatte man ihn wenigstens mit Respekt behandelt. Nicht so in Langbaum. Die Soldaten schienen seine Berufung ebenso wenig zu mögen wie jeder andere, hatten aber keine Spur von Respekt vor ihm. Den höhnischen Bemerkungen zufolge, mit denen sie ihn bedachten, hatten sie jedenfalls keine Angst vor ihm. »He, du kleiner Hexer, was hast du denn unter deinen heißen, roten Roben?«, rief ein grauhaariger Soldat. »Nicht viel, wie es aussieht!« »Der kleine Hexer hat seiner Mama die Kleider geklaut.
Vielleicht zahlt sie was dafür, wenn sie sie zurückkriegt!« »Für die Kleider vielleicht. Für ihn nicht!« »He, pass auf, Kumpel. Du machst den kleinen Hexer noch sauer. Er wird dich in einen Frosch verwandeln!« »Nein, in ein Mondkalb. Das ist nämlich dem großen Kerl neben ihm passiert.« Die Soldaten brüllten vor Lachen. Caramon warf einen unsicheren Blick auf seinen Bruder. Raistlins Gesicht hatte einen harten, finsteren Ausdruck angenommen. Seine goldene Haut bekam einen rötlichen Glanz, als ihm das Blut in den Kopf schoss. »Willst du, dass ich ihnen eine Tracht Prügel verpasse, Raist?«, fragte Caramon gedämpft und starrte die Lacher an. »Geh weiter, Caramon«, mahnte Raistlin. »Geh weiter und beachte sie nicht weiter.« »Aber, Raist, sie haben gesagt – « »Ich weiß, was sie gesagt haben!«, fuhr Raistlin ihn an. »Sie versuchen, uns zu einer Prügelei zu verleiten. Dann sind wir es, die Ärger mit den Wachen des Barons bekommen.« »Hm, vermutlich hast du Recht«, räumte Caramon unglücklich ein. Jetzt hörten sie keine Frechheiten mehr, denn die Soldaten hatten ein anderes Opfer gefunden. Aber es kamen mehr Soldaten auf die Straßen. Da sie gut aufgelegt waren, wollten sie ihren Spaß haben, und die jungen Männer waren eine gute Zielscheibe. An jeder Straßenecke mussten sie Beleidigungen und abfällige Bemerkungen erdulden. »Vielleicht sollten wir diese Stadt verlassen, Raist«, schlug Caramon vor. Stolz und aufgeregt hatte er die Stadt betreten. Jetzt ließ er niedergeschmettert Kopf und Schul-
tern hängen und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. »Hier will uns niemand.« »Wir sind doch nicht so weit gereist, um aufzugeben, noch bevor wir angefangen haben«, gab Raistlin mit mehr Zuversicht zurück, als er fühlte. »Sieh mal, mein Bruder«, ergänzte er leise. »Wir sind nicht die einzigen.« Auf der anderen Seite der Straße lief ein junger Mann zwischen fünfzehn und zwanzig. Feuerrote, lange Haare fielen ihm bis über die Schultern. Seine Kleider waren geflickt und zu klein für ihn. Er war aus ihnen herausgewachsen, konnte sich jedoch wahrscheinlich keine neuen leisten. Als er sich den Zwillingen näherte, musterte er Raistlin mit offenkundiger Neugier. Aus einer Schenke kam ein Soldat, dessen Gesicht vom Trinken gerötet war. Die langen, roten Haare waren eine zu große Versuchung. Der Soldat griff zu, erwischte eine dicke Strähne und drehte sie herum, sodass der junge Mann nach hinten gerissen wurde. Der Junge schrie auf und langte sich an den Kopf. Es musste ihm vorkommen, als ob ihm die Haare ausgerissen würden. »Was haben wir denn da?«, gluckste der Soldat. Eine Wildkatze, lautete die Antwort. Mit bewundernswerter Beweglichkeit fuhr der junge Mann herum und ging spuckend, kratzend und tretend auf seinen Peiniger los. Der Angriff kam so wild und so plötzlich, so völlig unerwartet, dass der Junge den Soldaten viermal ins Gesicht geschlagen und zweimal getreten hatte – einmal vors Schienbein und einmal gegen das Knie –, bevor der Mann überhaupt begriff, wie ihm geschah. »Seht euch das an!« Seine betrunkenen Begleiter johlten.
»Rogar wird von einem Baby verhauen!« Der Soldat, dem das Blut aus der gebrochenen Nase tropfte, verpasste dem Jungen wütend einen Kinnhaken, der diesen der Länge nach im Rinnstein landen ließ. Rittlings über seinem Opfer stehend, schnappte sich der zornige Soldat das Hemd des Jungen, das er dabei zerriss, und zerrte den benommenen, blutenden Burschen hoch. Der Soldat erhob seine grobe Faust – der nächste Schlag würde den jungen Mann womöglich umbringen. »Das gefällt mir nicht, Raist«, meinte Caramon entschlossen. »Ich finde, wir sollten etwas unternehmen.« »Diesmal bin ich deiner Meinung, mein Bruder.« Raistlin öffnete bereits einen der kleinen Beutel, die an seinem Gürtel hingen, Beutel mit seinen Zauberzutaten. »Du nimmst dir den Grobian vor. Ich kümmere mich um seine Freunde.« Rogar hatte nur Augen für sein Opfer, seine Freunde nur Augen für das Schauspiel. Der Soldat sah Caramon nicht, der hinter ihm auftauchte, bis sein großer Schatten wie eine Gewitterwolke über ihn fiel und seine Faust den Soldaten traf wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Mit dem Gesicht nach unten fiel der Soldat in die Gosse. Später würde er mit klingelnden Ohren erwachen und schwören, dass ihn der Blitz getroffen hätte. Rogars Freunde lachten noch aus vollem Hals. Raistlin warf ihnen eine Hand voll Sand ins Gesicht und sprach die Worte seines Zauberspruches. Die Soldaten sackten auf der Straße zusammen und blieben laut schnarchend liegen. »Eine Schlägerei!«, kreischte ein Schankmädchen, das sein Tablett voller Krüge, mit dem es zur Wirtshaustür gekommen war, klirrend fallen ließ.
Drinnen sprangen Soldaten auf und drängten alle gleichzeitig zur Tür, um ja die Ersten im Getümmel zu sein. Hinten auf der Straße wurde gepfiffen und geschrien, und jemand brüllte, die Wache käme. »Weg hier!«, rief Raistlin seinem Bruder zu. »Ach, komm schon, Raist! Mit den Mistkerlen werden wir doch fertig!« Caramons Gesicht war vor Vergnügen rot angelaufen. Er hätte gern alle Neuankömmlinge mit geballten Fäusten in Empfang genommen. »Ich sagte, wir verschwinden, Caramon!« Wenn Raistlin diesen Ton anschlug, scharf und kalt wie ein Eisklotz, wusste Caramon, dass er zu gehorchen hatte. Er griff nach dem jungen Mann, der taumelnd aufgestanden war, und warf ihn sich über die Schulter, als wäre er ein Sack Kartoffeln. Raistlin hetzte mit flatternden Roben die Straße hinunter, wobei er den Stab des Magus umklammerte. Er konnte hören, wie Caramon hinter ihm her trampelte und ein paar betrunkene Soldaten die Verfolgung aufnahmen. »Hier entlang!«, schrie er, bog abrupt nach rechts ab und hetzte in eine düstere Seitengasse. Caramon folgte ihm. Die Gasse führte zu einer anderen, belebten Straße, doch Raistlin hielt auf halbem Weg vor einer Bretterwand an. Hier roch es deutlich nach Pferden und Heu. Raistlin warf den Stab des Magus über die Wand. Caramon hievte den jungen Mann hinterher. »Schieb mich hoch!«, befahl Raistlin, der die Hände ausstreckte, um sich an der Oberkante der Wand festzuhalten. Caramon fasste seinen Bruder mit beiden Händen und schob mit solchem Schwung, dass Raistlin danebengriff, über die Wand flog und kopfüber in einem Strohhaufen
landete. Dann zog Caramon sich selbst hoch und spähte nach drüben. »Alles klar, Raist?« »Ja! Ja! Mach schnell, sonst sehen sie dich!« Caramon stemmte sich hoch und kugelte ins Stroh. »Sie sind diese Gasse runter!«, schrie eine Stimme. Der Lärm kam auf sie zu. Die Brüder duckten sich tiefer ins Stroh. Raistlin legte einen Finger an die Lippen, damit alle still waren. Der junge Mann, den Caramon gerettet hatte, lag neben ihnen, japste leise und betrachtete die beiden mit glänzenden, dunklen Augen. Sie hörten, wie Stiefeltritte am Stall vorbeidonnerten. Ihre Verfolger eilten am Ende der Gasse auf die Straße, wo jemand brüllte, man hätte sie zum Tor laufen sehen. Raistlin entspannte sich. Wenn die Soldaten merken würden, dass sie ihre Beute verloren hatten, würden sie in einer anderen Taverne einkehren. Den Wachen war nur wichtig, dass wieder Ordnung herrschte; sie waren nicht auf Verhaftungen versessen und wollten ihre Zeit nicht damit verschwenden, die Teilnehmer einer Kneipenprügelei zu verfolgen. »Jetzt sind wir sicher«, wollte Raistlin sagen, doch da drang der trockene Heustaub in seinen Mund und brachte ihn zum Husten. Diesmal war es ein schlimmer Anfall, bei dem er sich vor Schmerzen zusammenkrümmte. Er war dankbar, dass der Anfall nicht während der Flucht gekommen war, und wunderte sich kurz, dass er so leicht hatte rennen können, ohne überhaupt über seine Krankheit nachzudenken. Sowohl Caramon als auch der junge Mann, den sie gerettet hatten, beobachteten Raistlin besorgt.
»Schon gut!«, keuchte Raistlin und streifte die beruhigende Hand seines Bruders ab. »Das ist nur das verdammte Stroh! Wo ist mein Stab?« wollte er plötzlich wissen. Er sah sich um, konnte ihn aber nicht finden. Namenloses Entsetzen schnürte ihm das Herz ab. »Hier ist er«, sagte der junge Mann, der sich verrenkte, um etwas unter sich hervorzuziehen. »Ich glaube, ich sitze darauf.« »Nicht berühren!«, schimpfte Raistlin halb erstickt, warf sich nach vorn und streckte die Hand aus. Erschrocken und mit großen Augen zuckte der junge Mann vor dem Magier zurück, als hätte er eine Schlange berührt, und nahm auch die Hand vom Stab. Erst als Raistlin den Stab sicher umklammert hielt, entspannte er sich wieder. »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe«, sagte er schroff, nachdem er sich geräuspert hatte. »Der Stab ist sehr wertvoll. Wir sollten von hier verschwinden, bevor jemand kommt. Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich kurz bei dem anderen. Der junge Mann warf einen Blick auf seine Arme und Beine und wackelte mit den Fingern und seinen nackten Zehen. »Nichts gebrochen. Nur eine aufgeplatzte Lippe. Mein Alter hat mich schon schlimmer zugerichtet«, fügte er fröhlich hinzu, während er das Blut abwischte. Caramon blinzelte vorne aus dem Pferdestall hinaus. In beide Richtungen erstreckte sich jeweils eine lange Reihe Boxen, und gegenüber war eine weitere. In etwa der Hälfte der Boxen standen Pferde, die schnaubten und scharrten und Heu fraßen. Gegenüber rieben ein großer Fuchs und ein Brauner freundschaftlich ihre Köpfe aneinander. Zwi-
schen den Dachsparren flogen Spatzen ein und aus, die hereinflitzten, um ein wenig Stroh zum Ausbessern ihrer Nester zu ergattern. »Keiner da«, meldete Caramon. »Ausgezeichnet. Caramon, zupf dir das Heu aus den Haaren.« Raistlin klopfte seine Roben ab, wobei ihn der junge Mann hilfsbereit unterstützte. Nach kurzer Begutachtung fand Raistlin ihren Zustand ganz passabel. Caramon sah sich noch einmal um, dann traten die drei aus der Box und marschierten den Gang entlang. »Ach, ich vermisse Nachthimmel«, seufzte Caramon. Der Anblick und der Geruch der Pferde erinnerten ihn an seinen Verlust. »Er war ein wunderbares Pferd.« »Wie ist er denn gestorben?«, fragte der junge Mann mitfühlend. »Ist er nicht«, erwiderte Raistlin. »Wir haben unsere Pferde verkauft, damit wir die Fahrt über das Neumeer bezahlen konnten. Ah«, fügte er laut hinzu, »danke, dass wir uns umsehen durften!« Ein Stallbursche in Lederhosen und einfachem Hemd führte zwei aufgezäumte, gesattelte Pferde aus ihren Unterständen. Im Hof warteten zwei gut gekleidete Männer. Der Stallknecht blieb wie angewurzelt stehen, als er das seltsame Dreiergespann entdeckte. »He, was zum – « »Wir haben nichts Passendes gefunden«, meinte Raistlin und winkte. »Trotzdem, vielen Dank. Caramon, gib dem Mann etwas für seine Mühe.« Höflich nickend ging Raistlin an dem Stallburschen vorbei, der sie mit offenem Mund anstarrte.
»Bitte sehr, guter Mann«, sagte Caramon, während er ihm eine ihrer kostbaren Münzen so beiläufig überreichte, als würde er jeden Tag Gold auf der Straße verstreuen. Die drei schlenderten aus dem Stall. Der Stallbursche warf einen misstrauischen Blick auf die Münze, und als er sie für echt befand, steckte er sie grinsend in die Tasche. »Kommt ruhig wieder!«, rief er laut. »Jederzeit!« »Das war unser Bett im Gasthaus«, meinte Caramon betrübt. »Ein fairer Preis, mein Bruder«, gab Raistlin zurück. »Besser als eine Nacht im Kerker des Barons.« Er warf einen verstohlenen Blick auf den jungen Mann, der neben ihnen herging. Raistlins verfluchte Augen sahen den jungen Mann welken, altern und sterben. Aber als das Fleisch sich von seinen Knochen löste und die Haut sich spannte, entdeckte Raistlin interessante Merkmale am Gesicht des jungen Mannes. Ein schmales Gesicht, viel zu schmal und älter als der Junge, den Raistlin auf ungefähr fünfzehn geschätzt hatte. Er hatte einen dünnen Körper, einen merkwürdig proportionierten Körper. Der junge Mann war klein; er reichte Raistlin nur bis an die Schulter. Er hatte kräftige Handgelenke, aber feinknochige Hände, und seine bloßen Füße waren für seine Größe kurz geraten. Seine Kleider waren abgetragen und schlecht zusammengestellt, aber sie waren sauber – jedenfalls waren sie sauber gewesen, bevor er in der Gosse gelandet war und sich in einem Stall versteckt hatte. Jetzt, wo er darauf kam, fand Raistlin, dass sie alle deutlich nach Mist und Pferdeurin stanken. »Caramon«, verkündete Raistlin und blieb an der Tür einer einfachen Taverne stehen, »diese ungewohnte Anstren-
gung hat mich hungrig gemacht. Ich finde, wir essen erst einmal.« Caramon starrte seinen Bruder fassungslos an. Noch nie in ihren einundzwanzig Jahren hatte er seinen Zwillingsbruder – der nicht genug aß, um eine größere Grille am Leben zu erhalten – sagen hören, er hätte Hunger. Zugegeben, es war lange her, dass Caramon seinen Bruder so hatte rennen sehen. Eigentlich konnte er sich nicht daran erinnern, dass Raistlin je irgendwohin gerannt war. Er wollte seinem Staunen gerade Ausdruck verleihen, als er sah, wie Raistlin die Stirn runzelte, während er seine Augen zusammenkniff. Caramon wusste sofort, dass etwas los war, was er nicht verstand, und dass er nichts tun oder sagen durfte, was die Situation verschärfen könnte. »Äh, sicher, Raist«, schluckte Caramon und fügte matt hinzu, »sieht doch ganz gut aus hier.« »Tja, das war’s dann wohl. Danke für eure Hilfe«, wollte sich der junge Mann verabschieden. Er streckte ihnen seine schmale Hand entgegen, warf aber noch einen sehnsüchtigen Blick auf die Taverne. Es duftete nach frisch gebackenem Brot und Räucherfleisch. »Ich will mich hier der Armee anschließen. Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder.« Er schob die Hände in seine – leeren – Taschen und starrte seine Füße an. »Also, auf Wiedersehen. Danke noch mal.« »Wir sind auch hier, um uns der Armee des Barons anzuschließen«, sagte Raistlin. »Da wir hier alle fremd sind, könnten wir doch zusammen essen.« »Nein, danke, ich nicht«, wehrte der junge Mann ab. Er richtete sich auf und warf den Kopf zurück. Seine mageren
Wangen liefen vor Stolz rot an. »Du würdest meinem Bruder und mir einen großen Gefallen tun«, sagte Raistlin. »Wir sind lange unterwegs gewesen und hätten gern einmal andere Gesellschaft.« »Allerdings!«, rief Caramon begeistert. Ein wenig zu begeistert. »Raist und ich haben es wirklich satt, immer nur miteinander zu reden. Also, neulich – « »Das reicht, Bruder«, mahnte Raistlin kalt. »Komm schon.« Caramon legte dem jungen Mann den Arm um die Schultern, sodass er ihn praktisch verdeckte. »Mach dir keine Gedanken um das Geld. Du bist eingeladen.« »Nein, bitte, wirklich – « Der junge Mann blieb störrisch stehen. »Ich will keine Almosen…« »Das sind doch keine Almosen!«, erregte sich Caramon erschüttert. »Wir sind jetzt Waffenbrüder. Männer, die zusammen Blut vergossen haben, teilen alles. Wusstest du das nicht? Ist eine alte Tradition aus Solamnia. Wer weiß? Nächstes Mal haben vielleicht Raist und ich kein Geld mehr, dann kannst du uns einladen.« Der junge Mann wurde wieder rot, diesmal aus schüchterner Freude. »Meinst du das ernst? Sind wir wirklich Brüder?« »Sicher sind wir das. Komm, wir schwören. Wie heißt du?« »Tauscher«, sagte der junge Mann. »Komischer Name«, fand Caramon. »So heiße ich eben«, gab der junge Mann fröhlich zurück. »Also gut. Jedem das Seine.« Caramon zog sein Schwert und erhob es feierlich. Mit tiefer, ehrerbietiger Stimme sagte er: »Wir haben gemeinsam Blut vergossen. Nach solam-
nischer Tradition stehen wir uns näher als Brüder. Was du hast, ist mein. Was ich habe, ist dein.« »Das dürfte wahrer sein, als du weißt, Bruder«, befand Raistlin trocken, nachdem er Caramon am Ärmel gezupft hatte, als die beiden hinter Tauscher die Taverne betraten. »Falls du es nicht bemerkt haben solltest, unser neuer Freund hat Kenderblut in den Adern.«
11. Kapitel Die Taverne, die in einer Seitenstraße lag, nannte sich »Dicker Schinken«. Ihr Aushängeschild zeigte ein rosa Schwein mit entschuldigendem Augenaufschlag. Dem Geruch nach empfahl sich der »Dicke Schinken« nur durch eines, und das waren die niedrigen Preise auf einer Tafel, die im Fenster stand. Der »Dicke Schinken« lockte ärmere Gäste an als die florierenden Tavernen entlang der Hauptstraße. Hier saßen nur die Veteranen, die ihren Sold schon verpulvert hatten, und viele hoffnungsvolle Hungrige. Caramon musterte sicherheitshalber vor dem Eintreten die Gäste, sah aber niemanden, der ihm bekannt vorkam, und fand, dass die Luft rein wäre. An einem schmierigen Tisch nahmen die drei Platz. Caramon musste erst einen dritten Stuhl besorgen, indem er einen eingeschlafenen Trunkenbold auf den Boden legte. Die Kellnerinnen waren so beschäftigt, dass sie den Betrunkenen liegen ließen und entweder über ihn hinweg oder auf ihn traten. Ein Mädchen schob schwungvoll drei Teller Schinken mit Bohnen in ihre Richtung und verschwand, um Caramon und Tauscher zwei Glas Bier und Raistlin ein Glas Wein zu besorgen. »Meine Mutter war eine Kenderfrau«, erzählte Tauscher bereitwillig, während er weiße Bohnen, Schinken und Maisbrot in sich hineinschaufelte. »Oder wenigstens größtenteils Kender. Ich glaube, sie hatte ein wenig Menschenblut dabei, denn sie war wie ich, sah mehr aus wie ein Mensch als wie ein Kender. Ihr Menschenblut hatte aber wenig Einfluss auf sie. Sie war durch und durch Kender.
Sie hatte genauso wenig Ahnung, wie sie zu mir gekommen war, wie bei allen anderen Dingen in ihrem Leben. Das hat wirklich gut geschmeckt.« Bedauernd schob er seinen leeren Teller beiseite. Raistlin gab dem jungen Mann seinen noch vollen Teller. »Nein, danke.« Tauscher schüttelte den Kopf. »Nimm schon. Ich bin fertig«, beschwichtigte Raistlin. Er hatte nur drei Löffel voll gegessen. »Wäre doch Verschwendung.« »Na ja, wenn du sicher bist, dass du nichts mehr willst…« Tauscher ergriff den Teller, schob einen großen Löffel voll Bohnen in den Mund und kaute mit einem tief befriedigten Seufzer darauf herum. »Ich kann euch gar nicht sagen, wann ich zuletzt so gut gegessen habe!« Die Bohnen waren zerkocht, der Schinken ranzig und das Brot schimmlig. Raistlin warf seinem Bruder, der sein Essen mit ebenso viel Genuss verzehrte wie Tauscher, einen beredten Blick zu. Caramon hielt kurz vor dem Mund den Löffel an. Raistlin wies mit dem Kopf kurz auf den jungen Mann. Caramon war erschüttert. »Ja, aber, Raist…« Raistlins Augen wurden schmal. Caramon seufzte. »Bitte sehr«, sagte er und schob dem jungen Burschen seinen halbvollen Teller hin. »Ich habe am Mittag zu viel gegessen.« »Bist du sicher?« Unglücklich betrachtete Caramon den Teller. »Ja, ich bin sicher.« »Ui, danke!« Tauscher machte sich an seinen dritten Teller. »Wo waren wir stehen geblieben?« »Bei deiner Mutter«, half ihm Raistlin auf die Sprünge,
während er an seinem Wein nippte. »Ach ja. Mutter hatte irgendwelche vagen Erinnerungen an einen Mann, der mal nett zu ihr war, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wo und wann das war und wie er hieß. Sie wusste gar nicht, dass ich kam, bis ich eines Tages einfach rausschlüpfte. In ihrem ganzen Leben ist sie nicht so überrascht gewesen. Aber sie fand es sehr lustig, ein Baby zu haben, und nahm mich einfach mit. Nur manchmal vergaß sie mich und ließ mich liegen, aber immer hat mich jemand gefunden und ist ihr nachgelaufen, um mich zurückzugeben. Sie freute sich, wenn sie mich wiederhatte, obwohl ich glaube, dass sie manchmal nicht mehr genau wusste, wer ich war. Als ich älter wurde, kam ich selbst zurück, das hat gut geklappt. Dann ließ sie mich eines Tages, als ich ungefähr acht war, mal vor einem Kräuterladen auf sie warten. Sie hatte vor, dem Kräutermann ein paar Champignons zu verkaufen, die wir gefunden hatten. Wir waren an jenem Tag weit gelaufen. Vor dem Laden war es warm und sonnig, und so döste ich ein. Dann bekam ich nur noch mit, wie Mutter aus dem Laden gelaufen kam und der Ladenbesitzer herumschrie, das wären keine Champignons, sondern Knollenblätterpilze, und dass sie ihn vergiften wollte. Ich habe versucht, sie einzuholen, aber Mutter hatte zuviel Vorsprung, und ich verlor sie aus den Augen. Der Kräutermann gab die Verfolgung auf und kam fluchend zurück, denn anscheinend hatte sich Mutter bei dem Handel mit einem Glas Zimtstangen davongemacht. Ich wollte ihr nachlaufen, aber als der Besitzer mich sah, wurde er so wütend, dass er mich niederschlug. Ich stieß mit dem Kopf an eine Schwelle, und als ich aufwachte, war es Nacht und
Mutter längst weg. Ich habe die ganze Straße abgesucht, aber ich fand sie nicht wieder.« »Wie traurig«, bemerkte Caramon mitfühlend. »Wir haben unsere Mutter auch verloren.« »Wirklich?« Tauscher wirkte interessiert. »Hat sie euch verlassen?« »Sozusagen«, bestätigte Raistlin mit einem verärgerten Blick auf seinen Zwillingsbruder. »Du hast deinen Alten erwähnt«, fügte er hinzu, um das Thema zu wechseln, bevor Caramon noch mehr sagen konnte. »Hast du demnach deinen Vater gefunden?« »Oh, nein.« Tauscher schob den dritten, leeren Teller weg. Nachdem er sich zurückgelehnt hatte, gab er einen zufriedenen Rülpser von sich. »Er wollte, dass wir ihn Papa nennen. Er war ein Müller, der Straßenkinder aufnahm und für sich arbeiten ließ. Er sagte, es wäre billiger, uns zu ernähren, als jemandem Lohn zu zahlen. Ich hatte keine Lust mehr, herumzustreifen, und bei ihm bekam ich wenigstens einmal am Tag eine anständige Mahlzeit, darum blieb ich.« »War er gemein zu dir?«, erkundigte sich Caramon stirnrunzelnd. Tauscher dachte nach. »Nein, eigentlich nicht. Manchmal hat er mich geschlagen, aber ich schätze, das hatte ich verdient. Und er hat dafür gesorgt, dass ich die Gemeinsprache lesen und schreiben kann, denn er sagte, dumme Kinder rückten ihn vor der Kundschaft in ein schlechtes Licht. Ich bin bei ihm geblieben, bis ich neunzehn war. Ich hätte für immer bleiben können. Er wollte mich in seinem Laden zum Aufseher machen. Aber dann kam eines Tages ein wirklich eigentümliches Gefühl. Mir juckten die Füße, und ich konnte nicht mehr
stillsitzen, und dann begann ich von der Straße zu träumen.« Tauscher lächelte und starrte an ihnen vorbei aus dem Fenster. »Dieser Straße. Da draußen. Ich sah, wie sie sich vor mir erstreckte, und am Ende sah ich hohe Berge mit schneebedeckten Gipfeln und grünen Tälern voller Wiesenblumen und schwarzen, unheimlichen Wäldern. Ich sah Städte mit hohen Mauern und Burgen, die in der Sonne leuchteten, und endlose Meere mit Schaumkronen auf den Wellen. Die Träume waren wundervoll, und wenn ich aufwachte und merkte, dass ich von vier Wänden umgeben war, war ich so traurig, dass ich beinahe geweint hätte. Dann kam eines Tages ein neuer Kunde. Er war ein sehr reicher Mann, der mehrere Höfe am Ort aufgekauft hatte und uns sein Korn anbieten wollte. Ich unterhielt mich mit ihm und fand heraus, dass er Soldat gewesen war, ein Söldner. Auf diese Weise hatte er sein Geld verdient. Er erzählte mir aufregende Geschichten von seinen vielen Abenteuern, und da entschied ich mich. Ich sagte, wenn er jemanden wüsste, der Soldaten brauchte, solle er mir Bescheid sagen. Das hat er auch versprochen, und er war es auch, der mir vom Spinnerbaron erzählt hat. Der Baron sei ein ausgezeichneter Feldherr, sagte er mir, und ein guter Soldat, und ich könne es schlimmer treffen. Also verließ ich die Mühle und brach auf. Das war letzten Herbst. Ich bin seit sechs Monaten unterwegs.« »Sechs Monate! Wo kommst du denn her?«, fragte Caramon verblüfft. »Südergod«, erzählte Tauscher bereitwillig. »Die Reise war lustig, jedenfalls die meiste Zeit. Für die Überfahrt über das Neumeer habe ich auf dem Schiff mitgearbeitet, bin bei Pax Tarkas an Land gegangen und von dort aus gelau-
fen.« »Du hast gesagt, du bist neunzehn?«, wunderte sich Raistlin. »Damit wärst du fast so alt wie wir.« Er nickte zu seinem Bruder hin. »So ungefähr«, sagte Tauscher. »Mutter hatte keine Ahnung, wann ich geboren bin. Eines Tages fragte ich sie, wie alt ich sei. Mutter fragte mich, wie alt ich denn sein wolle. Ich überlegte und sagte, ich fände sechs ganz gut, und da meinte sie, mit sechs wäre sie einverstanden. Also war ich sechs. Von da an habe ich mitgezählt.« »Und wie bist du zu deinem Namen gekommen?« wollte Raistlin wissen. »Ich nehme doch an, dass Tauscher nicht dein richtiger Name ist.« »Doch, das wäre durchaus möglich«, erwiderte Tauscher achselzuckend. »Mutter hat mich immer so genannt, wie es ihr gerade in den Sinn kam. Der Müller nannte mich meistens ›Junge‹, bis ich anfing, ein Talent dafür zu entwickeln, Dinge zu beschaffen, die er brauchte.« »Stehlen?« Caramon machte ein strenges Gesicht. »Nicht ›stehlen‹«, widersprach Tauscher kopfschüttelnd. »Nein, und auch nicht ›borgen‹. Es ist doch so: Jeder hat etwas, was ein anderer haben möchte. Jeder hat auch etwas, was er nicht mehr braucht. Was ich mache, ist, herauszufinden, was diese Etwasse sind, und ich sorge dafür, dass am Ende jeder das hat, was er will, im Tausch gegen etwas, das er nicht mehr will.« Caramon kratzte sich am Kopf. »Weiß nicht. Für mich hört sich das nicht besonders legal an.« »Ist es aber. Ich zeig’s euch.« »Das macht einen Sechser für die Bohnen«, sagte die Kellnerin, während sie ihre strähnigen Haare aus dem Ge-
sicht hielt, um die Striche zählen zu können, die sie mit Kreide auf den Tisch gemalt hatte. »Einen Sechser für das Bier und vier für den Wein.« Caramon griff nach der Geldbörse. Tauschers magere Finger schlossen sich um seinen Arm und hielten ihn zurück. »Wir haben nicht so viel«, sagte er fröhlich. Die Kellnerin machte ein böses Gesicht. »Ragis!«, rief sie drohend. Hinter dem Schanktisch stand ein großer Mann, der die Bierkrüge füllte und nun in ihre Richtung schaute. »Aber«, fügte Tauscher eilig hinzu, »ich sehe, dass euer Feuer fast erloschen ist.« Er zeigte auf den großen Kamin, in dem nur ein verkohltes Scheit vor sich hin glomm. »Und? Wer hat schon Zeit, Feuerholz zu hacken«, gab die Kellnerin trotzig zurück. »Und was beschwerst du dich überhaupt, du Ratte? Ragis wird dich verfeuern, wenn du ihm nicht zahlst, was du schuldig bist.« Tauscher lächelte sie an. Trotz seiner aufgeplatzten Lippe konnte er gewinnend und sehr entwaffnend lächeln. »Wir zahlen mit etwas, das mehr zählt als Geld.« »Nichts zählt mehr als Geld«, meinte die Kellnerin mürrisch, aber doch neugierig. »Doch, doch. Zeit und Muskeln und Gehirn. Also, mein Freund hier – «, Tauscher legte Caramon eine Hand auf den Arm, »ist der schnellste und beste Holzhacker von ganz Ansalon. Ich bin perfekt im Bedienen. Und wenn ihr uns heute Nacht ein Bett gebt – mein anderer Freund, ein bekannter Zauberer, hat ein magisches Gewürz, das eure Bohnen zu einem kulinarischen Meisterstück machen wird. Jeder wird zu euch kommen, um sie zu essen.«
»Unsere Bohnen sind nicht ›kulinarisch‹!«, wehrte die Kellnerin empört ab. »Es ist noch keinem davon schlecht geworden.« »Nein, nein. Ich meine, dass sie mit diesem Gewürz so gut schmecken werden wie die Bohnen, die der Lord von Palanthas isst. Besser sogar. Wenn Seine Hoheit von ihnen hören wird – und ich werd’s ihm bestimmt erzählen –, reist er den ganzen Weg hierher, nur um sie zu probieren.« Das Schankmädchen lächelte verlegen. »Nun ja, es haben sich tatsächlich schon Gäste beschwert. Ist aber nicht unsere Schuld. Die Köchin bekam Lust auf Wein, ist die Kellertreppe hinuntergefallen und hat sich den Fuß gebrochen, deshalb müssen Mabs und ich jetzt kochen und putzen und bedienen. Wir rennen uns die Hacken ab, und Ragis kann nicht vom Schanktisch weg, wenn so viele durstig sind.« Sie musterte Caramon, und ihr Blick wurde milder. »Du bist wirklich stark, hm? Was haben wir von dem Sechser, wenn uns das Feuer ausgeht und keiner ein neues Fass Bier aus dem Keller holt? Einverstanden. Du hackst das Holz, und du, Zauberer«, sie warf Raistlin einen abfälligen Blick zu, »was hast du denn?« Raistlin zog einen seiner Beutel hervor, griff hinein und zog eine Art weiße Zwiebel mit starkem, aromatischem Geruch hervor. »Das ist das magische Gewächs«, sagte er. »Schält es, hackt es fein und gebt es zu den Bohnen. Ich garantiere Euch, dass es neue Gäste anlockt.« »Gäste haben wir genug. Aber es wäre schon schön, ihnen etwas aufzutischen, was sie mir nicht gleich wieder an den Kopf schmeißen.« Sie roch an der weißen Zwiebel. »Das riecht aber gut. Garantierst du uns, dass es keinen vergiftet?«
»Mein Bruder nimmt freiwillig den ersten Teller«, schlug Raistlin vor, was ihm einen dankbaren Blick von Caramon eintrug. »Hm…« »Der Lord von Palanthas«, bemerkte Tauscher verträumt. Er nahm ihre rote, abgearbeitete Hand und küsste sie. »Er wird schwören, dass ihr die besten Bohnen macht, die er je gegessen hat.« Die Frau kicherte und zerzauste Tauscher spielerisch die Haare. »Lord von Palanthas, gute Güte! Los, Zauberer, geh in die Küche und gib dein magisches Gewürz dazu.« Sie lehnte sich über den Tisch, sodass man einen guten Blick auf ihren Busen hatte, der von einer schmutzigen, ausgefransten Bluse umrahmt wurde, und wischte mit dem Unterarm die Striche auf dem Holz ab. »Und für dich springt auch noch was dabei heraus, Süße«, meinte Caramon, der liebevoll seine Hand über ihre legte. »Untersteh dich!«, schrie sie, riss ihre Hand zurück, beugte sich aber zugleich weiter vor, um zu flüstern: »Wir schließen um Mitternacht.« Mit viel sagendem Blick schüttelte sie ihre ungekämmten Haare und verschwand, um den Rufen nach mehr Bier nachzukommen. »Ja, ja, ich komm ja schon! Immer mit der Ruhe.« Caramon grinste in sich hinein und zog pfeifend in den Hinterhof ab, um das Holz zu hacken. »Gut gemacht, Tauscher«, lobte Raistlin, der aufstand, um sein magisches Gewürz, das anderswo als Knoblauch bekannt war, in die Küche zu bringen. »Du hast uns den Preis für die Mahlzeit erspart und ein Bett besorgt. Eine Frage – woher wusstest du, was ich in meinen Beuteln ha-
be?« Tauschers magere Wangen liefen rot an, und seine Augen glitzerten verschmitzt. »Ich habe nicht alles vergessen, was meine Mutter mich gelehrt hat«, gestand er und schlüpfte davon, um beim Bedienen zu helfen.Am anderen Morgen reihten sich die Zwillinge und Tauscher in eine lange Schlange von Männern ein, die in einer Zweierreihe vor der Burg des Barons im Hof standen. Ein langes Brett auf zwei Böcken diente als Tisch. Auf den Tisch war ein Pergament genagelt, damit es in dem starken Landwind nicht wegflog. Sobald die Offiziere kamen, würden sie die Namen der Männer aufschreiben und sie anschließend ins Ausbildungslager schicken. Dort würde der Baron die Männer eine Woche auf seine Kosten verpflegen und unterbringen, während der sie einen strengen Drill absolvieren mussten, der ihre Stärke, ihre Wendigkeit und ihre Bereitschaft, Befehlen zu gehorchen, prüfen sollte. Wer diese Hürde nicht meisterte, wurde im Laufe der Woche ausgemustert und konnte mit einer kleinen Entschädigung zum Dank für seine Mühe packen gehen. Wer die erste Woche überstand, erhielt einen Wochenlohn. Wer nach einem Monat noch dabei war, wurde in die Armee aufgenommen. Von hundert Mann, die ihre Namen auf die Liste schrieben, würden nach der ersten Woche noch achtzig übrig sein. Bis die Armee marschbereit war, würde nur noch die Hälfte dabei sein. Die Rekruten hatten schon im Morgengrauen damit begonnen, sich anzustellen. Es würde ein warmer Frühlingstag werden. In der Ferne bildeten sich Wolken am Horizont. Am Nachmittag würde es Regen geben. Die hoffnungsvollen Männer in der Schlange begannen zu schwit-
zen, noch ehe der halbe Vormittag verstrichen war. Die Zwillinge kamen früh. Caramon war so aufgeregt, dass er am liebsten schon vor Tagesanbruch losgezogen wäre, hätte Raistlin, der einen langen Tag vorhersah, ihn nicht davon überzeugt, wenigstens zu warten, bis die Sonne aufgegangen war. Caramon hatte die Nacht nun doch nicht mit der Kellnerin verbracht – zu deren großer Enttäuschung. Er hatte lieber seine Ausrüstung poliert, sodass er am Morgen in seiner neuen Rüstung die Sonne überstrahlte. Er war viel zu aufgeregt, um mehr als seine eigene Portion zum Frühstück zu essen, sondern saß unruhig am Tisch, rasselte mit seinem Schwert und fragte alle fünf Minuten, ob sie nicht zu spät kommen würden. Schließlich sagte Raistlin, sie könnten gehen, aber nur, weil Caramon ihn sonst zum Wahnsinn triebe. Tauscher war fast so aufgeregt wie Caramon. Raistlin bezweifelte, dass der Baron den schmalen, kindlichen Jungen in die Armee aufnehmen würde, und befürchtete, dass Tauscher eine böse Enttäuschung bevorstand. Doch der junge Mann hatte ein so heiteres Gemüt, dass er wohl nicht lange niedergeschlagen bleiben würde. Der Besitzer der Taverne ließ sie nur ungern gehen, besonders Raistlin. Der Knoblauch in den Bohnen hatte wirklich eine magische Wirkung gezeigt und die Gäste mit seinem Duft von der Straße gelockt. Der Wirt hatte versucht, Raistlin als Koch einzustellen, doch dieser hatte sich zwar geschmeichelt gefühlt, aber dennoch höflich abgelehnt. Die Kellnerin hatte Caramon geküsst, Tauscher hatte die Kellnerin geküsst, und dann waren sie zur Musterung aufgebrochen. Dort hatten sie sich hinten angestellt und in der Sonne
gewartet. Es standen schon etwa fünfundzwanzig Männer vor ihnen. Sie warteten eine gute Stunde, während der mancher begann, sich mit seinem Nachbarn zu unterhalten. Caramon und Tauscher redeten mit dem Mann hinter ihnen. Der Mann vor Raistlin warf ihm einen Blick zu, als wolle er eine Unterhaltung beginnen. Raistlin tat, als würde er ihn nicht bemerken. Er fühlte bereits, wie der Straßenstaub ihn im Hals kitzelte, und befürchtete einen seiner Hustenanfälle. Er konnte sich gut vorstellen, in Ungnade aus der Reihe ausgeschlossen zu werden. Deshalb mied er den freundlichen Blick des Mannes und musterte lieber die Befestigungsanlagen des Barons so eingehend, als wolle er sie belagern. Dann kam in Begleitung von fünf Veteranen ein krummbeiniger, einäugiger Feldwebel, der wie ein stolzer, kleiner Kampfhahn wirkte. Der Feldwebel warf einen kurzen Blick auf die mittlerweile über hundert Männer. Das Blinzeln seines Auges und sein sardonisches Kopfschütteln zeigten, dass er nicht eben beeindruckt war. Er sagte etwas zu seinen Kameraden, die daraufhin schallend lachten. Die Männer in der Reihe verfielen plötzlich in lastendes Schweigen. Der erste Mann wurde blass und schrumpfte sichtlich in sich zusammen. Der Feldwebel nahm hinter dem Tisch Platz. Die Soldaten standen mit verschränkten Armen und breitem Grinsen hinter ihm. Das eine Auge des Feldwebels war wie ein Bohrer, der den ersten Mann in der Schlange durchbohrte, um einen Blick auf den dahinter werfen zu können, und so weiter, bis es ihnen so vorkam, als würde er durch jeden einzelnen Rekruten hindurch bis zum allerletzten sehen.
Schließlich zeigte er mit einem schwieligen Finger auf das Papier und sagte zum vordersten Mann: »Schreib deinen Namen. Wenn du nicht schreiben kannst, malst du dein Kreuz. Dann stellst du dich da links hin.« Der Mann, der einen Bauernrock trug und einen konturlosen Filzhut umklammert hielt, schlurfte nach vorn. Bescheiden malte er sein Kreuz und stellte sich dann weisungsgemäß an die zugewiesene Stelle. Einer der Veteranen begann zu rufen: »Komm, putt, putt, putt.« Die anderen lachten beifällig. Der Bauer zog verlegen den Kopf ein und wünschte zweifellos, ein Abgrund würde sich auf tun und ihn verschlingen. Der nächste Mann in der Reihe zögerte, bevor er vortrat. Er wirkte hin und her gerissen, als würde er am liebsten um sein Leben laufen. Dennoch fasste er Mut und trat vor. »Schreib deinen Namen«, sagte der Feldwebel, der bereits gelangweilt klang. »Wenn du nicht schreiben kannst, malst du dein Kreuz. Dann stellst du dich in die Reihe.« Die Litanei ging so weiter. Der Feldwebel sagte zu jedem dasselbe im selben Ton. Seine Kameraden hatten zu jedem Rekruten einen Kommentar, sodass die Männer mit glühenden Ohren ihren Platz einnahmen. Die meisten nahmen es einfach hin, doch der junge Mann vor Raistlin reagierte verärgert. Er warf den Federkiel hin, funkelte die Veteranen zornig an und machte mit geballten Fäusten einen drohenden Schritt nach vorn. »Langsam, Söhnchen«, mahnte der Feldwebel kühl. »Wer einen Vorgesetzten schlägt, ist ein toter Mann. Stell dich in die Reihe.« Der junge Mann, der besser gekleidet war als die meisten und der einer der wenigen war, die ihren Namen schreiben
konnten, sah die Veteranen finster an. Die grinsten zurück. Mit stolz erhobenem Kopf marschierte er an seinen Platz. »Kampfgeist«, hörte Raistlin den einen bemerken, als er selbst vortrat. »Der wird ein guter Soldat.« »Kann sich nicht beherrschen«, meinte ein anderer. »In einer Woche ist er weg.« »Wetten?« »Wetten.« Die beiden gaben sich die Hand. Jetzt war Raistlin dran. Er durchschaute, dass man mit diesem Ritual nicht nur die neuen Rekruten einschreiben, sondern sie auch demütigen und einschüchtern wollte. Da er von solchen Ausbildungsmethoden gelesen hatte, war ihm bewusst, dass Kommandanten einen auf diese Weise auseinander nahmen, bis nichts mehr übrig war, damit sie hinterher einen guten Soldaten aufbauen konnten, einen, der Befehle ausführte, ohne lange nachzudenken, einen, der zu sich und seinen Kameraden Vertrauen hatte. »Alles sehr schön für den gemeinen Soldaten«, dachte Raistlin verächtlich. »Aber bei mir ist das etwas anderes.« Rein zufällig hatte der Feldwebel den Kopf gesenkt, um den Namen des wütenden jungen Rekruten zu lesen, weil er überlegte, ob er an der Wette teilnehmen sollte. Er starrte noch mit seinem gesunden Auge auf das Papier und versuchte, den auf dem Kopf stehenden Namen zu lesen, als Name und Papier von einem weiten, roten Ärmel und einer Hand mit einem goldenen Schimmer verdeckt wurden. Die Männer hinter dem Feldwebel begannen gedämpft zu murmeln und stießen einander mit den Ellbogen an. Der Feldwebel zuckte hoch und nahm Raistlin in Augenschein, der höflich fragte: »Wo soll ich unterschreiben, Sir? Ich bin gekommen, um mich als Kriegszauberer einzuschreiben.«
»So, so«, meinte der Feldwebel blinzelnd, »das ist ja mal was anderes. Einen wie dich hatten wir länger nicht.« Er lachte höhnisch. »Auch gut.« »Wo soll ich unterschreiben, Sir?« wiederholte Raistlin. Der Staub und die Hitze waren zum Ersticken. Er fühlte, wie sich sein Hals zuschnürte, und befürchtete, vor diesen grinsenden Veteranen einen Hustenanfall zu erleiden. Er zog seine Kapuze tiefer nach unten, damit sein Gesicht und seine Augen verborgen blieben, denn er wollte diesen Männern nicht mehr Nahrung für ihre Witze liefern, als unumgänglich war. Sie fanden ihn ohnehin schon komisch genug. »Wo hast du denn diese goldene Haut her, Kleiner?« wollte einer der Veteranen wissen. »War deine Mama vielleicht eine Schlange?« »Eher eine Eidechse«, meinte ein anderer, und sie lachten. »Echsenjunge. So heißt er, Sarge. Schreib das für ihn hin.« »Dann wird er ja ein billiger Rekrut«, lachte der Erste. »Frisst nur Fliegen!« »Ich wette, er hat auch eine lange, rote Zunge, mit der er sie fängt. Streck uns mal die Zunge raus, Echsenjunge.« Raistlin fühlte den Husten kommen. »Wo soll ich unterschreiben?«, fragte er halb erstickt. Der Feldwebel blickte nach oben und erhaschte einen kurzen Blick auf die seltsamen Stundenglasaugen. »Geht und sagt Horkin Bescheid«, befahl er einem der Männer hinter ihm über die Schulter. »Wo ist er?« »Wie üblich.« Der Soldat nickte und lief los.
Raistlin konnte nicht mehr anders. Er begann zu husten. Zum Glück war es kein schwerer Anfall, sodass er bald vorüber war. Dennoch reichte er aus, um den Feldwebel die Stirn runzeln zu lassen. »Was ist los mit dir, Bursche? Bist du krank? Ist doch nicht ansteckend, oder?« »Meine Krankheit ist nicht ansteckend«, zischte Raistlin durch zusammengebissene Zähne. »Wo soll ich unterschreiben?« Der Mann zeigte auf das Papier. »Bei allen anderen«, sagte er herablassend. Offenkundig hielt er nicht viel von diesem neuen Rekruten. »Geh und stell dich zu den anderen.« »Aber ich bin gekommen – « »Ich weiß, warum du gekommen bist.« Der Feldwebel schickte ihn weiter. »Tu, was man dir sagt.« Glühend rot nahm Raistlin seinen unwürdigen Platz bei den anderen Rekruten ein, die ihn nun ebenso anstarrten wie die übrigen, die noch in der Schlange standen. Raistlin ignorierte sie stoisch. Im Augenblick hoffte er nur, dass Caramon nichts tun oder sagen würde, was die Aufmerksamkeit auf ihn lenkte. Da er Caramon kannte, war diese Hoffnung allerdings vergebens. »Schreib deinen Namen«, gähnte der Feldwebel. »Wenn du nicht schreiben kannst, malst du dein Kreuz. Stell dich da drüben zu meiner Linken hin.« »Na klar, Feldwebel«, antwortete Caramon fröhlich. Schwungvoll schrieb er seinen Namen auf das Pergament. »Groß wie ein Ochse«, sagte einer der Veteranen. »Und wahrscheinlich genauso helle.« »Ich mag die Großen«, erklärte sein Kamerad. »Die halten mehr Pfeile ab. Wir stellen ihn ganz nach vorne.«
»Herzlichen Dank, Sir«, freute sich Caramon. »Ach, übrigens«, fügte er bescheiden hinzu, »eigentlich brauche ich keine Ausbildung mehr. Den Teil könnte ich einfach überspringen.« »Ach so?«, erwiderte der Feldwebel. Raistlin stöhnte. Halt die Klappe, Caramon, rief er innerlich. Halt die Klappe und verschwinde! Caramon jedoch genoss die Aufmerksamkeit. »Ja, ich weiß schon alles, was man übers Kämpfen wissen muss von Tanis.« »Tanis hat’s dir beigebracht?«, erkundigte sich der Feldwebel, der sich nach vorne lehnte. Seine Freunde hielten sich den Mund zu, wippten vor und zurück und genossen die Abwechslung. »Und wer wäre dieser Tanis?« »Tanis, der Halbelf«, erklärte Caramon. »Ein Elf. Ein Elf hat dir beigebracht, wie man kämpft.« »Na ja, eigentlich mehr sein Freund, Flint. Er ist ein Zwerg.« »Verstehe.« Der Feldwebel strich sich über seinen grauen Bart. »Ein Elf und ein Zwerg haben dir das Kämpfen beigebracht.« »Mir und meinem Freund Sturm. Der ist ein Ritter von Solamnia«, fügte Caramon stolz hinzu. Halt die Klappe, Caramon, beschwor ihn Raistlin im Stillen verzweifelt. »Und dann war da noch Tolpan Barfuß«, fuhr Caramon fort, ohne die stummen Kommandos seines Bruders zu beachten. »Der ist ein Kender.« »Ein Kender.« Der Feldwebel zeigte sich beeindruckt. »Ein Elf, ein Zwerg und ein Kender haben dir das Kämpfen beigebracht.« Er drehte sich zu seinen Kameraden um, die
vor unterdrücktem Gelächter knallrot im Gesicht waren. »Jungs«, stellte er feierlich fest, »sagt dem General, er kann abdanken. Wir haben seinen Nachfolger.« Diesmal stöhnte einer der Männer und stampfte mit dem Fuß auf, weil er sich kaum noch beherrschen konnte. Ein anderer verlor die Fassung und musste sich umdrehen. Seine Schultern bebten, als er die Tränen abwischte, die ihm über das Gesicht liefen. »Ach, das ist doch nicht nötig, Sir«, versicherte Caramon ihnen eilig. »So gut bin ich noch nicht.« »Ach, der General kann also bleiben?«, fragte der Feldwebel, dessen Mundwinkel zuckten. »Er kann bleiben«, befand Caramon großzügig. Raistlin schloss die Augen, damit er niemanden ansehen musste. »Danke. Das wissen wir zu schätzen«, sagte der Feldwebel erfreut. »Und jetzt«, der Feldwebel warf einen Blick auf die Liste, »Caramon Majere – « Er hielt inne. »Oder vielleicht Sir Caramon Majere?« »Nein, ich bin doch nicht der Ritter«, wehrte Caramon ab, damit es nur kein Missverständnis gab. »Das war Sturm.« »Verstehe. Also, stell dich zu den anderen, Majere«, sagte der Feldwebel. »Aber ich habe doch gesagt, Ihr braucht wirklich keine Zeit mit meiner Ausbildung zu verschwenden«, wunderte sich Caramon. Der Feldwebel stand auf, lehnte sich vor und sagte leise: »Ich will doch nicht, dass die anderen sich schämen. Am Ende werden sie entmutigt und verschwinden. Also macht einfach mit, ja, Sir Caramon?«
»Sicher. Das kann ich tun.« Caramon lenkte ein. »Oh, und übrigens, Majere«, rief ihm der Feldwebel noch nach, als Caramon zu seinem zähneknirschenden Zwillingsbruder schritt, »falls der Ausbilder – Meister Quesnelle – Fehler macht, dann sag ihm das ruhig. Er wird deine Hilfe zu schätzen wissen.« »Ja, Sir. Mach ich«, freute sich Caramon. Lächelnd gesellte er sich zu Raistlin. »Mann, ist der aber nett.« »Du bist ein Riesenrindvieh«, regte Raistlin sich leise auf. »Wie? Ich? Was hab ich denn getan?« wollte Caramon verblüfft wissen. Raistlin jedoch weigerte sich, darüber zu diskutieren. Er wandte seinem Bruder den Rücken zu, um zuzusehen, wie Tauscher sich dem Tisch näherte. Der Feldwebel musterte ihn. »Hör mal, Kleiner, warum gehst du nicht nach Hause? Komm in zehn Jahren wieder, wenn du erwachsen bist.« »Ich bin erwachsen genug«, meinte Tauscher zuversichtlich. »Außerdem braucht Ihr mich, Feldwebel.« Der Feldwebel rieb sich die Stirn. »Ach ja. Sag mir einen guten Grund.« »Ich sage Euch mehrere. Ich bin ein Tauscher, und zwar ein guter. Was auch immer Ihr braucht, ich besorge es. Außerdem kann ich jede Mauer erklimmen. Ich passe in Tunnel, die nicht einmal eine Maus betreten würde. Ich bin schnell und gewandt, und ich kann im Dunkeln mit einem Messer umgehen. Ich laufe so leise durch den Wald, dass im Vergleich zu mir eine Raupe den Boden erzittern lässt. Ich schlüpfe durch ein Fenster im dritten Stock, nehme der Dame ihr goldenes Halsband ab und küsse sie noch obendrein, ohne dass sie mich hört oder sieht. Das kann ich für
Euch tun, Feldwebel«, versicherte Tauscher. »Und noch mehr.« Die Veteranen hatten aufgehört zu lachen. Interessiert betrachteten sie Tauscher. Der Feldwebel ebenfalls. »Und du kannst sogar einer Fliege die Flügel abschwatzen.« Der Feldwebel starrte den jungen Mann durchdringend an. »In Ordnung. Schreib deinen Namen hin. Wenn du den Drill überlebst, könntest du dem Baron vielleicht wirklich von Nutzen sein.« Raistlin fühlte, wie jemand ihn an der Schulter berührte, und drehte sich um. »Bist du der Zauberer?«, fragte der Soldat überflüssigerweise, da Raistlin der einzige Anwesende in Zauberroben war. »Komm mit.« Raistlin nickte und trat aus der Reihe. Caramon trat ebenfalls vor. »Bist du auch ein Zauberer?«, fragte der Soldat und blieb stehen. »Nein, ich bin Soldat. Ich bin sein Bruder. Wo er hingeht, gehe auch ich hin.« »Diesmal nicht, Caramon!«, sagte Raistlin leise. Der Soldat schüttelte den Kopf. »Ich habe Befehl, den Zauberer zu holen. Stell dich wieder in die Reihe, Fuchs.« Caramon runzelte die Stirn. »Wir sind nie getrennt.« »Caramon!«, fuhr Raistlin seinen Bruder an. »Ich habe mich heute schon genug für dich geschämt. Tu, was man dir sagt. Stell dich wieder in die Reihe!« Caramons Gesicht wurde erst rot, dann weiß. »Sicher, Raist«, murmelte er. »Sicher. Wenn du es so willst…« »Ich will es so.« Verletzt kehrte Caramon an seinen Platz neben Tauscher
zurück. Raistlin begleitete den Soldaten durch das Tor und in die Burg des Barons.
12. Kapitel Der Soldat führte Raistlin in den Hof, wo es lebhaft zuging. Soldaten standen in Gruppen zusammen, lachten und redeten oder hockten auf dem Boden und spielten Knochenwerfen, ein Spiel, bei dem man die Fußknochen eines Schafs in die Luft warf und auf vorgeschriebene Weise wieder auffing, oder sie schnippten Münzen gegen eine Mauer. Ein paar Stallburschen führten Pferde in den Stall und andere heraus, und überall sprangen Hunde herum. Ein Feldwebel hatte einen jaulenden Kender am Ohr gepackt und zerrte ihn zum Haupttor hinaus. Ein paar Soldaten warfen Raistlin neugierige Blicke zu, als er vorbeiging, andere starrten ihn frech an. Ungehobelte Kommentare begleiteten ihn, während er durch das Burgtor ging und in den Hof trat. »Wo gehen wir hin, Sir?«, fragte Raistlin. »Zu den Kasernen«, erklärte sein Führer, während er auf eine Reihe niedriger Steingebäude mit vielen Fenstern zeigte. Der Soldat betrat eine der Kasernen durch die Vordertür und führte Raistlin durch einen kühlen, dunklen Gang, von dem die Stuben der Soldaten abgingen. Die Sauberkeit und Ordnung in dem Haus beeindruckten Raistlin. Der Steinboden war noch nass, weil er am Morgen geschrubbt worden war, auf dem Boden der Schlafräume war frisches Stroh ausgestreut, die Decken waren fest zusammengerollt und ordentlich verstaut. Die persönlichen Besitztümer der Männer waren jeweils in ihre eigenen Decken eingerollt. Am Ende des Gangs kamen sie zu einer steinernen Wendeltreppe, die nach unten führte. Der Soldat stieg die Stu-
fen hinunter, und Raistlin folgte ihm. Am Ende der Treppe befand sich eine Holztür. Nachdem er stehen geblieben war, klopfte der Soldat donnernd dagegen. Drinnen klirrte es, als würde Glas zerbrechen. »Du Hurensohn!«, brüllte eine verärgerte Stimme. »Jetzt habe ich meinen Trank fallen lassen! Was zum Abgrund willst du?« Der Soldat grinste und zwinkerte Raistlin zu. »Ich bringe den neuen Zauberer, Sir. Ihr sagtet, ich sollte ihn hierher holen.« »Ja, wer zum Teufel rechnet denn damit, dass du so schnell wieder da bist!«, knurrte die Stimme. »Ich kann ihn wieder mitnehmen, Sir«, schlug der Soldat respektvoll vor. »Ja, mach das. Nein, lieber nicht. Er kann hier sauber machen, weil er schließlich der Anlass war.« Man hörte Schritte, dann hob sich klirrend ein Riegel. Die Tür schwang auf. »Das ist Meister Horkin«, stellte der Soldat vor. Raistlin, der einen Kriegszauberer erwartete, hatte mit Größe, Macht und Intelligenz gerechnet. Er erwartete, dass er von Ehrfurcht erfasst oder wenigstens inspiriert werden würde. Lemuels Vater war ein Kriegszauberer gewesen. Lemuel hatte seinen Vater oft beschrieben, und Raistlin hatte ein Porträt von ihm im Turm der Erzmagier hängen sehen – ein großer Mann mit weißen Strähnen im schwarzen Haar, Hakennase und Falkenaugen und den langen Fingern und feingliedrigen Händen eines Künstlers. So sah der Kriegszauberer seiner Träume aus. Beim Anblick des Magiers, der in der Tür stand und ihn finster betrachtete, zerplatzte Raistlins Traum und
schwamm auf der Woge seiner Enttäuschung davon. Der Magier war so klein, dass er Raistlin nur bis zur Schulter reichte. Was ihm an Größe mangelte, machte er durch seinen Umfang wett. Er war erst Ende vierzig, hatte aber kein Haar mehr auf dem Kopf – er hatte nirgendwo Haare, nicht einmal Augenbrauen oder Wimpern. Sein Hals war feist, seine Schultern breit, und die Hände wahre Pranken – kein Wunder, dass er die zarte Trankflasche hatte fallen lassen. Er hatte ein rotes, cholerisches Gesicht mit stechenden blauen Augen, deren Bläue durch die Röte seines Gesichts noch betont wurde. Aber es war nicht sein ungewöhnliches Äußeres, das Raistlin irritierte und bewirkte, dass seine Lippen sich kräuselten. Der Magier – und ihn so zu bezeichnen wäre ein Kompliment gewesen, das er wahrscheinlich nicht verdient hatte – trug braune Roben. Braune Roben – das Merkmal derer, die nie die Prüfung im Turm der Erzmagier abgelegt hatten, das Merkmal eines Zauberers, der entweder nicht geschickt genug war oder nicht genug Ehrgeiz hatte, um zu bestehen – oder der vielleicht Angst hatte. Was auch der Grund war, dieser Zauberer hatte sich nicht mit Leib und Seele der Magie verschrieben. Einen solchen Mann konnte Raistlin nicht respektieren. Daher war er überrascht und pikiert, als er erkannte, dass ihm ebenso viel Verachtung entgegenschlug. Der braun gewandete Magier betrachtete Raistlin wenig wohlwollend. »Oh, um Lunis willen, sie haben mir einen verwünschten Turmzauberer geschickt«, knurrte Horkin. Zu seinem tiefen Bedauern wurde Raistlin von einem Hustenanfall überfallen. Zum Glück war es nur ein kurzer, doch er trug nicht dazu bei, Horkin zu beeindrucken.
»Und obendrein noch kränklich«, sagte Horkin angewidert. »Wozu zur Hölle sollst du gut sein, Roter?« Raistlin machte den Mund auf, um stolz zu verkünden, was er schon beherrschte. »Ich wette, du kannst einen Schlafzauber«, beantwortete Horkin seine eigene Frage. »Das wird uns jedenfalls eine Menge helfen. Der Feind kann auf dem Schlachtfeld ein kleines Nickerchen halten, wacht erfrischt wieder auf und schlitzt uns den Bauch auf. Was zum Teufel gaffst du da?« Das galt dem Soldaten. »Du hast doch wohl zu tun.« »Ja, Sir, Meister Horkin.« Der Soldat salutierte, drehte sich um und verschwand. Horkin nahm Raistlin am Arm und zog ihn mit einem Ruck ins Laboratorium, der ihn fast umgerissen hätte. Dann schlug er die Tür hinter ihnen zu. Raistlin sah sich geringschätzig um, denn seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Das so genannte Laboratorium war ein dunkler, schlecht beleuchteter, gemauerter Keller. Auf einem Regal standen ein paar zerlesene Zauberbücher. An der Wand hingen Waffen – Keulen, Streitkolben, ein schartiges Schwert und ein paar andere, gefährlich aussehende Werkzeuge, die Raistlin nicht kannte. Ein fleckiger, wackliger Schrank enthielt Flaschen mit Gewürzen und Kräutern. Horkin ließ den jungen Magier los und sah ihn forschend an, als wäre er ein frisch geschlachtetes Tier beim Metzger. Offenbar hatte er keine große Meinung von dem, was er sah. Raistlin erstarrte unter der beleidigenden Begutachtung. Horkin stemmte seine fleischigen Hände in die Hüften (oder jedenfalls in deren ungefähre Gegend). Er hatte eine zapfenförmige Figur, bei der Brust und Schultern den kräf-
tigsten Teil ausmachten. »Ich bin Horkin, für dich Meister Horkin, Roter.« »Mein Name ist – «, setzte Raistlin förmlich an. Horkin hielt warnend eine Hand hoch. »Dein Name kümmert mich nicht, Roter. Ich will ihn nicht wissen. Wenn du deine ersten drei Schlachten überlebt hast, werde ich ihn mir vielleicht merken, vorher nicht. Früher habe ich mir die Namen gemerkt, aber das war eine verdammte Zeitverschwendung. Kaum kannte ich so ein Milchgesicht, kippte es mir auch schon in die Arme und starb. Inzwischen ist mir das egal. Füllt mir nur den Kopf mit nutzlosen Informationen.« Seine blauen Augen schweiften von Raistlin ab. »Na, das ist aber ein verdammt guter Stab«, stellte Horkin fest, der den Stab mit weit größerem Interesse und Respekt betrachtete, als er dem jungen Magier entgegengebracht hatte. Horkin streckte seine dicken Finger aus. Raistlin lächelte in sich hinein. Der Stab des Magus kannte seinen rechtmäßigen Besitzer und würde nicht zulassen, dass ihn ein anderer berührte. Mehr als einmal hatte Raistlin das Knistern seiner Magie und die anschließenden Aufschreie (meistens von Kendern) gehört und gesehen, wie der Missetäter, der versucht hatte, den Stab zu berühren oder sich damit davonzumachen, seine verbrannte Hand schüttelte. Raistlin machte keine Anstalten, Horkin von der Berührung des Stabes abzuhalten oder ihn zu warnen. Horkin nahm den Stab des Magus an sich, fuhr mit der Hand am Holz entlang und nickte beifällig. Er hielt den Kristall ans Auge, kniff das andere zusammen und spähte prüfend hindurch. Dann ergriff er den Stab mit beiden
Händen, zog ihn ein paar Mal durch die Luft und stieß ihn dann in Raistlins Richtung, um erst kurz vor dessen Rippen anzuhalten. Horkin gab ihm den Stab zurück. »Gut ausbalanciert. Eine schöne Waffe.« »Das ist der Stab des Magus«, protestierte Raistlin empört, während er den Stab schützend an sich drückte. »Oh, der Stab des Magus, tatsächlich?« Horkin grinste. Er verfügte über ein höhnisches Grinsen, bei dem er den Unterkiefer so vorschob, dass seine unteren Schneidezähne über die Oberlippe hervorragten. Er rückte näher an Raistlin heran und flüsterte: »Ich will dir was verraten, Roter. Für zwei Stahlmünzen bekommst du in jedem Zaubereigeschäft in Palanthas ein Dutzend solcher Stäbe.« Horkin zuckte mit den Schultern. »Immerhin steckt ein Quäntchen Magie in dem Ding. Ich habe ein Jucken in der Hand gespürt. Du hast vermutlich keine Ahnung, was der Stab vermag, oder, Roter?« Raistlin war zu erschüttert, um etwas zu sagen. Zwei Stahlmünzen in Palanthas. Die Magie – die mächtige Magie, die Entschädigung, die Raistlin für seinen zerstörten Körper erhalten hatte – als ein »Quäntchen« abgetan, das »juckte«! Raistlin kannte tatsächlich noch nicht jeden Zauber, zu dem der Stab fähig war, aber dennoch – »Dachte ich mir«, sagte Horkin. Er drehte sich um, ging zu einem steinernen Tisch und senkte seinen schweren Körper auf einen Hocker, der sein Gewicht, wie es schien, kaum zu tragen vermochte. Mit einem seiner feisten Finger zeigte er auf eine Seite des ledergebundenen Buches, das offen auf dem Tisch lag. »Hilft wohl alles nichts. Ich muss noch mal von vorn an-
fangen.« Horkin deutete auf einen zerbrochenen Tiegel, dessen Inhalt über den Boden verteilt war. »Wisch das auf, Roter. In der Ecke stehen ein Schrubber und ein Eimer.« Raistlin schäumte bereits vor Wut, doch jetzt verlor er die Beherrschung. »Das werde ich nicht tun!«, rief er und stieß den Stab bekräftigend auf den Steinboden. »Ich werde nicht für Euch putzen. Ich werde mich nicht einem Mann unterordnen, der unter mir steht. Ich habe im Turm der Erzmagier die Prüfung abgelegt! Ich habe für die Magie mein Leben aufs Spiel gesetzt! Ich hatte keine Angst – « »Angst?«, unterbrach Horkin seinen Wortschwall. Mit grimmiger Belustigung sah er von dem Buch auf, das er beschmierte. »Wir werden ja sehen, wer Angst hat, bei Luni!« »Wenn Ihr in meiner Gegenwart seid«, erklärte Raistlin kalt und kein bisschen eingeschüchtert, »werdet Ihr der Göttin Lunitari den Respekt zollen, den sie verdient hat – « Für einen so schweren Mann konnte Horkin sich schnell bewegen. Eben saß er noch auf dem Hocker, im nächsten Augenblick schien er sich direkt vor Raistlin zu materialisieren wie ein Teufelchen, das aus dem Abgrund hervorbrach. »Hör mir zu, Roter«, sagte Horkin, der Raistlin den Finger auf die dünne Brust setzte. »Erstens gibst du mir keine Befehle. Ich gebe dir Befehle, und ich erwarte, dass du meine Befehle befolgst. Zweitens sprichst du mich mit Meister Horkin oder Sir oder Meister an. Drittens kann ich die Göttin bezeichnen, wie es mir verdammt noch mal passt. Wenn ich Luni zu ihr sage, dann deshalb, weil ich das Recht dazu habe. Wir haben nächtelang unter den Sternen miteinander getrunken und uns die Flasche hin und her gereicht. Ich
trage ihr Symbol auf dem Herzen.« Er nahm seinen Finger von Raistlins Brust weg zu seiner eigenen, um auf ein gesticktes Abzeichen mit dem Symbol von Lunitari zu deuten, das er über der linken Brust trug, ein Abzeichen, das Raistlin nicht bemerkt hatte. »Und ich trage ihr Emblem um den Hals.« Horkin zog einen Silberanhänger unter seinen Roben hervor und hielt ihn Raistlin so dicht vor die Augen, dass der zurückzuckte, damit er ihm nicht gegen die Nase stieß. »Das hat mir die süße Luni mit ihren eigenen, schönen Händen geschenkt. Ich habe sie gesehen, ich habe mit ihr gesprochen.« Horkin trat einen unmöglichen Schritt näher, so dass er praktisch auf Raistlins Zehen stand. Der ältere Zauberer starrte zu Raistlin hoch, in ihn hinein, durch ihn hindurch. »Ich trage vielleicht nicht ihr Symbol«, erwiderte Raistlin, der standhielt und nicht weiter zurückwich, »aber ich trage ihre Farbe, Rot, wie Ihr so scharfsinnig bemerkt habt. Und sie hat auch mit mir gesprochen.« Die Stille zwischen ihnen war aufgeladen wie nach einem Blitzschlag. Raistlin warf einen genaueren Blick auf das Symbol von Lunitari. Es bestand aus massivem Silber, war alt, sehr alt, und fein gearbeitet und schimmerte vor in ihm schlummernder Macht. Fast hätte er geglaubt, dass es wirklich von Lunitari stammte. Horkin schaute sich Raistlin näher an, und vielleicht hegte der alte Zauberer ganz ähnliche Gedanken wie der Jüngere. »Lunitari selbst hat mit dir gesprochen?«, fragte Horkin und hob den Finger, den er in Raistlin gebohrt hatte, hielt ihn hoch und zeigte zum Himmel. »Schwörst du das?«
»Ja«, bestätigte Raistlin ruhig. »Beim roten Mond, ich schwöre.« Horkin grunzte. Er schob sein Gesicht noch einen unmöglichen Zoll näher an Raistlin heran. »Ja, was, Soldat?« Raistlin zögerte. Er mochte diesen Mann nicht, der ungehobelt und ungebildet war und wahrscheinlich nicht ein Zehntel der Magie besaß, über die Raistlin verfügte, und der ihn dennoch dazu zwingen würde, ihn als Vorgesetzten zu behandeln. Dieser Mann hatte Raistlin gedemütigt und beleidigt. Um ein Kenderkupferstück hätte Raistlin sich umgedreht und wäre aus dem Laboratorium gelaufen. Doch in dieser letzten Frage entdeckte Raistlin eine Änderung des Tonfalls, eine Andeutung von – nicht Respekt, aber Akzeptanz. Er wurde als Bruder akzeptiert, auch wenn sein Leben hart und gefährlich sein würde. Doch diese Bruderschaft würde ihn, wenn er einmal aufgenommen war, auch umarmen und mit unerschütterlicher Loyalität zu ihm halten. Die Bruderschaft von Magus und Huma. »Ja… Meister Horkin«, sagte Raistlin. »Sir.« »Gut.« Horkin grunzte wieder. »Vielleicht kann ich doch noch etwas aus dir machen. Keiner von den anderen hat auch nur begriffen, wovon die Rede war, wenn ich Luni, die liebe Luni, erwähnte.« Er zog die Stelle hoch, wo seine Augenbrauen hätten sein sollen, wenn er welche gehabt hätte. »Und nun, Roter«, Horkin zeigte auf den zerbrochenen Tiegel, »räum das auf.«
13. Kapitel Caramon, der mit den anderen neuen Rekruten in der heißen Sonne wartete, sah seinem Bruder mit erheblicher Sorge nach. In neuen, unbekannten Situationen wie dieser fühlte sich Caramon bedrückt und unruhig, wenn er von seinem Zwillingsbruder getrennt wurde. Er hatte sich daran gewöhnt, zu tun, was sein Bruder sagte, und fühlte sich unsicher, wenn Raistlin nicht bei ihm war. Außerdem sorgte sich Caramon um die anfällige Gesundheit seines Bruders und wagte sogar, einen der Offiziere zu fragen, ob er seinem Bruder nachgehen und nach ihm sehen dürfte. »Da wir sowieso nur hier rumstehen«, fügte Caramon hinzu, »dachte ich, ich könnte mal nachsehen, ob Raistlin – « »Willst du auch deine Mami?«, fragte der Soldat. »Nein, Sir«, erwiderte Caramon und wurde rot. »Nur, Raist ist nicht besonders kräftig – « »Nicht besonders kräftig!«, wiederholte der Offizier erstaunt »Was dachte er denn, wem er sich hier anschließt? Den feinen Damen der Stick- und Backgesellschaft von Palanthas?« »Ich meine nicht, dass er schwach ist«, versuchte Caramon seinen Fehler wieder gutzumachen. Er hoffte inständig, seinem Bruder würde nie zu Ohren kommen, was er gesagt hatte. »Er ist ein großer Magier…« Das Gesicht des Offiziers verfinsterte sich. »Ich glaube, du solltest jetzt still sein«, flüsterte Tauscher Caramon zu. Caramon überdachte diesen ausgezeichneten Rat. Er hielt den Mund, und der Offizier ging kopfschüttelnd und vor
sich hin murmelnd weiter. Nachdem alle neuen Rekruten ihr Zeichen oder ihre Unterschrift auf das Pergament gesetzt hatten, befahl der Feldwebel Caramon und den anderen Männern, in den Burghof zu marschieren. Sie schlurften und stolperten übereinander, während sie in den Burghof liefen, wo sie sich in ungleichmäßigen Reihen aufstellten. Ein Offizier brachte sie annähernd zum Strammstehen und trug ihnen eine lange Liste von Vorschriften und Regeln vor, deren Nichtbeachtung jeweils alle möglichen unangenehmen Konsequenzen nach sich ziehen würde. »Es heißt, die Götter hätten einen Feuerberg auf Krynn fallen lassen«, fasste der Offizier schließlich zusammen. »Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was euch bevorsteht, wenn ihr mich ärgert. Und jetzt möchte Baron Langbaum ein paar Worte zu euch sagen. Ein dreifaches Hurra für den Baron!« Die Rekruten schrien begeistert los. Der Spinnerbaron baute sich vor ihnen auf. Er war auffällig gekleidet. Die hohen Lederstiefel, die ihm bis über die Oberschenkel reichten, hätten ihn schlucken können, wäre da nicht noch der große Federhut gewesen. Trotz der Hitze trug er ein dickes, gepolstertes Wams. Sein schwarzer Bart und Schnurrbart unterstrichen sein breites Grinsen, und seine langen, schwarzen Haare fielen in Locken über seine Schultern. Er trug ein riesiges Schwert, das immer kurz davor zu sein schien, ihn stolpern zu lassen oder sich zwischen seinen Beinen zu verfangen, was jedoch wundersamerweise nie geschah. Nachdem er seine Hand an den schweren Knauf des Schwerts gelegt hatte, hielt der Spinnerbaron seine gewohnte Begrüßungsrede, die den Vorteil hatte,
dass sie kurz und treffend war. »Ihr seid hier, um euch einer Elitetruppe kämpfender Männer und Frauen anzuschließen. Der besten auf Krynn. Für mich seht ihr noch wie ein ziemlich wilder Haufen aus, aber unser Meister Quesnelle hier wird sein Bestes tun, um aus euch Soldaten zu machen. Tut eure Pflicht, gehorcht euren Befehlen, kämpft tapfer. Viel Glück euch allen, und lasst mich wissen, wohin ich euren Sold schicken soll, falls ihr ihn nicht mehr selbst abholen könnt! Hahaha!« Der Spinnerbaron lachte unverschämt los und verschwand immer noch lachend wieder in der Burg. Anschließend reichte man jedem der neuen Rekruten einen kleinen Laib Brot, der zwar hart und schwer zu kauen war, aber überraschend gut schmeckte. Dazu gab es ein Stück Käse. Als Caramon sein Essen verzehrte, hielt er das für einen guten Anfang und fragte sich, wann man ihnen den Rest der Mahlzeit servieren würde. Ihm und seinem Magen stand eine Enttäuschung bevor. Man gestattete den Männern, ausreichend Wasser zu trinken, dann führte der Feldwebel die Rekruten in die Kasernen – niedrige Gebäude mit großen Zimmern, dieselben, durch die Raistlin gegangen war. Die Rekruten erhielten Decken und andere Ausrüstung, sogar Stiefel. Alles, was sie bekamen, wurde neben ihren Namen aufgeschrieben, denn das Geld für die Ausrüstung würde von ihrem Sold abgezogen werden. »Das ist euer neues Zuhause«, verkündete der Feldwebel. »Hier werdet ihr den nächsten Monat über wohnen. Ihr seid dafür verantwortlich, dass alles jederzeit sauber und ordentlich ist.« Der Feldwebel warf einen missbilligenden Blick auf den gefegten Boden und das frische Stroh, das ihn bedeckte.
»Im Augenblick«, stellte er fest, »sieht es hier schlimmer aus als in einem Schweinestall. Ihr werdet den Rest des Nachmittags hier saubermachen.« »Verzeihung, Sir«, meldete sich Caramon zu Wort und hob die Hand. Er glaubte ernsthaft, der Feldwebel hätte sich geirrt. Vielleicht war der Mann kurzsichtig. »Aber der Raum ist doch schon sauber, Sir.« »Du hältst diesen Boden für sauber, Majere?«, fragte der Feldwebel mit täuschendem Ernst. »Ja, Sir«, bestätigte Caramon. Der Feldwebel griff nach einem Unrateimer, der in der Ecke stand, und kippte den stinkenden Inhalt über den Steinboden, sodass das Stroh damit getränkt wurde. »Hältst du den Boden immer noch für sauber, Majere?«, erkundigte sich der Feldwebel. »Nein, aber Ihr – « »Nein, was, Majere?«, brüllte der Feldwebel. »Nein, Sir«, erwiderte Caramon. »Saubermachen, Majere.« »Ja, Sir«, sagte Caramon unterwürfig. Die anderen Rekruten schrubbten und fegten bereits geschäftig drauflos. »Wenn ich bitte einen Schrubber haben könnte, Sir – « »Schrubber?« Der Feldwebel schüttelte den Kopf. »Einen guten Schrubber kann ich für solchen Dreck nicht erübrigen. Ein guter Schrubber ist schwer zu bekommen. Aber mit dir ist das anders, Majere. Du bist ersetzbar. Hier hast du einen Lumpen. Auf die Knie!« »Aber, Sir – « Caramon verzog das Gesicht. Der Gestank war Ekel erregend. »Sofort, Majere!«, brüllte der Feldwebel. Caramon versuchte, den Atem anzuhalten, damit er den
Gestank nicht einatmen musste, nahm den Lappen und ging auf Hände und Knie. Er hielt den Atem an, bis er Sterne sah, dann atmete er so kurz wie möglich ein. Im nächsten Augenblick griff er auch schon nach dem Unrateimer, um seinen Mageninhalt von sich zu geben. Plötzlich tränkte ein Wasserschwall den Boden, sodass der abscheuliche Gestank nachhaltig verdünnt und ein Großteil des Schmutzes weggeschwemmt wurde. Das Wasser spritzte sogar auf die Stiefel des Feldwebels. »Verzeihung, Sir«, entschuldigte sich Tauscher verlegen. »Ich wische das für Euch ab, Sir«, bot sich Caramon an, der bereits eifrig mit seinem Lumpen auf den nassen Stiefelspitzen herumrieb. Der Feldwebel funkelte die beiden an, doch in seinen Augen war ein angedeutetes Lächeln und eine gewisse Anerkennung zu lesen. Dann drehte er sich um und schrie die anderen Rekruten an, die gebannt zuschauten. »Was zur Hölle glotzt ihr da? An die Arbeit, ihr trauriger Haufen! Heute Abend will ich von diesem Boden essen können, und zwar noch vor Sonnenuntergang!« Die Rekruten eilten an die Arbeit. Der Feldwebel verließ die Kaserne und gestattete sich draußen das Grinsen, das er so gewissenhaft unterdrückt hatte. Die Disziplin musste gewahrt bleiben. Die neuen Soldaten entfernten das frische Stroh, fegten den Boden mit Reisigbesen, kippten Wasser darüber und wischten, bis die Steine so sauber waren, dass Caramon bei der Rückkehr des Feldwebels stolz verkündete: »Ihr könnt Euch drin spiegeln, Sir!« Knurrend stellte der Feldwebel fest, dass die Arbeit zufriedenstellend war. »Jedenfalls bis man euch beigebracht
hat, es besser zu machen«, fügte er hinzu. Caramon erwartete, dass der Feldwebel jetzt ankündigen würde, dass Essenszeit sei, ob vom Boden oder nicht – Hauptsache, er bekam endlich etwas zu essen (und nicht zu wenig). Der Feldwebel warf einen Blick auf die untergehende Sonne und betrachtete dann nachdenklich die Männer. »Nun, da ihr früh fertig seid, bekommt ihr eine kleine Belohnung.« Caramon lächelte glücklich, weil er Sonderrationen erwartete. »Nehmt eure Schlafrollen. Bindet sie auf den Rücken. Nehmt Schwerter und Schilde, legt Brustpanzer und Helme an und«, er zeigte auf einen entfernten Hügel, »rennt da hoch.« »Warum, Sir?«, erkundigte sich Tauscher neugierig. »Was ist denn da oben?« »Ich, mit einer Peitsche«, antwortete der Feldwebel, der auf dem Absatz kehrtmachte, Tauscher am Hemd packte und durchschüttelte. »Hör zu, Fuchs. Und das gilt für euch alle.« Mit finsterem Blick musterte er sie, aber diesmal stand kein Lächeln in seinen Augen. »Dies ist das Erste, was ihr lernt, und ihr lernt es jetzt. Wenn ich einen Befehl gebe, gehorcht ihr diesem Befehl. Ihr fragt nicht. Wir diskutieren nicht. Wir stimmen nicht ab. Ihr tut es. Warum? Ich will euch sagen, warum. Und das ist das einzige Mal, dass ich euch jemals erkläre, warum ihr etwas tut. Weil der Zeitpunkt kommen wird, wo ihr in der Schlacht steht und euch die Pfeile um die Ohren schwirren und der Feind wie ein Dämon aus dem Abgrund brüllend und schreiend auf euch zugelaufen kommt. Die Trompeten ru-
fen schrill; heißes, blutiges Metall saust durch die Luft, und ich muss euch einen Befehl geben. Wenn ihr dann auch nur eine Sekunde lang zögert, um über diesen Befehl nachzudenken oder nach dem Grund zu fragen oder zu entscheiden, ob ihr diesem Befehl gehorchen wollt oder nicht, seid ihr tot. Und nicht nur ihr seid tot, sondern alle eure Kameraden ebenfalls. Und sie sind nicht nur tot, sondern auch die Schlacht ist verloren.« »Also…« Der Feldwebel ließ Tauscher los, der auf den Steinboden plumpste. »Also, fangen wir von vorne an. Nehmt eure Schlafrollen. Bindet sie auf den Rücken. Nehmt eure Schwerter und Schilder, legt Brustpanzer und Helme an und rennt da hoch. Ihr werdet bemerken«, fügte er grinsend hinzu, »dass auch ich Helm und Panzer trage und Schild und Schwert dabei habe. Und jetzt setzt eure lahmen Ärsche in Bewegung!« Der Befehl wurde befolgt, wenn auch unter beträchtlicher Verwirrung. Keiner der Rekruten hatte eine Ahnung, wie er seine Schlafrolle an seinem Körper festschnallen sollte. Sie fummelten an Knoten herum, und manch einer musste irritiert mit ansehen, wie seine Schlafrolle sich hinter ihm entrollte. Der Feldwebel ging von Mann zu Mann. Er schrie und schimpfte, hörte jedoch nicht auf, sie zu unterweisen. Schließlich waren alle mehr oder weniger fertig, auch wenn viele Helme schief auf den Köpfen saßen, die Schwerter gegen ihre Beine schlugen – oder jene zu Fall brachten, die nicht an eine Waffe gewöhnt waren – und sie unter den schweren Brustpanzern schwitzten. Tauscher konnte nicht unter seinem Helm hervorblinzeln, denn der war so groß, dass er ihm über die Augen rutschte, und er klapperte in
seinem Brustpanzer herum wie ein Stock in einem leeren Bierkrug. Sein Schild schleifte auf dem Boden. Caramon warf in Schwert und Rüstung einen langen, bedauernden Blick in Richtung des Speisesaals, wo er Teller klappern hörte und den köstlichen Duft von Schweinebraten roch. Mit einem lauten Ruf brachte der Feldwebel seine Rekruten auf den Weg. Bis sie – im Laufschritt – vom Hügel zurückkehrten, war die Nacht hereingebrochen. Sechs Rekruten hatten unterwegs beschlossen, dass eine militärische Laufbahn nichts für sie war, ganz gleich, wie viel man ihnen zahlte. Sie gaben ihre Ausrüstung ab – sofern sie sie nicht unterwegs fallen gelassen hatten – und hinkten erschöpft auf wunden Füßen in die Stadt zurück. Der Rest der Rekruten taumelte in den Hof, wo eine ganze Reihe zusammenbrach und vielen anderen vor Erschöpfung übel wurde. Der Feldwebel zählte durch und stellte fest, dass zwei fehlten. Kopfschüttelnd brach er wieder auf, um nach ihnen zu suchen.»Was ist denn das?« Der ungewöhnliche Anblick ließ den Spinnerbaron, der gerade durch das Lager ging, stehen bleiben. Das Gelände war von flackernden Fackeln und einem gewaltigen Hauptfeuer erhellt. In diesen Lichtschein trat ein sehr großer, kräftiger junger Mann mit rotbraunen Locken und einem gutmütigen, offenen Gesicht. Dieser Bursche hatte einen sehr mageren, jungen Mann über die Schulter geworfen, der immer noch tapfer mit der einen Hand sein Schwert und mit der anderen seinen Schild festhielt, obwohl dies dem großen Mann bei jedem Schritt von hinten gegen die Beine schlug. Die beiden waren die Letzten, die vom Hügel kamen.
Als der Hüne die anderen Rekruten erreichte, die mühsam Haltung angenommen hatten, setzte er den kleineren Mann sanft auf den Boden. Der taumelte, wäre beinahe umgefallen, grub jedoch ein Ende des Schilds in den Boden, um sich darauf zu stützen, und setzte ein triumphierendes, wenn auch erschöpftes Lächeln auf. Der Große, der nicht nur seinen Kameraden, sondern auch seinen eigenen Schild und sein Schwert getragen hatte, stellte sich in die Reihe. Er wirkte nicht besonders ausgepumpt. Nur hungrig. »Wer sind die beiden?«, fragte der Baron den Feldwebel. »Zwei der neuen Rekruten, Sir«, antwortete der Feldwebel. »Kommen gerade von einem Marsch auf den alten Fuchsberg zurück. Ich habe alles gesehen. Der Junge da ist beim Anstieg auf halbem Weg zusammengebrochen. Wollte aber nicht aufgeben. Kam wieder hoch und versuchte es noch einmal, machte ein paar Schritte und kippte wieder um. Trotzdem ist er wieder aufgestanden und hat es wieder versucht. Da hat der große Kerl ihn sich geschnappt, über die Schulter geworfen und den Hügel hinaufgeschleppt. Und auch wieder runter.« Der Baron betrachtete das Pärchen genauer. »An dem Jungen kommt mir etwas komisch vor. Sieht er nicht wie ein Kender aus?« »Der gute Kiri-Jolit bewahre uns! Ich hoffe nicht, Sir!«, erwiderte der Feldwebel mit Inbrunst. »Nein, er sieht doch eher aus wie ein Mensch«, fand der Baron, als er noch einmal darüber nachsann. »Aus dem wird nie ein Soldat. Er ist zu klein.« »Ja, Sir. Soll ich ihn ausmustern, Sir?« »Wäre vielleicht das Beste. Trotzdem«, fügte der Baron hinzu, »mir gefällt sein Schneid. Und dieser große Kerl. Ich
mag seine Loyalität. Lasst den dürren Hüpfer bleiben. Wir werden sehen, wie er den Drill durchsteht. Er könnte uns noch alle überraschen.« »Möglich, Sir«, meinte der Feldwebel, sah aber wenig überzeugt aus. Die Andeutung des Barons über Kenderblut hatte den Offizier schwer erschüttert. Er prägte sich ein, später die Blechteller und Holzlöffel zu zählen, und wenn auch nur einer fehlte, dann, bei den Göttern, würde der dürre Hüpfer verschwunden sein, ob mit oder ohne Schneid. Die Rekruten wurden zum Essen geschickt. Sie taumelten in den Speisesaal, wo viele beim Essen einschliefen, weil sie einfach todmüde waren. Caramon, der ungern etwas Essbares umkommen ließ, opferte sich, um ihre Mahlzeiten für sie zu beenden. Doch selbst Caramon musste zugeben, dass der Steinboden sich so behaglich anfühlte wie das weichste Federbett, als er sich schließlich schlafen legen durfte. Es kam ihm so vor, als hätte er gerade erst die Augen zugemacht, als er von einem Trompetenstoß geweckt wurde, der ihn mit klopfendem Herzen senkrecht hochfahren ließ. Er war so verwirrt, dass er keine Ahnung hatte, wo er war, was vor sich ging und was ihn das zu dieser gottlosen Stunde überhaupt anging. In der Kaserne war es stockdunkel. Vor den Fenstern – Schlitzen in den Mauern – sah er noch die Sterne, obwohl am leicht blässlichen Nachthimmel der erste Schimmer der Morgendämmerung zu erahnen war. »Hm? Was? Wie?«, murmelte Caramon und legte sich wieder hin. Brennende Fackeln erleuchteten die Kasernenstube. Die Fackeln warfen einen rötlichen Schein auf die Gesichter der
Männer, die sie trugen, grinsende, wohlwollende Gesichter. »Wecken! Auf, hoch mit euch, ihr faulen Säcke!« »Nein! Es ist noch Nacht!«, stöhnte Caramon und häufte Stroh über seinen Kopf. Eine Stiefelspitze traf Caramon zwischen den Rippen. Diesmal war er hellwach. Stöhnend schreckte er hoch. »Hoch mit euch, ihr Söhne von Gossenzwergen!«, brüllte ihm der Feldwebel ins Ohr. »Ihr könnt anfangen, euch eure fünf Stahlstücke zu verdienen!« Caramon seufzte tief. Inzwischen kam ihm seine Bezahlung nicht mehr so großzügig vor.Bis die Rekruten abgetragene, blaugraue Waffenröcke angezogen, ein hastiges (und höchst unzureichendes) Frühstück zu sich genommen hatten und zum Übungsplatz gezogen waren – einem großen Feld eine gute Meile vor der Burg –, waren die Sterne verschwunden. Ungefähr so verschlafen wie die Männer blinzelte die Sonne ein paar Momente über den Horizont und kroch dann, als hätte diese Anstrengung sie ermüdet, unter eine dicke, graue Wolkendecke, um weiterzuschlafen. Ein sanfter, anhaltender Frühlingsregen rann von den Metallhelmen der sechzig Männer, die man mit einigem Nachdruck dazu gebracht hatte, drei Reihen zu je zwanzig Mann zu bilden. Der Feldwebel und sein Adjutant gaben die Ausrüstung aus – einen Übungsschild und ein Holzschwert. »Was ist denn das, Sir?«, fragte Caramon, der verächtlich das Holzschwert betrachtete. Dann senkte er die Stimme und sagte in vertraulichem Ton, damit die anderen Rekruten sich nicht schämten: »Ich weiß doch, wie man ein echtes Schwert benutzt, Sir.« »So, weißt du das?«, erwiderte der Soldat grinsend. »Wir
werden ja sehen.« »Kein Reden in den Reihen!«, fauchte der Feldwebel. Caramon seufzte. Als er das Holzschwert anhob, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass es doppelt so viel wog wie eine gute Stahlklinge. Der Schild war ebenfalls beschwert und ausgesprochen klobig. Tauscher konnte ihn kaum hochheben. Nun ging ein zweiter Soldat durch die Reihen, der zerbeulte Armschienen austeilte. Caramons Armschiene passte nicht über seinen dicken Unterarm, während die von Tauscher abrutschte und in den Matsch fiel. Nachdem jeder mehr oder weniger ausgerüstet war, salutierte der Feldwebel vor einem älteren Mann, der an der Seite stand. »Die gehören alle Euch, Meister Quesnelle, Sir«, sagte der Feldwebel in demselben hoffnungslosen Ton, mit dem er bekannt gegeben hätte, dass sich Wanderratten in die Burg geschlichen hatten. Meister Quesnelle brummte nur. Er schritt langsam durch den Regen und nahm dann seinen Platz vor den Rekruten ein. Der Waffenmeister war sechzig Jahre alt. Sein Bart und seine Haare, die unter dem Helm hervorlugten, waren eisengrau. Sein Gesicht trug Narben von Schwertern und Messern und war von jahrelangen Feldzügen tief gebräunt. Auch ihm fehlte ein Auge – eine Augenklappe bedeckte die leere Höhle. Das andere Auge war tief liegend und glitzerte unter dem Schatten seines Helms hervor. Es schien heller zu leuchten als ein normales Auge, als würde es für zwei blitzen. In der Hand hielt der Meister das gleiche Holzschwert und den gleichen Übungsschild wie seine Männer.
Er hatte eine Stimme, die den Lärm einer Schlacht übertönen konnte und wahrscheinlich sogar aus einem Kendertreffen auf einem Mittsommermarkt herauszuhören war. Meister Quesnelle musterte die Rekruten und machte ein strenges Gesicht. »Ich habe gehört, dass manche von euch glauben, sie wüssten, wie man mit einem Schwert umgeht.« Sein Blick überflog sie, und wer davon berührt wurde, hielt es für angebracht, seine Stiefel zu betrachten. Meister Quesnelle lachte höhnisch. »Klar. Ihr seid alle richtig tolle Burschen – jeder Einzelne. Ihr erinnert euch an eines, und nur eines: Ihr wisst nichts! Ihr wisst nichts, und ihr wisst nichts, bis ich euch sage, dass ihr etwas wisst.« Keiner rührte sich, keiner sagte ein Wort. Die Reihen, die anfangs relativ gerade ausgerichtet gewesen waren, waren inzwischen über das ganze Feld verschoben. Verdrossen standen die Männer mit den schweren Holzschwertern in der einen und den Schilden in der anderen Hand im Regen, und das Wasser tropfte vom Nasenschutz ihrer Helme. »Ich wurde hier als Meister Quesnelle vorgestellt. Meister Quesnelle bin ich nur für meine Freunde und Kameraden. Ihr Schnecken nennt mich beim Vornamen, und der lautet Sir! Verstanden!« Die Hälfte der Männer fühlte das durchbohrende Auge auf sich ruhen und antwortete verzagt: »Ja, Sir.« Der Rest, der nicht gemerkt hatte, dass er antworten sollte, warf im letzten Moment ein »Ja, Sir« hinterher, nur ein Pechvogel sagte versehentlich: »Ja, Meister Quesnelle.« Meister Quesnelle stürzte sich auf ihn wie eine Katze auf eine Stinkwanze. »Du da! Was hast du gesagt!«
Der arme Teufel bemerkte seinen Fehler. »Ja, S-S-Sir«, stammelte er. Meister Quesnelle nickte. »Schon besser. Und damit das in deinem begriffsstutzigen Gehirn hängen bleibt, wünsche ich, dass du zehnmal um dieses Feld läufst und dabei schreist: ›Sir, Sir, Sir.‹ Ab!« Der Rekrut starrte ihn mit offenem Mund an. Der Feldwebel baute sich wütend vor ihm auf, worauf der Rekrut Schwert und Schild fallen ließ und losrennen wollte. Der Feldwebel hielt ihn auf und reichte ihm sein schweres Schwert und den noch schwereren Schild. Der Rekrut taumelte los, begann um den Übungsplatz zu laufen und schrie dabei immer wieder: »Sir, Sir, Sir!« Der Meister ließ sein Schwert sinken, bis die Holzklinge sich in den Boden bohrte. »Habe ich einen Fehler gemacht?«, fragte er und klang dabei beinahe kläglich. »Ich hatte den Eindruck, ihr Männer wärt hier, weil ihr Soldaten werden wollt. Habe ich mich da geirrt?« Meister Quesnelles Auge glitt über die Rekruten, die hinter ihre Schilde zurückschreckten oder versuchten, sich hinter den vor ihnen Stehenden zu verbergen. Der Meister runzelte die Stirn. »Wenn ich eine Frage stelle, wünsche ich einen Schlachtruf zur Antwort. Verstanden?« Die Hälfte der Männer raffte sich zu einer knurrigen Antwort auf: »Ja, Sir.« »Verstanden?«, brüllte der Meister. Dieses Mal war die Antwort laut, einstimmig und klar. Ein kräftiger Ruf brach aus der Gruppe hervor: »Ja, Sir!« Meister Quesnelle nickte kurz. »Na, sieht so aus, als hät-
ten wir hier doch ein wenig Kampfgeist.« Er hob sein Holzschwert hoch. »Wisst ihr, was man damit macht?«, fragte er. Viele machten ein verständnisloses Gesicht. Ein paar, darunter Caramon, dachten an Quesnelles Anweisungen und riefen zurück: »Ja, Sir!« Meister Quesnelle schien am Ende seiner Geduld zu sein. »Wisst ihr, was man damit macht?«, schrie er und wedelte mit seinem Schwert durch die Luft. Das Gebrüll war ohrenbetäubend. »Nein, ihr wisst es nicht«, sagte er ruhig. »Aber ihr werdet es wissen, wenn wir fertig sind. Bevor ihr lernt, die Waffe zu benutzen, müsst ihr lernen, euren Körper zu beherrschen. Nehmt das Schwert in die rechte Hand. Stellt den rechten Fuß hinter den linken Fuß und verlagert euer Gewicht darauf. Hebt den Schild so an.« Er hob seinen Schild in Verteidigungsposition und hielt ihn so, dass er die ungeschützte Seite des Körpers abschirmte. »Wenn ich ›Stop‹ schreie, brüllt ihr so wie eben, macht einen Schritt nach vorn und durchbohrt den Feind vor euch. In dieser Position bleibt ihr stehen. Wenn ich schreie ›Zurück‹, kehrt ihr in die Reihe zurück. Stoß!« Der Waffenmeister schloss das Kommando ohne jede Pause an, sodass nur die Aufmerksamsten es mitbekamen. Die Hälfte der Soldaten stieß zu, die anderen waren noch unsicher, was sie tun sollten. Tauscher war gleich dabei, genauso Caramon, dessen Blut in Wallung geraten war und dem die Sache allmählich gefiel. Er stand an einem Ende der zweiten Reihe. Seine Scheide hing nass wie ein schmutziges Geschirrtuch an ihm und kratzte an seinem Arm. Begeistert stieß er zu und schrie, und nach einem Augenblick
schloss der Rest der Reihen sich ihm an. »Halten!«, brüllte Meister Quesnelle. »Keiner rührt sich.« Die Rekruten standen in einer unbequemen Stellung, in der sie ihr Schwert parallel zum Boden hielten, als hätten sie eben angegriffen. Der Meister wartete und sah zufrieden zu. Bald begannen ihre Armmuskeln zu glühen und dann zu zittern, während sie sich bemühten, das Gewicht des schweren Schwertes zu halten. Noch immer rührte sich keiner. Caramon fand die Haltung allmählich etwas unangenehm. Er warf einen Blick auf Tauscher, sah den Arm seines Freundes beben und sein Schwert wackeln. Schweiß mischte sich in den Regen. Tauscher biss vor lauter Anstrengung auf seine Unterlippe, denn die Spitze seines Schwertes schwankte und zitterte. Langsam begann sich die Klinge in Richtung Boden zu senken. Tauscher sah in hilfloser Qual zu – seine Kraft war verbraucht. »Zurück!«, schrie Meister Quesnelle. Jeder schrie erleichtert auf, der beste Schlachtruf, den sie bisher zustande gebracht hatten. »Stoß!« Gnädigerweise war die Wartezeit vor dem zweiten Kommando kürzer. »Zurück!« »Stoß!« »Zurück!« Tauscher keuchte, hielt aber entschlossen sein Schwert fest. Caramon musste sich langsam etwas anstrengen. Der Mann, der herumgerannt und »Sir« gerufen hatte, stellte sich an seinen Platz in der Linie und begann mit dem Exerzieren. Nach einer Stunde gestattete Quesnelle den Männern eine kurze Ruhepause in der Grundstellung, damit sie
Luft holen und ihre schmerzenden Muskeln entspannen konnten. »So, weiß eine von euch Schnecken, warum wir in Reihen kämpfen?«, fragte der Meister. Caramon, der endlich seine Chance gekommen sah, den Waffenmeister zu unterstützen, hob als Erster sein Schwert. »Damit der Feind nicht durchbrechen und uns von der Seite oder von hinten angreifen kann, Sir«, erwiderte Caramon, der auf sein Wissen stolz war. Meister Quesnelle nickte überrascht. »Sehr gut. Majere, nicht wahr?« Caramon schwoll die Brust. »Ja, Sir!« Quesnelle streckte seinen Schildarm nach einer Seite und den Arm mit dem Schwert nach der anderen aus. In dieser Haltung stürmte er auf die vorderste Reihe zu, die ihn eingeschüchtert beobachtete, ohne zu wissen, was sie tun sollte, denn die Männer erwarteten, dass er vor ihnen anhalten würde. Der Meister lief jedoch mitten in die Männer hinein. Sein Schild warf einen Rekruten um, der nicht schnell genug aus dem Weg gegangen war, einen anderen traf sein Schwert ins Gesicht. Der Meister durchbrach die erste Reihe und fegte durch die zweite, wo die Männer sich duckten, damit sie nicht getroffen wurden. Meister Quesnelle bahnte sich einen Weg zu Caramon. »Jetzt bist du dran«, warnte Tauscher, der sich hinter dem riesigen Schild verkroch. »Was habe ich denn getan?«, wollte Caramon entsetzt wissen. Der Meister stand da, Auge in Auge mit Caramon – das heißt, eher Auge in Brustpanzer. Er ließ die Arme sinken
und funkelte Caramon an, der noch nie im Leben solche Angst gehabt hatte, nicht einmal vor der körperlosen Hand, die er im Turm der Erzmagier in Wayreth entdeckt hatte. »Sag mir, Majere«, schrie der Meister, »wenn diese Männer in Reihen stehen, wie in Kiri-Jolits Namen bin ich dann gerade eben bis hierher gelaufen?« »Ihr seid besonders gut, Sir?« war Caramons vorsichtige Antwort. Meister Quesnelle breitete die Arme aus und drehte sich um. Sein Schild schlug Caramon hart vor die Brust und warf ihn nach hinten. Quesnelle schnaubte und stürmte nach vorn. Im Vorüberziehen schlug er um sich und trieb die Rekruten auseinander. Dann drehte er sich zu der zerschlagenen Kompanie um. »Ich habe euch gerade gezeigt, warum erfahrene Soldaten sehr eng stehen. Zusammenrücken! Los! Los! Los!« Die Männer rückten dichter zusammen, bis sie Schulter an Schulter standen und zwischen ihren Schilden höchstens noch eine Handbreit Platz war. Meister Quesnelle sah sie an und grunzte zufrieden. »Stoß!«, befahl er, und der Drill begann von neuem. »Zurück! Stoß! Zurück!« Damit hatten die Rekruten eine gute halbe Stunde zu tun, bis der Meister sie innehalten ließ. Die Männer standen steif in der Ausgangsstellung. Der Regen hatte aufgehört, doch von der Sonne war noch nichts zu sehen. Offenbar hielt sie heute nicht viel vom Aufstehen. Quesnelle breitete wieder mit Schwert und Schild die Arme aus und warf sich auf die erste Reihe. Diesmal waren die Rekruten vorbereitet. Seine Brust traf den Schild des Mittelmanns. Er versuchte durchzubrechen, doch der Mit-
telmann wehrte sich mit aller Kraft und konnte ihn am Weiterkommen hindern. Quesnelle wich einen Schritt zurück und versuchte, zwischen den Schilden hindurchzutauchen, doch die Männer wichen nicht von der Stelle. Der Meister drehte sich um. Scheinbar zufrieden warf er Schwert und Schild auf den Boden. Die Rekruten entspannten sich, denn sie glaubten, der Drill wäre beendet. Plötzlich machte der Meister ohne Vorwarnung kehrt, stürmte vor und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die erste Reihe. Die erste Reihe war überrascht, wusste aber, was sie zu tun hatte. Sie hoben die Schilde, um den Meister in Empfang zu nehmen. Er prallte ab und blieb vor ihnen stehen. Quesnelles Auge glänzte. »Ich glaube, wir haben hier am Ende doch ein paar Soldaten.« Dann hob er seine Waffen auf und nahm seinen Platz an der Spitze der Kompanie ein. »Stoß!« Einheitlich sprangen die Männer vor. »Zurück!« Die Männer fielen zurück. Obwohl sie müde waren, waren sie doch mit sich zufrieden und stolz auf das Lob des Meisters. In diesem Moment – und nicht eher – fragte sich Caramon mit einem Mal, was wohl aus seinem Zwillingsbruder geworden war.
