Günter Teske
Des Teufels Suppe
Wissenschaftlich-phantastische Erzählung
Verlag Neues Leben Berlin
Mit Illustrati...
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Günter Teske
Des Teufels Suppe
Wissenschaftlich-phantastische Erzählung
Verlag Neues Leben Berlin
Mit Illustrationen von Karl Fischer
© Verlag Neues Leben, Berlin 1985 Lizenz Nr. 303 (305/95/85) LSV 7503 Umschlag: Karl Fischer Typografie: Walter Leipold Schrift: Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 643 904 3 00025
Unser Starfotograf heißt Dino Tizelli, und was man auch gegen ihn sagen mag: Er macht die besten Fotos. Meist benutzt er die Schnellschußkamera, die sechzig Auf nahmen in der Minute herunterrattert - theoretisch jedenfalls. Dadurch ist es na türlich leicht, aus acht bis zehn Aufnahmen je Szene ein gutes Bild herauszufinden. Irgendwann habe ich ihm das auch mal gesagt und die Abneigung seiner Berufskol legen gegen diese Technik erwähnt, die sie geringschätzig „filmen" nennen. Sie set zen ihre Ehre drein, den entscheidenden Augenblick mit einer Aufnahme einzufan gen und nicht ständig nervös und hektisch an der Kamera zu hantieren, um die schnell verbrauchten Filme zu wechseln. Bei nächster Gelegenheit hatte mir Tizelli seine Maschinenkamera in die Hand gedrückt und gesagt: „Belichtung und Entfernung stellen sich automatisch ein, nun mach mal aus vielen Fotos ein schönes!" Ich fand, es waren einige recht schöne dabei. Aber eine Illustrierte ist mit Fotos nicht zufriedenzustellen, die nur schön sind. Tizelli griente und zuckte die Achseln. „Entweder man hat's, oder man hat's nicht." Im Laufe unserer Zusammenarbeit bekam ich mit, was er damit meinte: im richti gen Moment immer an der richtigen Stelle stehen. Und das war es auch, was seine Bildberichte so interessant, ja manchmal sogar sensationell machte. Aus diesem Grund war mit der Zeit der aus Boshaftigkeit geborene Spitzname „Schnellschuß" fast ein Qualitätsmerkmal geworden. Trotzdem hob jeder der Textreporter abwehrend die Hände, wenn er mit Schnell schuß irgendwohin fahren sollte - ich eingeschlossen. Wir wußten alle, daß die Zu-' sammenarbeit mit dem kleinen, quirligen Fotografen eine geballte Ladung Streß bedeutete. Immer sollte es schnell gehen, ständig mußten noch einige Umwege, Be suche, Befragungen und zusätzliche Fotos zu unmöglichen Zeiten und an unmögli chen Orten gemacht werden. Anschließend konnte man sich dann manchmal stun denlang den Kopf vor der Schreibmaschine zerbrechen, um eine gute Idee zu fin den. Niemand sieht es nämlich gern, wenn sein Text gegen Tizellis ausgezeichnete Bilder „abstinkt", wie wir Journalisten sagen. Das Schlimme aber war, daß keine Reportage mit Schnellsöiuß glatt verlief. Ir gend etwas passierte immer. Ein verstauchter Fuß beim Abstieg von einem Hoch ständ, ein gequetschter Daumen bei der Besichtigung einer Straßenbahnreparatur werkstatt oder ein über Bord gegangenes Notizbuch während einer Schiffsreise mit einem Fischkutter - natürlich erst kurz vor dem Heimathafen und mit Informatio nen aus drei Tagen vollgeschrieben. Und wenn bis zum Abschied-noch nichts ge schehen war, dann durfte mit dem Ausfall eines Triebwerks auf dem Rückflug oder wenigstens mit einer Autopanne gerechnet werden. Jedem von uns graute vor dem Tag, da zwangsläufig Schlimmeres geschehen muße. Auf diesen Tizelli wartete ich nun. Es war fünf Uhr früh, und aus der Finsternis über der Stadt rieselte feinkörniger Schnee in das Laternenlicht. Im Auto wurde es langsam kalt, doch ich wollte nicht noch einmal aussteigen und den Klingelknopf vor seinem Namensschild drücken. So aufgeregt und rastlos Schnellschuß auch bei der Arbeit war, zu Verabredungen ließ er sich Zeit. Ich sah zum siebenten Stock hoch, das Licht hinter den Fenstern seiner Wohnung ging gerade aus. Anscheinend kam er nun. 3
Obwohl ich ihm als Termin fünf Uhr dreißig genannt hatte, waren wir erst zu sechs Uhr mit dem Chefbauleiter verabredet. Das hatte seine guten Gründe, denn durch Tizellis Trödelei waren schon Flugzeuge ohne uns gestartet und Pressekonfe renzen fast beendet, wenn wir eintrafen. Nun mußte ich außerdem das Wetter ein kalkulieren, denn heute würden wir die Baustelle „Aggregat I" wohl kaum wie un ter normalen Bedingungen in einer halben Stunde erreichen. Überhaupt: Aggregat I. Das war ein Name, dessen einzige Aussage in einer un wahrscheinlichen Nüchternheit lag. Sogar „Superschacht" oder „Projekt Erd wärme", wie die verantwortlichen Leiter diese Baustelle in Interviews oft nannten, klang dagegen exotisch. Natürlich hatten die schlagfertigen Hauptstädter, vor de ren Haustür der Erdschacht gebohrt wurde, einen ganz anderen Namen für dieses Milliardending gefunden: Energiewurzel. Auch wenn das keine Einzelheiten verriet, konnte man sich darunter etwas vorstellen. Technisch sah es so aus, daß zwei Bohrungen von jeweils vier Metern Durchmesser