14. Kapitel Es fehlte nicht viel, und Raistlin wäre wieder gegangen und hätte diese Armee und die Stadt hinter sich gelassen. Die erste Nacht hatte er damit verbracht, in die schweigende Finsternis zu starren und mit dieser Versuchung zu spielen. Die Situation war unerträglich. Er war in der Hoffnung gekommen, etwas über Kriegszauberei zu lernen, und was hatte er gefunden? Einen groben, herrischen Mann, der über Magie weniger wusste als er, den Raistlins Zeugnisse jedoch nicht im Geringsten beeindruckten. Raistlin hatte den zerbrochenen Tiegel und dessen klebrigen Inhalt – der deutlich nach Ahornsirup roch und bestimmt für Horkins Abendessen bestimmt gewesen war – weggeräumt. Anschließend hatte Horkin ihm sein Quartier gezeigt. Raistlin hatte mehr Glück als sein Bruder, denn er und Horkin verbrachten die Nacht nicht in der Kaserne, sondern in der Burg. Zugegeben, sie waren in einem kleinen, verliesartigen Kellerraum untergebracht, aber sie bekamen Feldbetten und mussten nicht auf dem Steinboden schlafen. Das Bett war nicht gerade bequem, aber als Raistlin in der Nacht die Ratten herumhuschen und quieken hörte, wusste er es zu schätzen. »Der Spinnerbaron mag Zauberer«, hatte Horkin seinem neuen Untergebenen erzählt. »Wir bekommen besseres Essen als die Soldaten und werden auch besser behandelt. Haben wir natürlich auch verdient. Unsere Arbeit ist schwieriger und gefährlicher. Ich bin der einzige Zauberer, den es in der Kompanie des Barons noch gibt. Anfangs waren wir sechs, ein paar richtige Schlaumeier dabei. Turm-
zauberer wie du, Roter. Ironisch, nicht wahr? Der alte Horkin, der Dümmste von allen, als einziger Überlebender.« Obwohl Raistlin erschöpft war, konnte er nicht schlafen. Horkin schnarchte so laut, dass Raistlin eigentlich erwartete, dass die anderen Bewohner angerannt kämen, um zu sehen, ob die Burgmauern von einem Erdbeben erschüttert wurden. Gegen Mitternacht hatte er beschlossen, am nächsten Tag zu gehen. Er würde Caramon suchen, und sie würden zusammen nach – wohin sollten sie gehen? Zurück nach Solace? Nein, das kam nicht in Frage. Nach Solace zurückzukehren hätte geheißen, dass sie sich für besiegt erklärten. Doch es gab andere Städte, andere Burgen, andere Armeen. Seine Schwester hatte oft von einer großen Armee geredet, die im Norden zusammengezogen wurde. Mit diesem Gedanken spielte Raistlin eine Weile, um ihn schließlich zu verwerfen. Nach Norden zu gehen hieße, Kitiara zu begegnen, und danach hatte er kein Verlangen. Sie könnten es in Solamnia versuchen. Angeblich suchten die Ritter nach Kämpfern; sie würden Caramon bestimmt gerne aufnehmen. Aber Zauberer jedweder Art waren bei den Solamniern nicht willkommen. Raistlin warf sich auf seinem Bett, das kaum breit genug für seinen schmalen Körper war, hin und her. Horkin quoll rundherum eine gute Handbreit über den Bettrand hinaus. Während Raistlin so dalag und auf die Ratten lauschte – es klang, als ob sie an den Beinen seines Betts nagten –, wurde ihm plötzlich klar, dass er den ganzen Tag nur einen schweren Hustenanfall erlitten hatte. Normalerweise hatte er mit mindestens fünf zu rechnen. Er überlegte. »Ob mir dieses harte Leben tatsächlich gut
tut?«, fragte er sich. »Die Feuchtigkeit, die Kälte, das schlechte Wasser, das vergammelte Zeug, das sie Essen nennen… ich müsste inzwischen halbtot sein. Stattdessen habe ich mich selten lebendiger gefühlt. Das Atmen fällt mir leichter, und die Schmerzen in der Lunge haben nachgelassen. Ich bin den ganzen Tag ohne meinen Tee ausgekommen.« Er griff nach unten, um den Stab des Magus zu berühren, den er neben sein Bett gelegt hatte, damit er jederzeit zur Hand war. Er spürte das leise Vibrieren im Holz, die Wärme der Magie, die sich in seinem Körper ausbreitete. »Vielleicht weil ich zum ersten Mal seit vielen Monaten nicht mit meinem Schicksal gehadert habe«, gestand er sich ein. »Ich musste über andere Dinge nachdenken, nicht darüber, ob ich imstande sein würde, den nächsten Atemzug zu tun.« Als die Morgendämmerung nahte, hatte Raistlin sich zum Bleiben entschlossen. Zumindest konnte er vielleicht ein paar neue Sprüche aus den wenig benutzten Zauberbüchern lernen, die er in den Regalen gesehen hatte. Trotz Horkins lautstarkem Schnarchen schlief er ein. Am nächsten Morgen wurden Raistlin noch geringere Aufgaben zugewiesen – er musste das Laboratorium ausfegen, leere Bechergläser in einer Schüssel Seifenwasser spülen und die Bücher auf den Regalen abstauben. Das Abstauben gefiel ihm, vor allem, weil er dadurch die Gelegenheit bekam, sich die Zauberbücher näher anzusehen. Manches, was er fand, beeindruckte ihn. Seine Hoffnungen lebten wieder auf. Wenn Horkin in der Lage war, diese Bücher zu benutzen, war er womöglich doch nicht der Amateur, für den er sich ausgab.
Doch schon im nächsten Augenblick wurden Raistlins Hoffnungen wieder zerschlagen, denn Horkin tauchte dicht neben ihm auf. »Eine ganze Menge Zauberbücher hier«, meinte Horkin leichthin. »Ich habe nur eins davon gelesen, hab nicht viel verstanden.« »Warum behaltet Ihr sie dann, Herr«, fragte Raistlin mit eisiger Stimme. Horkin zuckte mit den Schultern und zwinkerte. »Sie könnten gute Waffen abgeben, falls wir mal belagert werden.« Er hob eines der größeren, dickeren Bücher hoch und warf es respektlos hin. »Eins dieser Bücher auf ein Katapult und hoch damit, das wird schon einigen Schaden anrichten, bei Luni.« Raistlin starrte ihn fassungslos an. Horkin kicherte und versetzte Raistlin einen schmerzhaften Rippenstoß. »Ich scherze, Roter! Bestimmt würde ich – ach, sechs bis sieben Stahlmünzen für den ganzen Haufen bekommen. Es sind nicht meine, weißt du. Die meisten fielen uns vor sechs Jahren während des Feldzugs von Alubrey in die Hände.« »Oder dieses schicke, schwarze Ding hier.« Horkin zog ein Buch aus dem Regal und betrachtete es fast liebevoll. »Das habe ich im letzten Sommer einer Schwarzen Robe abgenommen. Er rannte schnell los – nach hinten natürlich –, aber ich glaube, er dachte, er müsse noch etwas schneller rennen, denn er warf das Buch weg, weil es ihn wohl behindert hat. Ich habe es aufgelesen und mitgenommen.« »Welche Sprüche enthält es?«, fragte Raistlin, dessen Hände dem Meister nur zu gern das Buch weggerissen hätten.
»Ist mir doch schnurzegal«, erwiderte Horkin fröhlich. »Ich kann nicht mal die Runen auf dem Deckel lesen. Ich habe nie hineingesehen. Warum sollte ich mit einem Haufen Gekrakel meine Zeit verschwenden? Müssten aber ein paar nette Sprüche drinstehen. Vielleicht kannst du mal irgendwann einen Blick hineinwerfen.« Raistlin hätte die Hälfte seines Lebens dafür gegeben, dieses Buch lesen zu dürfen. Auch er begriff die Runen nicht, aber mit einiger Mühe würde er bestimmt dahinter kommen. Genauso wie er die Sprüche in diesem Buch verstehen würde, einem Buch, das Horkin niemals lesen konnte. Ein Buch, das ihm nicht mehr bedeutete als der Preis für einen Krug Bier. »Vielleicht wenn Ihr es mich in mein Zimmer mitnehmen lassen würdet – «, setzte Raistlin an. »Nicht jetzt, Roter.« Horkin warf das Buch achtlos in das Regal zurück. »Keine Zeit zum Austüfteln von Sprüchen Schwarzer Roben, die du als Rote Robe wahrscheinlich ohnehin nicht benutzen könntest. Uns geht der Fledermauskot aus. Such die Burgmauern ab und sammle alles ein, was du finden kannst.« Raistlin hatte am Vorabend gesehen, wie die Fledermäuse die Türme verlassen hatten, um auf Insektenjagd zu gehen. Also verließ er Horkin, um auf Kotsuche zu gehen, obwohl ihm die Runen des Zauberbuchs im Kopf herumschwirrten. »Fledermauskot hat man nie genug«, bemerkte Horkin augenzwinkernd, als er verschwand. Zwei Stunden lang sammelte Raistlin den giftigen Fledermauskot in eine Tasche. Er achtete darauf, sich gut die Hände zu waschen, ehe er sich im Laboratorium meldete,
wo er Horkin beim Essen antraf. »Du kommst gerade rechtzeitig, Roter«, murmelte Horkin, dem Maisbrotkrümel von den Mundwinkeln rieselten. Er trauerte noch immer um den Sirup, den er normalerweise auf die harten, trockenen, gelben Scheiben strich. »Iss auf.« Er wies auf einen zweiten Teller. »Du wirst deine Kräfte noch brauchen.« »Ich habe keinen Hunger, Sir«, wehrte Raistlin zaghaft ab. Horkin kaute weiter. »Das ist ein Befehl, Roter. Es geht nicht, dass du ausfällst, weil dir der Magen knurrt.« Raistlin knabberte an dem Maisbrot herum und stellte überrascht fest, dass es ihm tatsächlich schmeckte. Er war wohl hungriger, als er gedacht hatte. Er aß zwei große Scheiben und musste schließlich einräumen, dass das Brot zusammen mit Ahornsirup eine echte Delikatesse gewesen wäre. Nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, wusch er das Geschirr ab, während Horkin sich in einer Ecke des Laboratoriums zu schaffen machte. »Also«, fing Horkin an, als Raistlin mit seiner Arbeit fertig war, »bist du bereit, mit deiner Ausbildung zu beginnen?« Raistlin lächelte verächtlich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Horkin ihm etwas beizubringen hätte. Raistlin vermutete, dass die Lektion damit enden würde, dass Horkin Raistlin anflehte, ihn etwas zu lehren. Was Horkins Geschichte über die sechs verblichenen Turmmagier anging, die seine Vorgänger gewesen waren, glaubte Raistlin kein Wort davon. Es war einfach unmöglich, dass ein ungebildeter, unbelesener Magieanfänger überlebt hatte, wo es erfahrenen, ausgebildeten Magiern nicht gelungen war.
»Lass mich meine Ausrüstung holen«, meinte Horkin. Raistlin erwartete, dass der Zauberer bestimmte Komponenten holte, vielleicht auch die eine oder andere Spruchrolle. Stattdessen nahm er zwei Holzpflöcke mit einem Durchmesser von zwei Fingerbreit und einer Länge von drei Fuß. Dann ergriff er ein Bündel Lumpen, das auf dem Tisch lag, und stopfte es in eine Tasche seiner braunen Robe. »Folge mir.« Er führte Raistlin in den Regen hinaus, der nach kurzer Pause wieder angefangen hatte. »Oh, und lass deinen Stab hier. Den brauchst du heute nicht. Keine Sorge«, fügte er hinzu, als er Raistlins Zögern bemerkte. »Er ist schon sicher hier.« Raistlin hatte den Stab seit dem Tag, an dem er ihn aus Par-Salians Hand erhalten hatte, nicht aus den Augen und kaum einmal außer Reichweite gelassen. Er wollte protestieren, überlegte dann aber, dass er sich lächerlich machen würde, wenn er sich wegen des Stabs aufregte wie eine Mutter, die ihr Neugeborenes nur ungern anderen überlässt. Raistlin lehnte den Stab an eine Wand, wo noch andere Waffen hingen – mit dem absurden Gedanken (er wurde rot dabei), dass der Stab des Magus sich in so kriegerischer Gesellschaft wohl fühlen würde. Nachdem er seine Kapuze über den Kopf gezogen hatte, stapfte Raistlin durch den Matsch. Nach einer Meile gelangten sie auf den Exerzierplatz, an dessen Ende eine Kompanie Soldaten trainiert wurde. Alle Soldaten trugen den gleichen blaugrauen Waffenrock, doch Raistlin erkannte Caramon, der die anderen um Kopf- und Schulterlänge überragte. Raistlin fand nicht, dass die Soldaten etwas Sinnvolles taten. Sie schrien, stachen mit ihren Schwertern
und schrien wieder. Der Regen hatte seine Roben durchnässt. Schon bald zitterte er vor Kälte und begann zu bedauern, dass er sich zum Bleiben durchgerungen hatte. Horkin schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Also los, Roter, mal sehen, was sie dir im mächtigen Turm von Wayreth beigebracht haben.« In jeder Hand hielt er einen von den Holzpflöcken, die er durch den Regen schleppte. Raistlin konnte sich nicht vorstellen, was Horkin mit den Pflöcken vorhatte, die zu keinem Zauberspruch gehörten, der Raistlin in den Sinn kam. Allmählich hielt er Horkin für leicht verrückt. Der Kriegszauberer drehte sich um und zeigte auf das andere Ende des Feldes, ein Stück von der Stelle entfernt, wo die Soldaten schreiend in die Luft stießen. »Also, Roter, welches ist dein bester Spruch – abgesehen vom Schlaf?« Horkin verdrehte die Augen. Raistlin ignorierte seine Bemerkung. »Ich beherrsche das Aussenden entzündlicher Projektile, Sir.« »Entzündliche was?« Horkin wirkte irritiert. Er klopfte Raistlin auf die Schulter. »Du kannst Umgangssprache benutzen, Roter. Wir sind hier unter Freunden.« Raistlin stieß einen tiefen Seufzer aus. »Magische Geschosse, Sir.« »Ah, gut.« Horkin nickte. »Dann schieß mal eins auf den Zaunpfahl da hinten am Ende des Feldes. Siehst du ihn?« Raistlin schob die linke Hand in den Beutel, den er an der Seite seines Gürtels trug, und zog das Stückchen Pelz hervor, die Spruchkomponente, die er zum Zaubern brauchte. Nachdem er den fernen Zaunpfosten ins Auge gefasst hatte, sammelte er sich, um sich die Worte ins Gedächtnis zu
rufen, die er für den Gesang brauchte, mit dem er einen magischen Feuerblitz erschuf. Im nächsten Augenblick hockte er auf Händen und Knien auf dem Boden und rang nach Luft. Über ihm stand Horkin mit einem Pflock, der Raistlin gerade in den Magen getroffen hatte. Entsetzt über den schmerzhaften, unerwarteten Hieb starrte Raistlin ihn verständnislos an, schnappte nach Luft und versuchte, sein schnell klopfendes Herz zu beruhigen. Horkin stand über ihm und wartete, ohne seine Hilfe anzubieten. Schließlich kam Raistlin auf die Beine. »Warum habt Ihr das getan?«, wollte er wissen. Er bebte vor Zorn. »Warum habt Ihr mich geschlagen?« »Warum… Sir«, korrigierte Horkin streng. Raistlin war zu wütend, um die Worte zu wiederholen. Grimmig funkelte er Horkin an. »Jetzt siehst du die Gefahr, Roter. Glaubst du, der Feind bleibt einfach stehen und wartet, während du in Trance verfällst und ›Dideldum‹ singst und mit den Fingern durch die Luft fährst und ein Stückchen Pelz an deiner Wange reibst? Zur Hölle, nein! Du wolltest das mächtigste, durchschlagendste magische Geschoss aussenden, das es je gegeben hat, stimmt’s? Du wolltest diesen Pfosten spalten, Roter, oder? In Wahrheit hast du nichts erreicht. In Wahrheit wärst du jetzt tot, denn der Feind würde keinen Holzpflock benutzen. Er würde sein Schwert aus deinem knochigen Körper ziehen. Lektion Zwei, Roter – halte dich nicht zu lange mit deinen Sprüchen auf. Schnelligkeit heißt die Devise. Oh, und Lektion Drei – versuche nicht, einen komplizierten Spruch anzuwenden, wenn dir der Gegner im Nacken sitzt.«
»Ich wusste gar nicht, dass Ihr ein Gegner seid, Sir«, gab Raistlin kalt zu bedenken. »Lektion Vier, Roter«, erklärte Horkin mit zahnlückigem Grinsen. »Lerne deine Kameraden gut kennen, bevor du ihnen dein Leben anvertraust.« Raistlins Bauch tat weh, und das Luftholen war schmerzhaft. Er fragte sich, ob Horkin ihm wohl eine Rippe gebrochen hatte. »Versuch’s noch mal mit dem Pfahl, Roter«, befahl Horkin. »Oder, wenn du den nicht triffst, dann irgendwo in die ungefähre Nähe. Aber warte nicht den ganzen Tag.« Grimmig umklammerte Raistlin das Stückchen Fell und versuchte eilig, die Worte zusammenzubringen. Horkin hob den anderen Holzpflock und stieß damit nach Raistlin. Der setzte seinen Spruch fort, sah aber zu seinem Erstaunen ein Flackern aus dem Ende des Pflocks hervorbrechen. Die Flamme knisterte am Pflock entlang auf Raistlin zu, der verzweifelt versuchte, sie nicht zu beachten. Sie näherte sich dem Ende des Pflocks. Sein Spruch war fast fertig. Er wollte ihn gerade aussprechen, als ein grelles, blendendes Licht aufflammte. Der nachfolgende laute Knall war ohrenbetäubend. Er warf den Arm hoch, um sein Gesicht vor der Explosion zu schützen, und sah dabei aus dem Augenwinkel, wie Horkin den anderen Holzpflock schwang. Er schlug Raistlin auf den Rücken, sodass dieser mit dem Gesicht im Matsch landete. Langsam und unter Schmerzen richtete Raistlin sich wieder auf. Seine Knie waren aufgeschlagen und seine Hände zerkratzt. Er wischte sich den Dreck vom Gesicht und sah Horkin an, der auf den Absätzen wippte und hochzufrie-
den aussah. »Lektion Fünf, Roter«, erklärte Horkin. »Wende dem Feind nie den Rücken zu.« Raistlin wischte Matsch und Blut von seinen Händen ab. Er untersuchte die Kratzer und entfernte ein scharfkantiges Steinchen, das sich unter die Haut geschoben hatte. »Ich glaube, Ihr habt Lektion Eins übersprungen, Sir«, fauchte Raistlin, der seinen Zorn kaum noch bezähmen konnte. »Hab ich? Möglich. Denk mal drüber nach«, schlug Horkin vor. Raistlin wollte nicht darüber nachdenken. Er wollte diesem Irren entkommen. Für Raistlin bestand kein Zweifel mehr daran, dass Horkin geisteskrank war. Er wollte nur noch in trockenen Kleidern am warmen Feuer sitzen. Hier draußen im Nassen würde er sich ganz sicher den Tod holen. Er wollte Caramon suchen. Ihn suchen und ihm erzählen, was dieser Unhold ihm angetan hatte. Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, wie Horkin den Spruch gesagt hatte, der ihn geblendet hatte. Raistlin vergaß die Schmerzen und alle Unannehmlichkeiten. Der Spruch! Was war das für ein Spruch? Raistlin kannte ihn nicht; er hatte keine Ahnung, wie man ihn zustande brachte. Er hatte Horkin nicht nach Zauberkomponenten greifen sehen. Er hatte kein Wort, keine Anrufung gehört. »Wie habt Ihr diesen Zauber fertiggebracht, Sir?«, fragte Raistlin. Horkins Grinsen wurde breiter. »Aha, also kannst du von dem dummen, alten Zauberer, der nie seine Prüfung abgelegt hat, vielleicht doch noch ein bisschen lernen. Bleib ei-
nen Sommer bei mir, Roter, dann lehre ich dich alle möglichen Tricks. Ich bin nicht der letzte überlebende Zauberer in diesem gottverdammten Regiment, weil ich der Beste war.« Er zwinkerte. »Nur der Schlaueste.« Raistlin hatte genug eingesteckt. Er wollte sich umdrehen, fühlte aber Horkins schwere Hand auf seiner Schulter. Wutschäumend fuhr Raistlin herum. »Bei den Göttern, wenn Ihr mich noch einmal schlagt – « »Reg dich ab, Roter. Ich möchte dir etwas zeigen.« Horkin wies auf das Übungsfeld. Man hatte den Rekruten eine Pause gestattet, in der die Männer sich um ein Wasserfass versammelten. Was sie mit noch mehr Wasser wollten, war Raistlin unbegreiflich. Es regnete stärker. Raistlins Roben waren so nass, dass das Wasser ihm stetig den Rücken herunterlief. Die Rekruten jedoch schienen beste Laune zu haben, denn sie lachten und plauderten trotz des Regens. Caramon demonstrierte seine Schwerttechnik – Vorstoßen und Zurückfallen – mit solcher Inbrunst, dass er beinahe Tauscher aufgespießt hätte, der sich den Schild als Regenschutz über den Kopf hielt. Horkins Gesichtsausdruck veränderte sich, auch seine polternde Stimme wurde weicher. »Wir sind ein Infanterieregiment, Roter. Wir kämpfen. Wir sterben. Eines Tages werden die Männer da drüben sich in der Schlacht auf dich verlassen müssen. Wenn du versagst, geht es nicht nur um dich, sondern auch um deine Kameraden. Denn wenn du versagst, werden sie sterben. Wenn du nicht gekommen bist, um zu lernen, wie man kämpft – wozu zur Hölle bist du dann hier?« Raistlin blieb schweigend stehen, während der Regen auf
seine nassen Roben prasselte und auf sein Haupt trommelte. Das Wasser tropfte von seinen Haaren – vorzeitig weiß gewordenen Haaren, eine Folge der schrecklichen Prüfung, der er sich unterzogen hatte. Das Wasser lief seine Hände hinunter, dürre Hände mit langen, geschickten Fingern, Hände, die golden glänzten, ein weiteres Zeichen der Prüfung. Ja, er hatte bestanden, aber nur knapp. Obwohl er sich nicht an alles erinnern konnte, was geschehen war, wusste er in seinem Herzen, dass er beinahe versagt hätte. Durch den grauen Vorhang des Regens blickte er zu Caramon und Tauscher und all jenen, deren Namen er noch nicht wusste. Seine Kameraden. Raistlin fühlte sich gedemütigt. Er betrachtete Horkin mit neuem Respekt, denn ihm wurde klar, dass er von diesem Mann – diesem ungebildeten Westentaschenmagier, dessen Kollegen eher auf Jahrmärkten zu sehen waren, wo sie Münzen aus der Nase zogen – mehr gelernt hatte als in all den Jahren seiner Schulzeit. »Ich möchte mich entschuldigen, Sir«, begann Raistlin leise. Er hob den Kopf und blinzelte das Regenwasser aus seinen Augen. »Ich glaube, Ihr könnt mich eine ganze Menge lehren.« Horkin lächelte, ein warmes Lächeln. Seine Hand drückte freundlich auf Raistlins Schulter, und Raistlin wich der Berührung nicht aus. »Womöglich machen wir doch noch einen Soldaten aus dir, Roter. Das war Lektion Eins. Wollen wir fortfahren?« Raistlins Blick glitt zu den Holzpflöcken. Er straffte seine schmalen Schultern. »Ja, Sir.« Horkin bemerkte den Blick. Lachend warf er die Pflöcke auf den Boden. »Ich glaube nicht, dass wir die noch brau-
chen werden.« Nachdenklich sah er Raistlin an und streckte dann plötzlich die Hand aus, um ihm das Stückchen Pelz wegzunehmen, das dieser nicht losgelassen hatte. »Jetzt sag den Spruch.« »Aber das kann ich nicht, Sir«, protestierte Raistlin. »Ich habe kein anderes Fellstück mehr, und das ist die vorgeschriebene Spruchkomponente.« Horkin schüttelte den Kopf. »Ts, ts, ts. Du stehst mitten im Kampf, wirst von allen Seiten geschubst und bedrängt, die Pfeile sirren über deinen Kopf, die Männer schreien und brüllen. Jemand rempelt dich an, und schon liegt das Stückchen Pelz zwischen Schlamm und Blut und wird zertrampelt. Und du kannst deinen Spruch vergessen.« Seufzend schüttelte er wieder den Kopf. »Ich schätze, du bist tot.« Raistlin grübelte. »Ich könnte versuchen, ein anderes Stück Fell zu finden. Einen Pelzmantel von einem Soldaten vielleicht.« Horkin schürzte die Lippen. »Es ist Mittsommer, ihr kämpft am helllichten Tag. Es ist so heiß, dass man den Schild als Bratpfanne benutzen und einen Kender darin rösten könnte. Ich glaube nicht, dass viele ihren Pelz mitnehmen, Roter.« »Und was mache ich dann, Sir?« wollte Raistlin irritiert wissen. »Du zauberst ohne Fell«, erwiderte Horkin. »Aber das geht nicht…« »Es geht, Roter. Ich weiß es, weil ich es selbst getan habe. Ich habe mich schon immer gefragt«, fuhr Horkin nachdenklich fort, »ob die alten Magier diese Anforderung als kleinen Scherz eingefügt haben. Oder vielleicht, um dem
Pelzhandel von Palanthas Aufwind zu verschaffen.« Raistlin war skeptisch. »Ich habe noch nie gesehen, dass der Spruch ohne die Komponente gewirkt hat, Sir.« »Nun«, sagte Horkin, »dann schau mal zu.« Er hob die rechte Hand und murmelte ein paar magische Worte, während er die Finger seiner linken Hand in komplizierter Weise bewegte. Innerhalb von Sekunden knisterte eine magische Flamme aus seinen Fingern, brauste über das Feld und traf den Zaunpfahl, der Feuer fing. Raistlin schnappte staunend nach Luft. »Das hätte ich nicht für möglich gehalten! Wie habt Ihr das ohne das Pelzstück hinbekommen?« »Ich führe mich selbst an der Nase herum. Was ich dir vorhin beschrieben habe, ist mir wirklich einmal passiert. Ein feindlicher Pfeil hat mir den Pelz aus der Hand geschossen, gerade als ich meinen Spruch sagen wollte.« Horkin streckte die Hand aus und zeigte eine lange, unregelmäßige, weiße Narbe, die über seine Handfläche verlief. »Ich hatte panische Angst, ich war verzweifelt und halb verrückt. ›Ist doch nur ein dummes Stück Pelz‹, sagte ich mir. ›Das brauche ich nicht. Bei den Göttern, ich kann diesen Zauber auch so sprechen!‹« Er zuckte mit den Schultern. »Und das tat ich. Nichts hat je wieder so gut gerochen wie die verbrannten Hobgoblins an jenem Tag. Und nun versuche du es.« Raistlin blickte über das Feld und versuchte, sich vorzustellen, er hätte den Pelz in der Hand. Er sagte die Worte und beschrieb das Symbol. Nichts geschah. »Ich weiß nicht, wie Ihr es macht, Sir«, gab Raistlin verlegen zu, »aber die Regeln der Magie besagen – « »Regeln!«, schnaubte Horkin. »Beherrscht die Magie
dich, Roter? Oder beherrschst du die Magie?« Raistlin blinzelte überrascht. »Vielleicht habe ich mich in dir getäuscht«, fuhr Horkin fort, in dessen Augen ein gerissenes Glitzern aufkam, »aber ich vermute mal, dass du in deinem Leben bereits ein, zwei Regeln gebrochen hast.« Er berührte Raistlins Hand und die goldene Haut, die sie bedeckte. »Wer keine Regeln bricht, wird auch nicht bestraft. Und es sieht so aus, als wärst du bereits bestraft worden.« Horkin nickte in sich hinein und sagte leise: »Versuche es.« Ich beherrsche die Magie, sagte Raistlin zu sich. Ich beherrsche die Magie. Er hob die Hand. Flammen brachen aus seinen Fingern hervor und schossen über das Feld. Ein zweiter Zaunpfahl ging in Flammen auf. »Das war schnell!«, freute sich Raistlin aufgeregt. Horkin nickte beifällig. »Schneller habe ich es noch nie gesehen.« Die Rekruten beendeten ihr Exerzieren. Im Eiltempo marschierten sie die Straße entlang und sangen dabei, um im Gleichschritt zu bleiben. »Die ziehen sich zum Essen zurück«, sagte Horkin. »Wir sollten auch gehen, sonst ist für uns nichts mehr übrig. Hunger, Roter?« Zu seinem unendlichen Erstaunen war Raistlin – gewöhnlich ein schlechter Esser – so hungrig, dass selbst der Gedanke an den geschmacklosen Eintopf des Lagerkochs verlockend war. Die beiden liefen über das schlammige Feld auf die Kasernen zu. »Verzeihung, Sir, aber Ihr habt mir nicht den Spruch ge-
zeigt, mit dem Ihr mich abgelenkt habt.« »Das stimmt, Roter«, bestätigte Horkin. »Das habe ich nicht.« Raistlin wartete, aber der Zauberer grinste bloß in sich hinein, ohne etwas zu sagen. »Es muss ein sehr schwieriger Spruch sein«, überlegte Raistlin. »Die Flamme ist an dem Holzstab entlanggekrochen und erst am Ende explodiert. Von einem solchen Zauber habe ich noch nie gehört. Gehört der zu Euren persönlichen Tricks, Sir?« »Könnte man so sagen, Roter«, meinte Horkin feierlich. Er warf einen Seitenblick auf Raistlin. »Ich bin mir nicht sicher, ob du schon so weit bist.« Glückliches Gelächter – vor allem über sich selbst! – stieg in Raistlin auf. Er zwang sich, das Lachen herunterzuschlucken, denn er wollte nichts verderben, nicht ausgerechnet jetzt. Er konnte es kaum glauben, konnte es nicht begreifen. Er war geschlagen, misshandelt, hereingelegt worden. Er war verschlammt, nass bis auf die Haut und hatte sich noch nie so gut gefühlt. »Ich glaube, ich bin so weit, Sir«, erklärte er mit ehrlichem Respekt. »Blitzpulver.« Horkin schlug die beiden Holzpflöcke im Takt seiner Schritte wie Trommelstöcke aufeinander. »Das war gar kein Spruch. Hast du nicht gewusst, was, Roter? Hab dich gut an der Nase herumgeführt, was?« »Ja, Sir, das habt Ihr«, antwortete Raistlin.
15. Kapitel In Sanction fiel der Regen auf die heiße Lava, die zäh und unaufhaltsam von den Fürsten des Unheils herabfloss. Mit zischendem Geräusch landete der Regen auf dem geschmolzenen Gestein und verwandelte sich in Dampf. Der Dampf stieg in Schwaden empor und zog am Boden entlang, sodass ein so dichter Nebel herrschte, dass die Brückenwachen nicht einmal einander sehen konnten, obwohl sie nicht weiter als zehn Schritte voneinander entfernt standen. Kein Exerzieren heute. Die Männer hätten weder ihren Kommandanten noch einander gesehen. Ariakas hatte ihnen aufgetragen, die alten Latrinen zu füllen und neue anzulegen – eine Aufgabe, wo es umso besser war, je weniger man sah. Die Männer würden knurren, aber das war das Los eines Soldaten. Ariakas saß in seinem Kommandozelt, um im Licht eines Dochts, der in einer Talgschale steckte, Marschbefehle zu schreiben. Durch das Zeltdach leckte Wasser, das monoton in einen umgedrehten Helm tropfte, den er unter die Stelle gestellt hatte, damit es sich nicht auf dem Boden ausbreitete. Er fragte sich, weshalb er sich überhaupt damit abgab. Wegen des Nebels war sein Zelt von innen fast so nass wie von außen. Der Nebel kroch herein, leckte mit seiner grauen Zunge über seine Rüstung, über die Zeltpfosten, über den Stuhl und den Tisch, bis sie im Lampenschein glitzerten. Alles war feucht, klamm und grau. Er konnte nicht feststellen, wie spät es war, denn der Nebel hatte auch die Zeit geschluckt. Draußen hörte er, wie Männer in Stiefeln auf
und ab liefen und den Regen, den Nebel und einander verfluchten. Ariakas achtete nicht auf sie, sondern setzte seine Arbeit fort. Er hätte dieses tropfende Zelt verlassen und in die Wärme seines Dienstzimmers im Tempel von Luerkhisis zurückkehren können. Dort könnte er jetzt mit einem Becher Glühwein am Schreibtisch sitzen. Diesen Gedanken verbannte er aus seinem Kopf. Soldaten kämpften selten in warmen, behaglichen Räumen. Sie kämpften in Regen, Matsch und Nebel. Ariakas härtete nicht nur seine Männer, sondern auch sich selbst ab, damit er die Härten des Feldzugs ertragen konnte. »Herr.« Einer seiner Berater klopfte an den Zeltpfosten. »Ja, was ist?« Ariakas blickte nicht von seiner Arbeit auf. »Diese Frau ist zurück, Herr.« »Welche Frau?« Die Unterbrechung ärgerte Ariakas. Diese Befehle mussten klar, deutlich und präzise sein. Er konnte sich keine Fehler leisten. Nicht bei dieser Mission. »Die Kriegerin, Herr«, sagte sein Berater. »Sie möchte Euch sehen.« »Kitiara!« Ariakas schaute auf und legte die Feder hin. Seine Arbeit war nicht vergessen, doch sie konnte warten. Kitiara. Seit sie vor über einem Monat aufgebrochen war, war sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er freute sich, dass sie lebend zurückgekehrt war, auch wenn es ihn nicht besonders überraschte – obwohl die vier anderen, die er mit demselben Auftrag ausgeschickt hatte, entweder tot oder desertiert waren. Kitiara war anders; sie fiel aus dem Rahmen. Sie hatte eine Ausstrahlung, die Großes verhieß; jedenfalls kam es ihm so vor. Er war zufrieden, dass seine Einschätzung sich als richtig erwies.
Natürlich war sie gescheitert. Das war nur zu erwarten gewesen. Die Aufgabe, die er ihr gestellt hatte, war unerfüllbar gewesen. Er hatte damit nur seine Königin bei Laune halten wollen. Vielleicht würde Takhisis jetzt auf ihn hören. Ariakas war schon auf Kits Ausreden gespannt. Er fand es beeindruckend, dass sie den Mut hatte, zurückzukommen. »Schickt sie sofort herein«, befahl Ariakas. »Ja, Herr. Sie hat einen Magier der Roten Roben mitgebracht, Herr«, fügte der Mann hinzu. »Was hat sie?« Ariakas war verdutzt. Was machte Kitiara in Begleitung eines rot gekleideten Zauberers? Und wie konnte sie es wagen, ihn in dieses Lager zu bringen? Wer mochte das sein? Dieser Halbbruder vielleicht? Nach ihrer ersten Begegnung hatte Ariakas Balif über Kitiara ausgefragt. Der General wusste, dass sie Halbbrüder hatte, Zwillinge, der eine ein Einfaltspinsel, der andere ein junger Zauberer, und zwar eine Rote Robe. »Ist ein komischer Vogel, Herr«, berichtete der Gehilfe mit gesenkter Stimme. »Rot von Kopf bis Fuß. Und er hat was Gefährliches an sich. Die Wachen hätten ihn nie ins Lager gelassen – sie wollten ihn eigentlich auf der Stelle erschlagen –, aber die Frau hat ihn beschützt und darauf beharrt, sie würde auf Euren Befehl handeln.« Rot… von Kopf bis Fuß… »Bei unserer Königin!«, rief Ariakas aus, der aufsprang, als er urplötzlich die Wahrheit erkannte. »Schickt sie sofort beide zu mir!« »Beide, Herr?« »Beide! Augenblicklich!« Der Berater verschwand.
Es verstrich einige Zeit – die Wachen mussten die beiden an der Brücke aufgehalten haben. Dann duckte sich Kitiara unter der tropfenden Zeltklappe hindurch und betrat das Zelt. Sie lächelte ihn an, ein Lächeln, das auf einer Seite ihres Mundes breiter war als auf der anderen, ein Lächeln, das nur auf einer Seite ihre weißen Zähne hervorblitzen ließ. Ein verschmitztes Lächeln, das er schon bei ihrer ersten Begegnung bemerkt hatte. Ein spöttisches Lächeln, als ob sie ihr Schicksal auslachte und es herausforderte, sein Möglichstes zu tun. Ihre dunklen Augen begegneten seinen. Mit diesem einen Blick verriet sie ihm ihren Triumph. »General Ariakas.« Sie salutierte. »Ich habe Fürst Immolatus hergeführt, wie befohlen.« »Gut gemacht, Uth Matar«, lobte Ariakas. »Oder besser, Regimentskommandantin Uth Matar.« Kitiara grinste. »Danke, Sir.« »Wo ist er?« »Draußen, Sir. Er wartet auf seine förmliche Vorstellung.« Sie verdrehte die Augen und zog eine Augenbraue hoch. Ariakas begriff. Kit drehte sich zum Zelteingang um und verbeugte sich tief. »General Ariakas, ich habe die Ehre, Euch Seine Eminenz, Immolatus, vorzustellen.« Ariakas starrte einigermaßen ungeduldig die Zeltklappe an. »Seine Eminenz!«, schnaubte Ariakas. »Worauf wartet er noch?« »Sir!«, flüsterte Kit drängend. »Ich schlage vor – mit allem Respekt –, dass Ihr Euch verbeugt, wenn er eintritt. Das ist das Mindeste, was er erwartet.« Ariakas runzelte die Stirn und verschränkte die Arme
vor seiner breiten Brust. »Ich verbeuge mich vor niemandem, nur vor meiner Königin.« »Sir«, gab Kit zischend zurück, »wie dringend wünscht Ihr die Dienste dieses Drachen?« Ariakas wollte die Dienste des Drachen überhaupt nicht. Er persönlich wäre gut ohne sie ausgekommen. Königin Takhisis hatte beschlossen, dass Ariakas den Drachen wollte. Grollend neigte Ariakas seinen Kopf ein wenig. Ein Mann in langen, feuerroten Roben betrat das Zelt. Alles an ihm war rot. Seine Haare waren leuchtend rot, seine Haut hatte eine orangerote Färbung, seine Augen waren rot wie glühende Kohlen. Seine Gesichtszüge waren länglich, scharf und spitz – spitzes Kinn, spitze Nase. Auch seine Zähne waren scharf und spitz und standen so weit hervor, dass er einen unangenehmen Anblick bot. Er ging mit langsamen, würdevollen Schritten. Sein rotäugiger Blick bemerkte alles und war von allem, was er erfasste, gelangweilt. Er bedachte Ariakas mit einem verächtlichen Blick. »Setzt Euch«, sagte Immolatus. Ariakas war es nicht gewohnt, in seinem eigenen Kommandozelt Befehle entgegenzunehmen. Fast wäre er an dem Zorn erstickt, der aus seinem Bauch aufstieg. Kitiaras kühle, starke Hand schloss sich um sein Handgelenk und drückte sanft zu. Selbst in diesem kritischen Moment erregte ihn ihre Berührung. In ihren dunklen Haaren glitzerten Wassertröpfchen, ihr nasses Hemd klebte verführerisch auf ihrer Haut, und ihre Lederrüstung glänzte. Später, dachte Ariakas, und da Kitiaras Berührung ihn an die andere Frau in seinem Leben erinnerte – Ihre Dunkle Majestät –, setzte er sich auf seinen Stuhl. Er ließ sich je-
doch betont langsam nieder, um klarzustellen, dass er sich aus eigenem Antrieb setzte, nicht weil er Immolatus gehorchte. »Möchtet auch Ihr Euch setzen, Herr?«, fragte Ariakas. Der Drache blieb stehen, sodass er über seine ungewöhnlich lange Nase auf die Sterblichen unter ihm herabsehen konnte. »Ihr Menschen habt so viele Herren, so viele Herzöge und Barone, Prinzen und Könige. Wer seid Ihr mit Euren kurzen, erbärmlichen Leben schon im Vergleich zu mir? Nichts. Weniger als nichts. Würmer. Ich stehe unendlich weit über Euch. Deshalb werdet Ihr mich Eminenz nennen.« Ariakas’ Finger krümmten sich zusammen. Er stellte sich genüsslich vor, wie ebendiese starken Finger sich um den Hals Seiner Eminenz krümmten. »Meine Königin, schenk mir Geduld«, murmelte er und brachte ein düsteres Lächeln zustande. »Gewiss, Eure Eminenz.« Er fragte sich, wie er die Anwesenheit des Drachen seinen Männern erklären sollte. Die schwarzen Schwingen des Gerüchts flatterten vermutlich schon jetzt um die Lagerfeuer. »Und jetzt«, stellte Immolatus fest, der die Hände faltete, »werdet Ihr mir von Eurem Plan erzählen.« Kitiara stand auf. »Ich bin sicher, Ihr entschuldigt mich, Herr – « Ariakas hielt sie am Unterarm fest. »Nein, Kommandant Uth Matar. Ihr bleibt.« Kitiara lächelte ihn an mit dem verschmitzten Lächeln, das wie Feuer in seinem Blut brannte, diesem Feuer, das schmerzhaft in seinen Lenden loderte. »Ich schicke auch Euch auf diese Mission, Uth Matar«, fuhr Ariakas fort, der sie nur widerstrebend losließ.
»Schließt die Zeltklappe. Sagt den Wachen, sie sollen einen Kreis um das Zelt bilden und niemanden durchlassen.« Er bedachte sowohl Kit als auch den Drachen mit einem strengen Blick. »Was ich in diesem Zelt sage, darf nicht nach außen dringen, sonst ist Euer Leben verwirkt.« Immolatus reagierte belustigt. »Mein Leben? Verwirkt wegen eines Menschengeheimnisses? Ich würde gern sehen, wie Ihr das anstellen wollt!« »Es ist nicht mein Geheimnis«, erwiderte Ariakas. »Das Geheimnis gehört Ihrer Majestät, Königin Takhisis. Und Ihrer Majestät müsst Ihr Rede und Antwort stehen, wenn Ihr dieses Geheimnis durchsickern lasst.« Das fand Immolatus weniger komisch. Seine Lippen verzogen sich höhnisch, doch er sagte weiter nichts und ließ sich tatsächlich dazu herab, auf einem Klapphocker Platz zu nehmen. Der Drache stützte sich mit dem Ellenbogen auf General Ariakas’ Tisch ab und fegte den sauberen Stoß Marschbefehle auf den Boden. Dann trommelte er mit einem Ausdruck äußerster Langeweile mit seinen langen, spitzen Fingern auf dem Tisch herum. Kitiara führte ihre Befehle aus. Ariakas konnte hören, wie sie die Wachen wegschickte und ihnen befahl, in dreißig Schritt Abstand einen Ring um das Zelt zu bilden. »Überprüft, ob niemand draußen ist«, befahl Ariakas bei ihrer Rückkehr. Kitiara verließ wieder das Zelt und ging einmal rundherum – er konnte ihre Schritte hören. Als sie zurück war, schüttelte sie das Wasser aus ihren Haaren. »Niemand, Herr. Ihr könnt fortfahren. Ich werde Wache halten.« »Könnt Ihr mich von der Zeltklappe aus hören, Uth Matar?«, fragte Ariakas. »Ich möchte nicht die Stimme erhe-
ben.« »Ich höre ausgezeichnet, Herr«, antwortete Kit. »Sehr gut.« Ariakas schwieg einen Augenblick. Stirnrunzelnd betrachtete er seine auf dem Boden verstreuten Marschbefehle, während er seine Gedanken ordnete. Die Sicherheitsvorkehrungen hatten Immolatus’ Neugier geweckt – was Ariakas beabsichtigt hatte. Er wirkte etwas weniger gelangweilt. »Nun, fahrt schon fort«, knurrte der Drache. »Je eher ich diese winzige, schwächliche Gestalt verlassen kann, die anzunehmen ich gezwungen bin, desto besser.« »Im südlichsten Teil des Khalkistgebirges liegt eine Stadt mit dem einigermaßen prophetischen Namen Hoffnungsende. Sie ist von Menschen bewohnt, und – « »Ihr wollt, dass ich sie zerstöre.« Immolatus ließ seine scharfen Zähne aufblitzen. »Nein, Eure Eminenz«, wehrte Ariakas ab. »Die Befehle Ihrer Majestät sind sehr spezifisch. Nur wenige – sehr wenige – wissen davon, dass die Drachen nach Krynn zurückkehren. Der Tag wird kommen, an dem die Königin der Finsternis Euch gestatten wird, Euren Zorn auf die Welt loszulassen, aber dieser Tag ist noch fern. Unsere Armeen sind noch nicht bereit. Der Auftrag, den ich für Euch habe, ist viel wichtiger als die bloße Verwüstung einer Stadt. Euer Auftrag hat«, Ariakas senkte die Stimme, »mit den Eiern der Drachen des Paladin zu tun.« Dieser verfluchte Name, der Name des Gottes, der als Gegenspieler von Königin Takhisis im Himmel regierte, der Name des Gottes jener Menschen, die Immolatus soviel angetan hatten, ließ den Drachen erschauern. Er zischte vor Ärger. »Ich erlaube nicht, dass dieser Name in meiner Ge-
genwart erwähnt wird, Mensch! Noch einmal, und ich sorge dafür, dass Eure Zunge in Eurem Kopf verfault!« »Vergebt mir, Eure Eminenz«, fuhr Ariakas unerschrocken fort. »Ich musste ihn einmal aussprechen, damit Ihr das Ausmaß Eurer Mission versteht. Es muss kein zweites Mal geschehen. Gemäß der Berichte der Kleriker Ihrer Majestät liegen die Eier dieser Drachen, die ich fürderhin als ›Metallische‹ bezeichnen werde, unter der Stadt Hoffnungsende.« Immolatus’ rote Augen verengten sich. »Was soll das, Mensch? Ich habe Grund zu der Annahme, dass du lügst. Bitte mich nicht, dir zu erzählen, woher ich das weiß!« Er hob eine langfingrige Hand. »Solches Wissen ist nichts für Würmer.« Ariakas brauchte alle Selbstbeherrschung, um seinen Gast nicht zu erwürgen. »Eure Eminenz spielt zweifellos auf den Überfall Eurer Artgenossen auf die Insel der Drachen im Jahre 287 an. Einen Überfall, der tatsächlich viele Eier der Metallischen sicherstellte. Viele, aber nicht alle. Anscheinend sind die Metallischen doch nicht so dumm, wie wir glaubten. Einige der selteneren, kostbareren Eier haben sie nämlich anderswo versteckt – die der Goldenen und Silbernen Drachen.« »Also soll ich diese Eier zerstören«, sagte Immolatus. »Mit Vergnügen.« »Es tut mir leid, Euch mitteilen zu müssen, dass Ihr dieses Vergnügen noch aufschieben müsst, Eure Eminenz«, mahnte Ariakas kühl. »Ihre Majestät braucht die Eier heil und unversehrt.« »Warum? Zu welchem Zweck?«, wollte Immolatus wissen.
Ariakas lächelte. »Ich schlage vor, Ihr fragt Königin Takhisis selbst. Wenn ihre Würmer diese Information brauchen, wird sie ihnen gewiss alles erklären.« Immolatus sprang wütend auf. Seine anschwellende Wut schien das ganze Zelt auszufüllen. Von seinem Körper ging eine solche Hitze aus, dass die Wassertropfen auf Kits Rüstung zischten. Kitiara zögerte nicht. Mit gezogenem Schwert trat sie zwischen Ariakas und den Drachen und stand selbstsicher bereit, um ihren Kommandanten mit ihrer Klinge und ihrem Körper zu verteidigen. »Mein Herr wollte Euch nicht beleidigen, großer Immolatus«, warf Kitiara schnell ein, obwohl offensichtlich war, dass er genau das gewollt hatte. »Selbstverständlich nicht, Eure Eminenz«, schloss Ariakas sich an, um auf Kits Beschwichtigungsversuch einzugehen. Auch in Menschengestalt konnte der Drache unzählige mächtige Zaubersprüche auslösen. Sprüche, die Ariakas in Flammen setzen und sein Lager mitsamt der Stadt Sanction in Schutt und Asche legen konnten. Einen Kampf gegen dieses mächtige, arrogante Ungeheuer konnte er niemals gewinnen, doch Ariakas freute sich auch über seinen kleinen Sieg. Er versetzte ihn in nachsichtige Stimmung. Er konnte es sich erlauben, sich selbst kleiner zu machen. »Ich bin Soldat, Eure Eminenz, kein Diplomat. Ich bin es gewöhnt, frei heraus zu reden. Wenn ich Euch beleidigt habe, so geschah dies unbeabsichtigt. Bitte nehmt meine Entschuldigung an.« Etwas besänftigt nahm Immolatus wieder Platz. Die Hitze im Zelt nahm wieder erträglichere Ausmaße an. Ariakas wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Kitiara steckte ihr Schwert in die Scheide und trat wieder auf ihren Platz an
der Zeltklappe, als hätte sich nichts Bemerkenswertes oder Ungewöhnliches ereignet. Ariakas verfolgte ihre Bewegungen, die so geschmeidig waren wie die einer lauernden Katze. Noch nie hatte er eine solche Frau gesehen! Das Lampenlicht glitzerte auf ihrer Rüstung und warf dunkle Schatten hinter sie, Schatten, die sie zu umarmen schienen, so wie er sich danach sehnte, sie zu umarmen. Er sehnte sich danach, sie zu erobern, sie an sich zu pressen und sich von diesem angenehmen Schmerz zu befreien. »Wollen wir wieder zum Geschäftlichen übergehen?«, erkundigte sich Immolatus. Er war sich Ariakas’ Begehren wohl bewusst und verachtete die Schwäche des menschlichen Fleisches. »Was soll ich für Ihre Dunkle Majestät mit diesen Eiern tun?« Ariakas unterdrückte sein Begehren. Vorfreude würde die Erfüllung umso aufregender machen. »Ihre Majestät bittet darum, dass Ihr in Begleitung eines meiner Offiziere nach Hoffnungsende reist.« Ariakas warf Kitiara einen Blick zu, deren Augen vor Stolz freudig aufblitzten. »Ich dachte, ich schicke Uth Matar, wenn Ihr keine Einwände habt, Eminenz.« »Für einen Menschen ist sie akzeptabel«, meinte der Drache herablassend. »Gut. Sobald Ihr dort seid, habt Ihr die Aufgabe, Euch zu vergewissern, ob die Berichte von den Dracheneiern der Wahrheit entsprechen. Anscheinend haben die Kleriker zwar deutliche Hinweise auf das Vorhandensein der Eier, können sie aber nicht finden. Der Gott, dessen Name ich nicht aussprechen möchte, hält das Wissen über die Lage dieser Eier sogar vor Ihrer Dunklen Majestät geheim. Ihre
Majestät glaubt, dass nur ein anderer Drache sie ausfindig machen kann.« »Und deshalb braucht sie mich, damit ich hingehe und tue, wozu sie nicht in der Lage ist«, stellte Immolatus fest. Aus einem seiner Nasenlöcher drang eine Rauchfahne, die bewegungslos in der fauligen, stehenden Luft hängen blieb. »Und was soll ich tun, wenn ich die Eier gefunden habe?« »Ihr kehrt zurück und teilt mir den Fundort, die Anzahl und die Art der gefundenen Eier mit.« »Also bin ich der Eiermann Ihrer Majestät!«, fuhr Immolatus verärgert auf. »Eine Aufgabe, die jedes Bauernmädchen erfüllen könnte!« Er grollte vor sich hin, dann fügte er knurrend hinzu: »Ich nehme doch an, dass ein wenig Spaß dabei herausspringt. Denn Ihr wollt natürlich auch, dass ich die Stadt und ihre Bewohner vernichte.« »Eigentlich nicht«, entgegnete Ariakas. »Es darf nämlich niemand von unserer Suche erfahren. Niemand darf den wahren Grund für Eure Anwesenheit in Hoffnungsende wissen. Aber es darf auch niemand erfahren, dass die Drachen nach Krynn zurückgekehrt sind. Die Stadt wird zerstört, allerdings auf andere Weise, eine Weise, die weniger Aufmerksamkeit auf uns und Euch lenkt, Eminenz. Deshalb sorgen wir für Ablenkung. Hoffnungsende ist eine von vielen Städten im Königreich Blödehelm. Der König von Blödehelm, König Wilhelm, steht zurzeit unter dem Einfluss schwarzer Kleriker. Auf ihren ›Rat‹ hin hat er die Stadt Hoffnungsende mit einer Steuer belegt, einer zutiefst ungerechten, ruinösen Steuer, die die Bevölkerung dazu gebracht hat, sich gegen ihn zu erheben. König Wilhelm hat darum gebeten, dass meine Armeen ihm dabei helfen, die Revolte zu zerschlagen. Wir
werden die erbetenen Truppen natürlich entsenden. Ich schicke zwei meiner neu gebildeten Regimenter und eine Söldnertruppe, die König Wilhelm angeheuert hat – « »Fremde«, warf der Drache ein. »Nicht unter deiner Kontrolle.« »Dessen bin ich mir bewusst, Eure Eminenz«, gab Ariakas gereizt zurück, »aber ich habe noch nicht genug Soldaten für diese Aufgabe. Ich sehe es als Ausbildungsschritt. Die Männer müssen bluten, und dieser Krieg bietet die perfekte Gelegenheit.« »Und das Ziel? Wenn wir nicht die Stadt zerstören und ihre Bewohner abschlachten – « »Fragt Euch selbst, Eminenz. Welchen Zweck erfüllt ein toter Mensch? Keinen. Er verfault und verbreitet Gestank und Seuchen. Lebende Menschen hingegen sind äußerst nützlich. Die Männer arbeiten in den Eisenminen. Die älteren Kinder arbeiten auf den Feldern. Die jungen Frauen halten meine Soldaten bei Laune. Die ganz Jungen und die ganz Alten sterben praktischerweise, sodass man sich um sie keine Gedanken machen muss. Unser Ziel ist es daher, die Stadt einzunehmen und ihre Bevölkerung zu versklaven. Sobald Hoffnungsende geräumt ist, kann Ihre Majestät mit den Dracheneiern verfahren, wie sie will.« »Und was ist mit den Söldnern? Werden sie versklaven oder versklavt werden? Ich möchte meinen, sie hätten einen Wert für dich, wenn du, wie du sagst, wenig Männer hast.« Der Drache machte sich über ihn lustig, weil er ihn dazu bringen wollte, die Geduld zu verlieren. Ariakas antwortete mit erzwungener Ruhe: »Der Anführer dieser Söldner hat solamnische Vorfahren. Er kennt König Wilhelm als
Ehrenmann und wurde davon überzeugt, dass die Sache, für die er und seine Männer kämpfen, eine gute ist. Wenn dieser Söldnerführer die Wahrheit erfahren würde – dass er übertölpelt wurde –, wäre er eine Bedrohung für uns. Aber ich brauche ihn. Er ist einer der besten. Meinen Berichten zufolge nimmt er nur die besten Soldaten. Ihr seht meine schwierige Lage, Eure Eminenz.« »Allerdings.« Immolatus lächelte und zeigte dabei eine enorme Anzahl scharfer Zähne, viel mehr Zähne, als für einen Menschen normal waren. »Sobald die Stadt fällt, haben diese Söldner ihren Zweck erfüllt.« Ariakas machte eine großzügige Handbewegung. »Ich schenke sie Euch, Eure Eminenz. Ihr könnt mit Ihnen verfahren, wie Ihr wünscht… vorausgesetzt«, jetzt erhob er seine Hand zur Warnung, »dass Ihr nicht Eure wahre Natur oder Eure wahre Gestalt enthüllt.« »Dann fehlt ja schon das Beste«, beklagte sich Immolatus beleidigt. »Immerhin, es ist eine Herausforderung für einen kreativen Geist – « »Exakt, Eure Eminenz.« »Na schön.« Der Drache lehnte sich nach hinten und schlug die Beine übereinander. »Jetzt können wir über meine Bezahlung sprechen. Ich gehe davon aus, dass diese Mission von erheblicher Wichtigkeit ist. Sie muss Ihrer Majestät eine Menge wert sein.« »Ihr werdet für Eure Zeit und Mühe gut belohnt werden, Eure Eminenz«, bestätigte Ariakas. »Wie gut?« Immolatus’ Augen verengten sich. Ariakas zögerte. »Darf ich, Herr?«, sprang Kitiara in die Bresche. Ihre Stimme klang dunkel und süß wie Schokolade.
»Ja, Uth Matar?« »Seine Eminenz hat während des letzten Krieges einen schrecklichen Verlust erlitten. Man hat ihm seinen Schatz geraubt, während er fort war und für die Sache Ihrer Majestät gegen die Ritter von Solamnia kämpfte.« »Die Ritter von Solamnia?« Ariakas runzelte die Stirn. An einen Krieg mit den Rittern von Solamnia konnte er sich nicht erinnern. Sie waren zur Zeit der Umwälzung in Verruf geraten und hatten nie wieder zu ihrem früheren Ruhm zurückgefunden. »Welche Ritter von Solamnia?« »Huma, Herr«, erklärte Kitiara, ohne eine Miene zu verziehen. »Ah!« Ariakas zwang sich, die Denkweise des langlebigen Drachen besser nachzuvollziehen. Für Immolatus war der Kampf gegen Huma noch nicht lange her. »Der Ritter von Solamnia.« »Vielleicht hielte Ihre Majestät es ja für passend, Seiner Eminenz wenigstens einen Teil des Verlustes zu ersetzen – « »Den gesamten Verlust«, stellte Immolatus richtig. »Ich kenne die Menge bis zum letzten Silberkelch.« Er griff in einen Ärmel seiner Roben und zog eine Schriftrolle hervor, die er auf den Tisch warf. »Hier habe ich eine Aufstellung. Ich wünsche anständige Bezahlung, keine Stahlmünzen. Dreckiges Zeug, diese Stahlmünzen. Lassen sich nicht zu einem richtig bequemen Lager formen. Und ich glaube auch nicht, dass Stahl auf die Dauer seinen Wert behält. Nichts ist verlässlicher als Gold. Nichts so passend für einen friedlichen Schlaf. Silber und Edelsteine sind natürlich auch möglich. Unterschreibe hier.« Er deutete auf eine Linie am Fuß des Dokuments.
Ariakas betrachtete es stirnrunzelnd. »Die Stadt Hoffnungsende wird zweifellos beträchtliche Schätze in ihren Truhen bergen, Herr«, erinnerte ihn Kitiara. »Neben dem, was Ihr den Kaufleuten und Bewohnern abnehmen werdet.« »Allerdings«, meinte Ariakas. Er hatte dieses Geld für seine Schatzkammer nehmen wollen. Eine Armee aufzustellen – eine Armee, die ganz Ansalon erobern sollte – war eine teure Angelegenheit. Der Reichtum, den er diesem arroganten, gierigen Drachen aushändigen sollte, hätte viele Schwerter geschmiedet und viele Soldaten genährt. Vorausgesetzt, er hätte viele Soldaten zu ernähren, was im Moment nicht der Fall war. Seine Königin hatte ihm zugesagt, dass er mehr Soldaten erhalten würde. Ariakas gehörte zu der Handvoll Eingeweihter, die von den geheimen Experimenten wussten, welche im Inneren jener Berge, die als Fürsten des Unheils bekannt waren, vor sich gingen. Er wusste, was der schwarze Erzmagier Drakart, der schwarze Kleriker Wyrllish und der alte, rote Drache Harkiel zu erschaffen versuchten. Sie versuchten, die Eier der guten Drachen in Kreaturen zu verwandeln, die eines Tages ihre ahnungslosen Eltern töten sollten. Ariakas hatte – als Gelegenheitsmagier – seine Zweifel, ob ein so ehrgeiziges Vorhaben durchführbar war. Doch wenn aus diesen Dracheneiern neue Soldaten werden würden, neue, mächtige, unbesiegbare Soldaten, würden sie es wert sein, dafür den Schatz einer Stadt herzugeben. Ariakas kritzelte seinen Namen auf die Linien. Nachdem er das Pergament wieder zusammengerollt hatte, gab er es
Immolatus zurück. »Meine Armee ist bereits unterwegs. Ihr und Uth Matar brecht morgen früh auf.« »Ich kann auch sofort aufbrechen, Sir«, sagte Kitiara. Ariakas runzelte die Stirn. »Ich sagte, Ihr geht morgen.« Er betonte dieses Wort noch einmal. Kitiara blieb respektvoll, aber hartnäckig. »Seine Eminenz und ich sollten im Schutz der Dunkelheit reisen, Sir. Je weniger man uns bemerkt, desto besser. Seine Eminenz zieht beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich.« »Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Ariakas. Er sah Kitiara an. Er begehrte sie so sehr, dass der Schmerz unerträglich war. »Eure Eminenz, würdet Ihr so freundlich sein und einen Moment draußen warten. Ich möchte mit Uth Matar unter vier Augen sprechen.« »Meine Zeit ist kostbar«, sagte der Drache. »Ich stimme der Frau zu. Wir sollten sofort aufbrechen.« Majestätisch erhob er sich. Nachdem er seine Roben mit einer Hand zusammengerafft hatte, stolzierte er aus dem Zelt. Am Eingang warf er noch einen Blick zurück. Er hob die Schriftrolle und zeigte damit auf Ariakas. »Überschätze nicht meine Geduld, Wurm.« Dann verschwand er und hinterließ einen leichten Schwefelgeruch. Ariakas zog Kitiara an sich, drückte ihren Körper an seinen und liebkoste ihren Hals. »Immolatus wartet, Sir«, sagte Kitiara, die zuließ, dass er sie küsste, aber dennoch nicht nachgab. »Lass ihn warten!«, flüsterte Ariakas, den die Leidenschaft überkam. »So könnt Ihr mich nicht wollen, Herr«, widersprach Kit mit leiser, rauer Stimme, während sie ihren Verführer abwehrte. »Ich werde Euch Siege verschaffen. Ich werde Euch
zu Macht verhelfen. Nichts und niemand wird uns widerstehen können. Ich werde der Donner für Euren Blitz sein und der Rauch für Euer verzehrendes Feuer. Gemeinsam, Seite an Seite, werden wir die Welt regieren.« Sie bedeckte seine suchenden Lippen mit der Hand. »Ich werde Euch als General dienen. Ich werde Euch als meinen Führer ehren. Ich werde Euch mein Leben weihen, wenn Ihr es wünscht. Aber über die Liebe bestimme ich selbst. Kein Mann nimmt sich mit Gewalt, was ich ihm nicht zu geben bereit bin. Doch wisset eins, Herr. Wenn ich mich Euch schließlich hingebe, wird unser Vergnügen in jener Nacht das Warten wert sein.« Ariakas hielt sie noch einen Moment fest, dann ließ er sie langsam los. Im Bett fand er Vergnügen, doch weit größeres Vergnügen fand er in der Schlacht. Er liebte alle Aspekte des Krieges: die Strategie, die Taktiken, das Vorgeplänkel, das Klirren der Waffen, die Begeisterung, wenn ein Gegner überwältigt wurde, den endgültigen Triumph. Doch das süße Gefühl des Sieges stellte sich nur ein, wenn er einen Gegner antraf, der so erfahren war wie er selbst, jemanden, der seinen Stahl wert war. Es bereitete ihm kein großes Vergnügen, unbewaffnete Zivilisten abzuschlachten. Ebenso wie es kein echtes Vergnügen war, den Liebesakt mit Sklavinnen zu vollziehen, Frauen, die sich ihm aus Angst hingaben, die zitternd in seinen Armen lagen, schlaff und leblos. In der Liebe wie im Krieg wollte er – brauchte er – jemanden, der ihm ebenbürtig war. »Geh!«, fuhr er Kitiara schroff an, während er sich wegdrehte, ihr den Rücken zukehrte. »Geh schon! Verschwinde, solange ich noch Herr meiner selbst bin!« Sie verschwand nicht sofort, um ihren Sieg nicht zu min-
dern. Sie verweilte. Ihre Hand glitt über seinen Arm. Die Berührung brachte sein Blut zum Kochen. »In der Nacht, in der ich siegreich heimkehre, gehöre ich Euch, Herr.« Sie küsste seine nackte Schulter, dann verließ sie ihn und schlüpfte hinaus in den Regen, um sich dem Drachen anzuschließen. In jener Nacht rief Lord Ariakas zum Erstaunen seiner Diener keine Frau in sein Bett. Und auch in vielen weiteren Nächten nicht.
16. Kapitel Die Ausbildung der Zwillinge verlief ohne Pause, Woche für Woche. Das Essen war eintönig, die Ausbildung eintönig, Tag für Tag dasselbe Training, bis Caramon die Manöver im Schlaf mit einem Sack über dem Kopf hätte durchführen können. Das wusste er, weil sie jeden Morgen so früh aufstanden, dass es ihm vorkam, als würde er schlafwandeln, und eines Tages hatte Meister Quesnelle ihnen wirklich befohlen, Säcke über den Kopf zu ziehen und dann dasselbe Training durchzuführen – Stoß, Zurück, Stoß, Zurück. Nur waren zu diesem Zeitpunkt bereits rechtsum, linksum, Marschieren in dicht geschlossenen Reihen, zur Seite ausweichen, geordneter Rückzug, Schilde verbinden und eine ganze Reihe weiterer Befehle dazugekommen. Neben dem täglichen Drill putzten sie auch täglich die Kasernen, schleppten das Stroh vom Vortag hinaus, wischten den Steinboden, schüttelten ihre Decken aus und ersetzten das Stroh. Sie badeten jeden Tag in einem kalten, schnell fließenden Fluss – das war für manche der Männer etwas Neues, hatten sie doch bisher nur einmal im Jahr zum Julfest gebadet, ob es nötig war oder nicht. Es war ein Symptom des Wahnsinns des Barons, dass er darauf beharrte, dass die Sauberkeit des Körpers und der Quartiere das Auftreten von Krankheiten und das Ausbreiten von Flöhen und Läusen bremste – den gewohnten Begleitern eines Soldaten. Jeden Tag marschierten die Männer mit ihrem schweren Gepäck und den Waffen den Fuchsberg hinauf und hinunter. Inzwischen schaffte das jeder mit Leichtigkeit, ausge-
nommen Tauscher. Sein Körper war zu leicht, und obwohl er Caramons Rat befolgte und von dem geschmacklosen, eintönigen Essen doppelt so viel aß wie jeder andere in der Kompanie, setzte er weder Gewicht an noch wuchs er. Aber er gab sich nicht geschlagen. Jeden Tag brach er japsend unterwegs zusammen, halb unter seinem Schild begraben, doch gegenüber seinem Ausbilder bemerkte Tauscher stets stolz, dass er deutlich weiter gekommen sei als am Vortag. Den Waffenmeister beeindruckte Tauschers Zähigkeit. Beim wöchentlichen Treffen der Kommandanten und Offiziere vertraute Quesnelle dem Spinnerbaron an, er wünschte bei den Göttern, der Körper des Jungen wäre so groß wie sein Herz. »Die Männer mögen ihn, und sie helfen ihm, besonders dieser Riese, Majere. Wenn er glaubt, ich sehe nicht hin, trägt er Tauschers Gepäck. Wenn sie den Zweikampf üben, hält er sich zurück oder tut so, als hätte ihm der kleine Kerl einen Schlag verpasst, auf den ein Oger stolz sein könnte. Bisher habe ich ein Auge zugedrückt. Aber wir können aus ihm keinesfalls einen Fußsoldaten machen, Herr«, erklärte der Meister kopfschüttelnd. »Seine Freunde tun ihm keinen Gefallen. Irgendwann bringt er noch sich und uns alle um.« Die anderen Offiziere nickten zustimmend. Die wöchentlichen Treffen fanden in der Burg des Barons statt, in einem höher gelegenen Raum, der einen guten Ausblick auf den Paradeplatz bot, wo man die Soldaten an ihrer Ausrüstung arbeiten sah. Sie ölten die Lederriemen, um sie geschmeidig zu halten, und vergewisserten sich, dass die scharfen Augen der Feldwebel keinen Ansatz von Rost an Schwert oder Messer entdecken konnten. »Mustert ihn noch nicht aus«, empfahl der Baron. »Wir
finden schon etwas für ihn. Wir müssen nur noch herausbekommen, was es ist. Apropos Schwächlinge – wie macht sich unser neuer Zauberer, Meister Horkin?« »Besser, als von einem Turmzauberer zu erwarten war, Baron«, erwiderte Horkin, der seinen schweren Körper auf seinen Stuhl sinken ließ. »Macht allerdings einen kränklichen Eindruck. Neulich bin ich nachts durch den Speisesaal gelaufen, da hat er sich geradezu die Lunge aus dem Leib gehustet. Als ich ihn aber auf seine Krankheit ansprach und andeutete, er wäre zu schwach, um Teil unserer Armee zu sein, hat er mich mit einem Blick bedacht, der mich zu Asche verbrannte und mich auch gleich in den Ascheimer verfrachtete.« »Die anderen mögen ihn nicht, Herr, so viel steht fest«, erklärte Meister Quesnelle mit düsterem Gesicht. »Ich kann es ihnen nicht verdenken. Bei seinen Augen läuft mir ein Schauer über den Rücken. Er hat eine Art, einen anzusehen, als sähe er einen schon tot zu seinen Füßen liegen und würde gleich Erde auf das Grab werfen. Die Männer sagen«, der Meister senkte die Stimme, »er hätte seine Seele auf dem Marktplatz des Abgrunds verschachert.« Horkin lachte. Nachdem er seine Hände gelassen über seinem runden Bauch gefaltet hatte, schüttelte er den Kopf. »Ihr lacht, Horkin«, wehrte sich der Waffenmeister säuerlich, »aber ich warne Euch, denn ich halte es für wahrscheinlich, dass wir Euren jungen Magier eines Tages tot im Wald finden, weil ihm jemand den Hals umgedreht hat.« »Nun, Horkin, was meint Ihr dazu?« wandte sich der Baron an den Zaubermeister. »Ich gebe zu, dass ich mit Quesnelle übereinstimme. Ich mag Euren Magier auch nicht be-
sonders.« Horkin setzte sich auf. Mit seinen scharfen, blauen Augen musterte er kühn jeden einzelnen Offizier, ohne den Baron auszunehmen. »Was ich meine, Sir?« wiederholte Horkin. »Ich meine, dass ich nie geglaubt habe, die Armee wäre ein Picknick im Grünen, Herr.« Der Baron war verblüfft. »Erklärt Euch, Horkin.« Horkin gehorchte ungerührt. »Wenn es um die Wahl der Maikönigin ginge, Herr, dann gebe ich zu, dass mein junger Magier wirklich nicht der geeignete Kandidat wäre. Aber ich glaube nicht, dass Ihr mit der Maikönigin in die Schlacht ziehen wollt, oder, Herr?« »Schön und gut, Meister Horkin, aber seine Krankheit – « »Ist nicht körperlich, Herr. Sie ist weder ansteckend«, betonte Meister Horkin, »noch ist sie heilbar. Nein, nicht einmal wenn die Kleriker der alten Zeit zurückkehrten, ihm ihre heilenden Hände auflegen und die Macht der Götter anrufen würden, könnten sie Raistlin Majere seine Gesundheit wiedergeben.« »Ist diese Krankheit magischen Ursprungs?« Der Baron runzelte die Stirn. Eine ganz gewöhnliche Seuche wäre ihm lieber gewesen. »Ich glaube, Herr, die Krankheit des jungen Mannes ist die Magie!« Horkin nickte weise. Die Kommandanten und Offiziere wirkten befremdet. Murmelnd schüttelten sie ihre Köpfe. Horkin verzog nachdenklich die Stirn, legte sie in so tiefe Falten, dass sich dabei seine gesamte Kopfhaut zu verziehen schien. Er sah den Waffenmeister an. »Quesnelle, wolltet Ihr Euer Leben lang Soldat sein?«
»Ja«, bestätigte der Meister, der sich fragte, was das damit zu tun hatte. »Man könnte durchaus sagen, ich war schon immer Soldat. Meine Mutter gehörte zum Tross eines Lagers, meine Wiege war der Schild meines Vaters.« »Aha.« Horkin nickte wieder. »Ihr wolltet von Anfang an Soldat sein. Wie unser Herr seid Ihr von Geburt her Solamnier. Habt Ihr nie daran gedacht, ein Ritter zu werden?« »Nein!« Quesnelle wirkte entsetzt. »Warum nicht, wenn ich fragen darf?«, erkundigte sich Horkin in mildem Ton. Quesnelle überlegte. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin nie auch nur auf die Idee gekommen. Schließlich bin ich nicht von edler Abstammung – « Horkin winkte ab. »Es hat auch früher Ritter gegeben, die nicht edler Abstammung waren und trotzdem aufgestiegen sind. Der Legende nach war der große Huma selbst einer von ihnen.« »Was hat das mit dem Zauberer zu tun?« wollte Quesnelle irritiert wissen. »Ihr werdet schon sehen«, meinte Horkin. Quesnelle sah den Baron an, der eine seiner schwarzen Augenbrauen hochzog, als wolle er sagen: Tut ihm den Gefallen. »Hm«, Quesnelle runzelte die Stirn, »hm, ich glaube, der Hauptgrund wäre, dass man als Ritter zwei Befehlshaber hat. Einen aus Fleisch und Blut und einen Gott. Und beiden muss man gehorchen. Wenn man Glück hat, sind beide sich einig. Wenn nicht…« Quesnelle zuckte mit den Schultern. »Welchem soll man folgen? Diese Frage kann einem Mann das Herz zerreißen.« »Richtig«, murmelte der Baron vor sich hin. »Sehr richtig.
So habe ich das noch nie gesehen.« »Ich persönlich ziehe Befehle von nur einer Stelle vor«, schloss Quesnelle. »Mir geht es genauso«, bestätigte Horkin, »und deshalb bin ich – aus der Sicht der Magier – nur ein einfacher Infanterist. Aber unser junger Zauberer, der ist ein Ritter.« Die schwarzen Augenbrauen des Barons schossen bis hoch in seinen dicken, schwarzen Lockenschopf. »Oh, ich meine nicht buchstäblich, Herr.« Horkin grinste. »Nein, nein. Die Solamnier würden sich in Qualen winden und lieber sterben. Ich meine, er ist ein Ritter der Magie. Er hört den Ruf von zwei Stimmen – der Stimme der Menschen und der Stimme seiner Göttin. Welcher davon wird er auf Dauer folgen? Ich weiß es nicht. Falls er sich tatsächlich für eine von beiden entscheidet«, fügte Horkin hinzu, der sein haarloses Kinn kratzte. »Ich wäre nicht überrascht, wenn er am Ende beiden den Rücken zukehrt und seinen eigenen Weg geht.« »Aber auch Ihr köpft doch hin und wieder mit der Göttin eine Flasche, meine ich«, sagte der Baron lächelnd. »Wir sind gute Bekannte, Herr«, erwiderte Horkin ernst. »Raistlin Majere ist ihr Auserwählter.« Der Baron schwieg kurz, denn das musste er erst verdauen. »Kehren wir zu unserem ursprünglichen Thema zurück. Haltet Ihr es für ratsam, dass ich Raistlin Majere in meinen Diensten behalte? Wird er dieser Kompanie von Nutzen sein?« »Zweimal ja, Herr«, erklärte Horkin fest. »Waffenmeister?« Der Baron sah Quesnelle an. »Was sagt Ihr dazu?« »Wenn Horkin für den Zauberer bürgt und ein Auge auf
ihn hat, habe ich keine Einwände dagegen, dass er bleibt«, lenkte Quesnelle ein. »Ich bin sogar froh darüber, denn wenn der eine Bruder geht, dürften wir auch den anderen verlieren. Und Caramon Majere kann ein guter Soldat werden. Viel besser, als er selbst glaubt. Ich dachte daran, ihn der Flankenkompanie zu überstellen.« Er warf Meister Senej, dem Kommandanten dieser Kompanie, einen Blick zu. Der nickte interessiert. »Einverstanden«, sagte der Baron. Er griff nach dem Krug mit kühlem Bier, was stets das Ende der Offiziersversammlung bedeutete. »Übrigens, meine Herren, wir haben einen Marschbefehl für unsere erste Schlacht.« »Wo denn, Herr?«, erkundigten sich beide Offiziere sofort. »Und wann?« »Wir brechen in zwei Wochen auf.« Der Baron schenkte das Bier ein. »Wir marschieren auf Geheiß von König Wilhelm von Blödehelm, einem guten, gerechten König. Eine Stadt seines Reiches wurde von hitzköpfigen Rebellen übernommen, welche fordern, dass man ihnen die Abspaltung von Blödehelm gestattet, damit sie ein unabhängiger Stadtstaat werden können. Unglücklicherweise haben die Rebellen den Großteil der Bürger davon überzeugt, sich ihrer Sache anzuschließen. König Wilhelm hebt eigene Truppen aus und wird zwei Regimenter schicken, die mit den Rebellen fertig werden dürften. Wir sollen ihnen assistieren. Er hofft, dass die Rebellen angesichts einer solchen Machtdemonstration einsehen, dass sie nicht gewinnen können, und aufgeben.« »Eine verdammte Belagerung«, befand Quesnelle missmutig. »Ich hasse nichts mehr als eine langweilige Belagerung.«
»Es könnte trotzdem einiges für uns dabei herauskommen, Waffenmeister«, beruhigte ihn der Spinnerbaron. »Meinen Informationen zufolge sind die Rebellen von dem Schlag, der lieber kämpfend stirbt, als sich als Verräter aufknüpfen zu lassen.« »Na, dann.« Quesnelles Gesicht hellte sich auf. »Das hört sich schon besser an! Was wissen wir über diese anderen beiden Regimenter?« »Nichts.« Der Baron zuckte mit den Schultern. »Überhaupt nichts. Vermutlich werden wir es herausfinden, wenn wir dort ankommen.« Er zwinkerte. »Wenn sie nichts taugen, zeigen wir ihnen mal, wie man kämpft.« Er hob den Bierkrug. »Auf Hoffnungsende.« »Was?« Die Kommandanten starrten ihn entgeistert an. »Das ist der Name der Stadt, meine Herren«, erklärte der Baron grinsend. »Hoffnungsende für unsere Feinde.« Erleichtert prosteten sich die Kommandanten zu – und nicht nur einmal.
17. Kapitel »Gute Nachrichten, Roter«, strahlte Horkin, als er leicht schwankend das Laboratorium betrat. Er roch deutlich nach Bier. »Wir haben unseren Marschbefehl. In zwei Wochen brechen wir auf.« Er stieß einen Seufzer aus. »Das heißt, wir haben nicht mehr viel Zeit. Jede Menge Arbeit bis dahin.« »Zwei Wochen!«, wiederholte Raistlin, dem ein wenig flau im Magen wurde. Er sagte sich, das wäre nur die Aufregung, und das stimmte auch – teilweise. Er blickte von dem Mörser auf, mit dem er gerade arbeitete. Seine heutige Pflicht war das Zerstoßen von Gewürzen, die der Koch für das Essen brauchte. Raistlin fragte sich, warum er sich überhaupt damit abgab. Bisher war das Aufregendste, was er in seiner Kaninchensuppe gefunden hatte – die das einzige Rezept zu sein schien, das der Koch kannte –, eine Küchenschabe gewesen. »Welches Operationsziel haben wir, Sir?« Stolz benutzte er den militärischen Fachausdruck, den er dem Buch über Magus entnommen hatte. »Operationsziel?« Horkin fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, um den Schaum abzuwischen, der noch an seinen Lippen klebte. »Das Operationsziel braucht nur einer von uns zu kennen, Roter, und das bin ich. Du brauchst nur dorthin zu gehen, wo man es dir sagt, zu tun, was man dir sagt, und zwar dann, wann man es dir sagt. Verstanden?« »Ja, Sir«, erwiderte Raistlin, der seinen Zorn bezähmte. Vielleicht hoffte Horkin ja, dass der junge Magier aus der Rolle fiel, damit er wieder die Gelegenheit bekam, ihn nie-
derzuschlagen. Dieses Wissen verhalf Raistlin zu ungewohnter Selbstbeherrschung. Er ging wieder daran, seine Gewürze zu zerstampfen, und machte sich mit solcher Inbrunst ans Werk, dass die Zimtstangen zerkrümelten und mit ihrem scharfen Geruch die Luft erfüllten. »Tust so, als wäre ich da drin, was, Roter?«, meinte Horkin kichernd. »Würdest den alten Horkin gern zu Brei zerstampfen, hm? Ja, ja. Stell die Gewürze vorläufig beiseite. Zur Hölle mit dem Koch! Ich weiß sowieso nicht, was er damit anstellt. Wahrscheinlich verkauft er sie. Jedenfalls weiß ich verdammt gut, dass er nicht mit ihnen kocht!« Murmelnd watschelte er zu dem Regal mit den frisch abgestaubten Zauberbüchern und griff mit unsicherer Hand nach dem »schicken schwarzen Ding«, wie er es nannte. »Wo wir schon beim Verkaufen sind, ich will in das Zaubergeschäft in der Stadt und dort diese Bücher verkaufen. Jetzt, da ich einen Turmmagier habe, der in dem schwarzen Buch lesen kann, möchte ich, dass du es untersuchst und mir sagst, wie viel ich wohl dafür verlangen könnte.« Raistlin biss sich auf die Lippen, damit er seiner Enttäuschung nicht laut Ausdruck verlieh. Die Sprüche in dem Buch waren viel mehr wert als die Summe, die Horkin vermutlich in dem Zaubereigeschäft in Langbaum dafür erhalten würde. Ladenbesitzer zahlten normalerweise nicht viel für Zauberbücher, die den Anhängern von Nuitari, dem Gott des Schwarzen Mondes, gehörten. Nur wenige Zauberer der Schwarzen Roben waren dreist genug, einfach in ein Geschäft zu gehen und dort die Zauberbücher ihres Ordens zu durchstöbern, Bücher, in denen es um schwarze Magie, Flüche, Marterung und andere Grausamkeiten ging.
Wie anderen Zauberern war den Schwarzen Roben durchaus bewusst, dass die wirklich mächtigen Zauberbücher nur selten in Zaubereigeschäften zu finden waren. Oh, hier und da hörte man von einem Zauberer, der auf ein wunderbares Zauberbuch aus alter Zeit gestoßen war, das unzählige Jahre vergessen unter einer Staubschicht im Sammelsurium auf einem Regal eines hinterwäldlerischen Ladens gelegen hatte. Doch solche Fälle waren selten. Ein Zauberer, der ein mächtiges Zauberbuch wollte, verschwendete nicht seine Zeit damit, von einem Laden zum anderen zu ziehen, sondern reiste in den Turm der Erzmagier von Wayreth, wo man die allerbeste Auswahl hatte und wo keine Fragen gestellt wurden. Horkin warf das Zauberbuch auf den Tisch des Laboratoriums und bewunderte es noch einen Augenblick – eine Kriegsbeute. Er legte seinen kahlen Kopf schief. Auch Raistlin sah das Buch an, jedoch kritischer und rasend neugierig auf die Wunder, die es enthalten mochte. Ihm kam der Gedanke, dass er es Horkin vielleicht selbst abkaufen könnte. Er würde einfach seinen Sold sparen, bis er es sich leisten konnte. Er würde wahrscheinlich kaum in der Lage dazu sein, die Sprüche jetzt schon zu lesen, denn sie waren zweifellos viel zu fortgeschritten für ihn. Und die meisten dieser Sprüche, besonders die bösen, wollte er ohnehin nicht anwenden. Aber er konnte aus dem Buch trotzdem etwas lernen. Alle Sprüche – gute, böse und neutrale – waren aus denselben Buchstaben des magischen Alphabets aufgebaut, die zu denselben Worten zusammengesetzt wurden. Es waren die Aussprache und die Anordnung dieser Worte, die das Zaubern ausmachten.
Er hatte noch einen Grund, weshalb er dieses Zauberbuch lesen wollte. Das Buch war im Besitz eines Kriegszauberers der Schwarzen Roben gewesen. Eines Tages würde sich Raistlin vielleicht gegen genau diese Sprüche zur Wehr setzen müssen. Zu wissen, wie ein Zauber aufgebaut war, war eine grundlegende Voraussetzung für das Wissen, wie man ihn zunichte machte oder sich vor seiner Wirkung schützte. Lauter gute Gründe. Doch Raistlin musste sich eingestehen, dass der wahre Grund für sein Interesse an dem Buch sein leidenschaftlicher Wissensdurst über seine Kunst war. Jede Quelle – selbst eine böse Quelle –, die Wissen versprach, war für ihn wertvoll. Das Buch war ziemlich neu. Das schwarze Leder des Einbands glänzte noch und war kaum abgenutzt. Und der Einband war wirklich schick, das hatte Horkin schon genau erfasst. Die meisten Zauberbücher waren einfach und unauffällig gebunden. Wer sie anfertigte, wollte nicht, dass sie Auge und Hand eines jeden neugierigen Kenders anzogen, ganz im Gegenteil. Zauberbücher waren bescheiden und still und verharrten gern im Schatten, weil sie hofften, dort übersehen zu werden. Dieses Buch war anders. Auf den Deckel waren in leuchtenden, silbernen Buchstaben die Worte »Buch der Geheimlehre und der Alten Macht« geprägt – in der Gemeinsprache, damit es auch jeder lesen konnte. In jeder der vier Ecken war das mit Blattgold verzierte Symbol des Auges zu finden – ein Symbol, das Magiern heilig war. Es war von den Runen umgeben, die Raistlin schon eher bemerkt hatte, magischen Runen. Aus dem geschlossenen Buch floss wie ein blutiges Rinnsal ein rotes Band als Lesezeichen. »Wenn es innen so schön ist wie außen«, überlegte Hor-
kin, der die Hand ausstreckte, um es aufzuschlagen, »behalte ich es vielleicht nur der Bilder wegen.« »Wartet, Sir! Was tut Ihr da?«, hielt Raistlin ihn auf, während er seine eigene Hand dazwischenhielt. »Ich will das Buch aufschlagen, Roter«, sagte Horkin, der Raistlins Hand ungeduldig beiseite schob. »Sir«, sagte Raistlin mit allergrößtem Respekt, aber auch äußerster Dringlichkeit. »Ich bitte Euch, Vorsicht walten zu lassen. Im Turm hat man uns gelehrt«, fügte er entschuldigend hinzu, »die magische Ausstrahlung jedes Zauberbuchs zu prüfen, bevor wir versuchen, es zu öffnen.« Horkin schnaubte und schüttelte den Kopf. Er murmelte etwas über »himmelschreiende Dummheit« in sich hinein, doch als er sah, dass Raistlin nicht nachgab, gab er seine Zustimmung. »Prüfe es ruhig, Roter. Aber nur damit du es weißt, ich habe das Buch auf dem Schlachtfeld gefunden und wochenlang mit mir herumgetragen, ohne dass mir etwas passiert ist. Keine Feuerstöße oder so.« »Ja, Sir«, sagte Raistlin. Er lächelte geheimnisvoll. »Lektion Sieben. Übertriebene Vorsicht kann nie schaden.« Er streckte die Hand aus und hielt sie dicht über das Buch, ohne den Einband zu berühren. Dort verharrte er für fünf Atemzüge und öffnete seinen Geist dafür, auch nur die kleinste Magie aufzuspüren. Er hatte gesehen, wie die Zauberer im Turm von Wayreth diese Kunst ausgeübt hatten, doch er selbst hatte noch nie die Gelegenheit dazu gehabt. Er wollte nicht nur endlich erfahren, ob dieses Verfahren funktionierte, sondern es gab auch etwas an dem Buch, das er beunruhigend fand. »Wie überaus seltsam«, murmelte Raistlin. »Was?«, fragte Horkin begierig. »Was? Fühlst du etwas?«
»Nein, Sir«, gab Raistlin stirnrunzelnd vor Verwirrung zur Antwort. »Gar nichts. Das ist es, was ich merkwürdig finde.« »Du meinst, es hat gar keine Magie in sich?« Horkin verzog das Gesicht. »Das kann nicht sein! Warum sollte eine Schwarze Robe ein Zauberbuch mit sich herumtragen, das keine Zaubersprüche enthält?« »Genau, Sir«, bestätigte Raistlin. »Darum ist es ja so eigenartig.« »Komm schon, Roter!« Horkin stieß Raistlin mit dem Ellenbogen beiseite. »Vergiss diesen Turmfirlefanz. Die beste Art, herauszufinden, was das verdammte Ding enthält, ist, es aufzuschlagen.« »Sir, bitte!« Raistlin legte tatsächlich seine goldfarbene, schmale Hand auf Horkins gebräuntes, kräftiges Handgelenk. Er beäugte das Buch mit wachsendem Argwohn. »Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht beunruhigend, Meister Horkin.« »Zum Beispiel?« Horkin hatte sichtlich seine Zweifel. »Denkt einmal nach, Sir. Habt Ihr je gehört, dass ein Kriegszauberer sein Zauberbuch wegwirft? Sein Zauberbuch, Sir, seine einzige Waffe! Dass er es in die Hände seiner Feinde gelangen lässt? Ist das wahrscheinlich, Sir? Würdet Ihr selbst so etwas tun? Das wäre… als wenn ein Soldat sein Schwert wegwirft und dann wehrlos dasteht!« Dieses Argument schien Horkin nachdenklich zu stimmen. Misstrauisch betrachtete er das Buch. »Und noch etwas, Sir«, fuhr Raistlin fort. »Habt Ihr je ein Zauberbuch gesehen, das so damit herausplatzt, dass es ein Zauberbuch ist? Habt Ihr je ein Zauberbuch gesehen, das seine Geheimnisse für Hinz und Kunz hinausposaunt?«
Raistlin wartete angespannt. Horkin starrte das Buch jetzt eindringlich und finster an. Das Bier hatte ihm den Geist nicht so vernebelt, dass er den Überlegungen seines Lehrlings nicht mehr hätte folgen können. Er nahm die Hand vom Einband. »In einem hast du Recht, Roter«, räumte Horkin ein. »Dieses verdammte Buch ist wirklich schicker herausgeputzt als eine Hure in Palanthas.« »Und womöglich aus dem gleichen Grund, Sir«, gab Raistlin zu bedenken. Er bemühte sich sehr um einen angemessen bescheidenen Tonfall. »Verführung. Darf ich ein kleines Experiment mit dem Buch vorschlagen?« Horkin war ganz und gar nicht einverstanden. »Noch mehr Turmzauberei?« »Nein, Sir«, lächelte Raistlin. »Überhaupt keine Zauberei. Ich brauche nur einen Strang Seide, Sir, wenn Ihr welche zur Hand habt.« Horkin schüttelte den Kopf. Am liebsten hätte er offenbar das Buch aufgeschlagen, um zu beweisen, dass er von einem ehrgeizigen, kleinen Anfänger keinen Rat annehmen würde. Doch wie er Raistlin gesagt hatte, hatte er nicht überlebt, weil er dumm war. Deshalb konnte er bereitwillig einräumen, dass Raistlin stichhaltige Argumente angeführt hatte. »Verflixt noch mal!«, knurrte Horkin. »Jetzt machst du mich aber neugierig. Führ dein ›Experiment‹ ruhig durch, Roter. Obwohl ich keinen blassen Schimmer habe, wo du in einer Kaserne einen seidenen Faden finden wirst!« Raistlin jedoch wusste bereits, wo er nach Seide suchen musste. Wo es gestickte Insignien gab, musste auch Stickseide zu finden sein.
Er ging in die Burg und erbat sich einen Strang von einer der Mägde, die ihm die Seide bereitwillig aushändigte – um ihn kichernd zu fragen, ob es denn stimmte, ob er wirklich der Zwillingsbruder dieses hübschen, jungen Soldaten sei, den sie auf der Parade gesehen hätte, und ob er in diesem Fall nicht bitte seinem Bruder erzählen würde, dass sie jede zweite Woche eine Nacht frei hätte. »Hast du den Faden? Was nun?«, fragte Horkin, sobald Raistlin zurück war. Allmählich machte dem älteren Magier die Sache Spaß – möglicherweise weil er sich eine Blamage für den jungen Magier erhoffte. »Willst du das Buch etwa aufs Feld mitnehmen und wie einen Kenderdrachen steigen lassen?« »Nein, Sir«, erwiderte Raistlin. »Ich will es nicht fliegen lassen. Aufs Feld zu gehen ist allerdings ein ausgezeichneter Gedanke. Wir sollten dieses Experiment an einem abgelegenen Ort durchführen. Das Übungsgelände, wo wir unsere Magie ausprobieren, wäre ideal.« Horkin stieß einen übertriebenen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Er wollte nach dem Buch greifen, hielt aber inne. »Tragen dürfte doch wohl sicher sein? Oder soll ich die Feuerzange holen?« »Die Feuerzange wird nicht nötig sein, Sir.« Raistlin ignorierte seinen Sarkasmus. »Schließlich habt Ihr das Buch schon unbeschadet herumgetragen. Allerdings würde ich vorschlagen, dass Ihr das Buch in einen Behälter legt. Vielleicht diesen Korb? Nur damit es nicht versehentlich aufgeschlagen wird.« Grinsend hob Horkin das Buch hoch – doch Raistlin merkte, dass er es vorsichtig anfasste – und legte es sanft in einen Strohkorb. Beim Gehen hörte Raistlin den alten Zau-
berer murmeln: »Ich hoffe nur, es sieht uns niemand! Muss doch strohblöd aussehen, wie wir mit einem Buch im Korb spazieren gehen.« Wegen der Offiziersversammlung exerzierten die Soldaten an diesem Tag nicht. Den Vormittag über hatten sie ihre Ausrüstung gesäubert. Jetzt schrubbten und tünchten sie die Außenwände der Kasernen. Raistlin sah Caramon, tat jedoch so, als würde er weder dessen Winken noch seinen Ruf bemerken: »Heda, Raist! Wo willst du hin? Zum Picknick?« »Ist das dein Bruder, ihr seid Zwillinge?«, erkundigte sich Horkin. »Ja, Sir«, bestätigte Raistlin nur. »So, so«, meinte Horkin, der den jungen Magier ansah. Als die beiden Zauberer auf dem Übungsgelände ankamen, stellten sie zu ihrer Enttäuschung fest, dass das Feld nicht leer war, wie sie es erwartet hatten. Der Spinnerbaron trainierte selbst. Mit der Lanze in der Hand saß der Baron auf seinem Pferd. Er hatte die Lanze angelegt und ritt direkt auf einen merkwürdigen Apparat aus einem hölzernen Querbalken zu, der so montiert war, dass er bei einem Treffer herumschwingen würde. An einen Arm des Querbalkens war ein zerdellter Schild genagelt. Am gegenüberliegenden Ende baumelte ein großer Sandsack. »Was ist denn das, Sir?«, fragte Raistlin. »Ein Stechbalken«, antwortete Horkin, der vergnügt zusah. »Die Lanze muss den Schild ganz genau treffen, sonst – aha, Roter. Sonst passiert das da.« Der Baron hatte sein Ziel verfehlt und den Schild nur ge-
streift, weshalb er sich jetzt vom Boden aufrappelte. »Tja, Roter, wenn man den Schild nicht genau in der Mitte trifft, lässt der Stoß den Sandsack losschnellen, sodass er den Reiter genau zwischen die Schulterblätter trifft«, erklärte Horkin, nachdem er genug gelacht hatte. Der Baron stieß die farbigsten und originellsten Kraftausdrücke aus, die Raistlin je zu Ohren gekommen waren, und stand auf. Er rieb sich den Rücken. Sein Pferd wieherte so leise, dass es fast wie ein Kichern klang. Der Baron fischte eine matschige, feuchte Masse aus seiner Tasche, eine Masse, die einmal ein Apfel gewesen war, den der Sturz platt gedrückt hatte. »Du wirst genauso leiden wie ich, mein Freund«, sagte er zu dem Pferd. »Der hätte dir gehört, wenn wir getroffen hätten.« Das Pferd beäugte die zermatschte Frucht irritiert, war aber nicht zu stolz, sie anzunehmen. »Diese Maschine wird noch Euer Tod sein, Herr!«, rief Horkin aus. Der Spinnerbaron drehte sich um, störte sich aber nicht daran, dass er Zuschauer hatte. Er ließ sein Pferd auf dem malträtierten Apfel herumkauen und humpelte herüber. »Bei den Göttern, ich stinke wie eine Apfelpresse!« Baron Ivor sah zu dem Apparat zurück und schüttelte wehmütig den Kopf. »Mein Vater traf jedes Mal ins Schwarze. Ich hingegen werde jedes Mal getroffen!« Er lachte herzlich über sich und sein Versagen. »Durch dieses ganze Gerede über Ritter ist mir das Ding wieder eingefallen. Ich dachte, ich gehe raus, baue die alte Maschine auf und probier’s mal aus.« Raistlin wäre vor Scham gestorben, wenn ihn seine Untergebenen in einer so würdelosen Lage angetroffen hätten.
Allmählich begriff er, wie der Spinnerbaron zu seinem Beinamen gekommen war. »Aber was habt Ihr vor, Horkin? Was ist in dem Korb? Ich hoffe, etwas Gutes! Ein wenig Wein vielleicht, etwas Brot und Käse! Gut!« Der Baron rieb sich die Hände. »Ich bin am Verhungern.« Er blickte in den Korb und zog eine Braue hoch. »Sieht nicht sehr appetitlich aus, Horkin. Der Koch hat Euch schlimmer bedacht als gewöhnlich.« »Rührt es nicht an, Sir«, warnte Horkin schnell. Unter dem fragenden Blick des Barons wurde der Kriegszauberer rot. »Unser Roter ist der Meinung, dass in dem Zauberbuch dieser Schwarzen Robe womöglich mehr steckt, als man ihm ansieht. Er«, Horkin wies mit dem Daumen auf Raistlin, »will damit ein kleines Experiment durchführen.« »Wirklich?« Der Baron war fasziniert. »Dürfte ich dabei zusehen? Ist doch kein geheimer Zauberkram, oder?« »Nein, Sir«, sagte Raistlin. Seit sie die Burg verlassen hatten, war er von Selbstzweifeln geplagt und hätte am liebsten zugegeben, dass er sich geirrt hatte. Das Buch in dem Korb sah so überaus unschuldig aus. Es gab keinen Grund für die Annahme, dass es etwas anderes sein könnte, als es vorgab. Horkin hatte es herumgeschleppt, und ihm war nichts Ungewöhnliches zugestoßen. Raistlin würde sich zum Narren machen, nicht nur vor seinem Vorgesetzten, der ohnehin nicht viel von ihm hielt, sondern nun auch noch vor dem Baron, der vielleicht verrückt war, aber dessen Respekt Raistlin plötzlich unbedingt erringen wollte. Er wollte gerade demütig gestehen, dass er sich geirrt hatte, um mit einem Rest Würde den Rückzug anzutreten, als sein Blick wieder auf das Buch fiel.
Das Zauberbuch mit seiner auffälligen Aufmachung, den Blattgoldrändern und dem blutroten Band… eine Hure aus Palanthas… Raistlin griff nach dem Korb. »Sir«, warnte er Horkin, »was ich vorhabe, könnte gefährlich werden. Ich schlage mit allem Respekt vor, dass Ihr und der Herr Baron Euch zu dieser Baumgruppe dort zurückzieht…« »Eine ausgezeichnete Idee, Herr«, pflichtete Horkin bei, der sich breitbeinig hinstellte und die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich komme gleich nach.« Die dunklen Augen des Barons glänzten, sein Grinsen wurde breiter, und seine Zähne leuchteten weiß aus seinem schwarzen Bart hervor. »Ich bringe mein Pferd weg«, rief er und lief davon. Die Aussicht auf Abwechslung hatte ihn Steifheit und Prellungen vergessen lassen. Im Laufschritt führte er das Pferd zu der Baumgruppe, wo er es an einen Ast band, um dann strahlend vor Aufregung zurückzulaufen. »Und jetzt, Majere?« Raistlin sah überrascht auf. Er war glücklich, dass der Baron sich tatsächlich seinen Namen gemerkt hatte, und hoffte inständig, dass er ihn sich noch merken würde, wenn das alles hier vorüber war – ohne dass er dabei nur an Gelächter dachte. Als er sah, dass weder Horkin noch der Baron seinen Rat annehmen und sich in Sicherheit bringen wollten, griff Raistlin mit äußerster Vorsicht in den Korb und hob das Zauberbuch hoch. Für einen kurzen Augenblick fühlte er seine Fingerspitzen kribbeln. Das Kribbeln verflog so rasch, dass er bezweifelte, ob er es wirklich gespürt hatte. Er hielt einen Augenblick inne und konzentrierte sich, doch das Kribbeln kam nicht wieder, sodass er – mit einem innerli-
chen Seufzer – folgern musste, dass er es nur gefühlt hatte, weil er sich dieses Gefühl so inständig gewünscht hatte. Er legte das Buch wieder auf den Boden. Nachdem er den Seidenstrang aus der Tasche gezogen hatte, bildete Raistlin mit einem Ende des Fadens eine Schlinge. Er hantierte mit größter Vorsicht, damit er nicht den Buchdeckel anhob, während er die Schlinge hinter die obere rechte Ecke des Einbands schob. Das war keine einfache Aufgabe. Wenn seine Vermutung stimmte, konnte die kleinste falsche Bewegung seine letzte sein. Erschrocken stellte er fest, dass seine Finger zitterten, und er zwang sich zur Ruhe. Er musste jede Angst aus seinen Gedanken verbannen und sich ganz auf seine gegenwärtige Aufgabe konzentrieren. Während er die Schlinge mit Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger seiner rechten Hand festhielt, schob Raistlin den Faden langsam, langsam zwischen den Buchdeckel und die erste Seite. Er hielt den Atem an. Über seinen Nacken rannen Schweißtropfen. Zu seinem Entsetzen fühlte er, wie seine Brust sich verengte und ein erstickender Husten sich ankündigte, der ihm die Kehle zuschnüren wollte. Er unterdrückte ihn mühsam und hielt mit größter Selbstbeherrschung den Faden ruhig, bis er ihn über die Ecke geschoben und dort befestigt hatte. Schnell zog er die Hand weg. Die Spannung legte sich, der Hustenreiz verging. Beim Aufschauen sah er, dass Horkin und der Baron ihm gebannt zusahen. »Und jetzt, Majere?«, fragte der Baron mit gedämpfter Stimme. Raistlin holte mühsam Luft und wollte etwas sagen, doch
er hatte keine Stimme mehr. Er räusperte sich und kam zitternd hoch. »Wir müssen zu den Bäumen zurück«, beharrte Raistlin. Er griff noch einmal nach unten, hob sehr behutsam den Faden auf und begann, ihn vorsichtig abzuwickeln. »Sobald wir in Sicherheit sind, werde ich das Buch öffnen.« »Lasst mich den Faden abwickeln, Majere«, bot der Baron an. »Ihr seht so erschöpft aus. Keine Sorge, ich passe schon auf. Bei Kiri-Jolit«, betonte er, während er den Faden im Rückwärtslaufen durch seine Finger gleiten ließ, »ich wusste gar nicht, dass Ihr Zauberer so ein aufregendes Leben führt. Ich dachte, es ginge immer nur um Fledermausdung und Rosenblätter.« Die drei erreichten die Baumgruppe, wo das Pferd graste und die Augen verdrehte, als ob es den Spitznamen des Barons am liebsten allen dreien zuschreiben würde. »Hier dürften wir sicher sein. Was glaubt Ihr, Horkin, was geschehen könnte?« Der Baron legte eine Hand an den Griff seines Schwertes. »Müssen wir eine Horde Dämonen aus dem Abgrund bekämpfen?« »Ich habe keine Ahnung, Herr«, erwiderte Horkin, der in seinen Beutel griff, um ein Zaubermittel herauszuziehen. »Diese Vorführung bestreitet der Rote.« Raistlin brachte keinen Kommentar heraus. Er kniete sich hin, damit er auf gleicher Höhe mit dem Buch war, und zog langsam und vorsichtig an dem Faden, bis er straff in seiner Hand lag. Dann blickte er sich um und gab den Offizieren mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie in die Hocke gehen sollten. Vorsichtig, damit der Faden nicht verrutschte, zog Raistlin an der Seide. Der Buchdeckel hob sich.
Nichts geschah. Raistlin zog weiter an dem Faden. Der Deckel klappte hoch. Er hielt ihn in dieser Lage, sodass der Deckel kurz stehen blieb, bevor er umklappte. Der Faden rutschte von der Ecke. Jetzt lag das Zauberbuch offen da. Sein Deckblatt, das mit seinen großen Buchstaben in goldfarbener, roter und blauer Tinte ebenso auffällig war wie der Deckel, schien verächtlich im schwindenden Licht der Sonne zu blinken. Raistlin senkte den Kopf, damit die beiden Männer nicht sahen, wie peinlich ihm die Sache war. Dann sah er hasserfüllt das Buch an, das so ruhig und gutmütig dort lag. Hinter sich hörte er Horkin verärgert hüsteln. Der Baron stieß einen Seufzer aus und wollte wieder aufstehen. Ein leichter Wind ließ die Seiten des Buches rascheln… Die Wucht der Explosion warf Raistlin nach hinten auf Horkin, den Baron gegen einen Baum. Das Pferd wieherte entsetzt, riss sich los und galoppierte zum sicheren Stall zurück. Es war ein erfahrenes Schlachtross, aber man hatte es an Schreie und Blut und Schwertergeklirr gewöhnt. Man konnte nicht von ihm erwarten, dass es explodierende Bücher hinnahm. Oder es musste zumindest etwas Besseres dabei herausspringen als ein zerdrückter Apfel. »Hol mich Lunitari«, staunte Horkin beeindruckt. »Bist du verletzt, Roter?« »Nein, Sir«, stammelte Raistlin, dessen Kopf von dem Knall noch schwirrte. Er richtete sich auf. »Nur ein wenig durchgerüttelt.« Horkin stand taumelnd wieder auf. Sein normalerweise rötliches Gesicht war grau und feucht wie Ton auf der Töpferscheibe. Mit großen Augen starrte er aufs Feld. »Und
dieses… dieses Ding habe ich mit mir herumgeschleppt… tagelang!« Er sah das gewaltige Loch an, das in der Erde klaffte, und setzte sich abrupt wieder hin. Raistlin ging zum Baron, der Mühe hatte, sich aus den gebrochenen Zweigen des jungen Baums zu lösen, den er im Fallen umgerissen hatte. »Seid Ihr unversehrt, Herr?«, fragte Raistlin. »Ja, ja, es geht mir gut. Verdammt!« Der Baron holte Luft und stieß sie mit einem hörbaren Seufzer wieder aus. Er starrte auf das Feld hinaus, von dessen geschwärztem Gras der Wind Rauchfäden davonblies. »Was im Namen von allem, was heilig und unheilig ist, war das?« »Wie ich vermutet hatte, Herr, steckte in dem Buch eine Falle«, erklärte Raistlin, der sich vergeblich bemühte, den Triumph in seiner Stimme zu unterdrücken. »Die Schwarze Robe hat das Buch mit dem tödlichen Zauber versehen und ihn dann mit einem anderen Zauber umgeben, der den ersten gründlich abschirmte. Deshalb konnten weder Meister Horkin noch ich«, Raistlin fand, dass er als Sieger großzügig sein konnte, »die Magie fühlen, die von ihm ausging. Ich dachte, dass man das Buch öffnen muss, um den Zauber zu aktivieren. Was ich nicht durchschaute«, räumte er ein, und dabei nahm sein Stolz wieder etwas ab, »war, dass das Aufklappen des Deckels nicht reichte, um den Zauber auszulösen. Es mussten auch Seiten umgeschlagen werden, wahrscheinlich eine bestimmte Anzahl. Jetzt, da ich darüber nachdenke, erscheint mir das natürlich nur logisch.« Raistlin blickte auf das schwarze Gras und die Aschefetzen, die durch die Luft trieben – alles, was von dem Buch übrig war. »Eine sehr elegante Waffe«, befand er. »Einfach,
subtil. Genial.« »Hm!«, machte Horkin. Nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hatte, ging er mit dem Baron und Raistlin hinaus, um den Schaden zu begutachten. »Was ist denn so verdammt genial daran?« »Schon der Umstand, dass Ihr das Buch wegtragen konntet, Sir. Die Schwarze Robe hätte den Zauber ja auch so planen können, dass er losgeht, sobald jemand das Buch hochhebt, doch das sollte er gar nicht. Ihr solltet das Buch mit ins Lager nehmen, mitten unter die eigenen Soldaten. Wenn Ihr es dort aufgeschlagen hättet…« »Bei Luni, Roter! Wenn es stimmt, was du sagst«, Horkin wischte sich mit zittriger Hand den kalten Schweiß von der Stirn, »sind wir alle gerade noch einmal davongekommen!« »Es wären viele Männer umgekommen«, stimmte der Baron zu, als er in das tiefe Loch spähte, um dann Horkin freundschaftlich den Arm über die Schulter zu legen. »Ganz zu schweigen von meinem besten Zauberer.« »Einem Eurer besten Zauberer, Herr«, berichtigte Horkin, der Raistlin mit breitem Grinsen zunickte. »Einem davon.« »Richtig«, nickte der Baron und schüttelte Raistlin die Hand. »Ihr habt Euch Euren Platz bei uns redlich verdient, Majere. Oder«, augenzwinkernd sah er Horkin an, »vielleicht sollte ich sagen ›Sir Majere‹.« Der Baron straffte sich und sah seinem Pferd nach, das am Ende des Weges verschwunden war. »Armer, alter Jet. Bücher, die vor seiner Nase explodieren. Dürfte schon auf halbem Weg nach Sancrist sein. Ich sollte ihn lieber suchen und beruhigen. Einen schönen Abend noch, meine Herren.«
»Euch auch, Herr«, erwiderte Horkin. Er und Raistlin verbeugten sich. »Roter, ich bin dir zu Dank verpflichtet«, sagte Horkin, der Raistlin kumpelhaft den Arm über die Schulter legte. »Du hast dem alten Horkin den Arsch gerettet. Ich möchte, dass du weißt, wie dankbar ich dir bin.« »Danke, Sir«, antwortete Raistlin, um bescheiden hinzuzufügen: »Ich habe auch einen Namen, Sir.« »Klar hast du den, Roter«, grinste Horkin und verpasste ihm einen Schlag auf die Schulter, der Raistlin beinahe zu Boden warf. »Klar hast du den.« Fröhlich pfeifend stapfte Horkin dem Baron hinterher.
18. Kapitel »Aufgewacht, Jungchen!«, ertönte eine spöttische, lispelnde, hohe Stimme. »Auf, Jungchen, und begrüßt den neuen Tag!« Die Stimme erhob sich zu einem rauen Schrei: »Ich bin jetzt eure Mami, Jungs, und Mami sagt, es ist Zeit zum Aufstehen!« Da er genau wusste, dass ein rascher Tritt in den Allerwertesten noch zu den gnädigen Weckmitteln des Feldwebels gehörte, rollte Caramon von seiner Decke, sodass das Stroh nach rechts und links flog, sprang auf und stellte sich hin. Rundherum bemühten sich auch die anderen Männer, eilig zu gehorchen. In der Kaserne war es noch dunkel, doch die Vögel waren schon wach – diese Irren –, was bedeutete, dass der Tag bald anbrechen würde. Caramon war an frühes Aufstehen gewöhnt. Unzählige Male hatte er sich in seiner Jugend aus dem Bett gerollt, sogar noch vor den Vögeln, um auf die Felder zu trotten, damit er genau bei Tagesanbruch dort ankam, um nichts von dem kostbaren Tageslicht zu verschwenden. Dennoch verließ Caramon seine Decke und seinen Strohhaufen nie ohne tiefes Bedauern. Caramon schlief sehr gerne. Er genoss das Schlafen. Er brauchte Schlaf. Caramon war schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass man im Leben mehr Zeit mit Schlafen verbrachte als mit allem anderen, und deshalb hatte er beschlossen, ein guter Schläfer zu werden. Er übte, sooft er konnte. Anders sein Zwillingsbruder. Raistlin schien dem Schlaf bewusst zu trotzen. Für ihn war der Schlaf ein verschlagener Dieb, der sich vorzeitig an ihn heranschlich, um Stun-
den seines Lebens zu stehlen. Raistlin war immer schon früh am Morgen auf, sogar in den Ferien, was Caramon überhaupt nicht verstand. Und viele Nächte hatte Caramon seinen Bruder über den Büchern einschlafen sehen, weil er zu müde war, um wach zu bleiben, sich aber dennoch weigerte, dem Schlaf nachzugeben. Während er sich augenreibend darum bemühte, aus dem angenehmen Traum zu erwachen, der ihn immer noch umfing, dachte Caramon traurig, dass er für einen Mann, der gerne schlief, den falschen Beruf gewählt hatte. Wenn er eines Tages General war, würde er bis zum Mittag schlafen, und jeder, der es wagen würde, ihn früher zu wecken, würde einen Rippenstoß bekommen… einen Rippenstoß… »Caramon!« Tauscher stieß ihm in die Rippen. »Hm?« Caramon zwinkerte. »Du hast im Stehen geschlafen«, erklärte Tauscher, der seinen Freund bewundernd ansah. »Wie ein Pferd. Im Stehen geschlafen!« »Ehrlich?«, fragte Caramon mit einigem Stolz. »Ich wusste gar nicht, dass Menschen dazu in der Lage sind. Das muss ich Raist erzählen.« »Helme, Schilde und Waffen!«, bellte der Feldwebel. »In zehn Minuten draußen.« Tauscher riss gähnend den Mund auf. Es schien unmöglich zu sein, dass ein so knochiger Kerl den Mund so weit aufreißen konnte. »Wenn du das zu oft machst, klappt dein Kopf noch auseinander«, mahnte Caramon besorgt. »Majere«, erinnerte ihn der Feldwebel in gehässigem Ton, »möchtest du uns heute mit deiner Gegenwart beehren? Oder willst du den ganzen Tag Latrinen auffüllen?«
Caramon zog sich eilig an, setzte seinen Helm auf, schnallte den Schwertgurt um und nahm den Schild zur Hand. Gerade als die ersten Sonnenstrahlen unter ein paar tiefhängenden Wolken am Horizont hindurchlugten, eilten die Rekruten ins Freie. Vor der Kaserne stellten sie sich in drei Reihen auf. Das hatten sie seit dem Morgen ihrer Ankunft jeden Tag gemacht, und inzwischen waren sie gut darin. Meister Quesnelle kam heraus, um seinen Platz vor den versammelten Soldaten einzunehmen. Caramon sah erwartungsvoll dem Marschbefehl entgegen. Der Befehl blieb aus. »Heute, Männer, teilen wir euch in Kompanien auf«, gab der Waffenmeister bekannt. »Die meisten bleiben bei mir, aber ein paar von euch wurden für die Kompanie C ausgewählt, und zwar die Plänkler unter der Führung von Meister Senej. Wenn ich euren Namen aufrufe, tretet ihr zwei Schritte vor. Ander Pflasterer. Rav Hammerschmied. Darley Wildholz.« Das Aufrufen ging weiter. Caramon stand im Halbschlaf da und ließ die Sonne seine Muskeln wärmen, die vom Schlafen auf dem Steinboden steif waren. Er rechnete nicht damit, aufgerufen zu werden. Für Kompanie C wurden nur die Allerbesten ausgewählt. Caramon war am Wegdämmern. »Caramon Majere.« Überrascht wurde Caramon wach. Seine Füße taten zwei geübte, exakte Schritte nach vorn, ohne auf sein verschlafenes Gehirn zu warten. Lächelnd warf er einen Blick auf Tauscher und wartete, dass man auch seinen Namen aufrief. Meister Quesnelle rollte schwungvoll die Liste zusam-
men. »Die Männer, deren Namen ich gerade aufgerufen habe, marschieren zu Feldwebel Nemiss da drüben und melden sich dort.« Der Meister deutete auf eine einzelne Soldatin, die mitten auf der Straße stand. Die anderen Rekruten machten geübt kehrt und trabten davon. Caramon blieb, wo er war. Unglücklich sah er sich nach Tauscher um, dessen Name nicht genannt worden war. »Geh schon!«, drängte Tauscher, der nicht laut zu sprechen wagte, die Worte aber mit den Lippen formte. »Was machst du denn, du Esel? Geh!« »Majere!« Meister Quesnelles Stimme wurde schneidend. »Bist du taub geworden? Ich habe dir einen Befehl gegeben! Setz deinen dicken Arsch in Bewegung, Majere!« »Ja, Sir!«, rief Caramon. Er fuhr herum, trat zur Seite und packte mit der linken Hand Tauscher am Hemdkragen. Caramon hob den jungen Mann einfach hoch und nahm ihn mit. »Caramon, was – Caramon, lass das! Caramon, lass mich los!« Tauscher drehte und wand sich und versuchte verzweifelt, Caramons Griff zu entkommen, ohne sich jedoch befreien zu können. Meister Quesnelle wollte gerade kalt und wütend wie eine Lawine über Caramon herfallen, als er im Hintergrund den Spinnerbaron bemerkte, der interessiert zusah. Der Baron gab ein kleines Handzeichen. Meister Quesnelle wurde rot im Gesicht und klappte den Mund zu. Caramon marschierte im Sturmschritt. »Ihr habt vergessen, seinen Namen aufzurufen, Sir«, sagte er entschuldigend, als er an dem aufgebrachten Waffenmeister vorbeieilte.
»Ja, habe ich wohl«, knurrte Quesnelle nur. Der Rest der Kompanie setzte die übliche Routine fort: Morgenlauf, Frühstück, Einüben der grundlegenden Manöver. Die zwölf Rekruten, deren Namen genannt worden waren, hatten sich vor Feldwebel Nemiss aufgestellt. Ihr neuer Offizier war eine mittelgroße Frau mit der rauchschwarzen Haut der Menschen aus dem nördlichen Ergod. Sie hatte leuchtende, braune Augen und ein hübsches, süßes Gesicht, doch die neuen Rekruten sollten bald merken, dass ihr Aussehen mit ihrer Persönlichkeit ganz und gar nicht übereinstimmte. In Wahrheit war Feldwebel Nemiss nämlich eine Trinkerin mit aufbrausendem Temperament, die häufig in Schlägereien verwickelt war – ein Grund, weshalb sie Feldwebel war und es auch für den Rest ihres Lebens bleiben würde. Feldwebel Nemiss stand da und starrte die zwölf Männer – dreizehn, wenn man Tauscher mitzählte – eine ganze Weile an. Ihr Blick fiel auf den armen Tauscher, der daraufhin in sich zusammenschrumpfte. Der Gesichtsausdruck des Feldwebels änderte sich nicht, sondern nahm bestenfalls einen leicht betrübten Ausdruck an. »Du da«, sagte sie und zeigte auf ihn. »Stell dich da rüber.« Tauscher sah Caramon an und lächelte, was soviel bedeutete wie »Wir haben’s versucht.« Dann marschierte er los und stellte sich an die Seite der Straße. Feldwebel Nemiss schüttelte den Kopf und drehte sich wieder zu den übrigen um. »Ihr Männer wurdet ausgewählt, um euch meiner Kompanie anzuschließen. Die Kompanie steht unter dem Kommando von Meister Senej. Ich bin seine Stellvertreterin. Die Ausbildung neuer Rekruten für Meister Senejs Kompanie
gehört zu meinen Aufgaben. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?« Einstimmig schrien die zwölf: »Ja, Sir!« Auch Tauscher wollte, von der Macht der Gewohnheit getrieben, »Ja, Sir« sagen, verstummte aber, als der Feldwebel ihn anfunkelte. »Gut. Ihr Männer wurdet nicht ausgewählt, weil ihr besser seid als der Rest, sondern weil ihr weniger schlecht seid als die anderen.« Feldwebel Nemiss machte ein finsteres Gesicht. »Bildet euch bloß nicht ein, dass ihr deshalb gut seid. Ihr seid nicht gut, ehe ich euch sage, dass ihr gut seid, und wenn ich hier stehe und euch blutige Anfänger so ansehe, kann ich euch hier und jetzt versichern, dass ihr nicht einmal gut genug seid, um guten Soldaten die Stiefel zu lecken.« Die Rekruten standen schwitzend in der Sonne, ohne ein Wort zu sagen. »Majere, vortreten. Ihr übrigen geht zurück in die Kaserne, packt eure Sachen und meldet euch in fünf Minuten hier bei mir. Ihr zieht in die Kaserne von Meister Senejs Kompanie. Noch Fragen? Gut, also Bewegung! Majere, hier herüber.« Der Feldwebel winkte Caramon neben Tauscher, welcher zögernd, einschmeichelnd und hoffnungsvoll lächelte. Feldwebel Nemiss ließ sich nicht beeindrucken. Sie betrachtete die beiden, besonders Tauscher – seinen schmalen Körper, seine schnellen, langfingrigen Hände und seine unglücklicherweise etwas spitz zulaufenden Ohren. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich. »Was zur Hölle soll ich bloß mit dir anfangen – wie heißt du?« »Tauscher, Sir«, antwortete Tauscher respektvoll.
»Tauscher? Das ist kein Name!« Der Feldwebel sah ihn wütend an. »Es ist mein Name, Sir«, erklärte Tauscher freundlich. »Und das ist auch das, was Ihr mit ihm anfangen könnt, Sir«, half Caramon. »Unser Tauscher ist Experte im Tauschen.« »Stehlen, meinst du«, sagte der Feldwebel. »In meiner Abteilung dulde ich keine Diebe.« »Nein, Sir«, widersprach Tauscher mit nachdrücklichem Kopfschütteln. Sein Blick war streng geradeaus gerichtet, wie er es gelernt hatte. »Ich stehle nicht.« Der Feldwebel starrte vielsagend auf Tauschers Ohren. Tauschers Augen huschten zur Seite, dann sah er den Feldwebel kurz an. »Ich ›borge‹ auch nichts, Sir.« »Er ist ein Tauscher, Sir«, erläuterte Caramon. »Du verzeihst mir sicher, Majere«, meinte Feldwebel Nemiss, offenkundig kurz davor, die Geduld zu verlieren, »wenn ich nicht recht begreife, was dieser Begriff bedeutet oder wie zum Teufel er mir von Nutzen sein kann!« »Das ist eigentlich ganz einfach, Sir«, erläuterte Tauscher. »Ich finde für die Leute Dinge, die sie haben möchten, und sie geben mir dafür andere Dinge. Das ist eine Gabe, Sir«, fügte er bescheiden hinzu. »Wirklich?« Der Feldwebel verzog den Mund. Sie überlegte kurz. »Einverstanden. Ich gebe dir eine Chance. Bis morgen früh um diese Zeit bringst du mir etwas, das ich für diese Abteilung gebrauchen kann – etwas Wertvolles, selbstverständlich –, und ich lasse dich bei dieser Kompanie bleiben. Wenn du versagst, verschwindest du. Ist das ein Angebot?« »Ja, Sir«, bestätigte Tauscher, dessen Gesicht vor Freude
rot anlief. »Da das Ganze deine Idee war, Majere, bleibst du bei ihm.« Der Feldwebel hielt warnend einen Finger hoch. »Kein Diebstahl. Wenn ich herausfinde, dass du etwas gestohlen hast, Soldat, knüpfe ich dich da oben im Apfelbaum auf. In dieser Armee sind Diebe nicht geduldet. Der Baron hat schwer dafür gearbeitet, gute Beziehungen zu den Bewohnern der Stadt aufzubauen, und so soll es auch bleiben. Majere, ich ziehe dich zur Verantwortung. Das heißt, wenn er stiehlt, wird es dir ebenso ergehen wie ihm. Wenn er auch nur eine Erbse klaut, werdet ihr beide dafür baumeln.« »Ja, Sir. Ich verstehe, Sir«, meinte Caramon, obwohl er verstohlen schluckte, als der Feldwebel nicht hinsah. »Dürfen wir jetzt gehen und unseren Auftrag ausführen, Sir?«, fragte Tauscher eifrig. »Zur Hölle, nein, ihr dürft nicht gehen!«, schimpfte der Feldwebel. »Ich habe nur zwei Wochen Zeit, euch Trampel in Form zu bringen, und ich werde jede Sekunde davon brauchen. Die neuen Rekruten erhalten heute Abend Ausgang in die Stadt – « »Wirklich, Sir?«, unterbrach Caramon überglücklich. »Alle, außer euch beiden«, betonte der Feldwebel kühl. »Ihr zwei könnt heute Abend euren Auftrag erledigen.« »Ja, Sir.« Caramon seufzte tief. Er hatte sich darauf gefreut, wieder im »Dicken Schinken« einzukehren. »Jetzt holt eure Sachen und meldet euch sofort wieder hier!« »Tut mir leid, dass du heute Abend den Ausgang verpasst, Caramon«, entschuldigte sich Tauscher, während er das Stroh aus seiner Decke schüttelte.
»Pff. Das macht doch nichts.« Caramon tat den Gedanken an kaltes Bier und warme, anschmiegsame Mädchen mit einem Schulterzucken ab. »Glaubst du, du schaffst es?«, erkundigte er sich besorgt. »Es wird nicht leicht sein«, gab Tauscher zu. »Normalerweise weiß ich, worum ich handele, wenn ich ein Geschäft abschließe.« Er dachte ernsthaft darüber nach. »Aber ja doch, ich glaube, ich kriege das hin.« »Das hoffe ich«, murmelte Caramon in sich hinein. Er warf einen nervösen Blick auf den Apfelbaum. Feldwebel Nemiss führte die Männer zu einem Gebäude auf der anderen Seite des Hofes und ließ sie vor dieser Kaserne anhalten. Ein Offizier auf einem kohlschwarzen Hengst kam um die Kasernenecke geritten. Er war ein großer Mann mit dunklen Haaren und einem Kiefer, der aussah, als hatte man ihn ausgesägt, geschmirgelt und blank gerieben. Er zügelte sein Pferd und musterte die Männer, die vor ihm aufgereiht standen. »Mein Name ist Meister Senej. Feldwebel Nemiss sagte mir, ihr wart nicht ganz so schlecht wie die anderen Rekruten. Was ich wissen mochte, ist: Seid ihr gut genug für Kompanie C?« Den Namen der Kompanie brüllte er, was aus der Kaserne heraus mit einem wilden, tief kehligen Schrei beantwortet wurde. Soldaten eilten heraus. Jeder trug einen Brustpanzer, Helm und Waffenrock, dazu Schild und Schwert. Caramon straffte sich, weil er dachte, die Soldaten würden angreifen. Stattdessen hielten die Männer von Kompanie C ohne jeden Befehl an und stellten sich in absolut geraden und ordentlichen Reihen auf. Ihre polierten Metallrüstungen glänzten im Sonnenlicht.
In weniger als einer Minute stand die gesamte, neunzig Mann starke Kompanie in Schlachtformation bereit, die Schilde erhoben. Senej wandte sich wieder den dreizehn Rekruten zu. »Wie ich schon sagte, ich will wissen, ob ihr gut genug seid, euch meiner Kompanie anzuschließen. Meine Kompanie ist die beste im ganzen Regiment, und ich wünsche, dass es dabei bleibt. Wenn ihr nicht gut genug seid, kehrt ihr in die Ausbildungskompanie zurück. Wenn ihr gut seid, habt ihr für den Rest eures Lebens eine Heimat.« Caramon glaubte, er hatte sich noch nie im Leben etwas so sehr gewünscht, wie sich dieser Einheit stolzer, selbstsicherer Soldaten anzuschließen. Seine Brust schwoll vor Stolz, weil man ihn zu dem Versuch ausgewählt hatte, doch dieser Stolz blieb ihm im Halse stecken, als ihm einfiel, dass er dazu vielleicht nicht gut genug war. »Abtreten, Männer. Feldwebel Nemiss zeigt euch eure Schlafplätze.« Die Rekruten bekamen Holzpritschen zugewiesen, zwischen denen mindestens doppelt so viel Platz war wie in ihrem vorherigen Quartier. Jeder hatte eine Kasernenkiste am Fußende seines Lagers, in der er persönlichen Besitz aufbewahren konnte. Caramon fand, er hatte noch nie so viel Luxus gesehen. Nach dem Frühstück rief Feldwebel Nemiss die dreizehn neuen Rekruten zu sich. »Also, bisher macht ihr eure Sache gut. Einen Rat noch. Versucht noch nicht, euch mit den anderen anzufreunden. Sie mögen neue Jungs erst, wenn die sich bewährt haben. Nehmt das nicht persönlich. Sobald ihr einen Sommer mit ihnen in die Schlacht gezogen seid, werdet ihr für den Rest
eures Lebens überall dabei sein.« Einer der Männer hob die Hand. »Ja, Manto, was ist?«, fragte der Feldwebel. »Sir, ich wusste gern, welche Aufgaben Meister Senejs Kompanie zu etwas so Besonderem machen.« »Merkwürdigerweise«, erklärte der Feldwebel, »ist diese Frage lange nicht so dumm, wie sie sich anhört. Unsere Kompanie ist etwas Besonderes, weil wir alle besondere Aufgaben ausfuhren. Wir sind die Flankenkompanie. Wenn der Baron Plankler für einen Vorstoß braucht, schickt man uns. Wenn der Feind mit uns spielt und sich immer wieder entzieht, sind wir es, die losziehen und ihn finden. Wenn wir den Befehl erhalten, kämpfen wir in Reih und Glied, aber wir machen auch die anderen schmutzigen Aufgaben, die anfallen. Heute werdet ihr eine neue Waffe erhalten, zusätzlich zu eurem Schwert. Jetzt werdet bloß nicht zu aufgeregt. Es ist nur ein Speer. Nichts Überwältigendes.« Der Feldwebel streckte die Hand aus und ergriff einen an der Wand lehnenden Speer. Sie hielt ihn vor sich hoch. »Wohin ihr auch geht, der Speer begleitet euch, bis eure Ausbildung beendet ist.« Caramon hielt die Hand hoch. »Ähem, Feldwebel. Wann ist denn unsere Ausbildung beendet?« »Ihr seid fertig, wenn ich sage, ihr seid fertig, Majere«, bellte der Feldwebel. »Ihr seid fertig oder ausgesiebt, bevor wir marschieren, und bis dahin sind es nur ein paar Wochen. Ihr habt also jede Menge zu tun und zu lernen. Haltet euch an mich und tut, was ich euch sage, dann werdet ihr gut durchkommen.« Nemiss führte die dreizehn Männer auf den Übungs-
platz. Alle trugen ihre neuen Speere, und alle Speere hatten das doppelte Gewicht, genau wie alle anderen Übungsausrüstungen. Caramon schulterte den Speer ohne Schwierigkeiten, aber Tauscher konnte den seinen kaum anheben. Das Ende seines Speers schleifte auf dem Boden und zog eine lange Furche hinter ihm her bis hin zum Übungsgelände. Feldwebel Nemiss warf ihm nur einen Blick zu und verdrehte die Augen. Den Rest des Tages übten sie mit Schild und Speer. Am Nachmittag übten sie Speerwerfen. Als der Tag sich neigte, war Caramons Arm von der ungewohnten Anstrengung so schwach und zittrig, dass er seine Zweifel hatte, ob er abends noch seinen Löffel halten könnte. Tauscher hatte tapfer versucht, den Speer zu werfen, doch nachdem er dabei mehrmals mit zu Boden gegangen war – das erste Mal war er platt auf dem Bauch gelandet, das zweite Mal hätte er fast Caramon durchbohrt –, wurde er von dieser Pflicht enthoben. Feldwebel Nemiss stellte ihn dazu ab, den Männern Eimer mit Wasser zu holen. Man sah deutlich, dass sie nicht davon ausging, dass sie es zukünftig mit dem jungen Mann zu tun haben würde. Die Aussicht auf ein paar Stunden Ausgang in der Stadt munterte die Rekruten beträchtlich auf. Aus eigenem Antrieb eilten sie schließlich mit ihren Speeren zur Kaserne zurück und sangen dabei ein fröhliches, freches Marschlied, das Feldwebel Nemiss ihnen beigebracht hatte. Dann schaufelten die Männer das Essen in sich hinein und verschwanden, um sich die Haut rot zu schrubben, Haare zu kämmen, Bärte zu stutzen und ihre besten Kleider anzulegen. Caramon wollte ihrem Beispiel folgen – er hoffte auf ein schnelles Glas Bier vor der Tauschaktion –,
doch er bemerkte, dass Tauscher auf seiner Pritsche lag und die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte. »Gehen wir denn nicht mit den anderen in die Stadt?«, wollte Caramon wissen. »Nein.« Tauscher schüttelte den Kopf. »Aber… wie willst du dann etwas eintauschen?« »Das wirst du schon sehen«, versprach Tauscher. Caramons Seufzer kam aus tiefster Seele. Er legte den Kamm weg, den er unter Schmerzen durch seine Locken gezogen hatte, und setzte sich tieftraurig auf sein Lager, während die anderen Männer fröhlich in die Stadt aufbrachen. Fast alle Soldaten, die um diese Zeit nichts mehr zu tun hatten, hatten an diesem Abend Ausgang bekommen. Nur die Wachen und die wenigen, die andere Aufgaben hatten, blieben zurück. Caramon sah sogar seinen Bruder in Begleitung von Meister Horkin abziehen. Er hörte die beiden davon sprechen, dass sie einen Zauberladen aufsuchen wollten, und dann erzählte Horkin Raistlin, dass er eine Taverne wüsste, wo sie das beste Bier von ganz Ansalon servierten. Caramon war noch nie so niedergeschlagen gewesen. »So können wir wenigstens ein paar Stunden schlafen«, stellte Tauscher fest, nachdem es in den Kasernen still war. Überaus still. Was nur bewies, so dachte Caramon, als er die Augen zumachte und sich in die Strohmatratze auf seiner Pritsche grub, dass die Dinge nie so schlecht standen, wie es den Anschein hatte.
19. Kapitel »Caramon!« Warum weckte ihn eigentlich immer jemand? »Hm?« »Es ist Zeit!« Caramon setzte sich auf. Da er vergessen hatte, dass er auf einem Feldbett und nicht auf einem Strohlager schlief, rollte er sich wie gewohnt zur Seite. Im nächsten Augenblick fand er sich auf dem Boden wieder, ohne so recht zu wissen, wie er dort hingekommen war. Tauscher beugte sich besorgt über ihn und leuchtete ihm mit seiner Blendlaterne direkt in die Augen. »Bist du verletzt, Caramon?« »Unsinn! Und blende das verdammte Ding ab!«, knurrte Caramon halb blind. »Entschuldigung.« Tauscher schob die Klappe vor, und das Licht verschwand. Caramon rieb seine schmerzende Hüfte. Sein Herz klopfte. »Alles klar«, murmelte er kaum verständlich. »Wie spät ist es?« »Fast Mitternacht. Mach schon! Nein, keine Rüstung. Macht zu viel Krach. Außerdem schüchtert sie die Leute ein. Hier, ich leuchte dir.« Caramon zog sich eilig an und beobachtete dabei seinen Freund. »Du bist doch irgendwo gewesen. Wo warst du?«, fragte Caramon. »In der Stadt«, antwortete Tauscher. Er war bester Laune. Seine Augen funkelten, und er grinste von einem spitzen Ohr zum anderen. Seine gute Laune verstärkte unglückli-
cherweise die äußerlich erkennbaren Hinweise auf sein Kendererbe. Als Caramon seinen Freund ansah, fiel ihm der Apfelbaum ein, und er erbebte. »Wir haben heute Nacht Glück, Caramon. Echtes Glück«, strahlte Tauscher. »Aber schließlich habe ich immer Glück. Wie alle Kender. Ist dir das schon mal aufgefallen? Mutter sagte immer, das käme daher, dass die Kender früher mal die Lieblinge von so einem alten Gott gewesen wären, Pfitzbang oder so ähnlich. Den gibt es natürlich nicht mehr. Sie sagte, dieser Gott wäre auf einen eingebildeten Priester wütend geworden und hätte ihm einen Stein an den Kopf geworfen, woraufhin er die Stadt schnell verlassen musste, bevor die Wachen kamen. Aber das Glück, das er den Kendern geschenkt hat, färbte ab, deshalb haben sie es immer noch.« »Wirklich?« Caramon machte große Augen. »Ist das so? Das muss ich Raist erzählen. Er sammelt Geschichten über die alten Götter. Ich glaube nicht, dass er schon einmal von einem mit dem Namen Pfitzbang gehört hat. Das interessiert ihn bestimmt.« »Komm, ich helfe dir mit dem Stiefel. Wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Glück. Es sind zwei Handelskarawanen in der Stadt! Denk doch mal! Eine von Zwergen und eine von Menschen. Sie wollen dem Baron Vorräte und Ausrüstung verkaufen. Ich habe gerade beide besucht.« »Du hast also einen Plan?« Caramon war zutiefst erleichtert. »Nein, nicht so richtig.« Tauscher wich aus. »Handeln ist wie Brotteig. Man muss der Hefe Zeit lassen.« »Was soll das heißen?«, fragte Caramon argwöhnisch. »Ich weiß, wie man es in Gang bringt, aber das Geschäft
muss ganz von allein wachsen. Komm jetzt.« »Wohin?« »Pst, nicht so laut! Erstmal in den Stall.« Also würden sie in die Stadt reiten. Das war eine gute Idee, fand Caramon. Sein Arm war vom Speerwerfen steif und wund, und jetzt tat ihm von dem Sturz auch noch der Rumpf weh. Je weniger er sich heute Nacht bewegen musste, desto besser. Die beiden schlichen aus der Kaserne. Solinari und Lunitari standen beide am Himmel, einer voll, einer abnehmend. Zarte, hochhängende Wolken umfluteten die Monde wie Seidenschals, sodass keiner von beiden viel Licht gab und auch die Sterne verschleiert waren. Auf den Mauern der Burg marschierten die Wachen, die hin und wieder stehen blieben, um sich gutmütig darüber zu beschweren, dass sie den Spaß in der Stadt verpassten. Sie sollten auf das Außengelände Acht geben, nicht auf den Hof, sodass sie die beiden Gestalten nicht bemerkten, die von einem Schatten zum nächsten schlichen, um zum Stall zu kommen. Caramon fragte sich, wie es Tauscher gelungen war, jemanden zu überreden, ihnen Pferde zu geben, doch jedes Mal, wenn er fragen wollte, brachte Tauscher ihn zum Schweigen. »Warte hier! Du passt auf«, befahl Tauscher und ließ Caramon an der Stalltür zurück, während der Kender hineinschlüpfte. Caramon wartete nervös. Aus dem Stall vernahm er Geräusche, die er jedoch nicht einordnen konnte. Eines davon war ein lautes Poltern, das von metallischem Geklirr begleitet wurde. Dann hörte er etwas Schweres über den Boden schaben. Schließlich tauchte Tauscher auf, der keuchend,
aber triumphierend einen Ledersattel mitschleppte. Caramon betrachtete den Sattel, aber irgendwie fehlte etwas. »Wo ist das Pferd?« »Nimm das mal, ja?«, forderte Tauscher ihn auf, während er Caramon das schwere Ding vor die Füße warf. »Uff! Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde. Der Sattel hing auf einem Pfosten. Ich musste ihn runterziehen, und das war nicht leicht. Du kannst ihn aber doch tragen, oder?« »Doch, sicher kann ich das«, bestätigte Caramon. Er sah den Sattel genauer an. »Weißt du, der sieht aus wie der Sattel, den Meister Senej auf seinem Pferd hatte.« »Genau der ist er auch«, sagte Tauscher. Caramon grunzte, denn er war zufrieden, dass er ihn erkannt hatte. Ohne viel Mühe hob er den Sattel hoch. Dann kam ihm ein Gedanke. »Wohin soll ich ihn tragen?«, wollte er wissen. »In die Stadt. Hier entlang.« Tauscher war schon auf dem Weg. »Nein, Sir!« Caramon warf den Sattel hin. »Nein, Sir. Feldwebel Nemiss sagte, kein Stehlen, und sie sagte, ich wäre verantwortlich, und obwohl ich wirklich nicht glaube, dass der Apfelbaum mein Gewicht halten kann, wenn sie mich daran aufknüpft, steht vielleicht noch eine passende Eiche in der Nähe.« »Das ist kein Stehlen, Caramon«, hielt Tauscher dagegen. »Es ist auch kein Ausleihen. Das ist Handeln.« Caramon war immer noch skeptisch. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Sir.« »Sieh mal, Caramon, ich garantiere, dass der Kommandant der Kompanie morgen in einem Sattel auf seinem
Pferd sitzt, so wie er heute in einem Sattel auf seinem Pferd gesessen hat. Ich garantiere es. Du hast mein Wort. Mir gefällt dieser Apfelbaum genauso wenig wie dir.« »Hm…« Caramon zögerte. »Caramon, ich muss diesen Handel zustande bringen«, flehte Tauscher. »Sonst schmeißen sie mich aus der Armee. Ich durfte nur so lange bleiben, weil der Baron findet, ich wäre mal etwas Neues. Aber wenn wir erst ins Feld ziehen, wird das nicht reichen. Dann muss ich mir meinen Sold verdienen. Ich muss ihnen beweisen, dass ich ein wertvolles Mitglied der Kompanie sein kann, Caramon. Ich muss!« Die Freude war aus Tauschers Gesicht verschwunden. Es war ihm verzweifelt ernst. »Eigentlich weiß ich es besser«, seufzte Caramon und hob den Sattel auf, obwohl sein überstrapazierter Arm ihm zu schaffen machte, »aber gut. Wie kommen wir hier raus?« »Durch das Vordertor«, sagte Tauscher unbesorgt. »Aber die Wachen – « »Überlass das Reden mir.« Caramon stöhnte, sagte aber nichts. Nachdem er den Sattel auf seinen Kopf gestemmt hatte, begleitete er Tauscher zum Tor. »Was glaubt ihr zwei, wo ihr hingeht?« wollte der Torhüter wissen, der ziemlich erstaunt war, als er einem Riesen gegenüberstand, dem anscheinend anstelle eines Kopfes ein Sattel gewachsen war. »Meister Senej schickt uns, Sir.« Tauscher salutierte. »Dieser Steigbügel ist locker. Er hat uns befohlen, den Sattel beim ersten Morgengrauen in die Stadt zu bringen.« »Aber es ist Nacht«, wandte die Wache ein.
»Nach Mitternacht, Sir«, sagte Tauscher. »Also Morgen. Wir befolgen nur unsere Befehle, Sir.« Er senkte die Stimme. »Ihr wisst doch, wie pingelig Meister Senej sein kann.« »Ja, und ich weiß, dass er auf diesen Sattel nichts kommen lässt«, bestätigte die Wache. »Also geht nur.« »Ja, Sir. Danke, Sir.« Tauscher marschierte zum Tor hinaus. Caramon stapfte bedauernd hinter ihm her. Bei der Schlussbemerkung des Torhüters – wieviel der Meister von diesem Sattel hielt – war ihm das Herz in die Hosen gerutscht. »Tauscher«, setzte er an. »Hefe, Caramon«, erinnerte Tauscher, der mit seiner Laterne die Straße beleuchtete. »Denk einfach an Hefe.« Caramon versuchte, an Hefe zu denken. Er gab sich redliche Mühe. Doch das erinnerte ihn nur daran, dass er Hunger hatte.»Da sind die Karawanen«, sagte Tauscher, der die Abdeckung vor die Laterne schob. In beiden Lagern brannten helle Lagerfeuer. Vor dem einen liefen große Menschen vorbei, vor dem anderen kräftige Zwerge. Caramon legte den Sattel ab und freute sich, dass er ausruhen konnte. Ein Lager bestand aus einem Kreis großer, abgedeckter Wagen, an deren einen Seite die Pferde angekoppelt waren. Das andere Lager war ein Kreis kleinerer Wagen, die nicht abgedeckt waren. Neben jedem Wagen waren die zugehörigen Ponys angebunden. Die beiden sahen zu, wie ein großer Mann das erste Lager verließ und zum zweiten hinüberging. »Reynard!«, rief er. »Ich muss mit dir reden!« Er benutzte die Umgangssprache. Ein Zwerg stand vom Feuer auf und stapfte zu dem
Menschen herüber. »Bist du bereit, meinen Preis zu zahlen?« »Hör mal, Reynard, du weißt doch, dass ich nicht so viel Stahl bei mir habe.« »Und womit bezahlt dich der Baron – mit Holz?« »Ich muss Proviant kaufen«, jammerte der Mann. »Der Weg zurück nach Südlund ist lang.« »Und ohne Sattel wird er noch länger. Nimm mein Angebot an oder schlag’s aus!«, erwiderte der Zwerg mürrisch. Er wollte gehen. »Bist du sicher, dass wir uns nicht anders einigen können?«, fragte der Mann. Er wollte den Zwerg aufhalten. »Für mich könntest du das doch tun! Ich warte gern.« »Ich nicht«, gab der Zwerg zurück. »Ich kann nicht zehn Tage hier herumhängen und Geld verlieren, nur um dir einen Sattel zu machen, wo du noch nicht einmal den bezahlen willst, den ich habe. Nein. Komm wieder, wenn du mir etwas anbieten kannst.« Der Zwerg kehrte zu Feuer, Bier und Kumpanen zurück. Caramon sah den Sattel an. »Du willst doch wohl nicht – « »Es gärt, mein Freund«, flüsterte Tauscher. »Es gärt schon. Gehen wir.« Caramon schulterte den Sattel und folgte Tauscher zu dem Menschenlager. »Wer da?« Ein Mann spähte von einem der Wagen in ihre Richtung. »Ein Freund«, rief Tauscher. »Ein Großer und ein Kleiner«, meldete der Posten. »Und der Große hat einen Sattel. Der Boss könnte interessiert sein.«
»Ein Sattel!« Ein Mann mit grauen Strähnen in Haaren und Bart sprang auf und betrachtete sie misstrauisch. »Merkwürdige Zeit für einen Sattel, mitten in der Nacht in ein Lager zu spazieren. Was wollt ihr?« »Wir haben von Freunden gehört, dass Ihr einen guten Sattel braucht, Sir«, sagte Tauscher höflich. »Wir haben auch gehört, Ihr wärt zur Zeit ein wenig knapp bei Kasse. Wir haben einen Sattel – einen schönen, wie Ihr seht. Caramon, leg den Sattel da drüben ans Feuer, wo diese Herren ihn besser ansehen können. Also, wir wären bereit zu handeln. Was könnt Ihr mir für diesen schönen Sattel anbieten?« »Tut mir leid«, antwortete der Mann. »Es ist der Boss, der den Sattel braucht, und der ist in seinem Wagen. Kommt morgen wieder.« Tauscher schüttelte bekümmert den Kopf. »Das würden wir ja gern, Sir, wirklich. Aber wir brechen morgen zu einer längeren Patrouille auf. Wir gehören nämlich zur Armee des Barons. Caramon, nimm den Sattel wieder mit. Vermutlich haben sich unsere Freunde geirrt. Schönen Abend noch, die Herren.« Caramon bückte sich, hob den Sattel auf und legte ihn sich wieder auf den Kopf. »Wartet mal!« Ein großer Mann – derselbe, den sie mit dem Zwerg gesehen hatten – sprang aus einem der Wagen. »Ich habe mit angehört, was du zu Smitfee gesagt hast. Zeig mir mal den Sattel.« »Caramon«, sagte Tauscher. »Nimm den Sattel runter.« Caramon seufzte. Er hatte nicht gewusst, dass Handeln so anstrengend war. Es war doch viel einfacher, sein Geld mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Er legte den Sattel wie-
der auf den Boden. Der Mann untersuchte ihn, ließ die Hand über das Leder gleiten und prüfte die Nähte genauer. »Sieht abgenutzt aus«, meinte er abfällig. »Was wollt ihr dafür?« Seine Stimme klang kühl und gelangweilt, aber Caramon hatte gesehen, wie liebevoll die Finger des Mannes über das feine Leder geglitten waren, und er war sich sicher, dass der scharfsichtige Tauscher das auch bemerkt hatte. Der Meister besaß einen guten Sattel, den zweitbesten in der Kompanie – nach dem des Barons. »Nun, ja«, überlegte Tauscher und kratzte sich am Kopf. »Was habt Ihr denn dabei?« Der Mann wirkte überrascht. »Rindfleisch.« »Habt Ihr viel?« »Fässerweise.« Tauscher dachte gründlich nach. »Also gut, Ihr könnt mich mit Fleisch bezahlen. Im Tausch gegen den Sattel.« Der Mann war auf der Hut. Das schien zu einfach. »Wieviel willst du?« »Alles«, verlangte Tauscher. Der Mann lachte. »Ich habe sechzehnhundert Pfund gut abgehangenes erstklassiges Rindfleisch! Dem Baron habe ich nur ein paar Fässer verkauft. So viel ist kein Sattel auf Krynn wert.« »Ihr seid ein guter Geschäftsmann, Sir.« Tauscher wirkte untröstlich. »Also gut, mein Freund und ich nehmen hundert Pfund Fleisch, aber es müssen die besten Stücke sein. Ich zeige Euch, was wir wollen.« Der Mann dachte nach, dann nickte er und streckte Tauscher die Hand hin. »Der Handel gilt! Smitfee, hol den bei-
den ihr Fleisch.« »Aber, Tauscher«, flüsterte Caramon kaum hörbar. Er war besorgt. »Der Sattel des Meisters! Er wird doch – « »Seht!« Tauscher stieß seinen Freund an. »Ich weiß, was ich tue.« Caramon schüttelte den Kopf. Er hatte gerade mit angesehen, wie sein Freund den Sattel des Meisters eintauschte, den hochgeschätzten Sattel des Meisters gegen ein Fass Fleisch. Sein Arm und sein Körper waren müde, und er war überzeugt davon, dass der Sattel die meisten Haare auf seinem Kopf abgewetzt haben musste. Um die Sache noch schlimmer zu machen, fühlte sich sein Magen nach all dem Gerede über Brot und Fleisch so hohl wie eine Trommel an. Er hatte das Gefühl, er sollte diesen Handel augenblicklich zu Ende bringen und zurück zum Lager marschieren. Aus zwei Gründen tat er dies nicht. Zum einen wollte er seinen Freund nicht verraten, und zum anderen wollte er diesen verdammten Sattel ganz bestimmt nicht noch einmal hochheben. Smitfee führte sie zu einem der weiter entfernten Wagen. Nachdem er ein Fass ausgewählt hatte, hievte er es herunter. »Hier, meine Herren«, sagte er. »Hundert Pfund erstklassiges Rindfleisch. Von hier bis zum Khalkist findet ihr nichts Besseres.« Tauscher untersuchte das Fass genau und beugte sich hinunter, um hineinzublinzeln. Dann stand er auf, stemmte die Hände in die Hüften, schob die Lippen vor und warf einen Blick auf die anderen Fässer im Wagen. »Nein, das ist nicht das Richtige.« Er deutete auf ein anderes Fass. »Ich will das da vorne, das mit dem weißen Zei-
chen an der Seite.« Smitfee sah zu dem Karawanenführer hinüber, der sich alarmbereit neben dem Sattel aufgestellt hatte für den Fall, dass die beiden Händler auf die Idee kamen, ein falsches Spiel zu treiben. Der Karawanenführer nickte. Smitfee holte das zweite Fass herunter. »Alles deins, Junge.« Smitfee grinste und zog ab. Caramon hatte das schreckliche Gefühl, zu wissen, was nun kam, doch er machte einen hoffnungsvollen Vorstoß. »Ich denke, das lassen wir hier morgen früh von den Männern des Barons mit dem Wagen abholen.« Tauscher bedachte ihn mit einem tadelnden Lächeln und schüttelte den Kopf. »Nein, das müssen wir zum Zwergenlager bringen.« »Was wollen denn die Zwerge mit hundert Pfund Rindfleisch?« wollte Caramon wissen. »Im Augenblick nichts«, erwiderte Tauscher. »Ich finde, du könntest das Fass rollen«, fügte er hinzu. »Du brauchst es nicht zu tragen.« Caramon ging zu dem Fass hin, kippte es auf die Seite und begann, es über den holprigen, unebenen Untergrund zu rollen. Diese Aufgabe war nicht so leicht, wie man hätte meinen sollen. Das Fass wackelte und rumpelte und bog ständig in die Richtung ab, in die man es am wenigsten haben wollte. Tauscher rannte nebenher und lenkte, so gut er konnte. Einmal hätten sie es fast verloren, denn als es einen kleinen Hügel hinunterrollte, wurde es zu schnell. Caramon schlug das Herz bis zum Hals, als Tauscher sich mit dem ganzen Körper gegen das Fass warf, um es aufzuhalten. Bis sie das Zwergenlager erreicht hatten, waren beide verschwitzt und erschöpft.
Als sie das Fass in das Zwergenlager rollten, schreckten sie eines der Ponys auf, das ein schrilles Wiehern ausstieß. Sofort tauchten überall Zwerge auf. Caramon hätte schwören können, dass der eine direkt unter seiner Nase aus der Erde sprang, denn der Zwerg erschreckte ihn fast so sehr, wie er selbst das Pony erschreckt hatte. »Guten Abend, meine Herren«, begrüßte Tauscher die Zwerge fröhlich und verbeugte sich. Er legte eine Hand auf das Fass, das Caramon mit dem Fuß festhielt. »Was ist in dem Fass?« wollte einer der Zwerge wissen, während er es argwöhnisch betrachtete. »Genau das, was Ihr braucht, mein Herr!«, strahlte Tauscher und schlug mit einer Hand auf das Fass. »Und das wäre?«, erkundigte sich der Zwerg. Der Länge seines Schnurrbarts nach war er der Anführer der Karawane. »Bier vielleicht?« Seine Augen glommen auf. »Nein, Sir«, wehrte Tauscher scheinbar erschüttert ab. »Greifenfleisch.« »Greifenfleisch!« Der Zwerg war sichtlich verdutzt. Genau wie Caramon. Er klappte den Mund auf und wieder zu, nachdem Tauscher ihm fest auf den Fuß getreten hatte. »Hundert Pfund feinstes Greifenfleisch, wie man es sich für einen feinen, saftigen Braten besser nicht wünschen kann. Habt Ihr schon mal Greifenfleisch gekostet, mein Herr? Manche Leute behaupten, es würde nach Huhn schmecken, aber das ist ein Irrtum. Köstlich. Anders kann man es nicht beschreiben.« »Ich nehme zehn Pfund.« Der Zwerg griff nach seiner Börse. »Was macht das?« »Tut mir leid, aber ich kann nur alles zusammen abge-
ben«, sagte Tauscher entschuldigend. Der Zwerg schnaubte. »Und was soll ich mit hundert Pfund Fleisch, ob von Greifen oder nicht? Meine Jungs und ich essen unterwegs einfach. Ich habe keinen Platz in den Wagen, um Delikatessen mit mir herumzuschleppen.« »Nicht einmal für das Festmahl des Lebensbaums?«, fragte Tauscher erschüttert. »Den heiligsten Festtag der Zwerge? Einen Tag zu Ehren von Reorx?« »Was? Wie?« Der Zwerg zog seine struppigen Augenbrauen hoch. »Was für ein Festmahl?« »Na, das größte Fest des Jahres in Thorbardin. Ach.« Tauscher machte ein beschämtes Gesicht. »Aber ich vermute, dass Ihr – als Hügelzwerge – davon nichts wisst.« »Wer behauptet das?«, schimpfte der Zwerg empört. »Ich… ich habe mich nur ein wenig im Datum vertan, das ist alles. Kommt vom Reisen. Da kommt ein Zwerg durcheinander. Also ist nächste Woche schon das Fest des… äh…« »Lebensbaums«, half Tauscher. »Natürlich«, meinte der Zwerg mit finsterem Gesicht. Er setzte eine schlaue Miene auf. »Hör mal, ich weiß, wie wir Hügelzwerge diesen großen Festtag begehen, aber ich weiß nicht, was die in Thorbardin machen. Nicht, dass es mich besonders interessieren würde«, fügte er beiläufig hinzu, »was diese großspurigen Angeber in Thorbardin machen. Ich bin nur neugierig.« »Nun«, begann Tauscher gedehnt, »es wird getrunken und getanzt.« Alle Zwerge nickten. Das war so üblich. »Und sie schlagen ein neues Fass Zwergenschnaps an – « Die Zwerge wirkten bereits gelangweilt.
»Aber das Wichtigste am ganzen Festmahl ist das Verzehren des Greifen. Schließlich ist bekannt, dass Reorx selbst ein großer Freund von Greifenfleisch war.« »Das ist bekannt«, bestätigten die Zwerge ernst, obwohl sie einander verstohlene Blicke zuwarfen. »Einmal soll er bei einem einzigen Mahl eine ganze Platte gebratener Rippchen verzehrt haben, einschließlich Kartoffeln und Soße, und zum Schluss fragte er nach dem Nachtisch«, fuhr Tauscher fort. Die Zwerge zogen ihre Hüte ab, hielten sie vor die Brust und senkten respektvoll den Kopf. »Deshalb muss jeder Zwerg, Reorx zu Ehren, so viel Greifenfleisch essen, wie er nur kann. Den Rest«, fügte Tauscher fromm hinzu, »schenkt er den Armen, in Reorx’ Namen.« Einer der Zwerge wischte sich mit der Bartspitze die Augen. »Tja, also, mein Freund«, sagte der Anführer mit belegter Stimme, »da Ihr uns auf dieses Datum aufmerksam gemacht habt, möchten wir dieses Fass Greifenfleisch natürlich gerne haben. Ich habe bloß im Augenblick nicht so viel Stahl da. Was würdet Ihr im Tausch annehmen?« Tauscher dachte einen Augenblick nach. »Habt Ihr etwas ganz Besonderes? Etwas Einzigartiges?« Der Zwerg war überrumpelt. »Nun«, setzte er an, »wir haben – « »Nix da«, lehnte Tauscher ab. »Kommt nicht in Frage.« »Wie wäre es mit – « Tauscher schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das reicht nicht.« »Ihr seid ein harter Verhandlungspartner, mein Herr«,
stellte der Zwerg stirnrunzelnd fest. »Also gut. Ich stehe mit dem Rücken zur Wand. Ich habe«, er sah sich prüfend um, ob sie auch nicht belauscht wurden, »einen Plattenpanzer, den die besten Zwergenschmiede von Pax Tarkas für den berühmten Sir Jeffrey von Palanthas angefertigt haben.« Der Zwerg faltete die Hände über seinem Bauch und sah die beiden an, denn er fand, jetzt müssten sie doch beeindruckt sein. Tauscher zog die Augenbrauen hoch. »Meint Ihr nicht, dass Sir Jeffrey seine Rüstung vielleicht noch brauchen könnte?« »Nicht dort, wo er hingeht, fürchte ich.« Der Zwerg zeigte nach oben. »Tragischer Unfall. Ist in der Latrine ausgerutscht.« Tauscher überlegte. »Ich nehme an, zu der Rüstung gehören Schild und Sattel?« Caramon hielt die Luft an. »Der Schild ja, der Sattel nicht.« Caramon seufzte tief. »Der Sattel ist bereits versprochen«, fügte der Zwerg hinzu. Tauscher ließ sich die Sache noch eine gute Minute durch den Kopf gehen, bevor er antwortete: »Na schön, wir nehmen die Rüstung mit dem Schild.« Er streckte die Hand hin. Der Zwerg tat dasselbe, und sie besiegelten den Handel über dem umgekippten Fass mit heiligem Greifenfleisch. Der Anführer stapfte zu einem anderen Wagen und zog bei seiner Rückkehr eine Holzkiste hinter sich her. Auf der Kiste lag ein Schild, der auf der Vorderseite mit einem Eis-
vogel verziert war. Schnaufend setzte er die Kiste vor Tauscher ab. »Bitte sehr, mein Freund. Bin Euch sehr zu Dank verpflichtet. Jetzt haben wir auch Platz für das Fleisch.« Tauscher bedankte sich bei den Zwergen und warf Caramon einen Blick zu. Der griff zu und lud sich stöhnend die Kiste auf die Schultern. »Warum hast du ihnen erzählt, es wäre Greifenfleisch?«, wollte Caramon wissen. »Weil sie an einfachem, altem Rindfleisch kein Interesse gehabt hätten«, erwiderte Tauscher. »Merken sie denn nicht, dass wir sie reingelegt haben, wenn sie das Fass aufmachen?« »Selbst wenn, würden sie es sich nie eingestehen«, beschwichtigte Tauscher. »Sie werden schwören, es sei das beste Greifenfleisch, das sie je gegessen haben.« Caramon musste das erst eine Weile verdauen, während sie in Richtung Burg abzogen. »Glaubst du, diese Rüstung wird den Meister für den Verlust seines Sattels ausreichend entschädigen?« »Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte Tauscher. »Deshalb bringen wir sie ja auch zum Menschenlager.« »Aber das Menschenlager liegt da hinten!«, erinnerte ihn Caramon. »Richtig, aber ich wollte mir die Rüstung zunächst einmal ansehen.« »Das können wir doch hier tun.« »Nein, können wir nicht. Ist diese Kiste furchtbar schwer?« »Ja«, grollte Caramon. »Dann muss es eine gute, solide Rüstung sein«, folgerte Tauscher.
»Wie praktisch, dass du so genau über dieses Fest in Thorbardin Bescheid wusstest«, meinte Caramon, der sich unter dem Gewicht der Kiste krümmte. »Welches Fest?«, fragte Tauscher. Er war in Gedanken anderswo gewesen. Caramon starrte ihn an. »Soll das heißen – « »Ach, das?« Tauscher grinste und zwinkerte ihm zu. »Vielleicht haben wir gerade eine ganz neue Zwergentradition begründet.« Er sah sich um, um zu prüfen, wie weit sie gekommen waren. Da die Feuer beider Lager nur noch kleine, orangefarbene Punkte in der Dunkelheit waren, ließ er Caramon anhalten. »Komm hierher, hinter diese Steine«, sagte er und winkte geheimnisvoll. »Stell die Kiste hin. Kriegst du sie auf?« Caramon öffnete den Deckel mit seinem Jagdmesser. Tauscher ließ das Licht der Blendlaterne auf die Rüstung fallen. »Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe!«, staunte Caramon ehrfürchtig. »Ich wünschte, Sturm wäre hier. Sieh nur, wie der Eisvogel in den Brustpanzer getrieben ist. Und die Rosen auf dem Visier. Und wie fein das Leder verarbeitet ist. Sie ist perfekt! Einfach perfekt!« »Viel zu perfekt«, stellte Tauscher fest, der an seiner Lippe nagte. Er sah sich um und hob einen großen Stein auf, den er Caramon reichte. »Hier, schlag ein paar Mal zu.« »Was?« Caramon bekam den Mund nicht mehr zu. »Bist du verrückt? Sie bekommt doch Beulen!« »Ja, ja!«, sagte Tauscher ungeduldig. »Mach schon, los!« Caramon schlug mit dem Stein auf die Rüstung ein, obwohl er bei jeder Schramme, die er dem schönen Brustpanzer verpasste, zusammenzuckte, als hätte er selbst sie emp-
fangen. »Da«, sagte er schließlich schwer atmend. »Das sollte – « Er brach ab und starrte Tauscher an, der Caramons Messer genommen hatte und sich gerade einen Schnitt am Unterarm beibrachte. »Was zum – « »Es war ein furchtbarer Kampf«, murmelte Tauscher, der seinen Arm über die Rüstung hielt und zusah, wie sein Blut darauf tropfte. »Aber wie tröstlich, dass der arme Sir Jeffrey als Held gestorben ist.« Smitfee hielt die beiden an den Wagen an. »Was jetzt noch?«, fragte er. »Ich möchte ein Geschäft vorschlagen, mein Herr«, antwortete Tauscher höflich. Smitfee betrachtete Tauscher genauer. »Ich hatte mich schon gefragt, wo ich solche Ohren bereits gesehen habe. Jetzt fällt es mir ein. Du hast Kenderblut in dir, was, Junge? Kender sehen wir bei uns nicht gern, ob verdünntes Blut oder nicht. Der Boss schläft. Also verschwinde – « Sein Boss kam um den Wagen. »Ich habe Barstahl Feuerbrand dieses Fass Fleisch in seinen Wagen schieben sehen. Mir wollte er nicht einmal einen anständigen Braten abkaufen. Wie habt ihr das geschafft?« »Tut mir leid, mein Herr«, erwiderte Tauscher, der rot geworden war. »Berufsgeheimnis. Aber er hat mir etwas dafür gegeben. Etwas, das Euch interessieren dürfte.« »Aha. Was ist es denn?« Neugierig sahen die Männer die Kiste an. »Mach sie auf, Caramon.« »Eine zerbeulte, alte Rüstung«, stellte Smitfee fest. Tauschers Stimme klang wie bei einer Beerdigung. »Nicht einfach irgendeine Rüstung, mein Herr. Das ist die
magische Rüstung des tapferen Sir Jeffrey von Palanthas, Ritter von Solamnia, zusammen mit seinem Schild. Die letzte Rüstung des edlen Sir Jeffrey«, betonte er traurig. »Beschreib du den Kampf, Caramon.« »Oh, äh, sicher.« Seine neue Rolle als Erzähler überrumpelte Caramon. »Also, da waren diese… äh… sechs Goblins…« »Sechsundzwanzig«, warf Tauscher ein. »Und waren es nicht doch Hobgoblins?« »Ja, richtig. Sechsundzwanzig Hobgoblins. Sie hatten ihn umzingelt.« »Es war noch ein kleines, blondes Kind dabei, glaube ich«, ergänzte Tauscher. »Eine Prinzessin. Und ihr zahmer junger Greif.« »Das stimmt. Die Hobgoblins wollten die Prinzessin entführen – « »Und den jungen Greifen – « »Und den Greifen. Sir Jeffrey schnappte sich den blonden Greifen – « »Und das Kind – « »Und das Kind und brachte es zu seiner Mutter, der Prinzessin, und befahl ihr, sich schnellstens in Sicherheit zu bringen. Dann stellte er sich mit dem Rücken an einen Baum und zog sein Schwert«, Caramon zog sein Schwert, um die Geschichte lebendiger zu machen, »und er schlug nach links, und er schlug nach rechts, und bei jedem Schlag fielen Hobgoblins. Aber am Ende waren es doch zu viele. Ein verfluchter Goblinstreitkolben traf ihn an dieser Stelle hier«, Caramon deutete darauf, »durchbrach die Magie, drang in die Rüstung ein und verletzte ihn tödlich. Am nächsten Tag fand man ihn inmitten von fünfundzwanzig
toten Hobgoblins. Und den letzten hat er im Sterben noch verwunden können.« Caramon steckte mit edler Geste sein Schwert ein. »Und das blonde Kind war gerettet?«, fragte Smitfee. »Und das Greifenjunge?« »Die Prinzessin hat das Junge ›Jeffrey‹ genannt«, erzählte Tauscher mit zitternder Stimme. Einen Augenblick lang herrschte respektvolles Schweigen. Smitfee kniete sich hin, um vorsichtig die Rüstung zu berühren. »Beim Abgrund!«, stellte er erstaunt fest. »Das Blut ist noch feucht!« »Wir sagten doch schon, sie ist magisch«, erwiderte Caramon. »Dieses berühmte Andenken an die Schlacht war bei den Zwergen schlecht aufgehoben«, erklärte Tauscher. »Aber mir kam der Gedanke, dass eine Karawane, die zufällig gerade auf dem Weg nach Palanthas ist, diese Rüstung und ihre Geschichte zum Turm des Oberklerikers mitnehmen könnte – « »Unser Weg führt tatsächlich nach Norden«, meinte der Anführer. »Ich gebe Euch noch einmal hundert Pfund Fleisch dafür.« »Nein, danke. Für Euer Fleisch habe ich leider keine Verwendung mehr«, lehnte Tauscher ab. »Was habt Ihr denn noch?« »Schweinsfüße in Salzlake. Ein paar große Käse. Fünfzig Pfund Hopfen – « »Hopfen!«, wiederholte Tauscher. »Was für Hopfen?« »Hopfen aus Ergod. Magisch verstärkt durch die Kagonesti-Elfen für das beste Bier aller Zeiten.«
»Verzeihung. Besprechung.« Er winkte Caramon zur Seite. »Zwerge kommen heutzutage nicht oft nach Ergod, oder?«, flüsterte Tauscher. Caramon schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn sie dazu ein Boot besteigen müssen. Mein Freund Flint konnte Boote nicht ausstehen. Einmal nämlich – « Tauscher ließ Caramon mitten in seiner Geschichte stehen. Er streckte Smitfee die Hand hin. »Wunderbar, mein Herr. Ich glaube, wir haben unser Geschäft.« Smitfee schleppte die Rüstung weg und behandelte sie dabei mit großem Respekt. Etwas später kam er mit einer großen Kiste auf der Schulter wieder. Er setzte die Kiste vor den beiden ab und wünschte ihnen eine gute Nacht. Caramon sah erst die Kiste an, dann Tauscher. »Das war eine wunderbare Geschichte, Caramon«, bedankte sich Tauscher. »Ich hätte fast geweint.« Caramon beugte sich vor, hob die Kiste an und hievte sie auf seinen Rücken.»Na, was habt Ihr mir diesmal gebracht?«, fragte der Zwerg. »Hopfen. Fünfzig Pfund Hopfen«, erklärte Tauscher triumphierend. Der Zwerg war irritiert. »Offenbar kennst du uns Zwerge schlecht, mein Junge. Es weiß doch jeder, dass wir das beste Bier aus ganz Krynn brauen! Wir bauen unseren Hopfen selber an – « »Nicht solchen«, warf Tauscher ein. »Nicht Hopfen aus Ergod!« Der Zwerg holte tief Luft. »Ergod! Seid Ihr sicher?« »Riecht doch selbst«, forderte Tauscher ihn auf. Der Zwerg schnupperte. Er wechselte einen Blick mit
seinen Gefährten. »Zehn Stahlmünzen für die Kiste!« »Tut mir leid«, sagte Tauscher. »Komm, Caramon. In der Stadt ist eine Taverne, die gibt uns – « »Warte!«, rief der Zwerg. »Wie wäre es mit sechs Porzellangedecken von den Hylaren und den passenden Kelchen dazu? Ich gebe noch Goldbesteck dazu!« »Ich bin Soldat«, gab Tauscher über die Schulter zurück. »Was soll ich mit Porzellantellern und goldenen Löffeln?« »Soldat. Na gut. Was haltet Ihr von acht verzauberten Elfenlangbögen, handgearbeitet von den Waldläufern der Qualinesti? Ein Pfeil, der von diesen Bögen abgeschossen wird, geht nie daneben.« Tauscher blieb stehen. Caramon setzte die Kiste ab. »Die verzauberten Langbögen und Sir Jeffreys Sattel«, hielt er dagegen. Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Den Sattel habe ich schon jemand anderem versprochen.« »Caramon, nimm die Kiste.« Tauscher ging weiter. Der Zwerg schnupperte noch einmal. »Wartet! Einverstanden!«, platzte er heraus. »Auch den Sattel!« Tauscher atmete auf. »Also gut, mein Herr. Der Handel gilt.«Caramon steckte mitten in einem Traum, in dem er gegen sechsundzwanzig blondhaarige Kinder kämpfte, die einen brabbelnden Hobgoblin gequält hatten. Deshalb kam ihm das Klirren von Metall auf Metall wie ein Teil seines Traumes vor, und er hatte nicht vor aufzuwachen. Bis Feldwebel Nemiss den gusseisernen Topf, gegen den sie schlug, über seinen Kopf hielt. »Aufstehen, du fauler Knochen! Die Flankenkompanie
kämpft als Erste! Hoch, sage ich!« Er und Tauscher waren eine Stunde vor Anbruch der Dämmerung ins Lager zurückgekehrt. Benommen und unausgeschlafen stolperte Caramon hinter den anderen her, um seinen Platz in den Reihen einzunehmen, die die Männer vor der Kaserne gebildet hatten. Der Feldwebel hieß die Kompanie stillstehen und machte gerade eine Marschkolonne aus ihnen, als das Geräusch galoppierender Hufe ertönte und eine wütend schreiende Stimme alle Aktivitäten zum Erliegen brachte. Meister Senej zügelte sein aufgeregtes Pferd und sprang aus dem Sattel. Sein Gesicht war rot wie die Morgensonne, ein glühendes Feuerrot. Er sah die gesamte Kompanie an, Rekruten und Veteranen. Alle schraken vor diesem heißen Zorn zusammen. »Verdammt! Einer von euch Hundesöhnen hat wieder meinen Sattel mit dem des Barons vertauscht. Ich habe diesen dummen Streich wirklich satt. Als es das letzte Mal vorkam, hätte der Baron meinen Kopf am liebsten auf einen Stock gespießt. Also, wer von euch ist dafür verantwortlich?« Meister Senej reckte seinen eckigen Kiefer vor und marschierte zwischen den Reihen auf und ab, wobei er jedem einzelnen Mann ins Gesicht sah. »Kommt schon. Geständnis!« Keiner rührte sich. Keiner sagte ein Wort. Wenn sich der Abgrund vor seinen Füßen aufgetan hätte, wäre Caramon als Erster hineingesprungen. »Keiner gibt es zu?«, fluchte Meister Senej. »Also schön. Zwei Tage halbe Rationen für die ganze Kompanie.« Die Soldaten stöhnten, einschließlich Caramon. Das traf ihn an einem empfindlichen Punkt.
»Bestraft nicht die anderen, Sir«, meldete sich eine Stimme aus einer der hinteren Reihen. »Ich war es.« »Wer zur Hölle spricht da?«, wollte der Meister wissen, der über ihre Köpfe hinweg blinzelte. Tauscher trat vor. »Ich bin dafür verantwortlich, Sir.« »Wie heißt du, Soldat?« »Tauscher, Sir.« »Dieser Mann wird ohnehin ausgemustert, Sir«, warf Feldwebel Nemiss eilig ein. »Er geht schon heute.« »Das entschuldigt nicht, was er getan hat, Feldwebel. Zuerst muss er dem Baron erklären – « »Darf ich etwas sagen, Sir?«, bat Tauscher respektvoll. Der Meister machte ein strenges Gesicht. »Gewährt. Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen, Fuchs?« »Dieser Sattel gehört nicht dem Baron, Sir«, erwiderte Tauscher schlicht. »Wenn Ihr es nachprüfen möchtet, werdet Ihr feststellen, dass der Sattel des Barons sich noch im Stall befindet. Dieser Sattel gehört Euch, Sir. Mit Empfehlung von der Kompanie C.« Die Soldaten sahen einander an. Feldwebel Nemiss fauchte einen Befehl, und alle wandten die Augen wieder nach vorn. Der Meister sah den neuen Sattel genauer an. »Bei KiriJolit. Ihr habt Recht. Das ist nicht der Sattel des Barons. Aber er ist solamnischer Machart – « »Allerneuester solamnischer Stil, Sir«, bestätigte Tauscher. »Ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Meister Senej war bewegt. Das wütende Zornrot wich dem wärmeren Rot der Freude. »Er muss ein kleines Vermögen gekostet haben. Also, dass ihr Männer… zusammengelegt habt…«
Dem Meister versagte die Stimme. »Drei Hurra für Meister Senej!«, rief Nemiss. Sie hatte zwar keine Ahnung, was hier vorging, war aber mehr als bereit, die Lorbeeren einzuheimsen. Die Soldaten reagierten begeistert. Der Meister bestieg sein Pferd, setzte sich stolz in seinen neuen Sattel und beantwortete die Jubelrufe, indem er schwungvoll mit seinem Hut winkte. Dann galoppierte er die Straße hoch. Feldwebel Nemiss drehte sich um. Ihre Augen sprühten Blitze, und ihr Gesicht war finster, als sie Tauscher fixierte und mit Blicken durchbohrte. »Also gut, Fuchs. Was zum Teufel geht hier vor? Ich weiß verdammt gut, dass keiner von uns Meister Senej einen neuen Sattel gekauft hat. Hast du ihn gekauft, Fuchs?« »Nein, Sir«, antwortete Tauscher leise. »Ich habe ihn nicht gekauft, Sir.« Feldwebel Nemiss winkte. »Bringt mir ein Seil. Ich habe gesagt, was ich tun werde, wenn ich dich beim Stehlen erwische, Kender. Abmarsch!« Tauscher marschierte mit gefasstem Gesicht zum Apfelbaum. Caramon blieb stocksteif stehen, obwohl er sein Gesicht kaum noch beherrschen konnte. Er hoffte nur, dass Tauscher den Scherz nicht zu weit trieb. Einer der Soldaten kehrte mit einem festen Seil zurück, das er dem Feldwebel reichte. Tauscher stellte sich unter den Apfelbaum. Die Soldaten standen weiter still. Feldwebel Nemiss schwang das Seil in der Hand und blickte in den Baum, um einen passenden Ast zu suchen. Da hielt sie inne und starrte nur noch nach oben. »Was zum –«
Tauscher lächelte, sah aber bescheiden auf seine Füße. Feldwebel Nemiss griff in den Baum, erwischte etwas und zog es vorsichtig herunter. Die Männer wagten nicht, ihre Formation aufzulösen, waren aber alle furchtbar neugierig auf das, was sie wohl in den Händen hielt. Einer der Veteranen vergaß sich und stieß einen leisen Pfiff aus. Feldwebel Nemiss war so verblüfft, dass sie diesen Disziplinbruch nicht einmal bemerkte. In ihren Händen lag ein elfischer Langbogen. Als sie in den Baum hinaufblickte, entdeckte sie noch sieben weitere. Sie ließ ihre Hand über das feine Holz gleiten. »Das sind die besten Bögen in ganz Ansalon. Es heißt, sie wären magisch! Die Elfen verkaufen sie nicht an Menschen – zu keinem Preis. Hast du eine Ahnung, was die wert sind?« »Ja, Sir«, erwiderte Tauscher. »Hundert Pfund Rindfleisch, eine verbeulte, solamnische Rüstung und eine Kiste Hopfen.« »Wie?« Feldwebel Nemiss blinzelte. Caramon trat einen Schritt vor. »Das stimmt, Feldwebel. Tauscher hat sie nicht gestohlen. Draußen bei der Stadt lagern ein paar Menschen und Zwerge, die dafür bürgen können. Er hat alles fair getauscht.« Das war natürlich ein wenig dick aufgetragen, doch Nemiss musste ja nicht alles erfahren. Feldwebel Nemiss’ Gesicht nahm einen sanften, verträumten Ausdruck an. Liebevoll rieb sie ihre Wange an dem weichen, elastischen Holz des Elfenbogens. »Willkommen in Kompanie C, Tauscher«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Ein dreifaches Hurra für Tauscher!« Bereitwillig stießen die Männer die Rufe aus. »Und«, fügte Nemiss hinzu, »dreimal Hurra für die drei-
zehn neuen Kompaniemitglieder.« Anscheinend sollte der Jubel an diesem Tag gar nicht mehr enden.
20. Kapitel Ariakas’ Soldaten waren aufgebrochen, nicht aber seine Leibwache. Diese Männer waren viel zu gut ausgebildet und damit zu wertvoll, um sie auf diese Expedition zu schicken. Seine eigenen Soldaten waren kampferfahren. Sie hatten Sanction und Neraka einschließlich der gesamten Umgebung eingenommen. Die Truppen, die er nach Süden schickte, nach Blödehelm, bestanden aus den besten Männern der neuen Kompanien, denen, die das Training erfolgreich durchgestanden hatten. Jetzt sollten sie bluten. Der Auftrag war geheim, so geheim, dass nicht einmal die höchstrangigen Kommandanten den Namen ihres Ziels kannten. Den Befehl für den nächsten Tagesmarsch erhielten sie jeweils am Vorabend, überbracht von Lindwürmern. Die Truppen marschierten des Nachts im Schutze der Dunkelheit. Sie marschierten schweigend in Stiefeln, die mit Stoff umwickelt waren, und abgepolsterten Kettenrüstungen, damit niemand das Klirren hörte. Die Räder der Versorgungskarren waren gut geschmiert, die Geschirre der Pferde mit Lumpen umhüllt. Jeder, der das Pech hatte, der Armee zufällig über den Weg zu laufen, wurde schnell und ohne Gnade umgebracht. Es durfte niemand am Leben bleiben, der hätte berichten können, dass eine schwarze Armee von Norden her anrückte. Kitiara und Immolatus zogen nicht mit der Armee. Zu zweit kamen sie schneller voran als das gewaltige militärische Ungeheuer, das über das Land zog. Ariakas wollte, dass sie Hoffnungsende vor Eintreffen der Armee erreichten, denn sie sollten die Eier finden, bevor die Schlacht losbrach. Ihr Auftrag lautete, die Stadt vor der Schlacht zu
erreichen, sie in Verkleidung zu betreten, ihre Suche durchzuführen und zu verschwinden, bevor die Sache zu heiß wurde. Kitiara war froh, dass sie sich von den Soldaten fernhalten konnte. Immolatus erregte zu viel Neugier, es gab zu viele Kommentare. Kit hatte vergeblich versucht, den Drachen davon zu überzeugen, dass die roten Roben in Gesellschaft der Armee Ihrer Dunklen Majestät nicht die passende Verkleidung darstellten. Schwarz wäre doch eine viel hübschere Farbe, deutete Kitiara an. Immolatus ließ sich nicht überreden. Rot war er, und rot wollte er bleiben. Nachdem alle Argumente erfolglos waren, gab Kitiara es auf. Sie sah Auseinandersetzungen mit dem arroganten Drachen bevorstehen und stufte diesen Zwist als eher nebensächlich ein. Sie würde ihre Kraft für die Kämpfe aufsparen, die zählten. Sie fragte sich, ob es richtig gewesen war, den Drachen – der für alle Zweibeiner, unabhängig von Rasse, Glaube oder Farbe, nur grenzenlose Verachtung hegte – für einen solchen Auftrag auszuwählen. Es stand ihr jedoch nicht zu, ihre Befehle zu hinterfragen. Insbesondere den letzten Befehl, den sie heimlich kurz vor der Abreise aus Sanction erhalten hatte. Jedenfalls vermutete sie, dass es sich bei der Botschaft um einen Befehl handelte. Es hätte auch ein Liebesbrief sein können, doch dazu schien ihr Ariakas nicht der Typ zu sein. Diesen Befehl – eine hastig gekritzelte Mitteilung von Ariakas – bewahrte sie fest zusammengerollt in einem Beutel in ihrer Satteltasche auf. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihn zu lesen. Immolatus forderte pausenlos Aufmerksamkeit. Während des schnellen Ritts hatte er sie den
ganzen Tag lang mit Geschichten über seine zahlreichen Überfälle, Gemetzel und Plünderungen unterhalten. Sofern er nicht in Erinnerungen an die Tage seines Ruhms schwelgte, beschwerte er sich bitterlich über die Nahrung, die er in seiner menschlichen Gestalt zu sich nehmen musste, und über die Demütigung, dass er auf einem Pferd herumzockeln musste, wo er doch durch die Wolken brausen könnte. Am Abend machten sie Rast, und obwohl er nicht auf einem Bett aus Gold ruhte, schlief Immolatus schließlich ein. Zum Glück schlief der Drache tief und fest. Wie ein Hund zuckte er im Traum zusammen, schnappte zu oder knirschte mit den Zähnen. Nachdem Kit seinen unruhigen Schlaf eine Weile beobachtet hatte, rüttelte sie Immolatus sogar an der Schulter und rief ihn beim Namen. Er murmelte und knurrte, wachte aber nicht auf. Zufrieden, dass sie ihren Brief unbeobachtet lesen konnte, zog Kitiara die Schriftrolle heraus und las sie im Feuerschein.Kommandant Kitiara Uth Matar Sollten sich Umstände ergeben, in denen Kommandant Uth Matar der festen Überzeugung ist, dass die Pläne Ihrer Majestät für die zukünftige Eroberung von Ansalon in Gefahr sind, wird Kommandant Uth Matar hiermit ausdrücklich beauftragt, so zu handeln, wie es ihr in dieser Situation zweckdienlich erscheint.Unterschrieben war der Befehl mit: Ariakas, General der Drachenarmeen der Königin Takhisis. »Dieser berechnende Hurensohn«, murmelte Kitiara, die widerwillig einen Mundwinkel hochzog. Nachdem sie den absichtlich vage gehaltenen Befehl noch zweimal durchgelesen hatte, schüttelte sie den Kopf und steckte die Schriftrolle achselzuckend in ihren Stiefel.
Das also war der Peitschenhieb. Sie hatte schon mit einer Bestrafung für ihre Weigerung gerechnet. Man sagte nicht einfach Nein zu General Ariakas. Doch etwas so diabolisch Geniales hatte sie nicht erwartet. Ihre Meinung von diesem Mann wurde etwas besser. Ariakas hatte die Verantwortung für den Erfolg – oder Misserfolg – dieser Mission einfach ihr aufgeladen. Wenn sie Erfolg hatte, würde man sie als Heldin willkommen heißen. Beförderung. Die Gunst ihres Herrn – im Bett und außerhalb. Wenn sie versagte… Ariakas war von ihr gefesselt, er war fasziniert. Aber er war kein Mann, der sich lange von etwas fesseln ließ. Er war skrupellos und machtgierig und würde sie seinem Ehrgeiz opfern, er würde sich nicht einmal umdrehen, um zu sehen, ob ihr Körper noch zuckte. Kitiara setzte sich am Feuer nieder und starrte in die zuckenden Flammen. Neben ihr schnarchte und schnaubte Immolatus im Schlaf. In der Luft hing ein deutlicher Schwefelgeruch. Bestimmt setzte er gerade eine Stadt in Brand. Sie stellte sich vor, wie die Flammen Häuser und Geschäfte verzehrten. Menschen, die vom Feuer eingeschlossen wurden, lebende Fackeln, verkohlte Leichen, geschwärzte Ruinen. Der grässliche Geruch nach verbrannten Haaren und versengtem Fleisch. Armeen, die siegreich einmarschierten, deren Stiefel mit der Asche der Toten überzogen waren. Das reinigende Feuer würde durch ganz Ansalon ziehen. Es würde das tote Holz der Elfen verzehren, das in den Wäldern verrottete, das undurchdringliche Unterholz der niederen Rassen hinwegfegen, das den menschlichen Fortschritt behinderte, und mit altmodischen Vorstellungen wie
denen der überkommenen, zundertrockenen Ritterschaft aufräumen. Aus der verkohlten Asche der alten würde sich phönixgleich eine neue Ordnung erheben. »Und ich werde an der Spitze dieser neuen Ordnung stehen«, sagte Kitiara in die Flammen. »Das vernichtende Feuer wird in meiner Klinge aufleuchten. Ich werde siegreich zu dir zurückkehren, General Ariakas. Oder überhaupt nicht.« Kitiara legte ihr Kinn auf die Knie, schlang die Arme um ihre Beine und sah zu, wie die Flammen das Holz verzehrten, bis nur noch Holzkohle übrig war, die sie wie die roten Augen des Drachen aus der Finsternis anblinzelten.
2. Buch »Es gibt keine Zufälle. Alles hat seinen Grund. Dein Gehirn mag den Grund nicht kennen. Es findet ihn vielleicht nie heraus. Aber dein Herz kennt ihn. Dein Herz weiß immer Bescheid.«Horkin, Meister der Zauberkunst
1. Kapitel Die Bürger von Hoffnungsende hatten nie vorgehabt, Krieg zu führen. Was als friedlicher Protest gegen ungerechte Besteuerung begonnen hatte, war zu einer ausgewachsenen Rebellion eskaliert, und keiner der Bewohner der Stadt wusste so recht, wie die ganze Sache eigentlich so furchtbar schief gegangen war. Sie hatten ein Steinchen den Berg hinabkullern lassen und dadurch unbeabsichtigt eine Lawine ausgelöst. Sie hatten einen Stock in einen Teich geworfen und eine Flutwelle hervorgerufen, in der sie nun leicht ertrinken konnten. Der Karren ihres Lebens, der einst so ruhig die Hauptstraße entlanggerollt war, hatte plötzlich ein Rad verloren, war zur Seite ausgewichen und polterte nun den Abhang hinunter. Die ungerechte Besteuerung war eine Torsteuer, welche eine ruinöse Wirkung auf die Geschäfte von Hoffnungsende hatte. Das Edikt stammte von König Wilhelm (der früher immer den Beinamen der Gute getragen hatte, jetzt aber weniger schmeichelhaft tituliert wurde). Es besagte, dass alle Waren, die in die Stadt Hoffnungsende geliefert wurden, mit einer Steuer von fünfundzwanzig Prozent belegt werden sollten. Darüber hinaus sollten alle Waren, die Hoffnungsende verließen, derselben Steuer unterliegen. Das bedeutete, dass jedes Rohmaterial, das in die Stadt gelangte – alles, von Eisenerz für Rüstungen bis zur Baumwolle für Spitzenunterröcke –, besteuert wurde. Wenn dann die Rüstungen und die Unterrocke die Stadt verließen, wurden sie ebenfalls besteuert. Infolgedessen waren die Preise für Waren aus Hoffnung-
sende weiter in die Höhe geschnellt als die letzte Gnomenerfindung (ein dampfgetriebener Butterstampfer). Selbst wenn die Handwerker das Geld hatten, das Rohmaterial zu bezahlen, mussten sie für die fertigen Güter so viel verlangen, dass die Menschen sie sich nicht mehr leisten konnten. Das bedeutete, dass die Handwerker ihre Arbeiter nicht mehr bezahlen konnten, sodass diese nicht einmal mehr das Geld hatten, ihren Kindern Brot zu kaufen – ganz zu schweigen von Spitzenunterröcken. König Wilhelm der Gute schickte seine Steuereintreiber – kräftige, hart durchgreifende Kerle –, die für die tatsächliche Erhebung der Steuer zu sorgen hatten. Wer gegen die Steuerzahlung aufbegehrte, wurde eingeschüchtert, bedroht, belästigt und manchmal auch körperlich misshandelt. Ein einfallsreicher Unternehmer kam auf die Idee, sein Geschäft vor den Stadtmauern anzusiedeln, um die Steuer ganz zu vermeiden. Die Steuereintreiber unterbanden das jedoch schnell, indem sie seinen Stand aufbrachen, die Ware anzündeten und den erfindungsreichen Mann bis aufs Hemd ausplünderten. Schon bald stand die gesamte Wirtschaft von Hoffnungsende am Rand des Zusammenbruchs. Hinzu kam die Ungerechtigkeit, denn die Bürger von Hoffnungsende fanden heraus, dass ihre Stadt die einzige Stadt des Reiches war, die so schlecht behandelt wurde. Nur bei ihnen wurde die verhasste Torsteuer erhoben, keine andere Stadt musste sie zahlen. Die Bürger schickten eine Abordnung zu König Wilhelm dem Guten, um nachzufragen, weshalb sie mit dieser ungerechten Steuer bestraft wurden. Seine Majestät weigerte sich, die Delegation zu empfangen, und schickte nur einen Minister, um seine
Antwort zu überbringen. »Es ist des Königs Wille.« Vergeblich schickte der Bürgermeister Gesandte mit Bittbriefen zu König Wilhelm, um die ungerechte Steuer aufzuheben. Die Gesandten wurden weggeschickt, ohne dass man sie je zu Seiner Majestät vorließ. Dass in der Königsstadt Vantal das Gerücht umging, König Wilhelm sei verrückt geworden, tröstete die Gesandten wenig. Auch ein verrückter König ist König, und dieser hier war offenbar noch so klar im Kopf, dass er darauf achtete, dass man seinen verrückten Dekreten gehorchte. Die Lage wurde immer schlimmer. Geschäfte mussten schließen. Der Markt blieb offen, doch dort wurde nur wenig verkauft. Gildeversammlungen – einst eher Ausreden für die Kaufleute, um gute Freunde zu treffen und gemeinsam zu speisen – wurden zu lautstarken Auseinandersetzungen, bei denen jeder verlangte, dass etwas getan werden musste. Da jeder seine eigenen Ansichten darüber hatte, was dieses Etwas war, war auch jeder bereit, jedem, der ihm widersprach, seinen – leider mit Wasser gefüllten – Bierkrug über den Schädel zu ziehen. Die Kaufmannsgilde von Hoffnungsende war die einflussreichste Gruppierung der Stadt. Sie beherrschte Handwerk und Handel in Hoffnungsende, überwachte kleinere Gilden, legte Qualitätsmerkmale für die Waren fest und sorgte dafür, dass diese Qualitätsmerkmale eingehalten wurden. Zu Recht waren die Kaufleute der Meinung, dass schlampige Arbeit ein schlechtes Licht auf die gesamte Gemeinde warf. Jeder Kaufmann, der dabei erwischt wurde, wie er seine Kunden betrog, wurde aus der Gilde ausgeschlossen und verlor damit seine Lebensgrundlage.
Die Kaufmannsgilde von Hoffnungsende versuchte, das Leben aller arbeitenden Männer und Frauen in der Stadt zu verbessern, von der Näherin über die Weber bis hin zu den Silberschmieden und Brauern. Die Gilde legte gerechte Löhne fest und handelte die Bedingungen für die Ausbildung der jungen Männer und Frauen aus. Darüber hinaus schlichtete sie Streitigkeiten zwischen den Kaufleuten. Gildemitglieder waren keine Unruhestifter. Ihre Forderungen nach besseren Lebensbedingungen für ihre Leute waren nachvollziehbar. Die Gilde pflegte herzliche Beziehungen zum Bürgermeister und zum Richter. Sie wurde in der ganzen Stadt respektiert und hatte wegen ihrer Gerechtigkeit und Ehrlichkeit einen so guten Ruf, dass die Arbeiten der Handwerker anderer Städte danach beurteilt wurden, ob sie »gut genug für den Verkauf in Hoffnungsende« waren. Als daher das Edikt über die bedrückende neue Steuer in der ganzen Stadt ausgerufen wurde, wandten sich die Bewohner vertrauensvoll an die Kaufmannsgilde, damit diese sich der Sache annahm. Daraufhin berief das Oberhaupt der Gilde nach langem, gequältem Nachdenken eine geheime Versammlung aller Gildemitglieder ein, das in einem teilweise abgebrochenen Tempel für einen vergessenen Gott am Stadtrand stattfand. Hier in der Finsternis, die von flackernden Fackeln erhellt wurde, umringt von seinen blassen, entschlossenen Nachbarn, Partnern und Freunden, machte das Oberhaupt der Gilde den Vorschlag, dass Hoffnungsende sich vom Reich Blödehelm abspalten und ein unabhängiger Stadtstaat werden solle. Ein Stadtstaat, der sich selbst regieren, eigene Gesetze verhängen, die Steuereintreiber fortjagen und die ruinöse Steuer abschaffen könnte.
Kurz gesagt – Revolution. Es hatte keine Gegenstimme gegeben. Zuallererst musste nun der Bürgermeister seines Amtes enthoben und durch einen Revolutionsrat ersetzt werden, der den Bürgermeister sofort zum Anführer wählte. Der nächste Punkt auf der Tagesordnung war die Vertreibung der Steuereintreiber. Das machten diese ihnen zum Glück leicht, denn sie versammelten sich eines Abends in ihrer Lieblingsweinstube, wo sie sich bis zur Besinnungslosigkeit betranken. Die meisten wurden stockbetrunken vor die Stadtmauer geschleift. Diejenigen, die noch nüchtern genug waren, um sich zu wehren, wurden von der Stadtmiliz ohne Schwierigkeiten unterworfen. Sobald die Halsabschneider verschwunden waren, wurden die Tore von Hoffnungsende verriegelt und verrammelt. Man schickte Boten zu König Wilhelm dem Guten, um ihm mitzuteilen, dass die Stadt Hoffnungsende nicht aus eigenem Antrieb so gehandelt habe, sondern dass man die Bevölkerung in die Rebellion getrieben hätte. Der Revolutionsrat von Hoffnungsende bot dem König noch einmal an, die verhasste und ungerechte Steuer aufzuheben. In diesem Fall würden sie die Waffen niederlegen, die Tore öffnen und Blödehelm und König Wilhelm dem Guten für den Rest ihres Lebens die Treue schwören. Da man davon ausging, dass der Bote bei schnellem Ritt vier Tage brauchen würde, bis er die Königsstadt Vantal erreichte, einen Tag, bis er beim König vorgelassen wurde, und noch einmal vier Tage schnellen Ritts für die Rückkehr, machte sich der Revolutionsrat erst Gedanken, als der zehnte Tag anbrach und von dem Boten kein Lebenszeichen kam. Es vergingen elf Tage, und aus den Gedanken
wurde Besorgnis. Am zwölften Tag wandelte sich die Besorgnis in Ärger. Am dreizehnten wich der Ärger dem Entsetzen. In der Rebellenstadt traf eine Kenderfrau ein (was nur bewies, dass verriegelte und verrammelte Tore, die von einer Armee bewacht werden, Kender nicht aussperren können!) und erzählte von einer höchst interessanten Hinrichtung, die sie kürzlich in der Königsstadt Vantal mit angesehen hätte. »Ehrlich, ich habe noch nie gesehen, wie jemand öffentlich gepfählt wurde! So viel Blut! Ich habe auch noch nie solch herzzerreißende Schreie gehört. Ich hätte nie gedacht, dass es so lange dauern kann, bis jemand stirbt. Ich habe auch noch nie gesehen, dass man den Kopf des Verurteilten auf einen Karren geworfen hat, einen Karren, der jetzt in diese Richtung unterwegs ist. Und noch nie habe ich ein Schild gesehen wie das, das man dem Verurteilten in den offenen Mund gestoßen hat. Es war mit seinem eigenen Blut beschrieben. Auf dem Schild stand… wartet mal… ich selbst kann nicht so gut lesen, jemand hat mir erzählt, was da stand… wenn es mir nur wieder einfallen würde… ach, ja! Auf dem Schild stand: Das Schicksal aller Rebellen.« Aber sie würden es ja noch selbst sehen können, fügte die Kenderfrau heiter hinzu. Der Karren war auf dem Weg nach Hoffnungsende. Der Ärger wich der Verzweiflung. Die Verzweiflung wuchs zur Panik an, als Späher, die auf den Stadtmauern postiert waren, von einer gewaltigen Staubwolke berichteten, die den nordöstlichen Horizont verdunkelte. Berittene Späher kehrten mit niederschmetternden Nachrichten zurück. Eine Armee – eine große Armee – stand einen Tages-
marsch vor ihrer Stadt. Die Zeit der Geheimhaltung war vorbei. Jetzt marschierten Ariakas’ Soldaten bei Tageslicht. Die Menschen in Hoffnungsende eilten von Haus zu Haus, standen an den Straßenecken, warteten vor dem Haus des Bürgermeisters oder blockierten den Zugang zur Gildehalle. Es fiel ihnen schwer zu glauben, dass ihnen so etwas zustieß, und deshalb hatten sie keine Ahnung, was sie tun sollten. Der Nachbar fragte den Nachbarn, der Lehrling seinen Meister, die Hausherrin die Dienstboten, der Soldat seinen Kommandanten, der Bürgermeister die Gildemitglieder und diese einander: Was sollen wir tun? Bleiben? Gehen? Wenn wir gehen – wohin? Was wird aus unseren Häusern, unserer Arbeit, unseren Freunden und Verwandten? Die Staubwolke wuchs und wuchs, bis der ganze Osthimmel schon mittags rot war, als würde der Tag mit einer zweiten, blutigen Dämmerung anbrechen. Manch einer wählte die Flucht, besonders jene, die neu in der Stadt waren. Sie packten, was sie auf Karren oder in Bündeln mitnehmen konnten, verabschiedeten sich von ihren Freunden, zogen durch die Tore der Stadt und die Straße hinunter, die nach Westen führte, fort von der nahenden Armee, von der inzwischen jeder wusste. Doch die meisten Bewohner von Hoffnungsende blieben. Wie alte Eichen hatten sie ihre Wurzeln tief in diese Berge gesenkt. Seit Generationen lebten und starben sie in Hoffnungsende. Diese Stadt, deren Anfänge – der Legende nach – bis in die Zeit des Letzten Drachenkriegs zurückzuverfolgen waren, hatte selbst der Umwälzung widerstanden.
Meine Urgroßeltern liegen hier begraben. Meine Kinder sind hier geboren. Ich bin zu jung, um auf eigene Faust loszuziehen. Ich bin zu alt, um anderswo von vorne anzufangen. Das ist das Haus meiner Jugend. Das ist das Geschäft, das meine Großmutter gegründet hat. Muss ich alles aufgeben und fliehen? Muss ich töten, um es zu schützen? Eine schreckliche Wahl, eine bittere Wahl. Nachdem die letzten Flüchtlinge fort waren, schlossen sich die Tore der Stadt. Schwere Wagen wurden hinter die Tore gerollt, Wagen, die mit Steinen und Felsbrocken beladen waren, damit sie eine Sperre bildeten, die den Feind aufhalten sollte, falls er die Tore gewaltsam aufbrach. Jeder verfügbare Behälter war mit Wasser gefüllt worden, um Brände zu bekämpfen. Kaufleute verwandelten sich in Soldaten und verbrachten den Tag mit Zielübungen. Die älteren Kinder lernten, wie man verschossene Pfeile zurückholte. Die Bürger erwarteten das Beste und bereiteten sich auf das Schlimmste vor – das, was sie für das Schlimmste hielten. Noch immer hatten sie Vertrauen zu ihrem König. Im besten Fall würde die Armee geordnet die Straße herunterkommen und ein Lager aufschlagen. Sie stellten sich vor, dass der Kommandant höflich angeritten kommen und verhandeln würde, malten sich aus, wie ihre eigenen Vertreter unter der Fahne des Waffenstillstands ausziehen würden, um sich mit dem Kommandanten zu treffen. Er würde Drohungen aussprechen, sie würden würdevoll reagieren und ihre Position behaupten. Schließlich würde er ein wenig nachgeben, und sie würden ein wenig nachgeben. Nach einem harten und schwierigen Verhandlungstag würden sie zu einer Übereinkunft kommen und alle konn-
ten zum Essen wieder zu Hause sein. Das Schlimmste, das Allerschlimmste, was sie sich vorstellten, war, dass es vielleicht notwendig sein würde, den Soldaten ein paar Pfeile über den Kopf zu schießen, sorgsam gezielte Pfeile natürlich, die niemanden verletzen sollten. Nur um zu zeigen, dass es ihnen ernst war. Danach würde der Kommandant – zweifellos ein vernünftiger Mann – einsehen, dass die Belagerung der Stadt nur Zeitund Kraftvergeudung war. Und dann würden sie verhandeln. In der ganzen Stadt wurde Alarm geblasen. Die Armee von König Wilhelm dem Guten war aufmarschiert. Jeder, der laufen konnte, kletterte auf die Mauern. Hoffnungsende war auf drei Seiten von Bergen umgeben und überblickte auf der vierten Seite ein fruchtbares Tal, in dem kleine, verstreute Gehöfte lagen. Die ersten zarten Halme der Frühjahrssaat begannen, sich durch den frisch beackerten Boden zu schieben, ein seidiger grüner Schal, der über dem Tal lag. Durch einen Bergpass führte eine Straße ins Tal und von dort nach Hoffnungsende. Gewöhnlich sah man um diese Tageszeit von der Mauer aus einen Bauern mit seinem Ochsenkarren die Straße entlangziehen. Oder ein paar Kender oder einen Kesselflicker mit einem Wagen voller Töpfe und Kessel oder einen müden Wanderer, der glücklich die Stadtmauern betrachtete und schon an eine Mahlzeit und ein warmes Bett dachte. Jetzt ergoss sich ein Strom aus Stahl über die Straße, dessen gelegentliche Wellenbewegungen durch metallisches Blitzen im Sonnenlicht betont wurden und der die kleinen Höfe umwogte. Der Stahlfluss strömte wie ein Wasserfall in das Tal. Die Schritte der Soldatenstiefel ließen den Boden
erbeben und Trommelschall kündete von ihrem Vorrücken. Bald schon sah man Flammen lodern und dünne Rauchschwaden von Häusern und Scheunen aufsteigen, als die Soldaten die Kornkammern plünderten, die Tiere schlachteten und die Bauern mit ihren Familien entweder töteten oder versklavten. Der Strom aus Stahl sammelte sich im Tal, wo sich einzelne Wirbel bildeten – Soldaten, die das Lager errichteten, Zelte aufstellten, die Saat zertrampelten, Bäume fällten und die Höfe plünderten. Der Stadt und den Menschen auf den Mauern, die mit blassen Gesichtern und klopfenden Herzen zusahen, schenkten sie kaum Beachtung. Schließlich löste sich eine kleine Traube Soldaten von der Hauptarmee und ritt vor die Tore der Stadt. Sie kamen mit einer Friedensfahne, einem weißen Banner, das im Rauch der brennenden Felder kaum zu sehen war. In Rufweite der Mauer hielten die Soldaten an. Einer von ihnen, der eine schwere Rüstung trug, ritt drei Schritte vor. »Bewohner von Hoffnungsende«, schrie der Mann mit tiefer Stimme. »Ich bin Kholos, Befehlshaber der Armee von Blödehelm. Ihr habt die Wahl: Ergebt euch oder sterbt.« Die Menschen auf den Mauern sahen einander erstaunt und empört an. Das war jedenfalls nicht das, was sie erwartet hatten. Nach einigem Hin und Her trat der Bürgermeister vor, um zu antworten. »Wir… wir wollen verhandeln«, rief er. »Was?«, bellte der Kommandant. »Verhandeln!«, schrie der Bürgermeister verzweifelt. »Einverstanden.« Kholos setzte sich bequemer im Sattel zurecht. »Ich verhandle. Ergebt ihr euch?«
»Nein«, erwiderte der Bürgermeister, der sich würdevoll aufrichtete. »Das tun wir nicht.« »Dann sterbt ihr.« Der Befehlshaber zuckte mit den Schultern. »Bitte sehr, wir haben verhandelt.« »Und wenn wir uns ergeben?«, schrie jemand aus der Menge. Kholos lachte höhnisch. »Ich will euch sagen, was passiert, wenn ihr euch ergebt. Das würde mir das Leben erheblich leichter machen. Hier sind unsere Bedingungen: Erstens, alle gesunden Männer legen die Waffen nieder, kommen heraus und stellen sich in einer Reihe auf, damit meine Sklavenmeister sie genau ansehen können. Zweitens, alle jungen, hübschen Frauen bilden eine Reihe, aus der ich die freie Auswahl habe. Die restlichen Bewohner von Hoffnungsende bringen ihre Schätze und stapeln sie hier vor meinen Füßen auf. So lauten unsere Bedingungen für die Übergabe.« »Das ist… das ist unzumutbar!«, japste der Bürgermeister. »Derartige Bedingungen sind empörend! Wir könnten niemals darauf eingehen!« Befehlshaber Kholos wendete sein Pferd und galoppierte, gefolgt von seinen Wachen, zum Lager zurück. Die Menschen in Hoffnungsende bereiteten sich auf die Schlacht vor – auf das Töten und auf ihren eigenen Tod. Sie glaubten, eine gerechte Sache zu verteidigen. Sie hatten keine Ahnung, dass es in diesem Krieg gar nicht um sie ging, dass sie nichts als austauschbare Figuren in einem größeren, kosmischen Spiel waren. Der grausame General, der diesen Angriff befohlen hatte, hatte den Namen ihrer Stadt erst auf einer Karte suchen müssen, und die Anführer der neu gebildeten Drachenarmeen sahen diese Aufgabe
als Feldübung an. Die Bewohner von Hoffnungsende glaubten, ihr Tod würde letztlich von Bedeutung sein, doch in Wahrheit würde der Rauch, der sich aus der Asche der sterbenden Stadt erhob, nur eine einzige schwarze Wolke vor einem ansonsten zartblauen Himmel bilden, eine einzige schwarze Wolke, die der kühle Wind des schwindenden Tages aufreißen würde, bis sie zerstob und vergessen war.
2. Kapitel Ungefähr zu dem Zeitpunkt, als König Wilhelm der Gute den Botschafter der Rebellenstadt hinrichten ließ, begann die Armee des Spinnerbarons mit ihrem Marsch auf jene verurteilte Stadt. Angeführt vom Baron selbst, der seinen Federhut schwenkte und laut lachte, einfach weil er sich freute, endlich etwas zu tun, marschierten seine Soldaten unter dem Jubel und den guten Wünschen der versammelten Bevölkerung von Langbaum die Straße entlang. Nachdem die letzten, schwer beladenen Versorgungswagen durch das Tor gerollt waren, kehrten die Bewohner der Stadt in ihre Häuser und Geschäfte zurück, dankbar für Ruhe und Frieden, aber traurig über die versiegte Einkommensquelle. Der Baron ließ seinen Truppen reichlich Zeit, ihr Ziel zu erreichenen. Die Soldaten marschierten höchstens fünfzehn Meilen am Tag. Er wollte frische, ausgeruhte Männer mitbringen, die nicht beim ersten Kampf vor Erschöpfung umkippten. Die Rüstungen, die Schilde und die Verpflegung wurden in Wagen transportiert, damit sie unterwegs höchstens eine kurze Mittagsrast einlegen mussten. Wer vor Erschöpfung schlappmachte, krank wurde oder sich verletzte, wurde gnadenlos verspottet, durfte aber in den Wagen mitfahren. Die Männer waren gut aufgelegt, freuten sich auf die Schlacht, den Ruhm und den Sold, der ihnen winkte. Unterwegs sangen sie die Marschlieder, die der Baron mit seinem vollen Bariton anstimmte. Auch spielten sie den neuen Rekruten Streiche und machten sich über sie lustig. Jeder wusste, dass er vielleicht in seine letzte Schlacht zog, denn jeder Soldat weiß, dass irgendwo eine Pfeilspitze oder ein
Schwert lauert, das allein für ihn bestimmt ist. Doch dieses Wissen versüßt ihm nur jeden Augenblick seines Lebens umso mehr. Der Einzige, der den Marsch nicht genoss, war Raistlin. Sein schwacher Körper konnte nicht einmal ein gemäßigtes Tempo lange durchhalten. Nach den ersten fünf Meilen war er müde und hatte wunde Füße. »Du solltest in einem der Versorgungswagen mitfahren, Raist«, riet ihm Caramon hilfsbereit. »Zusammen mit den anderen – « Er wurde rot und biss sich auf die Zunge. »Zusammen mit den anderen Kranken und Schwachen«, beendete Raist den Satz. »Ich – ich hab’s nicht so gemeint, Raist«, stammelte Caramon. »Du bist jetzt viel kräftiger als früher. Nicht, dass du da schwach warst oder so, aber – « »Sei einfach still, Caramon«, gab Raistlin verstimmt zurück. »Ich weiß sehr genau, was du gemeint hast.« Aufgebracht humpelte er davon, während Caramon ihm nachblickte und seufzend den Kopf schüttelte. Raistlin malte sich die verächtlichen Blicke der anderen Soldaten aus, die an ihm vorbeimarschierten, während er sich auf einem Sack getrockneter Bohnen ausruhte. Er stellte sich vor, wie sein Bruder ihm jeden Abend aus dem Wagen half und ihn eifrig bevormundete. Deshalb beschloss Raistlin, dass er mit dem Rest der Armee marschieren würde, und wenn es ihn umbrachte – was recht unwahrscheinlich war. Lieber tot umfallen als bemitleidet werden. Raistlin hatte Horkin längst aus den Augen verloren, ging jedoch davon aus, dass der robuste Magier weit vorne das Tempo angab. Als die Nachricht kam, dass Raistlin sich beim Zaubermeister melden sollte, war er ziemlich er-
staunt, Horkin hinten beim Versorgungstross zu finden. »Ich hörte, dass du läufst, Roter«, stellte Horkin fest. »Wie alle anderen Soldaten, Sir«, erwiderte Raistlin, der auf eine Herabwürdigung gefasst war. »Ihr braucht Euch keine Gedanken zu machen, Sir. Ich bin nur gerade etwas müde, das ist alles. Morgen wird es mir besser – « »Ach, was! Hier ist dein Reittier, Roter.« Horkin deutete auf eine Eselstute, die an einen der Wagen gebunden war. Die Eselin schien ein sanftes Tier zu sein, denn sie stand da, kaute auf Heu herum und schenkte dem geordneten Chaos des Lageraufschiagens keinerlei Beachtung. »Das ist Lilli. Sie ist sehr gutmütig, solange man genügend Äpfel in den Taschen hat.« Horkin kraulte die Eselin zwischen den Ohren. »Vielen Dank für Eure Mühe, Sir«, sagte Raistlin steif. »Aber ich laufe lieber weiter zu Fuß.« »Wie du willst, Roter.« Horkin zuckte mit den Schultern. »Aber dann dürfte es dir schwer fallen, mit mir mitzuhalten.« Er nickte zu einem zweiten Esel hin, der Lillis Zwilling hätte sein können, so sehr ähnelten sie einander – bis hin zu dem schwarzen Streifen, der von der Schulter zum Rumpf verlief. »Ihr reitet, Sir?«, fragte Raistlin erstaunt. Horkin war als tüchtiger Soldat bekannt. Er hatte erzählt, er hätte einst bei einem Gewaltmarsch siebzig Meilen an einem Tag geschafft – mit vollem Gepäck. Dreißig Meilen am Tag waren für Horkin nur ein Spaziergang im Garten. »Ihr reitet nur mir zuliebe, Sir, nicht wahr?«, meinte der junge Magier kalt. Horkin legte Raistlin freundlich eine Hand auf die
schmale Schulter. »Roter, du bist mein Lehrling. Und ich will ehrlich sein. Du bist mir wirklich völlig gleichgültig. Ich reite, weil ich einen Grund dazu habe, einen Grund, den du morgen früh erfahren wirst. Du könntest mir zur Hand gehen, aber wenn du lieber marschieren willst – « »Ich werde reiten, Sir«, antwortete Raistlin lächelnd. Horkin zog sich zu seiner Schlafrolle zurück. Raistlin blieb bei Lilli, freundete sich mit ihr an und überlegte, welcher verdrehte Zug seines Wesens dazu führte, dass er Caramon ablehnte, weil dieser sich um ihn sorgte, und Horkin respektierte, weil er es nicht tat. Falls Raistlin gedacht hatte, er würde es jetzt angenehmer haben, sollte er seinen Irrtum gleich am nächsten Tag erkennen. Die beiden Magier ritten am Ende der langen Kolonne neben den Versorgungswagen. Raistlin genoss den Ritt und die warme Sonne, als Horkin plötzlich einen Schrei ausstieß, an den Zügeln ruckte und seinen Esel so plötzlich wendete, dass das Tier protestierend aufschrie. Doch Horkin trat dem Esel in die Flanken, wich vom Weg ab und schrie Raistlin zu, er solle mitkommen. Raistlin hatte in dieser Beziehung nicht viel zu sagen, denn Lilli wollte nicht von ihrem Kameraden getrennt werden. Die Eselstute trabte Horkin nach und nahm Raistlin einfach mit. Zusammen brachen die beiden Esel durch die Büsche, stolperten ein steiles Bachbett hinunter und liefen über eine Wiese voller Klee. »Was ist denn los, Sir?«, rief Raistlin. Er hoppelte ungemütlich auf dem Esel herum, dessen Gangart ganz anders war als die eines Pferdes. Seine Roben umflatterten ihn und seine Haare wehten hinter ihm her. Ganz sicher war Horkin mindestens einer Armee Goblins
auf der Spur und hatte vor, sie mit links zu erledigen. Raistlin warf einen Blick über die Schulter, weil er hoffte, den Rest der Armee hinterhereilen zu sehen. Der Rest der Armee war inzwischen außer Sichtweite. »Sir! Wo wollt Ihr denn hin?«, wollte Raistlin wissen. Schließlich holte er Horkin ein, was jedoch nicht an ihm lag, sondern an Lilli, die offenbar zu viel Ehrgeiz besaß, um zurückzubleiben. »Margeriten!«, jubelte Horkin triumphierend, während er auf ein weißes Feld zeigte. Er spornte seinen Esel noch einmal an. »Margeriten!«, murmelte Raistlin, doch ihm blieb keine Zeit, um sich zu wundern. Lilli war wieder in das Rennen eingestiegen. Horkin hielt seinen Esel genau in der Mitte des Feldes mit den weiß-gelben Blumen an und sprang aus dem Sattel. »Komm schon, Roter! Beweg deinen Hintern!« Horkin grinste. Er zog einen leeren Jutesack aus seiner Sattelrolle und warf ihn Raistlin zu. Dann holte er für sich einen zweiten heraus. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Pflück die Blüten und die Blätter. Wir brauchen beides.« »Ich weiß, dass Margeriten gut gegen Husten sind«, meinte Raistlin, während er emsig Blumen pflückte. »Aber im Augenblick leidet keiner der Soldaten daran.« »Die Margerite ist als Blume des Schlachtfelds bekannt, Roter«, erklärte Horkin. »Man zerstößt sie, macht eine Salbe daraus und trägt sie auf Wunden auf, damit diese nicht eitern.« »Das habe ich nicht gewusst, Sir«, antwortete Raistlin, der sich freute, dass er etwas gelernt hatte. Sie sammelten die Margeriten und zusätzlich auch Klee,
der für Wunden und andere Beschwerden gut war. Auf dem Rückweg wich Horkin wieder vom Weg ab und galoppierte davon, um Brombeeren zu suchen, die er gegen die häufigste Soldatenkrankheit verwendete – den Durchfall. Jetzt begriff Raistlin, wozu sie die Esel brauchten. Bis die beiden Zauberer ihr Sammeln beendet hatten, war die Armee meilenweit voraus. Sie brauchten den ganzen Nachmittag, um sie einzuholen. Am Abend war ihre Arbeit noch nicht vorbei, denn nach all der mühsamen Pflückerei befahl Horkin Raistlin, die Blütenblätter abzuzupfen oder die Blätter zu sieden oder Wurzeln zu Brei zu zerstampfen. Trotz seiner Müdigkeit – und Raistlin konnte sich nicht daran erinnern, jemals so erschöpft gewesen zu sein – achtete er darauf, jeden Abend vor dem Einschlafen alles, was er tagsüber gelernt hatte, in ein kleines Buch zu schreiben. Selbst wenn die Arbeit mit den Kräutern getan war, kam er in diesen Tagen nicht zur Ruhe, denn wenn er nicht gerade Blumen pflückte, übte er seine Zaubersprüche. Früher war Raistlin immer ausgesprochen pingelig gewesen, wenn es um seine Sprüche ging. Er hatte die Worte erst gesagt, wenn er sicher war, dass er jedes einzelne richtig aussprach. Er hatte einen Spruch erst ausprobiert, wenn er gewusst hatte, dass er ihn perfekt ausführen würde. Jetzt kam es auf Schnelligkeit an. Er musste seinen Spruch schnell zustande bringen, ohne darüber nachzudenken, ob ein »A« als »Aaa« oder als »Ah!« ausgesprochen wurde. Er musste den Spruch so gut kennen, dass er die Worte schnell sprechen konnte, ohne nachzudenken und ohne einen Fehler zu machen. Wenn er versuchte, die Worte schnell zu sprechen, stammelte und stotterte Raistlin so schlimm wie zuletzt als
Achtjähriger. Um ehrlich zu sein, gestand er sich bekümmert, hatte er sie mit acht besser beherrscht! Man konnte meinen, dieses Üben wäre leicht – man musste nur die Worte immer wieder wiederholen wie ein Schauspieler, der seinen Text lernt. Doch ein Schauspieler hat den Vorteil, dass er seine Zeilen überall laut üben kann, was ein Magier nicht darf, damit er nicht versehentlich einen Spruch auslöst. Es wurmte Raistlin, dass Horkin – ein weit ungebildeterer und unbelesenerer Magier als er – einen Spruch so schnell sagen konnte, dass Raistlin Schwierigkeiten hatte, ihn zu verstehen, und dass er diesen Spruch auch noch unfehlbar auslösen konnte. Raistlin setzte seine eigenen Übungen mit zäher Entschlossenheit fort. Sobald er eine freie Minute hatte, stahl er sich in den Wald davon, wo es niemandem schaden würde, wenn er ein »entzündliches Projektil« in weniger als drei Sekunden zustande brachte (was im Augenblick wenig wahrscheinlich war). Da seine Tage mit knochenharter Arbeit und seine Abende mit dem Herstellen von Medikamenten und Tränken, Schreiben und Lernen angefüllt waren, staunte Raistlin, dass er noch nicht vor Müdigkeit zusammengebrochen war. In Wahrheit hatte er sich noch nie so wohl gefühlt, so lebendig und am Leben interessiert. Da er schon lange sein Inneres erforschte, kam er zu dem Schluss, dass die Aktivität ihm gut tat, körperlich wie geistig. Ohne eine Beschäftigung traten sein Körper und auch sein Geist auf der Stelle. Er hustete jetzt weniger, doch wenn die Krämpfe kamen, waren sie ungewöhnlich schmerzhaft. Selbst Caramon fand er weniger einfältig als gewöhnlich. Jeden Abend gesellte sich Raistlin zu seinem Bruder und
dessen Freund Tauscher, um mit ihnen Hühnersuppe und Zwieback zu essen. Das machte ihm so viel Spaß, dass er sich sogar auf ihre Gesellschaft freute. Caramon war über die Wandlung seines Bruders entzückt, doch unbekümmert genug, sich darüber nicht lange Gedanken zu machen. Als es Raistlin tatsächlich gelungen war, ein magisches Geschoss nicht nur einmal, sondern gleich dreimal schnell hintereinander hervorzurufen, war er beim Essen abends so gut aufgelegt, dass Caramon seinen Bruder insgeheim verdächtigte, Zwergenschnaps zu trinken. Der Marsch nach Hoffnungsende verlief ohne Zwischenfall. Kompanie C, die diesmal als Vorhut diente, sichtete die Stadt pünktlich und fand vor den Mauern das Lager der Armee von König Wilhelm dem Guten vor. Die Luft war grau und roch nach Rauch und durch den Rauch hörte man schrille Schreie. »Ist die Schlacht schon vorbei, Sir?«, fragte Caramon enttäuscht, weil er dachte, er hätte sie versäumt. Feldwebel Nemiss stand im Schatten eines großen Ahornbaums und blinzelte gegen den beißenden Rauch an, um durch die Dunstglocke über dem Tal zu sehen und festzustellen, was hier los war. Ihre Männer sammelten sich um sie, hielten sich aber am Waldrand verborgen. Feldwebel Nemiss schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben die Schlacht nicht verpasst, Majere. Puh! Das Zeug dringt einem in den Mund!« Sie nahm einen Schluck Wasser aus ihrer Feldflasche und spie auf den Boden. »Und das Feuer, Sir?« Tauscher spähte in den Rauch und den Ascheregen. »Was brennt denn da?« »Sie plündern das Land«, erwiderte Feldwebel Nemiss
nach einem weiteren Schluck Wasser. »Sie plündern die Häuser und Scheunen und setzen in Brand, was sie nicht mitnehmen können. Die Schreie, die ihr hört – das sind die Frauen, die sie erwischt haben.« »Hundesöhne!«, sagte Caramon mit blassem Gesicht. Er leckte sich über seine trockenen Lippen und fürchtete, ihm würde schlecht werden. Noch nie hatte er die Schreie gequälter Menschen gehört. Er griff zum Schwertgriff und ließ die Klinge in der Scheide rasseln. »Das werden sie uns bezahlen!« Feldwebel Nemiss schenkte ihm einen ironischen Blick. »Ich fürchte nicht, Majere«, stellte sie trocken fest. »Das sind nämlich unsere edlen Verbündeten.«Die Armee des Barons errichtete ihr Lager geübt und diszipliniert unter dem kritischen Blick von Kommandant Morgon, dem Stellvertreter des Barons. Caramon und seine Kompanie standen rund ums Lager Wache. Eine Gefahr war eigentlich nur aus Richtung Stadt zu erwarten, doch die Blicke der Wachen gingen ständig zwischen der Stadt und dem Lager ihrer Verbündeten hin und her. »Was hat der Baron gesagt?«, fragte Caramon Tauscher, der mit einem Wasserschlauch zwischen den Wachen umherging. Tauscher hatte außer dem Handeln noch ein Talent. Er war ein bemerkenswerter Lauscher, was jedermann erstaunte, da Lauschen eher die einzige schlechte Angewohnheit ist, bei der man nicht sofort an Kender denkt. Ein Kender, der ein Gespräch mit anhört, fühlt sich dazu gezwungen, zu diesem Gespräch beizutragen, weil er meint, er hätte wertvolle Informationen zum Thema der Diskussion beizutragen, ganz gleich, wie persönlich oder
vertraulich das Thema ist. Wohingegen ein guter Lauscher still und umsichtig sein muss. Auf die Frage, wie es ihm gelungen war, dieses Talent zu entwickeln, antwortete Tauscher, dass es wohl vom Handeln käme, wo es immer profitabler wäre, die Ohren offen und den Mund geschlossen zu halten. Ein guter Lauscher muss auch zur rechten Zeit am rechten Ort sein, um möglichst etwas Vorteilhaftes zu sehen und zu hören. Wie es Tauscher gelang, an all den Orten zu sein, wo es ihm gelang, all die Informationen zu hören, die er offenbar mitbekam, war ein Wunder und seinen Kameraden ein Rätsel. Doch sie fragten sich schon bald nicht mehr, woher er etwas wusste, sondern verließen sich auf seine Informationen. Während Caramon durstig das warme, brackige Wasser trank, erzählte Tauscher von dem Gespräch, das er mit angehört hatte. »Feldwebel Nemiss erzählte dem Baron, dass die Soldaten von König Wilhelm das Land plündern und verbrennen. Der Baron sagte zu Feldwebel Nemiss: Es ist ihr Land. Ihr Volk. Sie wissen am besten, was in dieser Situation zu tun ist. Die Stadt rebelliert. Man muss ihr eine Lektion erteilen, eine harte und schnelle Lektion, sonst sehen die anderen Städte des Königreichs, dass sie ungestraft aufbegehren können. Was uns angeht, hat man uns angeheuert, um einen Auftrag zu erfüllen, und, bei den Göttern, genau das werden wir tun.« »Hm«, knurrte Caramon. »Und was hat Feldwebel Nemiss daraufhin gesagt?« »›Ja, Herr‹.« Tauscher grinste. »Ich meine, nachdem sie das Zelt des Barons verlassen hatte.«
»Du weißt, dass ich solche Worte nicht in den Mund nehme«, sagte Tauscher spöttisch, schulterte den schweren Wasserschlauch und trottete damit zum nächsten Wachtposten. Raistlin hatte keine Zeit, sich hinzusetzen und über die merkwürdigen Methoden ihrer Verbündeten nachzudenken. Seit Ankunft der Armee hatte er alle Hände voll zu tun, denn er half Horkin, das Kriegszaubererzelt aufzubauen, das eine kleinere, einfachere Ausgabe von Horkins Laboratorium war. Dort mischten sie nicht nur zusammen, was sie für ihre Sprüche brauchten, sondern versorgten auch den Chirurgen des Barons – den »Blutsauger«, wie ihn die Soldaten freundlich titulierten – mit Medizin und Salben. Noch war das Chirurgenzelt leer, doch schon bald würde es Verwundete beherbergen. Raistlin hatte mehrere Gläser Salbe einschließlich der Anweisungen für ihren Gebrauch mitgebracht. Der Chirurg jedoch war mit dem Sortieren seiner Werkzeuge und Instrumente beschäftigt und bat Raistlin zu warten. Das Zelt war sauber, ordentlich und mit Feldbetten ausgestattet, damit die Verwundeten nicht auf dem Boden liegen mussten. Raistlin untersuchte das Werkzeug – die Säge zum Amputieren zerschmetterter Glieder, das scharfe Messer zum Entfernen von Pfeilspitzen. Er schaute die Betten an und sah mit einem Mal Caramon dort liegen. Sein Bruder hatte ein weißes Gesicht und Schweißperlen auf der Stirn. Man hatte ihm die Arme mit Lederbändern ans Bett gebunden, und zwei starke Männer, die Assistenten des Chirurgen, hielten ihn fest. Sein Bein war unterhalb des Knies zerschmettert, wo der gebrochene Knochen aus dem
zerrissenen Fleisch herausragte. Das Bett war blutbesudelt. Caramon flehte seinen Bruder keuchend um Hilfe an. »Raist! Lass das nicht zu!«, schrie Caramon, der ansonsten gegen Schmerzen die Zähne zusammenbiss. »Festhalten, Jungs«, befahl der Chirurg und hob die Säge… »Alles in Ordnung, Zauberer? Kommt, legt Euch lieber hin.« Neben ihm stand der Assistent des Chirurgen, der Raistlin eine Hand auf den Arm gelegt hatte. Raistlin warf einen Blick auf das leere Bett und erschauerte. »Es geht mir bestens, vielen Dank«, wehrte er ab. Der blutige Nebel vor seinen Augen verflog, die berstenden Sterne verschwanden, die Übelkeit verging. Er schüttelte die helfende Hand des Assistenten ab und verließ das Zelt, obwohl er sich dazu zwingen musste, langsam und ruhig zu gehen und keine unangemessene Hast zu zeigen. Sobald er draußen war, holte er trotz des Rauches tief Luft und musste sofort husten. Dennoch war selbst schlechte Luft der erstickenden Atmosphäre in jenem Zelt vorzuziehen. »War wohl die schlechte Luft, die mich überwältigt hat«, sagte sich Raistlin, der sich seiner Schwäche schämte. »Und meine lebhafte Phantasie.« Er versuchte, das Bild zu verdrängen, doch das Bild des leidenden Caramon war äußerst echt gewesen. Und weil dieses Bild nicht weichen wollte, zwang sich Raistlin dazu, es länger anzusehen. Mit seinem inneren Auge sah er zu, wie der Chirurg Caramon das Bein abnahm, wie sein Bruder tagelang Todesqualen durchlitt und langsam wieder genas. Er sah, wie man seinen Bruder zu-
sammen mit anderen Verwundeten in einem Wagen zur Burg des Barons zurückbrachte. Den Rest seines Lebens würde sein Bruder als Krüppel verbringen und sein starker Körper würde unter den mitleidigen Blicken seiner Freunde verfallen… »Dann wüsstest du, wie es mir ergeht, mein Bruder«, sagte Raistlin grimmig. Als ihm klar wurde, was er gesagt hatte und wie er es gemeint hatte, erschauerte er. »Bei den Göttern«, murmelte er erschrocken. »Was denke ich da nur? Bin ich so tief gesunken? Bin ich so gemein? Hasse ich ihn so sehr? – Nein.« Raistlin dachte an jene furchtbaren Momente im Zelt zurück. »Nein, ein solches Ungeheuer bin ich doch noch nicht.« Sein Mund verzog sich zu einem wehmütigen Lächeln. »Es quält mich, mir vorzustellen, dass er Schmerzen leidet. Aber gleichzeitig fühle ich rachsüchtige Zufriedenheit, wenn ich mir vorstelle, dass er leidet. Welcher schwarze Fleck in meiner Seele – « »Roter!« Hinter ihm dröhnte Horkins Stimme, die ihn wie ein plötzlicher, unerwarteter Trommelwirbel aufschrecken ließ. Raistlin blinzelte. Er war so in Gedanken gewesen, dass er das Zelt des Kriegszauberers betreten hatte, ohne es zu merken. Horkin funkelte ihn an. »Was ist mit der Salbe? Wollte er sie nicht haben?«, fragte Horkin. »Hast du ihm nicht gesagt, wogegen sie ist?« Raistlin entdeckte ein Glas Salbe in seinen Händen, das er fest umklammert hielt. »Ich… Also… doch, er war sehr angetan. Er will sogar noch mehr«, stammelte Raistlin, um
gleich hinzuzufügen: »Ich kann sie selbst machen, Sir. Ich weiß doch, wie beschäftigt Ihr seid.« »Und wozu in Lunis Namen hast du das da wieder mitgebracht?«, grollte Horkin. »Warum hast du ihm das Glas nicht einfach dagelassen, damit er es nehmen kann, bis du das nächste fertig hast?« »Tut mir leid, Sir«, erwiderte Raistlin betreten. »Ich glaube, daran habe ich nicht gedacht.« Horkin sah ihn an. »Du denkst viel zu viel, Roter. Das ist dein Problem. Du wirst nicht fürs Denken bezahlt. Ich werde fürs Denken bezahlt. Du wirst dafür bezahlt, dass du tust, was ich mir ausdenke. Jetzt lass das Denken sein, dann kommen wir viel besser miteinander aus.« »Ja, Sir«, sagte Raistlin mit größerem Gehorsam, als er seinem Meister sonst entgegenbrachte. Auf einmal fand er es befreiend, all seine quälenden Gedanken loszulassen und sie wie Distelflaum auf dem Wind davonschweben zu sehen. »Ich hole den Rest unserer Sachen. Fang du nur gleich mit der Salbe an.« Horkin blieb an der Zeltklappe stehen und blickte zur Stadt hinüber. »Der Blutsauger muss mit einem blutigen Kampf rechnen, wenn er sich mit so viel Kriegsblumensalbe versieht.« Kopfschüttelnd verließ er das Zelt. Raistlin unterdrückte all seine eigenen Gedanken, wie es ihm befohlen worden war. Nachdem er Mörser und Schale geholt hatte, begann er, Margeriten zu zerquetschen.
3. Kapitel In Hoffnungsende gab es viele Kneipen. Der Name dieses speziellen Lokals, das Kitiara bei ihrer Ankunft in der zum Untergang verurteilten Stadt entdeckt hatte, war »Zum schiefen Mond«. Auf dem Schild vor der Taverne war ein Mann abgebildet, der an einem Seil baumelte. In schreienden Farben – besonders grässlich war das Gesicht des Mannes – hob es sich vor dem Hintergrund eines hellgelben Mondes ab. Was der Gehenkte mit dem Namen der Kneipe zu tun hatte, konnte sich jeder selbst ausdenken. Der Besitzer hatte keine bessere Begründung für den Galgen, als dass er Aufmerksamkeit errege. Da das Schild ganz ähnlich wie der darauf abgebildete Gehenkte im Wind schaukelte, ließ es so manchen Passanten aufmerken und es mit großen Augen anstarren, doch ob ein Lokal, vor dem eine Leiche baumelte, die Vorübergehenden dazu verführte, dort einzukehren, war eine ganz andere Frage. Jedenfalls war es innen nicht gerade überfüllt. Der Besitzer klagte, das läge nur daran, dass die anderen Kneipenwirte der Stadt »es ihm zeigen« wollten, was nicht unbedingt der Wahrheit entsprach. Der »Schiefe Mond« war nämlich nicht nur mit dem abstoßenden Schild gestraft, sondern lag auch noch ganz am Ende einer verwinkelten Gasse zwischen verlassenen, baufälligen Häusern im ältesten Teil der Stadt, weitab vom Marktplatz, den Geschäftsstraßen und dem Wirtshausweg. Zudem sah die Kneipe auch nicht besonders Vertrauen erweckend aus, denn sie bestand aus einem Haufen
schlecht zusammenpassender Bretter, hatte ein Dach aus Holzschindeln und kein einziges Fenster – sofern man nicht das Loch auf der Vorderseite mitzählte, wo zwei der Bretter nichts mehr miteinander zu tun haben wollten und möglichst weit auseinander gerückt waren. Das Gebäude sah aus, als wäre es bei einer Springflut die Straße heruntergespült und schließlich gegen die hintere Wand geworfen worden. Der Legende nach war auch genau das geschehen. Kitiara mochte den »Schiefen Mond«. In der ganzen Stadt hatte sie nach einem solchen Ort gesucht, der etwas abseits lag, wo man seine Ruhe hatte und nicht dauernd von Kellnerinnen belästigt wurde, die wissen wollten, ob man noch ein Bier wollte. Die wenigen Gäste des »Schiefen Mondes« waren dieser Unannehmlichkeit nicht ausgesetzt. Der »Schiefe Mond« beschäftigte keine Kellnerinnen. Der Wirt, der selbst sein bester Kunde war, war gewöhnlich so sinnlos betrunken, dass die Gäste sich schließlich selbst bedienten. Das hätte natürlich für skrupellose Gemüter eine Einladung sein können, ihr Bier zu trinken und zu verschwinden, ohne zu zahlen, doch das hatte der Wirt schlauerweise verhindert, indem er das Bier ungenießbar gemacht hatte. Deshalb war es zwar möglicherweise umsonst, aber trotzdem kein Glücksfall. »Eine verkommenere Hütte hättest du nicht einmal gefunden, wenn du den Abgrund von oben bis unten durchsucht hättest«, beschwerte sich Immolatus. Er saß ganz vorne auf der Kante eines Stuhls, nachdem er bereits einen Splitter aus seinem weichen, nachgiebigen, leicht verletzbaren Menschenfleisch entfernt hatte. Den Verlust seiner eigenen, stahlharten, leuchtend roten Schup-
pen bedauerte er zutiefst. »Selbst ein Dämon, den man eine qualvolle Ewigkeit über glühenden Kohlen gebraten hat, würde einen Krug von dieser Flüssigkeit verächtlich ausschlagen, die zweifellos von einem Pferd stammt, das an Nierenversagen gestorben ist.« »Ihr müsst es ja nicht trinken, Eure Eminenz«, gab Kitiara gereizt zurück. Sie ärgerte sich gewaltig über ihren Begleiter. »Wegen Eurer ›Verkleidung‹ ist dies der einzige Platz in der Stadt, wo wir reden können, ohne dass die Menschen hier uns anstarren und uns auf den Pelz rücken.« Sie hob den angeschlagenen Krug. Das Bier tropfte langsam auf den Boden. Kit probierte, spie aus und kippte sicherheitshalber gleich den ganzen Krug aus. Nachdem sie damit fertig war, griff sie in ihren Stiefel, zog eine Flasche Branntwein, die aus einer Kneipe mit einem besseren Ruf stammte, hervor und nahm einen Zug. Sie steckte die Flasche in den Stiefel zurück, ohne ihrem Begleiter etwas anzubieten, ein Zeichen ihrer Verstimmung. »Also, Eminenz«, fing sie an, »habt Ihr irgendetwas gefunden? Eine Spur? Einen Hinweis? Eier?« »Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Immolatus kühl. »Ich habe jede Höhle durchsucht, die ich in diesen gottverlassenen Bergen finden konnte, und ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass dort keinerlei Dracheneier versteckt liegen.« »Ihr habt jede Höhle durchsucht?« Kitiara war skeptisch. »Jede, die ich finden konnte«, wiederholte Immolatus. Kit machte ein finsteres Gesicht. »Ihr wisst, wie wichtig diese Angelegenheit für Ihre Majestät ist.« »Die Eier sind in keiner der Höhlen versteckt, die ich durchsucht habe«, beharrte Immolatus.
»Die Informationen Ihrer Majestät – «, begann Kit. »Sind korrekt. In diesen Bergen liegen wirklich Eier der Metallischen versteckt. Ich kann sie fühlen und riechen. Nur Zugang zu ihnen zu bekommen, das ist schwer. Der Zugang zur Höhle ist gut versteckt, sehr klug getarnt.« »Gut! Jetzt kommen wir der Sache näher. Wo ist dieser Zugang?« »Hier«, sagte Immolatus. »In der Stadt selbst.« »Pah!« Kit schnaubte. »Ich gebe zu, dass ich nichts über diese sogenannten Metalldrachen weiß, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in aller Ruhe ihre Eier mitten auf dem Marktplatz legen.« »Du hast Recht«, gab Immolatus zurück. »Du weißt nichts über Drachen. Zeit! Darf ich dich daran erinnern, Wurm, dass diese Stadt alt ist. Diese Stadt war schon hier, als Huma der Verfluchte wie eine Schnecke durch das Land kroch. Diese Stadt existierte bereits in einem Zeitalter, als die Drachen – alle Drachen, die farbigen und die metallischen – verehrt, geehrt und gefürchtet wurden. Vielleicht bin ich sogar in meiner Jugend einmal über diese Stadt hinweggeflogen«, überlegte der Drache, der träumerisch in die ferne Vergangenheit blickte. »Vielleicht habe ich sogar daran gedacht, sie anzugreifen. Die Gegenwart der Metalldrachen würde erklären, warum ich es nicht getan habe…« Kits Finger trommelten auf die Tischplatte. »Was wollt Ihr damit sagen, Eminenz? Dass die goldenen Drachen wie Störche auf den Dächern gehockt haben? Dass in den Hühnerställen Silberdrachen gackerten?« Immolatus erhob sich mit feurigen Augen. Er bebte vor Zorn. »Du wirst noch lernen, selbst von meinen Feinden mit Respekt zu sprechen – «
»Hört mir zu, Eminenz!«, erwiderte Kit, die ebenfalls aufstand. »Die Armee von Lord Ariakas hat diese Stadt umstellt. Kommandant Kholos bereitet den Angriff vor. Ich bin nicht sicher, wann er kommt, aber es wird nicht mehr lange dauern. Ich habe gesehen, was die Narren in dieser Stadt zur Verteidigung auffahren. Ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie lange dieser armselige Ort hier durchhalten kann. Ich kenne auch einige der Pläne von Kommandant Kholos für den Angriff. Glaubt mir, wir wären ungern innerhalb der Stadt, wenn es losgeht.« »Die Dracheneier sind in den Bergen«, sagte Immolatus. Er verzog das Gesicht und rümpfte die Nase. »Irgendwo. Ich kann sie fühlen, wie man einen Pilz unter seinen Schuppen fühlt. Am Anfang ist es nur ein Jucken, das man nicht genau bestimmen kann. Manchmal fühlt man es tagelang nicht, dann windet man sich eines Nachts in Qualen. Jedesmal, wenn ich die Stadt verlassen habe, war das Jucken verschwunden. Wenn ich zurückkehrte, war es überwältigend stark.« Geistesabwesend begann er, seinen Handrücken zu kratzen. »Die Eier sind hier in der Nähe. Und ich werde sie finden.« Kitiara grub ihre Nägel in ihre Handflächen, damit sie sie nicht dem Drachen in den Hals grub. Er hatte kostbare Zeit verschwendet, um dummen Kenderträumen nachzujagen! Und jetzt, da die Zeit drängte… Nun, es half alles nichts. Was sein muss, muss sein, sagte der Gnom, als er mit dem Kopf in seiner bahnbrechenden, neuen dampfgetriebenen Traubenpresse hängen blieb. Nachdem sie ihren Zorn bezähmt (oder wenigstens mühsam geschluckt) hatte, murmelte Kitiara ziemlich schlecht
gelaunt: »Und was nun, Eminenz?« Sie waren die letzten Gäste in der Kneipe. Der Wirt hatte sich bereits am frühen Abend so sinnlos betrunken, dass er jetzt schnarchend über dem Schanktisch hing. Ein staubiger Sonnenstrahl fiel durch die entzweiten Bretter herein, waberte und verschwand, als wäre er nur aus Versehen hier eingedrungen. »Wir haben nur noch einen, höchstens zwei Tage Zeit«, mahnte Kitiara. »Vor dem ersten Angriff müssen wir hier raus sein.« Immolatus stand am Schanktisch, wo er stirnrunzelnd ein Rinnsal Bier betrachtete, das aus einem gesprungenen Fass leckte und auf dem gestampften Lehmboden eine kleine Lache bildete. »Wo ist der alte Teil der Stadt, Wurm?« Kitiara hatte es furchtbar satt, so genannt zu werden. Wenn er es noch einmal tat, würde sie ihm dieses Wort wohl in den Hals zurückstopfen. »Wofür haltet Ihr mich, Eminenz? Bin ich ein tintenfleckiger Geschichtsschreiber aus der Großen Bibliothek? Woher soll ich das wissen?« »Du bist lange genug hier«, stellte der Drache fest. »So etwas hätte dir auffallen können.« »Dir genauso, du eingebildeter – « Die folgenden, höchst passenden Beschreibungen spülte Kitiara mit einem weiteren Schluck Branntwein aus ihrer Stiefelflasche hinunter. Diesmal steckte sie die Flasche nicht weg, sondern ließ sie auf dem Tisch stehen. Immolatus, der ausgezeichnet hörte, lächelte in sich hinein. Er griff nach den verfilzten, fettigen Haaren des Wirts und zog dessen Kopf mit einem Ruck vom Schanktisch
hoch. »Alter Säufer! Wach auf!« Immolatus schlug den Kopf des Mannes mehrmals auf den Tisch. »Hör zu! Ich will dich etwas fragen.« Er schlug den Kopf noch ein paarmal auf. Der Wirt zuckte, stöhnte und öffnete seine müden, blutunterlaufenen Augen. »Hm?« »Wo stehen die ältesten Gebäude der Stadt?« Rums, wieder knallte der Kopf auf den Tisch. »Wo sind sie?« Der Wirt blinzelte und starrte Immolatus verständnislos an. »Schrei nicht so! Götter! Mein Kopf tut weh! Die ältesten Gebäude sind in der Weststadt. Bei dem alten Tempel…« »Tempel!«, hakte Immolatus nach. »Was für ein Tempel? Für welchen Gott?« »Was weiß ich«, murmelte der Mann. »Ein feiner Vertreter seiner Art«, sagte Immolatus erzürnt und hob den Kopf des Mannes wieder hoch. »Was tut Ihr da?« Kit war aufgesprungen. »Der Menschheit einen Gefallen!«, stellte Immolatus fest, der dem Mann mit einem Ruck den Hals brach. »Na, großartig.« Kitiara war mit ihrer Geduld am Ende. »Wie sollen wir jetzt etwas aus ihm herausbekommen?« »Ich brauche ihn nicht mehr.« Immolatus hielt auf die Tür zu. »Aber was machen wir mit der Leiche?«, fragte Kit zögernd. »Am Ende hat uns jemand gesehen. Ich will mich nicht wegen Mordes verhaften lassen!« »Vergiss es«, antwortete der Drache. Er warf dem toten Wirt, der schlaff über seinem Schanktisch hing, einen vernichtenden Blick zu. »Wahrscheinlich merkt sowieso keiner
einen Unterschied.« »Ariakas, du bist mir etwas schuldig!«, murmelte Kit, während sie Immolatus nachlief. »Du bist mir einiges schuldig. Ich erwarte, dafür wenigstens zum Regimentskommandanten gemacht zu werden!«
4. Kapitel Die Straßen wurden schmaler und verwinkelter, die Menschen weniger. Kitiara und der Drache hatten den alten Teil von Hoffnungsende betreten. Die meisten der ursprünglichen Häuser und Gebäude waren abgerissen und ihre Steine zu den großen Lagerhäusern und Kornspeichern verbaut worden, die man inzwischen dort errichtet hatte. Tagsüber kamen und gingen die Händler. Bei Nacht war Ungeziefer – zweibeiniges und vierbeiniges – hier zu Hause. Hin und wieder schickte der Bürgermeister in einem Anflug von Tatendrang und Bürgerstolz den Sheriff und seine Männer hinunter in das Lagerviertel, um alles auszuräuchern, was dort Schutz suchte, und alle aus den Löchern und Luken zu vertreiben, in denen sie sich versteckten. Mit dem drohenden Krieg hatten die meisten der zweibeinigen Ratten das sinkende Schiff verlassen und waren in sicherere Städte geflüchtet. Da die Lagerhäuser leer standen, liefen keine Händler mehr durch die Straßen oder handelten an den Straßenecken. Dieses Viertel, die Weststadt, war leer und verlassen, jedenfalls wirkte es so. Trotzdem hielt Kit die Augen offen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Immolatus hier zu finden hoffte, sofern er nicht glaubte, dass die Drachen ihre Eier in einem Lagerhaus aufbewahrten. Der Tag war fast vorüber. Die Sonne senkte sich in die Rauchglocke der brennenden Felder vor der Stadt. Der Schatten des Berges fiel über die Stadt und ließ die Nacht frühzeitig anbrechen. Schließlich hielt Immolatus an, anscheinend jedoch nur, weil die Straße hier endete. Der Drache machte allerdings einen sehr selbstzufriede-
nen Eindruck. »Aha, genau wie ich erwartet habe.« Die Straße führte geradewegs in eine hohe, bröckelnde Granitmauer. Jedenfalls sah es so aus. Als Kitiara den Drachen einholte, sah sie, dass sie sich geirrt hatte. Die Straße führte nämlich zwischen zwei hohen Pfeilern durch die Mauer hindurch. Rostige Löcher im Gestein wiesen darauf hin, dass es hier einst Eisentore gegeben haben dürfte, die den Zugang zu diesem Gebiet geregelt hatten. Nachdem Kitiara durch das Tor gesehen hatte, entdeckte sie einen Hof und ein Gebäude. »Was ist das für ein Ort?«, fragte Kitiara, die das Gebäude mit abfälligem Stirnrunzeln musterte. »Ein Tempel. Ein Tempel für die Götter. Oder vielleicht sollte ich lieber sagen, ein Tempel für einen Gott.« Immolatus bedachte das Gebäude mit hasserfülltem Blick. »Seid Ihr sicher?«, fragte Kit, die einen wenig schmeichelhaften Vergleich mit dem grandiosen Tempel von Luerkhisis anstellte. »Er ist so klein und… schäbig.« »Ganz wie sein Gott«, höhnte Immolatus. Der Tempel war tatsächlich klein. Dreißig Schritte würden Kit auf die andere Seite bringen. Vorne führten drei breite Stufen zu einer schmalen Veranda unter einem Dach, das von sechs schlanken Säulen gestützt wurde. Zwei Fenster führten auf einen Hof hinaus, der mit zerbrochenen Fliesen ausgelegt war. Vogelmiere und eine Art Würgepflanze wuchsen durch die Ritzen. Hier und da blühten zwischen dem Unkraut noch ein paar wilde Rosenbüsche, die an der Mauer, die den Hof umschloss, emporrankten. Es waren winzige weiße Rosen, welche die letzten Sonnenstrahlen auffingen und im Zwielicht regelrecht zu leuchten schienen. Sie erfüllten die Luft mit einem süßen, würzigen
Duft, den der Drache unangenehm fand, denn er hustete und schnaubte und zog seinen Ärmel vor Nase und Mund. Der Tempel bestand aus Granit, der einst von außen mit Marmor belegt gewesen war. Ein paar gelbfleckige, beschädigte Marmorplatten waren noch da, die meisten aber waren abgerissen und anderswo verbaut worden. Die Eingangstüren waren aus purem Gold und glänzten in der Sonne. Ein Fries, das um die Seiten des Gebäudes eingemeißelt gewesen war, war fast völlig zerstört und mit tiefen Scharten verunstaltet, als wäre man mit Pickeln und Hämmern darauf losgegangen. Die Szenen, die dort einst dargestellt gewesen waren, waren wie ausradiert. »Eminenz, woher wisst Ihr, für welchen Gott dieser Tempel einst errichtet wurde?«, fragte Kitiara. »Ich sehe keine Inschrift, keine Symbole, nichts, was auf den Namen des Gottes hindeutet.« »Ich weiß es«, antwortete Immolatus mit schneidender Stimme. Kitiara lief an den Steinpfeilern vorbei in den Hof, um besser sehen zu können. Die goldenen Türen waren eingedellt und verkratzt. Sie wunderte sich, dass die Türen überhaupt noch hier waren, dass man sie nicht um des Goldes willen eingeschmolzen hatte. Gold war zwar heutzutage nicht mehr viel wert, weniger als der weit praktischere Stahl – wer zog schon mit einem goldenen Schwert in den Krieg? –, doch wenn diese Türen aus reinem Gold bestanden, mussten sie etwas wert sein. Das würde sie Kommandant Kholos erzählen und ihm raten, die Türen bei seinem Abzug aus der Stadt mitzunehmen. Zwischen den beiden goldenen Türen entdeckte sie einen schmalen Spalt und merkte, dass sie leicht geöffnet waren.
Kit hatte den merkwürdigen Eindruck, dass man sie willkommen hieß und einlud, doch bitte einzutreten. Dieser Gedanke war ihr zuwider. Es kam ihr so vor, als wolle irgendetwas da drinnen etwas von ihr, als wolle es ihr etwas Wertvolles rauben. Wahrscheinlich war der Tempel inzwischen ein Schlupfwinkel für Diebe. »Wie hieß dieser Gott, Eminenz?«, erkundigte sich Kitiara. Der Drache öffnete den Mund, klappte ihn aber wieder zu. »Ich besudele doch nicht meinen Mund mit diesem Namen.« Kit lächelte herablassend. »Man möchte meinen, Ihr hättet Angst vor, diesem Gott, der doch offensichtlich nicht mehr hier ist.« »Unterschätze ihn nicht«, fauchte Immolatus. »Er ist ein Heimlichtuer. Sein Name ist Paladin. Da! Ich habe ihn ausgesprochen und ich verfluche ihn!« Ein Flammenstoß brach aus seinem Mund hervor, flackerte kurz über die geborstenen Platten auf dem leeren Hof, verbrannte etwas Unkraut und verebbte. Kit hoffte inständig, das niemand den Wutanfall beobachtet hatte. Nicht einmal von den größten Roten Roben hieß es, dass sie Feuer speien könnten. »Also, von dem habe ich noch nie gehört«, meinte Kit. »Du bist ein Wurm«, gab Immolatus zurück. Kits Hand krampfte sich um ihr Schwert. Mochte er doch ein Drache sein, jetzt war er in menschlicher Gestalt und würde bestimmt eine Weile brauchen, um seine Kleider gegen Schuppen einzutauschen. In der Zwischenzeit konnte sie ihn erschlagen. »Beruhige dich, Kit«, rügte sie sich selbst. »Denk daran,
wie mühsam es war, dieses Untier zu finden und zu Ariakas zu bringen. Lass dich nicht von ihm provozieren. Er will nur auf etwas einschlagen und das kann ich ihm nicht verdenken. Dieser Ort beunruhigt einen jeden.« Allmählich entwickelte sie eine echte Abneigung gegen ihre Umgebung. Der Tempel hatte etwas Heiteres, Friedvolles an sich, das sie störte. Kitiara verschwendete nicht gern ihre Zeit damit, über die Vielfalt des Lebens nachzugrübeln. Das Leben war zum Leben da, nicht zum Nachsinnen. Plötzlich fühlte sie sich an Tanis erinnert. Er hätte diesen Ort gemocht, dachte sie verächtlich. Er hätte hier zufrieden auf den gesprungenen Eingangsstufen gesessen, zum Himmel aufgeblickt und den Sternen Fragen gestellt, dumme Fragen, auf die es keine Antwort geben konnte. Warum gab es den Tod? Was war nach dem Tod? Warum gab es Leid? Warum gab es das Böse? Warum hatten die Götter sie verlassen? Was Kit betraf, war die Welt, wie sie war. Man musste sich seinen Platz darin erobern, ihn bestmöglich sichern und dem Rest seinen Lauf lassen. Kit hatte für Tanis’ Spinnereien, wie sie es nannte, nichts übrig. Dass sein Bild jetzt ungebeten und ungewollt in ihr aufstieg, vervielfachte ihren Ärger. »Nun, das war wohl Zeitverschwendung!«, stellte sie fest. »Gehen wir, bevor Kholos geschmolzene Steine über die Mauern schmeißt.« »Nein«, widersprach Immolatus, der grimmig den Tempel betrachtete und an seiner Unterlippe nagte. »Die Eier sind hier. Sie sind da drin.« »Das ist nicht Euer Ernst!« Kitiara starrte ihn ungläubig
an. »Wie groß sind diese goldenen Drachen? Sind sie so groß wie Ihr?« »Möglich«, antwortete Immolatus verächtlich. Er verdrehte die Augen, wich ihrem Blick aus und starrte in den verrauchten Sonnenuntergang. »Ich habe nie allzu sehr auf sie geachtet.« »Ts«, machte Kit. »Und ich soll also glauben, dass ein Wesen, das so groß oder sogar noch größer war als Ihr, in diesen Tempel gekrochen ist«, sie zeigte mit dem Finger darauf, »und seine Eier da abgelegt hat!« Ihr riss der Geduldsfaden. »Ich glaube, Ihr haltet mich zum Narren. Ihr und Lord Ariakas und Königin Takhisis! Ich bin fertig mit Euch.« Sie drehte sich um und wollte in Richtung Sackgasse verschwinden. »Wenn die Erbse, die du als Gehirn bezeichnest, nicht in deinem Schädel herumklappern, von den Knochen abprallen und in dunklen Ecken herumkullern würde, könntest du auf die Wahrheit kommen«, zischte Immolatus. »Die Eier wurden in den Bergen gelegt und durch einen Tunnel hierher gebracht. Dann wurde der Eingang versiegelt und eine Wache davorgestellt. Der Tempel ist das ehemalige Wachhaus. Diese Dummköpfe dachten, hier wären sie sicher und würden unbemerkt bleiben. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass die Priester bleiben und sie beschützen würden. Aber die Priester sind entweder vor dem Pöbel geflohen oder sie wurden umgebracht. Jetzt bewacht niemand mehr die Eier. Niemand.« Die Überlegungen des Drachen waren höchst logisch. Während Kitiara sich wieder umdrehte, steckte sie verstohlen ihr Schwert ein und vertraute darauf, dass er nicht be-
merkt hatte, dass sie es gezogen hatte. »Also gut, Eminenz. Ihr geht in den Tempel, sucht die Eier, zählt sie, bestimmt sie oder was auch immer Ihr mit ihnen tun sollt. Ich bleibe hier und halte Wache.« »Ganz im Gegenteil«, erklärte Immolatus, »du gehst in den Tempel und suchst die Eier. Ich bin sicher, dass es einen Tunnel gibt, der zu den Brutkammern führt. Wenn du sie gefunden hast, folgst du dem Tunnel, bis du den zweiten Zugang in den Bergen gefunden hast. Dann meldest du dich bei mir.« »Die Suche nach den Eiern ist nicht meine Aufgabe, Eminenz«, gab Kitiara finster zurück. »Ich weiß nicht einmal, wie Dracheneier aussehen. Ich spüre sie nicht, und ich rieche sie nicht, oder was auch immer Ihr wahrnehmt. Das ist Euer Auftrag, den Ihr von Königin Takhisis erhalten habt.« »Ihre Majestät konnte nicht ahnen, dass die Eier von einem Paladintempel geschützt werden.« Immolatus sah den Tempel hasserfüllt an, dann glitt der Blick seiner roten, zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen zu Kit zurück. »Ich kann es nicht tun. Ich kann ihn nicht betreten.« »Ihr wollt es nicht, meint Ihr!« Kitiara war wütend. »Nein, ich kann es nicht«, berichtigte Immolatus. Er verschränkte die Arme vor der Brust und rieb seine Ellenbogen. »Er lässt mich nicht«, fügte er hinzu. Er schmollte wie ein Kind, das bei Goblinball nicht mitspielen durfte. »Wer?«, wollte Kitiara wissen. »Paladin.« »Paladin? Der alte Gott?« Kit staunte. »Ich dachte, Ihr hättet gesagt, er wäre verschwunden.« »Das dachte ich auch. Ihre Majestät hat es mir versichert.« Immolatus hauchte ein Flämmchen aus. »Aber jetzt
bin ich mir nicht mehr so sicher. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mich belügt.« Böse schnappte er mit den Zähnen. »Ich weiß nur, dass ich den Tempel nicht betreten kann. Wenn ich es versuche, bringt er mich um.« »Ach, aber mich lässt er einfach reinlaufen!« »Du bist nur ein Mensch. Du bist ihm ganz egal, dich kennt er nicht. Du dürftest keine Schwierigkeiten bekommen. Und wenn doch, dann bist du sicher in der Lage, mit allem fertig zu werden, was sich dir in den Weg stellt. Ich habe doch gesehen, wie du mit dem Schwert umgehst.« Angesichts ihres Unbehagens grinste Immolatus. »Und jetzt, Uth Matar, solltest du dich wirklich auf den Weg machen. Du hast mich mehrfach daran erinnert, dass wir nicht viel Zeit haben. Wir treffen uns im Lager von Kommandant Kholos. Denk daran, such die Höhle, in der die Eier liegen, und den Ausgang in die Berge. Schreib alles in dieses Buch.« Er gab ihr ein kleines, ledergebundenes Buch. »Und halte dich nicht zu lange auf. Diese verdammte Stadt schlägt mir auf den Magen.« Er ging. Kitiara gestattete sich die angenehme Vorstellung, die Spitze ihrer Klinge aus dem Brustbein des Drachens herausragen und den Griff in seinem Rücken zu sehen. Sie blieb in dem verfallenen Hof stehen und genoss dieses Bild noch eine Weile, nachdem der Drache verschwunden war. Ihr kamen die wildesten Ideen. Sie würde gehen und Immolatus und ihren Auftrag einfach vergessen. Zur Hölle mit Ariakas, zur Hölle mit den Drachenarmeen. Sie war auch ohne sie gut zurechtgekommen, sie brauchte weder den einen noch die anderen. Erst als ihre um den Schwertgriff gekrampfte Hand
schmerzte, kam sie wieder zu sich. Sie brauchte nur über die Mauern zu blicken, um die unzähligen Lagerfeuer der Armee von General Ariakas zu sehen, die fast so zahlreich waren wie die Sterne über ihr. Und diese Armee stellte nur einen Bruchteil seiner Macht dar. Eines Tages würde er ganz Ansalon regieren, und dann wollte sie neben ihm herrschen. Oder auch an seiner Statt. Man konnte nie wissen. Und ein solches Ziel würde sie als unbedeutende Söldnerin nie erreichen. Also musste sie – ob Gott oder nicht – in diesen vermaledeiten Tempel gehen, einen Ort, der einen so einladenden Eindruck machte, sie aber zur gleichen Zeit mit seltsamer, kalter Angst erfüllte, einer schrecklichen Vorahnung. »Pah!«, sagte Kitiara und eilte über die geborstenen Platten des Hofs. Sie stieg die zwei Stufen zu den zerdellten goldenen Türen hoch und blieb oben stehen, um wegen der grundlosen Panik mit sich zu hadern, die immer schlimmer wurde, je näher sie dem Tempel kam. Kitiara spähte in die Öffnung zwischen den Türen und starrte in die Finsternis dahinter. Sie sah genau hin und lauschte. Inzwischen glaubte sie nicht mehr, dass Diebe diesen Tempel als Schlupfwinkel benutzten – oder sie mussten aus härterem Holz geschnitzt sein als Kitiara selbst. Doch irgendetwas war in dem Tempel, und was auch immer dieses Etwas war, es hatte einen roten Drachen verscheucht, eines der mächtigsten Lebewesen auf Krynn. Sie sah nichts, aber das hatte nichts zu bedeuten. Nicht einmal die finsterste Nacht, nicht einmal das Herz der Königin der Finsternis war so schwarz wie dieser verlassene Tempel. Während sie sich noch ärgerte, dass sie keine Fa-
ckel mitgebracht hatte, war Kitiara grenzenlos überrascht, als plötzlich strahlend silbernes Licht aufflammte und sie blendete. Sie zog ihr Schwert aus der Scheide und wich zurück. Sie war auf der Hut. Immerhin lief sie nicht davon, obwohl eine erschrockene Stimme in ihr – jene Stimme grundloser Furcht – sie anflehte, ihren Auftrag aufzugeben und wegzulaufen, weit weg. Genau wie der Drache. Er war geflohen. Ein viel gefährlicheres, viel tödlicheres und viel stärkeres Geschöpf als ich, dachte Kitiara. Warum sollte ich an einen Ort gehen, den Immolatus nicht betritt? Er ist nicht mein Befehlshaber. Er kann mir keine Befehle erteilen. Dann kehre ich gescheitert zu General Ariakas zurück. Ich kann Immolatus die Schuld zuschieben. Ariakas wird es einsehen. Der Drache hat versagt… Kitiara stand an den goldenen Türen, zögerte unentschlossen, lauschte bereitwillig der feigen Stimme in ihrem Inneren und hasste sich dafür, dass sie deren Vorschlägen wirklich ernsthafte Beachtung schenkte. Noch nie hatte sie sich derart gefürchtet. Sie hätte nie gedacht, dass ihr etwas so viel Angst einjagen könnte. Wenn sie jetzt kehrtmachte und ging, würde sie diesen Ort von jetzt an bis zu ihrem Tod vor sich sehen, wann immer sie die Augen schloss. Sie würde ihre Angst, ihre Schande, ihre Feigheit immer wieder neu erleben. Damit konnte sie nicht leben. Dann der Sache lieber gleich ein Ende machen. Mit dem Schwert in der Hand trat sie in das helle, silberne Licht. Vor ihrer Brust lag eine Sperre. Unsichtbar, zart und fein
wie Spinnweben, aber so fest, als wäre sie aus Stahlfäden gesponnen. Kit stieß dagegen, doch der Weg war versperrt. Sie konnte nicht vorbei. Eine leise, feste Männerstimme erklang aus der Dunkelheit. »Tritt ein und sei willkommen, Freundin. Aber zuvor leg deine Waffe weg. Innerhalb der Mauern dieses Heiligtums herrscht Friede.« Kitiaras Kehle war wie zugeschnürt. Ihre Schwerthand zitterte. Die Sperre ließ sie nicht durch, was sie zunächst erleichterte. Dann aber fasste sie ihr Schwert wütend fester und drückte gegen die Sperre. »Ich warne dich«, sagte der Mann, dessen Stimme nicht drohend war, sondern voller Mitgefühl. »Wenn du diesen heiligen Ort mit gewalttätigen Absichten betrittst, wählst du einen Weg, der dich ins Verderben führen wird. Leg die Waffe weg und tritt in Frieden ein, dann bist du hier willkommen.« »Du musst mich für eine Närrin halten, wenn du glaubst, ich würde meine einzige Verteidigungsmöglichkeit hergeben«, rief Kitiara aus, die vergeblich versuchte, im Gegenlicht den Sprecher zu erkennen. »In diesem Tempel hast du nichts zu fürchten außer dem, was du selbst hereinbringst«, gab die Stimme zurück. »Und was ich bringe, ist mein Schwert«, beharrte Kitiara. Entschlossen machte sie einen Schritt nach vorn. Die Bänder drückten fest gegen ihre Brust, als wollten sie in ihr Fleisch einschneiden, doch sie gab nicht auf. Dann ließ der Druck so plötzlich nach, dass sie überrascht nach vorne in den Tempel stolperte und fast gefallen wäre. Wie eine Katze fing sie sich wieder, sah sich blitzschnell um, drehte sich einmal um sich selbst und hielt ihr Schwert vor
sich, sodass sie für einen Angriff gewappnet war. Sie sah nach vorn, nach beiden Seiten, nach hinten. Nichts. Niemand. Das silberne Licht, das sie außerhalb des Tempels geblendet hatte, war jetzt, da sie innerhalb seiner Mauern war, weich und diffus. Es erleuchtete das gesamte Innere, sodass sie in dem unheimlichen Schein jede Einzelheit des Tempels erkennen konnte, doch Kitiara hätte die Dunkelheit vorgezogen. Das Licht hatte keine erkennbare Quelle; es schien direkt aus den Wänden zu strahlen. Der Hauptraum des Tempels war rechteckig, ohne jede Dekoration und leer. Kein Altar war vorhanden, keine Statue des Gottes, keine Weihrauchbecken, keine Stühle oder Tische. Nicht einmal eine Säule warf einen Schatten, in dem sich ein Meuchelmörder verstecken konnte. Hier blieb nichts verborgen. In dem silberweißen Licht konnte sie alles sehen. In der Ostwand, der, die an den Berg grenzte, befand sich eine zweite große Tür, eine silberne. Immolatus hatte Recht gehabt, verflucht noch mal. Diese Tür musste zu den Höhlen in dem Berg führen. Sie suchte nach einem Schloss oder Riegel, fand aber keinen. Die Tür hatte keinen Griff und auch sonst nichts zum Öffnen. Es musste eine Möglichkeit geben, sie musste sie nur finden. Doch sie wollte keinen unbekannten Feind hinter sich wissen. »Wo bist du?«, schimpfte Kitiara. Ihr kam der Gedanke, dass ihr Feind vielleicht durch die silberne Tür verschwunden war. »Komm raus, du Feigling. Zeig dich!« »Ich stehe hier neben dir«, sprach die Stimme. »Wenn du mich nicht sehen kannst, liegt das daran, dass du selbst blind bist. Leg dein Schwert weg, dann siehst du meine
ausgestreckte Hand.« »Ja, mit dem Dolch darin«, gab Kitiara verächtlich zurück. »Damit du mich töten kannst, sobald ich ohne Waffen bin.« »Ich wiederhole, meine Freundin, alles Böse, was hier ist, hast du selbst mitgebracht. Nur die Verräter fürchten Verrat.« Das Reden mit der Luft machte Kitiara so ungeduldig, dass sie nach der Stimme zielte und ihr Schwert durch die Stelle zog, wo sie die Eingeweide ihres unsichtbaren Feindes vermutete. Das Schwert traf auf keinen erkennbaren Widerstand, doch Kit durchfuhr ein lähmender Schlag, als wäre das Metall mit einem Blitz in Kontakt gekommen, der durch ihren Schwertarm schoss. Ihre Hand und die Finger brannten, und ein kitzelndes Gefühl schoss von ihrer Handfläche aus den Arm hoch. Vor Schmerz schnappte sie nach Luft und hätte fast ihre Waffe fallen gelassen. »Was hast du mir angetan?«, rief sie wütend. Sie umklammerte das Schwert mit beiden Händen. »Welche Magie benutzt du gegen mich?« »Ich habe dir nichts getan, meine Freundin. Was du tust, geschieht dir selbst.« »Das ist doch ein Zauber! Feiger Zauberer! Stell dich und kämpfe!« Wieder zog sie ihre Klinge durch die Luft. Der Schmerz war, als würde ihr ein Feuerstrahl den Arm verbrennen. Ihr Schwertgriff wurde so heiß, als käme er direkt aus dem weiß glühenden Feuer der Schmiede. Kitiara konnte es nicht mehr halten. Mit einem Schrei warf sie das Schwert auf den Boden und rieb ihre versengte Hand.
»Ich habe versucht, dich zu warnen, Freundin.« Die Stimme war traurig und voller Mitleid. »Du stehst auf dem Weg zu deinem eigenen Untergang. Verlasse ihn, dann kann dein Schicksal sich noch wenden.« »Ich bin nicht deine Freundin«, zischte Kitiara, die gegen den Schmerz der Verbrennung die Zähne zusammenbiss. Auf ihrer Handfläche bildete sich ein roter, blasiger Wulst, der die Form des Schwertgriffs hatte. »Also, Zauberer. Ich habe das verdammte Schwert fallen lassen. Nun zeige dich wenigstens!« Er stand vor ihr. Kein Zauberer, wie sie erwartet hatte, sondern ein Ritter in silberner Rüstung, einer sehr schweren, altertümlichen Rüstung, wie man sie zur Zeit der Umwälzung getragen hatte. Der Helm hatte kein Visier zum Herunterklappen wie moderne Helme, sondern bestand aus einem einzigen Stück Metall, das den Mund und den vorderen Bereich des Halses aussparte. Über seiner Rüstung trug der Ritter einen Umhang aus weißem Tuch, auf den ein Eisvogel gestickt war, der in der einen Kralle ein Schwert und in der anderen eine Rose trug. Sein Körper schimmerte und wirkte durchscheinend. Für einen Augenblick verließ Kitiara der Mut. Jetzt wusste sie, weshalb Immolatus den Tempel nicht betreten hatte. Der Tempel würde bewacht, hatte er gesagt. Er hatte jedoch nicht gesagt, dass er von Toten bewacht sein würde! »Ich habe nie an Geister geglaubt«, murmelte Kit in sich hinein, »aber an Drachen habe ich auch nicht geglaubt. Pech, dass es beides doch gibt.« Sie konnte natürlich den Schwanz einkneifen und weglaufen. Wahrscheinlich war das sogar das Beste. Unglücklicherweise waren ihre Beine zu sehr mit Zittern beschäftigt,
als dass sie weit gekommen wäre. »Reiß dich zusammen, Kit!«, befahl sie sich. »Jetzt ist er ein Geist, aber früher war er ein Mann. Und der Mann, mit dem du nicht fertig wirst, ist noch nicht geboren. Er war ein Ritter von Solamnia. Normalerweise sind die so an ihre Ehre gebunden, dass sie kaum etwas zustande bringen. Der Tod dürfte das kaum geändert haben.« Kitiara versuchte, die Augen des Geisterritters zu erkennen, denn häufig verraten die Augen eines Feindes etwas über seinen nächsten Angriffszug. Doch die Augen des Ritters waren nicht zu sehen, sondern lagen im Schatten des überhängenden Helmes verborgen. Seine Stimme klang weder alt noch jung. Kitiara zwang ihre steifen Lippen zu einem bezaubernden Lächeln, blickte sich um und fand ihr Schwert, das auf dem Boden lag. Im Zweifelsfall konnte sie mit der anderen, der unverletzten Hand kämpfen. Schnell bücken, den Arm ausstrecken, zugreifen, und sie hatte ihre Waffe zurück. »Ein Ritter!« Kitiara atmete in spöttischer Erleichterung aus. Sie würde diesem Geist ganz bestimmt nicht zeigen, dass er sie erschreckt hatte. »Bin ich froh, Euch zu sehen!« Sie trat einen Schritt näher, obwohl sie dazu eigentlich gar keine Lust hatte, doch so war sie auch näher an ihrem Schwert. »Hört mir zu, Herr Ritter. Gebt gut Acht! An diesem Ort gibt es etwas Böses.« »Allerdings«, bestätigte der Ritter. Er rührte sich nicht, sondern blieb ruhig stehen. Sein fester, aufmerksamer Blick war beunruhigend. »Ich vermute, das, was hier war, ist im Moment verschwunden«, fuhr Kit fort und bedachte ihn dabei mit ihrem verschmitzten Lächeln und einem spitzbübischen
Blick. Sie wurde bereits kühner. Wenn ihr der Geist etwas tun wollte, hätte er das längst machen können. »Wahrscheinlich habt Ihr es verscheucht, aber es kommt bestimmt zurück. Wir können es dann gemeinsam bekämpfen, Ihr und ich. Ich brauche nur mein Schwert – « »Ich werde das Böse mit dir bekämpfen«, sagte der Ritter, »aber dein Schwert brauchst du nicht.« »Verdammt noch mal!«, setzte Kit verärgert an und biss sich auf die Lippen, um ihre voreiligen Worte aufzuhalten. Sie musste nur etwas finden, was den Geist kurz ablenkte, nur so lange, bis sie ihr Schwert wiederhatte. »Was macht Ihr denn hier, Herr Ritter?«, fragte Kit, während sie ihren Zorn bezähmte und ihr Lächeln wieder hervorholte. »Ich bin überrascht, dass Ihr nicht draußen auf den Mauern steht, um Eure Stadt gegen die Belagerer zu verteidigen.« »Jeder von uns ist aufgerufen, die Finsternis auf seine Weise zu bekämpfen. Mir wurde der Tempel des Paladin zugewiesen«, erklärte der Ritter mit feierlichem Ernst. »Seit zweihundert Jahren wache ich hier. Ich werde meinen Posten nicht verlassen.« »Zweihundert Jahre!« Kit versuchte zu lachen, doch ihr blieb das Lachen im Halse stecken. »Klar, so lange kommt einem das bestimmt vor, wenn man ganz allein an diesem gottverlassenen Ort ausharrt. Oder hast du noch einen Kameraden?« »Ich habe keinen Kameraden«, erwiderte der Ritter. »Bestimmt eine Art Strafe«, vermutete Kit, die nur zu gern hörte, dass der Geist keine Gefährten mehr hatte. »Wie heißt Ihr, Herr Ritter? Vielleicht kenne ich Eure Familie. Mein Vater – « Sie wollte schon sagen, dass ihr Vater
Ritter von Solamnia gewesen war, überlegte es sich aber dann noch anders. Immerhin war es möglich, dass dieser Geist nicht nur ihren Vater kannte, sondern auch dessen nicht gerade glorreiche Vergangenheit. »Meine Familie stammt aus Solamnia«, fügte sie hinzu. »Ich bin Nigel von Dinsmoor.« »Kitiara Uth Matar.« Kitiara streckte die Hand aus, fuhr herum, ließ sich fallen und langte nach ihrem Schwert. Das nicht mehr da war. Kitiara starrte auf den leeren Boden. Sie tastete mit den Händen herum, bis ihr klar wurde, wie lächerlich sie aussehen musste. Langsam kam sie wieder hoch. »Wo ist meine Waffe?«, wollte sie wissen. »Was habt Ihr mit ihr angestellt? Ich habe guten Stahl für dieses Schwert bezahlt! Gebt es mir zurück!« »Dein Schwert ist unversehrt. Wenn du den Tempel verlässt, wird es draußen auf dich warten.« »Wo es jeder Dieb stehlen kann!« Der Ärger ließ Kit schnell ihre Angst vergessen. »Kein Dieb wird es berühren, das verspreche ich«, gab Sir Nigel zurück. »Du wirst dort auch das Messer vorfinden, das in deinem Stiefel versteckt war.« »Ihr seid kein Ritter! Jedenfalls kein echter Ritter«, schrie Kit schäumend vor Wut. »Ein Ritter – ob tot oder lebendig – würde nie zu solchen Schurkereien greifen!« »Ich habe die Waffen zu deinem eigenen Besten entfernt«, erwiderte Sir Nigel. »Wenn du weiter versuchst, sie zu benutzen, wird dir mehr passieren, als du jemandem antun könntest.« Verblüfft und geschlagen starrte Kititara diesen irritierenden Geist wütend an. Nur wenige Männer hatten sich
der Glut ihres Missfallens bisher widersetzt, nur wenige konnten der sengenden Hitze ihrer dunklen Augen standhalten. Tanis war einer dieser wenigen gewesen, und selbst er hatte sich mehr als einmal die Finger verbrannt. Sir Nigel reagierte nicht. Nichts davon brachte sie ihrer Aufgabe näher. Da sie mit Ärger nicht weiterkam, würde sie Charme und Verstellung einsetzen, zwei Waffen, die ihr niemand je nehmen konnte. Sie drehte sich um und durchschritt den leeren Raum, um ostentativ die Architektur zu bewundern, während sie die Bissspuren auf ihren Lippen leckte und das Feuer in ihren Augen bezähmte. »Also gut, Sir Nigel«, lenkte sie ein, »wir haben auf die falsche Weise begonnen und jetzt haben wir uns hoffnungslos verrannt. Ich habe Euch bei etwas gestört. Ihr hattet natürlich Grund zur Verstimmung. Und mein Schwert habe ich nur gezogen, weil Ihr mich fast zu Tode erschreckt habt! Ich habe hier drin nämlich niemanden erwartet. Und dieser Ort hat etwas Schauriges an sich«, fügte Kitiara ehrlicher hinzu, als sie eigentlich hatte sein wollen. Mit einem Schauer, der nicht nur gespielt war, blickte sie sich um. »Ich bekomme eine Gänsehaut. Je eher ich von hier verschwinde, desto besser.« Sie senkte die Stimme und kam näher. »Ich wette, ich weiß, warum Ihr hier seid. Soll ich raten? Ihr bewacht natürlich einen Schatz. Das ist völlig logisch.« »Das stimmt«, bestätigte Sir Nigel. »Ich bin hier, um einen Schatz zu bewachen.« Na, also. Kitiara war überrascht, dass sie den Grund nicht früher herausbekommen hatte. Immolatus hatte erwähnt, dass die Eier bewacht sein würden, und das waren
sie auch. Nur nicht von Priestern. »Und sie haben Euch ganz allein hier zurückgelassen«, meinte Kit mit einem mitleidigen Seufzer. Sie runzelte die Stirn. »Tapfer, aber aussichtslos, Herr Ritter. Ich habe von dem Kommandanten der feindlichen Truppen gehört, die Eure Stadt umzingelt haben. Kholos ist hart und grausam. Ein Halbgoblin, heißt es. Es heißt auch, er kann ein Stahlstück auf dem Grund eines Aborts riechen. Ihm stehen zweitausend Mann zur Verfügung. Sie werden diesen Tempel einfach niederreißen und nicht einmal die Toten werden sie aufhalten können.« »Wenn diese Männer so grausam sind, wie du sagst, werden sie den Schatz, den ich beschütze, niemals finden«, stellte Sir Nigel fest. Kit kam es vor, als ob er lächelte. »Ich wette, ich kann ihn finden«, sagte sie vergnügt, während sie die Augenbrauen hochzog. »Ich wette, er ist weniger gut versteckt, als Ihr glaubt. Mal sehen. Wenn es mir gelingt, den Schatz zu finden, könnt Ihr ihn in ein besseres Versteck bringen.« »Jeder darf suchen«, sagte Sir Nigel. »Es ist nicht meine Aufgabe, dich oder andere vom Suchen abzuhalten.« »Also, soll ich den Schatz jetzt suchen oder nicht?«, wollte Kitiara ungeduldig wissen. Wenn dieser Geist ihr doch einmal eine klare Antwort geben würde. »Was ist, wenn ich ihn finde?« »Das hängt ganz von dir ab, Freundin«, erwiderte Sir Nigel. Er streckte den Arm aus und wies auf die Silbertür. Das unheimliche Licht ließ seinen Plattenpanzer glänzen und die Kettenrüstung glitzern. »Ich brauche eine Fackel«, merkte sie an.
»Jeder, der eintritt, trägt sein Licht in sich«, wehrte Sir Nigel ab. »Sofern er nicht völlig umnachtet ist.« »Ihr seid der Einzige hier, der umnachtet ist«, gab Kit scherzhaft zurück. »Sollte nur ein Witz sein.« Kit fühlte sich an Sturm Feuerklinge erinnert. Dieser Geist war in jeder Hinsicht genauso leichtgläubig und humorlos. Sie konnte kaum glauben, dass er auf den Trick mit dem Schatz hereingefallen war. »Ich gehe davon aus, dass Ihr hier sein werdet, wenn ich wiederkomme? « »Ich werde hier sein«, antwortete der Ritter. Kitiara stieß versuchsweise gegen die Silbertür, erwartete jedoch Widerstand. Zu ihrem Erstaunen öffnete sich die Tür leicht und geräuschlos. Aus dem Raum, in dem sie stand, flutete Licht um sie herum und beleuchtete einen Gang vor ihr, einen Gang aus glattem, weißem Marmor, der tiefer in den Berg hineinführte. Sie untersuchte den Gang genau, legte den Kopf schief und lauschte und schnupperte. Sie hörte nichts Unheilvolles, nicht einmal trippelnde Mäusefüße. Der einzige Geruch, den sie wahrnahm, war seltsamerweise ein alter, schwacher Duft nach Rosen. Im Gang sah sie nichts als die weißen Wände und das silberne Licht. Doch als sie in der offenen Tür stand, wurde sie von Furcht gepackt, die ganz der Furcht glich, die sie verspürt hatte, als sie den Tempel betreten hatte – schlimmer noch, falls das möglich war. Sie fühlte sich bedroht. Ihr Rücken war ungedeckt. Schnell drehte sie sich um und riss die Hände hoch, um sich gegen einen Angriff zu wehren. Sir Nigel war verschwunden. Der Tempel war leer. Kit hätte erleichtert sein müssen, stand aber immer noch zitternd auf der Schwelle, ohne sich hinüberzutrauen.
»Kitiara, du Feigling! Ich schäme mich für dich! Alles, was du willst, alles, wofür du gearbeitet hast, liegt vor dir. Wenn du erfolgreich bist, kannst du bei General Ariakas dein Glück machen. Wenn du versagst, bist du ein Nichts.« Kitiara lief in die Finsternis hinein. Mit einem leisen, flüsternden Seufzer schloss sich die Silbertür hinter ihr.
5. Kapitel Der Rest der Armee des Spinnerbarons traf am Morgen nach Kommandant Kholos’ Ankunft vor den Mauern von Hoffnungsende ein. Noch immer stieg Rauch aus den abgebrannten Feldern auf, brannte in den Augen, stach in die Nase und erschwerte das Atmen. Die Offiziere ließen die Männer sofort mit der Arbeit beginnen – Brustwehre bauen und Gräben ausheben, Zelte aufschlagen und die Versorgungswagen abladen. Kommandant Morgon, der seine Prunkrüstung angelegt hatte, bestieg sein Pferd, das gestriegelt und gebürstet worden war, um den Straßenstaub zu entfernen. Dann brach er auf, um zum Lager seiner Verbündeten zu reiten und ein Treffen zwischen dem Baron und dem Kommandanten der Armeen von König Wilhelm dem Guten zu vereinbaren. Nach weniger als einer Stunde war er zurück. Die Soldaten hielten in ihrer Arbeit inne, denn sie hofften, der Kommandant würde eine Bemerkung fallen lassen, die zeigte, welche Meinung er von ihren Verbündeten hatte, doch der Kommandant sagte nichts. Diejenigen, die schon lange unter ihm dienten, bemerkten, dass er ungewöhnlich ernst wirkte. Er meldete sich sofort beim Baron. Tauscher hielt sich bei den Ahornbäumen neben dem Zelt des Barons auf, wo er wilde Zwiebeln suchte und sich nach Kräften bemühte, etwas von dem Gesagten zu hören. Kommandant Morgons Stimme war ohnehin leise, und er hatte die Angewohnheit, in seinen Bart zu murmeln. Tauscher verstand kein Wort. Wären die Antworten des Barons etwas länger ausgefallen, so hätte ihm das vielleicht weitergeholfen, doch die bestanden nur aus »Ja« und »Nein«
und »Danke, Kommandant. Schickt die Offiziere bei Sonnenuntergang zu mir.« Zu diesem Zeitpunkt stolperte eine der Leibwachen des Barons über den Halbkender, der auf einem zugewucherten Plätzchen hockte, und verscheuchte ihn. Tauscher kehrte sozusagen mit leeren Ohren ins Lager zurück und roch obendrein kräftig nach Zwiebeln. Gegen Sonnenuntergang unterbrachen an diesem Abend alle ihre Arbeit und sahen zu, wie der Baron und sein Gefolge zum Lager ihrer Verbündeten ritten. Verärgert brüllten die Feldwebel die Leute an, stürmten durchs Lager und erinnerten jeden Soldaten an seine Arbeit, die nicht aus Herumstehen und Gaffen bestand. Caramon und die Kompanie C stellten sich eine halbe Meile vor der Stadtmauer auf und schlossen sich damit der Postenreihe an, die ihre Verbündeten bereits aufgebaut hatten. Diese Reihe verhinderte, dass jemand die Stadt verließ und – noch wichtiger – dass jemand von außerhalb hineinkam. Hoffnungsende war von jeder Hilfe abgeschnitten, falls Hilfe kommen sollte. In Begleitung von drei Stabsoffizieren und einer Leibwache von zehn Berittenen begab sich der Baron hinter die Postenlinie, die er benutzte, um seine Bewegungen vor denen zu verbergen, die auf der Stadtmauer standen. »Gebt dem Feind niemals kostenlos Informationen«, war eine der vielen Maximen des Barons. »Sorgt dafür, dass er sie bezahlt.« Der Kommandant der Stadttruppen beobachtete mit Sicherheit jede Bewegung der feindlichen Armeen. Er brauchte nicht zu sehen, dass der Kommandant der linken Flanke nicht zur Hauptarmee zählte, sondern angeheuert war. Dieses Wissen konnte auf eine Schwäche im
Zusammenhalt der Armee hindeuten und vom Feind zu seinem Vorteil ausgenutzt werden. Nachdem der Baron seine eigenen Vorposten hinter sich gelassen hatte, rückte er zu denen vor, die von seinen Verbündeten aufgestellt worden waren. Als der erste Posten ihn sah, nahm er Haltung an und grüßte mit erhobener Faust. Von da an salutierten die Posten alle fünfzig Schritt, sobald der Baron vorbeiritt. Die Posten trugen volle Kampfausrüstung mit Helm und Schild, alles mit dem Wappen von König Wilhelm dem Guten. Die Rüstungen waren poliert und glänzten im verhangenen Zwielicht. Jeder Posten trug ein kleines Jagdhorn bei sich, eine Idee, die den Baron begeisterte. »Disziplinierte Truppe«, nickte er beifällig. »Respektvoll. Die Rüstungen so sauber, dass man vom Brustpanzer essen könnte, was, Morgon?« Er warf seinem ältesten Stabsoffizier, dem Kommandanten, der das Treffen vereinbart hatte, einen Blick zu. »Und mir gefällt es, dass die Posten Jagdhörner dabeihaben. Wenn Alarm geschlagen wird, hört man sie im ganzen Umland blasen. Viel besser als rufen. Das werden wir auch einführen.« »Ja, Herr«, antwortete Morgon. »Sie waren fleißig«, fuhr der Baron fort, der auf eine niedrige Brustwehr aus Erde zeigte, die schon jetzt das Lager umgab. »Seht Euch das an.« »Ich sehe es, Herr«, erwiderte Morgon. Wohin man auch sah, waren die Männer bei der Arbeit. Keiner stand tatenlos herum, überall im Lager gingen die Soldaten ihren Aufgaben nach. Niemand brütete tatenlos und unzufrieden vor sich hin. Die Soldaten zogen Baumstämme aus dem Wald, Bauholz für Belagerungstürme und
Leitern. Der Schmied und seine Gehilfen waren in ihrem Zelt, wo die Schmiedefeuer brannten und Dellen aus den Rüstungen gehämmert, Nieten eingeschlagen und Hufeisen für die Kavallerie gefertigt wurden. Im Lager duftete es nach Schweinebraten und Rindersteak. Der Baron und seine Männer hatten von trockenem Zwieback und Pökelfleisch gelebt, sodass die köstlichen Gerüche ihnen das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Die Zelte waren ordentlich aufgebaut und so aufgestellt worden, dass jedes vom Abendwind profitierte. Davor waren die Waffen sorgfältig aufgereiht. Der Baron war voller Lob. »Seht mal, Morgon!«, sagte er und zeigte auf zwanzig Soldaten, die in voller Kampfausrüstung neben einer Reihe Zelte stillstanden. »Sie haben eine stehende Kampftruppe wie unsere, nur ist ihre bereits kampfbereit. Das ist auch etwas, das wir übernehmen sollten.« »Ich bitte um Verzeihung, Herr Baron – das ist keine stehende Kampftruppe«, stellte Kommandant Morgon richtig. »Nein? Was denn?« »Das ist ein Strafkommando, Sir. Sie standen schon heute Morgen so da, als ich hergeritten bin, um dieses Treffen zu vereinbaren. Heute Morgen waren es dreißig. Zehn müssen in der Hitze des Tages zusammengebrochen sein.« »Sie stehen einfach nur da?« Verwundert richtete sich der Baron im Sattel auf, um besser sehen zu können. »Ja, Herr. Der Offizier, der mich eskortierte, erzählte mir, sie dürften weder essen noch ausruhen noch Wasser trinken, bis ihre Strafzeit vorbei ist. Das kann bis zu drei Tagen dauern. Wenn jemand zusammenbricht, wird er fortgetragen und wieder zurückgeschickt, sobald er wieder zu sich
gekommen ist. Ab diesem Zeitpunkt läuft die Strafe weiter.« »Gute Götter«, murmelte der Baron. Er starrte weiter zu den Soldaten zurück, bis sie außer Sicht waren. Gleich jenseits des Lagereingangs hielten der Baron und seine Offiziere an. Die Offiziere stiegen ab, die Leibwachen blieben auf ihren Pferden sitzen. »Lasst die Männer absitzen, Kommandant«, befahl der Baron. »Mit Eurer Erlaubnis, Herr Baron, ich glaube, die Männer sollten auf ihren Pferden bleiben«, widersprach Morgon. »Möchtet Ihr mir etwas sagen, Kommandant?«, fragte der Baron nach. Morgon schüttelte den Kopf und mied den Blick des Barons. »Nein, Sir. Ich dachte nur, es wäre ratsam, die Leibwache aufbruchbereit zu haben. Falls Kommandant Kholos dringende Befehle für uns hat, Herr.« Der Baron starrte seinen Kommandanten durchdringend an, konnte in dessen Gesicht jedoch nur pflichtschuldigen Gehorsam erkennen. »Also gut. Die Männer sollen im Sattel bleiben. Aber sorgt dafür, dass sie Wasser bekommen.« Ein Offizier in Rüstung, über der er eine Tunika mit dem königlichen Wappen trug, näherte sich der wartenden Abordnung und salutierte. »Sir, mein Name ist Meister Vardash. Ich wurde geschickt, um Euch zu Kommandant Kholos zu geleiten.« Der Baron folgte ihm in Begleitung seiner Offiziere. Sie marschierten an vielen Zelten vorbei, und nachdem sie nördlich des Schmiedezelts nach rechts abgebogen waren, bemerkte der Baron einige dort abgelegte Rüstungen und betrachtete die gute Arbeit. Ein Hüsteln von Morgon brach-
te ihn dazu, den Kopf zu heben. »Was im Namen von Kiri-Jolit ist das?« Das große Zelt des Schmieds hatte den eilig zusammengezimmerten Holzgalgen bisher vor seinen Blicken verborgen. Vier Männer hingen daran. Drei der Leichen waren offenbar schon seit dem Vortag da – ihre Augen waren von Aasvögeln ausgepickt worden, von denen einer jetzt an einer Nase weiterfraß. Einer der Männer lebte noch, wenn auch wahrscheinlich nicht mehr lange. Unter den Augen des Barons zuckte der Körper noch ein paar Mal und rührte sich dann nicht mehr. »Deserteure?«, fragte der Baron Meister Vardash. »Was, Sir? Ach, das.« Vardash warf einen belustigten Blick auf die Leichen. »Nein, Sir. Drei von ihnen dachten, sie könnten einen Teil der Beute, die wir bei den Bauern gemacht haben, für sich abzweigen. Der vierte da, der noch zappelt, wurde mit einem Mädchen erwischt, das er in seinem Zelt versteckt hatte. Er sagte, sie täte ihm Leid und er hätte ihr zur Flucht verhelfen wollen.« Vardash lächelte. »Sehr glaubhafte Geschichte, meint Ihr nicht, Herr Baron?« Der Herr Baron hatte nichts zu sagen. »Ist ein hübsches Ding, das muss ich ihm lassen. Bringt bestimmt einen guten Preis in Sanc – beziehungsweise«, Vardash schien sich zu sammeln, »wir werden sie den zuständigen Behörden in Vantal übergeben.« Kommandant Morgon räusperte sich hörbar. Der Baron warf ihm einen Blick zu, kratzte seinen Bart, murmelte in sich hinein und marschierte weiter. Das Kommandozelt, das unter einer großen Fahne mit dem Wappen von König Wilhelm dem Guten stand, wurde von sechs Soldaten bewacht, die offenbar speziell für diese
Aufgabe ausgewählt worden waren. Kommandant Morgon war gute sechs Fuß groß, doch diese Männer überragten ihn. Der kurz gewachsene Baron wirkte neben ihnen wie ein Zwerg. Die Wachen trugen Rüstungen, die offenbar speziell für sie angefertigt worden waren, weil vermutlich keine reguläre Rüstung über diese breiten Schultern und muskulösen Oberarme gepasst hätte. Diese Leibwachen trugen kein königliches Wappen, fiel dem Baron auf. Sie hatten ein anderes, das eines zusammengerollten Drachen, wie er zu erkennen glaubte. Als sie merkten, dass er sie anstarrte, nahmen die Wachen sofort Haltung an, hoben ihre gewaltigen Schilde vor sich und stießen mit dem stumpfen Ende ihrer riesigen Speere auf den Boden. Drachen, dachte der Baron. Ein gutes Symbol für einen Soldaten, wenn auch ziemlich verschroben und altmodisch. Meister Vardash kündigte den Baron an. Eine säuerliche Stimme aus dem Kommandozelt wollte wissen, was zum Teufel diesem Baron einfiele, während des Abendessens zu stören. Meister Vardash erinnerte den Kommandanten in entschuldigendem Ton daran, dass er das Treffen für Sonnenuntergang anberaumt hatte. Der Kommandant gestattete es dem Baron schroff, zu ihm ins Zelt zu treten. »Euer Schwert, Sir«, sagte Meister Vardash, der ihm den Weg verstellte. »Ja, das ist mein Schwert.« Der Baron legte seine Hand an das Heft. »Was ist damit?« »Ich muss Euch bitten, es mir anzuvertrauen, Sir«, erklärte Vardash. »Niemand tritt mit Waffe vor den Kommandanten.« Der Baron war so außer sich, dass er eine Minute lang
glaubte, er müsse auf Meister Vardash einschlagen. Meister Vardash glaubte das offenbar ebenfalls, denn er wich einen Schritt zurück und schob seine Hand an sein eigenes Schwert. »Unsere Verbündeten, Herr«, erinnerte Kommandant Morgon leise. Der Baron schluckte seinen Zorn herunter. Nachdem er den Schwertgurt abgeschnallt hatte, warf er ihn Meister Vardash zu, der ihn geschickt auffing. »Das ist eine wertvolle Waffe«, grollte der Baron. »Sie hat schon meinem Vater gehört und davor dessen Vater. Gebt gut darauf Acht.« »Danke, Sir. Euer Schwert wird unter meinem persönlichen Schutz stehen«, sagte der Meister. »Vielleicht möchten Eure Offiziere sich den Rest des Lagers ansehen.« »Wir haben genug gesehen«, befand Kommandant Morgon trocken. »Wir warten hier draußen auf Euch, Herr. Ruft uns, wenn Ihr uns braucht.« Knurrend stieß der Baron die Zeltklappe beiseite und trat ein. Er hatte ein gewöhnliches Kommandozelt erwartet, das mit einem Feldbett, ein paar Klappstühlen und einem wackligen Tisch möbliert war, auf dem Karten mit den Positionen der Feinde lagen. Stattdessen glaubte er einen Augenblick, er wäre direkt in den Empfangssaal von König Wilhelm dem Guten geraten. Ein schöner handgewebter und bestickter Teppich bedeckte den Boden. Elegante Stühle aus seltenem Holz umstanden einen schmucken Tisch, der mit geschnitzten Früchten und Girlanden verziert war. Dieser Tisch war nicht mit Karten, sondern mit Speisen beladen. Kommandant Kholos war gerade dabei, ein Hähnchen zu zerlegen.
»Na, da seid Ihr ja«, begrüßte Kholos ihn ohne Umschweife. »Wie gefällt Euch meine Einrichtung? Vielleicht habt Ihr den Gutshof bemerkt, den wir gestern niedergebrannt haben. Ein Haus ohne Mauern braucht auch keinen Tisch, oder?« Der Kommandant grinste und stieß seinen Hirschfänger – dessen Griff von getrocknetem Blut überzogen war – in das Hähnchen, hob es hoch und stopfte es in seinen Mund, um es in einem Stück zu verschlingen, mit Knochen und allem. Der Baron murmelte eine unverständliche Antwort. Als er eintrat, war er hungrig gewesen, doch der Anblick des Kommandanten hatte ihm den Appetit verschlagen. In nicht allzu weit zurückliegender Vergangenheit waren Goblin und Mensch einander näher gekommen – wie, war hier nicht die Frage –, und Kommandant Kholos war das Ergebnis. Der Goblinteil seines Erbes war an seinem fahlen, leicht grünlichen Teint, dem vorstehenden Unterkiefer, den blinzelnden Augen, den wulstigen Brauen und seiner rücksichtslosen, brutalen Härte zu erkennen. Der menschliche Anteil zeigte sich in der berechnenden Intelligenz, die blass und unnatürlich in seinen blinzelnden Augen funkelte wie auf einem scheußlichen, modernden Sumpf. Der Baron vermutete, dass der Kommandant seine eigenen Truppen ebenso einschüchterte wie den Feind – vielleicht noch mehr, denn der Feind hatte das Glück, ihn nicht persönlich zu kennen. Warum in Kiri-Jolits Namen kämpfte jemand freiwillig unter einem solchen Anführer, fragte sich der Baron. Wenn er jedoch die Beute im Kommandozelt ansah und an Vardashs schnell verschluckte Worte dachte – dass ein gefangenes Mädchen irgendwo »einen guten
Preis bringen« würde, ging der Baron davon aus, dass Kholos’ Soldaten ihn so lange ertragen würden, wie sie sich auf die einträglichen Seiten des Krieges freuen konnten. Der Baron kannte König Wilhelm. Er konnte sich nicht vorstellen, was in den Mann gefahren war, dass er einen solchen Kommandanten eingestellt hatte. Aber anscheinend hatte er es getan, und er war der König, und – zum Abgrund und zurück – das hier waren ihre Verbündeten. Der Baron bedauerte zutiefst, jemals seine Unterschrift unter den Vertrag gesetzt zu haben. »Wie viele Männer habt Ihr mitgebracht?«, wollte der Kommandant wissen. »Taugen sie zum Kampf?« Kholos bot dem Baron keinen Platz, nichts zu essen und nichts zu trinken an. Stattdessen griff er nach einem Krug, trank geräuschvoll, knallte ihn wieder auf den schönen Tisch, sodass das Bier herausspritzte, und wischte sich mit dem behaarten Handrücken den Mund ab. Der Kommandant sah den Baron an und rülpste laut. »Nun?«, wollte er wissen. Der Baron richtete sich auf. »Meine Soldaten sind die besten in ganz Ansalon. Ich nehme an, Ihr wisst das, sonst hättet Ihr uns nicht gerufen.« Der Kommandant fegte den Ruf des Barons mit einem Wink mit dem Hühnerbein beiseite. »Ich habe Euch nicht gerufen. Ich habe noch nie von Euch gehört. Jetzt muss ich nehmen, was ich bekommen habe. Wir werden morgen sehen, wozu Ihr fähig seid. Ich muss wissen, wie Euer Haufen sich beim Kämpfen anstellt. Morgen bei Sonnenaufgang greift Ihr mit Euren Männern die Westmauer an.« »Einverstanden«, erklärte der Baron steif. »Und wo greift Ihr mit Euren Männern an, Kommandant?«
»Gar nicht«, gab Kholos grinsend zurück. Er kaute beim Reden weiter, sodass ihm Fleischreste und Speichel über das Kinn rannen. »Ich werde mir ansehen, wie Eure Männer sich unter Beschuss halten. Meine Männer sind gut ausgebildet. Ich kann es mir nicht leisten, sie von einem Wurf winselnder Welpen verderben zu lassen, die sich auf den Rücken rollen und sich selbst besudeln, wenn die ersten Pfeile fliegen.« Der Baron starrte den Kommandanten ungläubig an. Sein Schweigen war eine drohende Wolke, schwarz vor Erstaunen und mit Wutblitzen geladen. Kommandant Morgon, der draußen wartete, sollte später sagen, dass er noch nie im Leben etwas Lauteres gehört hätte als dieses Schweigen des Barons. Außerdem würde er später gestehen, dass er sein Schwert bereitgehalten hatte, weil er davon ausging, dass der Baron den Kommandanten auf der Stelle umbringen würde. Da Kholos sah, dass der Baron nichts zu sagen hatte, spießte er ein neues Hähnchen auf. Es gelang dem Baron, seinen Wunsch, Kholos aufzuspießen, niederzukämpfen, und er sagte mit einer Stimme, die seiner eigenen so wenig ähnelte, dass Morgon später schwören sollte, er hätte nicht gewusst, wer dort sprach: »Wenn wir die Stadt ohne Unterstützung angreifen, werdet Ihr nur sehen können, wie meine Männer sterben, Sir.« »Pah! Es handelt sich nur um einen Scheinangriff. Wir wollen nur die Verteidigungsmaßnahmen der Stadt prüfen, mehr nicht. Ihr könnt Euch zurückziehen, sobald Euch die Sache zu heiß wird.« Der Kommandant nahm noch einen Schluck Bier und rülpste wieder. »Erstattet mir morgen Mittag nach der Schlacht Bericht. Dann werden wir bespre-
chen, wo sich Eure Männer noch verbessern müssen.« Der feuerrote Nebel vor den Augen des Barons hinderte ihn daran, die offene Zeltklappe zu finden. Er tastete sich nach draußen, brachte dabei fast das Zelt zum Einsturz und hätte auch noch beinahe Vardash umgerannt, der vorgetreten war, um ihm zu helfen. Der Baron riss dem Meister sein Schwert weg, schnallte es jedoch gar nicht erst um, sondern marschierte gleich los. »Bloß raus hier«, knurrte er durch zusammengebissene Zähne. Seine Offiziere folgten ihm und liefen so schnell, dass Vardash, der sie doch führen sollte, sich sputen musste, um sie einzuholen. Der Baron und seine Offiziere kehrten auf dem gleichen Weg zu ihren Pferden und den Leibwachen zurück, den sie gekommen waren. Trotz der Dunkelheit begann eine Kompanie Soldaten mit ihrem Schwerttraining. Hinter den Reihen standen Feldwebel mit Ochsenpeitschen bereit, um jeden Fehler zu ahnden. Der Baron warf einen Blick auf das Strafkommando, von dem nur noch achtzehn Männer standen. Zwei lagen auf dem Boden. Niemand beachtete sie. Ein Soldat, der einem eigenen Auftrag nachging, stieg sogar über die bewegungslosen Körper hinweg. Die Leibwachen saßen immer noch einsatzbereit auf ihren Pferden. In Minutenschnelle hatte der Baron das Lager verlassen und kehrte zu seinen eigenen Linien zurück. Unterwegs schwieg er. Über die glänzenden Rüstungen und die bemerkenswerte Disziplin ihrer edlen Verbündeten verlor er kein Wort mehr.
6. Kapitel Es gab Licht auf der anderen Seite der Silbertür, schwach und matt zwar, aber ausreichend für Kitiara. Vorsichtig schob sie sich den Tunnel hinunter, immer begleitet von ihrer Angst. Noch immer erwartete sie, dass die Knochenfinger des Geistes sie gleich an der Tunika festhalten, an der Schulter berühren oder über ihren Nacken kratzen würden. Kitiara hatte keine lebhafte Phantasie. Schon als Kind hatte sie über Geschichten gelacht, die andere Kinder dazu gebracht hatten, schreiend zu ihren Müttern zu laufen. Wenn eine Spielkameradin ihr versicherte, sie hätte Ungeheuer unter dem Bett, suchte Kitiara mit dem Feuerhaken nach ihnen. Sie sagte gern lachend, die einzigen Geister, die sie je gefunden hätte, wären am Ende eines Weinschlauchs gewesen. So viel dazu. Der Ritter war leider nicht der einzige Geist in diesem Tempel. Neben ihr liefen weißgekleidete Gestalten, die eilige Dinge zu tun hatten oder langsam herumspazierten, in Gedanken versunken. Doch wenn sie sich nach ihnen umdrehte, waren die Gestalten verschwunden. Noch schlimmer waren die Gespräche, geflüsterte Echos längst schweigender Stimmen, die wie Rauch durch den Gang zogen. Mitunter konnte sie beinahe ein paar Worte heraushören, beinahe mitbekommen, was sie sagten, aber immer nur beinahe. Sie hatte den Eindruck, sie sprächen über sie selbst und hätten etwas Wichtiges zu sagen. Wenn sie nur das Flüstern lassen würden, könnte sie alles verstehen. »Was? Was ist denn? Was wollt ihr?«, rief Kitiara laut. Sie bereute zutiefst, dass sie ihr Schwert verloren hatte. »Wer
seid ihr? Wo seid ihr?« Die Stimmen wisperten und murmelten. »Wenn ihr mir etwas zu sagen habt, dann kommt raus und sagt es«, verlangte Kitiara entschlossen. Anscheinend hatten die Stimmen das nicht vor, denn das Geflüster ging weiter. »Dann haltet einfach den Mund, zur Hölle!«, brüllte Kitiara und marschierte weiter. Der glatte Marmorboden ging unvermittelt in Stein über. Die von Menschenhand geschaffenen Wände wichen den natürlichen Wänden einer Höhle. Sie folgte einem Pfad, der eng und gewunden war und um große Felsen herumführte, die direkt aus dem Boden ragten. Obwohl es ein schlichter Weg war, war er leicht begehbar. An einigen Stellen war er repariert oder geglättet worden, um das Laufen zu erleichtern. Sie hätte durch eine Finsternis ziehen müssen, die so dunkel war wie alle alten Zeitalter von Krynn zusammen, denn das einzige Licht, das je so weit unter den Berg vorgedrungen war, musste das Licht der Funken von Reorx’ Hammer gewesen sein. Doch hier unten war die Finsternis gebannt. Auf dem nassen Gestein glitzerte Licht, glänzte, wenn es Gold- oder Silberadern berührte, und beleuchtete vom Wasser geschaffene Steinsäulen, die sich spiralförmig nach oben wanden, um einen gewaltigen Dom voller blinkender, kristalliner Formen zu stützen. Das Licht war strahlend hell, und obwohl sie sich bemühte, konnte Kitiara seine Quelle nicht ausmachen. Es konnte nicht von draußen stammen, denn draußen war die Nacht angebrochen. »Mach dir keine Gedanken darüber«, ermahnte Kit sich
selbst. »Sei einfach dankbar für das Licht. Sonst würdest du für diesen Weg die ganze Nacht brauchen. Es gibt eine Erklärung dafür, es muss eine geben. Vielleicht flüssige Lava wie in Sanction. Ja, das muss es sein.« Was machte es schon, dass dieses Licht nicht schaurig rot war wie die Flammen, die Sanctions raucherfüllten Himmel beleuchteten! Was machte es schon, dass dieses Licht silbergrau, kühl und sanft wie der Mondschein war! Was machte es schon, dass es keine Hitze gab und keinen Hinweis auf einen Lavastrom! Kit akzeptierte ihre eigene Erklärung, und als diese Erklärung nicht mehr zu halten war – weil sie weder auf Lavaströme noch auf blubbernde Magmateiche stieß, als das Licht stärker und heller wurde, je weiter sie in den Berg vordrang –, befahl sich Kitiara, nicht mehr darüber nachzudenken. Es sah beinahe so aus, als hätten die weißgekleideten Gestalten gewusst, dass sie kam, um sie dann tatsächlich so schnell wie irgend möglich zu ihrem Ziel zu führen. »Narren!«, sagte sie sich, kicherte leise und nervös in sich hinein und ging weiter. Der Pfad wand sich weiter um die glitzernden Stalagmiten herum, führte sie von einer Höhle in die nächste und dabei immer tiefer und tiefer unter den Berg. Kein einziges Mal verlosch das Licht; es führte sie immer weiter. Als sie Durst bekam und wünschte, sie hätte daran gedacht, einen Wasserschlauch mitzunehmen, stieß sie auf einen klaren, kalten, sprudelnden Bach, der aussah, als wäre er extra für sie angelegt worden. Aber keine Spur von Eiern, keine Spur von einer Höhle, die groß genug gewesen wäre, Eier oder einen Drachen zu beherbergen. Die Höhlendecke war niedrig. Sie konnte kaum aufrecht gehen. In diesen Teil der
Höhle hätte ein Drache nicht einmal seinen kleinen Zeh quetschen können. Sie war bestimmt schon eine Stunde unterwegs und fragte sich, wie viele Meilen sie wohl schon gelaufen war. Der Weg führte um eine besonders große Felsformation, hinter der sich plötzlich eine scheinbar undurchdringliche, glatte Felswand vor ihr erhob. »Das sieht schon besser aus«, befand Kit, die dankbar und sogar ein wenig erleichtert war, dass ihr der Weg versperrt war. »Ich wusste doch, dass das alles viel zu einfach war.« Sie suchte nach einem Weg durch die Wand und entdeckte schließlich einen kleinen Torbogen, den man in den Fels geschlagen hatte. Ein Tor aus Gold und Silber hinderte sie am Weitergehen. In die Mitte des Tores waren eine Rose, ein Schwert und ein Eisvogel eingelassen. Als Kitiara durch das Tor schaute, sah sie einen düsteren Raum, in dem das Licht feierlich gedämpft war. Es war ein Mausoleum. In der Mitte des Raumes stand ein einzelner Sarkophag. Kitiara sah den weißen Marmor der Grabstätte in dem unheimlichen Licht geisterhaft glitzern. »Na, Kit, jetzt bist du aber am Ende«, sagte sie und lachte über ihren kleinen Scherz. Da sie nicht unbedingt die Totenruhe stören wollte, machte sich Kit daran, einen anderen Weg um die Wand zu suchen. Nach einer halben Stunde brach sie ihre Suche aufgebracht ab. Es konnte doch nicht sein, dass es keine weitere Öffnung, keinen Spalt gab, durch den sie sich quetschen konnte. Sie murmelte, fluchte, stocherte und trat, denn inzwischen war sie wütend, weil ihr der Weg versperrt war.
Sie würde den ganzen Weg zurückgehen und nach einer Abzweigung Ausschau halten müssen, die sie übersehen hatte. Doch sie wusste sehr wohl, dass sie nichts übersehen hatte. Es hatte keine Abzweigungen gegeben. Nicht ein einziges Mal hatte sie anhalten und nachdenken müssen, welchen Weg sie einschlagen sollte. Der Weg hatte geradewegs hierher geführt. Zu dem Grab. Sie musste es näher untersuchen. Wenn sie keinen Weg fand, der daran vorbeiführte, würde sie sich und General Ariakas sagen können, dass sie ihre Pflicht erfüllt hatte. Immolatus würde ihr wahrscheinlich nicht glauben, aber wenn er an ihren Worten zweifelte, konnte er schließlich gern selbst in die Gruft kommen. Kitiara stellte sich in den Torbogen, direkt vor das Tor aus Gold und Silber. Ein Schloss war nicht zu sehen. Das Tor war durch einen kleinen Riegel verschlossen, der leicht anzuheben war. Sie musste nur die Hand ausstrecken. Kitiara streckte die Hand aus, berührte das Tor jedoch noch nicht. Sie wollte sich umdrehen und davonlaufen. Oder, schlimmer noch, sich auf den Boden werfen, zusammenrollen und weinen wie ein Kind. »So ein Unsinn!«, sagte sie streng, um sich wieder wachzurütteln. »Was ist los mit mir? Habe ich etwa Angst, bei Nacht einen Friedhof zu betreten? Mach sofort dieses Tor auf, Kitiara Uth Matar.« Obwohl sie zurückscheute, als ob sie damit rechnete, weiß glühendes Metall zu berühren, hob sie den Riegel an. Auf gut geölten Angeln schwang das Tor lautlos auf. Um sich keine Zeit zum Nachdenken zu lassen, marschierte Kitiara kühn und trotzig in das Mausoleum.
Nichts geschah. Und als nichts geschah, grinste sie erleichtert, verlachte ihre Angst und sah sich eilig um. Das Mausoleum war kreisrund, klein und kuppelförmig. In der Mitte stand der Sarkophag, ansonsten war der Raum leer. Ein Fries, das in die Wand gemeißelt war, zeigte Kriegsszenen: Ritter mit Lanzen, die auf den Rücken von Drachen saßen und andere Ritter bekämpften, Drachen, die gegeneinander kämpften. Kit achtete wenig auf die Bilder. Sie hatte kein Interesse an der Vergangenheit oder an Geschichten über vergangenen Ruhm. Sie musste erst einmal ihren eigenen Ruhm begründen und alles andere zählte nicht. Ihre Suche wurde belohnt. Genau auf der dem Tor gegenüberliegenden Seite befand sich ein zweites, schmiedeeisernes Tor – ein Ausgang. Sie ging an dem Sarkophag vorbei und sah ihn dabei neugierig an. Überrascht blieb Kitiara stehen. Auf dem Sargdeckel lag der ausgestreckte Leichnam von Sir Nigel, dem Geist, den sie im Tempel angetroffen hatte. Kit rang nach Luft, denn die Angst schnürte ihr die Brust zusammen. Sie zwang sich dazu, den Sarg anzusehen, bis ihre Angst zerstob. Sie sah keinen Körper, der bereits zweihundert Jahre lang tot war. Dieser Ritter war aus Stein. Als ihr das Atmen wieder leichter fiel, ging Kit mutig auf den Sarkophag zu. Ihr Irrtum war begreiflich. Es war derselbe altmodische Helm, aus einem Stück wie derjenige, den der Ritter getragen hatte. Auch die Rüstung war bis ins letzte Detail dieselbe. Der Sarg stand offen. Der Marmordeckel war beiseite geschoben.
»Also so ist er herausgekommen«, murmelte sie. »Ich frage mich, was aus der Leiche geworden ist.« Kit warf einen Blick in den Sarg und spähte in den Schatten. Die Ritter von Solamnia bestatteten die Toten oft mit ihren Waffen. Sie hielt es für möglich, hier ein Schwert oder wenigstens einen Zeremoniendolch zu finden. Möglich, aber wenig wahrscheinlich. Das Grab war gähnend leer. Kein Schenkelknochen, nicht einmal ein Fingerknochen war zurückgeblieben. Wahrscheinlich war der Körper zu Staub zerfallen. Kitiara erschauerte. »Je früher ich wieder oben an der frischen Luft bin, desto besser. Jetzt das Tor. Hoffen wir nur, dass es dorthin führt, wo ich hin muss…« »Du brauchst nicht weiterzugehen«, mahnte eine Stimme. »Der Schatz, von dem ich sprach, liegt hier bereit.« »Wo bist du?«, rief Kitiara. »Zeige dich!« Sie hörte einen leisen Aufschrei und nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Instinktiv glitt ihre Hand ans Schwert, und sie stieß einen Fluch aus, als ihre Finger sich um Luft schlossen. Mit dem Rücken zum Sarkophag stellte sie sich dem, was in dem Mausoleum wartete, um sich, wenn nötig, mit Fäusten, Füßen und Zähnen zu verteidigen. Nichts griff sie an. Nichts bedrohte sie. Die Bewegung kam aus einem Teil des runden Raums in der Nähe der zweiten Tür, die aus dem Mausoleum hinausführte. Dort schien ein Körper auf dem Boden zu liegen. Gerade als Kitiara entschieden hatte, dass er tot sein müsste, bewegte er sich und stöhnte vor Schmerzen. »Sir Nigel?«, zischte Kitiara. Keine Antwort. Kitiara war erbost. Gerade jetzt, da es so aussah, als näherte sie sich dem Ende ihrer Suche, stieß sie auf ein weiteres Hindernis.
»Hör mal, es tut mir Leid«, sagte sie zu der Person, »aber ich fürchte, ich kann einfach nichts für dich tun. Ich habe einen eiligen Auftrag und nicht viel Zeit. Ich schicke dir jemanden…« Die Person stöhnte wieder. Entschlossen hielt Kitiara auf die Tür zu. Auf halbem Wege fielen ihr die Worte des Ritters ein. Der Schatz war hier. Vielleicht hatte diese Person ihn vor ihr gefunden. Kit wich vom Weg ab, obwohl sie dabei scharf nach Feinden Ausschau hielt, weil sie fürchtete, es könnte sich um eine Falle handeln. Schnell lief sie zu der Stelle, wo der zusammengekrümmte Körper auf dem Boden lag, und kniete sich daneben. Es war eine Frau, wie Kit erstaunt feststellte. Sie trug schwarze, hautenge Kleider, wie man sie unter einer Metallrüstung anlegte. Sie lag auf dem Bauch und presste das Gesicht auf den Steinboden. So wie sie aussah, hatte sie einen entsetzlichen Kampf hinter sich. Lange, blutige Hiebe hatten ihre Kleider zerfetzt. Ihre schwarzen Locken waren vom Blut verfilzt. Unter ihrem Bauch hatte sich eine große Blutlache gebildet. Daraus und aus der aschfahlen Haut der Frau schloss Kit, dass sie dem Tode nahe war. Kitiara suchte, fand jedoch keinen Schatz. Enttäuscht wollte sie schon aufstehen, hielt jedoch inne, um die Sterbende näher anzusehen. Etwas an ihr kam ihr bekannt vor. Kit streckte die Hand aus, um die Haare beiseite zu streifen, damit sie das Gesicht besser sehen konnte. Ihre Finger berührten… Kurz geschnittene schwarze Locken. Die Haare, die Kit berührte, hatte sie schon viele, viele Male berührt. Es waren
ihre eigenen. Kit riss die Hand zurück. Ihr Mund wurde trocken und ihr Atem stockte. Vor Entsetzen konnte sie weder denken noch sich rühren. Es waren ihre Haare. Es war ihr Gesicht. »Ich habe dich immer geliebt, Halbelf«, flüsterte die Sterbende. Es war ihre Stimme. Kitiara sah sich selbst verwundet und sterbend daliegen. Kit sprang auf und lief davon. Sie rannte gegen das Eisentor, warf sich dagegen, trommelte mit den Fäusten darauf ein, als es nicht aufging. Der Schmerz in ihren geschundenen Händen brachte sie wieder zu sich. Die Finsternis, die vor ihre Augen getreten war, verzog sich. Sie sah, dass das Tor einen Griff hatte, und mit einem Seufzer der Erleichterung griff sie zu und drückte ihn. Das Schloss klickte. Sie schob das Tor auf, rannte hindurch und schlug es mit aller Kraft hinter sich zu. Draußen lehnte sie sich gegen das Tor, denn sie konnte sich vor lauter Angst nicht mehr rühren. Japsend wartete sie ab, bis ihr Herzschlag sich beruhigte, der Schweiß auf ihren Handflächen trocknete und ihre Beine zu zittern aufhörten. »Das war ich!«, keuchte sie schaudernd. »Das da drin war ich. Und ich lag im Sterben. Ein schrecklicher Tod, so viele Schmerzen… ›Ich habe dich immer geliebt‹ … Meine Stimme! Meine Worte!« Kitiara vergrub ihr Gesicht in beiden Händen, denn ein solches Entsetzen hatte sie noch nie verspürt. »Nein! Bitte, nicht! Ich… ich…« Kit holte tief Luft. »Wie dumm ich bin!« Immer noch zitternd sackte sie gegen die Tür. Sie verpasste sich im Geiste eine Ohrfeige, um diese Visionen zu vertreiben – Spinne-
reien, Wachträume… »Das war nicht wahr! Es kann gar nicht wahr sein.« Sie seufzte, schluckte und schluckte dann noch einmal. Ihr Mund war wieder feucht und damit kam der bittere Nachgeschmack des Schreckens. »Ich bin müde. Ich habe schlecht geschlafen. Wer nicht schläft, fängt an, Dinge zu sehen. Denk nur an Harwood damals in den Staubebenen, als wir gegen die Goblins kämpften! Drei Nächte ist er durchmarschiert, dann randalierte er im Lager und kreischte, er hätte Schlangen in den Haaren.« Kitiara lehnte am Tor und wiegte ihren fröstelnden Körper, während sie versuchte, die Erinnerung an den Traum zu verdrängen. Es musste ein Traum sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. »Wenn ich wieder reingehen würde«, sagte sie sich, »wäre da gar nichts. Keine Leiche. Nichts. Genau das. Nichts.« Aber sie ging nicht wieder hinein. Kitiara holte tief Luft, und als sie merkte, dass der Schrecken verblasste, schüttelte sie die unbegründete Angst ab und sah sich um. Sie stand in einer großen Höhle, einer gigantischen Höhle. Am anderen Ende der Höhle schimmerte es – wie Fackellicht, das auf Haufen von Silber und Gold fällt. »Na, das ist doch schon besser«, stellte Kitiara fest, die nun viel fröhlicher wurde. »Ich glaube, jetzt komme ich doch noch irgendwohin.« Sie eilte auf das Leuchten zu, denn sie war glücklich, ein Ziel zu haben, und überglücklich, diese unselige Kammer hinter sich gelassen zu haben. Der Höhlenboden war glatt, die Höhle selbst geräumig.
Immolatus hätte in seiner Drachengestalt hineingepasst und noch zwei bis drei große rote Freunde dazu einladen können. Wenn es einen idealen Ort gab, wo Drachen ihre Eier verstecken konnten, dann hier. Aufgeregt begann Kitiara zu rennen. Das Blut wurde durch ihren Körper gepumpt und brachte die Wärme in ihre tauben Hände und Füße zurück. Sie erreichte ihr Ziel zwar keuchend, fühlte jedoch frischen Mut. Und Triumph. In einem Alkoven der Höhle lagen Hunderte von Eiern. Riesige Eier. Jedes Ei war so groß wie Kitiara – oder noch größer – und so dick, dass sie mit ausgebreiteten Armen nur einen kleinen Teil der Schale hätte umfassen können. Einige der Eier strahlten ein goldenes Licht aus, andere leuchteten silbern. Es waren sehr viele. Kitiara wusste nicht, wo sie mit dem Zählen beginnen sollte, doch zählen musste sie sie. Eine Aufgabe, die zäh und langweilig werden würde. Dennoch freute sie sich darauf. Die Eier zu zählen und ihren Fundort so aufzuzeichnen, dass man sie wiederfinden konnte, würde Konzentration erfordern und damit garantiert die letzten Reste des Schreckens vertreiben, der ihren Geist umfangen hatte. Gerade als sie zu dieser befriedigenden Schlussfolgerung gekommen war, fühlte sie einen Hauch frischer Luft, der ihre Wange berührte. Sie atmete tief ein. Ein großer Tunnel, groß genug für einen Drachen, führte zu dem geheimen Ausgang, nach dem Immolatus gesucht hatte: einem riesigen Loch in der Bergflanke, das von außen durch ein Fichtenwäldchen vollkommen verdeckt war. Nachdem Kitiara sich einen Weg zwischen den Bäumen hindurch gebahnt hatte, trat sie auf einen breiten Felsvor-
sprung hinaus. Sie sah in den Nachthimmel hoch, der mit Rauch verhangen war, und hinunter auf die dem Untergang geweihte Stadt Hoffnungsende. Es musste ungefähr Mitternacht sein. Zeit genug, um ihre Arbeit zu Ende zu bringen und zum Lager von Kommandant Kholos hinunterzusteigen. Kitiara kehrte zu der Höhle mit den Eiern zurück, die ausreichend Licht abgaben, damit sie sehen konnte. Dankbar, dass sie etwas zu tun hatte, ging sie an die Arbeit. Kit zog das kleine, ledergebundene Buch hervor, das Immolatus ihr gegeben hatte, und suchte, bis sie einen Brocken Sandstein gefunden hatte, den sie wie Kreide verwenden konnte. Zuerst zeichnete sie eine Karte von der Lage des versteckten Eingangs, bei der sie möglichst genau berechnete, wie weit sie von den Stadtmauern und anderen Anhaltspunkten entfernt war, damit Kommandant Kholos die Höhle finden konnte, ohne durch den Tempel zu gehen. Wie er die Eier den Berg hinuntertransportieren wollte, war ihr ein Rätsel, denn der Weg war steil. Doch der Königin der Finsternis sei Dank, das war nicht ihre Sache. Ihre Arbeit war beendet. Nachdem die Karte fertig war, stand sie auf und betrat die Höhle mit den Eiern, eine Höhle, die in goldenes und silbernes Licht getaucht war, das Licht der ungeborenen Drachen, deren Seelen zwischen den Sternbildern spielten und durch den Äther tanzten. Was würde aus jenen Seelen werden, die nie geboren werden würden? Kit zuckte mit den Schultern. Auch das war nicht ihre Sache. Sie betrachtete die Eier und hielt es für das Beste, sie rei-
henweise zu zählen, um nicht die Übersicht zu verlieren. Nachdem sie auf einen Absatz geklettert war, von dem aus sie die Höhle überblicken konnte, breitete Kitiara das Buch auf ihrem Schoß aus. »Du hast den Schatz gefunden«, stellte eine Stimme hinter ihr fest. Kitiara schlug hastig das Buch zu, bedeckte es mit ihrer Hand und drehte sich um. »Sir Nigel«, sagte sie. »Also hierher habt Ihr Euch verzogen. Und der Schatz – hah! Ich habe bloß das hier gefunden, was auch immer das ist. Eier, vermute ich. Groß, was? Geben ein fettes Omelett ab. Fett genug für eine ganze Armee. Was glaubt Ihr, was für ein Geschöpf die gelegt hat?« »Das ist nicht der Schatz«, widersprach der Ritter. »Der Schatz war in dem Mausoleum, ein Schatz, den Paladin dort hinterlassen hat.« Kitiara brachte ein zitterndes Grinsen zustande. »Sagt diesem Paladin, dass ich Rubine und Smaragde vorziehe.« »Du hast deinen Tod gesehen. Einen schrecklichen Tod. Aber noch kannst du dein Schicksal ändern«, fuhr Sir Nigel fort. »Deshalb wurde dir die Zukunft enthüllt. Du hast die Macht, sie zu ändern. Lass deine Aufgabe hier unvollendet. Wenn du das tust, ist es ein erster Schritt, um zu ändern, was sonst kommen muss.« Kitiara war müde und hungrig. Die Verbrennung an ihrer Hand tat weh und sie wollte nicht an den schrecklichen Anblick in dem Mausoleum erinnert werden. Sie hatte zu tun und dieser verdammte Geist hinderte sie daran. Sie wandte ihm den Rücken zu und beugte sich über ihr Buch. »He, ich glaube, Euer Gott hat Euch gerufen. Vielleicht solltet Ihr lieber mal nachsehen.«
Sir Nigel antwortete nicht. Kit warf einen Blick über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass er fort war. Nachdem sie den Geist und seinen »Schatz« aus ihren Gedanken verbannt hatte, machte sie sich ans Eierzählen.
7. Kapitel »Roter! Ruft den Roten!« Raistlin war in seinem Zelt und nutzte ein paar ruhige Augenblicke am späten Abend, um in dem Buch über Magus weiterzulesen. Raistlin hatte das Buch einmal ganz studiert, doch einzelne Abschnitte waren noch unklar – stellenweise war die Handschrift des Chronisten sehr unleserlich. Jetzt ging Raistlin das Buch noch einmal Zeile für Zeile durch und fertigte eine Abschrift an, in der er später nachschlagen konnte. »Horkin wartet auf Euch«, sagte einer der Soldaten, der jetzt seinen Kopf ins Zelt streckte. »Er ist im Zauberzelt.« »Ihr habt nach mir geschickt?«, fragte Raistlin, sobald er das Zelt betreten hatte. »Bist du das, Roter?« Horkin sah nicht auf. Er war in seine Arbeit vertieft, denn er erhitzte gerade ein Gebräu in einem kleinen Topf, der an einem Dreifuß über einem Holzkohlebecken hing. Er schnupperte, runzelte die Stirn und streckte die Spitze seines kleinen Fingers in den Topf. Kopfschüttelnd rührte er die Mischung um. »Nicht heiß genug.« Ungeduldig starrte er den Topf an. »Ihr habt nach mir geschickt, Sir«, wiederholte Raistlin. Horkin nickte, sah ihn aber immer noch nicht an. »Ich weiß, dass es spät ist, Roter, aber ich habe einen Auftrag für dich. Ich glaube, der wird dir sogar gefallen. Interessanter als meine Socken.« Er warf einen Seitenblick auf Raistlin, der vor Verlegenheit rot wurde. Es stimmte, er war unendlich enttäuscht und verärgert gewesen, als er niedere Tätigkeiten für das Lager hatte durchführen müssen, Tätigkeiten, die selbst ein
Gossenzwerg geschafft hätte: Leinen für Verbände waschen, es zuschneiden, Taschen mit Kräutern und Blüten zählen, auf eine stinkende Brühe aufpassen, die über dem Kohlebecken köchelte. Horkins Socken zu stopfen war das letzte Zupfen am Zwergenbart gewesen. Horkin war kein großer Näher, und als er entdeckte, dass Raistlin auf diesem Gebiet ein gewisses Talent hatte – ein Talent aus jenen mageren Tagen, als er und sein Bruder sich als Waisen auf eigene Faust hatten durchschlagen müssen –, hatte Horkin Raistlin diese lästige Pflicht übertragen. Raistlin hatte sich eingebildet, diese unangenehmen Aufgaben ohne verräterisches Wimpernzucken ausgeführt zu haben. Anscheinend nicht. »Kommandant Morgon sagt, es gäbe eine Rote Robe bei der Armee unserer Verbündeten. Morgon hat einen Blick auf sie erhascht, als er durch das Lager lief.« »Wirklich, Sir?« Raistlin war tatsächlich neugierig. »Ich dachte, es könnte dir gefallen, ein wenig mit dem anderen Zauberer zu handeln, wenn du nicht zu müde bist.« »Ich bin überhaupt nicht müde, Sir.« Diesen Auftrag nahm Raistlin viel beglückter an als alle, die er bisher erhalten hatte. »Was soll ich denn zum Tausch anbieten?« Horkin rieb sein Kinn. »Darüber habe ich schon nachgedacht. Wir haben doch diese Spruchrollen, die wir beide nicht lesen können. Vielleicht kann dieser Magier etwas damit anfangen. Zeig ihm nur nicht, dass wir nicht wissen, was drin steht. Wenn er glaubt, wir können sie nicht lesen, wird er sie als Müll verwerfen, und wir bekommen nicht einmal ein gesprungenes Amulett dafür.« »Verstehe, Sir«, nickte Raistlin. Seine Scham darüber,
dass er die Schriftrollen nicht hatte lesen können, saß tief. »Wo wir bei Amuletten sind – ich habe diese Kiste mit den Sachen dabei, die du sortiert und beschriftet hast. Ist da etwas dabei, was etwas wert ist?« »Das weiß man nie, Sir«, erwiderte Raistlin. »Dass wir etwas für wertlos halten, heißt nicht, dass kein anderer Zauberer es gebrauchen kann. Jedenfalls«, fügte er durchtrieben hinzu, »kann ich andeuten, dass sie mehr wert sind, als man denkt. Ich bin schließlich Euer Lehrling. Ihr würdet mir solche magischen Gegenstände bestimmt nicht anvertrauen, wenn ich ihre wahre Macht kennen würde.« »Ich wusste, dass du für diese Sache der Richtige bist«, strahlte Horkin entzückt. »Nimm sicherheitshalber noch ein paar von unseren Heilsalben mit. Und das hier, aber zeige es nicht so offen.« Horkin reichte ihm einen Beutel voller Münzen. »Wenn er etwas wirklich Wertvolles hat und nicht tauschen will, kannst du in Stahl bezahlen. So, was brauchen wir denn nun?« Die beiden gingen durch, welche Magie sie bereits besaßen, überlegten, was fehlte, debattierten darüber, was nützlich wäre und wie viel Raistlin dafür zahlen dürfte. »Fünf Stahlstücke für eine Spruchrolle, zehn für einen Trank, zwanzig für ein Zauberbuch und fünfundzwanzig für einen magischen Gegenstand. Das ist die Obergrenze«, legte Horkin fest. Raistlin hielt dagegen, dass sein Meister die aktuellen Preise nicht kenne, doch Horkin gab nicht nach. So konnte Raistlin nur zustimmen, obwohl er insgeheim beschloss, einen Teil seines eigenen Geldes mitzunehmen, um selbst weiterzuhandeln, wenn er etwas entdeckte, das teurer war als das, was Horkin zu zahlen bereit war.
»Ah, es ist fertig!«, stellte Horkin mit einem zufriedenen Blick in den Topf fest, dessen Inhalt jetzt blubberte. Er wickelte ein Tuch um den Griff, hob den Topf vom Feuer und goss den Inhalt vorsichtig in ein großes Tongefäß. Anschließend verschloss er das Gefäß mit einem Korken, wischte die Seiten ab und stellte es in einen Korb. Den Korb reichte er Raistlin. »Da, bring das der Roten Robe. Der beste Aufhänger für einen Handel, den es je gegeben hat.« »Was ist das, Sir?«, fragte Raistlin befremdet. Er hatte nur einen kurzen Blick auf die Brühe erhascht – eine Art trübe Flüssigkeit mit weißlichen Klumpen darin. »Ein Trank?« »Huhn und Klößchen für ihn zum Abendessen«, strahlte Horkin. »Mein eigenes Rezept. Lass ihn davon probieren, und er gibt dir seine Unterhosen, wenn du die willst.« Liebevoll tätschelte er das Gefäß. »Den Zauberer, der meinem Huhn mit Klößchen widerstehen kann, möchte ich sehen.«Beladen mit magischen Gegenständen, Spruchrollen, dem Gefäß voll Hühnerbrühe sowie zahlreichen Tiegeln mit Salben und Tinkturen und einer Flasche Honigwein, um den Zauberer zum »Ja«-Sagen zu bewegen, verließ Raistlin das Lager des Barons und lief zu den Zelten ihrer Verbündeten. Horkin dachte nicht daran, dem jungen Magier eine bewaffnete Eskorte zu stellen, was er vielleicht getan hätte, wenn er am Nachmittag den vollen Bericht von Kommandant Morgon über das, was er und der Baron im Lager dieser Verbündeten gehört und gesehen hatten, mitbekommen hätte. So aber nahm Raistlin nur den Stab des Magus als Lichtquelle und sein kleines, verborgenes Messer zum Schutz mit. Schließlich glaubte er sich unter Freunden. Zuerst traf er auf die Linie der Vorposten der verbünde-
ten Armee. Die Soldaten betrachteten ihn mit sichtlichem Argwohn, doch inzwischen war Raistlin an die finsteren Blicke gewöhnt und wusste, wie er mit der Situation umzugehen hatte. Wahrheitsgemäß brachte er sein Anliegen vor – er wollte eine Rote Robe besuchen, weil er an Tauschgeschäften interessiert wäre. Zuerst hatten die Soldaten keine Ahnung, wovon er redete. Eine Rote Robe? Davon wussten sie nichts. Dann erinnerte sich einer daran, dass an diesem Abend eine Rote Robe wie aus dem Nichts im Lager aufgetaucht war. Ein unangenehmer Kerl, dem alle aus dem Weg gingen, wie der Soldat sagte. Sie hatten daran gedacht, ihm die Kehle durchzuschneiden, aber er hatte so etwas an sich… Die Rote Robe hatte darauf bestanden, bei Kholos vorgelassen zu werden, und da der Zauberer allen so unheimlich war, hatte man ihn sofort zum Kommandanten geführt. Danach hatten sie der Roten Robe ein Zelt aufgebaut und ihn behandelt, als wäre er der lange verschollene Schwiegersohn des Kommandanten. Nach einem flüchtigen Blick auf das, was er bei sich hatte – niemand wollte Zauberwaren zu genau betrachten –, führten die Soldaten Raistlin durch die Linien. Einige gaben offen zu verstehen, dass sie nichts dagegen hätten, wenn Raistlin den Korb dalassen und die Rote Robe mitnehmen würde. Anscheinend wurde dieser Kriegszauberer – im Gegensatz zu dem beliebten Horkin – von seinen Kameraden wenig geschätzt. »Aber das werde ich schließlich auch nicht«, sagte sich Raistlin, der weiter durch das Lager der Verbündeten lief. Er sah das Strafkommando, verstand jedoch nicht, was hier vorging. Obwohl er die reglosen Männer auf dem Boden liegen sah, nahm er an, dass es sich nur um eine Art
merkwürdiger Übung handelte, wie sie unter Soldaten üblich war, und ging ohne einen zweiten Blick vorbei. Die Leichen am Galgen sah er nicht, doch nach allem, was er an militärischer Härte erlebt hatte, hätte ihn nicht einmal das überrascht. Er fragte sich zum Zelt des Kriegszauberers durch. Man zeigte es ihm nur ungern, und ein Mann fragte ihn offen, ob er sicher sei, dass er etwas mit dem Zauberer zu tun haben wollte. Alle, die von ihm sprachen, schienen unangenehm berührt zu sein und sich zu fürchten. Raistlins Respekt vor dieser Roten Robe wuchs. Schließlich fand Raistlin das Zelt des Zauberers, das ein Stück abseits von denen des Lagers stand. Es war groß und zweckmäßig. Raistlin blieb davor stehen und atmete einmal tief durch, um seine Aufregung und Erwartung zu dämpfen. Gleich würde er einem echten Kriegszauberer begegnen, einer Roten Robe seines Ordens, vielleicht von hohem Rang. Einem Zauberer, der vielleicht einen Lehrling suchte. Raistlin würde Horkin nicht gleich verlassen, schließlich war er durch Vertrag und Ehre gebunden, seine Zeit bei dem Baron abzuleisten. Aber immerhin konnte er sich hier vorstellen und den Zauberer womöglich für sich einnehmen. Wer konnte das schon wissen? Vielleicht würde diese Rote Robe so beeindruckt sein, dass sie Raistlin sofort aus seinem Vertrag freikaufen und ihn gleich aufnehmen würde. Die Jugend braucht ihre Träume. Als Raistlin durch den Schlitz der Zeltklappe spähte, erhaschte er im Licht eines Dochtes, der in einer Schale mit parfümiertem Öl schwamm, nur einen Blick auf etwas Rotes. Er hörte ein Geräusch, das sich wie zischender Atem anhörte. Inzwischen hatte er seine Haltung wiedergewon-
nen und war in der Lage, kühl, fähig und professionell aufzutreten. Raistlin schob den Korb mit Huhn und Klößchen auf den Arm, der auch den Stab des Magus hielt, und klopfte mit der freien Hand an den Zeltpfosten. »Bist du das, Wurm?«, erklang eine tiefe Stimme aus dem Zelt. »Wenn ja, dann hör auf, an dem Zelt zu rütteln, komm rein und erstatte mir Bericht. Was hast du in dem verdammten Tempel gefunden?« Raistlin war in einer äußerst unangenehmen Situation. Er musste zugeben, dass er nicht der erwartete »Wurm« war, und sich nach dieser unangenehmen Überraschung vorstellen. Noch schlimmer war, dass er merkte, wie seine Lunge sich zusammenzog. Verzweifelt versuchte er, mit einem kurzen, harten Husten seine Kehle zu befreien, und beschloss, so zu tun, als hätte er nichts gehört. »Verzeiht, wenn ich Euch störe, Meister«, rief er. Dankbar fühlte er, dass das Brennen in seiner Lunge nachließ. »Mein Name ist Raistlin Majere. Ich bin ein Zauberer der Roten Roben und stehe im Dienst der Armee von Baron Ivor Langbaum. Ich habe einige Spruchrollen, magische Gegenstände und Tränke bei mir und bin gekommen, um zu fragen, ob Ihr vielleicht an einem Tauschgeschäft interessiert wärt.« »Geh zum Abgrund.« Erheblich erschüttert über diese rüde Bemerkung starrte Raistlin den Zeltpfosten sprachlos an. Er hatte vieles erwartet, aber nicht so etwas. Noch nie war er einem Zauberer begegnet, der eine Gelegenheit, neue Magie zu erwerben, verstreichen ließ – nicht einmal der großmächtige Par-Salian würde so etwas tun. Schon die Neugier hätte jeden Zauberer, den Raistlin
kannte, aus dem Zelt gelockt, um die Spruchrollen und magischen Gegenstände in Augenschein zu nehmen. Vielleicht hatte diese Rote Robe nichts zum Tausch anzubieten. Aber der Mann müsste doch wenigstens Interesse an dem zeigen, was Raistlin mitgebracht hatte. Raistlin riskierte einen Blick ins Zelt, weil er den Zauberer zu sehen hoffte. Die Rote Robe hatte sich anscheinend in ihrem Stuhl zurückgelehnt, denn sie war in den Schatten untergetaucht. »Vielleicht habt Ihr mich nicht recht verstanden, Meister«, setzte Raistlin mit allergrößtem Respekt wieder an. »Ich habe viele magische Gegenstände dabei, von denen einige ziemlich mächtig sind, deshalb hoffte ich, dass Ihr – « Er hörte ein Geräusch, als ob ein Kessel überkocht, ein wütendes Rascheln von Roben, und plötzlich wurde die Zeltklappe aufgerissen. Das Gesicht einer zornbebenden Gestalt mit funkelnden roten Augen tauchte am Zelteingang auf. Der Zorn traf Raistlin wie ein heißer Windstoß und ließ ihn einen Schritt zurückweichen. »Lass mich in Ruhe«, fauchte die Rote Robe, »oder, bei der Königin der Finsternis, ich blase dich persönlich in den Abgrund – « Die roten Augen der Roten Robe weiteten sich vor Schreck. Der wütende Fluch auf ihren Lippen erstarb. Der Zauberer starrte nicht Raistlin, sondern den Stab in dessen Händen an. Raistlin hingegen starrte den Zauberer an. Keiner von beiden sprach ein Wort, beide waren fassungslos, weil jeder etwas sah, das er nicht erwartet hatte. »Was glotzt du mich so an?«, schimpfte der Zauberer. »Dasselbe könnte ich Euch fragen, Sir!«, erwiderte
Raistlin erschüttert. »Ich starre nicht dich an, Wurm«, grollte Immolatus, und das stimmte sogar. Den Menschen hatte er kaum eines Blickes gewürdigt. Der Blick des Drachen hing an dem Stab. Immolatus’ erster, drachenhafter Impuls war, sich den Stab einfach zu schnappen und den Menschen einzuäschern. Seine Finger zuckten schon, und die Worte des Spruchs brannten in seiner Kehle und auf seiner Zunge. Mühsam widerstand er diesem Drang. Der Tod des Menschen würde ungewollte Aufmerksamkeit erregen, mühselige Ausreden nach sich ziehen und einen schwarzen Fettfleck auf dem Boden vor dem Zelt hinterlassen. Das Wichtigste an der Entscheidung, den Menschen am Leben zu lassen – wenigstens vorläufig –, war die Neugier des Drachen, was den Stab betraf. Ein Fettfleck im Gras konnte nicht mehr sprechen. Zu seinem großen Verdruss stellte Immolatus fest, dass er auf die Fragen, die ihm auf der Seele brannten, nur Antworten erhalten würde, wenn er tatsächlich – wie nannte Uth Matar das immer? – »diplomatisch« war. Er würde diplomatisch mit dem Menschen umgehen müssen. Was nicht gerade einfach war, denn Immolatus wollte ihn eigentlich am liebsten zerreißen, ihm das Gehirn herausziehen und mit einer scharfen Vorderklaue darin herumwühlen. »Komm lieber rein«, murmelte Immolatus und hielt das wirklich für eine freundliche Einladung. Raistlin blieb, wo er war – draußen vor dem Zelt. Er hatte sich an seine verfluchten Augen gewöhnt, welche die Welt nur durch einen Zauber wahrnahmen, der alle Dinge so zeigte, wie die Zeit sie verändern würde. Er sah Jugend
welken, sah Schönheit zu Staub zerfallen. Wenn er diesen Mann ansah, der vielleicht Anfang vierzig war, hätte Raistlin sehen müssen, wie die Rote Robe runzlig und alt wurde. Was er jedoch erblickte, war ein verschwommenes Bild, zwei Gesichter statt einem – zwei Gesichter in einem unscharfen Bild, als hätte es der Künstler allen Farben gestattet, ineinander zu fließen. Ein Gesicht war das eines Menschenzauberers. Das andere war schwerer zu erkennen, aber Raistlin hatte einen flüchtigen Eindruck von Rot, lebhaftem Rot, glitzerndem Rot. Der Mann hatte etwas Reptilienartiges an sich, das von seinem zweiten Gesicht ausging. Raistlin hatte das Gefühl, es deutlich erkennen zu können, wenn er sich nur auf dieses zweite Gesicht hätte konzentrieren können. Doch jedes Mal, wenn er es versuchte, verschmolz das zweite Gesicht mit den Zügen des ersten. Zwei Gesichter, bemerkte er, doch beide betrachteten ihn mit einem einzigen Paar rot glühender Augen. Der Mann war gefährlich, aber das waren schließlich alle Zauberer. Vorsichtig nahm Raistlin die Einladung an – aus genau demselben Grund, aus dem er eingeladen worden war. Neugier. Die Rote Robe war groß und dünn und trug edle, teure Kleider. Der Zauberer ging zu einem kleinen Feldtisch, setzte sich auf einen Faltstuhl und zeigte abrupt auf den Tisch. Seine Bewegungen waren gleichermaßen geschmeidig wie ungelenk, ganz wie das verschwommene Doppelbild seines Gesichts. Kleine Bewegungen – das Zucken der langen Finger zum Beispiel oder ein leichtes Kopfneigen – geschahen leicht und fließend. Größere – wie sich auf den Stuhl setzen – geschahen umständlich, als wäre er sie nicht
gewöhnt und müsse über das, was er tat, nachdenken. »Mal sehen, was du mitgebracht hast«, meinte Immolatus. Raistlin war so damit beschäftigt, dieses Rätsel zu lösen, dass er nicht reagierte. Er blieb stehen und starrte den Zauberer an, wobei er den Korb, die Spruchrollen und seinen Stab umklammerte. »Warum beim Abgrund siehst du mich mit deinen komischen Augen so an?« wollte Immolatus verärgert wissen. »Willst du nun handeln oder nicht? Zeig mal her, was du hast.« Er tippte ungeduldig mit dem langen, scharfen Nagel eines Fingers auf den Tisch. In Wahrheit gab es nur einen Gegenstand im Zelt, an dem Immolatus wirklich interessiert war, und das war der Stab. Aber er musste zuerst noch einiges über ihn herausfinden, insbesondere, ob der Mensch überhaupt über das, was er da besaß, etwa wusste. Wenn man ihn so ansah, konnte das nur wenig sein. Jedenfalls nicht so viel wie der erste Mensch mit diesem Stab, den Immolatus kennen gelernt hatte. Bei der Erinnerung knirschte Immolatus mit den Zähnen. Raistlin senkte den Blick und überhörte die beleidigende Bemerkung über seine Augen. Er hätte durchaus selbst ein paar treffende Bemerkungen über das Erscheinungsbild dieses Mannes machen können, ließ es jedoch bleiben. Der Zauberer war älter und erfahrener als er, daran bestand kein Zweifel. Raistlin hatte das Gefühl, inmitten eines wahren Wirbelsturms magischer Macht zu stehen. Ringsumher wogte, knisterte und funkelte die Magie und all diese Macht ging von diesem Mann aus. Etwas Derartiges hatte Raistlin noch nie erlebt, nicht einmal in Gegenwart des O-
berhauptes der Versammlung. Er war gedemütigt, neiderfüllt und entschlossen, von diesem Mann zu lernen oder bei dem Versuch zugrunde zu gehen. Um beide Hände frei zu haben, damit er seine Tauschwaren ablegen konnte, lehnte Raistlin den Stab des Magus an den kleinen Feldtisch. Immolatus’ Hand schoss quer über den Tisch darauf zu. Raistlin sah die Bewegung und setzte schnell den Korb ab. Er ergriff den Stab und drückte ihn eng an seinen Körper. »Ein schöner Wanderstab«, bemerkte Immolatus, der seine Zähne zu einem – wie er meinte – entwaffnend freundlichen Lächeln verzog. »Woher hast du ihn?« Raistlin hatte nicht die Absicht, über den Stab zu sprechen, deshalb tat er, als hätte er nichts gehört. Ohne den Stab wegzulegen, breitete er die Spruchrollen und die magischen Gegenstände aus und stellte die Gläser mit den Tränken dazu, ganz wie ein Krämer auf dem Markt. »Wir haben einige sehr interessante Dinge, Sir. Hier ist eine Spruchrolle, die wir von einer Schwarzen Robe erbeutet haben, die höchstwahrscheinlich von sehr hohem Rang war, und hier ist – « Immolatus streckte den Arm aus und fegte alles – Spruchrollen, Tränke, Korb und Gefäß – vom Tisch. »Es gibt nur einen magischen Gegenstand, an dem ich interessiert bin«, sagte er mit einem Blick auf den Stab. »Das ist ein magischer Gegenstand, den ich gewiss nicht tauschen möchte, Sir«, wehrte Raistlin ab, der den Stab so fest hielt, dass die Muskeln seiner Hand und seines Unterarms vor Anstrengung zu schmerzen begannen. »Unter dem Rest sind ein paar ziemlich mächtige – «
»Pah!« Immolatus kochte. Um sich aufzurichten, verdrehte er den Körper, anstatt sich hinzustellen. »Ich habe mehr Macht in meinem kleinen Finger, als in einer dieser lächerlichen Kleinigkeiten steckt, die du mir frecherweise andrehen willst. Abgesehen von dem Stab. An diesem Stab wäre ich möglicherweise interessiert. Wie bist du an ihn gekommen?« Die Wahrheit lag Raistlin bereits auf der Zunge – mit einigem Stolz zu erklären, dass der Stab ein Geschenk des großen Par-Salian war. Sein angeborener Hang zur Heimlichtuerei ließ ihn jedoch stocken. Wenn er den Stab als Geschenk vom Oberhaupt der Versammlung preisgab, würden weitere Fragen und Kommentare folgen, die den Wert des Stabs in den Augen dieses Zauberers womöglich noch steigerten. Raistlin wollte mit diesem Zauberer nichts mehr zu tun haben. Er wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden. »Der Stab ist schon seit Generationen in meiner Familie«, sagte er, während er sich rückwärts auf die Zeltklappe zubewegte. »Deshalb, versteht Ihr, bin ich durch Familientradition und Ehre verpflichtet, mich nicht von ihm zu trennen. Da es so aussieht, als kämen wir nicht ins Geschäft, Sir, wünsche ich Euch eine gute Nacht.« Rein zufällig hatte Raistlin das Richtige gesagt und damit möglicherweise sein Leben gerettet. Immolatus zog sofort den Schluss, dass Raistlin ein Nachkomme des mächtigen Zauberers Magus war. Magus musste seinen Nachkommen schriftliche Aufzeichnungen über die Kräfte des Stabs hinterlassen oder sie wenigstens mündlich darüber informiert haben. Jetzt, da Immolatus den jungen Mann betrachtete, schien er tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ver-
fluchten Magus seiner Erinnerung zu haben. Denn Magus war es gewesen, der den roten Drachen Immolatus besiegt hatte. Magus und die magische Kraft eben dieses Stabs hatten Immolatus fast umgebracht und ihm schwere Wunden zugefügt, die zwar geheilt waren, ihm jedoch immer noch Schmerzen bereiteten. Jahrhundertelang hatte Immolatus von diesem Stab und seiner flammenden, blendenden, sengenden, tödlichen Magie geträumt. Für diesen Stab hätte er seinen gesamten verlorenen Schatz gegeben, um ihn zu packen, zu halten, zu genießen und dann damit auf seine Feinde loszugehen. Er wollte sie mit ihm erschlagen, wie er selbst beinahe erschlagen worden wäre. Wollte den Nachfahren von Magus erschlagen. In seinem armseligen Menschenkörper konnte Immolatus nicht gegen den Erben des Stabs kämpfen. Er dachte daran, wieder Drachengestalt anzunehmen, entschied sich jedoch dagegen. Er würde sich an allen rächen, die ihm Unrecht getan hatten – den goldenen Drachen und den silbernen, seiner doppelzüngigen Königin und jetzt Magus. Jahr um Jahr hatte der Drache auf diese Rache gewartet, ein paar weitere Tage waren nur Wassertropfen in dem Ozean des Wartens. »Du hast deine Ware vergessen, Trödler«, mahnte Immolatus mit vernichtendem Blick auf die magischen Kleinodien, die zu seinen Füßen verteilt lagen. Raistlin hatte nicht vor, auf dem Boden herumzukriechen, um die Spruchrollen, die Tiegel und die Ringe aufzulesen und sich dadurch angreifbar zu machen. »Behaltet sie, Sir. Wie Ihr schon sagtet, sie sind nicht viel wert.«
Raistlin verneigte sich kurz vor dem Zauberer, nicht nur aus Höflichkeit, sondern weil er die Verbeugung als Vorwand benutzen konnte, das Zelt geschickt zu verlassen, ohne dem Zauberer den Rücken zuzudrehen. Immolatus zeigte keine Reaktion, sondern sah Raistlin – oder eher dessen Stab – aus roten Augen nach. Sein Blick war wie ein Kristall, der die Energie der Sonne auf einen Strohhalm bündelt – er hätte den Stab in Brand setzen können. Raistlin ging mit schnellen Schritten vom Zelt weg, ohne unterwegs viel zu sehen oder auf die Richtung zu achten, die er einschlug. Er wollte nur so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den unheimlichen Mann mit dem verschwommenen Gesicht und den todbringenden Augen bringen. Erst als er die Sicherheit der Feuer seines eigenen Lagers und den tröstlichen Anblick von Hunderten gut bewaffneter Soldaten vor sich sah, wurde Raistlin langsamer. So dankbar er auch war, wieder unter Freunden zu sein, zog er doch die Kapuze über den Kopf und ging auf einem Umweg zu seinem Zelt zurück. Er wollte mit niemandem reden, am allerwenigsten mit Horkin. Als er endlich vor allen Blicken sicher war, sank Raistlin erschöpft auf sein Bett. Sein Körper war schweißgebadet, ihm war schwindelig und übel. Auf den Stab gestützt, den er immer noch nicht loslassen mochte, starrte er seine Stiefel an, auf denen Hühnerbrühe glänzte. Bei diesem Geruch wurde ihm übel, denn er brachte Raistlin das Entsetzen der Begegnung im Zelt zurück, die Erinnerung an die feuerroten Augen des Zauberers, das entsetzliche, hilflose Wissen, dass die Rote Robe den kost-
baren Stab einfach hätte nehmen können und dass Raistlin nicht die Macht gehabt hätte, das zu verhindern. Raistlin würgte und übergab sich. Noch Monate später würde ihm allein vom Anblick von gekochtem Huhn so übel werden, dass er gezwungen war, den Tisch zu verlassen, was Caramon jedes Mal zum klaren Sieger machte. Nachdem die Übelkeit vorüber war und Raistlin sich seiner Aufgabe besser gewachsen fühlte, wollte er Horkin Bericht erstatten. Er überlegte lange, was er sagen sollte. Am liebsten hätte er gelogen, um bestenfalls wie ein Trottel dazustehen. Doch schließlich beschloss Raistlin, Horkin die Wahrheit zu erzählen. Nicht aus edlen Anwandlungen, sondern weil ihm einfach keine Lüge einfiel, die den Verlust ihrer Zaubergegenstände angemessen erklärt hätte. Wo waren Kender, wenn man sie brauchte? Horkin war erstaunt, als Raistlin mit leeren Händen zurückkehrte. Sein Erstaunen wich finsterem Ärger, als Raistlin ruhig und fest gestand, dass er das Zelt der Roten Robe fluchtartig verlassen und die magischen Dinge zurückgelassen hätte. »Ich glaube, das solltest du mir lieber erklären, Roter«, forderte Horkin ihn streng auf. Und das tat Raistlin dann auch und er schilderte die Begegnung in lebhaften Einzelheiten. Er beschrieb die Rote Robe, seine eigene Angst und die fast blinde Panik, die ihn überfallen hatte, als er sicher war, dass die Rote Robe ihn angreifen würde, um den Stab zu bekommen. Nur eines behielt Raistlin für sich, und das war das Auftauchen der zwei Gesichter, die verschmolzen, sich trennten und wieder zusammenflossen. Das konnte er keinesfalls erklären,
nicht einmal sich selbst. Horkin lauschte der Geschichte zuerst misstrauisch. Er war von seinem Lehrling sehr enttäuscht und argwöhnte, dass der junge Magier die Dinge doch verkauft hatte, aber vorhatte, seine Einnahmen zu unterschlagen. Andererseits traute Horkin dem jungen Mann, den er widerwillig zu akzeptieren und sogar ein wenig zu mögen begonnen hatte, eine solche Dreistigkeit kaum zu. Horkin beobachtete Raistlin genau, denn er wusste, dass dieser junge Mann keine Hemmungen haben würde zu lügen, wenn er glaubte, dass eine Lüge zu seinem Vorteil war. Aber hier sah Horkin keine Lüge. Raistlin wurde blass, als er von der Begegnung sprach, ein Schauder schüttelte seinen schwachen Körper, und der Schatten der Erinnerung an die Angst legte sich über seine Augen. Je länger Raistlin redete – und nachdem er seine Zurückhaltung einmal überwunden hatte, erzählte er mit fast fieberhaftem Drang –, desto mehr glaubte Horkin, dass der junge Mann die Wahrheit sprach, so seltsam diese Wahrheit auch war. »Dieser Zauberer ist mächtig, sagst du?« Horkin rieb sein Kinn, eine Geste, die ihm anscheinend beim Denken half, denn er machte sie oft, wenn er irritiert war. Raistlin unterbrach sein Auf- und Abgehen im Zelt des Zauberers. Obwohl er todmüde war, konnte er nicht stillsitzen, sondern lief rastlos in dem kleinen Zelt hin und her, wobei er sich auf den Stab stützte, den er keinesfalls aus der Hand legen oder gar aus den Augen lassen wollte. »Mächtig!«, rief Raistlin aus. »Ich habe vor dem Oberhaupt der Versammlung gestanden, dem großen ParSalian, angeblich einem der mächtigsten Erzmagier, die je
gelebt haben, und die Magie, die von ihm ausstrahlte, war ein Sommerregen, verglichen mit dem Zyklon in der Gegenwart dieses Mannes!« »Und dann noch eine Rote Robe.« Raistlin zögerte, bevor er entgegnete: »Sagen wir mal so, Sir, dieser Zauberer trug zwar rote Roben, aber ich hatte den deutlichen Eindruck, dass er sie nicht aus Treue zu einem der Götter der Magie trug, sondern mehr wie… nun«, er zuckte hilflos mit den Schultern, »wie seine eigene Haut.« »Rote Augen und orangefarbene Haut. Vielleicht ist er ein Albino. Ich kannte mal einen Albino. Einen Soldaten, damals, als ich mich dem Baron anschloss. Ich glaube, aus der Kompanie C. Er – « »Verzeihung, Sir.« Raistlin riss Horkin ungeduldig aus seinen Erinnerungen. »Aber was sollen wir tun?« »Tun? Wieso? Wegen dem Zauberer?« Horkin schüttelte den Kopf. »Ich würde sagen, wir lassen ihn in Ruhe. Richtig, er hat unsere Sachen gestohlen, aber, sehen wir es doch, wie es ist, Roter, nichts davon war wirklich wertvoll. Außer deinem Stab, wie er von Anfang an gesehen hat, was man ihm auch nicht verdenken kann. Aber wenn es dir nichts ausmacht, werde ich den Vorfall wohl dem Baron gegenüber erwähnen.« »Ihm erzählen, dass ich in heller Panik weggelaufen bin, Sir?«, fragte Raistlin bitter. »Natürlich nicht, Roter«, erwiderte Horkin besänftigend. »Angesichts der Umstände sieht es so aus, als hättest du nur gesunden Menschenverstand bewiesen. Nein, dem Baron gegenüber werde ich nur erwähnen, das wir einen schlechten Eindruck von diesem Zauberer haben. Nach
allem, was ich sonst noch über unsere Verbündeten gehört habe, wird das den Herrn Baron wohl kaum überraschen«, fügte Horkin trocken hinzu. »Es besteht die Möglichkeit, dass dieser Zauberer ein Abtrünniger ist, Sir«, gab Raistlin zu bedenken. »Stimmt, Roter«, bestätigte Horkin. Abtrünnige Zauberer folgten nicht den Gesetzen, die von der Versammlung der Zauberer festgelegt worden waren, Gesetzen, die sicherstellen sollten, dass niemand rücksichtslos oder fahrlässig mit mächtigen Zauberkünsten umging. Solche Gesetze sollten nicht nur das gemeine Volk, sondern auch die Zauberer selbst schützen. Ein Abtrünniger war eine Gefahr für jeden anderen Magier, und deshalb war es oberste Pflicht und Verantwortung eines jeden Zauberers, der Mitglied der Versammlung war, Abtrünnige zu entlarven und sie entweder zum Eintreten in die Versammlung zu bewegen oder bei einer Weigerung zu vernichten. »Was hast du mit ihm vor, Roter?«, fuhr Horkin fort. »Ihn herausfordern? Ihn öffentlich entlarven?« »Früher hätte ich das vielleicht getan«, sagte Raistlin mit einem leichten Lächeln, denn er dachte an die Zeit, in der er einmal eine abtrünnige Zauberin herausgefordert hatte – mit beinahe katastrophalem Ergebnis. »Aber seitdem habe ich dazugelernt. Ich bin nicht so dumm, dass ich gegen diesen Mann antreten würde, der – wie er sagt – mehr Magie im kleinen Finger hat als ich im ganzen Körper.« »Mach dich nur nicht zu klein, Roter«, tröstete ihn Horkin. »In dir steckt eine Menge. Du bist noch jung, das ist alles. Eines Tages wirst du den Besten von ihnen gewachsen sein.« Raistlin sah seinen Meister erstaunt an. Es war das erste
Kompliment, das Horkin ihm jemals gemacht hatte, und die Freude ließ die Kälte seiner Angst hinwegschmelzen. »Danke, Sir.« »Aber bis zu diesem Tag ist es bestimmt noch lange hin«, fuhr Horkin gut gelaunt fort. »Du kannst noch nicht einmal die Brennenden Hände zaubern, ohne dabei deine eigenen Kleider anzusengen.« »Ich hatte Euch doch schon gesagt, dass es mir an dem Tag nicht gut ging – «, setzte Raistlin an. Horkin grinste. »War nur ein Scherz, Roter. Nur ein Scherz.« Raistlin war nicht zu Scherzen aufgelegt. »Wenn Ihr mich entschuldigen würdet, Sir, ich bin sehr müde. Es muss deutlich nach Mitternacht sein, und soweit ich gehört habe, ist morgen früh eine Schlacht angesetzt. Mit Eurer Erlaubnis würde ich gern zu Bett gehen.« »Das ist alles sehr merkwürdig«, murmelte Horkin in sich hinein, nachdem sein Lehrling verschwunden war. »Dieser Albinozauberer. So jemanden habe ich noch nie getroffen, und ich bin auf diesem Kontinent weit herumgekommen. Aber mir scheint, Krynn selbst ist in letzter Zeit zu einem sehr merkwürdigen Ort geworden, einem wirklich sehr merkwürdigen.« Kopfschüttelnd verschwand Horkin, um zusammen mit dem Baron einen späten Toast auf die Merkwürdigkeit dieser Welt auszubringen.
8. Kapitel Der Baron hatte seinen Soldaten nichts von Kommandant Kholos und seinen abfälligen Bemerkungen erzählt. Aber er hatte seinen Leibwachen nicht verboten, über das zu sprechen, was sie im Lager ihrer Verbündeten gesehen und gehört hatten. Die Worte des Kommandanten über »winselnde Welpen« verbreiteten sich in dieser Nacht wie ein Lauffeuer unter den Söldnern, sprangen von einer Traube verärgerter Männer zur nächsten, bis das ganze Lager vor Zorn glühte. Schon prahlten die Soldaten, dass sie die Westmauer einnehmen würden, vor den verdammten Augen des Kommandanten, ja, dass sie obendrein die ganze verfluchte Stadt überrennen würden, bevor er sein Frühstück beendet hätte. Als die Nachricht kam, dass die Flankenkompanie unter dem Befehl von Meister Senej die Ehre haben würde, am Morgen anzugreifen, wurden die übrigen Soldaten grün vor Neid, während die Mitglieder der auserwählten Kompanie eifrig ihre Rüstungen polierten und versuchten, so gewöhnlich dreinzuschauen, als wäre dies alles, was sie zu tun hatten. »Raist!« Wie ein Windstoß brach Caramon in das Zelt seines Bruders. »Hast du gehört – « »Ich versuche zu schlafen, Caramon«, wehrte Raistlin verdrießlich ab. »Geh weg.« »Aber es ist wichtig. Raist, es ist unsere Einheit, die – « »Du hast meinen Stab umgeworfen«, stellte Raistlin fest. »Tut mir Leid. Ich hebe ihn wieder – « »Nicht berühren!«, befahl Raistlin. Nachdem er das Bett verlassen hatte, holte er den Stab zurück und stellte ihn ans
Kopfende seines Lagers. Dann legte er sich wieder nieder. »Also, was willst du?«, fragte er erschöpft. »Mach schon. Ich bin furchtbar müde.« Nicht einmal die schlechte Laune seines Bruders konnte Caramons Stolz und Aufregung zunichte machen. Er schien das gesamte Zelt auszufüllen, während er redete, als würde sein gesunder, starker Körper in der Dunkelheit anschwellen und sich ausdehnen, bis er den ganzen Raum einnahm, die Luft verdrängte und seinen Bruder zerquetscht und gedemütigt zurückließ. »Unsere Schwadron soll morgen den Angriff anführen. Ganz vorne in der Linie, sagte der Meister. Kommst du mit, Raist? Das wird unsere erste Schlacht!« Raistlin starrte in die Finsternis. »Bis jetzt habe ich noch keine Befehle erhalten.« »Oh. Ach, wie schade.« Caramon sackte kurz in sich zusammen. Aber bald kehrte die Aufregung zurück und blähte ihn wieder auf. »Bestimmt kommst du mit. Ganz sicher. Denk nur! Unsere erste Schlacht!« Raistlin legte seinen Kopf so auf das Kissen, dass er Caramon nicht mehr ansah. Der fand mit einem Mal, dass es an der Zeit war zu gehen. »Ich muss noch mein Schwert schärfen. Wir sehen uns morgen früh, Raist. Gute Nacht.« Er verschwand genauso geräuschvoll, wie er gekommen war.»Verzeihung, Sir«, begann Raistlin, der vor Horkins Zelt stand. »Schlaft Ihr?« Ein mürrisches Knurren war die Antwort. »Ja.« »Tut mir Leid, wenn ich Euch geweckt habe, Sir.« Raistlin schlüpfte ins Zelt, wo sein Meister auf einem Feldbett ruhte und die Decken bis zum Kinn gezogen hatte. »Aber ich habe gerade gehört, dass der Kompanie meines
Bruders befohlen wurde, morgen früh die Westmauer anzugreifen. Ich dachte, Ihr wolltet vielleicht, dass ich ein paar Zaubereien – « Horkin setzte sich auf und blinzelte gegen das Licht, das vom Stab des Magus ausging, an. Der Zauberer schlief nicht in seinen Roben, die säuberlich gefaltet auf seinem Gepäck neben dem Bett lagen. Er schlief in dem, was er sein »Untendrunter« nannte. »Mach das verdammte Licht aus, Roter! Was willst du damit? Soll ich blind werden? Ah, schon besser. Also, was ist das für ein Firlefanz, den du mir da erzählst?« Geduldig wiederholte Raistlin seine Worte. Nachdem er das Licht seines Stabs gelöscht hatte, war es ganz dunkel im Zelt, eine Dunkelheit, die nach altem Schweiß und zerdrückten Blumen roch. »Und um mir das zu sagen, weckst du mich?«, knurrte Horkin. Er legte sich wieder hin und griff nach der Decke, die er um seine Schultern herum feststopfte. »Wir brauchen beide unseren Schlaf, Roter. Morgen bekommen wir Verwundete.« »Ja, Sir«, sagte Raist. »Aber die Schlacht – « »Der Baron hat mir wegen dieser Schlacht keinerlei Befehle erteilt, Roter. Aber« – wenn Horkin müde war, neigte er zu Sarkasmus – »vielleicht hat er dir ja welche gegeben.« »Nein, Sir«, gab Raistlin zu. »Ich dachte nur – « »Du hast also mal wieder gedacht!«, schnaubte Horkin. »Hör mir mal zu, Roter. Der Kampf morgen ist nur ein kurzes Scharmützel, ein Scheinangriff. Wir prüfen die Verteidigungsmaßnahmen der Stadt. Und wenn man seinen Feind prüfen will, zeigt man ihm bestimmt nicht alles, was man hat! Wir sind das große Finale, Roter, du und ich. Uns
Zauberer setzt der Baron im letzten Akt ein, zum allgemeinen Entsetzen und Erstaunen. Jetzt geh und lass mich schlafen!« Horkin zog sich wieder die Decke über den Kopf.In dieser Nacht wollte sich niemand zur Ruhe legen. Jeder wollte aufbleiben und erzählen und prahlen, welche Taten er morgen vollbringen würde. Manche beklagten sich bitterlich darüber, dass sie übergangen worden waren, manche wollten denen, die das Glück hatten, beim ersten Angriff dabei zu sein, Ratschläge und gute Wünsche überbringen. Die Feldwebel ließen die Männer reden, doch schließlich zogen sie durch das Lager und befahlen allen, sich aufs Ohr zu legen, weil sie morgen ausgeschlafen sein mussten. Irgendwann wurde es im Lager still, obwohl kaum jemand wirklich schlief. Raistlin kehrte zu seinem Zelt zurück, wo ihn ein ungewöhnlich schwerer Hustenanfall überkam. Den größten Teil der Nacht verbrachte er damit, mühsam nach Luft zu ringen. Der Baron lag in seinem Zelt und dachte voll Bedauern an all das, was er zu Kommandant Kholos hätte sagen können. Horkin konnte nicht wieder einschlafen, nachdem Raistlin ihn geweckt hatte. Er lag wach im Bett, verfluchte seinen Assistenten nach Kräften und dachte über den bevorstehenden Angriff nach. Horkins normalerweise fröhliches Gesicht war ernst. Er seufzte, und nach einem gemurmelten Gebet zu seiner Zechgenossin, der lieben Luni, schlief er ein. Tauscher lag wach und starrte zitternd vor Angst in die Dunkelheit, weil ihm jemand gesagt hatte, dass er bei dem Angriff zurückgelassen werden würde, da er einfach zu
klein war. Nachdem Caramon seine Rüstung so blank gewienert hatte, dass es ein Wunder war, dass kein Loch entstand, rollte er sich in seine Decke ein und legte sich hin und dachte. Ihm kam in den Sinn, dass er morgen sterben könnte, und während er noch über diese Möglichkeit nachdachte und überlegte, was er dabei fühlte, da erwachte er auch schon und der Morgen war angebrochen.Der Himmel war perlgrau und mit tief hängenden Wolken bedeckt. Und obwohl es noch nicht regnete, war alles im Lager nass. Selbst die Luft war feucht und heiß, ohne dass sich ein einziger Windhauch angekündigt hätte. Die Kompaniefahne hing schlaff und reglos an ihrer Standarte. Alle Geräusche wurden von der suppigen Luft gedämpft. Die normalerweise klangvollen Schläge des Schmieds hörten sich blechern und scheppernd an. Meister Senejs Kompanie war früh auf den Beinen. Sie stellten sich vor dem Verpflegungszelt auf. »Frühkämpfer kriegen eher Frühstück!«, grinste Caramon und schlug Tauscher auf den Rücken. »So gefällt mir das!« Während der Nächte vor dem Angriff hatte die Flankenkompanie bereits Erkundungsgänge gemacht, wodurch sie als letzte ins Lager gekommen waren und sich auch als letzte zum Frühstück aufgestellt hatten. Deshalb hatten sie immer nur das bekommen, was noch übrig war, nachdem der Rest der Truppen wie die Gossenzwerge darüber hergefallen war. Caramon, der die letzten paar Tage von kaltem Haferbrei gelebt hatte, betrachtete die brutzelnden Speckscheiben und das frische, heiße Brot mit größter Zufriedenheit.
»Isst du gar nichts?«, fragte er Tauscher. »Nein, Caramon, ich habe keinen Hunger. Glaubst du wirklich, Damark hat die Wahrheit gesagt? Glaubst du, der Feldwebel lässt mich nicht – « »Geh schon, nimm dir was zu essen!«, drängte Caramon. »Ich esse alles, was du nicht mehr magst. Er bekommt auch noch ein paar von den Weizenküchlein da«, wies Caramon den Koch an. Caramon ließ sich mit zwei beladenen Tellern an dem langen Brettertisch nieder. Tauscher setzte sich neben ihn, nagte an seinen Fingernägeln und warf Feldwebel Nemiss flehende Blicke zu, wann immer sie vorbeikam. »Oh, hallo, Raist«, begrüßte Caramon seinen Bruder, als er aufsah und Raistlin erblickte, der neben ihm stand. Der Zauberer war blass und übernächtigt. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Seine Roben waren vom Regen und seinem eigenen Schweiß durchnässt. Die Hand mit dem Stab zitterte. »Du siehst aber gar nicht gut aus, Raist«, sagte Caramon besorgt und stand auf. Das Frühstück hatte er vergessen. »Geht es dir gut?« »Nein«, gab Raistlin mit krächzender Stimme zurück. »Es geht mir gar nicht gut. Mir geht es nie gut. Wenn du es genau wissen willst, ich war die ganze Nacht wach. Nein, lass mich! Jetzt ist es besser. Ich kann nicht lange bleiben. Ich habe meine eigene Arbeit. Binden aufrollen im Zelt des Heilers.« Seine Worte klangen bitter. »Ich bin nur gekommen, um dir alles Gute zu wünschen.« Caramon war überrascht, als Raistlins dünne Finger seinen Unterarm berührten. »Pass auf dich auf, mein Bruder«, meinte Raistlin leise.
»Äh, sicher. Natürlich. Danke, Raist«, erwiderte Caramon bewegt. Er wollte noch hinzufügen, dass auch sein Zwillingsbruder auf sich aufpassen sollte, aber bis diese Worte heraus waren, war Raistlin schon verschwunden. »Na, das war aber merkwürdig«, bemerkte Tauscher, als Caramon sich wieder an seinen Platz und zu seinem Frühstück setzte. »Eigentlich nicht.« Caramon lächelte erfreut. »Wir sind schließlich Brüder.« »Ich weiß. Nur…« »Was?« Caramon sah auf. Tauscher hatte sagen wollen, dass er Raistlin noch nie etwas auch nur annähernd Brüderliches hatte sagen oder tun sehen und dass es doch merkwürdig sei, dass er gerade jetzt damit anfing. Aber als er Caramons offenes Gesicht und seine ehrliche Freude sah, änderte der Halbkender seine Meinung. »Willst du meine Eier?« Caramon grinste. »Gib schon her.« Er hatte jedoch nicht einmal mehr Zeit, seine eigenen Eier aufzuessen. Der Angriff war für den frühen Morgen angesetzt, und noch ehe er das halbe Frühstück verzehrt hatte, begannen die Trommeln zu schlagen, um die Männer der Flankenkompanie an die Waffen zu rufen. Während die Soldaten ihre Ausrüstung anlegten, begann ein leichter Nieselregen. Das Wasser tröpfelte ihnen von den Metallhelmen in die Augen und sickerte in die lederne Polsterung, die daraufhin auf der Haut scheuerte. In den Bärten der Männer bildeten sich Wassertropfen und auch an ihren Nasen hingen Tropfen. Die Soldaten mussten sich die Au-
gen wischen, um sehen zu können. Ihre Hände fummelten am nassen Metall der Schnallen herum. Die Feuchtigkeit machte die Lederriemen widerspenstig. Kein Ziehen und Zerren brachte sie dazu, anständig zu schließen. Sogar die Schwerter rutschten ihnen aus den nassen Händen. Besonders seltsam und unheilvoll war der Umstand, dass der Regen die Farbe der Stadtmauer veränderte. Die Mauer bestand aus hellbraunem Gestein, aber der Regen veränderte ihre Farbe zu einem roten Schimmer, sodass die Mauer aussah, als wäre sie mit einer dünnen Schicht Blut überzogen. Die Soldaten warfen mürrische Blicke auf ihr Ziel, die Westmauer, und sahen dann trübselig zum Himmel, weil sie hofften, die Sonne würde wieder auftauchen. Tauscher half Caramon beim Anlegen seiner Lederrüstung, die sich von den Rüstungen unterschied, die üblicherweise in der Flankenkompanie getragen wurden. Diese Rüstung war entlang der Arme und des Körpers gepolstert und mit Metallstreifen bedeckt. Sie war schwer, bot aber einen viel besseren Schutz als die leichten Lederrüstungen, welche die Männer während ihrer Kundschaftergänge getragen hatten. Die Rüstungen und die großen Schilde, die die Soldaten heute während der Schlacht tragen würden, hatten sie von Kompanie A geliehen. Tauscher war unglücklich und musste immer wieder blinzeln. Das Gerücht, das er gehört hatte, hatte sich als wahr erwiesen. Man hatte ihm befohlen, nicht mit der restlichen Kompanie vorzurücken. Tauscher hatte gebettelt und sogar Einwände vorgebracht, bis Feldwebel Nemiss die Geduld mit ihm verloren hatte. Sie hatte einen der riesigen Schilde gebracht, die die Soldaten tragen sollten, und ihn dem Halbkender hingeworfen. Der Schild hatte ihn un-
ter sich begraben. »Na, siehst du«, hatte sie gesagt. »Du kannst ihn nicht einmal hochheben!« Die Männer hatten gelacht. Tauscher war – immer noch meuternd – unter dem schweren Schild hervorgekrochen. Feldwebel Nemiss hatte ihm auf die Schulter geschlagen und gesagt, er wäre »ein tapferer, kleiner Kampfhahn« und könne mitkommen, wenn er einen großen Schild fände, den er verwenden könne. Dann hatte sie Tauscher befohlen, den anderen Soldaten beim Anlegen ihrer Rüstungen zu helfen. Er tat, wie ihm geheißen war, obwohl er sich die ganze Zeit über beschwerte. Er fand es einfach ungerecht, schließlich hatte er genauso lange trainiert wie alle anderen; seine Kameraden würden ihn für einen Feigling halten; er verstand gar nicht, weshalb er nicht seinen alten Schild nehmen konnte, und so weiter. Plötzlich jedoch brachen Tauschers Klagen ab. Caramon hatte großes Mitleid mit seinem Freund, fand aber, dass das Gejammer wirklich lange genug gedauert hatte. Mit einem Seufzer der Erleichterung nahm er an, dass Tauscher sein grausames Schicksal endlich akzeptiert hatte. »Wir sehen uns, sobald wir diese Mauer eingenommen haben«, verabschiedete sich Caramon, bevor er den Helm aufsetzte. »Viel Glück, Caramon«, wünschte Tauscher und streckte ihm lächelnd die Hand hin. Caramon starrte seinen Freund durchdringend an. Dieses süße, unschuldsvolle Lächeln kannte er von einem anderen guten Freund, Tolpan Barfuß. Caramon kannte Kender gut genug, um höchst misstrauisch zu sein. Er konnte sich nicht
vorstellen, was Tauscher im Sinn hatte, doch bevor er noch gründlich darüber nachdenken konnte, rief Feldwebel Nemiss die Kompanie zusammen. Meister Senej ritt vor die Reihen. Nachdem er vom Pferd gestiegen war, führte er eine schnelle, aber gründliche Inspektion durch, zupfte an Rüstungen, um sicherzugehen, dass sie sich nicht lösten, und prüfte die Speerspitzen, um sich zu vergewissern, dass sie scharf waren. Nachdem die Inspektion beendet war, stellte er sich vor seine Soldaten. Das ganze Lager hatte sich versammelt, um zuzuhören und zuzusehen. »Heute werden wir die westlichen Verteidigungsmaßnahmen prüfen, Männer. Wir wollen sehen, ob diese Stadt mit irgendwelchen Überraschungen aufwartet. Die Formation ist einfach. Schließt euch so dicht wie möglich zusammen, haltet die Schilde hoch und marschiert so auf die Mauer zu. Ihre Bogenschützen werden euch mit Pfeilen eindecken, aber die meisten werden auf die Schilde treffen. Unsere eigenen Schützen werden versuchen, die Mauer möglichst freizuhalten, aber glaubt nicht, dass sie unsere Schwierigkeiten beseitigen können. Da ich unseren Schützen beim Üben zugesehen habe, befürchte ich, dass sie eher uns treffen, als dass sie die Mauer abräumen.« Die Schützenkompanie wehrte sich mit Buhrufen. Die Flankenkompanie lachte. Die Spannung war gebrochen und genau das hatte der Meister beabsichtigt. Er wusste, dass seine Männer ein unüberwindbares Hindernis vor sich hatten, sofern der Feind nicht grenzenlos unfähig war. Wie überwältigend das Hindernis war und wie erfahren der Feind, waren zwei Fragen, auf die er bald eine Antwort haben würde. Die Armee ihrer Verbündeten, die sich zum
Zusehen versammelt hatte, erwähnte er nicht. Man konnte die breite Gestalt ihres Befehlshabers auf seinem Schlachtross in sicherer Entfernung vom Kampfplatz sehen. »Also dann, genug der Worte!«, rief Meister Senej. »Sobald wir das Signal erhalten, dass die Schützenkompanie an Ort und Stelle ist, tun wir unsere Pflicht und sind rechtzeitig zum Mittagessen zurück.« Sein Blick überflog die Linien und blieb an Caramon hängen. Der Meister lächelte und fügte hinzu: »Auch dann sind wir die Ersten am Verpflegungszelt, Majere.« Caramon merkte, dass sein Gesicht rot wurde, doch er war immer bereit, über sich selbst zu lachen, und fiel gutmütig in das Gejohle ein. Kompanie C marschierte vor das Lager, wo sie eine drei Reihen tiefe, enge Formation bildete. Caramon stand in der hintersten Reihe. Meister Senej nahm einen Platz in der vordersten Reihe ein. Ein Gehilfe führte sein Pferd davon. Der Meister würde mit seinen Männern zusammen laufen. Als er sein Schwert hob, fühlte Caramon eine Hand an seiner Rüstung zupfen. Er verdrehte sich den Hals und sah, dass Tauscher so dicht hinter ihm stand, dass er ihm beinahe in die Hacken trat. »Feldwebel Nemiss sagte, ich könnte mitkommen, wenn ich einen Schild fände«, erklärte Tauscher. »Ich schätze, der bist du, Caramon. Macht dir hoffentlich nichts aus.« Caramon wusste nicht, ob es ihm etwas ausmachte oder nicht. Er hatte keine Zeit zum Nachdenken. Rechts von ihm senkte sich eine Flagge und hob sich wieder. Die Schützenkompanie stand bereit. Der Meister erhob sein Schwert. »Vorwärts! Flankenkompanie – erster Angriff!« Die Kompanie stieß einen Jubelruf aus und begann, lang-
sam, aber stetig vorzurücken. Ihr Fahnenträger übernahm stolz hinter dem Meister die Führung. Zurück im Lager stimmten die Trompeten und Trommeln der Signaleinheit ein Marschlied mit donnerndem Takt an, der den Männern den Gleichschritt erleichterte. Mit jedem Schlag der Basstrommel senkte ein jeder Soldat den linken Fuß. Verbunden durch ihre Schilde und die Speere stoßbereit, rückten die Männer einheitlich vor. Die Musik erhöhte Caramons Erregung. Er sah die Männer neben sich an – seine Kameraden –, und ihm ging vor Stolz das Herz auf. Noch nie hatte er sich jemandem so nahe gefühlt, nicht einmal seinem Zwillingsbruder, wie jetzt diesen Männern, die vorwärts liefen, um gemeinsam dem Tod ins Auge zu blicken. Das leichte Angstgeflatter, das seinen Magen gequält und seine Gedärme zum Rumoren gebracht hatte, verschwand. Er war unbesiegbar, nichts konnte ihm etwas anhaben. Nicht heute. Zwischen dem Lager und der Stadtmauer, auf die sie es abgesehen hatten, verlief ein kleiner Bach über das Feld. Im Sommer war das Bachbett trocken, doch die Böschungen waren ziemlich steil, und sie würden Zeit brauchen, um sie zu überwinden, besonders da das Gras, das das Ufer bedeckte, vom Regen nass und schlüpfrig war. Die Kompanie traf schräg auf den Bachlauf, sodass die rechte Flanke ihn vor der linken überquerte. Während die Soldaten langsamer wurden, um auf ihre Schritte zu achten, bildeten sich Lücken in der Linie, doch auf der anderen Seite schlossen sie sich wieder. »Wieso haben sie noch nicht auf uns geschossen?«, wunderte sich Tauscher. »Worauf warten sie?« Feldwebel Nemiss, die ein Stück links von Caramon lief,
bellte: »Ruhe bewahren und eng aufschließen. Sie feuern noch früh genug. Früher, als ihr bereit seid.« Ein leises, lispelndes Geräusch, wie Caramon es noch nie im Leben vernommen hatte – Zischen, Schwirren und Pfeifen gleichzeitig –, ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Die Reihe kam aus dem Takt. Alle hatten das eigentümliche Geräusch gehört. Caramon warf einen Blick über seinen Schild, um etwas zu sehen. Der Himmel über ihm war schwarz, zu seinem Erstaunen durch eine tödliche Salve von Hunderten von Pfeilen. »Halt den verdammten Schild hoch!«, brüllte der Feldwebel. Da fiel Caramon seine Ausbildung wieder ein und er hob schnell den Schild über den Kopf. Eine knappe Sekunde später vibrierte und zitterte der Schild vom Aufprall der Pfeile. Caramon staunte über die Wucht der Schüsse – als würde jemand mit einem Kriegshammer auf seinen Schild schlagen. Und dann war es vorbei. Caramon zögerte, duckte sich und wartete auf den nächsten Angriff. Als keiner mehr kam, wagte er es, seinen Schild von vorn zu betrachten. Vier Pfeile ragten heraus. Ihre gefiederten Schäfte steckten im Metall fest. Caramon schluckte, als ihm klar wurde, was diese Pfeile angerichtet hätten, wenn sie anstelle des Schildes ihn getroffen hätten. Einige der Soldaten rissen die Pfeile aus ihren Schilden und warfen sie beiseite. Caramon drehte sich um, weil er wissen wollte, wie es Tauscher ergangen war. Tauscher schaute mit zittrigem Lächeln um sich. »Junge, Junge!«, brachte er nur heraus. Caramon blickte nach beiden Seiten, entdeckte aber keine
Gefallenen. Es waren keine Lücken in der Linie. Der Meister sah sich kurz um, um zu prüfen, ob die Kompanie noch hinter ihm stand. »Vorwärts, Männer!« schrie er. Das lispelnde Surren erklang erneut, diesmal aber von ihrer rechten Flanke her. Die Schützenkompanie erwiderte das Feuer. Ihre Pfeile rasten auf die Stadtmauer zu, über die Köpfe der Flankenkompanie hinweg, die weiter vorrückte. Von der Stadt her kam ein neuer Pfeilhagel. Caramon hob seinen Schild. Die Pfeile trafen. Der Aufprall brachte ihn zum Stolpern, doch er rückte weiter vor. Ein abgehackter Schrei in der Nähe ließ ihn zur Seite blicken. Ein Mann aus Caramons Reihe fiel auf den Boden und wiegte sich schreiend vor Schmerzen vor und zurück. Ein Pfeil hatte sein Schienbein zerschmettert. In der Reihe klaffte ein Loch. Der Mann hinter dem Verwundeten sprang über ihn und schloss die Lücke. Kompanie C rückte weiter vor. Caramon war wütend und enttäuscht. Er wollte loslegen, etwas angreifen, doch es gab nichts zum Angreifen. Er konnte überhaupt nichts tun, nur vorwärts gehen und Schüsse einstecken. Das Gegenfeuer der Schützenkompanie schien keinerlei Wirkung zu haben. Ein weiterer Pfeilhagel regnete vom Himmel. Die dritte Salve traf. Ein Mann vor Caramon fiel rückwärts um und landete vor Caramons Füßen. Dieser Mann schrie nicht. Er konnte nicht mehr schreien, wie Caramon entsetzt sah. Ihm war ein Pfeil in den Hals eingedrungen. Er krampfte seine Hand um die schreckliche Wunde. Aus seinem offenen Mund kamen gurgelnde Geräusche. »Nicht stehen bleiben! Die Linie schließen, verdammt!«, brüllte ein Veteran, der Caramon mit seinem Schild auf den
Arm schlug. Caramon sprang zur Seite, damit er nicht auf den Verwundeten trat. Weil er auf dem nassen, blutigen Gras ausrutschte, hätte er beinahe das Gleichgewicht verloren. Hinter ihm griffen Hände nach seinem Gürtel und halfen ihm, auf den Beinen zu bleiben. Als das Schwirren wieder erklang, duckte sich Caramon so tief wie möglich unter seinen Schild. Doch dann hörte der Beschuss unerklärlicherweise auf. Die Kompanie näherte sich ihrem Ziel auf hundertfünfzig Schritt. Vielleicht hatte die Schützenkompanie die Mauer leergefegt. Oder der Feind hatte die Beine in die Hand genommen und war geflohen. Caramon hob vorsichtig den Kopf, damit er etwas sehen konnte. Dann kam ein dumpfer Schlag, den Caramon mehr fühlte als hörte, als wäre etwas Schweres auf den durchnässten Boden gefallen. Dem Schlag folgte ein Knacken. Caramon schaute sich um, weil er feststellen wollte, woher die seltsamen Geräusche kamen, und musste mit ansehen, wie rechts von ihm sechs Männer ihr Leben ließen. Im ersten Augenblick waren sie noch da, im nächsten nicht mehr. Ein großer Felsblock rollte holpernd über das blutige Gras, bis er schließlich liegen blieb. Der Block war von einem Katapult über die Stadtmauer geschleudert worden und war in die Reihe der Männer eingeschlagen, die es jetzt nicht mehr gab. Sie waren nur noch Blut, zerquetschtes Fleisch und gesplitterte Knochen. Die Schreie der Verwundeten, der Gestank nach Blut, Urin und Exkrementen – viele der Sterbenden konnten ihre Ausscheidungen nicht mehr kontrollieren – führten dazu, dass Caramon das Frühstück wieder von sich gab, das er so
beglückt verzehrt hatte. Gebückt entleerte er seinen Magen. Das Geräusch eines weiteren Pfeilhagels war fast zu viel für ihn. Er wäre so gern davongerannt, nur weg von diesem furchtbaren Schlachtplatz. Nur seine Ausbildung hielt ihn noch, das und der Gedanke, dass er als Feigling gebrandmarkt und für immer entehrt sein würde, wenn er jetzt davonlief. Er duckte sich hinter seinen Schild und verdrehte den Kopf nach Tauscher, um den er sich Sorgen machte. Doch er konnte seinen Freund nicht finden. Links von ihm fielen drei Männer, einschließlich des Fahnenträgers. Die Fahne der Kompanie fiel ins Gras. Die gesamte Linie hatte gehalten, nur der Meister und der Feldwebel rückten noch vor. Plötzlich war Tauscher da. Er sprang über die Körper der Toten und Sterbenden, erreichte den Fahnenträger, hielt einem Pfeilhagel von der Stadtmauer stand und hob die Fahne auf, um sie mit einem trotzigen Aufschrei über seinem Kopf zu schwenken. Der Rest der Kompanie C fiel in den Schrei ein, aber doch gedämpft. Sowohl der Feldwebel als auch der Meister sahen sich um und bemerkten die furchtbare Lage. Ein weiterer Pfeilhagel und der Aufprall eines neuen Felsbrockens – der diesmal sein Ziel knapp verfehlte – ließen den Meister rasch reagieren. Seine Männer hatten genug eingesteckt. »Zurückziehen! Geordneter Rückzug! Die Schilde hochhalten!«, brüllte der Meister. Caramon hetzte zu Tauscher hinüber, um ihm mit seinem Schild den Rücken zu decken. Der Halbkender zollte den Pfeilen, die ihn umschwirrten, keine Beachtung, sondern marschierte stolz mit der Fahne in den Händen weiter. Die Kompanie trat einen geordneten Rückzug an, ohne
in heller Panik kopflos davonzurennenen. Wenn einer fiel, rückten andere zusammen, um die Linie zu schließen. Einige machten Halt, um den Verwundeten ins Lager zurückzuhelfen. Die Schützenkompanie sandte Salve um Salve auf die Stadtmauer, um den Rückzug zu decken. Tauscher trug die Fahne. Caramon hielt seinen Schild so, dass er sie beide schützte. Nach fünfzig Schritten begannen die Männer, sich zu entspannen. Es kamen keine Pfeile mehr von den Mauern. Endlich waren die Soldaten außer Reichweite. Hundert Schritte weiter ließ der Meister die Kompanie anhalten. Er legte seinen Schild auf den Boden. Der Rest der Kompanie folgte seinem Beispiel. Caramon fühlte das Gewicht des Schildes von seinem Arm abfallen – er musste hundert Pfund gewogen haben. Sein Arm zitterte vor Anstrengung. Tauscher hielt mit leichenblassem Gesicht weiter die Fahne hoch. »Du kannst sie jetzt runternehmen«, sagte Caramon zu seinem Freund. »Ich kann nicht«, klagte Tauscher mit zitternder Stimme. Er starrte seine Hand an, als ob sie jemand anderem gehören würde. »Ich kann sie nicht loslassen, Caramon!« Er begann zu weinen. Caramon streckte die Hand aus, um Tauscher beim Lösen der Umklammerung zu helfen. Der Hüne bemerkte, dass seine eigene Hand voll Blut war. Als er an sich hinunterblickte, sah er, dass auch sein Brustpanzer mit Blut und Schleimspritzern beschmiert war. Er ließ die Hand sinken, ohne Tauscher zu berühren. »Also gut. Alle herhören!«, rief der Meister. »Der Baron
weiß, was er wissen wollte. Die Stadt weiß sich bestens zu verteidigen.« Die Männer sagten kein Wort. Sie waren erschöpft und ausgelaugt. »Ihr habt gut gekämpft. Ich bin stolz auf euch. Wir haben heute da draußen gute Männer verloren«, fuhr Meister Senej fort, »und ich beabsichtige, hinauszugehen und die Leichen zu bergen. Wir warten, bis die Nacht anbricht.« Feldwebel Nemiss ließ die Kompanie abtreten. Die Männer wanderten zu ihren Zelten zurück oder suchten die Zelte der Heiler auf, um nach verwundeten Kameraden zu sehen. Ein paar der neuen Rekruten, auch Caramon und Tauscher, blieben einfach stehen, denn sie waren zu benommen und zu entsetzt, um zu gehen. Feldwebel Nemiss näherte sich Tauscher. Sie streckte die Hand aus und zog die Kompaniefahne aus der totenähnlichen Umklammerung des Halbkenders. »Du hast Befehle missachtet, Soldat«, tadelte Nemiss in strengem Ton. »Nein, Sir«, widersprach Tauscher. »Ich habe einen Schild gefunden.« Er zeigte auf Caramon. »Einen, den ich verwenden konnte.« Feldwebel Nemiss grinste und schüttelte den Kopf. »Wenn Männer an ihrem Mut gemessen würden, wärst du ein Riese. Apropos Riese, du hast dich da draußen auch gut gehalten, Majere. Ich hatte befürchtet, du wärst der Erste, der getroffen würde. Du gibst eine große Zielscheibe ab.« »Ich kann mich kaum erinnern, Sir«, gab Caramon zurück, der unbedingt ehrlich bleiben wollte, obwohl ihn das in ihren Augen vielleicht abwertete. »Wenn Ihr die Wahrheit wissen wollt, ich hätte mir fast ins Hemd gemacht.« Er
ließ den Kopf hängen. »Die meiste Zeit habe ich mich hinter meinem Schild versteckt.« »Darum bist du auch noch am Leben, Majere«, lobte der Feldwebel. »Scheint, als hätte ich dir doch etwas beigebracht.« Der Feldwebel ging weiter und übergab die Fahne im Gehen einem der Veteranen. »Geh du ruhig essen«, riet Caramon seinem Freund. »Ich habe nicht viel Hunger. Ich glaube, ich lege mich erst mal hin.« »Essen?« Tauscher starrte ihn an. »Es ist noch lange nicht Mittag. Das Frühstück ist doch erst eine halbe Stunde her.« Eine halbe Stunde. Es hätte auch ein halbes Jahr sein können. Ein halbes Leben. Für manche ein ganzes Leben. Caramon stiegen Tränen in die Augen. Er drehte schnell den Kopf weg, damit es niemand merkte.
9. Kapitel Im Schutz der Dunkelheit barg die Flankenkompanie ihre Gefallenen und begrub sie noch während der Nacht in einem einzigen Grab, damit der Feind nicht nachrechnen konnte, wie viele Männer sie verloren hatten. Bei der einfachen Totenfeier sprach der Baron, nannte jeden Einzelnen beim Namen und erzählte eine Geschichte von dessen Heldenmut. Das Gemeinschaftsgrab wurde mit Erde zugeschaufelt und zum Schutz vor herumstreifenden Wölfen wurde eine Totenwache aufgestellt. Kompanie C bekam vom Baron ein Fass Zwergenschnaps, damit sie auf ihre gefallenen Kameraden trinken konnten. Caramon trank nicht allein zu ihren Ehren, sondern auch für alle anderen Gefallenen seit Anbeginn der Zeiten. So jedenfalls kam es Tauscher vor, der den schweren Mann zum Zelt zurückschleifen musste. Stockbetrunken brach Caramon dort zusammen und fiel bäuchlings auf sein Feldbett, so schwer, dass es zusammenbrach und die anderen im Zelt sich fragten, ob der Feind sie wieder mit Felsbrocken bewarf. Raistlin verbrachte die ganze Nacht im Zelt bei den Verwundeten, wo er Horkin Verbände und Tinkturen zureichte. Die meisten Verletzungen waren nur leichte Fleischwunden – abgesehen von dem Soldaten mit dem zerschmetterten Bein. Obwohl es ringsherum Pfeile geregnet hatte, hatten seine Kameraden ihn ins Heilerzelt getragen. Raistlin hatte das Privileg, seiner ersten Feldamputation beizuwohnen. Er mischte einen Trank aus Alraunenwurzel, um den Patienten bewusstlos zu machen, und ergänzte ihn durch einen Schlafzauber. Die Freunde des Mannes hielten
ihn an Armen und Schultern fest, damit er keine Reflexbewegungen machen konnte. Raistlin hatte Stunden bei der irren Meggin verbracht, in denen er unter ihrer Anleitung Leichen seziert hatte, um mehr über die Wunder des menschlichen Körpers zu lernen. Damals hatte ihm das nicht das Geringste ausgemacht. Er hatte seine Heilkünste an der pestverseuchten Bevölkerung von Solace ausgeübt, ohne blass zu werden. Er hatte sich freiwillig dazu gemeldet, bei der Operation zu helfen, und dem Bader versichert, dass er an den Anblick von Blut gewohnt war und nicht umkippen würde. Das Blut erschütterte ihn nicht, obwohl es so heftig floss, dass Raistlin sich nicht vorstellen konnte, dass alles einem einzigen Körper entstammte. Es war das Geräusch des Sägeblatts, das kratzend gleich unterhalb des Knies den Knochen abtrennte. Aus Raistlins Magen stieg Galle auf, gegen die er die Zähne zusammenbeißen musste. Mehr als einmal machte er die Augen zu, um nicht ohnmächtig zu werden. Es gelang ihm, die Operation durchzustehen, doch als das Bein abgenommen war und fortgetragen wurde, um mit den Toten beigesetzt zu werden, bat Raistlin um die Erlaubnis, das Zelt kurz verlassen zu dürfen. Der Chirurg warf einen Blick auf das leichenblasse Gesicht seines Assistenten, nickte kurz und riet Raistlin, ein wenig zu schlafen. Der Patient würde bis zum Morgen gut zurechtkommen. Dank Alraune, Magie und Blutverlust war der Amputierte ruhig. Die anderen Verwundeten schliefen. Raistlin kehrte schweißgebadet in sein Zelt zurück und sank auf sein Lager. Wenigstens einer verachtete ihn zutiefst. Er selbst.Als der Baron gegen Mittag wieder zu Kommandant Kholos ritt, um diesem Bericht zu erstatten, sahen die Ver-
bündeten sich wieder. Der Befehlshaber verhielt sich respektvoller, wenn auch nicht herzlicher. Er gestattete dem Baron, sein Schwert zu behalten, und bot ihm sogar einen Platz an, während sie die Pläne für die Schlacht besprachen, die Hoffnungsende in die Knie zwingen sollte. Beide Männer stimmten darin überein, dass die Verteidigungsmaßnahmen der Stadt, die sie beobachtet hatten, ausgezeichnet waren. Jeder Frontalangriff war höchstwahrscheinlich zum Scheitern verurteilt, selbst wenn beide Armeen vereint angriffen. Bis sie die Mauern erreicht hätten, würden ihre Truppen bereits geschwächt sein. Kholos schlug vor, sich auf eine längere Belagerung einzurichten. Sollten die Bewohner von Hoffnungsende doch ein paar Monate bekommen, in denen sie ihre Vorräte verbrauchen konnten, und noch ein paar Monate, in denen sie Ratten aßen und ihre Kinder verhungern sahen. Da würde ihnen die Lust an dieser Rebellion schon noch vergehen. Der Baron hielt überhaupt nichts von diesem Plan, denn er wollte nicht länger als unbedingt nötig in der Kompanie des Kommandanten bleiben. So bot er eine Alternative an. »Ich schlage vor, wir beenden diesen Krieg zügig. Wir schicken einen Trupp in die Stadt, greifen sie von hinten an und öffnen das Tor, bevor sie wissen, was über sie gekommen ist.« »Wir schlagen sie durch Hinterlist?«, grinste Kholos. »Das gefällt mir!« »Ja, das dachte ich mir schon«, sagte der Baron trocken. »Und wessen Männer benutzen wir, um hinter die feindlichen Linien vorzustoßen?«, fragte Kholos stirnrunzelnd. »Ich biete meine Männer an«, antwortete der Baron würdevoll, denn er hatte damit gerechnet, diese Frage gestellt
zu bekommen. »Ihr habt sie gesehen. Ihr könnt ihren Mut nicht bezweifeln.« »Wartet draußen«, meinte Kholos. »Ich muss darüber nachdenken und mit meinen Offizieren sprechen.« Während der Baron vor dem Zelt des Befehlshabers auf und ab lief, hörte er viel von diesem Gespräch mit. Er lief vor Ärger rot an und knirschte mit den Zähnen, als Kholos laut feststellte: »Wenn die Söldner umkommen, haben wir nichts verloren. Wir können die Stadt immer noch aushungern. Wenn sie Erfolg haben, sparen wir uns viel Zeit und Mühe.« Als er wieder ins Zelt des Kommandanten gerufen wurde, händigte der Baron freiwillig sein Schwert an Kholos’ Berater aus, damit er nicht in Versuchung kam, es zu benutzen. »Sehr schön, Baron«, informierte ihn Kholos. »Wir haben beschlossen, Eurem Plan zu folgen. Eure Männer dringen in die Stadt ein und greifen von hinten an. Auf Euer Zeichen hin werden wir die Tore frontal angreifen.« »Ich hoffe doch, ich kann darauf zählen, dass Ihr die Mauern stürmt«, mahnte der Baron, der den Kommandanten eindringlich musterte. »Wenn Eure Männer nicht die Aufmerksamkeit eines Teils der Widerständler auf sich ziehen, werden meine abgeschlachtet.« »Ja, das ist mir bewusst«, erwiderte Kholos und stocherte dabei mit einem Geflügelknochen zwischen seinen Zähnen herum. Er grinste augenzwinkernd. »Ich gebe Euch mein Wort.« »Traut Ihr ihm, Sir?«, fragte Kommandant Morgon, als sie Kholos’ Zelt verließen. »Nur so weit, wie ich ihn riechen kann«, entgegnete der
Baron finster. »Das würde beträchtliches Vertrauen bedeuten, Sir«, sagte Morgon, ohne eine Miene zu verziehen. »Ha! Ha!« Der Baron lachte schallend los und klopfte seinem Kommandanten auf den Rücken. »Der war gut, Morgon. Sehr gut.« Er kicherte vor sich hin, bis sie ihr Lager erreicht hatten.»Sir«, erklärte Meister Senej, »Kompanie C meldet sich freiwillig für diesen Auftrag. Ihr seid uns etwas schuldig, Sir«, fügte er laut hinzu. Die anderen Kommandeure machten das gleiche Angebot. Der Baron brachte sie zum Schweigen und wandte sich an Senej. »Was meint Ihr damit, Meister?« »Die Männer haben eine hoffnungslose Aufgabe ausgeführt, Sir«, sagte der. »Wie geprügelte Hunde mussten sie angesichts des Feindes den Schwanz einziehen und davonlaufen.« »Sie wussten doch von vornherein, dass diese Möglichkeit bestand«, hielt der Baron stirnrunzelnd dagegen. »Ja, Sir.« Meister Senej hielt stand. »Aber sie spüren es. Sie lassen den Kopf hängen und sind niedergeschlagen. Kompanie C wurde zum allerersten Mal besiegt.« »Aber, bei der Liebe von Kiri-Jolit, Meister – «, setzte der Baron irritiert an. »Herr, es war das erste Mal, dass überhaupt ein Teil dieser Armee besiegt wurde.« Meister Senej hielt sich sehr aufrecht. »Die Männer wollen eine Chance, ihre Ehre wiederzuerlangen, Sir.« Die anderen Kommandanten schwiegen. Obwohl es allen in den Fingern juckte, an der Aktion teilzunehmen, akzeptierten sie, dass Meister Senej das Recht hatte, seine Meinung zu vertreten.
»Also gut«, willigte der Baron ein. »Major Senej, Kompanie C wird in die Stadt eindringen. Aber diesmal gebe ich Euch einen Zauberer mit. Meister Horkin!« »Herr!« »Ihr begleitet diese Mission.« »Verzeiht mir, Herr, aber ich schlage vor, dass Ihr meinen Assistenten mitschickt.« »Ist der junge Mann einer so wichtigen Aufgabe gewachsen, Horkin?«, erkundigte der Baron sich ernst. »Majere macht auf mich einen furchtbar schwachen und kränklichen Eindruck. Ich wollte Euch eigentlich nahe legen, ihn auszumustern.« »Der Rote ist stärker, als es den Anschein hat, Herr«, erwiderte Horkin. »Stärker, als er selbst es weiß, jedenfalls meiner Meinung nach. Er ist ein besserer Zauberer als ich.« Horkin gab dies ohne Erbitterung zu, denn es war eine Tatsache. »Wenn das Leben der Männer auf dem Spiel steht, solltet Ihr lieber den Besten wählen.« »Ja, natürlich«, pflichtete der Baron verwundert bei. »Aber Ihr habt die Erfahrung – « »Und wie habe ich diese Erfahrung erworben, Herr, wenn nicht durch eben diese Erfahrungen?«, gab Horkin triumphierend zurück. »Die er niemals erlangen wird, wenn Ihr ihn nicht lasst.« »Das ist wohl wahr«, gab der Baron zu, obwohl er immer noch seine Zweifel hatte. »Ihr habt das Kommando über die Zauberei. Was ich über Magie weiß, passt in einen Fingerhut. Major Senej, sucht Majere und teilt ihm mit, dass er ab sofort Eurer Kompanie zugeteilt ist. Dann meldet Ihr Euch bei mir und nehmt Eure Befehle entgegen.« »Ja, Sir!« Major Senej salutierte. »Und danke,
Herr!«»Raist, hast du es schon gehört?« Caramon hielt sich mühsam vor dem Eingang von Raistlins Zelt aufrecht. Der große Mann hatte schauderhafte Kopfschmerzen und ein Gefühl, als ob Gnomen seinen Magen als Kochkessel benutzten. Nach dem Grauen der Schlacht, der Feierlichkeit der Beerdigung und den Nachwirkungen des Leichenschmauses begann er, seinen Plan von einem Leben beim Militär noch einmal zu überdenken. Um seines Bruders willen gab er sich jedoch einen aufgeregten Anschein. »Wir dringen heimlich in die Stadt ein und du kommst mit!« »Ja, davon habe ich gehört«, schimpfte Raistlin aufgebracht, ohne von dem Zauberbuch aufzusehen, das er auf den Knien balancierte. »Jetzt verschwinde und lass mich in Ruhe, Caramon. Ich muss mir vor Einbruch der Dunkelheit noch alle diese Sprüche einprägen.« »So haben wir es uns doch immer gewünscht, Raist«, stellte Caramon mit sehnsüchtiger Stimme fest. »Nicht wahr?« »Ja, Caramon, das stimmt wohl«, erwiderte Raistlin. Caramon blieb noch einen Moment stehen, denn er wünschte sich, dass sein Bruder ihn hineinbitten würde. Er hoffte auf eine Gelegenheit, über seine Angst und Scham zu sprechen, über sein Verlangen, nach Hause zu ziehen. Aber Raistlin sagte nichts und gab auch nicht zu erkennen, dass ihm bewusst war, dass sein Bruder noch da war. Schließlich ging Caramon fort. Nachdem sein Bruder verschwunden war, saß Raistlin da und starrte das Zauberbuch an. Die Buchstaben auf den Seiten verschwammen, und die Worte rutschten aus seinem Gehirn, als wären sie eingefettet. Sein Bruder und die anderen mussten sich auf ihn verlassen, um am Leben zu
bleiben. Ein guter Scherz! Aber schließlich spielten ihm die Götter ja dauernd Streiche. Verzweifelt ging Raistlin wieder an sein Studium – ein so feiger Feigling, dass er es sich nicht einzugestehen vermochte.
10. Kapitel Am Nachmittag nach dem gescheiterten Angriff der Söldner auf die Stadtmauer traf Kitiara im Lager von Kholos ein. Sie kam später, als sie gedacht hatte, und wusste, dass Immolatus vor Ungeduld platzen würde. Der geheime Zugang zum Berg lag doch weiter weg vom Lager, als sie geschätzt hatte, und der Weg war nicht einfach gewesen. Trotz der wilden Hammerschläge des Schmieds, dessen transportable Esse nebenan stand, schlief der Drache tief und fest in seinem Zelt. Kit konnte Immolatus über den Schmiedehammer hinweg schnarchen hören. Ohne sich erst bemerkbar zu machen, drang sie in das Zelt des Drachen ein, stolperte dabei jedoch über etwas, das unter ihrem Fuß wegrollte. Mit deftigem Fluchen fing sie sich wieder und sah sich das Ding in dem gedämpften Licht näher an. Eine Kartenrolle? Sie wollte sie schon aufheben, als sie bemerkte, dass es sich um eine magische Spruchrolle handelte, wie Zauberer sie verwenden. Kit ließ die Hülle liegen. Wer wusste schon, mit welchen Schutzzaubern sie belegt war? Andere Spruchrollen lagen ebenso herum wie zahlreiche Ringe, die aus einem Beutel gekullert waren, sowie zerbrochenes Tongeschirr, das dem Geruch nach Hühnerbrühe enthalten hatte. Das war rätselhaft. Die Spruchrollen gehörten nicht Immolatus, und da er sie auf dem Boden liegen gelassen hatte, schien er sich auch nicht für sie zu interessieren. Kit vermutete, dass in ihrer Abwesenheit eine Art Treffen stattgefunden hatte, wenn sie sich auch nicht vorstellen konnte, mit wem. Die Zaubersprüche sprachen für einen Zauberer, die
Hühnerbrühe für einen Koch. Womöglich versuchte sich der Lagerkoch auch in Magie. Kit hoffte inständig, dass Immolatus ihn nicht beleidigt hatte. Das Essen war ohnehin schon schlecht genug. Verärgert starrte sie ihn an, denn es passte ihr nicht, dass er hier gemütlich in seinem Zelt lag und ein Nickerchen hielt, während sie unterwegs war, um die Drecksarbeit für ihn zu verrichten. Es bereitete ihr grimmige Genugtuung, ihn aufzuwecken. »Eminenz.« Kit rüttelte an seiner Schulter. »Immolatus.« Er erwachte schnell. Mit offenen Augen starrte er sie hellwach voller Wut und Hass an, die nicht so sehr gegen sie gerichtet waren, sondern gegen die tägliche Erkenntnis und bittere Enttäuschung, die er verspürte, wenn er sich beim Erwachen in menschliches Fleisch eingesperrt fand. Mit kalten roten Augen funkelte er sie an, denn er hasste und verachtete sie, wie er alle Menschen hasste und verachtete. Er sah sie an, wie sie selbst eine angeschwollene, vollgesogene Zecke angeschaut hätte. Schnell nahm sie die Hand von seiner Schulter und trat einen Schritt zurück. Sie kannte niemanden sonst, der derartig schnell aus tiefstem Schlaf erwachte und so rasch hellwach war. Es hatte etwas Unnatürliches an sich. »Tut mir Leid, dass ich Euch wecken muss, Eminenz«, begann sie, und das entsprach der Wahrheit. »Aber ich dachte, Ihr würdet sicher gern hören, dass es mir gelungen ist, unseren Auftrag zu vollenden.« Die leicht ironische Betonung der Mehrzahl konnte sie sich dabei einfach nicht verkneifen. »Ich dachte, Ihr würdet vielleicht gern erfahren, was ich gefunden habe.« Mit einem Blick durch das Zelt bemerkte sie: »Was ist ge-
schehen, Eminenz? Was ist das alles für Zeug?« Immolatus setzte sich im Bett auf. Er schlief in seinen roten Roben, die er nie ablegte oder wusch, ebenso wenig, wie er badete. Ein abscheulicher, muffiger Gestank nach Tod und Fäulnis, der Kitiara an die Drachenhöhle erinnerte, ging von ihm aus. »Ich hatte eine höchst interessante Begegnung mit einem jungen Zauberer«, erwiderte Immolatus. Kitiara trat eine Spruchhülle weg, die ihr im Weg lag, und setzte sich. »Er muss ziemlich überstürzt gegangen sein.« »Ja, er wollte sich nicht lange aufhalten.« Immolatus lächelte unangenehm und murmelte: »Er hat etwas, das ich haben will.« »Warum habt Ihr es ihm nicht einfach abgenommen?«, fragte Kitiara ungeduldig. Im Grunde genommen interessierte sie das kein bisschen. Es war eine lange Reise gewesen. Sie war müde und gereizt, denn sie wollte ihre wichtigen Informationen loswerden, sobald der Drache endlich lange genug still war, um zuzuhören. »Eine typisch menschliche Antwort.« Immolatus sah finster drein. »Es gibt da ein paar Feinheiten, die du nicht verstehen kannst. Ich werde das Ding bekommen, aber auf meine Weise und zu meiner Zeit. Auf dem Tisch liegt eine Nachricht. Ich will, dass du sie dem jungen Magier bringst. Er dient, glaube ich, bei denen, die wir kurioserweise unsere Verbündeten nennen.« Immolatus wies auf ein Spruchfutteral auf dem Tisch. Die Spruchrolle steckte nicht mehr darin, stattdessen jedoch anscheinend die Botschaft.
Kitiara wollte ärgerlich dagegenhalten, dass sie nicht Immolatus’ Laufbursche war. Weil sie aber fürchtete, damit einen Streit vom Zaun zu brechen, wo sie doch eigentlich nur ihre Informationen loswerden und schlafen gehen wollte, schluckte sie ihre Worte herunter. »Wie heißt der Magier, Herr?«, erkundigte sich Kit. »Magus«, gab Immolatus zurück. »Magus.« Sie verließ das Zelt, sprach einen vorbeilaufenden Soldaten an und übergab ihm die Schriftrolle mit dem Auftrag, für ihre Auslieferung zu sorgen. »Nun, Uth Matar?«, begann Immolatus, nachdem sie zurück war. »Was ist mit deinem Auftrag? Warst du erfolgreich? Vermutlich nicht, da du mich hinhältst und nicht reden willst.« Zur Antwort zog Kitiara das Buch aus dem Gürtel und reichte es dem Drachen. »Seht selbst, Eminenz.« Er nahm das angebotene Buch gerne an, ja, er riss es ihr förmlich aus der Hand. »Also hast du die Eier der Metalldrachen gefunden.« Ein leises Glucksen boshafter Freude erklang tief aus seiner Kehle. Begierig überflog er die Zahlen, während sie ihre Notizen erklärte. »Ich habe die Reihen gezählt, es sind ziemlich viele. ›G‹ steht für ›Gold‹ und ›S‹ für ›Silber‹, das heißt ›11/34 Eier S‹ bedeutet, es sind vierunddreißig silberne Dracheneier in Reihe Elf.« »Ich bin durchaus in der Lage, dein Gekrakel zu verstehen, obwohl es aussieht, als wäre ein Huhn über die Seiten gelaufen.« »Ich bin froh, dass meine Arbeit Euch zusagt, Herr«, entgegnete Kitiara, die zu müde war, um sich darum zu sche-
ren, ob er ihren Sarkasmus hörte oder nicht. Er hörte gar nichts. Er war ganz damit beschäftigt, ihre Notizen zu lesen, in sich hineinzumurmeln, Berechnungen anzustellen, zufrieden zu nicken und dieses boshafte Glucksen auszustoßen. Als er die Seite umschlug und die Karte sah, verzerrte ein höhnisches Grinsen seine Züge. Beinahe hätte er vor Entzücken geschnurrt. »Also das… das ist der Weg zu dem geheimen Zugang in den Berg.« Stirnrunzelnd betrachtete er die Karte. »Sieht sehr verständlich aus.« »Kommandant Kholos wird sie schon begreifen«, gähnte Kit. Sie streckte die Hand aus. »Ich bringe sie jetzt zu ihm, Eminenz, wenn Ihr damit fertig seid.« Immolatus gab sie nicht zurück, sondern starrte die Karte äußerst konzentriert an. Kitiara hatte den Eindruck, er wolle sie auswendig lernen. »Wollt Ihr in die Höhle gehen, Eminenz?«, fragte Kit überrascht. Ihr war nicht wohl dabei zumute. »Es besteht kein Anlass dazu. Ich versichere Euch, dass meine Zahlen stimmen. Wenn Ihr an mir zweifelt – « »Ich zweifle nicht an dir, Uth Matar«, sagte der Drache freundlich. Er war allerbester Laune. »Jedenfalls nicht mehr als an jedem anderen Wurm wie dir.« »Nun, Eminenz«, fuhr Kitiara fort und bedachte ihn mit einem wirklich bezaubernden Lächeln, »dann solltet Ihr keine Zeit damit verschwenden, zu dieser Höhle zu ziehen. Unsere Arbeit ist beendet. Es wäre ein hervorragender Zeitpunkt, um uns zu verabschieden. General Ariakas hat befohlen, dass wir so schnell wie möglich mit dieser Information zu ihm zurückkehren.«
»Du hast recht, Uth Matar«, pflichtete Immolatus ihr bei. »Du solltest auf der Stelle zu General Ariakas zurückkehren.« »Eminenz – « Der Drache lachte sie aus. »Ich brauche dich nicht mehr, Uth Matar. Geh zurück zu Ariakas und fordere deine Belohnung ein. Er wird bestimmt überglücklich sein, sie dir zu geben.« Immolatus stand vom Bett auf, ging an ihr vorbei und wollte das Zelt verlassen. Kitiara hielt ihn am Arm fest. »Was habt Ihr vor?« wollte sie wissen. Er starrte sie bösartig an. »Lass mich augenblicklich los, Wurm.« »Was habt Ihr vor?«, Kitiara kannte die Antwort. Aber im Namen von allem, was heilig war, was sie dagegen tun sollte, das wusste sie nicht. »Das ist meine Angelegenheit, Uth Matar«, sagte er. »Nicht deine. Du hast in dieser Frage nichts zu sagen.« »Ihr wollt die Eier zerstören.« Er schüttelte ihren Griff ab und wollte wieder das Zelt verlassen. »Verdammt!« Kitiara sprang ihm nach und hielt ihn am Arm fest. Ihre Nägel gruben sich in sein Fleisch. »Ihr kennt Eure Befehle – « »Meine Befehle!« Ungebärdig fuhr er zu ihr herum. »Ich nehme keine Befehle entgegen! Und ganz bestimmt nicht von einem lächerlichen Menschen, der sich einen gehörnten Helm auf den Kopf setzt und sich zum ›Drachenfürsten‹ ausruft! Oh, ja.« Immolatus fletschte verächtlich die Zähne. »Ich habe gehört, dass Ariakas sich so bezeichnet. ›Drachenfürst‹! Als ob er oder irgendein anderer Mensch das
Recht hätte, seine armselige Macht und seine jämmerliche Sterblichkeit mit uns zu verbinden! Obwohl ich es ihm nicht verdenken kann. Er glaubt, wenn er uns auf diese armselige Weise vereinnahmt, kann er einen kleinen Anteil des Respekts und der Angst, die alle Wesen auf Krynn uns entgegenbringen, für sich beanspruchen.« Der Drache schnaubte. Aus seinen Nasenlöchern stieg ein Flämmchen auf. Er zischte: »Wie ein Kind, das in der Rüstung seines Vaters herumstolziert, wird er feststellen, dass sie zu schwer ist, und er wird fallen, ein Opfer seiner eigenen Selbsttäuschung! Ich werde die Eier vernichten«, erklärte der Drache mit unterdrückter Wut. »Willst du es wagen, mich daran zu hindern?« Kitiara schwebte in Lebensgefahr, doch ihrer Meinung nach hatte sie wenig zu verlieren. »General Ariakas hat den Befehl erteilt, das ist wahr, Eminenz«, sagte sie und stellte sich dabei kühn dem wütenden Blick des Drachen. »Aber wir wissen beide, wer ihm seine Befehle gibt. Wollt Ihr Eurer Königin den Gehorsam verweigern?« »Allerdings«, antwortete Immolatus mit einem Schnappen seiner Zähne. »Glaubst du, ich fürchte sie? Schon möglich, falls Takhisis in dieser Welt wäre. Das ist sie aber nicht, weißt du. Sie sitzt im Abgrund fest. Oh, sie kann sich aufregen und toben und mit ihrem hübschen kleinen Fuß aufstampfen, aber sie kann mich nicht erreichen. Und deshalb werde ich meine Rache bekommen. Ich werde mich an den verruchten Goldenen und Silbernen rächen, die meine Kameraden getötet und uns in Einsamkeit und Vergessenheit getrieben haben. Ich werde ihre Jungen vernichten, wie sie unsere vernichtet haben. Ich werde den schlechten
Tempel ihres verfluchten Gottes zerstören. Ich werde die Stadt zerstören, in der dieser Tempel steht, und dann«, seine Zunge zuckte wie eine Flamme, die Blut leckte, »werde ich den Nachfahren des Magus vernichten. Ich werde mich an ihnen allen rächen.« Die roten Augen flackerten. »Du solltest verschwinden, solange du noch kannst, Uth Matar. Falls ich feststelle, dass Kholos und sein Pöbelhaufen mir im Weg sind, werde ich auch sie vernichten.« »Herr«, hielt Kit verzweifelt dagegen, »Ihre Dunkle Majestät hat Pläne für diese Eier.« »Ich auch«, wehrte Immolatus ab. »Bald werden Krynn und seine Bewohner die wahre Macht der Drachen erkennen. Sie werden erfahren, dass wir zurückgekehrt sind, um unsere angestammte Rolle zu übernehmen – die Herrschaft über die Welt.« Kitiara durfte ihm nicht gestatten, Ariakas’ Pläne zunichte zu machen. Sie musste verhindern, dass der Drache die Befehle der Königin der Finsternis durchkreuzte. Am allerwenigsten aber durfte sie zulassen, dass Immolatus ihre eigenen Pläne, Hoffnungen und Ziele zunichte machte. Noch während er sprach, zog sie mit schneller, fließender Bewegung ihr Schwert. Als Mensch hätte Immolatus einen Fuß Stahl in seinen Eingeweiden vorgefunden, noch ehe er neu Luft holen konnte. Er war kein Mensch. Er war ein Drache, ein roter Drache, eines der mächtigsten Wesen auf Krynn. Kitiara war von Flammen umschlossen. Die Luft, die sie umgab, knisterte vor Hitze, verbrannte ihre Lungen, als sie einatmen wollte, um zu schreien, versengte ihr Fleisch. Sie fiel auf die Knie und wollte nur noch sterben.
Plötzlich verebbten die Flammen. Sie war unverletzt, wie sie nach einem Augenblick merkte – abgesehen von der entsetzlichen Erinnerung, lebendig verbrannt zu werden. Vorläufig war das alles, eine Erinnerung. Eine Erinnerung und eine Drohung. Vernichtend geschlagen blieb sie, wo sie war. »Mach’s gut, Uth Matar«, verabschiedete sich Immolatus gut gelaunt. »Danke für deine Hilfe.« Er verließ sie mit einem Lächeln, einer spöttischen Verneigung und einem letzten Schnappen. Kitiara sah ihn aus dem Zelt spazieren, sah ihre Karriere mit ihm hinausspazieren. Sie verharrte in ihrer geduckten Haltung, bis sie sicher war, dass er nicht zurückkehren würde. Dann kam sie steif und unter Schmerzen wieder auf die Beine, wozu sie sich am Feldbett abstützen musste. Sobald sie wieder stand und sich bewegte, ging es ihr ein wenig besser. Sie lief nach draußen, wo sie tief durchatmete. Raucherfüllte Luft war besser als die faulige, nach Drache stinkende Luft im Zelt. Sie suchte einen Ort im Lager, wo sie für sich sein konnte, und fand ihn hinter dem Galgen. Hier kam niemand her, wenn es nicht unumgänglich war. Das einzig Lästige waren die Fliegen. Allein und ungesehen brütete Kitiara vor sich hin. Sie konnte – durfte – Immolatus nicht erlauben, sein Vorhaben durchzuführen. Die Dracheneier waren Kit gleichgültig. Auch die Stadt und deren Bewohner waren ihr egal. Was den Tempel anging, so hätte sie Immolatus nach ihrer unangenehmen Erfahrung mit Freuden bei seiner Zerstörung geholfen. Aber weder sie noch der Drache durften ihren persönlichen Rachedurst befriedigen. Es
stand dabei zu viel auf dem Spiel, und der Preis, um den sie spielten, war enorm. Und anstatt alles, was sie gewonnen hatten, erneut einzusetzen, wollte der Drache ihren Gewinn einfach für einen glorreichen Abgang verpulvern. Und was für ein Abgang! Kitiara stampfte wütend und frustriert mit dem Fuß auf. Bald würde jeder in Ansalon wissen, dass die Drachen zurück waren. Ariakas’ Armee war noch nicht zum Großangriff bereit, so viel war offensichtlich, wenn man sich nur in diesem Lager umsah. Kholos und seine frischen Rekruten wären für die Ritter von Solamnia oder jede andere gut trainierte Armee ein gefundenes Fressen. Sie würden den Krieg verlieren, bevor er richtig losging, nur weil ein einziges arrogantes, egoistisches Ungeheuer beschlossen hatte, seiner Königin ins Gesicht zu spucken. »Im Kampf kann ich ihn nicht besiegen«, murmelte Kitiara, während sie zehn Schritte zurückwanderte. »Seine Magie ist zu mächtig; so viel hat er bewiesen. Aber selbst der mächtigste Magier hat eine wunde Stelle – genau zwischen den Schulterblättern.« Sie zog den Dolch aus ihrem Stiefel, wendete das Messer in ihrer Hand und sah das Sonnenlicht auf dem scharfen Stahl glitzern. Obwohl »Sir Nigel« ein überheblicher Ritter gewesen war, hatte er sein Versprechen eingelöst. Sie hatte ihr Schwert und ihr Messer vor der Höhle gefunden. »Nicht einmal Drachen haben am Hinterkopf Augen. Und Immolatus hält sich für unbesiegbar, was schon ein fataler Fehler gewesen ist.« Als sie in zwanzig Schritt Entfernung einen Astknoten entdeckte, packte sie den Dolch an der Klinge, zielte und warf. Blitzend sauste die Waffe durch die Luft und grub
sich eine Handbreit neben dem Astloch in den Stamm. Kit verzog das Gesicht. »Hat schon immer nach rechts gezogen.« Sie ging zu dem Baum und zog den Dolch heraus, der fast bis zum Heft in das Holz eingedrungen war. »Das hätte ihn getötet«, überlegte sie. »Jedenfalls in seiner menschlichen Gestalt. Einem Drachen hätte der Treffer wenig ausgemacht.« Diese Vorstellung war erschreckend. Wenn er seine Gestalt änderte, hatte sie keine Chance. Ihr kam ein entsetzlicher Gedanke – wenn er seine Gestalt nun schon gewechselt hatte! Das wäre denkbar, da er offenbar nicht das Geringste darauf gab, ob ihn jemand sah. Vielleicht hatte er beschlossen, zur Höhle zu fliegen… Nein, dachte Kit. Immolatus würde seine Tarnung beibehalten, jedenfalls bis er die Höhle erreichte. Soweit er wusste, hatten die Eier einen Wächter. Er hatte es so eilig gehabt, dass er sie nicht danach gefragt hatte. Einen Wächter, den das Eintreffen einer Roten Robe nicht besonders irritieren würde, der aber Alarm schlagen würde, wenn ein roter Drache kam. Immolatus würde sich in menschlicher Gestalt in die Höhle schleichen. Jedenfalls hoffte sie, dass sein gesunder Menschenverstand ihm das riet. Kitiara seufzte kopfschüttelnd, weil sie sich auf den gesunden Menschenverstand eines Drachen verlassen musste. Doch was er auch tat, sie hatte keine große Wahl. Sie musste einen Weg finden, um ihn aufzuhalten, oder sie würde den Rest ihres Lebens eine unbedeutende Söldnerin bleiben. Wie dein Vater, sagte eine ungebetene Stimme in ihr. Ohne die Stimme zu beachten, steckte Kitiara den Dolch
in ihren Stiefel zurück und brach auf, um den Drachen zu verfolgen.
11. Kapitel Meister Senej hatte recht. Die Moral seiner Kompanie hob sich beträchtlich, als man ihnen mitteilte, dass sie ausgewählt worden waren, in die Stadt einzudringen, um ihre Verteidigung von innen zu unterminieren. Es war eine gefährliche Aufgabe, doch nachdem man sie dazu gezwungen hatte, das tödliche Feuer von der Mauer zu erdulden, ohne zurückschlagen zu können, hießen die Männer diese Gelegenheit willkommen. »Das ist genau das, wofür wir ausgebildet wurden«, sagte Feldwebel Nemiss zu ihren versammelten Soldaten. »Geheimhaltung, Verschwiegenheit. Genau unser Weg. So lautet der Plan: Wir klettern südlich der Stadt die Klippen hoch, überqueren einen Grat und steigen den Berg wieder runter. Die Stadt betreten wir auf der Seite der Mauer, die an den Berg anschließt. Keiner wird damit rechnen, dass wir von dort kommen, deshalb dürften dort kaum Wachen stehen. Die Karte des Barons zeigt in der Nähe der Stelle, wo wir über die Mauer kommen, ein Lagerhaus bei einem alten, verlassenen Tempel. Soweit wir wissen, gibt es in der Stadt nichts mehr zu verkaufen, deshalb dürfte das Lagerhaus leer sein. Laut Plan sollen wir vor Tagesanbruch in der Stadt eintreffen und uns tagsüber in diesem Lagerhaus einigeln. Am späten Abend beginnen wir dann mit unserem Angriff.« Feldwebel Nemiss wies mit einem Daumen auf Raistlin, der am Rand der Menge stand. »Der Zauberer Raistlin Majere begleitet uns.« »Hurra!«, brüllte Caramon von seinem Platz aus.
Raistlin wurde knallrot und warf seinem Bruder einen ärgerlichen Blick zu. Er bemerkte, dass der Rest der Mitglieder der Kompanie C nicht annähernd so enthusiastisch reagierte. Horkin schätzten die Männer aufgrund seiner jahrelangen Verdienste, deshalb sahen sie – als seine Freunde – großzügig darüber hinweg, dass er ein Magier war, als wäre dies ein eher nebensächlicher Charakterfehler. Doch Raistlins fremdartiges Äußeres, seine Kränklichkeit und seine Neigung, sich von den anderen Soldaten fern zu halten, nahmen die Kompanie nicht eben für ihn ein. Die Männer murmelten in ihre Bärte, aber niemand wagte lauten Widerspruch, denn Caramon beobachtete sie. Diejenigen, die bereits Bekanntschaft mit seinen Fäusten gemacht hatten, hatten einen gesunden Respekt vor seiner Fähigkeit, jede echte oder vermeintliche Beleidigung seines Zwillingsbruders zu ahnden. Auch Feldwebel Nemiss beobachtete sie. Sie würde nicht dulden, dass jemand Befehle mit »Bauchschmerzen« entgegennahm. Deshalb wurde Raistlin ohne Widerrede in die Flankenkompanie aufgenommen. Ein Mann bot sogar an, ihm seine Ausrüstung zu tragen, doch das übernahm Caramon lieber selbst. Seine Spruchrollen, seinen Stab und seine Zauberzutaten würde Raistlin selbst tragen. Er hätte auch gern ein Zauberbuch mitgenommen, denn obwohl es ihm schließlich doch noch gelungen war, sich die Sprüche einzuprägen, die Horkin für eine derartige Unternehmung für nötig hielt, hätte sich Raistlin nach vielen weiteren Lesestunden sicherer gefühlt. Aber Horkin befand das Risiko, dass das kostbare Zauberbuch in die Hände ihrer Feinde geriet, für zu groß.
»Dich kann ich ersetzen, Roter«, fügte er gutmütig hinzu, »das Zauberbuch jedoch nicht.« »Sobald die Nacht anbricht, marschieren wir los«, fuhr Nemiss fort. »Ich hoffe, dass wir rechtzeitig durch die Berge gelangen, um die Stadt während der Dämmerung zu betreten. Unsere Verbündeten sollen einen Scheinangriff durchführen, damit die Augen der Rebellen sich nach vorne richten und nicht nach hinten.« Jemand aus der Linie machte ein abfälliges Geräusch. Feldwebel Nemiss nickte. »Ich weiß, was ihr denkt. Ich denke genauso, aber wir können nicht viel tun. Noch Fragen?« Jemand wollte wissen, was geschehen sollte, falls einer die Gruppe verlor. »Richtig, das ist eine gute Frage«, erwiderte der Feldwebel. »Wer von der Gruppe getrennt wird, kehrt zum Lager zurück. Versucht nicht, auf eigene Faust in die Stadt zu schleichen. Ihr könntet den gesamten Plan zunichte machen. Keine Fragen mehr? Abtreten. Wir treffen uns bei Sonnenuntergang hier.« Die Männer kehrten in die Zelte zurück, um ihre Sachen zu packen. Die Zelte ließen sie stehen, damit der Feind nicht merkte, dass eine Kompanie fehlte. Sie nahmen nur Kurzschwerter, Hirschfänger und Messer mit, keine Schilde, Rüstungen, Langschwerter oder Speere. Zwei erfahrene Bogenschützen erhielten zwei der wertvollen Elfenbögen und Köcher mit Pfeilen. Alle hatten Lederrüstungen an, keine Ketten- oder Plattenpanzer, welche fürs Klettern zu schwer und zu sperrig und für Heimlichkeiten zu laut waren. Darüber hinaus trug jeder ein zusammengerolltes Seil über der Schulter. Wasser würden sie unterwegs finden
und als Proviant dienten Notrationen. Diese Aussicht bekümmerte Caramon, doch er wuchs an diesem Schlag, indem er sich an die Härten des Krieges erinnerte. Caramon ging es viel besser, seit man ihm diese Unternehmung in Aussicht gestellt hatte. Die momentane Aufregung versetzte ihn in die Lage, die schrecklichen Erinnerungen an den Angriff auf die Mauer zu verdrängen. Da Caramon ohnehin nicht gern in der Vergangenheit verharrte, sah er nun wieder zuversichtlich in die Zukunft. Er nahm, was kam, und verschwendete keine Zeit darauf, sich um das zu sorgen, was hätte sein können oder was kommen könnte. Raistlin hingegen haderte noch mit seinem scheinbaren Versagen bei der Begegnung mit dem abtrünnigen Zauberer. Er hatte Angst, dass er seine Sprüche nicht bis auf den letzten Buchstaben beherrschte, und malte sich aus, was ihm alles Schreckliches zustoßen konnte, vom Abrutschen am Berg bis hin zur Gefangennahme und Folterung durch den Feind. Bis die Kompanie zum Ausrücken bereit war, hatte er derart schlimme Vorahnungen, dass er schon befürchtete, er wäre zu schwach für den Marsch. Er überlegte, ob er eine Krankheit vorschützen sollte, und wollte sich gerade bei Horkin melden, als er hörte, dass ein Name aufgerufen wurde. »Magus! Lasst Magus holen.« Magus! Ein Name, der vor Hunderten von Jahren durch Humas Lager geklungen sein mochte, der aber heutzutage keine Berechtigung mehr hatte. Da fiel es Raistlin wieder ein. Er selbst hatte sich gegenüber dem Zauberer als Erbe von Magus ausgegeben. Nachdem er geduckt aus dem Zelt getreten war, rief Raistlin: »Was wollt Ihr von Magus?«
»Wieso, kennt Ihr ihn?«, fragte ein Soldat. »Ich habe eine Botschaft für ihn.« »Ich weiß von ihm«, wich Raistlin aus. »Gebt mir die Botschaft. Ich sorge dafür, dass sie abgeliefert wird.« Der Soldat zögerte nicht. Die Spruchrolle, die er abliefern sollte, war mit seltsamen Symbolen bedeckt, die magischer Natur zu sein schienen. Je eher er das Ding los war, desto besser. Er händigte sie Raistlin aus. »Wer hat das geschickt?«, fragte dieser. »Der Zauberer aus dem anderen Lager«, erwiderte der Soldat und verschwand eilig, da er nicht darauf versessen war, dazubleiben und zu sehen, was das Etui enthielt. Nachdem Raistlin in sein Zelt zurückgekehrt war, zog er die Klappe herunter und schnürte sie fest zu. Er untersuchte die Hülle der Spruchrolle mit größter Vorsicht, denn ihm war bewusst, dass sie ihn möglicherweise töten sollte. Das Futteral strahlte eine schwache magische Aura aus, doch das war nur natürlich. Immerhin schien es ratsam, kein Risiko einzugehen. Raistlin legte die Rolle auf den Boden und wandte sein Gesicht ab. Er zog sein kleines Messer und setzte die Spitze der Klinge am Deckel des Futterals an. Dann schob er sie zwischen Deckel und die eigentliche Hülle und begann, langsam und vorsichtig den Deckel abzuheben. Das Zelt war von der Nachmittagssonne erwärmt. Auf seinem Hals und seiner Brust bildete sich Schweiß. Dennoch setzte er seine Arbeit entschlossen fort. Er hatte es fast geschafft, der Deckel wollte sich schon lösen, als ihm das Messer aus der feuchten Hand rutschte und in die Hülle eindrang. Der Deckel sprang ruckartig ab und kullerte davon.
Raistlin rutschte hastig nach hinten und hatte beinahe sein Bett umgeworfen. Ihm blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Doch nichts geschah. Der Deckel trudelte über den unebenen Untergrund und blieb an der Zeltwand liegen. Raistlin wischte sich erst einmal die Stirn und wartete, dass sein Herzschlag sich beruhigte, ehe er Zugriff und das Futteral mit spitzen Fingern anhob, um vorsichtig hineinzuspähen. Ein Stück Pergament steckte darin. Er konnte eine Handschrift erkennen. Er hielt die Hülle ins Licht, um erkennen zu können, ob es gewöhnliche Worte waren oder ein Zauberspruch. Es war nicht zu erkennen, und schließlich zog er das Papier ungeduldig aus der Rolle, ohne länger an die Konsequenzen zu denken.Magus, der Jüngere! Unsere Unterhaltung hat mir wirklich gefallen. Schade, dass Ihr gegangen seid. Vielleicht habe ich etwas gesagt, das Euch beleidigt hat, in diesem Fall möchte ich mich entschuldigen und Euch auch die Dinge zurückgeben, die Ihr unbeabsichtigt zurückgelassen habt. Wenn die Stadt an uns fällt, würde ich mich freuen, unsere Bekanntschaft zu vertiefen. Wir könnten uns nett unterhalten.Unterzeichnet war die Botschaft mit Immolatus. »Das also denkt er von mir«, sagte Raistlin verbittert. »Er hält mich für einen Einfaltspinsel, der in eine so dermaßen offensichtliche Falle läuft, dass selbst ein blinder, tauber und törichter Gossenzwerg sie meiden würde. Nein, mein zweigesichtiger Freund, so interessant du auch bist, ich habe nicht die Absicht, unsere Bekanntschaft zu vertiefen.« Er zerknüllte die Botschaft. Auf dem Weg zur Kompanie C warf er sie verächtlich in ein Lagerfeuer. Die Wut über diese Beleidigung ließ alle Gedanken, diesem Auftrag ir-
gendwie auszuweichen, verfliegen. Jetzt war er so begeistert Feuer und Flamme für die Mission, dass er sich freiwillig gemeldet hätte, wenn er nicht schon dafür abgestellt gewesen wäre. Er nahm seinen Platz neben Caramon ein. »Aufbruch!« Leise ging der Befehl von Mann zu Mann durch die Reihen. »Aufbruch!«Der Himmel war bewölkt. Ein leichter Regen hatte eingesetzt. Die Feuchtigkeit durchdrang alles – das Brot war matschig, Feuerholz ließ sich nicht entzünden. Die Soldaten klagten über die Nässe. Feldwebel Nemiss und Meister Senej waren beide gut gelaunt. Die dichten Wolken bedeuteten, dass diese Nacht weder Mond noch Sterne leuchten würden. Kompanie C brauchte drei Stunden, um die Klippen zu erreichen, die hinter der Stadt Hoffnungsende anstiegen. Es war keine so weite Entfernung – auf direktem Wege hätte ein zügiger Marsch von weniger als einer Stunde sie dorthin geführt. Doch Meister Senej wollte sichergehen, dass in der Stadt auch wirklich niemand von ihrem Plan Wind bekam, und so schlug Kompanie C einen Bogen und marschierte erst von der Stadt weg, um später wieder zurückzukommen, obwohl nicht einmal der scharfäugigste Späher auf der Mauer sie hätte sehen können. Man hatte eine Vorhut ausgeschickt, die eine passende Stelle finden sollte, an der die Kompanie mit dem Aufstieg beginnen konnte. Sie befürchteten bereits, dass sie Major Senej berichten müssten, er solle sich lieber einen neuen Plan ausdenken. Das Problem war die Überquerung des Flusses Hoffnung, nach dem die Stadt benannt war, ein tiefer, schnell fließender Fluss, der eine Schlucht in den Berg gegraben hatte. Das Flussufer war von Mühlen gesäumt, deren Räder sich noch immer quietschend und
stöhnend drehten, obwohl die Mühlen selbst verlassen und ihre Vorräte geplündert waren. Die Späher machten sich schon Sorgen. Die Sonne war untergegangen und die Kompanie C bereits auf dem Weg, als der Spähtrupp endlich eine Furt entdeckte. Dort, wo der Fluss aus dem Berg trat, teilte er sich um eine felsige Insel und bildete zwei relativ flache Arme, die weiter unten wieder zusammentrafen und ungebärdig in die Schlucht stürzten. Erfreut und erleichtert eilten die Soldaten zum verabredeten Treffpunkt zurück, um die anderen zur Furt zu führen. Die Soldaten hielten ihre Waffen hoch, als sie durch das schnell fließende Wasser wateten. Obwohl die Luft warm war, war das Wasser, das direkt aus den Bergen kam, eisig. Caramon bot seinem Bruder an, ihn zu tragen, doch Raistlin bedachte ihn mit einem Blick, bei dem Milch sauer geworden wäre. Er gürtete seine Roben hoch und stieg in den Fluss. Er prüfte jeden Schritt, bevor er weiterging, denn er wollte auf gar keinen Fall in die eiskalte Strömung stürzen. Um sich selbst machte er sich dabei weniger Gedanken als um seine magischen Spruchrollen. Obwohl sie sicher in ihren Hüllen steckten, die fest versiegelt waren, durfte er nicht riskieren, dass auch nur der kleinste Tropfen Wasser eindrang, die Tinte verlaufen ließ und die Magie verdarb. Als er schließlich sicher das andere Flussufer erreicht hatte, war ihm kalt bis ins Mark und er klapperte vor Kälte mit den Zähnen. Die Felsen, welche die Insel bildeten, boten auch eine natürliche Brücke über den zweiten Wasserlauf. Es würde Raistlin erspart bleiben, noch einmal ins Wasser zu steigen.
Seine Erleichterung war von kurzer Dauer. Das Überschreiten der Felsbrocken erwies sich als ebenso schwierig wie das Waten im Wasser, wenn auch als weniger unangenehm. Raistlins Beine und Füße waren von der Kälte taub. Er konnte seine Zehen nicht spüren und die Felsen waren vom andauernden Regen glitschig. Selbst die Veteranen verloren den Halt und fluchten leise, wenn sie in der Dunkelheit ausglitten und abrutschten. Mehr als einer wäre um ein Haar ins Wasser gestürzt. Caramon und Tauscher, der sich als äußerst geschickter Kletterer erwies, halfen Raistlin gemeinsam über die schwierigsten Stellen hinweg. Schließlich erreichte Kompanie C den unteren Klippenrand, wo die eigentliche Arbeit begann. Schwer atmend rieben die Männer ihre Beulen und Kratzer, während sie schweigend den gewaltigen, dunklen Berg vor sich betrachteten. Die Späher zeigten auf einen weit oben liegenden Sims. Hinter diesem Sims sahen sie den oberen Rand der Klippe. Genau hinter diesem Grat lag die Stadtmauer. »Majere, du bist der Stärkste«, meinte Feldwebel Nemiss und gab ihm einen eisernen Wurfhaken. »Wirf ihn so hoch über den Sims, wie du nur kannst.« Caramon ließ den schweren Haken zweimal kreisen und schleuderte ihn dann mit seinen starken Armen weit empor. Der Haken beschrieb einen sauberen Bogen, kam aber ein paar Sekunden später wieder herunter und hätte Nemiss den Schädel gespalten, wenn sie sich nicht mit einem schnellen Sprung in Sicherheit gebracht hätte. »Verzeihung, Sir«, murmelte Caramon. »Versuch es noch einmal, Majere«, befahl der Feldwebel, diesmal aus sicherer Entfernung.
Caramon warf erneut, achtete aber diesmal darauf, den Haken gegen den Berg zu richten. Der Haken mit dem Seil segelte schräg nach oben. Er prallte gegen einen Felsen am oberen Ende der Klippe und begann herunterzurutschen. Im letzten Augenblick blieb er an einem Felsvorsprung hängen und hakte sich fest. Caramon zog mit aller Kraft an dem Seil. Es hielt. »Turner, du zuerst«, befahl der Feldwebel. »Nimm noch ein paar Seile mit.« Turners wahren Namen kannte niemand, nicht einmal er selbst, denn er war angeblich schon als Kind so gerufen worden und reagierte daher automatisch darauf. Er stammte aus einer Zirkusfamilie, die in ganz Solamnia auf Jahrmärkten aufgetreten war, sogar im königlichen Zirkus der Hauptstadt Palanthas. Keiner wusste, weshalb er den Zirkus verlassen hatte. Er redete nie darüber, doch man munkelte, er hätte seine Frau und Partnerin bei einem Unfall oben auf dem Seil verloren, daraufhin den Zirkus verlassen und geschworen, nie zurückzukehren. Wenn das stimmte, dann hatte der Verlust wenig Einfluss auf sein Gemüt. Er war großzügig, freundlich und immer bereit, im Lager mit seinen Fähigkeiten anzugeben, um von seinen Kameraden bewundert zu werden. Er konnte seinen Körper zu Knoten verrenken, seine beweglichen Finger in die unglaublichsten Richtungen biegen, jeden Baum und jede Mauer erklettern. Oben angekommen, befestigte Turner einige weitere Seile und warf sie den unten wartenden Soldaten zu. Die Männer stellten sich hintereinander an und begannen der Reihe nach mit dem Aufstieg. Raistlin schaute zu und dachte nach. Er hatte kaum ge-
nug Kraft in seinen dünnen Armen, um einen vollen Weinkelch zu heben, ganz zu schweigen davon, sich an einem Seil hochzuziehen. Caramon war das natürlich auch klar. »Wie willst du das schaffen, Raist?«, erkundigte er sich flüsternd. »Du trägst mich«, konstatierte Raistlin. »Was?« Caramon musterte das Seil und die Höhe, die zu überwinden war. Leicht entgeistert sah er seinen Bruder an. Obwohl Raistlin mager war, war er doch ein erwachsener Mann und hatte darüber hinaus Stab, Spruchrollen und Zauberzutaten bei sich. »Du wirst mein Gewicht kaum merken, Caramon«, beruhigte ihn Raistlin. »Ich werde mich mit einem Zauber belegen, der mich leicht wie eine Hühnerfeder machen wird.« »Oh? Das geht? Na, dann ist es ja gut«, sagte Caramon mit grenzenlosem Vertrauen. Er bückte sich, damit Raistlin auf seinen Rücken steigen konnte. »Schling deine Hände um meinen Hals. Ist dein Stab gesichert?« Der Stab des Magus war ebenso sicher wie die Spruchrollen, die an Lederriemen um Raistlins Schultern hingen. Caramon begann, Hand für Hand an dem Seil hinaufzuklettern. »Hast du den Spruch gesagt, Raist?«, fragte er. »Ich habe gar keine magischen Worte gehört.« »Ich verstehe etwas von meinem Beruf, Caramon«, gab Raistlin zurück. Caramon kletterte angespannt weiter. Er spürte kaum zusätzliches Gewicht. »Raist! Dein Spruch funktioniert!«, teilte er über die Schulter mit. »Ich merke kaum etwas von dir!« »Sei still und pass auf, wohin du steigst«, gab Raistlin zu-
rück, der seine verfluchte Phantasie von der Vorstellung abzuhalten versuchte, was passieren würde, wenn Caramon den Halt verlor. Als sie den Sims erreicht hatten, glitt Raistlin vom Rücken seines Bruders, sank in sich zusammen und presste sich fest auf die Klippe. Er holte tief Luft und begann fast augenblicklich zu husten. Nachdem er ein Fläschchen aus seinem Gürtel gezogen hatte, schlürfte er das besondere Gebräu, das ihm das Atmen erleichterte. Der Husten ließ nach. Er war jetzt schon erschöpft, doch der schwierigste und gefährlichste Teil der Reise stand erst noch bevor. »Einmal noch, Männer«, mahnte der Feldwebel und reichte Caramon den Kletterhaken. Die Oberkante der Klippe war nicht so hoch über ihnen, wie der Sims vom Boden entfernt gewesen war. Caramon warf den Haken und sicherte das Seil schon beim ersten Versuch. Turner kletterte ohne Schwierigkeiten daran empor, verankerte seine Seile und ließ sie herunter. Raistlin überwand die Steigung wieder auf Caramons Rücken. Dieses Mal fühlte Caramon das zusätzliche Gewicht seines Bruders deutlich. Seine Arme begannen, vor Anstrengung zu schmerzen. Er hatte kaum die Kraft, sie beide über die Klippe zu ziehen. Glücklicherweise war die Entfernung diesmal kürzer, sonst hätte er es nie geschafft. »Ich glaube nicht, dass dein Spruch diesmal funktioniert hat, Raist«, meinte Caramon, der sich keuchend Schweiß und Regenwasser vom Gesicht wischte. »Bist du sicher, dass du ihn gesagt hast? Ich habe dich wieder nichts sagen hören.« »Du warst müde, weiter nichts«, entgegnete Raistlin knapp.
Ihre Anführerin ordnete eine Rast an, doch anschließend begann der Marsch zur Stadt. Das Gelände war uneben, sodass sie nur langsam vorankamen. Die Männer kämpften sich steile Felsvorsprünge hinauf und rutschten in Senken voller Felsbrocken. Mitternacht war längst vorüber, doch die Wachfeuer auf der Stadtmauer schienen nicht näher zu rücken. Meister Senej machte ein ernstes Gesicht, doch dann kehrten die Späher mit willkommenen Neuigkeiten zurück. »Sir, wir haben einen Weg gefunden, der direkt zur Stadt führt. Vermutlich ein alter Ziegenpfad.« Die Gasse schnitt in das Gestein ein. Sie war ausgetreten, aber eng. Die Männer mussten hintereinander laufen, und selbst so mussten manche, wie Caramon, sich stellenweise seitwärts drehen, um hindurchzupassen. An einer steinigen Lichtung machten sie Halt. Die Stadt lag direkt unter ihnen. Auf den Mauern oder um die Feuer standen Wachsoldaten, die sich leise unterhielten und gelegentlich zu den hell lodernden Feuern der Belagerer blickten. Die Wachsoldaten erleuchteten einen Teil der Klippe taghell. Die Männer auf dem Steinsims fühlten sich ausgeliefert, obwohl sie wussten, dass sie von unten kaum zu entdecken waren. Leise und so oft wie möglich im Schatten folgten die Soldaten dem Pfad in Richtung Stadt. Sie konnten schon fast auf die Mauer spucken, als Raistlins schlimmste Befürchtung wahr wurde. Er holte Luft und stellte fest, dass seine Atemwege blockiert waren. Vergeblich versuchte er, den Husten zu unterdrücken. Meister Senej blieb stehen und sah sich wütend um. »Schluss mit dem Radau!«, zischte Nemiss von vorne her.
»Schluss mit dem Radau!« Der Befehl ging von Mann zu Mann, bis alle verärgert auf Raistlin starrten. »Er kann nichts dafür!«, knurrte Caramon zurück. Er hatte sich vor seinen Bruder gestellt. Raistlin tastete nach seiner Flasche, setzte sie an und trank einen Schluck von der wenig schmackhaften Flüssigkeit. Manchmal wirkte der Kräutertrank nicht sofort. Mitunter hielten diese Hustenanfälle stundenlang an. In diesem Fall würden die Männer ihn zweifellos von der Klippe stoßen. Entweder half diesmal der Tee, oder seine schiere Willenskraft befeuchtete die knochentrockene Luft, die seine Lunge anzufüllen schien. Kompanie C zog weiter, bis die Stadtmauer direkt unter ihnen lag. Meister Senej schickte wieder die Kundschafter vor. Die Soldaten drückten sich flach auf die Klippe und warteten auf die Rückkehr der Kundschafter. Raistlin nahm hin und wieder einen Schluck Tee, damit seine Kehle nicht austrocknete. Die Späher kamen zurück, aber diesmal waren ihre Nachrichten enttäuschend. Der Pfad führte zu einem Bach, der durch eine Maueröffnung in die Stadt floss. Die Späher hatten die Öffnung untersucht, weil sie hofften, dass auch sie dort eindringen könnten, doch sie war so klein, dass nicht einmal Tauscher hindurchpasste. Der einzige Weg in die Stadt war der über die Mauer. Die Männer waren fast auf gleicher Höhe mit dem Wachturm. Drinnen brannte ein helles Licht, und sie konnten die Silhouetten von mindestens drei Mann sehen, die an den Schießscharten, die als Fenster dienten, hin und her gingen. »Wir werden wohl springen müssen«, stellte Meister Senej fest, der stirnrunzelnd Mauer und Wachturm musterte.
»Dann dürfte sich jede Wache aus dem Turm auf uns stürzen, Sir«, gab Nemiss zu bedenken. »Aber ich sehe auch keinen anderen Weg.« Meister Senej ließ die Bogenschützen rufen. Als er den Befehl mitbekam, verließ Raistlin seinen Platz am Ende der Reihe. »Ich muss zum Meister«, erklärte er, worauf die Männer ihm beistanden, bis er sich auf dem engen Pfad nach vorne durchgekämpft hatte. »Gebt uns von hier aus Deckung, bis wir von der Mauer runterkommen, dann folgt uns.« Der Meister gab den Schützen seine Befehle. »Zielt genau, mehr brauche ich nicht zu sagen. Jeder Schuss muss töten. Ein Schrei, und wir sind erledigt.« »Egal wie genau sie zielen, ihre Offiziere werden die Körper mit den Pfeilen finden, Sir«, wandte Raistlin ein, als er heruntergeklettert kam, um sich neben die Schützen zu stellen. »Dann wissen sie, dass wir in der Stadt sind.« »Ja, aber sie wissen nicht, wo wir uns versteckt halten«, hielt der Meister dagegen. »Sie werden nach uns suchen, Sir. Sie haben den ganzen Tag Zeit.« »Habt Ihr eine bessere Idee, Zauberer?« Der Meister sah ihn finster an. »Ja, Sir. Meine Methode. Ich sorge dafür, dass wir die Stadt sicher und im Geheimen betreten können. Niemand wird etwas merken.« Der Meister wie der Feldwebel hatten ihre Zweifel. Der einzige Magier, dem sie trauten, war Horkin, was daran lag, dass dieser mehr Soldat als Zauberer war. Keiner von ihnen mochte Raistlin, sie hielten ihn für schwach und dis-
ziplinlos. Der Hustenanfall hatte ihre schlechte Meinung nur bestätigt. Aber man hatte ihnen befohlen, ihn mitzunehmen und ihn seine Fähigkeiten nutzen zu lassen. Der Meister und der Feldwebel wechselten einen Blick. »Nun, ich glaube, wir haben wenig zu verlieren«, sagte Meister Senej mit einem Achselzucken. »Geht schon, Majere. Und ihr, Männer«, Feldwebel Nemiss warf einen Blick auf die Bogenschützen, »haltet eure Pfeile bereit, nur zur Sicherheit.« Sie fügte nicht hinzu, dass sie als Ersten den Magier erschießen sollten, falls dieser sie verriet, denn so viel verstand sich von selbst. »Wie kommt Ihr nach unten, Majere?«, wollte der Feldwebel wissen. Eine gute Frage. Der Stab des Magus beinhaltete einen Zauber, der es dem Zaubernden gestattete, leicht wie eine Feder durch die Luft zu schweben. Raistlin hatte in dem Buch über Magus, das er im Turm der Erzmagier entdeckt hatte, davon gelesen. Er hatte ihn schon ein paar Mal ausprobiert. Beim ersten Mal war er ziemlich übel vom Dach gefallen. Der zweite Versuch war erfolgreich verlaufen, obwohl er noch nie aus solch einer Höhe gesprungen war. Er war nicht sicher, wie weit der Spruch ihn tragen würde, und es schien nicht der rechte Augenblick für ein Experiment zu sein. »So wie ich hochgeklettert bin«, sagte er. Man ließ Caramon rufen. Caramon band ein Seil an einem Felsen fest und warf es über den Rand. »Wartet!« Feldwebel Nemiss hielt sie auf. Eine der Wachen passierte auf ihrer Runde genau die Stelle unter ihnen. Sie warteten, bis der Mann sich umdreh-
te und weiterging. Raistlin stieg auf den breiten Rücken seines Bruders. Caramon ergriff das Seil mit beiden Händen, schob sich über die Seite und begann, sich an der Klippe hinunterzulassen. Anfangs hingen sie im Schatten, doch bald gelangten sie in das Licht der Wachfeuer, das von der Klippe zurückgeworfen wurde. Die Soldaten auf dem Sims hielten alle den Atem an. Jetzt musste nur eine Wache im Turm einen kurzen Blick durch eine der Schießscharten werfen, und sie waren entdeckt. Raistlin beobachtete Mauer und Turm über die Schulter. Eine breite Gestalt verdeckte das Licht an einer der Öffnungen. »Caramon, halt!«, wisperte Raistlin. Caramon verharrte. Er konnte nicht lange so hängen bleiben und sich und seinen Zwilling halten. Seine Arme waren bereits müde, sie zitterten vor Anstrengung. So hilflos am Seil waren sie beide ideale Zielscheiben. Raistlin wartete auf einen Aufschrei, doch der Mann verließ das Fenster. Es wurde kein Alarm geschlagen. Man hatte sie nicht gesehen. »Jetzt!«, keuchte Raistlin. Caramon setzte den Abstieg fort. Die letzten paar Fuß gaben seine Arme nach. Er rutschte am Seil hinunter, scheuerte sich die Handflächen wund und plumpste schwer auf die Mauer. Raistlin rutschte von seinem Rücken und huschte in Deckung. Die Zwillinge duckten sich in den Schatten und warteten bebend ab. Gewiss hatte jemand sie gehört. Die Männer im Turm redeten laut. Anscheinend stritten sie über etwas und hatten nicht mitbekommen, was drau-
ßen vor sich ging. Raistlin spähte an der Mauer entlang. Der nächste Wachturm lag gut fünfzig Schritt entfernt, über den brauchte er sich also keine Gedanken zu machen. »Was soll ich machen?«, flüsterte Caramon. »Gib mir deine Flasche«, verlangte Raistlin gedämpft. »Flasche?« Caramon machte ein unschuldiges Gesicht. »Ich weiß nicht – « »Verdammt, Caramon! Gib mir die Flasche Zwergenschnaps, die du in der Hosentasche hast. Ich weiß, dass du sie dabeihast!« Wortlos zog der gescholtene Caramon die kleine, flache Flasche unter seiner Rüstung hervor und gab sie seinem Bruder. »Warte hier auf mich«, befahl Raistlin. »Aber, Raist, ich – « »Still!«, zischte Raistlin. »Tu, was ich sage!« Er verschwand ohne weitere Worte. Da er nicht wusste, was sein Bruder vorhatte, und er ihn nicht durch Ungehorsam in Gefahr bringen wollte, verharrte Caramon mit der Hand am Kurzschwert im Schatten. Raistlin schlich leise an der Mauer entlang, bis er das Fenster des Wachturms entdeckt hatte. Drinnen hörte er die Wachen reden. Auf das, was sie sagten, achtete Raistlin nicht. Seine gesamte Konzentration richtete sich auf seine Zaubersprüche. Unter dem Schlitz in der Wand kniend holte er ein Kästchen hervor und öffnete den Deckel. Er rief sich die Worte des Zaubers ins Gedächtnis. Dankbar stellte er fest, dass die Magie sofort greifbar war. Jetzt, da seine Angst verflogen war, staunte er über seine eigene Ruhe. Er holte eine Prise Sand heraus, um sie durch die Öffnung zu werfen, während er die magischen Worte sagte.
Die Stimmen wurden unverständlich, dann herrschte Schweigen. Etwas fiel auf den Boden und zerbrach mit lautem Klirren. Raistlin zuckte zusammen und wartete einen Augenblick, bis er sicher war, dass das Geräusch keine Aufmerksamkeit erregt hatte. Niemand kam, um nachzusehen. Vermutlich waren diese Wachen die einzigen Personen im Turm. Vorsichtig stand Raistlin auf und spähte in den Raum hinein. Drei Männer hingen in magischem Schlaf über einem Holztisch. Das Krachen, das er gehört hatte, stammte von einem Krug, der einer schlaffen Hand entglitten war. Die Schießscharte war zu schmal, um sich hindurchzuzwängen. Raistlin entkorkte die Flasche und warf sie so in den Raum, dass sie mitten auf dem Tisch landete. Der Alkohol spritzte über den Tisch und tropfte auf den Boden. Bald stank es im ganzen Raum nach Zwergenschnaps. Raistlin hielt einen Moment inne, um sein Werk zu bewundern. Wenn der wachhabende Offizier eintraf, würde er drei Wachen vorfinden, die gehofft hatten, die Monotonie der Wache durch einen Schluck Zwergenschnaps zu mildern, dabei aber etwas zu viel zu sich genommen hatten. Besser, als wenn der Offizier feststellte, dass drei seiner Männer während der Wache einfach eingeschlafen waren. Viel besser, als wenn er sie mit Pfeilen im Rücken finden würde. Beim Aufwachen würden die drei Wachen bestreiten, dass sie getrunken hatten. Niemand würde ihnen glauben. Sie würden wegen ihrer Pflichtvergessenheit bestraft, vielleicht sogar hingerichtet werden. Raistlin sah sie an. Einer der Männer war noch recht jung, höchstens siebzehn. Die anderen beiden waren älter, hatten vielleicht Familie. Ihre
Frauen würden zu Hause warten und sich sorgen… Raistlin ließ sich wieder auf den Boden sinken. Diese Männer waren der Feind. Er durfte nicht zulassen, das sie für ihn zu Menschen wurden. Diese drei Wachen waren vorläufig außer Gefecht. Die andere Wache war im Schatten verschwunden. Auf leisen Sohlen kehrte Raistlin zu seinem Bruder zurück. »Alles in Ordnung«, berichtete er. »Was ist mit den Wachen?«, fragte Caramon. »Keine Zeit für Erklärungen«, mahnte Raistlin. »Schnell! Hol die Männer runter.« Caramon zog dreimal an dem Seil. Kurz darauf ließ sich der Turner geschmeidig am Seil herunter, gefolgt von Feldwebel Nemiss. »Der Turm?«, fragte diese. »Alles in Ordnung, Sir«, meldete Raistlin. Feldwebel Nemiss zog kurz eine Augenbraue hoch. »Turner, geh nachsehen.« Raistlin lagen ärgerliche Worte auf den Lippen, aber er war klug genug, sie zu schlucken. Schweigend stand er da, während der Feldwebel ihn prüfend ansah. »Die schlafen alle selig, Sir«, meldete Turner schließlich grinsend. Er zwinkerte Raistlin zu. »Gut«, sagte Nemiss nur, warf Raistlin jedoch einen anerkennenden Blick zu. Danach zog sie an dem Seil. Als Nächster ließ sich Tauscher herab. Er grinste breit und aufgeregt. Der Feldwebel gab Befehle aus. »Turner, such eine Stelle, wo die Männer leicht über die Mauer kommen. Tauscher, du behältst den anderen Turm im Auge.« Die ersten Streifen am grauen Himmel deuteten an, dass
der Morgen sehr nahe war. Turner spähte über den Rand auf der anderen Seite der Mauer. Als er zurückkam, meldete er, dass unter ihnen eine Gasse hinter einem großen Gebäude verlief, möglicherweise ebenjenem Warenhaus, das sie als Versteck zu nutzen hofften. »Alles menschenleer, Sir«, stellte er fest. »Nicht mehr lange«, murmelte der Feldwebel. Ihre Soldaten standen immer noch im Schatten, doch der Morgen schien mit grausamer Eile anzubrechen. »Holt die Männer schnell dort runter.« Sie blickte in die Richtung der belagernden Armeen. »Wo bleibt das verdammte Ablenkungsmanöver, das man uns versprochen hat?« Die Männer glitten eilig an dem Seil herunter. Caramon blieb an der Mauer, um den Soldaten bei einer weichen Landung zu helfen. Er schickte sie über die Bollwerke. Turner befestigte ein Stück Seil an einer der Zinnen und hielt es fest, während die Männer die Mauer hinunterrutschten und dann die Gasse entlangrannten. Einer von ihnen winkte mit dem Arm und deutete auf das Gebäude. Anscheinend hatten sie einen Zugang entdeckt. »Sir!«, berichtete Tauscher. »Es kommt jemand vom anderen Turm! Er läuft in unsere Richtung!« Der Feldwebel fluchte. Die meisten Männer waren schon unten, aber fünf standen immer noch auf dem Sims, unter ihnen Meister Senej. Und noch immer gab es kein Zeichen für den versprochenen Angriff ihrer Verbündeten. »Das wird ein Offizier sein«, meinte der Feldwebel, »der seine Runde macht. Ich gehe.« Sie zog ihr Messer. »Lasst mich das machen, Sir«, bot Raistlin an. »Zauberer! Nein – «, setzte Nemiss an. Doch Raistlin war schon verschwunden. Er hielt sich so
tief im Schatten und bewegte sich so leise, dass er mit der Dunkelheit verschmolz. Der Feldwebel wollte ihm folgen. »Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Caramon würdevoll und legte Nemiss eine Hand auf den Arm, um sie zurückzuhalten, »aber Raist hat gesagt, er nimmt sich die Wache vor. Er hat Euch nicht enttäuscht.« An der Mauer stand ein großes hölzernes Wasserfass, das mit Eisenringen umspannt war – Löschwasser, falls der Feind brennende Geschosse in die Stadt schleuderte. Raistlin duckte sich hinter das Fass und beobachtete den nahenden Offizier. Dieser lief mit gesenktem Kopf, denn er war ganz in Gedanken versunken. Er brauchte nur den Kopf zu heben, dann würde er, wenn er gute Augen hatte, das dünne Seil sehen, das von den Felsen baumelte. Dann wäre alles aus. »Meister! Kommt schnell!« Der Kopf des Mannes fuhr hoch. Er blickte nicht nach vorne. Er schaute nach hinten, zu der Stimme hin. »Meister! Macht schnell! Der Feind!« Der Offizier zögerte und starrte zu dem Turm zurück, den er gerade verlassen hatte. Dann kam, wie gerufen, die Ablenkung. Blecherne, schlecht gestimmte Trompeten erschollen, die lieblichste Musik, die Raistlin je gehört hatte. Der Waffenmeister, der nun von einem unmittelbar bevorstehenden Angriff überzeugt war, drehte sich um und eilte die Wehranlagen entlang. Raistlin lächelte selbstzufrieden. Er hatte seine Bauchrednerkünste lange nicht mehr angewendet, zuletzt damals, als er noch auf den Jahrmärkten der Umgebung auftrat. Gut zu wissen, dass sein Talent nicht verloren gegan-
gen war. Bis er zurückkam, war ein Großteil der Kompanie über die Mauer und in die Stadt gelangt. Der Feldwebel und Meister Senej waren mit ihnen verschwunden, sodass nur noch Caramon und Turner übrig waren. Caramon kam ein Gedanke. »Wie kommst denn du runter?«, fragte er Turner. »Genau wie du. Am Seil«, erwiderte Turner. »Aber wer bleibt dann hier und bindet das andere Ende los?«, gab Caramon zu bedenken. »Das muss doch auch jemand machen, sonst wissen sie, dass wir hier sind!« »Gute Idee«, antwortete Turner todernst. »Warum bleibst du nicht hier und bindest das Seil los, sobald ich unten bin?« »Sicher, das mache ich«, willigte Caramon ein, um dann jedoch die Stirn zu runzeln. »Aber wie komme ich runter, wenn ich das Seil losbinde?« »Das ist ein Problem«, bestätigte Turner, der sich einen besorgten Anschein gab. »Ich glaube kaum, dass du fliegen kannst. Stimmt’s? Dann musst du das wohl mir überlassen.« Kopfschüttelnd und immer noch beunruhigt kletterte Caramon das Seil hinunter. Sein Bruder hielt sich wieder an seinem breiten Rücken fest. Turner wartete, bis sie unten waren, dann folgte er ihnen geschickt nach unten. Sobald er angekommen war, sah er am Seil hoch, das fest um die Zinne gebunden war. Turner ruckte an dem Seil. Der Knoten löste sich. Das Seil rutschte an der Wand herunter und landete vor seinen Füßen. Augenzwinkernd sah Turner die beiden an. »Er hat behauptet, der Knoten wäre fest!«, rief Caramon
entgeistert. »Wir hätten umkommen können!« »Komm schon, Caramon«, ordnete Raistlin gereizt an. Seine Aufregung ließ nach und wich allmählich der Schwäche, die ihn immer nach Gebrauch seiner Magie heimsuchte. »Du hast genug Zeit damit verschwendet, der Welt zu beweisen, was für ein Rindvieh du bist.« »Aber, Raist, ich verstehe nicht…« Ununterbrochen redend folgte Caramon seinem Bruder. Turner rollte das Seil an seiner Schulter auf und eilte ihnen nach. Er huschte genau in dem Moment in das Lagerhaus, in dem die Stadt mit großem Lärm erwachte, um sich für den bevorstehenden Angriff zu rüsten.
12. Kapitel Nachdem das Lagerhaus übernommen, gesichert, durchsucht und als das bestmögliche Versteck befunden worden war, das in einer belagerten feindlichen Stadt zu finden war, teilte der Feldwebel von Kompanie C die Wachen ein. Die anderen sollten eine Weile schlafen. Raistlin lag bereits im festen Schlaf der Erschöpfung, denn die körperliche Anstrengung sowie die Anspannung des Zauberns hatten ihn ausgelaugt. Diejenigen, die aufpassten, gaben sich große Mühe, das Schnarchen ihrer Kameraden zu überhören. Die Wachen liefen gegen ihre Müdigkeit an, schritten die gesamte Länge des leeren Bodens ab und blieben nur hin und wieder stehen, um aus dem Fenster zu sehen oder kurze Bemerkungen auszutauschen. Am Ende ihrer Wachzeit fielen ihnen die Augen zu, und ihre Köpfe sackten nach unten, um alarmiert hochzuzucken, wenn auf der Straße Schritte ertönten oder eine Ratte durchs Gebälk huschte. Der Morgen verstrich ereignislos. Kaum jemand verirrte sich in diesen Teil der Stadt. Die Torsteuer hatte die Märkte zum Erliegen gebracht und die Lagerhäuser geleert. Die einzigen Bürger, die vorbeikamen, waren offensichtlich auf dem Weg nach anderswo, denn sie blickten weder nach rechts noch nach links, sondern liefen mit sorgenvoll gesenktem Kopf vorbei. Einmal marschierten vier Soldaten heran, worauf die Wachen schon zum Schwert griffen und beinahe ihre Kameraden geweckt hätten. Aber die Patrouille zog weiter, und die Wachen sahen einander an, nickten und grinsten. Anscheinend hatte die Taktik des Magiers Erfolg gehabt. Niemand wusste, dass die Verteidigung der
Stadt durchbrochen war. Niemand wusste, dass sie hier waren. Mit Anbruch des Morgens hörte der Regen auf. Die Mittagssonne erhob sich hoch über ihren Köpfen. Raistlin schlief, als würde er nie wieder erwachen, während sein Zwillingsbruder auf ihn Acht gab. die übrigen Männer drehten sich entweder auf die andere Seite oder machten es sich auf dem Boden bequem, da sie froh waren, zur Abwechslung einmal gar nichts zu tun, zumal sie sich auf eine lange, gefahrvolle Nacht einstellen mussten. Außer Tauscher. Tauscher war viel mehr Mensch als Kender. Das Kenderblut in ihm war dünn, doch es gab Zeiten, in denen es an die Oberfläche trat und wie ein schlimmer Ausschlag juckte. Was ihn zu diesem Zeitpunkt besonders quälte, war Langeweile. Ein gelangweilter Kender ist ein gefährlicher Kender, wie einem jeder auf Ansalon bestätigen kann. Ein gelangweilter Halbkender mochte nur halb so gefährlich sein, doch wer sich in Gesellschaft eines gelangweilten Halbkenders befand, sollte lieber sein Schwert bereithalten und auf Ärger gefasst sein. Tauscher hatte ausgeschlafen; er brauchte ohnehin nur wenig Schlaf. Nach vier Stunden war er tatendurstig erwacht. Taten standen jedoch leider noch lange nicht an. Eine Stunde lang beschäftigte sich Tauscher mit der Durchsuchung des Lagerhauses vom Dach bis zum Keller, weil er etwas zu finden hoffte, das sich als Handelsgut erweisen könnte. Der Staub und die Spelzen auf dem Boden ließen darauf schließen, dass man das Lagerhaus als Kornspeicher genutzt hatte. Alles, worauf Tauscher stieß, waren ein paar
leere Taschen, in denen die Ratten bereits ihre eigenen Tauschgeschäfte betrieben hatten. Nachdem er mit leeren Händen von seiner Suche zurückgekehrt war, versuchte Tauscher, Caramon in ein Gespräch zu verwickeln, wurde jedoch scharf zur Ruhe ermahnt. Er sollte den Mund halten, damit er Raistlin nicht weckte. Tauscher kam es so vor, als könne allerhöchstens ein dampfgetriebener, kreischender Fensterputzapparat der Gnomen, wie er ihn einmal gesehen hatte, den Magier wecken. Als ihm dieser Apparat einfiel, hatte Tauscher versucht, Caramon diese interessante Geschichte zu erzählen, denn der Apparat hatte nicht nur kläglich versagt, sondern dabei auch noch jede einzelne Fensterscheibe zerbrochen. Die Besitzer der Fenster hatten sich aufgeregt. Sie wollten auf die Gnomen losgehen, die jedoch darauf hinwiesen, dass die scheibenlosen Fenster nun einen absolut klaren Blick nach draußen boten, und mehr war nicht verlangt worden. So erklärten die Gnomen, ihre Maschine sei ein Erfolg, und verließen anschließend die Stadt. Kurz danach war eine andere Gruppe Gnomen aus dem MundgeblasenesSpezialGlaserglasundSpiegelSiebenJahrePechKomitee eingetroffen (sie hatten sich darauf eingestellt, den Fensterputzern zu folgen), aber an der Stadtgrenze fortgejagt worden. Caramon brachte Tauscher wieder zum Schweigen, genau beim interessantesten Teil, wo die Gnomen ihre Maschine anstellten und dem Bürgermeister die Ohren bluteten. Der Halbkender spazierte davon. Tauscher streifte erneut ziellos durch das Lagerhaus, wobei er gelegentlich über einen Schlummernden stolperte, der im Schatten versteckt lag, und dann aus tiefster Seele
verflucht und getreten wurde. In einer sonnigen Ecke beugten sich Meister Senej und Feldwebel Nemiss über eine Karte und planten den nächtlichen Angriff. Das war wenigstens interessant. Tauscher blieb stehen und blinzelte auf die Karte. »Das ist die Hauptstraße, die zum Nordtor führt. Dieser Karte nach«, sagte der Meister gerade, »würde dieses Gebäude hier rechts den Männern eine ausgezeichnete Deckung bieten, bis sie losschlagen können.« »Und ich sage Euch, Sir: Einer unserer Spione berichtet, dass dieses Gebäude vor einem Monat abgebrannt ist«, wandte Nemiss ein. »Ihr könnt nicht davon ausgehen, dass es dort steht. Und wenn es nicht dort steht, sind wir von diesem Block hier bis zum Tor ungedeckt.« »Hier stehen Bäume…« »Die wurden gefällt, Sir.« »Sagt Euer Spion.« »Ich weiß, Ihr haltet nicht viel von ihm, Sir. Ich gebe auch zu, dass er uns nicht vor den Katapulten gewarnt hat, aber –« »Wartet, Feldwebel.« Als Meister Senej einen Schatten über die Karte fallen sah, blickte er auf. »Können wir dir helfen, Soldat?« »Ich könnte doch gehen«, bot Tauscher an, ohne den Sarkasmus zu beachten. »Ich kann hingehen und nachsehen, ob das Haus noch steht und ob die Bäume gefällt wurden. Bitte, Sir. Ich brauche wirklich etwas zu tun. Es juckt mir schon in den Händen und Füßen.« »Fußpilz.« Der Meister runzelte die Stirn. »Kein Fußpilz, Sir«, widersprach Nemiss. »Kender. Das heißt, Halbkender.«
Das Stirnrunzeln des Meisters vertiefte sich. »Ich wäre im Handumdrehen zurück, Sir«, bettelte Tauscher. »Kommt nicht in Frage«, entschied Meister Senej knapp. »Das Risiko, dass du bemerkt und aufgegriffen wirst, ist zu groß.« »Aber, Sir – «, flehte Tauscher. Der Meister machte ein wütendes Gesicht. »Vielleicht sollten wir ihn fesseln.« »Wisst Ihr, Sir«, meinte Nemiss, »das ist eigentlich kein schlechter Gedanke.« »Ihn zu fesseln?« »Nein, Sir. Ihn als Kundschafter loszuschicken. Immerhin hängt das Leben der Männer davon ab, ob dieses Haus dort noch steht oder nicht. Tauscher hat sich bereits als nützlich erwiesen.« Der Meister betrachtete Tauscher, der versuchte, mehr wie ein Mensch und weniger wie ein Kender auszusehen, um einen Vertrauen erweckenden Eindruck zu machen. »Das stimmt. Es würde uns helfen, Genaueres über dieses Haus zu wissen. Also gut«, rang der Meister sich durch. »Aber du bist auf dich allein angewiesen, Tauscher. Wenn du geschnappt wirst, können wir die Mission nicht dadurch in Gefahr bringen, dass wir dir zur Hilfe kommen.« »Das verstehe ich vollkommen, Sir«, sagte Tauscher. »Ich werde nicht geschnappt. Ich kann mich so unter die Leute mischen, dass niemand mich bemerkt. Und wenn doch, dann werden sie glauben, ich wäre – « Der Meister funkelte ihn an. »Solltest du nicht längst weg sein?« »Ja, Sir. Ich gehe schon, Sir.«
Tauscher schlich zu der Stelle zurück, wo Raistlin ruhte und Caramon über den Schlaf seines Bruders wachte. »Caramon«, flüsterte Tauscher. »Ich muss mir deinen Beutel leihen.« »Da steckt unser Proviant drin«, protestierte Caramon. »Was davon noch übrig ist«, fügte er bekümmert hinzu. »Ich weiß. Ich bringe das Essen zurück. Versprochen. Vielleicht sogar mehr.« »Aber du hast doch selbst einen Beutel!«, wandte Caramon ein. »Stab…«, murmelte Raistlin im Schlaf. »Der Stab… gehört… mir… Nein!« Er schrie auf und begann, wild um sich zu schlagen. »Schsch! Raist! Schsch! Alles ist gut«, flüsterte Caramon. Er hielt seinen Bruder an den Schultern fest und warf einen verstohlenen Blick auf Feldwebel Nemiss, die verärgert herübergeblickt hatte, weil es so laut geworden war. »Dein Stab ist hier, Raist. Gleich hier.« Caramon legte seinem Bruder den Stab unter die verzweifelt tastende Hand. Raistlin zog ihn schützend an sich, seufzte und schlief wieder ein. »Er bekommt Ärger mit dem Feldwebel, wenn er weiter so herumschreit«, stellte Tauscher fest. »Ich weiß. Deshalb bin ich ja auch bei ihm. Er ist ruhiger, wenn ich da bin.« Caramon schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was das ist. Ich habe ihn noch nie so erlebt. Dauernd tut er so, als ob ihm jemand den Stab wegnehmen wollte.« Tauscher zuckte mit den Schultern. Was Raistlin tat oder dachte, war ihm ziemlich gleichgültig. »Komm schon. Gib mir den Beutel.« Caramon händigte ihm den Beutel aus und sah zu, wie
Tauscher Caramons Beutel über die eine und seinen eigenen über die andere Schulter legte. »Ich könnte noch ein paar mehr gebrauchen, aber die hier müssen eben reichen. Wie schade, dass sie mir die Haare abgeschnitten haben. Wie sehe ich aus?« Tauscher verstrubbelte seine kurzen Haare, bis sie nach allen Seiten abstanden. Dann setzte er ein fröhliches, unbeschwertes Lächeln auf. »Na, so was«, antwortete Caramon erstaunt. »Du siehst aus wie ein richtiger Kender. Nicht beleidigt sein«, fügte er hinzu, weil er wusste, wie empfindlich sein Freund in dieser Beziehung war. »Bin ich nicht«, grinste Tauscher. »Genau das wollte ich nämlich hören. Bis später.« »Wo willst du hin?«, wollte Caramon wissen. »Kundschaften«, erklärte Tauscher stolz.In einer ummauerten Menschenstadt, wo jeder jeden kennt, und das vermutlich schon sein Leben lang, musste jeder Fremde, der die Stadt betrat, im günstigsten Fall Aufmerksamkeit erregen. Jetzt, da die Stadt von feindlichen Truppen belagert wurde, war alles auf der Hut. Die Bewohner gingen ihren Geschäften bis an die Zähne bewaffnet nach, immer zum Angriff bereit. Jeder Fremde wurde sofort ergriffen, festgehalten und zum Verhör geschleppt. Ausgenommen Kender. Das Problem ist nicht, dass Kender für Menschen alle gleich aussehen, sondern dass derselbe Kender nie zweimal hintereinander gleich aussieht. Entweder hat er mit einem Freund die Kleider getauscht oder sie einem Freund stibitzt oder interessante Kleider von einer Wäscheleine geliehen, wo sie zum Trocknen gehangen haben. An einem Tag konnte er Blumen in den Haaren haben, am nächsten A-
hornsirup. Er konnte seine Schuhe tragen oder die des nächsten Passanten oder gar keine. Kein Wunder, dass die meisten Menschen – besonders aufgeregte, ängstliche und besorgte Menschen – nicht wussten, ob sie tagelang denselben Kender sahen oder verschiedene Kender, die alle mehr oder weniger gleich aussahen. Deshalb schenkte niemand in Hoffnungsende Tauscher die geringste Beachtung – abgesehen davon, dass alle reflexartig ihre Börsen festhielten. Tauscher spazierte die Hauptstraße der Stadt entlang und bestaunte die hohen, eng aneinander gedrängten Häuser aus dunklem Fachwerk mit Gips zwischen den Balken. Bleiglasscheiben funkelten in den überhängenden Erkern des ersten Stocks. Manche Häuser hätten allerdings einen Anstrich gebraucht. Andere waren ziemlich heruntergekommen, was die Besitzer niemals zugelassen hätten, wenn sie es sich hätten leisten können, die herunterhängenden Fensterläden zu befestigen oder zerbrochene Scheiben zu ersetzen. Die Geschäfte, an denen er vorbeikam, waren zugesperrt, die Marktstände leer. Nur in den Schenken herrschte Betrieb, denn dort ging jeder hin, der etwas Neues erfahren wollte. Wobei die Neuigkeiten zumeist nicht gut waren. Die Leute, die Tauscher traf, waren blass und niedergeschlagen. Wenn sie sich unterhielten, dann mit leiser, bedrückter Stimme. Er grüßte die Leute laut, doch niemand antwortete. Die meisten schüttelten nur den Kopf und eilten weiter. Die einzigen fröhlichen Menschen, die er in der ganzen Stadt fand, waren zwei zerlumpte, dreckige kleine Jungen, die herumrannten und mit Holzschwertern aufeinander einschlugen.
»Das also sind die Rebellen«, stellte Tauscher fest. Er kam an einem offenen Fenster vorbei, hinter dem eine schmale junge Frau, die selbst halb verhungert wirkte, versuchte, einen unruhigen Säugling zu stillen. Tauscher rief sich in Erinnerung, wie Borar den Pfeil in den Hals bekommen hatte. Er stellte sich die zerquetschten Körper vor, die unter den riesigen Felsbrocken gelegen hatten, und konnte so eine ganze Menge Hass auf diese Menschen in sich erzeugen. Doch da nur der menschliche Anteil in Tauscher hassen konnte und dieser Anteil nur eine Hälfte von ihm darstellte, wurde sein Hass ziemlich verwässert. Der verbliebene Hass brachte ihn immerhin zum Tor, das geschlossen, verriegelt und verbarrikadiert war. Der Spion hatte teilweise recht gehabt. Das fragliche Haus war abgebrannt, doch die hohen Bäume unterhalb der Mauer, Bäume, die zu den Verteidigungsmaßnahmen der Stadt gehörten, würden den Angreifern diesmal helfen, indem sie den nötigen Schutz für ihren Angriff boten. Tauscher trieb sich an der Mauer herum, wo er sich Einzelheiten der Umgebung einprägte und versuchte, Antworten auf die Fragen zu finden, die der Meister und der Feldwebel ihm vermutlich stellen würden. Das dauerte nicht lange. Eigentlich hätte er ins Lagerhaus zurückkehren können, doch die Vorstellung, wieder in diesem Gebäude festzusitzen und Raistlin beim Schlafen zuzusehen, war ihm unerträglich. »Dem Meister würde es bestimmt gefallen, wenn ich Informationen über den Feind bringen würde«, sagte sich Tauscher. »Der Feind ist hier überall. Irgendwo muss doch jemand darüber reden, was sie so vorhaben.« Eine kurze Suche führte ihn zu einer viel versprechenden
Quelle. Bei einem Wachturm hatten sich einige Zivilisten und Soldaten auf der Mauer versammelt. Einer von ihnen, ein großer, behäbiger Mann in guten Kleidern, trug eine schwere goldene Kette um den Hals. Eine solche Kette konnte auf einen wichtigen Mann hindeuten. Tauscher wünschte sich gerade in vollem Ernst, er könnte als Maus zwischen ihren Füßen herumhuschen, als der Anblick der Bäume an der Mauer ihn auf eine bessere Idee brachte. Er würde keine Maus sein, sondern ein Vogel. Nachdem er den höchsten Baum in der Nähe der Gruppe ausgewählt hatte, wartete Tauscher unten im Schatten, bis er ziemlich sicher war, dass die wenigen Passanten ihn nicht bemerkt hatten. Er befreite sich von seinen Beuteln, legte sie unten an den Stamm und begann zu klettern. Geschickt stieg er von Ast zu Ast. Er nahm sich genug Zeit, jeden Halt für Hände und Füße sorgfältig zu prüfen, damit die Zweige nicht raschelten. So leise stieg er hoch, dass er ein Eichhörnchen in seinem Nest erschreckte. Es keckerte verärgert und flitzte, gefolgt von seinem Jungen, aus seinem Baumloch. Ihre Schwänze zuckten, und sie schlugen mit schriller Stimme Alarm. Der Aufruhr der Eichhörnchen gab Tauscher die allerbeste Deckung, sodass er viel näher an die Gruppe gelangte, als er gehofft hatte. Direkt unterhalb der Mauerkante richtete er sich auf einem Ast ein und konzentrierte sich aufs Lauschen. Ein aufgeregter Schauer überkam ihn, als er hörte, wie einer der Männer den Mann mit der goldenen Kette als »Herr Bürgermeister« bezeichnete. »Ein Kriegsrat!«, sagte sich Tauscher begeistert. »Ich bin auf einen Kriegsrat gestoßen!« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, wie er bald fest-
stellen musste. Der Bürgermeister war gekommen, um die Folgen des jüngsten Angriffs seiner Feinde zu begutachten, eines Angriffs, der bis in den Vormittag angehalten hatte, worauf der Feind sich in sein Lager zurückgezogen hatte. »Jetzt haben wir schon zwei Angriffe abgewehrt«, sagte der Bürgermeister gerade hoffnungsvoll. »Ich glaube, wir haben gute Aussichten, diesen Krieg zu gewinnen.« »Pah! Das waren beides nur Scheinangriffe.« Diesmal sprach ein älterer, grauhaariger Mann. »Sie locken uns aus der Reserve und prüfen unsere Stärke. Inzwischen haben sie eine gute Vorstellung davon, dank dem Esel, der gestern Morgen Befehl gab, das Katapult auszulösen.« Auf das missbilligende Hüsteln des Bürgermeisters folgte Schweigen. Dann redete wieder der ältere Mann. »Ihr solltet den Tatsachen ins Auge sehen, verehrter Herr Bürgermeister. Wir haben nicht die geringste Chance, diesen Kampf zu gewinnen.« Noch mehr Schweigen. »Nicht die geringste«, wiederholte er daraufhin. »Ich führe größtenteils unausgebildete Männer. Ja, ich habe ein paar Bogenschützen, die ihr Ziel treffen, aber nicht viele, und die werden beim ersten größeren Angriff niedergemäht werden. Wisst Ihr, was heute Morgen geschehen ist, Sir? Ich fand drei meiner Wachen sternhagelvoll auf ihrem Posten. Kann es ihnen auch kaum verdenken. Wenn ich gestern etwas zu trinken gehabt hätte, hätte ich mich auch sinnlos betrunken.« »Was schlagt Ihr denn vor?«, fragte der Bürgermeister mit zitternder Stimme. Er schien am Rande der Hysterie zu stehen. »Wir haben doch versucht, uns zu ergeben! Ihr habt gehört, was dieser… dieser Teufel gesagt hat!« »Ja, ich habe es gehört. Das ist auch der einzige Grund,
warum ich mich letzte Nacht nicht habe voll laufen lassen.« Die Stimme des Kommandanten wurde schärfer. »Ich hoffe, lange genug zu leben, um gegen ihn antreten zu können.« »Es ist kaum zu glauben«, sagte der Bürgermeister, »aber man könnte meinen, König Wilhelm will uns alle tot sehen. Er musste doch wissen, dass diese empörende Steuer uns in die offene Rebellion treiben würde. Er hat uns in diese Lage gebracht, und jetzt schickt er seine Armee, um uns eine Lektion zu erteilen. Als wir versuchten, Frieden zu schließen, stellte sein General solch unmögliche Bedingungen, dass kein klar denkender Mensch darauf eingehen könnte.« »Ich kann dazu überhaupt nichts sagen, verehrter Herr Bürgermeister.« »Aber warum?«, wollte der Bürgermeister hilflos wissen. »Warum tut er uns das an?« »Wenn es noch Götter gäbe, wüssten die es. Da es aber keine mehr gibt, muss ich annehmen, dass nur König Wilhelm es weiß, und der ist irre geworden, wenn es stimmt, was man so hört. Vielleicht hat er neue Bewohner für unsere Häuser. Ich sage Euch nur eins: Das da draußen ist nicht die Armee von Blödehelm.« »Nicht?« Der Bürgermeister schien erstaunt zu sein. »Aber… wessen Armee ist es dann?« »Ich weiß es nicht. Aber in der Armee von Blödehelm habe ich einige Jahre gedient und das ist sie nicht. Wir waren eine bodenständige Armee. Wir haben den Pflug stehen lassen und das Schwert genommen, sind ein paar Stunden marschiert, haben unsere Schlacht ausgetragen und waren zum Abendessen wieder zu Hause. Diese Armee aber – das ist eine Armee aus Kämpfern. Eine Berufsarmee, kein Hau-
fen Bauern in Opas Rüstung.« »Aber dann… was hat das zu bedeuten?« Der Bürgermeister hörte sich an wie betäubt, als hätte ihn jemand mit einem Stein getroffen. »Das bedeutet, dass Ihr Recht habt, Herr Bürgermeister«, stellte der Kommandant lakonisch fest. »Der König – oder irgendwer – will uns alle tot sehen.« Der Kommandant verbeugte sich vor dem Bürgermeister und ging davon. Der Bürgermeister murmelte etwas in sich hinein, stieß einen Riesenseufzer aus, blieb noch ein Weilchen auf der Mauer stehen und stieg dann hinunter. Tauscher saß noch ein Weilchen länger auf seinem Baum und ging das Gespräch noch einmal durch, damit er es ganz korrekt wiedergeben konnte. Nachdem er sich alles eingeprägt hatte, kletterte er den Baum hinunter, holte seine Beutel und tauchte direkt vor der Nase des Bürgermeisters aus dem Gebüsch auf. Der Bürgermeister zuckte zurück und griff prompt nach seinem Geldbeutel. »Verschwinde!« Dieser Empfehlung folgte Tauscher nur zu gern. Der Bürgermeister sah ein zweites Mal hin, kam in Bewegung und versperrte dem Halbkender mit seinem schweren Körper den Weg. »Warte mal! Kennen wir uns?« Der Bürgermeister fasste Tauscher genauer ins Auge. »Oh, ja«, erwiderte Tauscher fröhlich. »Woher?« Der Bürgermeister runzelte die Stirn. »Ich hatte schon viele Male die Ehre, vor Euch zu erscheinen, Herr Bürgermeister.« Tauscher verbeugte sich höflich. »Wirklich?« Der Bürgermeister hatte seine Zweifel.
»Bei der Entlassung. Ihr wisst schon. Wenn man uns morgens aus dem Kittchen lässt, nachdem man uns alle am Vorabend eingesperrt hat, und wenn man uns vor Euch führt und Ihr diese wunderbaren Reden haltet, über Recht und Ordnung und Ehrlichkeit als höchstes Gut und das alles – wirklich sehr bewegend.« »Aha.« Der Bürgermeister wirkte immer noch verwirrt. »Ich habe mir die Haare abgeschnitten«, bot Tauscher an. »Vielleicht erkennt Ihr mich deshalb nicht wieder. Und ich war schon lange nicht mehr im Gefängnis. Eure Ansprachen«, schwor er feierlich, »haben mir geholfen, meinem Leben eine Wende zu geben.« »Na, da bin ich aber froh«, lobte der Bürgermeister. »Sorg dafür, dass es auch so weitergeht. Einen schönen Tag noch.« Er ging die Straße hinunter und stieg die Stufen zu einem sehr schönen Haus hoch, dem schönsten Haus des Blocks. »Uff!«, stieß Tauscher aus, der sicherheitshalber eine andere Straße wählte, damit der Bürgermeister ihn kein zweites Mal zu Gesicht bekam. »Das war knapp. Kaum zu glauben, dass er so schnell von der Mauer runter war! Für einen so dicken Menschen bewegt er sich ganz schön schnell, das muss man ihm lassen.«»Sie haben versucht, sich zu ergeben?« Meister Senej starrte den Halbkender bass erstaunt an. »Ihr wollt mir erzählen, wir haben gute Männer an eine Stadt verloren, die gar nicht kämpfen will?« »Er muss sich verhört haben. Ihr müsst Euch verhört haben«, sagte Nemiss zu Tauscher. »Was genau haben sie gesagt?« »Wir haben doch versucht, uns zu ergeben«, sagte Tauscher, »und ich habe noch mehr. Hört zu.« Er wiederholte
ihnen wortwörtlich das ganze Gespräch. »Wisst Ihr«, überlegte Meister Senej stirnrunzelnd, »ich hatte denselben Eindruck von dieser Armee. Ich habe noch nie mit der Armee von Blödehelm gekämpft, aber ich habe von ihnen gehört. Sie sind genau so, wie der alte Mann sie beschrieben hat – lassen den Pflug stehen, um zum Schwert zu greifen, und werfen das Schwert hin, um an ihren Pflug zurückzukehren.« »Aber wenn das stimmt, was hat das alles zu bedeuten, Sir?« wiederholte Feldwebel Nemiss unwillkürlich die Worte des Bürgermeisters. »Es bedeutet, dass der Feind die weiße Fahne schwenkt, während wir ihm den Kopf abschlagen«, sagte der Meister. »Das wird dem Baron überhaupt nicht gefallen.« »Was machen wir nun, Sir? Der Angriff ist für morgen früh angesetzt. Unser Befehl lautet, die Tore von hinten anzugreifen. Wir können doch nicht den Befehl verweigern.« Der Meister dachte eine Weile angestrengt nach, dann kam er zu einer Entscheidung. »Der Baron muss erfahren, was hier vorgeht. Er hat den Ruf eines gerechten, aufrechten Mannes. Stellt Euch mal vor, wie sein Ruf – und unserer – leiden wird, wenn sich herausstellt, dass wir an einem kaltblütigen Blutbad beteiligt waren! Wir werden nie wieder angeheuert! Er sollte wenigstens die Gelegenheit bekommen, seine Befehle zu überdenken oder zu verändern.« »Ich glaube kaum, dass wir genug Zeit haben, einen Boten zu senden, Sir.« »Es ist erst kurz nach Mittag, Feldwebel. Ein einzelner Mann kommt schneller voran als eine ganze Truppe. Wenn er den direkten Weg nimmt, kann er in drei Stunden dort
sein. Eine Stunde, um dem Baron die Lage zu erklären. Drei Stunden zurück. Noch ein, zwei Stunden für etwaige Zwischenfälle, dann dürfte er spätestens bei Sonnenuntergang wieder hier sein. Der Angriff findet erst im Morgengrauen statt. Wer ist Euer bester Mann?« »Turner«, antwortete Nemiss. »Lasst Turner rufen.« Als Turner auftauchte, gähnte er noch und wirkte verschlafen. »Du musst dem Baron eine Botschaft überbringen«, erklärte der Meister, und sein angespannter Tonfall machte Turner auf einen Schlag hellwach. »Ja, Sir«, erwiderte er und straffte sich. »Du kannst nicht bis Einbruch der Dunkelheit warten. Du musst sofort gehen. Der beste Weg ist wahrscheinlich wieder hinten über die Mauer. Wir haben es mit einer Bürgermiliz zu tun, aber gib dennoch gut Acht. Es spielt keine Rolle, ob dich ein ausgebildeter oder ein unausgebildeter Mann tötet, tot bist du so oder so.« »Ich weiß Bescheid, Sir. Ich komme durch«, sagte Turner zuversichtlich. »Lauf auf direktem Weg zum Lager. Melde dich beim Baron. Ich will, dass du ihm Folgendes sagst. Wie ist dein Gedächtnis?« »Ausgezeichnet, Sir.« »Tauscher, erzähl ihm, was du uns erzählt hast.« Tauscher wiederholte seine Geschichte. Turner hörte aufmerksam zu, nickte einmal und sagte, er hätte sich alles gemerkt. Man bot ihm Ausrüstung an, doch er sagte, er brauchte nur sein Seil und sein Messer. Sobald die Wache meldete, dass die Straße leer war, duckte sich Turner durch die Tür und verschwand um die Ecke des Lagerhauses.
»Jetzt können wir nur noch warten«, meinte der Meister. Die Nachmittagsstunden zogen sich quälend dahin. Die Männer vertrieben sich die Zeit mit Rittersprung, einem Spiel, bei dem der Spieler mit einer Spielmünze auf den Rand einer kleineren Münze drückt, damit die kleinere in eine Tasse springt. Derjenige, der am Ende die meisten Spielmünzen in der Tasse hat, ist der Sieger. Dieses sehr alte Spiel – angeblich das Lieblingsspiel des legendären Ritters Huma – war bei den Männern des Barons, die ihre selbst gemachten Spielmünzen genauso schätzten wie echte Münzen des Reiches, sehr beliebt. Jeder Soldat ließ sich beim Schmied aus Metallresten seine eigenen Münzen herstellen und mit seinem ganz persönlichen Muster versehen. Es gab verschiedene Varianten. Manchmal musste der Spieler seine Münze nicht nur in die Tasse springen lassen, sondern auch genau auf die Münze, die bereits in der Tasse lag. Beim Rittersprung war der Baron unschlagbar, und es zeigte sich, dass auch Raistlin mit seiner hoch entwickelten Geschicklichkeit in diesem Spiel ausgezeichnet war. Es war eine der wenigen »frivolen« Freuden, die der eigentlich ernsthafte junge Mann sich zugestand, und er spielte es mit einer konzentrierten Hingabe, die Gelegenheitsspieler einschüchternd fanden, die von Experten aber anerkennend zur Kenntnis genommen wurde. Ein schlechter Verlierer beharrte verstimmt darauf, dass der Zauberer wohl nur dank seiner Magie gewann, doch Raistlin bewies ihm rasch das Gegenteil – zur Zufriedenheit seiner Anhänger, die recht zahlreich waren (nicht, weil sie ihn mochten, sondern weil er ihnen zu Geld verhalf). Raistlins natürliche Abneigung dagegen, sein eigenes
hart verdientes Geld aufs Spiel zu setzen, hielt ihn von diesen Spielen ab, doch er fand schnell Soldaten, die ihm gerne aushalfen, wenn er sie am Gewinn beteiligte. Caramon mit seinen großen, ungeschickten Pranken war bestenfalls ein mittelmäßiger Spieler. Er sah lieber seinem Bruder zu, wobei er Raistlin mit seinen wohlmeinenden, aber schlecht überlegten Ratschlägen oft maßlos ärgerte. Das einzige Geräusch, das den ganzen Nachmittag über zu hören war, war das Klappern der Münzen in den metallenen Trinkbechern und das gelegentliche leise Stöhnen oder unterdrückte Fluchen der Verlierer sowie das gemurmelte Lob für den Gewinner. Bei Sonnenuntergang endete das Spiel, jedoch erst, als es zu dunkel wurde, um die Entfernung für den Sprung richtig abschätzen zu können. Die Männer verteilten sich, um ihr Abendessen aus kaltem Fleisch und hartem Brot zu sich zu nehmen, das sie mit Wasser herunterspülten. Danach hielten einige ein Nickerchen, denn sie wussten, dass sie früh aufstehen sollten. Andere vertrieben sich die Zeit mit Geschichten oder Wortspielen. Raistlin gab Caramon seinen Anteil an dem Gewinn zur sicheren Aufbewahrung, schlürfte kalten Tee und schlief dann friedlich ein. Diesmal träumte er nicht von bösen Zauberern, sondern von Münzen und Tassen. Inzwischen wusste jeder von Turners Auftrag, und sie wussten auch, in welcher Gefahr er sich befand. Im Geiste verfolgten sie seinen Weg, überlegten, wie lange er brauchen würde, bis er das Lager erreichte, und diskutierten, ob er sich wohl an die Straße halten oder eine Abkürzung nehmen würde. Sie setzten sogar Geld auf die Antwort des Barons. Als die Dunkelheit einsetzte, blickten die Soldaten zur
Tür, spähten aus dem Fenster, reagierten hoffnungsvoll, sobald auf der ansonsten verlassenen Straße Schritte zu hören waren, und waren niedergeschlagen, wenn die Schritte weiterliefen. Der Zeitpunkt, zu dem vernünftigerweise mit Turners Rückkehr zu rechnen war, verstrich. Meister Senej und Feldwebel Nemiss setzten ihre Planung des morgendlichen Angriffs fort. Doch dann rief einer der Soldaten leise und nervös: »Wer da?« »Kiri-Jolit und der Eisvogel«, erklang die korrekte Losung. Ein müder, aber zufriedener Turner schlüpfte an dem Posten vorbei. »Was hat der Baron gesagt?«, wollte Meister Senej wissen. »Fragt ihn selber, Sir«, erwiderte Turner. Er deutete mit dem Daumen auf den Baron, der hinter ihm stand. Die Männer starrten erstaunt hin. »Achtung!«, rief Feldwebel Nemiss aus und sprang auf. Die Männer gehorchten eilig. Der Baron winkte ab und gebot ihnen, zu bleiben, wo sie waren. »Ich will dieser Sache auf den Grund gehen«, erklärte er. »Obenauf ist vielleicht reines Wasser, aber ich habe das Gefühl, darunter finde ich einen Sumpf. Was ich von unseren so genannten Verbündeten höre, gefällt mir nicht. Und was ich von ihnen gesehen habe, gefällt mir schon gar nicht.« »Ja, Sir. Wie lauten Eure Befehle, Sir?« »Ich will mit jemandem sprechen, der in dieser Stadt etwas zu sagen hat. Vielleicht dieser Kommandant – « »Das dürfte gefährlich werden, Sir.« »Verdammt, das weiß ich selbst. Ich – « »Entschuldigt bitte, Herr.« Tauscher tauchte unter dem
Ellbogen des Barons hervor. »Aber ich kenne das Haus des Bürgermeisters. Jedenfalls glaube ich, dass es sein Haus ist. Es ist das größte und schönste im Block.« »Wer bist du?«, fragte der Baron, der die Gestalt in der Dunkelheit nicht genau erkennen konnte. »Tauscher, Sir. Ich bin derjenige, der den Bürgermeister belauscht hat, und ich habe beobachtet, wie er eine Straße hinunterlief und in ein Haus ging.« »Kannst du dorthin zurückfinden?« »Ja, Sir«, antwortete Tauscher. »Gut, also los. Wir haben wenig Zeit. Meister Senej, Ihr und Feldwebel Nemiss bleibt bei den Soldaten. Wenn wir nicht bis Sonnenaufgang zurück sind, führt Ihr Euren Angriff durch.« »Ja, Herr. Dürfte ich vorschlagen, Herr, dass Ihr noch einige Männer mitnehmt, falls es Schwierigkeiten gibt?« »Wenn es Schwierigkeiten gibt, Meister, wird es kaum eine Rolle spielen, ob wir zu zweit oder zu viert sind, oder? Jedenfalls angesichts von fünfzig wütenden Bürgern. Und ich will nicht mit viel Getöse eine ganze Armee hinter mir herschleifen.« »Ihr braucht keine Armee, Sir«, beharrte der Meister. »Ihr solltet wenigstens den Zauberer Majere mitnehmen. Er hat sich letzte Nacht als echte Hilfe erwiesen, Herr. Nehmt ihn und seinen Bruder. Caramon Majere ist ein guter Kämpfer und ein Riesenkerl. Es kann nicht schaden, sie bei Euch zu haben, Sir, und sie könnten Euch wirklich helfen.« »Einverstanden, Meister. Euer Vorschlag gefällt mir. Lasst die Majeres rufen.« »Und, Herr«, fügte Meister Senej leise hinzu, nachdem er den Baron auf die Seite gezogen hatte, »wenn Euch nicht
passt, was der Herr Bürgermeister zu sagen hat, gibt er immer noch eine wertvolle Geisel ab.« »Genau mein Gedanke, Meister«, erwiderte der Baron.
13. Kapitel Obwohl es erst seit wenigen Stunden dunkel war, waren die Straßen von Hoffnungsende verlassen. Sogar die Wirtshäuser hatten zugemacht. Die Leute waren zu Hause, wo sie entweder im Schlaf ihre Sorgen vergaßen oder wachlagen, in die Dunkelheit starrten und voller Furcht auf den Morgen warteten. Diejenigen, die Schritte hörten und wirklich neugierig oder ängstlich genug waren, um aus dem Fenster zu spähen, sahen nur etwas, das aussah wie eine Patrouille, die die Straße entlangmarschierte. »Wenn wir auf Zehenspitzen durch den Schatten schleichen und uns wie Spione verhalten, wird man uns auch für Spione halten. Wenn wir mitten auf der Straße marschieren, ohne uns aufzuspielen, aber auch ohne uns zu verstecken, hält man uns mit etwas Glück für Milizen auf ihrer Runde. Wir können nur hoffen«, fügte der Baron mit der ihm eigenen Ruhe hinzu, »dass wir nicht auf die Milizen auf ihrer Runde treffen. Dann gibt es Ärger. Aber es geht um Rechtschaffenheit. Kiri-Jolit wird auf uns Acht geben.« Kiri-Jolit hatte in jenen Tagen wahrscheinlich wenig zu tun und auf wenige Gebete zu hören. Vielleicht langweilte er sich ebenso wie die Männer, die gezwungen waren, im Lager zu warten, ohne sich auch nur mit einem Spiel Rittersprung diese öde Ewigkeit vertreiben zu können. Das Gebet des Barons zu hören war vielleicht eine willkommene Abwechslung für den Gott, eine Gelegenheit, wieder einmal etwas zu tun. Jedenfalls trafen der Baron und seine Begleiter auf ihrem schnellen Marsch keine lebende Seele, nicht einmal eine streunende Katze. »Das ist das Haus, in das er gegangen ist«, flüsterte Tau-
scher und deutete auf ein Gebäude. »Bist du auch sicher?«, erkundigte sich der Baron. »Du siehst es jetzt aus einer anderen Richtung.« »Ja, ich bin sicher, Sir. Wie Ihr seht, ist es das größte Haus im Block, und ich erinnere mich an das Storchennest auf dem Kamin.« Solinari war in dieser Nacht fast voll und tauchte die Straßen der Stadt in sein silbernes Licht. Die hohen Schornsteine der Häuserreihe standen aufrecht wie Soldaten. Auf einem ruhte ein Storchennest wie ein struppiger Hut. »Und wenn es nicht sein Haus ist? Vielleicht hat er nur einen Freund besucht«, gab der Baron zu bedenken. »Er hat nicht angeklopft«, erwiderte Tauscher. »Er ist einfach hineingegangen, als wäre alles seins.« »Und wenn es nicht sein Haus ist, Herr«, ergänzte Raistlin, »dann erwischen und befragen wir einen anderen einflussreichen Bürger. In diesem Haus wohnt in jedem Fall ein reicher Mann.« Der Baron musste zugeben, dass ihm das genauso recht wäre. So verließ die kleine Gruppe die Straße, schlug einen Bogen und betrat eine Gasse hinter der Häuserreihe. Von hinten sahen die Häuser ganz anders aus, doch das Haus, das sie suchten, war wegen des Nestes auf dem Schornstein leicht zu finden. »Ich habe gehört, dass ein Storchennest auf dem Haus Glück bringt«, flüsterte Tauscher. »Wollen wir hoffen, dass du damit Recht behältst, junger Mann«, gab der Baron zurück. »Kein Licht. Die Familie wird im Bett sein. Ausgegangen sind sie bestimmt nicht. Wer kann das Schloss hier knacken?« Der Baron sah Tauscher an, doch der schüttelte den Kopf.
»Tut mir Leid, Sir. Meine Mutter hat versucht, es mir beizubringen. Ich habe einfach kein Talent dazu.« »Ich glaube, ich wäre vielleicht in der Lage, mit dem Schloss fertig zu werden, Herr«, sagte Raistlin leise. »Mit einem Zauberspruch?« »Nein, Herr«, wehrte Raistlin ab. »In meiner Schulzeit hat mein Meister alle seine Zauberbücher in einem verschlossenen Kasten aufbewahrt. Caramon, ich brauche dein Messer.« Zur Hintertür führte eine Holztreppe. Raistlin schlich die Stufen hoch, wobei er gut Acht gab, dass er nicht über seine Roben stolperte. Die anderen hielten in der Gasse Wache, schauten nach allen Seiten und hatten die Hände an ihren Waffen. Der Baron war noch nicht einmal ungeduldig geworden, als Raistlin auch schon mit seiner im Mondlicht kalkweißen Hand winkte. Die Tür stand offen. Sie betraten das Haus leise, jedenfalls so leise wie möglich, da Caramon bei ihnen war. Seine schweren Tritte ließen die Bodendielen verdächtig knarren, als er die Küche betrat, und sie brachten die Töpfe, die an Haken an der Wand hingen, zum Klappern. »Ruhe, Majere!«, flüsterte der Baron unwirsch. »Du weckst noch das ganze Haus!« »Tut mir Leid, Herr«, gab Caramon gedämpft zurück. »Du bleibst hier und bewachst den Ausgang«, befahl der Baron. »Wenn jemand kommt, verpasst du ihm eins auf den Kopf und fesselst ihn. Keine Toten, wenn es vermeidbar ist. Aber es darf auch niemand aufschreien. Tauscher, du bleibst bei ihm. Wenn es Ärger gibt, nicht rufen. Kommt mich holen.« Caramon nickte und bezog an der Tür Stellung. Tauscher
ließ sich auf einem Hocker nieder. »Zauberer, Ihr kommt mit mir.« Auf leisen Sohlen durchquerte der Baron die Küche. Als er eine Tür fand, öffnete er sie und spähte in die Dunkelheit dahinter. »Wenn mich nicht alles trügt, ist das die Dienstbotentreppe zu den oberen Stockwerken. Dort werden auch die Schlafräume liegen. Seht Ihr irgendwo eine Kerze?« »Die brauchen wir nicht, Herr. Wenn Ihr Licht wollt, kann ich dafür sorgen. Shirak«, befahl Raistlin, und der Kristall auf seinem Stab begann, ein sanftes, weiches Licht auszustrahlen. Die Dienstbotentreppe war eine schmale Wendeltreppe. Raistlin und der Baron stiegen hintereinander hinauf. Der Baron schlich mit katzenhafter Geräuschlosigkeit voraus, und Raistlin folgte ihm, so gut er konnte, hatte jedoch entsetzliche Angst, versehentlich auf eine knarrende Stufe zu treten oder mit seinem Stab gegen die Wand zu schlagen. »Das Schlafzimmer des Besitzers wird im ersten Stock liegen«, flüsterte der Baron, der vor einer Tür Halt machte, die von der Wendeltreppe wegführte, welche weiter nach oben ging. »Löscht das Licht!« »Durak!«, sagte Raistlin leise, und das Licht ging aus und ließ sie im Finstern stehen. Er wartete auf der Treppe, während der Baron langsam und vorsichtig die Tür aufmachte. Raistlin sah einen mondbeschienenen Gang mit Wandteppichen und auf der gegenüber liegenden Seite eine schwere, kunstvoll geschnitzte Holztür. Hinter dieser Tür schnarchte jemand laut und vernehmlich. »Ich habe einen Schlafspruch für ihn vorbereitet, Herr«, sagte Raistlin.
»Er schläft schon. Wir wollen ihn doch wecken«, gab der Baron zurück. »Wenn er schläft, können wir ihm keine Fragen stellen.« »Richtig, Herr«, räumte Raistlin betreten ein. »Haltet Euren Spruch für seine Frau bereit«, fuhr der Baron fort. »Frauen kreischen gleich los und nichts weckt ein Haus schneller als der Schrei einer Frau. Bezaubert sie, bevor sie wach wird. Ich kümmere mich um den Bürgermeister.« Der Baron durchschritt die Tür und durchquerte den Gang. Raistlin folgte ihm. Die Worte des Zaubers brannten ihm auf der Zunge. Ihm fiel ein, dass er die ganze Zeit nicht ein einziges Mal gehustet hatte, doch als er jetzt daran dachte, spürte er natürlich sofort einen Hustenreiz in seiner Kehle. Verzweifelt kämpfte er dagegen an. Der Baron legte seine Hand auf den Türgriff, drückte ihn langsam hinunter und stieß die Tür auf. Der Bürgermeister musste gute Bedienstete haben, denn die Angeln öffneten sich ohne Quietschen. Mondlicht fiel durch das geteilte Fenster und erleuchtete den Raum. Der Baron schlich hinein, Raistlin hielt sich dicht hinter ihm. In der Mitte des Raumes stand ein großes, mit Vorhängen verhängtes Bett. Hinter den Vorhängen ertönte das Schnarchen. Auf Zehenspitzen schlich der Baron über den Boden und spähte durch einen Spalt in den Vorhängen. Zu ihrem Glück – und vielleicht dem Pech des Bürgermeisters – schlief er allein. Mit einem Blick überzeugte sich der Baron davon, dass der Mann im Bett der Bürgermeister war. Er passte zu Tauschers Beschreibung eines rundlichen, leutseligen Mannes, der jetzt anstelle seiner prächtigen Kleider Nachthemd und Nachtmütze trug.
Der Baron strich die Vorhänge zur Seite und hockte im Nu auf dem Schnarchenden, dem er mit der Hand den Mund zuhielt. »Keinen Mucks!«, zischte der Baron. »Wir wollen Euch nichts tun. Zauberer, schließt die Tür!« Raistlin tat wie geheißen und machte still die Tür zu. Dann kam er schnell zurück und stellte sich auf die andere Bettseite, um notfalls eingreifen zu können. Der Bürgermeister starrte den Einbrecher erschrocken an. Er zitterte vor Angst so sehr, dass sich die Bettvorhänge an ihren goldenen Ringen bewegten. »Licht«, befahl der Baron. Raistlin sprach das Zauberwort und der Kristall auf dem Stab des Magus leuchtete hell auf und zeigte das Gesicht des Barons. »Mein Name ist Baron Ivor von Langbaum«, erklärte der Baron, ohne seine Hand vom Mund des Bürgermeisters zu nehmen. »Vielleicht habt Ihr schon von mir gehört. Das da draußen ist meine Armee, die Eure Stadt angreifen wird, sobald ich das Kommando gebe. Ich wurde von König Wilhelm angeheuert, um Rebellen zu entmachten, die angeblich die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht haben. Versteht Ihr mich?« Der Bürgermeister nickte. Er wirkte noch immer halb verrückt vor Angst, hatte aber aufgehört zu zittern. »Gut. Ich lasse Euch gleich los, wenn Ihr mir versprecht, nicht um Hilfe zu rufen. Sind Dienstboten im Haus?« Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. Der Baron schnaubte, denn ihm war natürlich bewusst, dass der Mann log. Niemand lebte ohne Dienstboten in einem so großen Haus. Er fragte sich, ob er noch einmal nachhaken oder lie-
ber weitermachen sollte, und entschied sich für einen Kompromiss. »Zauberer, Ihr beobachtet die Tür. Wenn jemand hereinkommt, benutzt Ihr Euren Spruch.« Raistlin öffnete die Tür einen Spaltbreit und stellte sich so hin, dass er den Gang im Blick hatte, aber gleichzeitig sehen und hören konnte, was im Schlafzimmer vorging. Der Baron setzte seine einseitige Unterhaltung fort. »Ich habe so manches gehört und gesehen, das dazu geführt hat, dass ich nicht mehr sicher bin, ob es klug war, diesen Auftrag anzunehmen. Ich hoffe, dass Ihr mir helfen könnt. Ich will offene Antworten von Euch, Herr Bürgermeister. Weiter nichts. Ich will Euch nichts tun. Gebt mir Auskunft, und ich verschwinde, so schnell ich gekommen bin. Seid Ihr einverstanden?« Der Bürgermeister nickte zaghaft. Der Zipfel seiner Nachtmütze zitterte. »Wenn Ihr versucht, mich reinzulegen«, warnte der Baron, der noch immer nicht losließ, »befehle ich meinem Zauberer, Euch in einen Frosch zu verwandeln!« Raistlin sah den Bürgermeister streng und drohend an, obwohl er das Gebot des Barons ebenso wenig hätte befolgen können wie die Aufforderung, einmal durch den Raum zu fliegen. Dank seiner ungewöhnlichen Augen und der eigenartigen Tönung seiner Haut sah er in der Tat höchst einschüchternd aus, besonders für einen Mann, den man gerade gewaltsam aus dem Schlaf gerissen hatte. Der Bürgermeister warf Raistlin einen entsetzten Blick zu und diesmal war sein Nicken nachdrücklicher. Langsam nahm der Baron seine Hand weg. Der Bürgermeister schluckte, leckte sich die Lippen und
zog die Bettdecke bis ans Kinn hoch, als könne sie ihn beschützen. Seine Augen wanderten vom Baron zu Raistlin und wieder zurück. Er war grenzenlos verängstigt. Raistlin fragte sich, wie sie ein intelligentes Wort aus ihm herausbekommen sollten. »Gut«, lobte der Baron. Er sah sich um, zog einen Stuhl ans Bett, setzte sich und sah den Bürgermeister an, der über diese Entwicklung ziemlich erstaunt war. »Jetzt erzählt mir Eure Geschichte. Von Anfang an. Aber fasst Euch kurz. Wir haben nicht viel Zeit. Der Angriff ist für die Morgendämmerung vorgesehen.« Diese Nachricht trug nicht gerade zur Beruhigung des Bürgermeisters bei. Nach vielem Räuspern und wiederholtem Beginnen setzte er in der Mitte an, holte noch einmal aus, doch schließlich ging der Herr Bürgermeister ganz in der Geschichte des Unrechts auf, das König Wilhelm der Gute der Stadt angetan hatte. Vor Leidenschaft vergaß er seine Angst. »Wir haben einen Gesandten zum König geschickt. Er ließ dem Mann den Bauch aufschlitzen! Wir versuchten, uns zu ergeben. Der Kommandant der königlichen Armee sagte, dann sollten wir unsere Frauen in einer Reihe aufstellen, damit er sich welche aussuchen könne!« »Und Ihr habt ihm geglaubt?«, fragte der Baron, der seine dunklen Augenbrauen zu einem tiefen Stirnrunzeln zusammen gezogen hatte. »Natürlich haben wir ihm geglaubt, Herr!« Der Bürgermeister wischte sich mit dem Zipfel seiner Nachtmütze den Schweiß von der Stirn. »Hatten wir eine andere Wahl? Außerdem«, er erschauerte, »haben wir die Schreie derer gehört, die sie gefangen genommen hatten. Wir sahen ihre
Häuser und Scheunen brennen. Ja, wir haben ihm geglaubt.« Der Baron, der Kholos kennen gelernt hatte, glaubte ihm ebenfalls. Er dachte über all das nach, was er gehört hatte, und zupfte an seinem schwarzen Bart. »Wisst Ihr, was hier vorgeht, Herr?«, fragte der Bürgermeister matt. »Nein«, antwortete der Baron offen. »Aber ich habe das Gefühl, man hat mich zum Narren gehalten. Wenn Ihr von mir gehört habt, so kennt Ihr mich als Ehrenmann. Meine Vorfahren waren Ritter von Solamnia, und obwohl ich selbst keiner bin, halte ich mich dennoch an die Grundregeln jenes edlen Ordens.« »Dann werdet Ihr den Angriff also abblasen?«, fragte der Bürgermeister mit plötzlich aufkeimender, erbärmlicher Hoffnung. »Ich weiß es nicht«, erwiderte der Baron, der gedankenvoll den Kopf sinken ließ. »Ich habe einen Vertrag unterzeichnet. Ich habe mein Wort gegeben, dass ich am Morgen angreife. Wenn ich mich weigere und der Schlacht ausweiche, hält man mich für einen feigen Eidbrecher. Kein künftiger Auftraggeber wird nach den Umständen fragen. Er wird folgern, dass ich unzuverlässig bin, und nicht mit mir arbeiten wollen. Wenn ich jedoch angreife, hält man mich für einen Mann, der Unschuldige abschlachtet, die versucht haben, sich zu ergeben! Ein schöner Schlamassel!«, fügte er ärgerlich hinzu. »Links die Goblins, rechts die Oger.« »Es sind doch nicht auch noch Goblins und Oger da draußen?«, japste der Bürgermeister, der seine Decke umklammerte. »Nur so eine Redensart«, murmelte der Baron, der im
Raum auf und ab lief. »Wie spät ist es, Zauberer?« Raistlin ging zum Fenster, von wo aus er den Mond sinken sah. »Kurz vor Mitternacht, Herr.« »Ich muss mich für das eine oder das andere entscheiden, und zwar bald.« Der Baron marschierte bis ans Ende des Schlafzimmers. Dort machte er wie eine Wache im Dienst auf dem Absatz kehrt und trabte in die entgegengesetzte Richtung zurück, während er im Geiste gegen die Oger der schmutzigen Intrigen und auf der anderen Seite gegen die Goblins der Ehrlosigkeit kämpfte. Für Raistlin war die Entscheidung einfach – den Angriff abblasen und nach Hause gehen. Er war jedoch kein Ritter und verstand nichts von ritterlichen Ehrbegriffen, wie fehlgeleitet sie auch immer sein mochten. Ebenso wenig war er für eine Armee verantwortlich, deren Soldaten die versprochene Bezahlung erwarteten. Es würde jedoch keine Zahlung geben, wenn der Baron von seinem Vertrag zurücktrat. Eine unangenehme Zwickmühle, und Raistlin war froh, dass nicht er darin steckte. Zum ersten Mal sah er die Last des Anführers und die Einsamkeit dessen, der etwas zu entscheiden hat, die schreckliche Einsamkeit des Kommandanten. Von dieser Entscheidung hingen Tausende von Menschenleben ab. Die Leben seiner Männer, für die der Baron verantwortlich war, und jetzt die Leben der Bewohner dieser Stadt. Der Baron war der Einzige, der diese Entscheidung treffen konnte, und er musste sie sofort treffen. Und dies, ohne über alle Fakten vollständig Bescheid zu wissen. Was war aus König Wilhelm geworden? Warum war er darauf aus, diese Stadt und ihre Bewohner zu vernichten? War es möglich, dass der König einen guten Grund hatte?
Sagte dieser Bürgermeister die Wahrheit oder war alles, jetzt, da die Stadt unhaltbar war, reine Erfindung? Der Baron lief hin und her, und Raistlin sah schweigend zu. Er war gespannt, wie die Sache ausgehen würde. Doch das sollte er nicht erfahren. Der Baron hielt unvermittelt an. »Ich habe meine Entscheidung gefällt«, sagte er mit schwerer Stimme. »Jetzt sagt mir die Wahrheit, Herr Bürgermeister. Wie viele Dienstboten habt Ihr im Haus, und wo sind sie?« »Zwei, Herr«, gab der Bürgermeister kläglich zu. »Ein Ehepaar, das schon lange, lange bei mir ist. Ihr braucht keine Angst vor ihnen zu haben, Sir. Sie haben beide einen festen Schlaf und würden nicht einmal erwachen, wenn die Stadtmauer über ihnen einstürzt.« »Wollen wir hoffen, dass es nicht dazu kommt«, meinte der Baron bedrückt. »Zauberer, sucht diese Dienstboten und sorgt dafür, dass sie weiterschlafen.« »Ja, Herr«, sagte Raistlin, wie es ihm anstand, obwohl er ganz bestimmt nicht verschwinden wollte. »Anschließend sagt Ihr meinen Wachen, dass ich bald gehen werde.« »Er tut ihnen doch nichts?«, bat der Bürgermeister besorgt. Er dachte an seine Dienstboten. »Er tut ihnen nichts«, beruhigte ihn der Baron. Der Bürgermeister war blass und unglücklich, denn der finstere Gesichtsausdruck des Barons und seine unheilschwangeren Worte hatten ihn erschüttert. Er beschrieb, wo die Dienstboten zu finden waren. Raistlin verharrte noch einen Augenblick, weil er hoffte, der Baron würde eine Andeutung über seine Pläne machen. Er wartete so
lange, dass der Baron verärgert in seine Richtung blickte. So blieb Raistlin keine andere Wahl, als den Auftrag auszuführen oder sich einen scharfen Tadel einzuhandeln. »Diese Dienstboten schlafen bestimmt tief und fest«, schäumte Raistlin, während er zum Dienstbotenzimmer hinaufstieg, einem kleinen Raum mit einem einzigen Giebelfenster ganz oben im Haus, dicht unter dem Storchennest. »Dass ich mich um sie kümmern soll, ist doch nur eine Ausrede. Der Baron traut mir einfach nicht. Er hat sich das nur aus den Fingern gesogen, um mich loszuwerden. Horkin hätte bleiben dürfen.« Wie sich herausstellte, war auf den Instinkt des Barons Verlass. Vielleicht hatte er ein Geräusch gehört, das darauf hingewiesen hatte, dass die Dienstboten sich rührten. Als Raistlin die Tür zum Schlafzimmer aufmachte, sah er den Hausdiener, einen Mann mittleren Alters, auf der Bettkante sitzen und seine Stiefel anziehen. Seine Frau saß hinter ihm und redete auf ihn ein, sie wäre ganz sicher, dass jemand im Haus wäre. Raistlins Spruch kam genau in dem Moment, als die Frau ihn im Mondlicht erblickte. Der Schlaf verschloss ihr den Mund, bevor sie schreien konnte. Ihr Mann ließ den anderen Stiefel fallen und kippte ins Bett zurück. Der Spruch würde eine ganze Weile anhalten. Zur Sicherheit schloss Raistlin jedoch die Tür ab und nahm den Schlüssel mit, den er später auf den Küchentisch legen wollte. Etwas besänftigt durch den Umstand, dass sie wirklich hätten entdeckt werden können, kehrte Raistlin in die Küche zurück, wo Caramon wachsam aus dem Hinterfenster sah. »Wo ist Tauscher?«
»Der ist vorne, um sicherzugehen, dass von dort auch niemand kommt.« »Ich gehe ihn holen. Der Baron sagt, er will bald gehen. Du sollst dafür sorgen, dass der Weg frei ist.« »Sicher, Raist. Wofür hat er sich entschieden? Greifen wir nun an oder nicht?« »Spielt das eine Rolle für uns, Bruder?«, fragte Raistlin gleichgültig. »Wir werden bezahlt, um Befehlen zu gehorchen, nicht um sie zu hinterfragen.« »Tja, da hast du wohl Recht«, gab Caramon zu. »Aber bist du denn gar nicht neugierig?« »Nicht im Geringsten«, behauptete Raistlin und verschwand, um Tauscher zurückzuholen.Auf dem Rückweg gab der Baron nichts über seine Absichten preis. Die Straßen waren leer. Diesmal gingen sie kein Risiko ein, sondern hielten sich dicht an die Gebäude und blieben stehen, um in die Seitenstraßen und Gassen zu spähen, bevor sie sie passierten. Das Lagerhaus lag unmittelbar vor ihnen, sodass sie nur noch eine Straße zu überqueren hatten, als Caramon, der die Führung übernommen hatte, aus dem Augenwinkel einen Lichtschimmer wahrnahm und an die Mauer eines leer stehenden Hauses zurückwich. »Was ist?«, flüsterte der Baron. »Licht. Am Ende der Straße«, gab Caramon zurück. »Als wir losgegangen sind, war es noch nicht da.« Der Baron wies die anderen an, im Schatten zu bleiben, und blinzelte dann selbst in die Richtung, die Caramon angegeben hatte. »Welch ein Geschenk«, staunte er ehrfürchtig. »Kommt her und seht euch das an.« Die anderen traten um ihn herum auf die Straße. Sie blie-
ben wie angewurzelt stehen und waren von dem Anblick so überwältigt, dass sie vergaßen, dass sie mitten im Freien standen. Am Ende der Straße befand sich ein Gebäude, ein zerfallenes, baufälliges Gebäude, das einst wunderschön gewesen sein musste. Die Überreste anmutiger Säulen stützten ein Dach, das mit Fresken geschmückt war, deren Bilder durch die Zeit oder durch Menschenhand nicht mehr zu erkennen waren. Das Gebäude war von einem Hof umgeben, dessen Pflastersteine zerbrochen und von Unkraut überwuchert waren. Ohne das Mondlicht wäre Caramon an diesem alten Bauwerk vorbeigelaufen, ohne es zu bemerken. Doch es fing – ob zufällig oder beabsichtigt – die Strahlen von Solinari ein und hielt sie innerhalb der Steine wie ein Kind, das Glühwürmchen in einem Glas fängt, sodass das Gebäude in einem silbrigen Schimmer erstrahlte. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte der Baron mit gedämpfter, ehrfürchtiger Stimme. »Ich auch nicht«, gab Tauscher zu. »Es ist so schön, dass es schon wehtut, genau hier.« Er legte eine Hand aufs Herz. »Ist das Zauberei, Raist?«, wollte Caramon wissen. »Bezauberung, ja, gewiss.« Raistlin sprach flüsternd, denn er fürchtete, der Klang seiner Stimme könnte den Zauber brechen. »Bezauberung«, wiederholte er, »aber keine Magie.« »Wie?« Caramon war verwirrt. »Welche Art von Magie gibt es denn noch?« »Früher gab es auch die Magie der Götter«, erklärte Raistlin. »Natürlich!«, stieß der Baron aus. »Das muss der Tempel
des Paladin sein. Er war auf der Karte eingezeichnet. Vermutlich einer der wenigen Tempel des alten Gottes, die in ganz Ansalon noch stehen.« »Der Tempel des Paladin«, wiederholte Raistlin. Er warf einen Blick auf Solinari, den silbernen Mond, welcher der Legende nach Paladins Sohn war. »Ja, das wäre eine Erklärung.« »Ich muss ihm noch meine Aufwartung machen, bevor wir gehen«, sagte der Baron. Da ihm jedoch einfiel, dass sie vor dem Morgen noch dringende Angelegenheiten zu klären hatten, setzte er seinen Weg zum Lagerhaus fort. Caramon und Tauscher folgten ihm. Raistlin lief hinter ihnen her. Als sie das Lagerhaus erreichten, blieb er an der Tür stehen, um einen letzten Blick auf dieses wundersame Bild zu werfen. Sein Blick wurde von dem silbernen Mond, Solinari, angezogen. Der Gott des silbernen Mondes war Raistlin schon einmal erschienen; alle drei Götter, Solinari, Lunitari und Nuitari, hatten den jungen Magier mit ihrer Aufmerksamkeit beehrt. Es war Lunitari, der Raistlin in erster Linie treu war, doch ein Zauberer, der sich entscheidet, eines der Geschwister zu verehren, verehrt im Grunde seiner Seele auch ein wenig die anderen beiden. Raistlin hatte Solinari immer in Ehren gehalten, obwohl es dem jungen Magier so vorkam, als ob der Gott der Weißen Magie ihm eine gewisse Missbilligung entgegenbrachte. Als Raistlin nun wieder den Tempel anstarrte, der im silbernen Mondlicht schimmerte, hatte er plötzlich den Eindruck, Solinari hätte ihn mit Absicht beleuchtet, um ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken – wie ein Leuchtfeuer. Wenn das stimmte, sollte das Licht sie vor einem gefährli-
chen Küstenabschnitt warnen oder war es dort, um sie durch den Sturm zu lotsen? »Raist?« Caramons Stimme riss Raistlin aus seinen Gedanken. »Hört mal, Jungs, habt ihr meinen Bruder gesehen? Er war direkt hinter mir… Ach, da bist du. Ich habe mir Sorgen gemacht. Wo warst du denn? Bewunderst immer noch diesen alten Tempel, was? Fühlt sich komisch an, hm?« »Weißt du, Raist«, fügte er dann impulsiv hinzu. »Ich würde gerne mal reingehen und drin rumlaufen. Ich weiß, dass es ein Tempel für einen alten Gott ist, der nicht mehr unter uns ist, aber ich glaube, wenn ich hineinginge, würde ich die Antwort auf meine wichtigsten Fragen finden.« »Ich glaube kaum, dass der Tempel dir sagen könnte, wann es wieder etwas zu essen gibt«, bemerkte Raistlin. Er wusste nicht, weshalb es so war, aber es provozierte ihn immer fürchterlich, wenn Caramon Raistlins Gedanken laut aussprach. Eine Wolke glitt vor den Mond, ein schwarzes Tuch, das sich über die silberne Scheibe legte. Der Tempel verschwand in der Finsternis. Wenn er je die Antworten auf die Geheimnisse des Lebens gekannt hatte, so hatte er sie längst vergessen. »Hm«, brummte Caramon. »Komm lieber rein, Raist. Wir sollen nicht hier draußen sein. Verstößt gegen unsere Befehle.« »Danke, Caramon, dass du mich an meine Pflicht erinnerst«, erwiderte Raistlin und drängte sich an seinem Bruder vorbei. »Sicher, Raist«, freute sich Caramon. »Jederzeit.« In einer Ecke des Lagerhauses hatten sich Meister Senej
und Feldwebel Nemiss zu dem Baron gesellt. Sie sprachen leise miteinander. Keiner konnte verstehen, was sie sagten, nicht einmal Tauscher, den die verärgerte Nemiss hinter einem Fass entdeckt und zur Strafe zum Wachdienst abgeordnet hatte. Die Soldaten beobachteten die Gesichter ihrer Vorgesetzten, denn sie suchten in deren wechselndem Mienenspiel nach Hinweisen auf die Absichten des Barons. »Was er auch sagt«, meinte Caramon gedämpft, »es scheint Meister Senej nicht zu gefallen.« Meister Senej schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. Man hörte ihn mit lauter, harter Stimme sagen: »Vertraut ihm nicht.« Auch Feldwebel Nemiss war offenbar wenig erfreut, denn sie machte eine nachdrückliche, wegwerfende Handbewegung. Der Baron hörte sich ihre Argumente an und schien darüber nachzudenken. Schließlich schüttelte er jedoch den Kopf. Eine schneidende Geste beendete die Debatte. »Ihr habt Eure Befehle, Meister«, sagte er so laut, dass jeder im Lager es hören konnte. »Ja, Sir«, erwiderte Meister Senej. »Turner«, rief der Feldwebel. »Der Baron wünscht zu gehen. Du begleitest den Baron ins Lager zurück.« »Ja, Sir. Soll ich zurückkommen, Sir?« »Dazu wird vor dem Angriff keine Zeit mehr sein«, sagte der Feldwebel mit absichtlich ruhiger, unbewegter Stimme. Die Männer blickten einander an. Der Angriff fand also statt. Kaum jemand sagte etwas, weder aus Freude noch aus Enttäuschung. Zum Kämpfen waren sie gekommen und kämpfen würden sie. Turner salutierte und holte sein Seil. Die beiden Männer verschwanden. Feldwebel Nemiss
und Major Senej berieten sich noch für eine Weile. Anschließend überprüfte der Feldwebel die Wachen. Der Meister legte sich auf den Boden, wo er den Hut über sein Gesicht legte. Die Männer folgten seinem Beispiel. Caramon schnarchte bald so laut, dass Feldwebel Nemiss ihm einen Fußtritt verpasste und ihm befahl, sich auf die Seite zu rollen, damit man den Krach nicht bis Solamnia hörte. Tauscher hatte sich wie eine Haselmaus fest zusammengerollt und sogar die Hände auf die Augen gelegt. Raistlin, der einen Großteil des Tages verschlafen hatte, war nicht müde. Er saß mit dem Rücken an der Wand, wo er wieder und wieder seine Sprüche durchging, bis er sie fest im Kopf hatte. Als ihn schließlich doch der Schlaf übermannte und Träume von einem in silbernes Mondlicht getauchten Tempel brachte, hatte er die Worte der Magie noch auf den Lippen.
14. Kapitel »Armseliger Menschenkörper, ha!«, murmelte Kit, während sie der Fährte des Drachen folgte. Da Immolatus sich bitter beschwert hatte, wenn er auch nur einen halben Block vom Wirtshaus zur Taverne hatte laufen müssen, hatte Kitiara gehofft, sie würde ihn am ersten Bach einholen, wo er seine schmerzenden Füße badete. Seine Spur war leicht zu finden – abgeknickte Zweige, in Fetzen gehackte Büsche, zertrampelte Pflanzen. Der Drache hatte ein Tempo vorgelegt, das Kit erstaunte und sie zu Beginn der Verfolgung weit ins Hintertreffen brachte. Da Immolatus sich nur noch auf sein Ziel konzentrierte, schien er vergessen zu haben, dass er Menschengestalt angenommen hatte. Innerlich schien er mit peitschendem Schwanz und alles zermalmenden Klauen durch den Wald zu walzen. Obwohl Kit bereits müde war, musste sie sich dazu zwingen, ihn nach Möglichkeit zu überholen, denn sie wollte ihn im Freien erwischen, bevor er die Höhle erreichte, wo er in Ruhe seine alte Drachengestalt annehmen konnte. Und sie musste ihn vor Anbruch der Nacht erwischen, denn im Gegensatz zu ihm konnte sie im Dunkeln nichts sehen. Nachdem Kit sich einmal zum Handeln entschlossen hatte, ging sie ihre Aufgabe zielstrebig und ohne zu zögern an. Selbstzweifel waren eine Schwäche, winzige Sprünge im Fundament, die eines Tages die Mauer zum Einsturz bringen wurden; fehlerhafte Glieder in der Kettenrüstung würden den Pfeil durchdringen lassen. Tanis war mit dieser Schwäche geschlagen. Immerzu hinterfragte und überprüf-
te er seine eigenen Handlungen und Reaktionen. Diese Angewohnheit hatte Kit besonders störend gefunden, und sie hatte immerzu versucht, ihn davon zu befreien. »Wenn du dich für etwas entscheidest, dann tu es!«, hatte sie geschimpft. »Nicht hadern und zögern und hin und her überlegen. Du kannst doch nicht in den Fluss springen und dann zappelnd überlegen, ob du vielleicht untergehst. Wer das tut, geht auch unter. Spring rein, schwimm los. Und blick nie zum Ufer zurück.« »Das muss das Elfenblut in mir sein«, hatte Tanis erwidert. »Elfen treffen nie eine wichtige Entscheidung, ohne zuvor mindestens ein bis zwei Jahre darüber nachzudenken, alle ihre Freunde und Verwandten zu befragen und die Sache durchzusprechen, nachzuforschen, Bücher zu lesen und die Weisen zu Rate zu ziehen.« »Und was dann?«, hatte Kit wissen wollen, die immer noch verärgert war. »Danach haben sie gewöhnlich vergessen, was sie ursprünglich vorhatten«, hatte er lächelnd erklärt. Sie hatte gelacht, denn er konnte sie immer aus ihrer schlechten Laune herausholen. Jetzt lachte sie nicht und bedauerte, dass sie wieder an ihn gedacht hatte. Das einzige Mal, wo Tanis sich zu etwas durchgerungen hatte, war die Entscheidung gewesen, sie zu verlassen. Deshalb folgte sie nun ihrem eigenen Rat, verdrängte ihn aus ihrem Gedächtnis und zog weiter. Kit hatte dem Drachen gegenüber einen Vorteil. Sie wusste, wo es hinging. Mit der ihr eigenen Gründlichkeit und Liebe zum Detail hatte sie eine detaillierte Karte gezeichnet, in der sie Anhaltspunkte im Gelände festgelegt und die Entfernung dazwischen bestimmt hatte, indem sie
ihre Schritte zählte. »Siebzig Schritte von der vom Blitz getroffenen Eiche bis zum Bärenkopffelsen. Dann links auf den Wildpfad, über den Bach, die Klippe hoch bis zum oberen Sims.« Immolatus hatte sich die Karte angesehen, sie aber nicht mitgenommen. Wahrscheinlich weil der Drache nicht an den Gebrauch von Karten gewohnt war. Wer brauchte schon eine Furt zu erkennen, wenn er hoch über den Bächen flog? Ihr Gedanke erwies sich als richtig. Sie folgte seiner Spur bereits drei Stunden, als sie an eine Stelle kam, an der er von ihren Anweisungen abgewichen war. Er hatte seinen Fehler bemerkt und war zurückgekommen, aber dabei hatte er beträchtliche Zeit verloren, die Kit zugute kam. Sie marschierte schnell, aber nicht unvorsichtig. Sie blieb so leise wie möglich und achtete auf ihre Schritte, damit sie nicht auf einen trockenen Ast trat oder geräuschvoll durchs Unterholz brach. Sie würde ihn sehen, lange bevor er sie hörte oder sah. Deshalb hatte sie auch schon ihr Messer aus dem Stiefel in den Gürtel gesteckt, damit es gleich zur Hand war. Er würde nie erfahren, was ihn getroffen hatte. Was den Drachen anging, so hinterließ er eine Spur, der selbst ein blinder Gossenzwerg hatte folgen können: Fußstapfen im Schlamm, abgebrochene Äste und einmal sogar einen roten Stofffetzen, der an einem Brombeerdickicht hängen geblieben war. Als sie sich den Bergen näherte und in deren Ausläufer vordrang, fand sie weniger Spuren des Drachen, doch das war auf dem harten, steinigen Boden zu erwarten gewesen. Hier waren keine Zweige, die er hatte abknicken können, und es gab keinen Matsch, in den man unachtsam treten konnte. Dennoch war sie sicher, dass sie auf der richtigen Fährte war. Schließlich folgte Immolatus
ihrer Beschreibung. Die Schatten wurden länger. Kit hatte wunde Füße und Hunger, sie war müde und abgekämpft. Ihr blieb nur noch eine Stunde Tageslicht. Ihr kam der Gedanke, einfach aufzugeben und sich für besiegt zu erklären. Doch der Ehrgeiz grub ihr die Sporen in die Flanken und trieb sie weiter. Die Sonne ging unter. Kit folgte dem Hirtenpfad, den sie auf ihrer Karte eingezeichnet hatte, einem Pfad, der sich durch das gewellte Land schlängelte. Die Schafe und ihre Hirten waren in die Sicherheit der Stadt geflüchtet, als der Krieg sich ankündigte, doch sie hatten in den Bergen ihre Spuren hinterlassen. In einer kleinen, mit Heu gefüllten Hütte machte sie Rast und trank aus einem Wasserschlauch, der bei der wilden Flucht in den Schutz der Stadtmauer liegen geblieben war. Dann arbeitete sie sich über einen kleinen, schnell fließenden Wasserlauf und gab dabei Acht, nicht abzurutschen. Instinktiv blieb sie stehen, wo sie war, vielleicht gewarnt durch ein Geräusch oder einen Geruch. Von dem schlüpfrigen Felsen aus blickte sie nach vorn anstatt auf ihre Füße. Keine zwanzig Schritt vor ihr befand sich Immolatus, allerdings weiter oben auf dem Weg, der sich an der Seite einer steilen Klippe emporwand. Er drehte ihr den Rücken zu. Kit rief sich die Karte ins Gedächtnis und erinnerte sich daran, dass man an dieser Stelle den Weg verlassen und in die Berge steigen musste. Im Vergleich zu dem Aufstieg durch rauhes, felsiges Gelände musste der Weg verlockend wirken. Der Pfad täuschte, denn er sah aus, als würde er in die Richtung führen, in die der Drache wollte. Doch von ihrem Standort oben auf dem Berg aus hatte Kit gesehen, dass der Hirtenpfad – wie zu erwarten – zu einem kleinen,
grasbewachsenen Tal führte. Immolatus versuchte, sich zu entscheiden, welchen Weg er einschlagen sollte, indem er sich bemühte, sich die Karte ins Gedächtnis zu rufen. Da Kitiara ungedeckt im Freien stand, fluchte sie innerlich, umklammerte den Griff ihres Messers und setzte ein bezauberndes Lächeln auf, mit dem sie den Drachen erfreut begrüßen würde, falls er sich umdrehte und sah, dass sie ihn verfolgte. Sie hatte eine Entschuldigung parat – dringende Nachrichten von Kommandant Kholos zu den Plänen der Truppe. Von den Soldaten im Lager hatte sie gehört, dass in der vergangenen Nacht eine Söldnertruppe in die Stadt eingedrungen war und plante, die Stadt in der Morgendämmerung von innen anzugreifen, während Kholos und seine Männer von außen angriffen. Sie hätte gedacht, der Drache müsse über diese wichtige Entwicklung Bescheid wissen und so weiter und so fort. Immolatus drehte sich nicht um. Kitiara beobachtete ihn misstrauisch, weil sie sich fragte, ob er sie hereinlegen wollte. Er musste doch gehört haben, wie sie durch den Bach gepatscht war; er konnte sie unmöglich überhört haben. Sie war vorsichtig gewesen, doch sie hatte sich notwendigerweise weniger darauf konzentriert, heimlich und leise zu sein, sondern darauf, nicht ins Wasser zu stürzen. Immolatus blieb, wo er war. Mit gesenktem Kopf drehte er ihr den Rücken zu und musterte seine Schuhe oder den Weg – oder vielleicht pinkelte er einfach. Offenbar hatte sie Glück. Kit dachte nicht über ihr Glück nach, sondern schickte sich an, es zu nutzen. Königin Takhisis würde mit einem roten Drachen weniger in die Schlacht ziehen. Kit hielt ihr Messer an der Klinge fest, ba-
lancierte es aus, zielte und warf. Sie traf exakt. Das Messer drang genau zwischen Immolatus’ Schulterblättern ein – drang ein und flog weiter. Seine stählerne Klinge blitzte im Sonnenlicht, als sein Flug es außer Sicht trug. Sie hörte, wie es mit einem leisen metallischen Klirren auf Stein traf, ein kratzendes Geräusch, dann nichts mehr. Kitiara starrte fassungslos nach oben, versuchte das Sinnlose zu begreifen. Sie wusste nicht genau, was gerade geschehen war, aber sie wusste, dass sie in Gefahr war. Deshalb zog sie ihr Schwert und eilte spritzend durch den Wasserlauf, um sich Immolatus’ Wut zu stellen. Der verdammte Drache drehte sich immer noch nicht um, rührte sich nicht. Erst als sie nahe genug an ihn herangekommen war, um ihm den Kopf abzuschlagen, begriff Kitiara. In dem Moment, wo sie es begriff, löste sich die Illusion von Immolatus in Luft auf. Ein knirschendes Geräusch über ihr ließ sie herumfahren. Sie sah gerade noch rechtzeitig, wie ein Felsbrocken den Hang herunterpolterte. Kitiara warf sich auf den Bauch, drückte ihren Körper an den sonnenwarmen Fels und bedeckte ihren Kopf mit beiden Händen. Der riesige Stein rumpelte an ihr vorbei, traf eine Felsnase direkt unter ihr und stürzte ins Wasser. Ein zweiter Felsbrocken folgte, diesmal näher. Immolatus verfehlte sie wieder, aber er konnte noch den ganzen Tag lang Steine nach ihr werfen. Sie konnte nicht ausweichen, und früher oder später würde er treffen. »Soll er doch«, knurrte Kit. Eilig löste sie die Riemen ihres stählernen Brustpanzers und wich dabei dem nächsten Felsbrocken aus.
Sie reckte den Hals und blinzelte nach oben. Schon kam ein weiterer Stein heruntergepoltert. Kitiara holte tief Luft, stieß einen Schrei aus und warf ihren Brustpanzer direkt vor den großen Brocken. Der streifte den Panzer und ließ ihn hoch durch die Luft fliegen, sodass der Stahl im Licht der untergehenden Sonne rot aufblitzte. Kit ging auf Hände und Knie, um sich so klein wie möglich zu machen, und nutzte das Zwielicht, das es selbst dem Drachen erschweren würde, zu überprüfen, ob er sie wirklich getötet hatte. Der Lärm des herabpolternden Gesteins übertönte das Geräusch ihrer Bewegungen, sodass sie in dessen Schutz in das Gebüsch neben dem Pfad krabbeln konnte. Sie entdeckte eine kleine Spalte in der Klippe, in die sie sich hineinzwängte. Sie schürfte ihre Hüften, Knie und Ellenbogen blutig, war aber vor dem Drachen vorläufig sicher. Sofern er auf ihre Finte hereingefallen war. Kitiara wartete und drückte ihre Wange an den Fels, während sie keuchend nach Atem rang. Es kamen keine Felsbrocken mehr den Berg heruntergerumpelt, aber das hatte nichts zu bedeuten. Wenn er nicht glaubte, dass er sie getötet hatte, würde er bestimmt zurückkommen, um sie zur Strecke zu bringen. Sie lauschte auf Anzeichen einer Verfolgung und verfluchte ihr Herz, das viel zu laut schlug. Da sie nichts hörte, begann sie, etwas leichter zu atmen, rührte sich aber nicht. Sie blieb in ihrem Versteck, nur für den Fall, dass er noch nach ihr Ausschau hielt. Erst als einige Zeit vergangen war, fühlte Kitiara sich sicher. Der Drache musste sie für tot halten. Für ihn war sie nichts weiter gewesen als das helle Blinken ihrer Rüstung am Berg. Dieses helle Blinken hatte er fallen sehen und anschließend
ihren Todesschrei vernommen. Seine Arroganz würde Immolatus davon überzeugen, dass seine schlaue kleine List funktioniert hatte. Er würde kurz abwarten, um sicherzugehen, aber da er von sich so überzeugt und ganz auf seine Rache versessen war, würde er nicht lange verweilen, denn schließlich lockte ihn der Geruch der Eier. »Trotzdem«, erinnerte Kit sich betreten, »ich habe ihn einmal unterschätzt und hätte diesen Fehler fast mit dem Leben bezahlt.« Das sollte ihr kein zweites Mal passieren. Kitiara wartete noch eine Weile, doch dann entschied sie ungeduldig, dass ein Kampf ihrer verkrampften, unbequemen Lage zwischen zwei Gesteinsplatten vorzuziehen war. Vorsichtig schob sie sich aus ihrem Versteck. Als sie sich auf den Pfad duckte, spähte sie nach oben, wo sie im Dunkeln nach einem Stück roter Robe, einer roten Flügelspitze oder dem Glitzern einer roten Schuppe suchte. Nichts. Soweit sie sehen konnte, war der Hang völlig verlassen. Zuallererst setzte Kitiara sich auf den Pfad und untersuchte ihr Schwert, um sicherzugehen, dass es unbeschädigt war. Nachdem sie mit ihrer Waffe zufrieden war, untersuchte sie sich selbst. Kratzer und Beulen, das war alles. Sie pulte ein paar scharfe Steinchen aus ihren Handflächen und saugte einen tiefen Kratzer an ihrem Knie aus, um sich schließlich düster zu fragen, was sie nun tun sollte. Aufgeben, zurück ins Lager. Das war das Vernünftigste. Doch damit würde sie ihre Niederlage eingestehen, und Kitiara hatte in ihrem Leben erst eine Niederlage hinnehmen müssen, aber nicht im Krieg, sondern in der Liebe. Ihre Gedanken trieften vor Rachedurst. Bis jetzt wäre sie
damit zufrieden gewesen, Immolatus einfach davon abzuhalten, die Eier zu zerstören. Nun aber wollte sie seinen Tod. Er sollte für die entsetzlichen Momente bezahlen, in denen sie voller Panik auf dem Hang gekauert hatte. Sie würde dem verdammten Drachen die ganze Nacht lang durch die Berge folgen, wenn es nötig war. Zum Glück würde Solinari heute Nacht hell leuchten. Und wenn Kit sehr viel Glück hatte oder Königin Takhisis geneigt war, ihr beizustehen, würde der Drache sich während der Nacht in den Bergen verirren. Der Weg in die Felsen, den er eingeschlagen hatte, verlief ihrer Einschätzung nach in die falsche Richtung. Wenn du dich entschließt, etwas zu tun, dann tu es. Kümmere dich nicht um das Wie und Warum. Tu’s einfach. Entschlossen begann Kitiara mit ihrem Aufstieg.
15. Kapitel Es war eine lange Nacht für Kitiara, die durch die Berge trottete. Es war auch eine lange Nacht für Immolatus, denn Kits Gebete wurden erhört. Er schaffte es tatsächlich, sich zu verlaufen. Mehr als einmal war Immolatus in Versuchung, in seinen Drachenkörper mit dessen wundervollen Flügeln zurückzukehren, Flügeln, die ihn von diesem verdammten Berg wegtragen, Flügeln, die ihn in den Himmel heben würden. Doch Immolatus hatte den Eindruck, dass Gott Paladin, dieser alte Schnüffler, seine Spione auf ihn angesetzt hatte und nach ihm Ausschau hielt. Immolatus stellte sich vor, dass auf der Bergspitze goldene Drachen lauerten, die nur darauf warteten, dass er die Gestalt wechselte, um sich dann auf ihn zu stürzen. So ungern er es auch zugab, so war dieser Menschenkörper doch eine nützliche Tarnung. Wenn er nur nicht so schwach wäre! Der Drache setzte sich hin, um nur kurz auszuruhen, und erwachte später aus einem Schläfchen, das er nie vorgehabt hatte. Da war es schon fast Morgen. Es war eine lange Nacht für die Männer im Lagerhaus, denen man schließlich doch ihre Befehle für den frühmorgendlichen Angriff gegeben hatte. Sie freuten sich zwar nicht auf den Morgen, wollten ihn jedoch gern schon hinter sich haben. Für den Bürgermeister, der der nahenden Dämmerung mit größter Anspannung entgegensah, war es eine kurze Nacht. Auch für die Bürger von Hoffnungsende, die genau wussten, dass es womöglich ihre letzte Nacht war, war sie kurz. Für den Baron, der noch vor Tagesanbruch sein Lager
erreichen musste, war sie furchtbar kurz. Für Kommandant Kholos, der die ganze Zeit schnarchte, war es einfach nur eine Nacht. »Ihr wolltet früh geweckt werden, Sir.« Meister Vardash betrat das Zelt des Kommandanten und stellte sich respektvoll an das Bett, auch ein Beutestück aus einem der Gutshöfe, das sie mit beträchtlichem Aufwand und Umstand hergeschleppt hatten. »Wie? Was ist? Was ist denn los?« Kholos blinzelte seinen Offizier an, der gerade eine Lampe auf dem Tisch entzündete. »Es ist bald Morgen, Sir. Ihr wolltet früh geweckt werden. Heute greifen wir die Stadt an.« »Ach, ja.« Der Kommandant gähnte und kratzte sich. »Dann sollte ich wohl mal aufstehen.« »Hier ist Euer Bier, Sir. Die Hirschsteaks kommen schon. Der Koch möchte wissen, ob Ihr heute Morgen Kartoffeln oder Brot wünscht.« »Beides. Und sagt ihm, er soll Zwiebeln an die Kartoffeln tun. Ich hatte übrigens gestern noch eine Idee«, fügte Kholos hinzu, während er sich aufsetzte und seine Stiefel anzog. »Ist dieser Zauberer Immolatus noch da?« »Ich vermute es, Sir«, antwortete Vardash langsam. Er versuchte, sich zu erinnern. »Ich habe ihn länger nicht gesehen, aber er bleibt auch sehr für sich.« »Isst unsere Rationen und macht keinen Finger krumm! Na, heute Morgen habe ich Arbeit für ihn. Ich dachte, wenn die Männer des Barons – jedenfalls die, die noch übrig sind, wenn unsere Bogenschützen fertig sind – die Mauer erreichen, könnte dieser Zauberer doch mit Hilfe seiner Magie die Mauer auf sie niederstürzen lassen. Was meint Ihr?«
»Es ist eine schrecklich hohe Mauer, Sir«, gab Vardash zögernd zu bedenken. »Ich weiß, dass es eine hohe Mauer ist«, erwiderte Kholos verstimmt, »aber Zauberer haben doch Sprüche für so etwas. Wozu sind sie sonst gut? Der verdammte Zauberer soll sich bei mir melden. Ich frage ihn selbst.« Kholos richtete sich auf. Abgesehen von seinen Stiefeln war er unbekleidet. Der größte Teil seines Körpers war mit langen, dicken Haaren bedeckt, außer an den Stellen, wo seine Kampfnarben sich durch den dichten Pelz zogen. Beim Sprechen kratzte er sich wieder, fing einen Floh und zerknackte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Vardash schickte einen Soldaten nach dem Zauberer. Dann kam das Frühstück. Der General vertilgte die noch blutigen Steaks, einen Laib Brot und massenweise Kartoffeln mit Zwiebeln, während er Befehle für den bevorstehenden Kampf ausgab. Obwohl es noch dunkel war und die Dämmerung sich nur durch einen rosa Streifen am Horizont ankündigte, war das ganze Lager in Bewegung. Der Lärm aus dem Verpflegungszelt deutete darauf hin, dass die Männer ihr Frühstück einnahmen. Der Himmel wurde merklich heller. Ein Vogel begann zaghaft zu singen. Kommandant Kholos ließ sich von seinem Berater beim Ankleiden und mit der Rüstung helfen, die sehr schwer war. Beim Brustpanzer musste der Berater Vardash um Unterstützung bitten, denn den konnten nur zwei Männer anheben. Ein normaler Mensch wäre darin zu Boden gesunken. Kommandant Kholos schnaubte, schlug ein paarmal mit der Faust auf seine Brust, um den Brustpanzer richtig zurechtzuschieben, legte seine Armschienen an und erklärte, er sei bereit.
Ein Soldat traf ein, um zu melden, dass der Zauberer nicht in seinem Zelt sei, ebenso wenig Kommandant Uth Matar. Beide waren schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen worden. Ein Soldat meinte, er hätte gehört, wie Uth Matar zu dem Zauberer etwas gesagt habe, nämlich dass ihre Aufgabe beendet sei und sie nach Sanction zurückkehren könnten. »Wer hat ihnen gestattet, nach Sanction zurückzukehren?«, fuhr Kholos verärgert auf. »Sie sollten mir eine Karte bringen, auf der steht, wo diese verflixten Dracheneier stecken!« »Sie unterstanden dem direkten Befehl von Lord Ariakas, Sir«, erinnerte ihn Vardash respektvoll. »Vielleicht hat der General seine Meinung geändert. Vielleicht beabsichtigt er, selbst nach den Eiern zu suchen. Um ehrlich zu sein, Kommandant, ich habe nichts dagegen, den Zauberer los zu sein. Ich habe ihm nicht über den Weg getraut.« »Ich wollte ihm auch gar nicht vertrauen«, gab Kholos gereizt zurück. »Ich wollte nur, dass er eine einzige gottverdammte Mauer einreißt. Das kann doch nicht so schwer sein! Aber alles in allem habt Ihr wohl recht. Gebt mir mein Schwert. Und die Streitaxt nehme ich auch. Wir gehen davon aus, dass die Schützen uns von den Männern des Barons befreien. Haben sie ihre Befehle, Meister? Sie wissen, was sie zu tun haben?« »Ja, Sir. Ihr Befehl lautet, die anderen Soldaten von hinten zu erschießen, sobald sie das Tor erobert haben. Ein weit besserer Plan, als auf Magie zu vertrauen, wenn ich das anmerken darf, Sir.« »Vielleicht habt Ihr Recht, Vardash. Zusammen dürften unsere Schützen und die der Stadt die Armee des Barons
leicht auslöschen – was glaubt Ihr, bis wann, Vardash?« »Gegen Mittag vermutlich, Sir.« »Wirklich? So spät? Ich hätte eher an den Vormittag gedacht. Wetten wir?« »Mit Vergnügen, Sir«, willigte Vardash wenig begeistert ein. Er gewann nie eine Wette mit Kholos, der sich hinterher immer nur daran erinnern konnte, dass die Umstände zu seinen Gunsten gesprochen hatten, egal, wie es ausging. Wenn die Männer des Barons mittags noch am Leben waren, würde der Kommandant erklären, er selbst hätte Mittag gesagt und es wäre Vardash gewesen, der überoptimistisch den Vormittag ins Gespräch gebracht hatte. Kholos hatte gute Laune. Heute würde die Stadt gewiss in seine Hände fallen. Heute Nacht würde er im Bett des Bürgermeisters schlafen, am besten mit dessen Frau, wenn sie nicht zu hässlich war. In diesem Fall konnte er sich unter den übrigen Frauen eine aussuchen. Einen oder zwei Tage würde er verbliebenen Widerstand ersticken, die besten Sklaven aussuchen und alle töten lassen, die nicht seinen Anforderungen entsprachen. Man würde die Wagen mit der Beute beladen und dann würde er die Stadt in Brand setzen. Sobald Hoffnungsende in Schutt und Asche lag, würde er den langen, aber triumphalen Rückweg nach Sanction antreten.Auch im Lager der Söldner herrschte an diesem Morgen reges Treiben. »Sir, Ihr habt darum gebeten, vor Sonnenaufgang geweckt zu werden«, begann Kommandant Morgon, ehe er merkte, dass seine Worte nicht mehr nötig waren. Der Baron war bereits wach. Er war erst vor einer Stunde im Lager eingetroffen, hatte sich kurz hingelegt und brüte-
te nun auf seinem Feldbett über seinen Plänen für den Tag. Nachdem er seine Beine über die Bettkante geschwungen hatte, zog er seine hohen Lederstiefel an. Die Kniehosen und das Hemd hatte er angelassen. »Frühstück, Sir?«, erkundigte sich Morgon. Der Baron nickte. »Ja, lasst alle Offiziere in mein Kommandozelt rufen und dort das Frühstück servieren.« »Hirschsteaks und Kartoffeln mit Zwiebeln, Sir?«, schlug Morgon grinsend vor. Der Baron blinzelte zu ihm auf. »Was habt Ihr vor, Morgon? Wollt Ihr mich umbringen, bevor der Feind sein Glück versuchen kann?« »Nein, Sir.« Morgon lachte. »Ich komme gerade aus dem Lager unserer edlen Verbündeten. Das ist Kommandant Kholos’ Lieblingsessen vor einer Schlacht.« »Ich hoffe, er bekommt davon einen Herzschlag«, grollte der Baron. »Ich nehme das Übliche. Geröstete Brotstreifen in Honigwein. Und sagt dem Koch, er soll ein Ei dazugeben. Was haben unsere edlen Verbündeten zu ihren Plänen gesagt?« »Der Kommandant wünscht uns Glück für unseren Angriff und verspricht, uns beim Eindringen zu unterstützen.« Die beiden wechselten einen Blick. »Sehr gut, Morgon«, erwiderte der Baron. »Ihr kennt Eure Befehle. Ihr wisst, was zu tun ist.« »Ja, Sir.« Morgon salutierte und verschwand. Der Baron versammelte seine Offiziere um sich und ging mit ihnen den Angriff auf das Tor durch. »Keine Fragen mehr, meine Herren«, erklärte er am Ende des Treffens. »Ich habe keine Antworten. Viel Glück für
alle.« Vier Hornisten, vier Trommler, ein Fahnenträger, mehrere Stabsoffiziere, fünf Läufer und zehn Leibwachen bildeten die Kommandoeinheit in der Mitte der Infanterielinie. »Standarte entrollen!«, befahl der Baron. Der Fahnenträger zog eine Umhüllung von der Spitze der Fahnenstange, damit die eingerollte Flagge sich entfalten konnte. Das Symbol des Bisons flatterte über der Armee. »Hornisten – blast den Ruf zu den Waffen!« Die vier Hornisten bliesen die Töne gleichzeitig und wiederholten den kurzen Ruf dreimal. Morgon berührte den Baron am Arm und deutete über das Feld. Dort bezogen die ersten Kompanien aus Kholos’ Armee an der rechten Flanke Stellung. Nachdem seine schwere Infanterie in der Mitte der Linie aufgezogen war, zog auch Kholos seine Standarte auf, um anzuzeigen, dass er bereit war. Der Baron nickte. »Also gut, Jungs. Das ist das große Finale. Zeit, unseren Sold zu verdienen. Oder auch nicht«, murmelte er in sich hinein. Er hielt einen Augenblick inne, denn er fragte sich, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Achselzuckend richtete er sich auf seinem Pferd auf. »Hornisten!«, rief er. »Blast zum Angriff!« Ein einziger langer, jammernder Ton echote durch die Berge. Das Ende des Tons wurde von den vier Trommlern akzentuiert, die einträchtig losschlugen, um einen langsamen, gleichmäßigen Takt anzugeben. In Schlachtformation rückten die Kompanien vorwärts. Der Baron musterte die linke Seite der Linie. In der eben
aufgegangenen Morgensonne glänzten die polierten Brustpanzer. Auf den Speerspitzen glitzerte das Sonnenlicht. Die Männer trugen Speer und Schild und hatten ihre Kurzschwerter in der Scheide. Ganz am linken Rand hatten die Bogenschützen Stellung genommen. Sie trugen keine Brustpanzer, sondern große Holzschilde mit langen Dornen an der unteren Spitze. Wenn die Bogenschützen anhielten, um zu feuern, setzten sie ihre Schilde auf den Boden und konnten so aus der Deckung schießen. Rechts vom Baron schleppte eine acht Mann starke Kompanie einen riesigen Rammbock aus festem Eichenholz, der mit einer Eisenspitze versehen war. Jeder hatte einen Schild dabei, um Kopf und Körper zu schützen, wenn der Rammbock das Tor zertrümmerte. Daneben marschierten weitere Männer, um einzuspringen und eine Position zu übernehmen, falls jemand fiel. Reihe um Reihe rückten die Männer vor. Auf der Stadtmauer konnten sie dicht gedrängte Soldaten sehen, doch es gab kein Gegenfeuer. Noch nicht. Die Angreifer waren noch nicht in Reichweite. Das Regiment näherte sich dem Flussbett. Der Baron beobachtete die Zinnen sehr genau. »Abwarten, abwarten.« Dieser Befehl galt ihm selbst. Am Fahnenmast auf der Mauer schoss eine Flagge hoch, begleitet vom tödlichen Summen von Hunderten von Pfeilen. »Jetzt!«, brüllte der Baron. Die Hornisten bliesen zum Angriff, die Trommler schlugen einen rasanten Rhythmus. Die Männer stürmten schnell genug vor, um der ersten Salve zu entgehen. Hinter ihnen drangen Pfeile in den Boden ein. Niemand fiel.
Die Männer mit dem Rammbock waren schon hundert Schritt vor der Mauer. Sie hielten direkt auf das Tor zu. Die Verteidiger schickten die zweite Salve los. Jeder Mann im Regiment rannte noch schneller, um vor den tödlichen Pfeilhagel zu gelangen. Wieder konnten sie ihm entgehen. Keiner der Pfeile traf, alle landeten hinter den Linien des Regiments. Die Männer jubelten und verhöhnten den Feind. Die letzten hundert Schritt legten sie im Dauerlauf zurück. Die Linie fiel auseinander, als jeder auf das Ziel zuhetzte. Die Mannschaft mit dem Rammbock erreichte das Tor und hielt an. Die Männer holten einmal aus und ließen den Rammbock dann mit seinem ganzen Gewicht gegen das Tor donnern. Das riesige Holztor dröhnte laut. Beide Flügel flogen auf.Auf der anderen Seite des Felds wandte Kommandant Kholos sich seinen Bogenschützen zu. »Jetzt! Jetzt! Sie haben das Tor zerschlagen! Feuer!« Hunderte Bogenschützen schossen in die hinteren Reihen der Söldnertruppen. Noch bevor die erste Salve getroffen hatte, war die zweite in der Luft. Die Soldaten des Barons waren am offenen Tor zusammengelaufen und drängten hindurch. Ein paar Soldaten fielen, doch nicht annähernd so viele, wie Kholos gehofft hatte. Schäumend vor Wut drehte er sich zu seinen Schützen um. »Strafappell für jeden, der danebentrifft!«, brüllte er. Die Schützen legten neue Pfeile auf und schossen zwei weitere Salven ab. Doch inzwischen gingen ihnen die Ziele aus. »Der Kampf muss sich drinnen abspielen, Sir«, bemerkte
Vardash. »Die Männer des Barons sind in die Stadt eingedrungen. Soll ich die Schützen vorschicken? Anscheinend haben diese Trottel gar nicht gemerkt, dass wir auf sie schießen.« Kholos runzelte die Stirn. Hier stimmte etwas nicht. Er rief nach seinem Fernrohr, hob es an die Augen und starrte forschend auf das Tor. Nachdem er es wieder abgesetzt hatte, schrie er in heißem Zorn seine Trommler an. »Schnell! Gebt das Zeichen zum Angriff!« Vardash drehte sich um. »Angriff, Sir? Jetzt? Ich dachte, wir wollten das Kämpfen den Männern des Barons überlassen.« Kholos verpasste Vardash einen Kinnhaken, der diesem den Kiefer brach und ihn rücklings in den Dreck fallen ließ. »Du Idiot!«, heulte Kholos auf, während er über Vardashs reglosen Körper sprang und nach vorne eilte, um seinen Platz an der Spitze der Truppe einzunehmen. »Diese Hundesöhne haben uns reingelegt! Am Tor wird überhaupt nicht gekämpft.«
16. Kapitel Kitiara zog sich vorsichtig über die letzte Kante zum verborgenen Eingang der Höhle. Sie bewegte sich langsam und prüfte jede Stelle, auf die sie Hände oder Füße setzte, um nur keinen Stein zu lösen, dessen Klackern den Drachen auf sie aufmerksam machen konnte. Oben angekommen, duckte sie sich mit dem Schwert in der Hand, sah sich um und lauschte, weil sie befürchtete, er könnte ihr auflauern. »Die Luft ist rein!«, rief eine Stimme. »Komm schnell. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« »Wer ist da?«, fragte Kit, die in die Schatten der hohen Kiefern spähte, welche den Eingang abschirmten. Die Sonne war gerade aufgegangen. In den Felsen ringsumher hallte das Echo der Trompetenklänge wider, mit denen der Angriff auf die Stadt begann. »Sir Nigel? Oder wie zur Hölle Ihr Euch nennt?« Der Geist stand dort, wo sie ihn verlassen hatte, innen am Höhleneingang. »Ich habe auf dich gewartet«, sagte Sir Nigel. »Schnell. Wir haben nicht viel Zeit.« »Dann bedeutet das wohl, dass Ihr dem Zauberer begegnet seid.« Kit betrat die Höhle. Die dunkle Kälte innerhalb des Berges überflutete sie und brachte sie nach der Hitze der Verfolgung zum Frösteln. Sie bekam eine Gänsehaut und rieb sich die Arme. »Ja, der ist vor einer Weile hier vorbeigekommen. Du hast ihm verraten, wo die Eier zu finden sind«, sagte Sir Nigel vorwurfsvoll. »So lautete mein Befehl«, gab Kit zurück. »Ich gehe da-
von aus, dass selbst Geisterritter Befehle befolgen.« »Aber jetzt bist du hier, um ihn davon abzuhalten, sie zu zerstören.« »Auch das ist ein Befehl«, erklärte Kitiara kalt, lief an dem Geist vorbei und betrat die Höhle. Der Geist konnte ja nachkommen, wenn er wollte. Der Geist folgte ihr. Wie beim ersten Mal, als sie den Tunnel von der anderen Seite betreten hatte, war ihr Weg beleuchtet. Nein, dachte sie, es war nicht so sehr ihr Weg, der beleuchtet war, sondern die Dunkelheit, die zurückwich. Wenn der Geist die Hand hob, flutete die Dunkelheit vor ihm zurück wie das Meer beim Gezeitenwechsel an der Küste. Auf dem Weg und an den Wänden glitzerten goldene und silberne Schuppen, die einst hier hängen geblieben waren. Solange Kitiara sich dicht bei dem geisterhaften Ritter hielt, konnte sie den Weg finden. Sobald der Geist weiterging, floss die Dunkelheit wieder hinter ihr zusammen. Wenn sie nur einen oder zwei Schritte zurückblieb, umschloss die Finsternis auch sie. »Dieser Geist beherrscht alle möglichen Tricks«, murmelte Kit. Sie sputete sich. »Woher wusstet Ihr eigentlich, dass ich zurückkomme?«, forderte sie den Geist heraus. »Oder können alle Geister Gedanken lesen?« »An meinem Wissen ist nichts Geheimnisvolles«, antwortete der Ritter mit leisem Lächeln. »Als Immolatus die Höhle erreichte, ist er nicht sofort eingedrungen, sondern blieb stehen, wartete und sah in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Er wartete, bis er etwas entdeckte, dann nickte er in sich hinein, als hätte er bereits damit gerechnet. Als ich seinem Blick folgte, bemerkte ich dich unten am
Hang.« »Immolatus war nicht gerade beglückt«, fuhr der Ritter fort. »Er knurrte und murmelte und sagte, du seist wirklich lästig und er hätte dich erledigen sollen, als er die Gelegenheit dazu hatte. Er zögerte, sodass ich schon dachte, er wolle hier auf dich warten. Das hatte er wohl auch vor, aber dann blickte er in den Gang, in die Dunkelheit, und seine roten Augen glühten. ›Erst meine Rache‹, sagte er und ging.« Sir Nigel sah sie prüfend an. »Er ist jetzt in Drachengestalt, Kitiara Uth Matar.« Kit holte tief Luft und umklammerte ihr Schwert fester. Es war nur logisch, dass Immolatus sich zurückverwandeln würde. Sie hatte nichts anderes erwartet, doch das Wissen, dass er es tatsächlich getan hatte, war wie ein Schlag in die Magengrube. Jetzt, da der Geist es erwähnt hatte, spürte sie das Aufkeimen jener schrecklichen, vernichtenden Angst, die sie geradezu gelähmt hatte, als sie den Drachen zum ersten Male gesehen hatte. Die Angst ließ ihre Handflächen schwitzen und ihren Mund trocken werden. Sie war wütend auf den Ritter und auf sich selbst. »Soll das heißen, Ihr habt Euch die ganze Zeit in der Höhle herumgedrückt?«, brauste Kit auf. »Warum habt Ihr ihn nicht angegriffen? Ihn von hinten erschlagen, bevor er Gelegenheit hatte, seine Gestalt zu ändern! Er hatte doch keine Ahnung, dass Ihr hier wart!« »Nutzlos«, erwiderte Sir Nigel. »Mein Schwert hat keinen Biss.« Kit fluchte. Sie war außer sich vor Zorn. »Ein schöner Wächter seid Ihr!«, höhnte sie. »Ich bin der Hüter der Eier«, erwiderte der Ritter. »So
lautet mein Befehl.« »Und wie wollt Ihr sie beschützen, Herr Untot? Wollt Ihr sagen, ›bitte, lieber Dache, geh doch weg und mach meine schönen Eier nicht kaputt‹?« Das Gesicht des Ritters verdüsterte sich, oder vielleicht wurde auch nur das von ihm ausgehende Licht schwächer, denn es sah aus, als ob die Schatten sich ihm näherten. »Das ist mein Los«, sagte er mit leiser Stimme. »Ich habe es selbst gewählt, niemand hat es mir auferlegt. Aber mitunter ist es schwer zu tragen. Bald jedoch wird meine Wache vorüber sein, ob zum Guten oder zum Bösen, und dann werde ich meine lange aufgeschobene Reise fortsetzen. Was meinen Plan angeht, so werde ich den Drachen von vorne ablenken. Wenn seine Aufmerksamkeit auf mich gerichtet ist, schlägst du zu.« »Ablenken? Was habt Ihr vor? Ein Liedchen, ein Tänzchen – « »Pst!« Sir Nigel hob warnend die Hand. »Wir nähern uns der Höhle.« Kit wusste genau, wo sie war. Der Gang, in dem sie standen, machte eine Biegung. Nicht weit dahinter führte er in die riesige Kammer, in der die Eier versteckt waren. Kitiara stand genau vor dieser Biegung. Wenn sie um diese schartige Felswand rechts von ihr lief, würde sie in die Höhle kommen. Direkt zu Immolatus. Kitiara hörte, wie der massige Schwanz über den Boden schleifte, hörte den pfeifenden Atem und das Grollen des Feuers, das in seinem Bauch brannte. Sie konnte ihn riechen – den Schwefel und den Reptiliengestank. Von dem Gestank und vor Angst wurde ihr übel. Sie hörte, wie der
Drache mit seinem Schwanz gegen die Felsen schlug. Der Gang, in dem sie standen, erzitterte. Ihr Körper wurde erst heiß, dann kalt. Ihre Handflächen wurden so feucht, dass sie ihren Griff um das Heft des Schwertes immer wieder erneuern musste. Immolatus sprach zu den Ungeborenen seiner Feinde, quälte sie vermutlich in der Sprache der Drachen. Kitiara verstand kein Wort. »Ich muss jetzt gehen«, sagte Sir Nigel. Sie fühlte den Hauch seiner Worte auf ihrer Wange, doch hören konnte sie angesichts des fauchenden, heulenden Drachen und seiner höhnischen Worte, die wie zersplitternde Knochen klangen, nichts. »Warte auf mein Zeichen.« »Ach was!«, fauchte Kitiara. Sie war wütend und hatte Angst. »Geht nur in Euer Grab zurück. Vielleicht lege ich mich ja noch dazu.« Sir Nigel sah sie lange forschend an. »Du hast wirklich nichts von dem verstanden, was du gesehen und gehört hast, seit du diesen Tempel betreten hast?« »Ich habe verstanden, dass ich das hier alleine tun muss«, warf Kit ihm vor. »Dass ich auf niemanden zählen kann, nur auf mich! Wie immer.« »Ah, das ist eine Erklärung.« Sir Nigel hob die Hand zum Gruß. »Leb wohl, Kitiara Uth Matar.« Das Licht verschwand, und Kit stand allein in einer Finsternis, die nicht so dunkel war, wie sie es sich gewünscht hätte, denn diese war vom roten Feuer des Drachen erhellt. »Er hat mich verlassen!«, sagte sich Kit verblüfft. Sie hatte darauf gewartet, dass sie ihn so sehr beschämen könnte, dass er blieb. »Dieser Mistkerl von einem Geist will mich wirklich hier sterben lassen! Die Pest soll ihn holen. Zum
Abgrund mit seiner Seele.« Da ihr bewusst war, dass sie jetzt handeln musste, solange sie mehr Wut als Angst fühlte, wischte Kitiara ihre feuchte Schwerthand an ihrer Ledertunika ab, umklammerte den Griff und schritt durch die feurige Finsternis.Immolatus hatte seinen Spaß. Er hatte ein Recht darauf, diesen Moment hinauszuzögern. Er hatte ihn sich verdient und mit Blut dafür gezahlt und jetzt wollte er ihn voll auskosten. Außerdem brauchte er Zeit, um sich wieder an seine Drachengestalt zu gewöhnen und in der neu gewonnenen Kraft und Macht zu schwelgen. Er kratzte mit den Vorderklauen an der Decke der Höhle und hinterließ tiefe Spuren im Gestein. Seine Hinterklauen gruben sich in den Fels und brachen ihn auf. Zu gern hätte er seine Flügel ausgebreitet, um seine Muskeln zu recken. Leider war die Höhle zwar groß genug für ihn, jedoch nicht groß genug für seine volle Spannweite. Er begnügte sich damit, mit dem Schwanz zu peitschen, und registrierte zufrieden, dass der Berg durch seine Macht bis in die Tiefen erzitterte. Immolatus sprach zu den Ungeborenen seiner Feinde, denn er wusste, dass seine Feinde ihn irgendwo hören konnten. Sie würden spüren, dass er in der Nähe ihrer Jungen war. Sie würden wissen, was er beabsichtigte, aber sie hatten nicht die Macht, ihn aufzuhalten. Er fühlte die Pein der Eltern, ihre hilflosen Befürchtungen, und er lachte sie aus, verspottete sie und schickte sich an, ihre Kinder zu vernichten. Er hatte vorgehabt, die ungeborenen Drachen einzuäschern, und das war auch noch immer seine Absicht. Doch das Feuer in seinem Bauch war beinahe erloschen, denn in seiner Menschengestalt war es nichts als ein rötlicher Fun-
ken gewesen, ein Funken, den er ständig hatte nähren müssen. Da er nun Zeit brauchte, um das Feuer zu schüren, hatte er beschlossen, dass er die Eier zunächst einmal mit seinen Klauen aufbrechen und vielleicht sogar ein paar Dutzend Eigelbe aussaugen könnte. Voller Vorfreude rezitierte er die Liste all dessen, was man ihm angetan hatte, und sah seiner Rache mit finsterer Begeisterung entgegen, denn er kostete jeden Augenblick aus. In seinen Jahrzehnte währenden Träumen würde er diese Momente immer wieder erleben. Immolatus war so zufrieden, dass er dem silberweißen Lichtpunkt zu seinen Füßen kaum Beachtung schenkte. Er dachte, das Licht wäre nur eine der unzähligen silbernen Schuppen, die von seinen Feinden liegen geblieben waren, darum verschob er leicht den Kopf in der Hoffnung, das Licht würde verschwinden. Es war unangenehm – wie ein Fussel im Auge. Das Licht blieb. Er konnte sich nicht davon befreien und musste deshalb seine Rezitation abbrechen, um sich näher damit zu beschäftigen. Obwohl es ihm wehtat, es anzusehen, betrachtete er das Licht genauer und stellte dabei fest, dass es Gestalt annahm. Er erkannte die Gestalt. Einer von Paladins Speichelleckern. »Ein Ritter von Solamnia, extra für mich!«, gluckste Immolatus. »Welch eine Freude! Nichts hätte mich jetzt mehr erfreuen können. Wer sagt, dass meine Königin mich verlassen hat? Nein, sie hat mir noch ein Geschenk gemacht.« Der Ritter sprach kein Wort. Er zog sein Schwert aus der altertümlichen Scheide. Der Drache blinzelte geblendet. Das silberne Licht war eine Silberlanze, die ihm ins Auge stach. Der Schmerz war
überwältigend und wurde noch schlimmer. »Ich würde länger mit dir spielen, Wurm«, knurrte Immolatus, »aber ich finde, allmählich störst du mich.« Mit einem Klauenhieb schlug er nach dem Ritter, um dessen Rüstung zu zerreißen und ihn aufzuspießen. Der Ritter griff nicht an. Als der sichere Tod auf ihn herabfiel, erhob er sein Schwert mit dem Heft voran. »Paladin, Gott meines Ordens und meiner Seele«, rief der Ritter aus. »Sei mein Zeuge, dass ich meinem Gelübde treu geblieben bin!« Lächerliche Ritter, dachte Immolatus, als seine Klaue sich senkte. Schwören, beten – selbst nachdem ihr unzuverlässiger Gott sie im Stich gelassen hat. Wie meine Königin mich im Stich gelassen hat und dann zurückkam, um Ehrfurcht, Dienst und Anbetung zu verlangen, als hätte sie das verdient! Ein brennender Schmerz durchzuckte die Eingeweide des Drachen. Sein Tatzenschlag ging weit daneben. Wütend drehte Immolatus sich um, um zu sehen, was ihn getroffen hatte. Der Wurm. Uth Matar. Dieser lästige, Blut saugende Wurm, den dieser menschliche Abschaum, Ariakas, auf ihn angesetzt hatte.Das Wiederauftauchen des Geistes hatte Kitiara sowohl erfreut als auch erstaunt. Der Anblick des Ritters flößte ihr Mut ein. Sie schlich um das linke Hinterbein des Drachen und stach von hinten zu, trieb ihr Schwert mit beiden Händen tief in seine Flanke. Sie zielte auf ein lebenswichtiges Organ. Obwohl ihr der anatomische Aufbau von Drachen unklar war, hoffte sie, sein Herz zu treffen, um ihn rasch zu töten. Ihr Schwert rutschte an einer Schuppe ab. Es drang tief ein, doch dann traf es auf
eine Rippe, nichts Lebensgefährliches. »Verdammt!« Kitiara riss das blutige Schwert zurück, und da sie vermutete, dass ihre Zeit knapp bemessen war, stach sie in einem verzweifelten Versuch noch einmal zu.Da er von vorne und von der Seite angegriffen wurde, wandte Immolatus seinen Blick dem Gegner zu, den er für den gefährlichsten hielt, dem verfluchten Solamnier. Den Wurm würde schon sein peitschender Schwanz erledigen. Schnell wie eine Peitschenschnur zog der Schwanz sich zusammen und entrollte sich wieder. Er traf Kitiara quer vor der Brust, ein Schlag, der sie kopfüber in den Gang zurückrollen ließ. Ihr flog das Schwert aus der Hand. Immolatus wollte erst den Ritter erledigen, dann den Wurm. »Belohne meine Treue, mein Gott!«, schrie der Ritter in den leeren Götterhimmel. »Gewähre mir die Erfüllung meines Schwurs.« Der Ritter schleuderte sein Schwert in die Luft. Ein dummer Zug, doch einer, der unter Rittern beliebt war. Immer hofften sie, ein Auge auszustechen. Die Klinge loderte vor silbernem Feuer. Immolatus schützte sich, indem er den Kopf hochriss und zurückzuckte. Sir Nigel hatte nicht nach dem Auge des Drachen gezielt. Die silbern strahlende Klinge flog hoch in die Luft und traf die Höhlendecke. Das Schwert ohne Biss grub sich tief in den Fels. Der Drache lachte. Er senkte den Kopf und schnappte nach dem Ritter, um diesen zwischen seinen kräftigen Kiefern zu zermalmen. Seine Fänge öffneten und schlossen sich aber nur über Luft. Der Ritter stand noch immer ruhig da und starrte nach
oben, die Hände grüßend oder vielleicht im Gebet erhoben. Hinter ihm lagen die Eier der goldenen und silbernen Drachen friedlich in einer Höhle im Fels. Über ihm begann die Decke zu springen. Ein großer Felsbrocken fiel herunter und traf Immolatus auf den Kopf. Es folgte noch einer und noch einer, dann polterte eine wahre Kaskade von Steinen herunter, die den Drachen unter sich zu begraben drohte. Scharfe Steine trafen seinen Körper und verwundeten ihn. Einer durchschlug seinen Flügel. Ein anderer zerquetschte einen Zeh. Fassungslos suchte Immolatus vor den auf ihn niederprasselnden Steinen Schutz. Er zog sich in den Gang zurück, weil er hoffte, dessen Decke würde halten und nicht über ihm zusammenbrechen. Dort hockte er, während der Boden unter seinen Füßen bebte. Die Luft war von Staub und scharfen Splittern erfüllt, welche von der Höhlenwand abprallten. Er konnte nichts sehen und kaum atmen. Und dann endete das Beben, die Lawine ließ nach, der Staub verzog sich. Immolatus klappte vorsichtig ein Auge auf und blinzelte. Er hatte Angst, sich zu bewegen, Angst, dass der ganze Berg auf ihn herabstürzen würde. Der Ritter von Solamnia war verschwunden, unter einem schweren Felssturz begraben. Verschwunden waren auch die Eier, deren Höhle hinter Tonnen von Steinen und Felsen versiegelt war. Die ungeborenen Drachen lagen sicher jenseits von Immolatus’ Reichweite. Brüllend vor Enttäuschung und Wut stieß er einen Feuerstrahl aus seinem Bauch gegen die frische Steinmauer, doch damit überhitzte er nur den Granit, so dass dieser zu einer harten Masse zusammenschmolz, die nicht mehr zu
versetzen war. Er kratzte mit einer Klaue an der Wand und konnte nach viel Mühe einen einzigen kleineren Felsbrocken lösen, der von der Spitze des Haufens herunterrollte, auf dem Fuß des Drachen landete und ihn verletzte. Finster musterte er die Wand. Rache war süß, doch das hier war ein Haufen Arbeit. Außerdem war da noch die Königin der Finsternis. Die würde über den Ausgang der Ereignisse wenig erfreut sein. Auch wenn Immolatus seine Göttin verhöhnte und sie als unzuverlässig und launisch verachtete, fürchtete er doch tief in seinem Innern ihren Zorn. Wenn er die Eier zerstört hätte, hätte er sich vielleicht noch herausreden können. Wer weinte schon über zerschlagene Eier? Doch dass er ihren Befehlen getrotzt und dabei versehentlich die Eier so versiegelt hatte, dass sie sicher waren, bis der Tag des Schlüpfens anbrach und ihre Eltern kommen konnten, um sie zu befreien… Immolatus hatte das Gefühl, Ihre Majestät würde schwierig werden. Einen Moment lang hatte er die flüchtige Hoffnung, dass alle Eier beim Einsturz der Decke zerquetscht worden wären, doch er kannte den alten Paladin gut und wusste, dass das Gebet des Ritters erhört worden war. Die Explosion, die dem Drachen die Höhle um die Ohren hatte fliegen lassen, war nicht von sterblicher Hand ausgelöst worden. Durch Zufall oder Glück war Immolatus selbst dem Zorn des Gottes entgangen. Beim nächsten Mal mochte er weniger Glück haben. Schließlich bebte der Berg noch immer. Es war Zeit zu gehen, bevor Paladin es noch einmal versuchte. Immolatus wollte auf dem Weg verschwinden, auf dem er gekommen war, fand den Gang jedoch durch Schutt versperrt. Der Drache fauchte vor Ärger. Er war eher erbost als ver-
ängstigt. Drachen sind an das Leben unter der Erde gewöhnt, ihre Augen durchdringen die Dunkelheit und ihre Nasen erschnüffeln den leisesten Luftzug. Immolatus roch frische Luft. Er wusste, dass es irgendwo einen zweiten Zugang gab. Er rief sich die Karte ins Gedächtnis, die ihm der Wurm gezeichnet hatte. Es führte ein zweiter Gang nach oben und hinaus. Ein Gang, der durch den verwünschten Tempel des Paladin führte. »Dann kann ich wenigstens diesen schwarzen Fleck von der Landkarte ausradieren«, murmelte Immolatus, wobei ihm eine Flamme aus dem Maul zuckte. »Ich verbrenne ihn und dann verbrenne ich die Stadt. Sie werden den Rauch des Todes noch im Abgrund riechen, und dann soll meine Königin oder irgendein anderer Gott nur versuchen, mich zu berühren! Sollen sie es doch versuchen!« Murrend vor Trotz schnupperte er nach dem Ursprung der frischen Luft. Nachdem er eine Klaue in das Geröll gegraben hatte, das den Weg versperrte und das an dieser Stelle nicht besonders dick war, räumte der Drache das Hindernis schnell beiseite. Er entdeckte den Gang, an den er sich erinnerte. Der Gang war offen und frei und nicht von dem Einsturz betroffen. Doch es war ein schmaler, enger Gang, der für Menschen gemacht war. Immolatus stöhnte und wäre unter dem Gewicht seiner Enttäuschung am liebsten zusammengesunken. Wieder würde er diese Gestalt annehmen müssen, diese verhasste, abscheuliche Gestalt, diese schwache, armselige Menschengestalt. Immerhin würde er nicht allzu lange in diesem Fleischklumpen herumtappen müssen, nur lange genug, um diesen Gang zu durchqueren, der – wenn er sich
richtig an die Karte erinnerte – nicht besonders lang war. Zähneknirschend sprach er die magischen Worte, obwohl er jedes einzelne davon verabscheute, und dann folgte die Verwandlung, die so schmerzhaft und demütigend war wie immer. Inmitten des eingestürzten Gangs stand Immolatus, die Rote Robe. Der Stoff seiner Robe blieb augenblicklich an einer Wunde in seiner Seite kleben, einer Wunde, die er als Drache kaum registriert hatte, die seine Menschengestalt jedoch besorgt beobachtete, weil sie tief war und stark blutete. Immolatus verfluchte den Wurm, der ihm die Wunde beigebracht hatte, und fragte sich, was aus Kitiara geworden war. Als er sich zwischen den Trümmern umsah, entdeckte er keine Spur von ihr. Er lauschte, vernahm aber kein Geräusch, kein Stöhnen, keine Hilferufe. So nahm er an, dass sie unter dem halben Berg verschüttet sein musste. Auch gut, dachte er und drückte eine Hand auf seine Seite. Obwohl jeder Atemzug ein schmerzhaftes Keuchen war, betrat er den Korridor. Und bei jedem Schritt verfluchte er sein schwaches menschliches Fleisch.Kitiara wartete, bis sie seine Schritte nicht mehr hörte, und zählte anschließend noch bis hundert. Erst als sie sicher war, dass er weit genug fort war, dass er sie nicht mehr hören konnte, kroch sie unter dem Geröll hervor, das ihr das Leben gerettet und sie vor dem riesigen Körper des Drachen beschützt hatte. Kit war zerschlagen und blutete aus zahllosen Schrammen. Sie war voller Gesteinsstaub, nach all der Angst und Anstrengung erschöpft, und sie hatte endgültig genug von diesem Auftrag. Ihr Ehrgeiz war an einem Tiefpunkt. Jetzt hätte sie den Generalsposten in den Drachenarmeen gegen einen Krug Zwergenschnaps und ein heißes Bad getauscht.
Sie wäre auf der Stelle von diesem verwünschten Ort verschwunden und hätte den Drachen Drache sein lassen, wenn es irgendeinen Weg gegeben hätte. Leider gab es jedoch nur den Weg des Drachen. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, war der Weg, den auch sie einschlagen musste. Wenn sie nicht hier unten im Dunkeln bleiben wollte, gefangen in einem halb eingestürzten Berg, musste sie sich ihm stellen. »Sir Nigel?«, wagte sie zu rufen. Keine Antwort. Aus dieser Richtung war keine Hilfe zu erwarten. Sie hatte gesehen, wie er unter der Steinlawine begraben worden war. Doch sein Gelübde war erfüllt. Er hatte einen Weg gefunden, die Eier zu schützen. Wie schade, dass er dabei nicht den Drachen umgebracht hatte. Das war jetzt ihre Sache. Sie war auf sich gestellt. Wie immer. Ihr Schwert lag unter dem Geröll begraben, doch sie fand es wieder. Und sie hatte noch ihr Messer. Immolatus hatte seine Magie – mächtige, tödliche Magie. Aber er war in seiner verwundbaren menschlichen Gestalt, lief auf einem dunklen Weg und kehrte ihr den Rücken zu. Diesmal seinen wahren Rücken, keine Illusion. Kitiara zog ihr Messer aus dem Stiefelschaft, rieb sich den Sand aus den Augen und spuckte den Staub aus dem Mund. Nachdem sie den Gang betreten hatte, schlich sie dem Drachen nach.
17. Kapitel Die Soldaten lösten ihre Reihen auf und strömten durch das offene Stadttor. Den Rammbock nahmen sie mit. Sobald sie drinnen und vorläufig außer Gefahr waren, kamen sie atemlos zum Stehen. Sie kochten vor Wut, als sich wie brennender Zwergenschnaps die Nachricht verbreitete, dass Männer in den hinteren Reihen tot umgefallen waren – mit schwarz befiederten Pfeilen im Rücken. Ein paar aus den vorderen Kompanien machten tatsächlich kehrt und drängten wieder nach draußen, um aufs Feld zurückzukehren und Rache zu fordern. Die Offiziere brüllten, fluchten und versuchten, die Ordnung wiederherzustellen, während die Bewohner von Hoffnungsende misstrauisch von der Mauer aus zusahen. Man hatte ihnen erzählt, diese hart gesottenen Söldner brächten ihnen die Rettung, doch ihr erster Anblick – nach Blut dürstend – ließ die Bürger zitternd erblassen. Dem Bürgermeister fiel ein altes Sprichwort ein – lieber einen Kender vor der Nase als einen mit der Hand in deiner Hosentasche. Er bedauerte sichtlich, dass er diesen kaltäugigen Berufssoldaten, die auf alle, die sie verraten hatten, einen schrecklichen Tod herabwünschten, das Tor geöffnet hatte. »Schließt das Tor!«, schrie der Baron von seinem Schlachtross herüber. Das Pferd stieg und tänzelte vor Aufregung, blähte die Nüstern, legte die Ohren an und biss nach jedem, der ihm zu nahe kam. »Zieht diese Wagen wieder an ihren Platz! Schützen, auf die Mauer!« »Diese Hunde!«, brüllte er Kommandant Morgon zu, der höchst wagemutig das Pferd am Zügel festhielt. »Habt Ihr
gesehen, was sie gemacht haben? Sie haben auf uns geschossen, als wir ihnen den Rücken zukehrten! Himmel, ich werde diesen Kommandanten Kholos finden und ihm die Leber herausschneiden! Die esse ich dann mit Kartoffeln und Zwiebeln!« »Ja, Herr. Ich habe es gesehen, Sir.« Kommandant Morgon beruhigte Pferd und Reiter zur gleichen Zeit. »Ihr hattet Recht, Baron! Ich hatte Unrecht. Das gebe ich bereitwillig zu.« »Und glaubt ja nicht, dass ich Euch das je vergessen lasse. Ha, ha, ha!« Der Baron brüllte sein irres Lachen heraus, was den entsetzten Bürgern den Rest gab. »Bei Kiri-Jolit«, fügte er hinzu, als er sich unter den stampfenden, schwertklirrenden, fluchenden Soldaten seiner Armee umsah, »diese Dummköpfe sind verrückt geworden! Ich wünsche, dass die Ordnung wiederhergestellt wird, Kommandant Morgon! Sofort!« Kompanie C hatte den Auftrag erhalten, die Barrikaden hinter dem Tor zu entfernen. Der erste Stoß des Rammbocks war das Zeichen für Kompanie C gewesen, das Tor weit aufzureißen. Ihre beiden Schützen deckten die Kameraden, bevor sie sich ordentlich in die Stadt zurückzogen. So stand Kompanie C einsatzbereit da und hielt sich aus dem Tumult heraus. »Schließt das Tor!«, befahl Meister Senej, als er das Kommando des Barons hörte. »Alles bleibt innerhalb der Stadtmauern.« Die Männer der Kompanie C führten den Befehl rasch aus. Einige sprangen an die Torflügel. Andere drängten, teilweise mit der flachen Klinge, jene Soldaten zurück, die entgegen aller Vernunft versuchten, die Stadt zu verlassen
und ihre gefallenen Kameraden zu rächen. »Stellt Euch dorthin, Majere!«, ordnete Feldwebel Nemiss an und postierte Caramon auf die Mitte der Straße, während sich die Männer hinter ihm mit den schweren Torflügeln abmühten. »Lasst niemanden vorbei!« »Ja, Sir.« Ohne auf die feindlichen Pfeile zu achten, die durch das langsam zufallende Tor schwirrten, bezog Caramon Stellung. Er spreizte die Beine, um das Gleichgewicht zu halten, und spannte seine Armmuskeln. Wer an ihm vorbei wollte, wurde entweder zurückgeschleudert oder hochgehoben oder erhielt notfalls eine leichte Kopfnuss, damit er wieder zu sich kam. Das Tor fiel zu. Der Pfeilhagel brach ab, denn der Feind musste diese unerwartete Situation erst überdenken und sich neu formieren. »Was nun, Sir?«, fragte Kommandant Morgon. »Lassen wir uns hier belagern?« »Das hängt einzig und allein von Kholos ab«, erwiderte der Baron. »Wenn Ihr an seiner Stelle wärt, was würdet Ihr tun, Morgon?« »Ich würde meine Truppen zurückziehen, die Nachschublinien ausbauen und abwarten, bis die ganze Stadt verhungert ist, Herr«, antwortete Morgon. »Sehr gut, Kommandant Morgon«, lobte der Baron. »Und was wird Kholos Eurer Meinung nach tun?« »Nun, Herr, ich vermute, er ist wütender als ein nasser Lindwurm. Meiner Einschätzung nach wird er alles, was er hat, gegen uns einsetzen und versuchen, die Tore zu durchbrechen, um uns auf der Stelle niederzumetzeln.« »Das denke ich auch. Ich gehe auf die Mauer und sehe mal nach. Die Offiziere sollen ihre Kompanien hinterein-
ander aufstellen, die mittlere Kompanie an die Spitze, dahinter die Hügelkompanien. Ihr habt genau zehn Minuten Zeit!« Kommandant Morgon lief davon und schrie nach seinen Offizieren. Eilig gab er seine Befehle aus. Schon bald schlugen die Trommeln, und die Trompeten erschollen. Die Feldwebel brüllten, traten und schoben die Männer an ihre Plätze. Nachdem die Soldaten die beruhigend vertrauten Klänge vernommen hatten, die Disziplin und Ordnung versprachen, stellten sie sich eifrig wieder in Reihen auf. »Sollen wir die Barrikaden wieder aufbauen, Sir?«, erkundigte sich Meister Senej. Kommandant Morgon blickte zur Mauer hoch, wo sich der Baron mit dem Bürgermeister und den Offizieren der Stadt beriet. Morgon schüttelte den Kopf. »Nein, Senej. Ich glaube, ich weiß, was der Baron vorhat. Haltet sie aber sicherheitshalber bereit.« Inmitten dieses Chaos suchte Raistlin nach Horkin. Zuerst konnte er seinen Meister in all dem Tumult nicht finden, und er begann, sich Gedanken zu machen, besonders nachdem er von den Verlusten hörte. Die Tore schwangen zu, und Raistlin dachte schon, die »süße Luni« hätte ihren Zechgenossen im Stich gelassen, als er Horkin durch das Tor ziehen sah. Er stützte einen Kameraden, dem ein Pfeil das Bein durchbohrt hatte. Der Mann musste starke Schmerzen leiden, denn er konnte den Fuß nicht aufsetzen, ohne zitternd nach Luft zu schnappen. »Ich bin froh, Euch zu sehen, Sir!«, sagte Raistlin ernsthaft. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht gewusst, wie sehr er den schroffen, kurz angebundenen Horkin schätzte. Raistlin griff zu, um den Verwundeten auf der anderen
Seite zu stützen. Zusammen schleppten sie ihn an einen ruhigen Platz unter den Bäumen, wo sich weitere Verwundete versammelt hatten. »Ich hatte schon befürchtet, Ihr wärt unter den Gefallenen. Was war da draußen los?« »Verrat, Roter«, erklärte Horkin mit einem finsteren Blick zum Tor. »Verrat und Mord. Man hat uns reingelegt, daran besteht kein Zweifel. Warum und weshalb weiß ich nicht.« Er warf Raistlin einen prüfenden Blick zu. »Scheint, als wüsstest du mehr als ich, Roter. Der Baron sagte mir, du hättest ihn letzte Nacht zum Haus des Bürgermeisters begleitet. Du sollst dich dort nützlich gemacht haben.« »Ich habe einem alten Ehepaar vermutlich zur besten Nachtruhe seit Jahren verholfen«, gab Raistlin trocken zurück, »und das war auch schon alles. Von dem, was der Baron und der Bürgermeister besprochen haben, habe ich nicht mehr Ahnung als Ihr. Er hat mich aus dem Zimmer geschickt.« »Nimm’s dir nicht zu Herzen, Roter. Das ist ganz unser Baron. Je weniger Leute ein Geheimnis kennen, desto eher bleibt es ein Geheimnis, ist sein Motto. Ein Grund, warum er so lange überlebt hat. So«, Horkin blickte sich um, »und was machen wir jetzt mit den Verwundeten?« »Das wollte ich Euch gerade erzählen, Sir. Ich glaube, ich habe einen Ort gefunden, wo wir die Verwundeten unterbringen können. Wusstet Ihr, dass es in dieser Stadt einen alten Tempel des Paladin gibt, Sir?« »Einen Tempel des Paladin? Hier?« Horkin rieb sich das Kinn. »Ja, Sir. In sicherer Entfernung vom Kampfgeschehen. Wenn wir einen Karren bekämen, könnten wir die Verwundeten dorthin bringen.«
»Und warum glaubst du, dass dieser alte Tempel ein guter Ort für unsere Verwundeten ist?« wollte Horkin wissen. »Ich habe ihn gestern Nacht gesehen, Sir. Er sah aus, nun ja…« Raistlin zögerte. »Er sah aus wie ein heiliger Ort, Sir.« »Früher mag er das gewesen sein, Roter«, seufzte Horkin. »Aber jetzt nicht mehr.« »Wer weiß das schon, Sir«, gab Raistlin mit leiser Stimme zu bedenken. »Wir beide wissen, dass eine Göttin Krynn nicht verlassen hat.« Horkin überlegte. »Du sagst, er liegt in sicherer Entfernung vom Kampf geschehen?« »So sicher wie überhaupt möglich, Sir«, bestätigte Raistlin. »Er muss alt sein. Ist es eine Ruine?« »Instand gehalten wurde er natürlich nicht mehr, Sir. Wir müssten ihn genauer untersuchen, doch das Gebäude scheint in recht gutem Zustand zu sein.« »Es schadet sicher nicht, wenn wir ihn uns genauer ansehen«, befand Horkin. »Und wer weiß? Auch wenn Paladin längst fort ist, könnte vielleicht doch noch ein gewisser Segen übrig sein. Ich hoffe nur, das Dach ist dicht«, fügte er mit einem Blick zum Himmel hinzu. »Vor Einbruch der Nacht wird es Regen geben. Wenn das Dach leckt, müssen wir einen anderen Ort finden, ob heilig oder nicht. Geh und überprüfe deinen Tempel, Roter. Ich besorge einen Wagen. Sag Feldwebel Nemiss, sie soll dir eine Eskorte stellen.« »Ich brauche wirklich niemanden, Sir«, lehnte Raistlin ab. Nachdem er die ganze Nacht von dem Tempel geträumt hatte, der in silbernes Mondlicht gebadet gewesen war, war Raistlin jetzt überzeugter denn je, dass Solinari ihn absichtlich auf den Tempel aufmerksam gemacht hatte. Raistlin
hatte keine Ahnung, welche Absicht dahinter steckte. Er wollte den Tempel alleine betreten, wollte sich dem Willen des Gottes öffnen. Um das zu tun, musste er auf die Stimme eingestimmt sein, die möglicherweise zu ihm sprechen wollte. Er wollte keine lärmenden Trampel um sich haben, die freche Bemerkungen machten und die Geister beleidigten, die an dem heiligen Ort herumspuken mochten. »Bestimmt möchtest du deinen Bruder mitnehmen«, sagte Horkin. »Nein, Sir«, wehrte Raistlin mit Nachdruck ab, denn gerade diesen Trampel hatte er vor sich gesehen. Der Tempel war seine Entdeckung, er gehörte ihm. Dass es Caramon gewesen war, der den Tempel als Erster gesehen hatte, vergaß er dabei sicherheitshalber. »Ich brauche wirklich niemanden – « »Du brauchst einen guten Kämpfer, Roter«, bestimmte Horkin gereizt. »Man weiß nie, was in einem alten Tempel herumhängt. Ich rede mit Feldwebel Nemiss. Vielleicht stellt sie sogar Tauscher für dich ab.« Raistlin stöhnte innerlich.Die tief hängenden grauen Wolken, welche praktisch seit Ankunft der Armee über der Stadt gehangen hatten, wurden von einem kräftigen, kalten Wind auseinander geblasen, der vom Berg herunterfegte. Im Handumdrehen fielen die Temperaturen von frühsommerlich auf spätherbstlich. Am Abend mochte es regnen, wie Horkin vorausgesagt hatte, aber vorläufig glitzerte die Sonne wie eine frisch geprägte Münze, und frische, kühle Luft ließ die Insassen der belagerten Stadt wieder aufleben. Wenn sie jedoch über die Mauern blickten und die gewaltige Armee von Kommandant Kholos anrücken sahen, wurde ihre Hoffnung gleich wieder getrübt.
Der Baron erklärte seinen Plan. Zuerst waren der Bürgermeister und seine Offiziere erschüttert, doch sie ließen sich bald überzeugen, dass dies die letzte Hoffnung für Hoffnungsende war. Als die ersten schwarz befiederten Pfeile über die Mauer flogen, verschwand der Baron, um seinen Plan umzusetzen. Der auffrischende Wind trocknete den Schweiß auf Caramons Körper, und er atmete tief durch und ließ seine muskulöse Brust mit jedem Atemzug weiter anschwellen – zur großen Freude der Hausfrauen, die hinter geschlossenen Fensterläden bewundernd zu ihm herspähten. Zuerst war Caramon am Boden zerstört gewesen, weil er nun die Schlacht verpasste, doch dass er einen geschützten Platz für seine verwundeten Kameraden suchen sollte, besänftigte ihn etwas. Tauscher freute sich über seine Aufgabe, denn er glaubte ohnehin nicht, dass er in der bevorstehenden Schlacht viel ausrichten konnte. Er war auf den Tempel gespannt und beglückte die Brüder mit Geschichten von verschollenen und vergessenen Schätzen, die bekanntlich an solchen Orten versteckt lagen. »Und du meinst, dass in den letzten dreihundert Jahren keiner auf die Idee gekommen ist, dort nach Schätzen zu suchen?«, gab Raistlin sarkastisch zu bedenken. Er hatte schlechte Laune. Alles regte ihn auf, vom Wetterumschwung bis hin zu den Begleitern, die man ihm aufgezwungen hatte. Der Wind blies ihm seine Roben um die Beine, bis er beinahe stolperte. Es war ein kalter Wind, der ihn erschauern ließ, und etwas darin reizte seinen Hals und brachte ihn so sehr zum Husten, dass er sich an ein Haus lehnen musste, bis er wieder gehen konnte.
»Wenn es einen Schatz gibt, dann gibt es bestimmt auch einen Wächter dafür«, flüsterte Tauscher begeistert. »Ihr wisst doch, wer alte Tempel bewohnt? Die Untoten! Skelettkrieger! Ghule. Vielleicht sogar der eine oder andere Dämon…« Caramon wurde allmählich unbehaglich zumute. »Raist, vielleicht ist das keine so gute – « »Ich verspreche dir, dass ich mit jedem Ghul fertig werde, den wir dort antreffen, Caramon«, sagte Raistlin mit krächzender Stimme. Hinter sich hörten sie die Trompeten und die Trommeln und das laute Gebrüll der Männer aus der Armee des Barons. »Das ist das Zeichen zum Angriff!«, bemerkte Caramon, der stehen blieb und sich umsah. »Das bedeutet, es gibt noch mehr Verwundete«, meinte Raistlin unter Gewissensbissen. Nachdem ihnen die Wichtigkeit ihres Auftrags wieder bewusst geworden war, liefen die drei schneller. Von Untoten oder Schätzen war nicht mehr die Rede. Sobald sie am Lagerhaus ankamen, folgten sie der Straße, die zu dem Tempel führte, und fanden das Gebäude auch gleich. »Sind wir hier richtig?«, fragte Caramon stirnrunzelnd. »Ganz sicher!« Raistlin begann zu husten. In der Dunkelheit der vergangenen Nacht hatte der Tempel Ehrfurcht erregend und geheimnisvoll gewirkt. Im hellen Tageslicht war er eine Enttäuschung. Die Säulen, die das Dach stützten, wiesen Risse auf. Das Dach selbst hing durch. Die Wände waren fleckig und ausgewaschen, der Hof von Unkraut überwuchert.
Raistlin war erschöpft, hatte Schmerzen von dem Hustenanfall, und ihm war kalt bis ins Mark. Inzwischen bereute er, dass er den Tempel je gesehen und ihn auch noch als Zufluchtsort für die Verwundeten vorgeschlagen hatte. Das Gebäude war viel schäbiger und verfallener, als er gedacht hatte. Als ihm Horkins Bemerkung über das Dach wieder einfiel, bezweifelte Raistlin, ob dieser Ort überhaupt ein Dach hatte. Er konnte sich vorstellen, dass der raue Wind eiskalt durch die Ruine zog. »Es war ein Fehler, hierher zu kommen«, stellte er fest. »Nein, war es nicht, Raist«, beharrte Caramon. »Dieser Ort hat eine gute Ausstrahlung. Ich mag ihn. Wir müssen uns natürlich erst davon überzeugen, dass er sicher ist, und das Umfeld sichern.« Diesen Ausdruck hatte er von Feldwebel Nemiss gehört und auf eine Gelegenheit gewartet, ihn selbst zu verwenden. »Das Umfeld sichern«, wiederholte er genüsslich. »Welches Umfeld? Hier gibt es kein Umfeld!«, gab Raistlin böse zurück. »Hier gibt es nichts als ein verfallenes altes Gebäude und einen überwucherten Hof.« Er war maßlos enttäuscht, obwohl er den Grund nicht begriff. Was hatte er hier zu finden gehofft? Die Götter? »Der Tempel sieht doch recht stabil aus. Anständige Architektur. Ist bestimmt von Zwergen erbaut«, erklärte Caramon mit der ganzen Überzeugungskraft dessen, der überhaupt nichts von der Sache verstand. »Stabil dürfte er schon sein, wenn er all die Jahrhunderte überdauert hat«, fügte der praktisch denkende Tauscher hinzu. »Wir sollten ihn uns zumindest näher ansehen«, drängte Caramon.
Raistlin zögerte. Am Vorabend hatte es so ausgesehen, als ob Solinari ihm den Weg zeigte und seinen Gefolgsmann zu diesem einst heiligen Ort gerufen hatte. Doch das war in der Nacht gewesen, im Mondlicht, zu einer Zeit, wo der Verstand – der tagsüber so unbestechlich arbeitet – den Träumen Raum gibt und dunkle Schatten zu allen möglichen erschreckenden Phantasiegestalten verzerrt. Am Vorabend hatte das Gebäude so schön, so sicher, so gesegnet ausgesehen. Jetzt hatte es etwas Boshaftes an sich. Er hatte das deutliche Gefühl, er sollte umdrehen, rasch verschwinden und nie wieder zurückkommen. »Du kannst hier auf der Straße warten, wo es sicher ist, Raist«, bot Caramon wohlmeinend an. »Tauscher und ich schauen mal hinein.« Raistlin warf seinem Bruder einen Blick zu, der einem jener schwarz gefiederten Pfeile glich. »Habe ich sicher gesagt?« Caramon wurde so rot, als hätte der Pfeil seine Stirn getroffen und eine blutige Wunde verursacht. »Ich meinte warm. Das wollte ich eigentlich sagen, Raist. Ich wollte doch nicht – « »Kommt schon, ihr zwei«, fauchte Raistlin. »Ich gehe voran.« Caramon wollte zu bedenken geben, dass das unüberlegt war, denn da er selbst stärker, größer und besser bewaffnet war, sollte lieber er vorgehen. Beim Anblick der fest zusammengepressten Lippen und glitzernden Augen seines Bruders verkniff sich Caramon diese Bemerkung jedoch lieber und reihte sich einfach hinter Raistlin ein. Der Hof bot keine Deckung. Jeder, der sich im Tempel versteckt hielt, konnte sie sehen und treffen. Beunruhigt stellte Raistlin fest, dass ein Teil des Unkrauts, das durch
das Pflaster gedrungen war, niedergetrampelt und abgerissen war. Hier war jemand gelaufen, und zwar vor nicht allzu langer Zeit. Die abgebrochenen Stängel waren noch grün und die Blätter erst angewelkt. Wortlos deutete Raistlin auf die Beweise dafür, dass sie eventuell nicht allein waren. Caramon legte seine Hand ans Schwert. Tauscher zog sein Messer. Die drei rückten über den Hof vor, sahen sich aber ständig um und lauschten auf das leiseste Geräusch. Sie hörten nur den Wind, der trockenes Laub in die Ecken fegte, und sahen nichts als die Schatten hoher weißer Wolken über die gesprungenen Steinfliesen huschen. Als sie sich den goldenen Türen näherten, begann Raistlin, sich zu entspannen. Sofern jemand hier gewesen war, war er wieder verschwunden. Der Tempel war verlassen, soviel stand fest. Doch an der Treppe zum eigentlichen Tempel bemerkte Raistlin, dass die goldenen Türen, die er für geschlossen gehalten hatte, einen Spalt offen standen, als hätte jemand sie geöffnet, um zu ihnen herauszuspähen. Sobald Caramon das bemerkte, übernahm er kühn die Führung und stellte sich vor seinen Bruder. »Sehen wir uns drinnen um, Raist.« Mit gezogenem Schwert sprang er die Stufen hinauf und drückte sich rücklings an die Wand neben der Tür. Tauscher eilte ihm nach und nahm mit dem Messer in der Hand den Platz auf der anderen Seite der Tür ein. »Ich höre nichts«, flüsterte er. »Ich sehe nichts«, gab Caramon zurück. »Da drin ist es abgrundtief dunkel.« Er streckte die Hand aus, um die Tür aufzuschieben, damit mehr Licht hineindrang. In diesem Augenblick schob
sich die Sonne über die Stadtmauer, und gleichzeitig mit Caramons Fingern berührte ein Sonnenstrahl die Türen, sodass es so aussah, als wäre seine Berührung die der Sonne. Er brachte das Gold zum Strahlen. In diesem Moment sah Raistlin den Tempel nicht so, wie er war, sondern wie er einst gewesen war. Ehrfürchtig und gebannt staunte er ihn an. Die Risse im Marmor verschwanden. Das Licht ließ die Patina aus Schmutz verschwinden. Die Tempelmauern leuchteten weiß. Das Fries auf dem Portico, das wütende Menschen zerstört hatten, war wieder sichtbar. In diesem Fries war eine Botschaft enthalten, eine Antwort, eine Lösung. Raistlin starrte es an. In wenigen Sekunden würde er es begriffen haben und dann würde er verstehen… Die Welt drehte sich weiter und die schimmernden Sonnenstrahlen wurden von einem Wachturm auf der Mauer abgehalten. Der Schatten des Turms legte sich über die goldenen Türen. Die Vision verschwand; der Tempel war wie zuvor – schäbig, verfallen, vergessen. Raistlin starrte hartnäckig auf das zerbrochene Fries und versuchte, die Überreste seiner Vision an die fehlenden Stellen zu setzen, doch er konnte sich nicht daran erinnern – wie ein Traum, den man beim Aufwachen vergisst. »Ich gehe rein«, kündigte Caramon an. Er steckte sein Schwert in die Scheide. »Unbewaffnet?«, fragte Tauscher verblüfft. »Es gehört sich nicht, in diesen Tempel eine Waffe mitzunehmen«, erwiderte Caramon mit feierlicher Stimme. »Es ist nicht…« Er suchte nach dem passenden Wort. »Respektvoll.« »Aber da drin ist niemand mehr, der zu respektieren wä-
re!«, wandte Tauscher ein. »Caramon hat Recht«, bestätigte Raistlin zum großen Erstaunen seines Bruders. »Hier brauchen wir keine Waffen. Steck das Schwert weg.« »›Verrückt wie ein Kender‹, heißt es«, murmelte Tauscher in sich hinein. »Ha! Kender sind gar nichts gegen diese beiden!« Da er jedoch nicht den Wunsch hatte, mit dem Zauberer zu streiten, schob Tauscher das Messer wieder in seinen Gürtel (behielt aber die Hand am Griff) und begleitete die Brüder hinein. Im Gegensatz zu der Helligkeit des Sonnenlichts, das von den goldenen Türen zurückgeworfen worden war, war es im Inneren des Tempels so dunkel, dass sie anfangs überhaupt nichts sehen konnten. Doch als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, begann diese zu weichen. Das Innere des Tempels wirkte heller als der helllichte Tag draußen. Alle Angst verflog. An diesem Ort konnte ihnen nichts geschehen. Raistlin fühlte, dass die Enge in seiner Brust nachließ. Er konnte tiefer und leichter atmen. Solinari hielt sein Versprechen, und Raistlin war nicht wenig beschämt, dass er daran gezweifelt hatte. Hier konnte man die Verwundeten gut unterbringen. Die Luft war so rein und das Licht so sanft, dass es etwas Heilendes an sich hatte, davon war er überzeugt. Hier war der Segen der alten Götter bewahrt, obwohl die Götter selbst längst verschwunden waren. »Das war wirklich eine gute Idee von dir, Raistlin«, lobte Caramon. »Danke, mein Bruder«, erwiderte Raistlin, um nach kur-
zer Pause hinzuzufügen: »Tut mir Leid, dass ich da draußen wütend auf dich war. Ich weiß, dass du es nicht so gemeint hast.« Caramon staunte seinen Bruder mit großen Augen an. Noch nie hatte der sich bei jemandem für irgendetwas entschuldigt. Er wollte gerade etwas sagen, als Tauscher ihm bedeutete, still zu sein. Tauscher zeigte auf eine Tür, eine silberne Tür. »Ich glaube, ich habe etwas gehört!«, wisperte er. »Hinter dieser Tür!« »Mäuse«, meinte Caramon, legte eine Hand an die Tür und drückte dagegen. Die Tür schwang geräuschlos auf. Durch die Öffnung drang Angst herein, eine schwarze, abscheuliche Flut der Angst, die so fassbar war, dass Caramon merkte, wie sie ihn überschwemmte und zu ertränken versuchte. Er taumelte zurück und hob die Hände, als würde er in stürmischen Wellen untergehen. Raistlin wollte etwas rufen und seinen Bruder dazu bringen, die Tür zu schließen, doch die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Wie eine dunkle, vernichtende Woge brach die Angst in den Tempel ein, unterdrückte den Kenderanteil in Tauscher und machte ihn zu einer Beute menschlichen Schreckens. »Ich… so habe ich mich noch nie gefühlt!« Wimmernd wich er an die Wand zurück. »Was ist hier los? Ich verstehe das nicht!« Auch Raistlin verstand überhaupt nichts mehr. Er kannte die Angst. Jeder, der die gefährliche Prüfung im Turm der Erzmagier abgelegt hatte, kannte die Angst. Er kannte die Angst vor Schmerzen, die Todesangst, die Versagensangst.
Doch eine solche Angst hatte er noch nie gehabt. Es war eine Angst, die von weit her stammte, eine Angst aus ferner Vergangenheit, eine Angst der ersten Menschen, die in dieser Welt umhergelaufen waren. Eine ganz ursprüngliche Angst, die einen zum Himmel aufblicken ließ, wo die feurigen Sterne sich drehten, die Angst, dass die Sonne wie ein heller, schrecklicher Feuerball auf sie herniederstürzen könnte. Es war die Angst vor der undurchdringlichen Finsternis, in der weder Sterne noch Monde zu sehen waren, das nasse Holz sich nicht entzünden ließ und aus der Wildnis hungriges Knurren und Fauchen zu hören war. Raistlin wollte fliehen, doch die Angst machte seine Knochen kraftlos und nachgiebig wie die eines neugeborenen Kindes. Sein Gehirn sandte feurige Blitze in seine Muskeln. Seine Gliedmaßen zitterten und zuckten, so gern wollten sie reagieren. Er umklammerte seinen Stab und stellte erstaunt fest, dass der Kristall auf dem Stab – der Kristall, der von einer Drachenklaue gehalten wurde – in einem eigenartigen Licht erstrahlte. Raistlin hatte den Stab bereits leuchten sehen. Er brauchte nur »Shirak« zu sagen, dann erhellte der Kristall die Dunkelheit. Doch so hatte er ihn noch nie leuchten sehen, ein Licht, das wütend aufflackerte, an den Rändern rot und im Herzen weiß wie die Flammen des Schmiedefeuers. Auf der Schwelle erschien ein Ritter in silberner Prunkrüstung. Auf seinem Waffenrock prangte das Symbol einer Rose. In der Hand hielt er sein Schwert. Er zog den Helm vom Kopf, und seine Augen blickten Raistlin direkt ins Herz und bis in seine Seele. »Magus«, sagte der Ritter, »ich brauche deine Hilfe, um
jene zu retten, die nicht aus dieser Welt verschwinden dürfen.« »Ich bin nicht Magus«, antwortete Raistlin, den das edle Auftreten des Ritters zwang, die Wahrheit zu sagen. »Du trägst seinen Stab«, stellte der Ritter fest. »Den sagenhaften Stab des Magus.« »Ein Geschenk«, sagte Raistlin und senkte den Kopf. Doch immer noch spürte er, wie die Augen des Ritters in die Tiefen seines Wesens eindrangen. »Ein wahrlich wertvolles Geschenk«, bemerkte der Ritter. »Bist du seiner würdig?« »Ich… weiß es nicht«, erwiderte Raistlin verwirrt. »Eine ehrliche Antwort«, sagte der Ritter und lächelte. »Finde es heraus. Hilf mir bei meiner Aufgabe.« »Ich habe Angst!«, japste Raistlin, der mit ausgestreckter Hand den Schrecken abzuwenden suchte. »Ich kann weder dir noch sonst jemandem helfen!« »Überwinde deine Angst«, forderte der Ritter ihn auf. »Sonst begleitet sie dich dein Leben lang.« Das Licht des Kristalls loderte gleißend hell. Die schmerzhafte Helligkeit zwang Raistlin, die Augen zu schließen, um nicht zu erblinden. Als er sie wieder aufmachte, war der Ritter verschwunden, als wäre er nie da gewesen. Die Silbertür stand offen, und dahinter wartete der Tod. Du hattest Mut genug, die Prüfung zu bestehen, sagte eine innere Stimme. »Mut genug, um meinen eigenen Bruder zu töten!«, antwortete Raistlin. Par-Salian, Antimodes und all die anderen mochten Raistlin verachten, aber ihre Verachtung konnte nie so groß
sein wie die, mit der er sich selber strafte. Ständig nagten bittere Selbstvorwürfe an ihm. Selbsthass war sein unablässiger Begleiter. »Mut genug, Caramon zu töten, als er kam, um mich zu retten, ihn zu töten, als er hilflos und unbewaffnet vor mir stand, entwaffnet durch seine Liebe zu mir. Das ist meine Art Mut«, murmelte Raistlin. Sonst begleitet dich die Angst dein Leben lang. »Nein«, beschloss Raistlin. »Das wird sie nicht.« Ohne über sein Handeln noch einmal nachzudenken, erhob er den Stab des Magus, hielt sein strahlendes Licht über sich und trat durch die Silbertür in die Finsternis.
18. Kapitel Solche Angst hatte Caramon noch nie gehabt. Nicht während jenes schrecklichen, hoffnungslosen Angriffs auf die Stadt, nicht als die Pfeile in seinem Schild stecken blieben, nicht als die Felsen seine Kameraden zerschmettert und aus lebendigen Männern blutigen Brei und Knochensplitter gemacht hatten. Damals hatte ihm seine Angst den Magen umgedreht, doch sie hatte ihn nicht gelähmt. Ausbildung und Disziplin hatten ihm geholfen. Diese Angst hier war anders. Sie schlug ihm nicht auf den Magen, sie verwandelte den Magen in Wasser. Sie spornte den Körper nicht zum Handeln an, sondern wrang ihn aus, bis er schlaff wie ein Putzlappen war. Caramon wurde nur von einem Gedanken beherrscht, nämlich so schnell wie möglich von diesem Ort zu verschwinden, fort von dem unbekannten Bösen, das wie eine kalte, Ekel erregende Welle aus der Silbertür flutete. Er wusste nicht, was dort unten war, und er wollte es auch gar nicht wissen. Was es auch war, Sterbliche sollten ihm möglichst nicht begegnen. Mit einem Entsetzen, das ihm den Atem verschlug, sah Caramon seinen Bruder diese furchtbare Schwelle überqueren. »Raist! Nicht!«, schrie er, doch sein Schrei war ein jammervolles Wimmern wie das eines erschrockenen Kindes. Falls Raistlin ihn hörte, drehte er sich nicht um. Caramon fragte sich, welche dunkle Macht von seinem Bruder Besitz ergriffen hatte und ihn dazu brachte, diesen Ort des sicheren Todes zu betreten. Caramon hörte eine schwache, ferne Stimme um Hilfe rufen. Ein Ritter in seiner
Rüstung stand in der Tür. Da der Ritter ihn an seinen Freund Sturm erinnerte, wäre Caramon gern mit ihm gegangen, wäre diese seltsame, lähmende Angst nicht gewesen, die ihn in heller Panik auf dem Boden des Tempels hatte zusammensinken lassen. Doch das änderte sich, als Raistlin die Dunkelheit betrat. Caramon hatte keine Wahl, er musste ihm nach. Die Sorge um das Leben seines Bruders war wie ein Feuer in seinen Gedanken und seinem Blut, das die grauenhafte, namenlose Angst verzehrte. Mit gezücktem Schwert folgte er seinem Bruder eilig in den Gang hinter der Silbertür. Tauscher starrte ihm ungläubig nach. Sein Freund, sein bester Freund und dessen Zwillingsbruder waren gerade in den Tod gezogen. »Dummköpfe!«, schimpfte Tauscher. »Ihr seid beide irre!« Seine Zähne klapperten so, dass er kaum sprechen konnte. Sein eigener Schrecken drückte ihn flach an die Wand. Er versuchte, einen Schritt in Richtung dieses dunklen Eingangs zu machen, doch seine Füße gehorchten dem – zugegebenermaßen zögerlichen – Befehl nicht. Wo war denn bloß seine Kenderseite, jetzt, da er sie brauchte! Sein Leben lang hatte er gegen diesen Erbteil angekämpft – hatte sich auf die Finger geschlagen, wenn es sie juckte, etwas zu berühren, zu untersuchen oder einzustecken. Er hatte gegen die Wanderlust angekämpft, die ihn dazu verlocken wollte, seine ehrliche Arbeit liegen zu lassen und eine fremde Straße entlang zu springen. Jetzt, da die Furchtlosigkeit seiner Kendermutter – eine Furchtlosigkeit, die nichts mit Mut, sondern ausschließlich mit Neugier zu tun hatte – ihm geholfen hätte, suchte er danach
und fand sie nicht. Seine Mutter hätte gesagt, das geschähe ihm ganz recht. Tauscher war nicht mehr im Tempel. Er war ein kleines Kind, das mit seiner Mutter vor einer Höhle stand, auf die sie während einer ihrer vielen Streifzüge gestoßen waren. »Willst du denn gar nicht wissen, was da drin ist?«, fragte sie ihn. »Bist du gar nicht neugierig? Vielleicht gibt es da drin einen Drachenschatz. Vielleicht einen Schwarzmagier bei der Arbeit. Vielleicht eine Prinzessin, die jemand retten muss. Willst du das nicht herausfinden?« »Nein«, jammerte Tauscher. »Ich will da nicht rein! Es ist dunkel und grässlich, und es stinkt!« »Du bist nicht mein Kind«, sagte seine Mutter – nicht ärgerlich, sondern liebevoll. Sie tätschelte ihm den Kopf, ging in die Höhle und kam ungefähr drei Minuten später wieder herausgerannt, dicht gefolgt von einem riesigen Grottenschrat. Tauscher erinnerte sich an diesen Augenblick und an den Grottenschrat – den ersten, den er je gesehen hatte, und den letzten, den er je zu sehen hoffte. Er erinnerte sich, wie seine Mutter mit vor Anstrengung rotem Gesicht, aber breitem Grinsen aus der Höhle gehetzt war, umflattert von ihren Kleidern und den offenen Beuteln, deren Inhalt durch die Gegend flog. Sie hatte Tauscher an der Hand mitgerissen und dann waren sie um ihr Leben gelaufen. Zum Glück hatte der Grottenschrat eine schlechte Kondition gehabt und die Verfolgung bald aufgegeben. Aber in diesem Augenblick hatte Tauscher beschlossen, dass seine Mutter Recht hatte. Er war nicht ihr Kind und wollte das auch gar nicht sein. »Ich weiß, was ich mache«, sagte sich Tauscher. »Ich ge-
he zur Armee zurück und hole Verstärkung!« In diesem Augenblick langte eine große Hand aus der Silbertür, griff nach Tauschers Schulter und zog ihn abrupt hinein. »Zum Donnerwetter, Caramon, d-du hast mich halb zu T-tode erschreckt. Was sollte das?«, fauchte Tauscher, sobald sein Herz wieder schlug. »Ich brauche deine Hilfe, um Raist zu finden«, erklärte Caramon grimmig. »Du wolltest davonlaufen.« »Ich w-wollte H-hilfe holen!«, wich Tauscher zähneklappernd aus. »Wieso hast du überhaupt Angst?« Caramon musterte den zitternden Tauscher irritiert. »Was bist du eigentlich für ein komischer Kender?« »Halbkender«, gab Tauscher zurück. »Die klügere Hälfte.« Da er nun einmal hier war, musste er wohl das Beste daraus machen. Er hatte ohnehin zu viel Angst, um allein zurückzulaufen. »Bist du einverstanden, wenn ich jetzt mein Schwert ziehe? Oder wäre das respektlos dem gegenüber, was hier unten lauert, das uns umbringen und in Stücke hacken und uns die Seele aussaugen will?« »Ich halte es für klug, jetzt dein Schwert zu ziehen«, erwiderte Caramon gemessen. Sie befanden sich in einem Tunnel, der in den Fels getrieben worden war. Die Tunnelwände waren glatt und bildeten über ihnen einen Bogen. Der Boden fiel leicht ab. Nachdem sie den Tunnel betreten hatten, wirkte er nicht so dunkel wie von draußen her. Das Sonnenlicht, das von der Silbertür reflektiert wurde, beleuchtete ihren Weg noch ein
ganzes Stück, viel weiter, als sie es für möglich gehalten hätten. Doch von Raistlin fehlte jede Spur. Sie liefen weiter. Der Tunnel machte eine scharfe Biegung. Als sie um diese Ecke bogen, sahen sie vor sich ein strahlendes Licht, glänzend wie ein Stern. »Raist!«, rief Caramon leise. Das Licht flackerte und blieb stehen. Raistlin drehte sich um, sodass sie sein Gesicht sehen konnten, dessen Haut im Licht des Stabes einen goldenen Schimmer hatte. Er winkte. Caramon eilte vor, Tauscher hinter ihm her – dicht hinter ihm her. Raistlins Hand schloss sich um den Arm seines Bruders und hielt ihn voller Wärme fest. »Ich bin froh, dass du hier bist, mein Bruder«, sagte er ernsthaft. »Hm, ich bin nicht so froh darüber!«, meinte Caramon mit gedämpfter Stimme. Nervös blickte er nach links, nach rechts, nach vorne und nach hinten. »Dieser Ort gefällt mir nicht, und ich finde, wir sollten verschwinden. Hier unten ist etwas, was uns nicht hier haben will. Weißt du noch, was Tauscher über Ghule sagte? Ich sage dir, Raist, in meinem ganzen Leben habe ich mich noch nicht so gefürchtet. Ich bin nur gekommen, um dich und den Ritter zu suchen.« »Welchen Ritter?«, wollte Tauscher wissen. »Also hast du ihn auch gesehen«, murmelte Raistlin. »Welchen Ritter?«, beharrte Tauscher. Raistlin antwortete nicht gleich. Als er doch etwas sagte, forderte er sie nur auf: »Kommt mit, alle beide. Es gibt da etwas, das ich euch zeigen möchte.« »Raist, ich glaube nicht – «, setzte Caramon an. Der Berg erzitterte. Der Tunnel wurde erschüttert und der Boden bebte.
Die drei wichen an die Tunnelwände zurück. Sie waren so überrascht, dass sie nicht einmal allzu sehr erschraken. Gesteinsstaub rieselte auf ihre Köpfe herab, doch bevor ihnen die Erkenntnis kam, dass sie womöglich unter dem Berg begraben werden würden, hörte das Beben auf. »Das reicht«, beschloss Caramon. »Wir verschwinden von hier.« »Ein leichtes Beben. Kommt in diesen Bergen, glaube ich, öfter vor. Hat der Ritter etwas zu dir gesagt?« »Er sagte, er bräuchte Hilfe. Hör mal, Raist, ich – « Caramon hielt inne und betrachtete seinen Bruder besorgt. »Alles in Ordnung?« Raistlin würgte an dem Gesteinsstaub, der ihm in die Kehle gedrungen war. Er schüttelte über Caramons absurde Frage nur den Kopf. »Nein, nichts ist in Ordnung«, japste er, als er wieder sprechen konnte. »Aber es geht gleich wieder.« »Gehen wir«, sagte Caramon. »Du solltest nicht hier unten sein. Der Staub ist nicht gut für dich.« »Für mich ist er auch nicht gut«, meinte Tauscher. Beide blieben stehen und warteten auf Raistlin. Als dieser wieder atmen konnte, blickte er in die Richtung der silbernen Tür zurück, dann aber nach vorne. »Macht, was ihr wollt. Aber ich gehe weiter. Wir können keine Verwundeten in den Tempel bringen, solange wir nicht wissen, ob er absolut sicher ist. Außerdem möchte ich wirklich gern wissen, was vor uns liegt.« »Vermutlich die letzten Worte meiner armen Mutter«, murmelte Tauscher düster. Caramon schüttelte den Kopf, folgte jedoch seinem Zwillingsbruder. Tauscher wartete, weil er immer noch dachte,
er könnte den Magier beim Wort nehmen und davonlaufen. Er wartete, bis das tröstliche Licht vom Stab des Magus beinahe verschwunden war. Erst als die Dunkelheit sich um ihn schließen wollte, rannte er dem Licht nach. Die glatten Tunnelwände wichen natürlichem Fels. Der Weg wurde uneben und schwerer begehbar. Er wand sich zwischen den Stalagmiten hindurch und führte sie von einer Höhle in die andere, immer tiefer und tiefer in den Berg hinunter. Und dann endete er plötzlich mit einer Sackgasse. Eine Felswand versperrte ihnen den Weg. »Alles umsonst«, sagte Caramon. »Na, wenigstens wissen wir, dass es sicher ist. Kehren wir um.« Raistlin beleuchtete die Wand und entdeckte bald die Nische mit dem Tor aus Gold und Silber. Er blickte in den kleinen, runden Raum hinter dem Tor. Caramon spähte über seine Schulter. Bis auf einen Sarkophag genau in der Mitte des Raumes war die ovale Höhle leer. »Raist, das ist eine Gruft«, stellte Caramon unsicher fest. »Überaus klug beobachtet, Caramon«, gab Raistlin zurück. Ohne auf die Bitten seines Bruders zu achten, stieß er das Tor auf. Als er die Höhle betrat, strahlte der Stab des Magus ein silbernes Licht aus. Raistlin hob den Stab an, damit das Licht auf den Sarkophag fallen und die Steinfigur beleuchten konnte, die auf dessen Deckel abgebildet war. Raistlin starrte sie schweigend an. »Sieh dir das an, mein Bruder«, sagte er schließlich mit leiser, ehrfürchtiger Stimme. »Was siehst du?« »Eine Gruft«, wiederholte Caramon nervös. Er blieb im Torbogen stehen, wo sein breiter Körper Tau-
scher den Weg versperrte, der jedoch nicht die Absicht hatte, allein im Tunnel zurückzubleiben. Er schob sich an dem Hünen vorbei und zwängte sich hinein. »Sieh dir den Sarg an, Caramon«, beharrte Raistlin. »Was siehst du?« »Einen Ritter vermutlich. Schwer zu sagen. Ist so staubig hier.« Caramon wendete den Blick ab. Er hatte gerade bemerkt, dass der Deckel des Sarkophags offen stand. »Raist, wir sollten nicht hier sein! Das ist nicht recht!« Raistlin achtete nicht auf seinen Bruder, sondern näherte sich dem Sarkophag und blinzelte hinein. Er verharrte, starrte und zog sich ein wenig zurück. »Wusste ich’s doch!« Caramon umklammerte sein Schwert so fest, dass ihm die Hand wehtat. Raistlin winkte ihn herbei. »Komm her, mein Bruder. Das solltest du dir ansehen.« »Nein, sollte ich nicht«, lehnte Caramon kopfschüttelnd ab. »Ich sagte, komm und sieh dir das an, Caramon!« Raistlins Stimme klang rau. Mit deutlichem Widerwillen schob Caramon sich nach vorne. Tauscher begleitete ihn. Mit der einen Hand hielt er sich an seinem Schwert fest, mit der anderen an Caramons Gürtelschlaufe. Caramon riskierte einen flüchtigen Blick in den Sarg, schaute aber schnell wieder weg, ehe er etwas Schreckliches erkennen konnte, zum Beispiel ein schimmeliges Skelett, dem Fleischfetzen von den Knochen baumelten. Da ihn das, was er sah, überraschte, warf er einen zweiten Blick darauf. »Der Ritter!«, hauchte Caramon. »Der Ritter, der mich
gerufen hat!« In dem Sarg lag ein Leichnam, ein Leichnam in alter Rüstung, die im Licht des Stabs leuchtete, einem sanften Licht, das liebevoll über den Ritter fiel. Der Ritter trug einen Helm, wie er vor der Umwälzung beliebt gewesen war. Über der Rüstung lag ein Waffenrock, dessen Stoff alt und vergilbt war. Auch die aufgestickte Satinrose, die ihn schmückte, war alt und verblichen. Mit beiden Händen umfasste der Ritter einen Schwertknauf. Sein Körper war von Rosenblättern umgeben, die auch über dem Waffenrock und dem glänzenden Schwert verteilt waren. Süßer Rosenduft hing in der Luft. »Ich dachte, ich hätte die Figur auf dem Sarg wiedererkannt«, überlegte Raistlin. »Die Rüstung, den Rock, den Helm – genau wie das, was der Ritter trug, der uns um Hilfe gebeten hat. Ein Ritter, der wohl schon Jahrhunderte tot ist!« »Sag doch so etwas nicht«, flehte Tauscher mit piepsiger Stimme. »Es ist hier sowieso schon unheimlich genug! Wäre das nicht ein guter Zeitpunkt zum Gehen?« Als Caramon den Ritter in seinem Sarg liegen sah, wurde er wieder an seinen Freund Sturm erinnert. Es war keine schöne Erinnerung. Caramon hoffte nur, es wäre kein böses Omen. Er begann, den Staub wegzuwischen, der die reglose Steinfigur auf dem Deckel überzog. Raistlin starrte nur den Ritter an, der so ruhig und friedlich dalag, dass der junge Magier, dessen Lungen ewig brannten und dessen Ehrgeiz noch viel heller loderte, ihn einen Moment lang beneidete. »Sieh dir das an, Raist!«, staunte Caramon. »Da ist eine
Inschrift.« Beim Abwischen des Staubs hatte er eine kleine Plakette aus Bronze entdeckt, die über dem Herzen des Ritters in den Stein eingelassen war. »Das kann ich nicht lesen«, stellte Caramon fest, während er den Hals verrenkte, um sie richtig zu sehen. »Es ist Solamnisch«, sagte Raistlin, der die Sprache, mit der er seit Monaten kämpfte, seit er das Buch über den Stab des Magus erhalten hatte, sofort erkannte. »Es heißt – « Er wischte noch mehr Staub ab und las dann laut vor. »Hier liegt einer, der starb, als er den Tempel des Paladin und seine Diener gegen die Ungläubigen und Verlorenen verteidigte. Auf Geheiß des Ritters erfüllen wir ihm seinen letzten Wunsch und begraben ihn in dieser Höhle, damit er weiterhin über den kostbaren Schatz wachen kann, dessen Schutz unsere Pflicht und unser Vorrecht ist. Paladin gewähre ihm Ruhe, wenn seine Pflicht erfüllt ist.« Alle drei sahen einander an. Alle drei wiederholten dasselbe Wort zur selben Zeit. »Schatz!« Caramon sah sich in dem Raum um, als würde er Kisten voller Münzen und Geschmeide erwarten. »Tauscher hatte Recht! Steht da auch, wo der Schatz ist, Raist?« Raistlin fegte noch mehr Staub beiseite, doch es gab nichts mehr zu lesen. »Komisch, aber ich habe kein bisschen Angst mehr«, verkündete Tauscher. »Ich hätte nichts gegen eine kleine Entdeckungsrunde.« »Es kann nichts schaden, wenn wir uns mal umsehen«, pflichtete Caramon bei, der sich bückte, um unter den Sarg zu blinzeln. Zu seiner Enttäuschung stand dieser fest auf
dem Boden der Höhle. »Was meinst du, Raist?« Raistlin war in großer Versuchung. Die fremdartige, unerklärliche Angst, die er gespürt hatte, war verflogen. Er war für die Verwundeten verantwortlich, doch wie er bereits gesagt hatte, er war auch dafür verantwortlich, sich davon zu überzeugen, dass der Tempel ein sicherer Ort war. Wenn er dabei zufällig auf eine Schatztruhe stieß, konnte ihm das niemand ankreiden. »Was würdest du tun, wenn du einen Schatz fändest, Caramon?«, fragte Tauscher. »Ich würde ein Wirtshaus kaufen«, antwortete Caramon. »Da wärst du selbst dein bester Gast«, lachte Tauscher. Ich würde nur Gutes tun, wenn ein Schatz in meinen Besitz käme, dachte Raistlin. Ich würde nach Palanthas ziehen und das größte Haus in der Stadt kaufen. Ich hätte Dienstboten, die mich versorgen und in meinem Laboratorium arbeiten würden, dem besten und größten, das es für Geld zu kaufen gibt. Ich würde jedes Zauberbuch aus jedem Zauberladen von hier bis ins Nördliche Ergod kaufen. Ich würde eine Bibliothek anlegen, die der im Turm der Erzmagier in nichts nachstehen würde. Ich würde magische Gegenstände und Schmuckstücke und Stäbe und Tränke und Spruchrollen kaufen. Er sah sich selbst – reich, mächtig, beliebt und gefürchtet. Er sah sich sehr deutlich: Düster und unheilvoll stand er in einem Turm und war von Tod umgeben. Er trug schwarze Roben und um den Hals einen Anhänger aus grünem Stein mit blutroten Streifen… »Seht mal, was ich gefunden habe!«, rief Tauscher aufgeregt aus. »Noch ein Tor!« Raistlin hörte kaum hin. Das Bild seiner selbst löste sich
nur langsam auf. Als es schließlich verblasste, hinterließ es ein beunruhigendes Gefühl. Tauscher stand an einem schmiedeeisernen Gitter, drückte sein Gesicht an die Stäbe und starrte in die Dunkelheit, die dahinter lag. »Hier geht es in einen weiteren Tunnel«, berichtete er. »Vielleicht ist das der Tunnel, der zu dem Schatz führt!« »Wir haben ihn gefunden, Raist!«, rief Caramon überschwänglich, während er sich hinter Tauscher stellte, um über dessen Kopf zu blicken. »Ich weiß, dass wir ihn gefunden haben! Bring dein Licht hierher!« »Es kann wohl nicht schaden, einmal nachzusehen«, willigte Raistlin ein. »Geht dort weg. Macht Platz, damit ich sehen kann, was ich tue. Fass das Tor nicht an, Caramon! Es könnte eine magische Falle enthalten. Lass mich erst nachsehen.« Gehorsam traten Caramon und Tauscher zurück. Raistlin näherte sich dem Tor. Er spürte eine immense magische Macht, doch die ging nicht von dem Tor aus. Die Macht lag dahinter. Magische Gegenstände vielleicht. Jahrhundertealte Gegenstände aus der Zeit vor der Umwälzung. Die ganze Zeit hatten sie unberührt dort gewartet und gewartet… Er drehte den Türknauf. Quietschend öffnete sich das eiserne Tor. Raistlin machte einen Schritt in die dahinter liegende Finsternis, doch eine schattenhafte Gestalt versperrte ihm den Weg. »Shirak.« Er erhob den Stab, um zu sehen, was dort war. Das weiße Licht des Stabs wurde von den rot glühenden Augen von Immolatus zurückgeworfen.
19. Kapitel Die Augen des Zauberers leuchteten rot, genährt vom Feuer des Hasses und der Enttäuschung, das noch in seinem Bauch loderte und keinen Ausgang aus diesem verfluchten Körper fand. Die Hitze der Flammen strahlte von seinem Fleisch aus. Die Wunde in der Seite hatte ihn eine beträchtliche Menge Blut verlieren lassen. Jeder Atemzug war eine Qual und er hatte hämmernde Kopfschmerzen. Diese Schwächen, mit denen sein armseliger menschlicher Körper geschlagen war, würden verschwinden, sobald er wieder seine prachtvolle, starke und mächtige Drachengestalt annahm. Sobald er aus diesem verfluchten Gebäude heraus war. Das würden sie ihm bezahlen, sie alle… Als ihm der Weg versperrt war, sah Immolatus auf und blickte auf ein helles Licht, das seine schmerzenden Augen wie eine stählerne Lanze durchbohrte. Wütend starrte er das Licht an und fand seine Quelle. »Der Stab des Magus!«, rief Immolatus mit zähneknirschendem Hohn. »Also habe ich doch noch etwas von dieser Schlappe.« Und der Drache streckte die Hand aus, zog Raistlin den Stab weg und versetzte ihm mit der anderen Hand einen Schlag, der den jungen Magier rückwärts auf den Steinboden fallen ließ. Kitiara war Immolatus durch die Gänge der Höhle gefolgt. Als er an der Tür zur Grabkammer stehen blieb, schlich Kitiara mit gezücktem Schwert weiter, denn sie wollte den Zauberer in der Grabkammer angreifen, wo sie Raum genug hatte. Doch Immolatus blieb unerwartet stehen, bevor er durch
das Tor trat, und rief etwas von einem Stab. Er klang hoch erfreut, als wäre er gerade über einen lange vermissten Gefährten gestolpert. Da sie fürchtete, der Drache hätte wirklich einen Freund getroffen und könnte ihr doch noch entkommen, blinzelte Kitiara über Immolatus’ Schulter, um nachzusehen, welcher neue Gegner vor ihr stehen könnte. Caramon! Kitiara war so verblüfft, dass sie anfangs ihren Augen nicht traute. Caramon war im sicheren Solace; warum sollte er die Höhlen von Hoffnungsende durchstreifen? Doch die breiten Schultern, die schweren Pranken, die Locken und der verständnislose Ausdruck fassungslosen Erstaunens waren unverkennbar. Caramon! Hier! Sie war so überrascht, dass sie kaum auf seine Begleiter achtete – einen Zauberer in roten Roben und einen jungen Mann, der wie ein Kender aussah. Kit schenkte ihnen wenig Beachtung. Der Anblick ihres Bruders in der Rüstung des Barons – immerhin eines Feindes – verwirrte sie so sehr, dass sie ihr Schwert sinken ließ und sich sicherheitshalber ein Stück zurückzog, um zu überlegen, wie sie mit dieser bizarren Situation umgehen sollte. Ein Gedanke stand jedoch im Vordergrund: Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Familie wieder zu vereinen.Der Schlag des Zauberers traf Raistlin quer vor die Brust. Raistlin war über Immolatus’ plötzliches Auftauchen aus der Finsternis so überrascht gewesen, dass er sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. So fiel er wie vom Blitz getroffen und schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Schädel und er rang keuchend nach Luft. Fast wäre er ohnmächtig geworden.
Als er benommen aufsah, nahm er wahr, wie Immolatus den Stab des Magus hielt und sich diebisch über seine Beute freute. Raistlins wertvollster Besitz, sein kostbarster Schatz, das Symbol seines Triumphes über Krankheit und Leiden, seine Belohnung für lange, quälende Stunden des Studiums, sein Sieg über sich selbst – das war der Schatz, den Immolatus ihm abgenommen hatte. Der Verlust des Stabs überwog den Schmerz, die Verblüffung und jede Angst um sein Leben, jeden Wert, den er diesem Leben zumaß. Fauchend vor Wut sprang Raistlin auf, ohne auf den Schmerz und die bunten Sterne zu achten, die ihm vor die Augen traten und ihn nahezu blind machten. Er griff Immolatus mit einem Mut, einer Kraft und einer Wildheit an, die seinen Bruder zum Staunen brachte, obwohl dieser noch über den Anblick der fremden Roten Robe staunte, die so plötzlich vor ihnen aufgetaucht war. Raistlin kämpfte nicht allein in seiner verzweifelten Schlacht. Der Stab des Magus half ihm. Er war von einem Erzmagier von gewaltiger Macht zu einem Zweck geschaffen worden – im Kampf gegen Königin Takhisis zu helfen – und hatte während des letzten Drachenkriegs zusammen mit seinem Meister gegen ihre bösartigen Geschöpfe gekämpft. Der Stab hatte nie erfahren, wie sein Meister gestorben war. Er hatte erst gewusst, dass Magus tot war, als man ihn beim Begräbnis zu seinem Herrn auf den Scheiterhaufen legte. Der Name der Weißen Robe, die den Stab rettete, war nirgendwo verzeichnet. Manche behaupteten, es sei Solinari selbst gewesen, der vom Himmel herabgestiegen war, um den Stab aus den Flammen zu nehmen. Jedenfalls war
es jemand gewesen, der vorausschauend und weise genug war, um zu wissen, dass die Königin zwar vorläufig besiegt war, die Schwingen der Finsternis Krynns Sonne jedoch eines Tages wieder verdunkeln würden. Der Stab des Magus durchschaute Immolatus’ Verkleidung. Er wusste, dass ein Drache Hand an ihn gelegt hatte, ein roter Drache, ein Untertan der Königin der Finsternis. Der Stab ließ seinem Zorn freien Lauf, einem Zorn, der über Jahrhunderte geschlafen hatte. Er wartete, bis Immolatus ihn fest in der Hand hielt, und ließ dann seine Magie los. Aus dem Stab brach eine grellweiße Explosion. Ein Knall erschütterte die Grabkammer. Caramon starrte direkt auf den Stab, als dessen Zorn aufflammte. Das Licht versengte seine Augen. Vor Schmerz fiel er nach hinten und schlug die Hände vors Gesicht. Ein schwarzes Loch mit purpurroten Flammen am Rand versperrte ihm den Blick und machte ihn blind wie ein Kind im Mutterleib. Warmes Blut spritzte über Gesicht und Hände. Er hörte einen schrecklichen, lauter werdenden Schrei. »Raist!«, rief er erschüttert, während er sich verzweifelt darum bemühte, etwas zu sehen. »Raist!« Tauscher wurde von der Explosion auf den Boden geworfen, wo er wie betäubt liegen blieb, an die Decke starrte und sich fragte, wie so tief unter der Erde der Blitz einschlagen konnte. Raistlin hatte die Wut des Stabs gespürt und erkannte, dass er seinen magischen Zorn loslassen würde. Deshalb hatte er die Augen abgewendet und den Arm hochgerissen, um sein Gesicht zu schützen. Die Wucht der Explosion ließ ihn bis zu dem Sarg zurücktaumeln, wo es ihm vorkam, als
würde eine starke Hand ihn stützen und vor dem Fall bewahren. Raistlin glaubte, der tröstliche Halt käme von seinem Bruder. Erst später wurde Raistlin klar, dass Caramon zu diesem Zeitpunkt blind und hilflos auf der anderen Seite der Grabkammer gewesen war. Immolatus schrie auf. Ein Schmerz, den er erst einmal erlebt hatte – der Schmerz, den die magische Drachenlanze ihm zufügen konnte, lief seinen Arm hoch und breitete sich wie eine lodernde Flamme in seinem Körper aus. Der Drache ließ den Stab fallen. Er hatte keine Wahl. Er hatte keine Hand mehr. Immolatus war in sein eigenes Blut getaucht, von den Splittern seiner eigenen, zerborstenen Knochen zerschnitten und wütend wie noch nie in seinem Leben. Die Wunden des Drachen waren zwar schwer, aber nicht lebensgefährlich. Er hatte nur einen Wunsch, nämlich diese jämmerlichen Wesen zu töten, die ihm so furchtbar mitgespielt hatten. Er löste den Zauber, der ihn an seine Menschengestalt band. Sobald er seinen eigenen Körper wiederhatte, würde er diese Blutsauger erschlagen, diese Würmer mit ihrem teuflisch schmerzhaften Biss. Raistlins verzauberte Augen sahen, wie der Drache sich verwandelte. Er sah den Menschenkörper des Zauberers zerfallen und etwas Glitzerndes, Rotes, unfassbar Böses daraus erwachsen. Was das für ein Wesen war, war ihm völlig unklar. Im Augenblick hatte Raistlin nur einen Gedanken: Er musste seinen Stab mit dem hell strahlenden Kristall vom Boden aufheben. Er kniete nieder, um den Stab an sich zu reißen. Dann nahm er all seine Kraft zusammen, eine Kraft, von deren Existenz er nie etwas geahnt hatte, denn sie entsprang seiner Angst und seinen Schmer-
zen, schwang den Stab nach Immolatus und traf ihn vor die Brust. Die dem Stab eigene Wut verstärkte Raistlins Schlag. Zusammen war ihre Wucht wie ein Blitzschlag. Dieser Schlag ließ Immolatus rückwärts durch das Eisentor fliegen und warf ihn halb verwandelt aus der Grabkammer in den engen Tunnel zurück. Immolatus prallte gegen die Felswand des Gangs. Seine Knochen brachen, doch das waren die Knochen seiner schwachen menschlichen Gestalt, die er mit einem einzigen magischen Wort wieder zusammensetzen konnte. Einen Augenblick lag Immolatus in dem dunklen Tunnel und genoss das Gefühl, als Kraft, Macht und Größe zurückkehrten. Sein Kiefer wurde länger, seine Zähne schnappten, als würden sie bereits Menschenknochen zerknacken, die Muskeln seines Körpers spannten sich angenehm unter den frisch gebildeten Schuppen, die jetzt noch weich waren, bald aber hart wie Diamant sein würden. In seinem Bauch brannte das Feuer und brodelte schon bis an seinen Hals herauf. Er wurde zu groß für den Gang, doch das spielte keine Rolle. Er würde sich erheben, sich durch das Gestein graben, den Berg wegheben und auf jene niederwerfen, die es gewagt hatten, ihn zu beleidigen. Er brauchte nur noch wenige Augenblicke… Eine Stimme, weiblich, kalt und beißend wie Stahl, erklang in seinem Kopf. »Du hast mir zum letzten Mal den Gehorsam verweigert.« Kitiaras Schwert fing das Licht vom Stab des Magus auf und leuchtete in diesem Licht silbern. Der verwundete Immolatus, der durch den Blutverlust und seinen Zauber geschwächt und von dem gleißenden
Licht verwirrt war, blickte auf und glaubte, seine Königin zu sehen. Wütend, rachsüchtig und unversöhnlich. Sie stand über ihm und brachte ihm seinen Untergang. Das Schwert drang in seinen Rücken, wo es sein Rückgrat durchtrennte. Aufgebracht stieß Immolatus einen grauenhaften Schrei aus. Er zuckte krampfhaft hin und her, denn er konnte seinen Körper nicht mehr beherrschen. Obwohl er seine Gegnerin nur durch einen blutigen Nebel sah, erkannte er Kitiara. »Ich werde nicht… als Mensch sterben!«, fauchte Immolatus. »Das hier wird mein Grab. Aber ich werde dafür sorgen, dass es auch deines wird, Wurm!« Kitiara riss ihr Schwert aus seinem Körper und stolperte nach hinten. In den letzten Zügen liegend verwandelte sich der sterbende Drache wieder in seine eigentliche Gestalt zurück. Die Verwandlung war fast abgeschlossen, doch sein Körper – der für den schmalen Höhlengang, in dem sie stand, viel zu groß war – dehnte sich immer weiter aus. Immolatus wand sich und warf sich herum. Peitschend schlug sein schwerer Schwanz wieder und wieder gegen die Felswand. Seine Flügel schlugen wild und seine Klauenfüße kratzten an den Tunnelwänden. Die Decke riss auf, die Stützbalken gaben knirschend nach, der Berg erzitterte und der Boden bebte. »Raist!« Das war Caramons entsetzte Stimme. »Wo bist du? Ich… ich kann nichts sehen! Was ist hier los?« »Ich bin hier, mein Bruder. Hier. Ich habe dich! Schlag nicht so um dich! Nimm meine Hand! Tauscher, hilf ihm! Bloß raus hier! Schnell!«
Kitiara machte einen krampfhaften Sprung auf das schmiedeeiserne Tor zu. Sie taumelte noch rechtzeitig in die Grabkammer, um einen Blick auf eine flatternde rote Robe und ein flackerndes Licht zu erhaschen, das von einem Kristall auf einem Stab stammte. Das Eisentor schlug zu. Der Tunnel hinter ihr gab krachend nach. Kitiara stolperte auf den Sarkophag zu, denn sie hoffte entgegen aller Erwartung, dass die Grabkammer stark genug wäre, der Wut einer strafenden Göttin zu widerstehen. Um sie herum stürzten Trümmer herunter. Sie klammerte sich an den Sarg und hielt sich daran fest, als der Boden erbebte. »Ich habe Euch geholfen, Sir Phantom!«, schrie sie. »Jetzt seid Ihr dran!« Sie duckte sich an den Sarg, ohne den Marmor loszulassen. Es fielen Steine herunter, trafen aber nicht sie. Sie stürzten auf die Stelle, wo sie den Körper gesehen hatte, ihren eigenen Körper. Dort lag jetzt nur brüchiger Stein. Kitiara schloss die Augen, um sie vor den Splittern und dem Staub zu schützen, und drückte sich liebevoller an den Sarg als an den Körper jedes Liebhabers. Irgendwann hörte das Rumpeln auf und der Staub setzte sich. Kitiara rührte sich, schlug die Augen auf, blinzelte den Schmutz weg und wagte einen Atemzug. Sofort drang ihr Staub in den Mund und sie begann zu husten. Er herrschte absolute Finsternis, in der sie nicht einmal die Hand vor Augen sah. Mit ausgestreckten Händen griff sie nach der Grabplatte und spürte den kalten, glatten Marmor. Sie zog sich hoch und lehnte Halt suchend an dem Sarkophag. Ein sanfter, freundlicher Lichtschein tauchte auf. Kit sah
sich nach seiner Quelle um und stellte fest, dass das Licht aus dem Sarg kam. Der Sarkophag war nicht mehr leer wie beim ersten Mal, als sie hineingesehen hatte. Er enthielt einen Leichnam. Kitiara sah dem Leichnam in sein friedvolles, siegreiches Gesicht. »Danke, Sir Nigel«, sagte Kit. »Damit sind wir wohl quitt.« Sie sah sich um und begutachtete die Lage. Die Höhle war mit Gesteinsbrocken übersät, doch sie sah keine Risse in der Decke oder im Boden und keine Löcher in den Wänden. Sie blickte zurück zu dem Eisentor, das zu dem Tunnel in die Berge führte. Dahinter befand sich eine Felswand. Der Körper des Drachen lag unter einem Steinhaufen begraben, den seine Königin über ihn geworfen hatte. Dieser Weg war versperrt. Doch der andere Zugang durch das silberne und das goldene Tor stand offen und war einigermaßen frei von Geröll. »Bis dann«, verabschiedete sie sich von dem Ritter und wollte gehen. Kitiaras Hand, ihre Schwerthand, haftete an dem Marmor, als hätte sie nasse Finger auf einen Eisblock gelegt. Ihr wurde schlecht vor Angst. Sie konnte die Hand losreißen, doch dann würde sie Fleisch und Blut verlieren. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte sie, das wäre eben der Preis, den sie zahlen müsste, doch dann erkannte sie plötzlich, dass sie vielleicht zu einem geringeren Preis davonkam. Sie griff mit der freien Hand in ihre Gürteltasche und tastete mit tauben Fingern herum, bis sie das Buch mit der Karte zu der Höhle mit den Eiern fand. Sie zitterte so sehr, dass sie das kleine Buch kaum halten konnte. Doch sie
wollte es nur noch los sein und warf es in den offenen Sarg. »Da!«, sagte sie verbittert. »Zufrieden?« Die fremde Macht ließ sie los. Sie riss ihre Hand von dem Sarkophag und rieb die klammen Finger, bis wieder Leben in ihnen war. Die Grabkammer mochte ein sicherer Hafen sein, doch Kitiara reichte es. Sie würde durch die silberne und die goldene Tür verschwinden, denselben Weg nehmen, den ihre Brüder genommen hatten, und weitergehen, bis die Grabkammer und Sir Nigel weit hinter ihr lagen. Als sie Stimmen hörte, blieb sie stehen. Weiter vorn hörte sie die Stimmen ihrer Brüder und deren Schritte durch den Gang hallen. Sie hätte sie einholen können, doch Kit beschloss, dass sie sie nicht sehen wollte. Sie wollte keine Fragen beantworten und sich keine Geschichte ausdenken müssen, die erklärte, weshalb sie hier war und was sie hier machte. Insbesondere hatte sie keine Lust, Erinnerungen an die alten Zeiten und die alten Freunde auszutauschen, das am allerwenigsten. Sie wollte hier im Gang warten, bis sie sicher war, dass sie längst weg waren. Dann würde sie nach draußen schleichen. Kitiara lehnte sich an die Felsen an und machte es sich so bequem wie möglich. Die Dunkelheit störte sie nicht. Nach dem unheimlichen, unnatürlichen Licht in der Grabkammer fand sie sie eher beruhigend. Während sie ausruhte, dachte sie über ihre Zukunft nach. Sie würde zu Lord Ariakas zurückkehren. Ja, sie hatte ihren Auftrag, die Dracheneier zu stehlen, nicht ausgeführt, doch die Schuld für diesen Fehlschlag konnte sie ganz auf den Drachen schieben. Und da es Lord Ariakas’ Idee gewesen war, den Drachen auf die Suche nach den Eiern zu schicken, musste er die
Schuld bei sich selber suchen. Sie würde als diejenige dastehen, die seinen Plan gerettet und dafür gesorgt hatte, dass der Drache für seinen dreisten Ungehorsam bezahlt hatte. Außerdem hatte sie dafür gesorgt, dass der Körper des erschlagenen Ungeheuers an einer Stelle begraben lag, von deren Existenz niemand erfahren würde. »Ich bekomme meine Beförderung«, überlegte Kitiara, während sie ihre Beine ausstreckte. »Und das ist nur der Anfang. Ich mache mich für Ariakas unentbehrlich, nicht nur auf eine Weise.« Sie lächelte sich selbst zu. »Wir beide werden die Macht haben, Krynn zu beherrschen. Natürlich im Namen Ihrer Majestät«, fügte Kit mit einem besorgten Blick in die Finsternis hinzu. Sie hatte den Zorn der Königin erlebt und gelernt, ihn zu respektieren. Sie hatte an diesem Tag auch etwas anderes erlebt, die Macht der Liebe, der Aufopferung, der Ehre und der Entschlossenheit. Das sagte ihr jedoch nichts. Jeder Respekt, den sie vor dem Ritter gehabt hatte, wurde durch den Zorn darüber verdrängt, dass er sie am Grab hereingelegt hatte. Ihre Hand tat immer noch weh. Nach all der Anstrengung war Kitiara so erschöpft, dass sie beinahe eindöste. Die Stimmen ihrer Brüder hörte sie nicht mehr. Wahrscheinlich hatten sie inzwischen die Türen erreicht. Sie würde ihnen genug Zeit lassen, völlig von hier zu verschwinden, ehe sie ihnen folgte und diesen furchtbaren Tempel verließ. Sie stellte fest, dass sie an ihre Brüder dachte. Zuerst war sie erschüttert gewesen, sie hier zu sehen. Die Zwillinge brachten Erinnerungen an ein Leben und eine Zeit zurück, aus der sie herausgewachsen war, Erinnerungen an Leute, an die sie nicht mehr denken wollte. Doch jetzt, da sie fort
waren und sie sie vermutlich nie wieder sehen würde, war Kit froh, dass sie diese Gelegenheit gehabt hatte und wusste, was aus ihnen geworden war. Caramon war inzwischen offenbar ein Krieger, und obwohl er sich in diesem magischen Kampf in keiner Weise ausgezeichnet hatte, glaubte Kit durchaus, dass er sich in der normalen Schlacht als guter, tüchtiger Soldat erweisen würde. Was Raistlin anging, so wusste sie nicht, was sie von ihm zu halten hatte. Sie hatte ihn nur an seiner Stimme erkannt, und selbst die war inzwischen schwächer als in ihrer Erinnerung. Aber anscheinend war er nun ein Zauberer, und er hatte Immolatus mit so viel Wildheit und Mut bekämpft, dass sie äußerst zufrieden war. »Genau, wie ich es geplant hatte«, sagte sie sich. »Sie haben sich beide genau so entwickelt, wie ich es mir erhofft habe.« Kitiara fühlte beinahe mütterlichen Stolz auf die beiden Jungen, als sie so in der Finsternis saß, ihr Schwert vom Blut des Drachen reinigte und auf eine Gelegenheit wartete, diesem verfluchten Tempel zu entkommen und die verlorene Stadt Hoffnungsende zu verlassen.»Raist! Da vorne ist Licht, oder?«, sagte Caramon mit vor Angst rauer Stimme. »Ich glaube, ich kann es sehen, obwohl es schrecklich matt ist.« »Ja, Caramon, da vorne ist Licht«, erwiderte Raistlin. »Wir sind wieder im Tempel. Das Licht, das du siehst, stammt von der Sonne.« Er fügte nicht hinzu, dass strahlender Sonnenschein herrschte. »Ich werde doch wieder sehen können, nicht wahr, Raist?«, erkundigte sich Caramon ängstlich. »Du kannst mich doch heilen, nicht wahr?«
Raistlin antwortete nicht sofort, worauf Caramon seinem Bruder seine blicklosen Augen zuwandte. Tauscher, der unter Caramons Gewicht taumelte, sah Raistlin ebenfalls hoffnungsvoll an. »Er wird doch wieder gesund, oder?«, fragte der Halbkender zaghaft. »Natürlich«, tröstete Raistlin. »Dieser Zustand ist nur vorübergehend.« Er hoffte inständig, dass seine Diagnose stimmte. Wenn die Verletzung tiefer ging, war er nicht in der Lage, sie zu heilen – dann war niemand heutzutage in der Lage, sie zu heilen, denn wahre Kleriker gab es nicht mehr. Raistlin erinnerte sich an einen Patienten der irren Meggin, einen Mann, der während einer Sonnenfinsternis zu lange in die Sonne gestarrt hatte. Sie hatte vergeblich versucht, ihm mit Umschlägen und Salben zu helfen. Sein Augenlicht war unwiederbringlich verloren gewesen. Caramon gegenüber erwähnte Raistlin jedoch nichts davon. »Raist«, drängte Caramon besorgt, »wann, glaubst du, geht das wieder weg? Wann kann ich wieder sehen?« »Raistlin«, sagte Tauscher gleichzeitig. »Wer war dieser hässliche alte Zauberer? Es sah aus, als würde er dich kennen.« Raistlin wollte Caramon nicht die Wahrheit sagen, wollte nicht die Worte »vielleicht niemals« aussprechen. Er fürchtete, dass selbst der blinde Caramon eine tröstliche Lüge durchschauen würde. So war Raistlin glücklich über Tauschers Einwurf und antwortete dem Halbkender mit einer Herzlichkeit, die diesen gleichermaßen erstaunte wie erfreute. »Sein Name war Immolatus. Ich habe ihn im feindlichen
Lager kennen gelernt«, erwiderte Raistlin. »Meister Horkin hat mich dorthin geschickt, um magische Dinge zu tauschen, aber der Zauberer wollte nichts von dem, was wir anzubieten hatten. Er wollte nur eines – meinen Stab.« Er blieb einen Augenblick stehen und überlegte, wie er die nächste Frage stellen sollte, ob er sie überhaupt stellen sollte. Doch er musste es unbedingt wissen und überwand seinen angeborenen Drang zur Heimlichkeit. »Tauscher, Caramon, ich möchte euch beide etwas fragen.« Er zögerte kurz, dann sagte er: »Was habt ihr gesehen, als ihr den Zauberer angeschaut habt?« »Einen Zauberer?«, wagte Caramon vorsichtig, denn er fürchtete, die Frage wäre ein Trick. »Ich habe einen Zauberer gesehen«, antwortete Tauscher. »Einen Zauberer in roten Roben, wie du sie trägst, nur war es ein eher feuriges Rot, wenn ich drüber nachdenke.« »Wieso, Raist?«, erkundigte sich Caramon mit beunruhigendem Scharfsinn. »Was hast du gesehen, als er vor dir stand?« Raistlin dachte an das rotschuppige Ungeheuer zurück, das seine verfluchten Augen einen Moment lang hatten durchschimmern sehen. Er versuchte, ihm eine Gestalt zuzuordnen, doch es kam nichts dabei heraus. In diesem Moment hatte der Stab des Magus zugeschlagen und den Zauberer in die Finsternis gestoßen, eine Finsternis, die über ihm zusammengestürzt war. »Ich habe einen Zauberer gesehen, Caramon«, behauptete er. Seine Stimme verhärtete sich. »Einen Zauberer, der mir meinen Stab stehlen wollte.« »Warum hast du dann gefragt?«, setzte Tauscher an, wurde jedoch durch einen hasserfüllten Blick zum Schwei-
gen gebracht. »Dein magischer Spruch war wirklich eine Leistung, Raist«, meinte Caramon einen Augenblick später. »Wie hast du das gemacht?« »Das würdest du doch nicht verstehen, Caramon«, gab Raistlin gereizt zurück. »Und jetzt sei still. Das Reden ist schlecht für dich.« Tauscher wollte erfahren, wie Reden schlecht für Caramons Augen sein konnte, doch Raistlin hörte ihn nicht oder tat zumindest so. Er dachte über die Magie nach. Seit er den Stab des Magus erhalten hatte, war Raistlin das Eigenleben des Stabs deutlich bewusst gewesen, eine magische Wachsamkeit, mit der sein Schöpfer ihn ausgestattet hatte. Er hatte das vage Gefühl verspürt, unzureichend zu sein, als ob der Stab ihn mit seinem Erschaffer verglich und Raistlin dabei schlecht abschnitt. Er erinnerte sich an den furchtbaren Schreck, als Immolatus ihm den Stab abgenommen hatte, die Angst, dass der Stab Raistlin aus eigenem Antrieb verlassen hatte und mit Freuden zu einem mächtigeren, erfahreneren Zauberer übergelaufen war. Als sich der Stab Raistlins Kampf angeschlossen hatte, war dieser überglücklich gewesen. Nach dem anfänglichen Schock der Explosion, deren Ankündigung er zwar gefühlt, die er jedoch nicht befohlen hatte, waren er und der Stab eine Einheit gewesen. Er hatte das Gefühl, der Stab wäre mit sich und auch mit ihm zufrieden. Es war ein merkwürdiger Gedanke, doch es kam ihm so vor, als ob der Stab ihn nun endlich respektierte. Liebevoll schloss sich seine Hand um den Stab, als er aus der silbernen Tür in das willkommene Licht der Sonne trat,
das durch die Fenster des verlassenen Tempels hereinströmte. Als die warme Sonne Caramons Gesicht beschien, brachte sie ihn zum Lächeln. Sein Augenlicht kehrte zurück. Er war sich sicher, behauptete er. Er konnte das Sonnenlicht sehen, und er schwor, er könne die schattenhaften Umrisse seines Bruders und Tauschers erkennen. »Das ist gut, mein Bruder«, sagte Raistlin. »Aber halte die Augen weiter geschlossen. Das Sonnenlicht ist zu stark und könnte sie noch mehr verletzen. Setz dich erst mal hierher, bis ich dir einen Verband angelegt habe.« Er riss einen Streifen von seiner Robe ab und band diesen vorsichtig um Caramons Augen. Caramon erhob Einwände, aber Raistlin blieb hart, und da Caramon daran gewöhnt war, seinem Bruder zu gehorchen, ließ er sich schließlich doch die Augen verbinden. Er traute der Diagnose seines Bruders und glaubte daran, dass er wieder sehen würde. Da es nichts half, wenn er sich aufregte, lehnte er sich an die von der Sonne erwärmten Steine und badete sein Gesicht im Licht. Er fragte sich, was aus dem Angriff geworden war und ob man wohl schon ein Verpflegungszelt aufgebaut hatte. »Kannst du laufen, Caramon?«, fragte Raistlin. Es hatte kein Nachbeben mehr gegeben, doch er hatte keine Ahnung, ob der Tempel womöglich einsturzgefährdet war. Bis das von jemandem überprüft war, der etwas von solchen Dingen verstand, hatte er Zweifel an seiner Sicherheit. Dieser heilige Ort schien wirklich einen heilenden Einfluss zu haben, dachte Raistlin, als er sah, wie das bleiche Gesicht seines Bruders wieder Farbe bekam. Sein Puls war kräftig, und er erklärte laut, dass er sich gut genug fühlte,
den guten alten Fuchsberg hinaufzulaufen. Er hielt sich bereits für völlig geheilt, und Raistlin solle doch einfach diesen blöden Lappen abnehmen… Raistlin beharrte darauf, dass der Verband blieb, wo er war. Er und Tauscher halfen Caramon beim Aufstehen. Caramon ging aus eigener Kraft, ließ sich aber von der Hand seines Bruders lenken. Die drei überließen den Tempel dem Sonnenlicht und dem silbernen Mondlicht, den Toten und den Lebenden, aber auch den jungen Drachen, die in ihren ledrigen Hüllen schliefen, während ihre Seelen noch durch das Sternenzelt streiften und ihre Geburt erwarteten.
20. Kapitel »Da sind sie!«, rief der Anführer der Bogenschützen von Hoffnungsende von der Mauer herunter. Wie um die Wahrheit seiner Worte zu bezeugen, fiel der Mann neben ihm tot um. Ein Pfeil hatte seinen Helm durchbohrt. Die Männer des Barons standen hinter den Toren bereit. Erst hatte es Verwirrung und Geschrei gegeben. Dann herrschte diszipliniertes Schweigen. Aller Augen hingen an den Offizieren, deren Augen wiederum auf den Baron gerichtet waren, der auf der Mauer stand und nach dem Feind Ausschau hielt – einem Feind, dessen Zahl alarmierend anzuwachsen schien. Selbst wenn er die Streitkräfte der Stadt dazurechnete, war der Feind ihnen um das Doppelte überlegen. Und er hatte frische, gut bewaffnete Männer unter einem fähigen, wenn auch wutschäumenden Kommandanten. Unter heftigem Deckungsfeuer überquerten die Pioniere des Feindes das Gelände und schleppten Sturmleitern und Rammböcke heran. Die Infanterie kam zum Klang dröhnender Trommeln in vier Reihen hintereinander anmarschiert. Obwohl er den Tod über das blutige Land auf sich zukommen sah, bewunderte der Baron die präzise Disziplin, mit der die Männer ihre Formation aufrechterhielten, nachdem die ersten Reihen von den Pfeilen aus der Stadt getroffen wurden. Wenn er die Größe und die Macht der Truppen betrachtete, die gegen ihn ins Feld zogen, wurde der Baron in seinem Plan bestätigt. Ganz gleich, was die anderen sagen mochten, was er vorhatte, war nicht das unüberlegte Verhalten eines Verrückten. Es war der einzige Weg, um diese
Stadt und seine eigenen Männer zu retten. Wenn sie sich hier, hinter diesen Mauern verkrochen, würde der Feind sie durch seine große Zahl überschwemmen wie Ameisen einen Kadaver. Der Baron warf einen Blick auf seine eigenen Männer. Sie waren kompanieweise an der Straße aufgestellt. Jede Kompanie war acht Mann breit und zwanzig Reihen lang. Es wurde nicht geredet, nicht gescherzt. Seine Männer waren fest entschlossen und mit tödlichem Ernst bei der Sache. Der Baron sah sie vor sich stehen und war stolz auf sie. »Soldaten der Armee des Spinnerbarons!«, brüllte er von der Mauer. Die Männer blickten zu ihm auf und antworteten mit einem Jubelruf. »Das ist das Ende!«, fuhr er fort. »Heute sind wir siegreich oder tot.« Er deutete mit einem Finger über die Mauer. »Wenn ihr den Feind seht, dann denkt daran, dass sie unsere Männer in den Rücken geschossen haben!« Wutgebrüll stieg von den Truppen auf. »Es wird Zeit, Rache zu nehmen!« Das Wutgebrüll schwoll zu einem Hurra auf den Baron an. »Viel Glück«, sagte er zum Kommandanten der Stadt und zum Bürgermeister und schüttelte beiden die Hand. Der Bürgermeister war aschgrau im Gesicht. Trotz des kalten Windes, der seit kurzem vom Berg herabblies, perlte der Schweiß von seiner Stirn. Er war Politiker und hätte sich in seinem Haus verbarrikadieren können, was ihm kaum jemand verübelt hätte. Doch er war fest entschlossen, auf seinem Posten auszuharren, obwohl er bei jedem Trompetenstoß zusammenzuckte. »Viel Glück, Verrückter«, sagte der alte Kommandant
zum Baron und duckte sich schnell unter einem Pfeil weg. »Zum Henker«, murmelte der Alte mit einem wütenden Blick auf den Pfeil, der nun vor seinen Füßen lag. »Lasst mich wenigstens lange genug leben, um das hier mit anzusehen. Ob wir siegen oder nicht, das wird ein glorreicher Tag.« Der Baron stieg von der Mauer und eilte trittsicher die Stufen hinunter. Dann nahm er seinen Platz an der Spitze der Armee ein, zog sein Schwert und stieß es in die Luft. Die hellen Strahlen der Sonne ließen die Klinge blitzen. Der Baron hielt sein Schwert hoch und wartete. Das Tor dröhnte und erzitterte. Die ersten Rammböcke waren angekommen. Bevor der Feind ein zweites Mal zustoßen konnte, gab der Baron das Zeichen. Die Torflügel von Hoffnungsende schwangen auf. Die Angreifer jubelten, denn sie glaubten, sie hätten die Verteidigung durchbrochen. Der Baron senkte sein Schwert. Trompeten schmetterten und die Trommeln grollten. »Angriff!«, brüllte der Baron und rannte durch das offene Tor direkt in die Reihen der Feinde. Hinter ihm folgte die Zentrumskompanie, die erfahrensten Veteranen der Armee, die am besten bewaffnet und ausgerüstet waren. Mit wütendem Schrei brachen sie durch das Tor und schwangen ihre Schwerter und Streitäxte. Die Soldaten am Rammbock waren so überrascht, dass sie den Eichenstamm fallen ließen und nach ihren Schwertern tasteten. Der Baron traf den Anführer mit seinem Schwert vor die Brust und trieb ihm die Waffe so tief in den Körper, dass sie blutüberströmt aus seinem Rücken trat. Dann riss er die Waffe zurück und parierte einen tücki-
schen Hieb von einem anderen Feind, der ihn seitlich angriff. Auch dieser bekam das Schwert zwischen die Rippen. Der Baron versuchte, sein Schwert wieder zurückzuziehen, doch die Waffe steckte im Brustkorb des Mannes fest. Er konnte sie nicht befreien. Um ihn herum wurde gekämpft und gestorben. Seine Männer brüllten vor Wut und das Blut spritzte wie Regen umher. Der Baron setzte seinen Fuß auf den Körper, stützte sich ab und zog sein Schwert zurück. Er war bereit, sich dem nächsten feindlichen Soldaten zu stellen, sah aber niemanden. Inmitten von Toten lag der Rammbock, den diese getragen hatten, vor dem Tor. Jetzt begann die eigentliche Schlacht. Der Baron sah sich nach seinem Fahnenträger um und fand den Mann direkt neben sich. »Vorwärts!«, gellte er und begann vorzurücken. Seine Standarte knatterte im kalten Wind. Die Zentrumskompanie rückte im Laufschritt vor, stieß dabei ihren Kriegsschrei aus und schwenkte die blutbeschmierten Waffen. Pfeile der Schützenkompanie, die auf der Mauer stand, pfiffen über ihre Köpfe und fielen wie wild gewordene Wespen über die Feinde her, um deren vordere Ränge zu dezimieren. Für viele der feindlichen Soldaten war es die erste Schlacht und die entsprach gar nicht ihrer Ausbildung. Rundherum starben ihre Kameraden. Eine Armee blutrünstiger, kreischender Monster jagte auf sie zu. Die vorderen Reihen des Feindes blieben stehen, denn die Soldaten schwankten. Die Offiziere schlugen mit Peitschen auf sie ein und zwangen die Linien brüllend zum Durchhalten. Angeführt von ihrem Baron drang die Zentrumskompanie mit krachenden Plattenpanzern auf den Feind ein, dass
man es bis auf die Mauer hörte. Sie stachen, schnitten und hackten ohne Gnade und ohne Pardon. Sie hatten die Leichen ihrer Kameraden mit den schwarz gefiederten Pfeilen im Rücken vor dem Tor liegen sehen. Jetzt hatten sie nur einen Gedanken, nämlich die zu töten, die sie so schmählich verraten hatten. Unter der Wucht des Angriffs gaben die vorderen Reihen des Feindes nach. Diejenigen, die standhielten, bezahlten ihren Mut mit ihrem Leben. Einige wenige zogen sich kämpfend zurück. Viele andere warfen ihre Schilde weg und rannten davon, ohne auf die Peitschen zu achten. Die Zentrumskompanie durchpflügte weiter die feindlichen Linien und hinterließ eine blutige Furche. Andere Kompanien kamen hinterher, um die Feinde zu bekämpfen, die – angetrieben durch die Peitschen ihrer Befehlshaber – in das klaffende Loch nachströmten, das der Ansturm des Barons und seiner Kompanie geschlagen hatte. »Das ist unser Ziel!«, schrie der Baron und zeigte auf eine kleine Anhöhe, auf der Kommandant Kholos stand. Als Kholos gesehen hatte, wie die Männer des Barons aus dem Tor stürmten und bei diesem absurden Ausfall die Sicherheit der Stadt verließen, hatte er laut und verächtlich gelacht. Er wartete vertrauensvoll darauf, dass seine Männer die Soldaten des Barons überwältigten, zerquetschten und auslöschten. Er hörte den Aufprall, als die beiden Armeen aufeinander stießen, und wartete darauf, dass die Standarte des Barons fiel. Die Standarte fiel nicht. Sie rückte vor. Es waren Kholos’ Männer, die jetzt rannten, allerdings in die falsche Richtung. »Erschießt diese Feiglinge!«, brüllte Kholos seine Bogen-
schützen wütend an. Ihm tropfte der Geifer aus dem Mund. Er deutete auf seine eigenen fliehenden Männer. »Kommandant!« Meister Vardash, dessen Gesicht noch von dem Schlag seines Kommandanten geschwollen war, kam angelaufen, um zu melden: »Der Feind hat die Linien durchbrochen!« »Mein Pferd!«, brüllte Kholos. Auch andere Offiziere schrien nach ihren Pferden, doch bevor die Knappen sie bringen konnten, stieß die Zentrumskompanie mit dem Baron an der Spitze in das Gewühl aus Männern und Leibwachen vor. Meister Vardash fiel gleich zu Beginn. Diesmal war sein Gesicht eine blutige Maske. »Kholos gehört mir!«, brüllte der Baron und drängte sich durch das Getümmel ringender, kämpfender Menschen, um den Kommandanten zu erreichen, der ihn beleidigt und seine Männer ermordet hatte. Kholos hielt stand, und es sah so aus, als könne er allein noch das Glück der Schlacht wenden. Er trug eine schwere Rüstung, lehnte einen Schild jedoch ab, denn er kämpfte mit zwei Waffen – in der einen Hand hatte er das Langschwert, in der anderen den Hirschfänger. Scheinbar mühelos schlug und stieß er drauflos. Drei Männer gingen vor ihm zu Boden. Dem einen hatte er den Schädel gespalten, den anderen geköpft, den dritten mit dem Hirschfänger mitten ins Herz getroffen. Kholos war so beeindruckend, dass der Angriff der Zentrumskompanie ins Stocken geriet. Selbst die erfahrensten Veteranen schreckten vor ihm zurück. Der Baron blieb stehen beim Anblick dieses goblinhaften Gesichts, das sich zu einem grässlichen Lächeln verzog, einem Lächeln, das
durch die Kampfgier und die Freude am Töten abstoßend wirkte. »Ihr habt uns verraten!«, brauste der Baron auf. »Bei KiriJolit, ich schwöre, dass ich noch heute Abend Euren Kopf an meinen Zeltpfosten nageln werde. Und morgen früh spucke ich darauf! « »Söldnerabschaum.« Kholos trampelte einfach auf die Gefallenen, als er vortrat. »Ich fordere dich zum Zweikampf heraus! Ein Kampf auf Leben und Tod! Wenn du dazu den Mumm hast, du käuflicher Soldat.« Das Gesicht des Barons verzog sich zu einem Grinsen. »Ich nehme an!«, schrie er. Mit einem Blick nach hinten rief er den Männern zu: »Ihr wisst, was Ihr zu tun habt!« »Ja, Sir«, bellte Kommandant Morgon. Der Baron marschierte vor, um sich seinem Gegner zu stellen. Seine Männer wichen mit grimmiger Miene zurück. Kholos begann mit einem gefährlichen Hieb seines Langschwerts, doch er war größere Feinde gewöhnt. Das Schwert pfiff dem Baron einfach über den Kopf. Der Baron duckte sich tief und warf sich gegen Kholos’ Knie. Dieser Angriff kam für Kholos völlig überraschend. Der Baron walzte Kholos nieder. »Jetzt!«, befahl Kommandant Morgon laut. Die Soldaten der Zentrumskompanie sprangen vor und gingen mit ihren Schwertern auf den gestürzten Kommandanten los. Der Baron kroch aus dem Gemetzel hervor. »Seid Ihr verletzt, Herr?«, fragte Kommandant Morgon, während er dem Baron auf die Beine half. »Ich glaube nicht«, erwiderte der Baron. »Ich glaube, das meiste ist sein Blut. Kaum zu glauben, dass dieser Mistkerl
wirklich dachte, ich würde mich ihm zum ehrenvollen Zweikampf stellen! Ha, ha, ha!« Morgon watete in das Blutbad zurück, packte seine Soldaten und zog sie weg. »Schon gut, Jungs! Der Spaß ist vorbei. Ich glaube, dieser Mistkerl ist tot.« Heftig atmend und blutig, aber grinsend wichen die Männer zurück. Der Baron ging zu dem Leichnam des Kommandanten zurück, der in seinem eigenen Blut schwamm. Seine Augen starrten zum Himmel und auf seinem gelben Goblingesicht stand ein Ausdruck fassungsloser Überraschung. Der Baron nickte grimmig und zufrieden, dann drehte er sich um. Er nahm das Schwert zur Hand. »Unsere Arbeit ist noch nicht getan, Männer«, setzte er an. »Da bin ich mir nicht so sicher, Herr«, warf Kommandant Morgon ein. »Seht Euch das an, Sir.« Der Baron sah sich auf dem Feld um. Die Offiziere aus Kholos’ Kommandostab, die nicht tot oder verwundet waren, hockten auf den Knien und hatten zum Zeichen ihrer Kapitulation die Hände gehoben. Der Rest der Feinde floh über das Feld in den Schutz des Waldes, verfolgt von den Männern des Barons. »Sie sind in die Flucht geschlagen, Sir!«, stellte Morgon fest. Der Baron runzelte die Stirn. Vor lauter Kampfgier hatten seine Soldaten ihre Plätze in den Reihen verlassen und waren über das ganze Feld verteilt. Im Augenblick lief der Feind davon, aber wenn nur ein mutiger, klar denkender Offizier die Flucht beendete und seine Männer neu formierte, konnte er die Niederlage in einen Sieg verwandeln.
»Der Hornist?« Der Baron blickte sich um. »Wo im Namen von Kiri-Jolit ist mein gottverdammter Hornist?« »Ich glaube, er ist tot, Herr«, erklärte Morgon. Ein Sonnenstrahl, der auf Messing glänzte, fiel dem Baron ins Auge. Unter den feindlichen Offizieren stand ein zitternder, verängstigter Junge, der mit weißen Knöcheln ein Horn umklammerte. »Holt mir den Jungen da!«, befahl der Baron. Kommandant Morgon schnappte sich den Jungen und zerrte ihn nach vorne. Der Junge fiel vor Entsetzen auf die Knie. »Steh auf und sieh mich an, verflucht noch mal. Kennst du ›Gruß aus Abanasinia‹?«, wollte der Baron wissen. Langsam und ängstlich stand der Junge wieder auf, starrte den Baron aber nur verständnislos an. »Kennst du das, Junge?«, brüllte der Baron. »Oder nicht?« Der Hornist nickte bibbernd. Es war ein bekanntes Lied. »Gut!« Der Baron lächelte. »Spiel den ersten Refrain, dann lasse ich dich laufen.« Der Junge zitterte, denn er war vor Schreck ganz verwirrt. »Schon gut, mein Sohn«, sagte der Baron freundlicher. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mein Regiment benutzt diese Melodie als Rückruf. Na los, blas.« Nachdem der Junge sich beruhigt hatte, setzte er sein Instrument an die Lippen. Der erste Ton war ein Fehlschlag. Der Baron zog den Kopf ein. Tapfer leckte sich der Junge die Lippen und versuchte es noch einmal. Der klare Ruf übertönte den Lärm von Schlacht und Verfolgung. »Gut, Junge, gut!«, lobte der Baron erfreut. »Wiederhole es, weiter, weiter!«
Der Junge tat, wie ihm geheißen worden war. Der bekannte Ruf brachte die Männer wieder zu sich. Sie brachen den Angriff ab, sahen sich nach ihren Offizieren um und begannen, wieder Reihen zu bilden. »Führt sie in die Stadt zurück, Morgon«, ordnete der Baron an. »Und nehmt unterwegs unsere Verwundeten mit.« Er warf einen finsteren Blick zum Lager der Feinde. »Möglich, dass wir morgen von vorne anfangen müssen.« »Das bezweifle ich, Herr«, wandte Morgon ein. »Ihre Offiziere sind entweder tot oder gefangen. Die Soldaten werden den Einbruch der Nacht abwarten und dann das Lager abbrechen und nach Hause gehen. Morgen früh steht kein Zelt mehr.« »Darauf eine Wette, Morgon?« »Jede Wette, Herr.« Die beiden gaben sich die Hand. »Diese Wette hoffe ich zu verlieren«, stellte der Baron fest. Morgon lief davon, um den Rückzug zu organisieren. Der Baron wollte ihm folgen, stellte aber fest, dass der Hornist immer noch verzweifelt drauflos blies. »Sehr gut, mein Sohn«, lobte der Baron. »Jetzt kannst du aufhören.« Zögernd ließ der Junge sein Instrument sinken. Der Baron nickte und winkte. »Lauf schon, Junge. Ich sagte doch, ich lasse dich laufen. Du bist frei. Niemand wird dir etwas tun.« Der Junge rührte sich nicht. Mit großen Augen starrte er den Baron an. Der zuckte mit den Schultern und wollte gehen. »Sir, Sir!«, rief der Junge. »Darf ich mich Eurer Armee anschließen?«
Der Baron blieb stehen und sah sich um. »Wie alt bist du, Kleiner?« »Achtzehn, Sir«, antwortete dieser. »Du meinst wohl eher dreizehn.« Der Junge ließ den Kopf hängen. »Du bist zu jung für ein solches Leben, Söhnchen. Du hast schon zu viel Tod gesehen. Geh nach Hause zu deiner Mami. Die macht sich bestimmt furchtbare Sorgen um dich.« Der Junge gab nicht nach. Kopfschüttelnd ging der Baron weiter. Er hörte leise Schritte hinter sich, seufzte wieder, drehte sich aber nicht um. »Herr, wie geht es Euch?«, erkundigte sich Meister Senej. »Todmüde bin ich«, antwortete der Baron. »Und mir tun alle Knochen weh. Aber ansonsten bin ich unversehrt, gepriesen sei mein Gott.« Er warf einen Blick nach hinten und winkte den Offizier herbei. »Könnt Ihr Hilfe gebrauchen, Senej?« Der Meister nickte. »Ja, Herr. Wir haben eine Menge Verwundete, ganz zu schweigen von den vielen Gefangenen. Ich könnte wirklich noch jemanden gebrauchen.« Der Baron deutete mit dem Daumen auf den Jungen. »Ihr habt jemanden. Geh mit Meister Senej, Junge. Tu, was er dir sagt.« »Ja, Herr!« Der Junge lächelte zaghaft. »Danke, Herr.« Kopfschüttelnd lief der Baron über das Feld nach Hoffnungsende, dessen Glocken in wildem Triumph läuteten.
21. Kapitel »Ein glorreicher Kampf, Roter!«, sagte Horkin, der sich beglückt die Hände rieb, die von Blitzpulver geschwärzt waren. Als er mit den ersten Verwundeten durch das Tor kam, wartete sein Gehilfe schon auf ihn. »Du hättest dabei sein sollen.« Dann sah Horkin Raistlin prüfend an. »Das nehme ich zurück. Sieht so aus, als hättest du auch einiges zu tun gehabt, Roter. Was war los?« »Haben wir dafür wirklich Zeit, Sir?«, wehrte Raistlin ab. »Bei so vielen Verwundeten? Ich habe den Tempel gefunden. Ich halte ihn für einen ausgezeichneten Krankensaal, aber ich möchte doch, dass Ihr vorher noch einen Blick darauf werft.« »Vielleicht hast du Recht«, willigte Horkin ein und bedachte Raistlin dabei mit einem forschenden Blick. »Hier entlang, Sir«, sagte Raistlin und drehte sich um. Raistlin erklärte, dass der Tempel von Erdbeben erschüttert worden war, angeblich in dieser Gegend nichts Ungewöhnliches. Horkin untersuchte den Tempel, prüfte die Pfeiler und die Mauern und erklärte ihn schließlich für sicher. Jetzt brauchte man nur noch Wasser. Nach kurzer Suche fand sich auf der Rückseite des Tempels ein Brunnen mit klarem, kaltem Quellwasser. Horkin gab Befehl, die Verwundeten an diesen friedlichen Ort zu bringen. Umringt von dankbaren Bürgern, die Decken, Nahrung, Kissen und Medizin anboten, rumpelten die Wagen mit den Verwundeten durch die Straßen. Bald bedeckten saubere, gleichmäßige Deckenreihen den Tempelboden. Der Chirurg bereitete sein Werkzeug vor. Raistlin und Horkin
arbeiteten mit erfahrenen Heilern aus der Stadt. Sie taten, was sie konnten, um Schmerzen zu lindern und den Soldaten ihr Los zu erleichtern. Es geschahen keine Wunderheilungen. Manche starben, andere überlebten, doch Horkin hatte den Eindruck, dass diejenigen, die starben, einen friedlicheren Tod fanden, und dass die Überlebenden rascher und weitgehender heilten, als zu erwarten gewesen wäre. Die erste Aufgabe des Barons war der Besuch bei den Verwundeten. Er kam direkt vom Schlachtfeld – schmutzig und blutig, teils von eigenem Blut, größtenteils von dem der Feinde. Obwohl er zum Umfallen müde war, zeigte er es nicht. Er kürzte seinen Besuch auch nicht ab, sondern nahm sich Zeit, zu jedem Opfer ein paar Worte zu sagen. Er sprach jeden Soldaten mit Namen an und erinnerte an seinen Mut während der Schlacht, als hätte er jede tapfere Tat persönlich mit angesehen. Den Sterbenden versprach er, ihre Familien zu unterstützen. Später sollte Raistlin erfahren, dass dieser Schwur dem Baron heilig war. Nachdem der Besuch bei den Verwundeten beendet war, plauderte der Baron mit Horkin und Raistlin über den Tempel, den sie entdeckt hatten. Der Baron war begeistert, als er hörte, dass in einer Grabkammer unter dem Tempel der Sarg eines Ritters von Solamnia stand. Raistlin beschrieb detailliert, was sie dort unten erlebt hatten, behielt aber gewisse Dinge für sich, die wirklich niemanden etwas angingen. Der Baron hörte aufmerksam zu und runzelte die Stirn, als er hörte, dass der Deckel des Sarkophags geöffnet worden war. »Darum muss sich jemand kümmern«, sagte er. »Vielleicht haben Räuber versucht, das Grab zu plündern. Die-
ser edle Ritter soll in Frieden ruhen dürfen. Ihr habt keine Ahnung, welcher Art dieser Schatz ist, Majere?« »Die Inschrift hat nichts erwähnt, Sir«, erwiderte Raistlin. »Ich vermute, dass es – was es auch war – inzwischen unter Tonnen von Gestein begraben liegt. Der Tunnel, der von der Grabkammer aus weiterführt, ist absolut unpassierbar.« »Verstehe.« Der Baron fasste Raistlin genauer ins Auge. Raistlin hielt seinem Blick stand, und schließlich war es der Baron, der die Augen von diesen seltsamen Stundenglaspupillen abwandte. Er ging noch einmal durch die Reihen der Verwundeten und kam an das Lager, auf dem Caramon unruhig herumzappelte. Er war ein sehr schwieriger Patient. Er wäre nicht verletzt, behauptete er. Nicht im Geringsten. Er wollte aufstehen und etwas tun. Er wollte etwas Anständiges zu essen, kein Wasser, durch das man ein Huhn gezogen hatte, damit man Suppe dazu sagen konnte. Seine Augen wären ganz in Ordnung, jedenfalls würden sie es sein, wenn man ihm endlich diesen verfluchten Verband abnehmen würde. Tauscher saß bei ihm, versuchte, ihn durch Geschichten abzulenken, und erinnerte ihn unzählige Male daran, nicht an den Augen zu reiben. Obwohl Raistlin mit seinen anderen Patienten zu tun hatte, behielt er den Baron bei dessen Gang durch den Tempel im Blick, und als er zu seinem Bruder kam, eilte Raistlin hinüber, um bei dem Gespräch dabei zu sein. »Caramon Majere!«, begrüßte der Baron den Kämpfer und schüttelte ihm die Hand. »Wie ist denn das passiert? Ich kann mich gar nicht erinnern, dich in der Schlacht gesehen zu haben.« »Baron?« Caramons Miene hellte sich auf. »Hallo, Sir!
Tut mir Leid, dass ich den Kampf verpasst habe. Es soll ein glorreicher Sieg gewesen sein. Ich war hier, Sir. Wir – « Raistlin legte seinem Bruder eine Hand auf die Schulter, und als der Baron nicht hinsah, kniff er Caramon fest mit den Fingern. »Aua!«, fuhr Caramon auf. »Was – « »Schon gut«, meinte Raistlin besänftigend und fügte gedämpft hinzu: »Er hat immer diese Schmerzanfälle, Herr. Er war nämlich bei mir, als ich den Tempel erkundet habe. Wir steckten in den Tunneln fest, als das Erdbeben kam. Caramon hat Gesteinsstaub in die Augen bekommen, der ihn geblendet hat. Es handelt sich um eine vorübergehende Blindheit. Er braucht nur Ruhe, weiter nichts.« Raistlins Finger gruben sich warnend in Caramons Schulter, damit sein Bruder den Mund hielt. Ein durchdringender Blick auf Tauscher brachte auch den Halbkender, der schon den Mund aufgemacht hatte, zum Schweigen. »Ausgezeichnet! Das höre ich gern!«, sagte der Baron herzlich. »Bist ein guter Soldat, Majere. Ich würde dich ungern verlieren.« »Wirklich, Sir?«, strahlte Caramon. »Danke, Sir.« »Du ruhst dich so lange aus, wie man es dir sagt«, fügte der Baron hinzu. »Du unterstehst jetzt den Heilern. Sobald du soweit bist, will ich dich wieder in der Kompanie sehen.« »Natürlich, Sir. Danke, Sir«, wiederholte Caramon mit stolzem Lächeln. »Raist«, flüsterte er, als er hörte, wie sich die schweren Schritte des Barons entfernten, »warum hast du ihm nicht erzählt, was wirklich passiert ist? Warum hast du ihm verschwiegen, dass du gegen den anderen Zauberer gekämpft und ihn besiegt hast?«
»Ja, warum?«, erkundigte sich Tauscher begierig und beugte sich über Caramon. Die Antwort lautete: Weil Geheimniskrämerei Raistlins Natur entsprach, weil er keine bohrenden Fragen von Horkin wollte, weil er nicht wollte, dass Horkin oder sonst jemand etwas von der erstaunlichen Macht des Stabes erfuhr, einer Macht, die Raistlin selbst im Augenblick noch gar nicht richtig zu nutzen wusste. All diese Gründe hätte er seinem Bruder und dem Halbkender nennen können, aber er wusste, dass sie sie nicht verstehen würden. Also setzte er sich zu seinem Bruder und winkte auch Tauscher zu sich. »Wir haben uns nicht gerade mit Ruhm bekleckert«, erklärte Raistlin trocken. »Unser Befehl lautete, den Tempel zu untersuchen und dann Meldung zu machen. Stattdessen wollten wir nach dem Schatz suchen.« »Das stimmt«, räumte Caramon ein. Er wurde rot. »Du willst doch nicht, dass der Baron von dir enttäuscht ist«, fuhr Raistlin fort. »Nein, natürlich nicht«, wehrte Caramon ab. »Ich auch nicht«, gab Tauscher zu. »Also behalten wir die Wahrheit für uns. Schließlich schaden wir niemandem damit.« Raistlin erhob sich und wollte zu seinen Pflichten zurückkehren. Tauscher zupfte am Ärmel von Raistlins Robe. »Ja, was willst du?« Raistlin sah ihn wütend an. »Was ist der wahre Grund, warum wir nichts sagen sollen?«, fragte Tauscher leise. Raistlin sah sich betont um, ob jemand zuhörte. Dann beugte er sich hinüber und flüsterte Tauscher ins Ohr: »Der Schatz.« Tauschers Augen öffneten sich ganz weit. »Ich wusste es!
Wir gehen ihn holen!« »Eines Tages vielleicht«, bestätigte Raistlin leise. »Aber zu niemandem ein Wort!« »Natürlich! Versprochen! Ist das aufregend«, jauchzte Tauscher und zwinkerte mehrmals auf eine Weise, die bei jedem, der zufällig zusah, sofort Verdacht erregen musste. Raistlin ging wieder an seine Arbeit. Er war zufrieden. Sein Bruder würde aus Scham Stillschweigen bewahren, Tauscher aus Hoffnung. Einem echten Kender hätte Raistlin dieses Geheimnis niemals anvertraut, aber bei Tauscher würde dessen menschliche Seite vermutlich dafür sorgen, dass die Kenderseite den Mund hielt. Eines Tages wollte Raistlin tatsächlich zurückkehren. Vielleicht war der Schatz begraben. Vielleicht auch nicht. »Wenn ich nur wüsste, was für ein Schatz das ist«, sagte sich Raistlin, während er einem Soldaten geschickt das durchbohrte Bein verband. »Dann wüsste ich auch, wo ich mit der Suche anfangen kann.« Er sprach verschiedene Bewohner der Stadt an und stellte geschickte Fragen, ob im Berg womöglich ein Schatz begraben läge. Die Bürger lächelten, schüttelten den Kopf und sagten, das könne er nur von einem umherziehenden Trödler haben. Hoffnungsende war eine wohlhabende Stadt, aber gewiss nicht reich. Sie wussten von keinem Schatz. Raistlin kam es beinahe so vor, als ob die Bewohner von Hoffnungsende sich verschworen hätten, ihm den Schatz vorzuenthalten, doch sie waren so verdammt gelassen und belächelten diesen Gedanken viel zu sehr. Allmählich überlegte er, ob sie wohl Recht hatten und alles nur ein Kendermärchen war.
An diesem Abend ging er furchtbar schlecht gelaunt zu Bett, und die schrecklichen Träume, die ihn quälten – dass er von einem riesigen, entsetzlichen Geschöpf angegriffen wurde, einem Geschöpf, das er nicht sehen konnte, weil ihn ein strahlendes silbernes Licht geblendet hatte –, verbesserten seine Laune keineswegs.Am folgenden Tag wollte der Baron die Gruft ganz zeremoniell von Trümmern und Staub befreien und den Deckel wieder auf den Sarkophag mit dem toten Ritter legen lassen. Er ließ sich von seinen Kommandanten begleiten, und da Raistlin, Caramon und Tauscher die Gruft entdeckt hatten, wurden sie eingeladen, Teil der Ehrenwache zu sein. Caramon wollte den Verband abnehmen. Er könne wunderbar sehen, behauptete er, abgesehen von einem leichten Schleier. Raistlin war eisern. Die Binde musste bleiben. Caramon hätte den Streit fortgesetzt, doch der Baron selbst bot Caramon seinen Arm an, eine große Ehre für den jungen Soldaten. Rot vor Freude und peinlich berührt nahm Caramon den Baron als Führer an und lief, zwar unsicher, aber doch stolz, neben ihm her. Mit Fackeln betraten der Baron und die Ehrengarde die Grabkammer. Alle verhielten sich ernst und feierlich, leise und respektvoll. Der Baron stellte sich an den Kopf des gemeißelten Ritters. Die Kommandanten verteilten sich um den Sarg, falteten die Hände vor dem Körper und senkten den Kopf. Manche beteten zu Kiri-Jolit, andere hingen trüben Gedanken über ihre eigene Sterblichkeit nach. Raistlin stellte sich an das Kopfende des Sarkophags, um dicht bei seinem Bruder zu bleiben. Als er in den Sarg blickte, war Raistlin einen Augenblick wie gelähmt. Im Sarg lag ein ledergebundenes Buch.
Raistlin dachte an den Vortag zurück und versuchte, sich daran zu erinnern, ob das Buch da gewesen war oder nicht. Er erinnerte sich nicht daran, doch gestern war es hier dunkel gewesen, nur sein Stab hatte die Höhle beleuchtet. Das Buch lag seitlich in dem Marmorsarg. Im Schatten war es leicht zu übersehen gewesen. Raistlin kam der Gedanke, dass dieses Buch Informationen über den Schatz enthalten könnte, vielleicht sogar Hinweise auf das Versteck. Er zitterte vor Begierde. Er brauchte dieses Buch, doch noch während er es anstarrte, hatte der Baron seine Gebete abgeschlossen und befahl seinen Kommandanten, den Deckel des Sarkophags wieder an seinen Platz zu legen. »Einen Moment bitte, Sir«, sagte Raistlin halb erstickt vor Aufregung und Angst, dass jemand anders das Buch sehen und etwas sagen könnte. »Ich möchte dem Ritter noch eine letzte Ehre erweisen.« Der Baron zog die Augenbrauen hoch. Wahrscheinlich wunderte er sich, dass ein Zauberer einen Ritter von Solamnia ehrte, doch er nickte. Raistlin durfte fortfahren. Der junge Zauberer griff in einen seiner Beutel und zog eine Handvoll Rosenblätter heraus. Er öffnete seine Hand, damit alle sehen konnten, was er hielt. Der Baron nickte lächelnd. »Sehr passend«, bemerkte er und betrachtete Raistlin mit Zustimmung und neuem Respekt. Raistlin streckte die Hand in den Sarg, um die Rosenblätter über den Körper des Ritters zu streuen. Als er den Arm zurückzog, ließ er den voluminösen Ärmel seiner roten Robe über seine Hand fallen, sodass seine Finger verborgen waren, die geschickt nach dem schmalen Lederband gegrif-
fen hatten. Raistlin trat zurück und blieb mit gesenktem Kopf stehen. Der Baron sah Kommandant Morgon an, der seine Offiziere anwies, die Hände an den Deckel zu legen. Auf Befehl hoben sie den schweren Deckel an. Der Baron stand still und salutierte nach Art der Ritter. »Kiri-Jolit sei mit ihm«, sagte der Baron. Auf den nächsten Befehl von Morgon hin schoben die Offiziere den Marmordeckel wieder an Ort und Stelle. Mit einem leisen Seufzen, das den Duft getrockneter Rosenblätter verbreitete, schloss sich der Deckel über dem Ritter.
22. Kapitel Raistlin hatte noch zu tun, bevor er die Zeit fand, seine Beute zu untersuchen. Er versteckte das Buch unter Caramons Matratze, ohne diesem etwas davon zu sagen, und vergewisserte sich bei jeder Gelegenheit, dass es nicht entdeckt worden war. Caramon war gerührt, dass sein Bruder so ungewöhnlich aufmerksam war. Gewöhnlich saßen Raistlin oder Horkin während der Nacht bei den Patienten, nicht hellwach wie die Wachsoldaten, sondern im Halbschlaf, sodass sie reagieren konnten, wenn ein Patient vor Schmerzen stöhnte oder Hilfe brauchte, um sich zu entleeren. An diesem Abend übernahm Raistlin freiwillig die erste Wache. Der müde Horkin erhob keine Einwände, sondern legte sich auf sein eigenes Feldbett und schnarchte bald mit dem Grunzen, Stöhnen, Husten und Pfeifen der anderen um die Wette. Raistlin machte seine Runde. Denen, die Schmerzen litten, verabreichte er Mohnsirup, den Fiebernden wischte er die Stirn, den Fröstelnden gab er weitere Decken. Seine Berührung war sanft und aus seiner Stimme sprach glaubwürdiges Mitleid. Nicht wie das Mitleid der Gesunden, Robusten, wie gut es auch gemeint war. »Ich weiß, was leiden heißt«, schien Raistlin zu sagen. »Ich weiß, wie sich Schmerzen anfühlen.« Seine Kameraden, die nie viel von ihm gehalten hatten, die ihn hinter seinem Rücken und manchmal auch offen gehänselt hatten (wenn sein Bruder nicht in der Nähe war), baten ihn jetzt, »nur noch einen Moment« an ihren Betten zu bleiben, umklammerten seinen Arm, wenn der Schmerz sie überwältigte, oder baten ihn, Briefe an ihre Frauen oder
Angehörigen zu schreiben. Dann setzte Raistlin sich hin und schrieb. Manchmal erzählte er ihnen auch Geschichten, um sie von ihrem Schmerz abzulenken. Wenn diejenigen wieder gesund waren, die ihn nicht gemocht hatten, bevor er sie gepflegt hatte, stellten sie fest, dass sie ihn immer noch nicht mochten – nur würden sie jedem den Kopf abschlagen, der ein schlechtes Wort über ihn verlor. Als schließlich der letzte Patient dem Mohnsaft erlegen und eingeschlafen war, konnte Raistlin endlich sein Buch untersuchen. Vorsichtig zog er es aus seinem Versteck, obwohl er kaum befürchten musste, dass er Caramon wecken würde, der gewöhnlich den tiefen Schlaf schlief, den man Hunden und denen reinen Gewissens zuschrieb. Als Raistlin das Buch in den Falten seiner Ärmel in der Hand hielt, warf er Horkin einen scharfen Blick zu. Der Magier hatte einen leichten Schlaf, wenn Verwundete zu pflegen waren; das leiseste Stöhnen oder unruhiges Herumwerfen konnten ihn wecken. Tatsächlich blinzelte er gerade schläfrig aus einem Auge zu Raistlin herüber. »Alles in Ordnung, Meister«, flüsterte Raistlin. »Schlaft weiter.« Horkin lächelte, wälzte sich auf die andere Seite und schnarchte bald wieder drauflos. Raistlin beobachtete seinen Vorgesetzten noch einen Augenblick, bis er sicher war, dass der Mann schlief. Niemand konnte ein so durchdringendes Schnarchen vortäuschen, ohne dabei halb zu ersticken. Horkin hatte in einem Kohlebecken im vorderen Bereich des Tempels, wo vielleicht einmal ein Altar gestanden hatte, ein Feuer entzündet. Nicht aus Ehrfurcht, obwohl er darauf geachtet hatte, äußerst respektvoll vorzugehen,
sondern um das Gebäude während der nächtlichen Kühle zu erwärmen. Raistlin zog seinen Stuhl dicht an das Becken, in dem die Holzkohle ein blau-gelbes Licht verströmte. Er hatte Salbei und getrockneten Lavendel über das Feuer gestreut, um den Gestank von Blut, Urin und Erbrochenem zu überdecken, der überall in dem Krankensaal vorherrschte, einen Gestank, der ihm selbst gar nicht mehr auffiel. Nachdem er ruhig am Feuer saß, sah er sich noch einmal wachsam um. Alles schlief. Raistlin stieß einen tiefen Seufzer aus, lehnte den Stab des Magus an die Wand und untersuchte seine Beute. Das Buch bestand aus Pergamentseiten, die zusammengenäht und gebunden waren. Ein lederner Einband schützte es vor der Witterung. Auf der Außenseite stand nichts, in dieser Hinsicht sah es nicht aus wie ein Zauberbuch. Es war ein gewöhnliches Buch, wie es der Quartiermeister benutzte, um einzutragen, wie viele Fässer Bier schon leer, wie viele Kisten Pökelfleisch noch übrig waren und wie viele Körbe mit Äpfeln er noch hatte. Raistlin runzelte die Stirn. Das war nicht gerade viel versprechend. Seine Laune hob sich beträchtlich, als er das Buch aufschlug und auf der einen Seite eine handgezeichnete Karte, auf der anderen eilig hingekritzelte Zahlen und Buchstaben entdeckte. Das sah schon viel besser aus. Sofort warf er einen Blick auf die Ziffern, erkannte jedoch nur, dass sie offenbar etwas zählten. Edelsteine? Münzen? Ganz bestimmt. Jetzt kam er schon weiter! Er wandte sich von den Notizen ab und nahm sich die Karte vor. Sie war in Eile gezeichnet. Das Buch hatte auf einer unebenen Oberfläche gelegen – als hätte der Zeichner sie auf einen Stein oder vielleicht auf seine Knie gelegt. Raistlin
rätselte ein Weilchen an der knappen Skizze und den noch knapperen Aufzeichnungen herum. Schließlich war er der Meinung, dass er eine Karte in der Hand hielt, die einen Weg zu einem verborgenen Zugang zu einem Berg zeigte. Raistlin brütete über der Karte und überdachte jede Einzelheit, bis er schließlich zu dem unerwünschten, enttäuschenden Schluss kam, dass die Karte für ihn wertlos war. Der Verfasser hatte einen deutlichen Weg gezeichnet, der leicht zu finden war, wenn man wusste, wo er begann. Den Ausgangspunkt hatte der Verfasser gekennzeichnet – drei zusammenstehende Kiefern –, aber wo diese drei Kiefern standen, darauf gab es keinen Hinweis. Standen sie im Norden oder im Süden? Auf halbem Weg am Hang oder in den Ausläufern? Gewiss konnte man den ganzen Berg nach drei zusammenstehenden Kiefern absuchen, doch das konnte ein Leben lang dauern. Der Zeichner wusste, wo sie standen. Er konnte ohne Schwierigkeiten zu diesem Ort zurückkehren, deshalb brauchte er den Weg dorthin nicht zu beschreiben. Diese Karte sollte ihrem Verfasser nur auf die Sprünge helfen, wenn er kam, um den Schatz zu holen. Düster starrte Raistlin die Karte an. So gern wollte er mehr wissen. Er stierte sie an, bis die roten Linien vor seinem Blick zu verschwimmen begannen. Verärgert schlug er die Seite um und kehrte zu den Notizen zurück in der Hoffnung, dass diese vielleicht einen Hinweis enthielten. Gespannt und verwirrt sah er sie durch und war so in seine Arbeit vertieft, dass er nicht hörte, wie jemand kam. Er merkte erst, dass jemand hinter ihm stand, als dessen Schatten auf das Buch fiel. Raistlin schrak zusammen, bedeckte das Buch mit dem
Ärmel seiner Robe und sprang hoch. Caramon wich einen Schritt zurück und hob beide Hände, als wollte er einen Schlag abwehren. »Huch, entschuldige, Raist! Ich wollte dich nicht erschrecken.« »Warum pirschst du dich so an mich an?«, schimpfte Raistlin. »Ich dachte, du wärst vielleicht eingeschlafen«, erwiderte Caramon zerknirscht. »Ich wollte dich nicht wecken.« »Ich habe nicht geschlafen«, gab Raistlin vorwurfsvoll zurück. Er setzte sich wieder und beruhigte sein heftig klopfendes Herz, denn durch den Schreck war ihm ganz schwindelig geworden. »Du lernst deine Zaubersprüche. Ich lasse dich in Ruhe.« Caramon wollte auf Zehenspitzen davonschleichen. »Nein, warte«, rief Raistlin ihn zurück. »Komm her. Ich möchte, dass du dir etwas ansiehst. Übrigens, wer hat dir erlaubt, die Augenbinde abzunehmen?« »Niemand. Aber ich kann gut sehen, Raist. Sogar der Schleier ist verschwunden. Und ich habe die Brühe satt. Mehr bekommt man hier ja nicht. Dabei ist mein Magen ganz gesund.« »So viel ist offensichtlich«, sagte Raistlin mit einem verächtlichen Blick auf den runden Bauch seines Bruders. Caramon setzte sich neben ihm auf den Boden. »Was hast du denn da?«, erkundigte er sich, während er misstrauisch das Buch betrachtete. Er wusste aus leidvoller Erfahrung, dass die Bücher seines Bruders bestenfalls unverständlich und schlimmstenfalls richtig gefährlich waren. »Dieses Buch habe ich heute im Sarg des Ritters gefunden«, flüsterte Raistlin ihm gedämpft zu. Caramon riss erstaunt die Augen auf. »Du hast es gestoh-
len? Aus einem Sarg?« »Sieh mich nicht so an, Caramon«, fauchte Raistlin. »Ich bin kein Grabräuber! Ich glaube, es wurde absichtlich dorthin gelegt. Damit ich es finden kann.« »Der Ritter wollte, dass wir es bekommen«, sagte Caramon aufgeregt. »Bestimmt wegen dem Schatz! Er will, dass wir ihn finden – « »Wenn das stimmt, macht er es uns verdammt schwer«, bemerkte Raistlin kalt. »Hier, ich möchte, dass du dir dieses Wort ansiehst. Sag mir, was da steht.« Raistlin schlug die Seite mit den Notizen auf. Gehorsam starrte Caramon auf das Wort. Es gab keinen Zweifel. »Eier«, antwortete er prompt. »Bist du sicher?«, drängte Raistlin. »E-i-e-r. Eier. Doch, ganz sicher.« Raistlin seufzte tief. Caramon sah ihn plötzlich fassungslos an. »Du willst doch nicht etwa sagen, der Schatz… der Schatz…« »Ich weiß nicht, was es für ein Schatz ist«, erwiderte Raistlin trübsinnig. »Wahrscheinlich genauso wenig wie derjenige, der das hier geschrieben hat. Anscheinend hat uns der Ritter seinen Einkaufszettel geschenkt.« »Gib mal her!« Caramon nahm seinem Bruder das Buch ab, starrte es an, überlegte und versuchte sogar, es auf dem Kopf zu lesen. »Diese Zahlen hier – da, wo steht: 25 G und 50 S. Das könnten fünfundzwanzig Goldstücke und fünfzig Silberstücke sein«, schlug er hoffnungsvoll vor. »Oder fünfundzwanzig Gurken und fünfzig Tüten Salz«, gab Raistlin sarkastisch zurück. »Aber die Karte hier – « »– ist völlig nutzlos. Selbst wenn wir wüssten, wo der Ausgangspunkt ist – was wir nicht wissen –, führt sie zu
Tunneln im Berg, Tunnel, die vor unseren Augen eingestürzt sind.« Er streckte die Hand nach dem Buch aus. Caramon starrte es immer noch an. »Weißt du was, Raistlin, mir kommt die Schrift bekannt vor.« Raistlin schnaubte. »Gib mir das Buch zurück.« »Ehrlich, Raist! Ich schwöre es!« Caramon legte seine Stirn in Falten, um seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. »Ich habe diese Handschrift schon gesehen.« »Und du sagst, deine Augen wären besser. Geh wieder ins Bett. Und mach den Verband wieder drum.« »Aber, Raist – « »Geh ins Bett, Caramon«, befahl Raistlin gereizt. »Ich bin müde und habe Kopfschmerzen. Ich wecke dich rechtzeitig zum Frühstück im Verpflegungszelt.« »Wirklich? Das wäre großartig, danke, Raist.« Caramon warf einen letzten, verwirrten Blick auf das Buch und gab es seinem Bruder zurück. Schließlich musste dieser es am besten wissen. Raistlin machte seine Runde. Nachdem er festgestellt hatte, dass alle mehr oder weniger friedlich schlummerten, machte er sich auf den Weg zu den Aborten, die sich in einem kleinen Anbau hinter dem Tempel befanden. Auf dem Rückweg warf er das Büchlein auf den Müllhaufen, der anderntags verbrannt werden sollte. Nachdem er den Tempel betreten hatte, fand Raistlin Horkin hellwach am Feuer sitzen, wo er sich die Hände wärmte. Im Feuerschein funkelten die Augen des älteren Magiers merkwürdig. »Weißt du was, Roter«, meinte Horkin kameradschaftlich, während er in der angenehmen Wärme seine Hände
rieb, »diese Rote Robe, von der du erzählt hast, hat nicht an der Schlacht teilgenommen. Ich weiß das, weil ich auf den Zauberer gewartet habe, der doch ein mächtiger Kriegszauberer sein musste. Er hätte das Glück vielleicht wenden können. Wenn er dabei gewesen wäre, hätten wir jedenfalls nicht so leicht gesiegt. Komisch, dass Kommandant Kholos einen mächtigen Kriegszauberer zur Verfügung hat und ihn im entscheidenden Moment nicht einsetzt. Sehr seltsam, Roter.« Horkin schüttelte den Kopf. Er löste seinen Blick vom Feuer und sah Raistlin an. »Du weißt nicht zufällig, warum der Zauberer nicht dort war, hm, Roter?« Er war nicht dort, weil ich mit ihm gekämpft habe, hätte Raistlin bescheiden errötend antworten können. Ich habe ihn besiegt. Ich halte mich nicht für einen Helden, aber wenn Ihr mir unbedingt eine Auszeichnung verleihen wollt… Der Stab des Magus lehnte am Altar. Er wollte das magische Leben im Holz spüren, das ihn jetzt freundlich begrüßte. »Ich habe keine Ahnung, was dem Zauberer zugestoßen sein könnte, Meister Horkin«, erwiderte Raistlin. »Du warst nicht in der Schlacht, Roter«, stellte Horkin fest. »Und der Zauberer auch nicht. Ist doch seltsam.« »Ein Zufall, weiter nichts, Sir«, meinte Raistlin. »Hm.« Horkin schüttelte den Kopf. Achselzuckend tat er seine Fragen ab und wechselte das Thema. »Na, Roter, jetzt hast du deine erste Schlacht überlebt, und ich kann dir sagen, du hast dich gut gehalten. Zum einen hast du dich nicht umbringen lassen, das ist schon eine ganze Menge. Zweitens hast du dafür gesorgt, dass ich nicht umgekom-
men bin, das zählt noch mehr. Du bist ein geschickter Heiler, und wer weiß, wenn dir jemand hilft, wird eines Tages wohl auch noch ein geschickter Zauberer aus dir.« Horkin zwinkerte, und Raistlin beschloss klugerweise, nicht beleidigt zu reagieren. »Danke, Sir«, sagte er lächelnd. »Euer Lob bedeutet mir viel.« »Du hast es verdient, Roter. Was ich so umständlich sagen will, ist, dass ich dich für eine Beförderung vorschlagen werde. Ich werde empfehlen, dass man dich zum Meistergehilfen macht. Gegen erhöhten Sold natürlich. Jedenfalls wenn du bei uns bleiben möchtest.« Beförderung! Raistlin staunte. Horkin hatte selten ein gutes Wort für ihn übrig. Raistlin wäre nicht überrascht gewesen, wenn man ihn ausgezahlt und entlassen hätte. Doch allmählich verstand er seinen Vorgesetzten etwas besser. So schnell Horkin ihn tadelte, wenn er einen Fehler gemacht hatte, so wenig würde er ihn loben, wenn er etwas richtig machte. Aber er vergaß auch nicht, was Raistlin vollbracht hatte. »Danke für Euer Vertrauen, Meister«, erwiderte Raistlin. »Ich war am Überlegen, ob ich die Armee verlassen sollte. In letzter Zeit finde ich es falsch, dass man sich bezahlen lässt, um andere zu töten, jemandem das Leben zu nehmen.« »Hier haben wir Gutes getan, Roter«, gab Horkin zu bedenken. »Wir haben die Menschen dieser Stadt vor Sklaverei und Tod bewahrt. Wir waren auf der richtigen Seite.« »Aber anfangs standen wir auf der falschen Seite«, hielt Raistlin dagegen. »Immerhin haben wir rechtzeitig die Seiten gewechselt«,
befand Horkin zufrieden. »Durch einen glücklichen Zufall!« Raistlin schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Zufälle, Raistlin«, mahnte Horkin ruhig. »Alles hat seinen Grund. Dein Gehirn mag den Grund nicht kennen. Es findet ihn vielleicht nie heraus. Aber dein Herz kennt ihn. Dein Herz weiß immer Bescheid. Und jetzt«, fügte er freundlich hinzu, »geh schlafen.« Raistlin legte sich ins Bett, schlief aber nicht gleich ein. Er dachte über Horkins Worte nach und über alles, was er erlebt hatte. Und dann, als er Horkins Worte noch einmal durchging, fiel es ihm auf. Der Zauberer hatte ihn bei seinem Namen genannt. Raistlin. Nicht Roter. Raistlin stand auf und ging nach draußen. Solinari leuchtete voll und klar über der Stadt, als würde er sich über diesen Ausgang freuen. Raistlin suchte im Mondlicht den Abfallhaufen ab und fand das Buch dort, wo er es weggeworfen hatte. »Alles hat seinen Grund«, wiederholte Raistlin, während er das Buch aufschlug. Er betrachtete die nutzlose Karte, deren rote Linien im silbernen Mondlicht deutlich zu erkennen waren. Vielleicht werde ich nie erfahren, was der Grund ist. Aber auch wenn ich mit diesem Buch nichts anfangen kann, sagt es möglicherweise anderen etwas. Nachdem er zu seinem Bett zurückgekehrt war, legte er sich nicht hin, sondern blieb wach, um einen Brief zu schreiben, in dem er seine beiden Begegnungen mit Immolatus schilderte. Sobald die Botschaft fertig war, faltete er den Brief um das Büchlein, belegte Buch und Brief mit einem Zauber und verschnürte sie zu einem Päckchen an Par-Salian, Oberhaupt der Versammlung, Turm der Erzmagier,
Wayreth. Am Morgen wollte er den Baron fragen, ob er vorhatte, Boten nach Balifor zu schicken. Er belegte das Päckchen mit einem zweiten Zauber, um es vor neugierigen Augen zu sichern, und beschriftete es dann auf der Außenseite mit »Antimodes von Balifor« sowie der Straße, in der sein Mentor wohnte. Bis Raistlin fertig war, war der Morgen angebrochen. Langsam krochen Sonnenstrahlen in den Tempel, um die Schlafenden liebevoll zu wecken. Caramon war als Erster auf. »Komm mit, Raist«, forderte er seinen Bruder auf. »Du solltest etwas essen.« Raistlin stellte überrascht fest, dass er ungewöhnlich hungrig war. Er und sein Bruder verließen den Tempel und machten sich auf den Weg zum Verpflegungszelt, als sich Horkin zu ihnen gesellte. »Es macht dir doch nichts aus, wenn ich mitkomme, Roter?«, begann Horkin. »Die Verwundeten kommen so gut allein zurecht, dass ich dachte, ich könnte heute Morgen auch einmal anständig frühstücken. Wie ich höre, bereitet der Koch etwas ganz Besonderes zu. Außerdem haben wir etwas zu feiern. Euer Bruder wird befördert, Majere.« »Wirklich? Das ist ja großartig!« Caramon hielt inne, weil ihm plötzlich klar wurde, was das bedeutete. »Heißt das, wir bleiben bei der Armee des Barons?« »Wir bleiben«, bestätigte Raistlin. »Hurra!« Caramon stieß einen Schrei aus, der die halbe Stadt weckte. »Da kommt Tauscher. Na, wenn der das hört. Tauscher!«, brüllte Caramon und weckte damit die andere Hälfte der Stadt. »He, Tauscher! Komm mal her!« Tauscher freute sich über Raistlins Beförderung, beson-
ders aber darüber, dass die Zwillinge demnach bei der Armee bleiben würden. »Was gibt es denn zum Frühstück?«, erkundigte sich Caramon. »Ihr sagtet, es wäre etwas Besonderes?« »Ein Geschenk der dankbaren Bewohner von Hoffnungsende«, antwortete Horkin, um mit einem verdächtigen Zittern in der Stimme hinzuzufügen, »ein echter Schatz, wenn man so will.« »Was meint Ihr damit, Sir?«, fragte Raistlin mit einem scharfen Blick auf den Magier. »Eier«, grinste Horkin augenzwinkernd.
23. Kapitel »Für Euch, Erzmagier«, erklärte ein Lehrling, der bescheiden an der Tür zu Par-Salians Studierzimmer stehen geblieben war. »Wurde gerade von einem Boten aus Balifor gebracht.« Er legte ein Päckchen auf den Tisch und zog sich nach einer Verbeugung zurück. Par-Salian nahm das Päckchen zur Hand und betrachtete es aufmerksam. Es war an Antimodes adressiert, der es anscheinend weitergeleitet hatte. Par-Salian prüfte die Handschrift der Adresse – schnelle, eifrige, ungeduldige Federstriche mit einem nervösen Kringel am Ende eines S. Die Buchstaben waren nach links geneigt und gestochen scharf. Er machte sich ein Bild von dem, der sie geschrieben hatte, und als er den beiliegenden Brief öffnete, war er wenig überrascht, dass er von dem jungen Raistlin Majere stammte. Par-Salian setzte sich und las mit Interesse, Erstaunen und Verwunderung den aufrichtigen, unverblümten, kühlen Bericht über die Begegnungen von Raistlin mit einem Zauberer, der als Abtrünniger dargestellt wurde, einem Zauberer mit dem Namen Immolatus. Immolatus. Dieser Name war Par-Salian bekannt. Nachdem er die Botschaft noch zweimal sorgfältig durchgelesen hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit dem ledergebundenen Büchlein zu. Er verstand dessen Geheimnisse augenblicklich. Das war wenig überraschend. Die Zauberer, die im Turm wohnten, sahen Par-Salian oft im silbernen Mondlicht am Fenster stehen, wo seine Lippen sich in einem einseitigen Gespräch bewegten. Alle wussten, dass er direkt mit Solinari sprach. Par-Salians Herz machte einen Sprung. Seine Hände
wurden kalt und zitterten, als er die schreckliche Gefahr erkannte, die entsetzliche Tragödie, die beinahe geschehen wäre. Eine Tragödie, der sie durch die Treue eines toten Ritters, den versehentlichen Mut eines jungen Zauberers und die uralte Rachsucht eines Stück Holzes entronnen waren. Par-Salian glaubte wie Horkin – und vielleicht noch berechtigter –, dass alles seinen Grund hatte. Dennoch fand er diesen Bericht erstaunlich und erschreckend zugleich. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass der, der den Angriff auf Hoffnungsende in die Wege geleitet hatte, von dem Schatz unter dem Berg gewusst hatte. Er hatte die Stadt in der Absicht angegriffen, diesen Schatz zu erobern. Doch welcher Grund, welche finstere Absicht dahintersteckte, konnte Par-Salian nicht erraten. Höchstwahrscheinlich die Zerstörung der Eier, doch es gab Gegenargumente. Warum sollte man sich die Mühe machen, mit einer ganzen Armee eine ummauerte Stadt anzugreifen, wenn auch ein paar hartgesottene Männer mit Pickeln diese Aufgabe erledigen konnten? Ein Monat war vergangen, seit der junge Majere den Brief geschrieben hatte, der jetzt in Wayreth angekommen war. Inzwischen hatte Par-Salian erfahren, dass man den König von Blödehelm, König Wilhelm, in seinem eigenen Verlies gefunden hatte, wo ihn böse Fremdlinge, die in seinem Namen das Königreich geführt hatten, gefangen gehalten hatten. Par-Salian hatte gehört, dass diese Menschen geflohen waren, als Baron Ivor von Langbaum mit seiner Armee nach Vantal marschiert war und die Burg belagert hatte. Es war der Baron selbst gewesen, der den unglücklichen König befreit hatte. Damals hatte Par-Salian
nicht lange über die Geschichte nachgedacht. Jetzt aber erschrak er. Dunkle Mächte waren in der Welt am Wirken. Noch hatten sie kein Gesicht, doch er konnte ihnen einen Namen geben. Was ihn wiederum an Immolatus erinnerte. Dieser Name war ihm eindeutig bekannt. Nachdem er ein Geheimfach in einer verborgenen Schublade geöffnet hatte, zog er das Buch heraus, in dem er gelesen hatte, als Raistlin Majere diese Mauern verlassen hatte. Wenn Par-Salian ein Buch las, erinnerte er sich hinterher nicht nur an die wesentlichen Zusammenhänge, sondern an jede einzelne Seite, als wäre der geschriebene Text auf steinernen Tafeln in seinem Kopf eingraviert. Er brauchte nur die Seiten von Abertausenden von Texten durchzublättern, die er in seinem Gehirn gespeichert hatte, bis er diejenige fand, die er suchte. Sofort schlug er die Seite auf, an die er sich erinnerte, und da stand es: »Gegen Huma zog eine Reihe eindrucksvoller Feinde zu Feld, unter denen die stärksten, mächtigsten, grausamsten und schrecklichsten Drachen waren. Hierzu zählten Donnerschlag der Blaue, Werwyrm der Schwarze, Eistod der Weiße und der Lieblingsdrache Ihrer Majestät, der Rote mit dem Namen Immolatus…« »Immolatus«, sagte Par-Salian und seufzte erschauernd. »Also geht es bereits los. Hiermit beginnt unser langer Weg in die Dunkelheit.« Er warf einen letzten Blick auf den Brief in jener schnellen, nervösen, kühnen und hungrigen Handschrift und auf die Unterschrift darunter: Raistlin Majere, Magus. Par-Salian nahm den Brief zur Hand. Nach einem Wort
der Magie wurde der Brief von Flammen verzehrt. »Immerhin«, stellte er fest, »gehen wir nicht allein.«