bis in eine Erdtiefe von zehn Kilometern niedergebracht wurden. Wenn man diese Röhren im Schnitt betrachtete, sahen sie wirklich wie überdimen sionale Schwarzwurzeln aus, die sich in die Tiefe schoben. Zunächst führten sechs Schächte und ein spiralförmig abfallender Fahrzeugtun nel bis in eine Tiefe von vier Kilometern, wo in riesigen Hallen die Generatoren zur Stromerzeugung standen. Diese wurden durch heißes Wasser angetrieben, das zwei Kilometer tiefer von der Erdtemperatur auf einhundertzwanzig Grad Celsius erhitzt worden war. Das Wasser stieg in mächtigen Rohrleitungen in ewigem Kreislauf zu den Wärmeübertragern auf Sohle vier hoch, in denen es die Flüssigkeit Freon zum Sieden brachte, die wiederum die Turbinen in Gang setzte. So kompliziert das alles sich anhörte und vor Ort durch schwierige geologische und thermische Bedingun gen auch war, so einfach funktionierte das System: Ohne die geringste Umweltbela stung oder Rohstoffvernichtung brachte die Erdwärme über viele Jahrzehnte aus reichend Energie, um eine Großstadt zu versorgen. Ein Viertel der Investitionen hatte sich bereits in drei Jahren seit Inbetriebnahme der ersten Energiesohle amorti siert. Inzwischen wurde eine zweite Erhitzungssohle ausgebaut, die in siebentausend Metern Tiefe lag. Sie wurde aus sechs Kilometer Tiefe durch drei Schächte erreicht, während von Sohle sieben dann die letzten beiden Schächte bis in die Tiefe von zehn Kilometern führen würden. Im Moment fraßen sich die beiden riesigen Voll schnitt-Vortriebsmaschinen bei Meter neuntausendneunhundertneunzig durch das heiße Gestein. Wir sollten mit der nächsten Ablösung hinunterfahren und die letzten sechs Me ter der Bohrung bis zur Zieltiefe direkt vor Ort miterleben. Ich weiß nicht, wie viele Anträge, Überprüfungen, Untersuchungen und Genehmigungen nötig waren, bis die endgültige Erlaubnis eintraf. Der ganze Aufwand wäre sicherlich umsonst ge wesen, hätten nicht drei wichtige Gründe für unseren Antrag gesprochen: Der große Einfluß unserer Illustrierten, die gute körperliche Kondition von Tizelli und mir sowie die Tatsache, daß wir hier schon zweimal im Verlauf der letzten vier Jahre Reportagen gemacht hatten. Einmal waren wir bis in drei Kilometer Tiefe vorgedrungen, das andere Mal beim Ausbau des Erhitzungsschachtes sogar tiefer als sechs Kilometer. An diese im wörtlichen Sinne heiße Reportage, bei der uns der Schweiß trotz der Schutzanzüge wie bei einem Saunabesuch über den Körper lief, konnte ich mich noch gut erinnern. Jedenfalls wußten wir um die Belastungen, denen man in allen noch nicht klima tisierten Abschnitten ausgesetzt war. Mit unserem jetzigen Vorhaben ließen sich die 4
früheren Besuche trotzdem nicht vergleichen. Diesmal mußten wir nicht nur wei tere vier Kilometer tiefer hinunter an eine Stelle der Erde, die aus rund zweihundert Grad Celsius heißem Gestein bestand. Wir wollten erstmals direkt neben den bei den Bohrmeistern in den Vollschnitt-Vortriebsmaschinen sitzen, die wie mächtige U-Erdboote vier Meter große Schächte in die Tiefe fraßen. Hier muß ich allerdings eine Einschränkung machen: Das „wollte" traf nur auf Tizelli zu; ich sollte. Und zwar hatte er ausdrücklich rhich als Textmenschen ge wünscht, und der von Tizellis Idee begeisterte Chefredakteur hatte mich sofort zu sich gerufen und mich mit dem gleichen gönnerhaften Gesichtsausdruck wie bei ei ner Prämienauszahlung gefragt, ob ich mich denn sehr auf solch eine grandiose Aufgabe freue. Leider gibt es in einer Redaktion genug andere Gründe, als sich selbst zu freuen, um solcherart Fragen des Chefredakteurs mit Ja zu beantworten. Innerlich tröstete ich mich damit, daß es nichts schaden konnte, wenn ich anschlie ßend als jener mutige Reporter gefeiert würde, der so tief in die Erde hinabgestie gen war wie bisher keiner seiner Kollegen auf der ganzen Welt. Das heißt, wenn wir es bis sechs Uhr schafften und wenn anschließend alles glatt ging. Zweimal hatte es bisher Schachteinbrüche gegeben. Sechs Todesopfer in den Pi lotbohrmaschinen und an der Abraumleitung sowie neunundzwanzig Verletzte bei der Isolierkolonne waren zu beklagen. Die Statistik bewies zwar, daß dies im Ver gleich mit ähnlich großen Projekten ungewöhnlich geringe Verluste waren; aber daran wollte ich jetzt lieber nicht denken, denn keine noch s"o positive Statistik trö stet über ein einziges Opfer hinweg, wenn man selbst betroffen ist. 5
Ich schaute auf die Uhr, und mein Ärger auf Tizelli schlug in Schreck um. Viertel sechs. Aber so ist der pflichtbewußte Mensch: Trotz meines inneren Widerstandes gegen diesen Auftrag, dazu noch mit Tizelli, wurde ich schon nervös bei dem Ge danken, wir könnten es nicht schaffen. Dabei sollte ich mich doch freuen, zumal es Tizellis Schuld sein würde. Diese Nervensäge konnte einen wirklich fertigmachen. Ich sprang aus dem Wagen und lief zur Haustür. Im selben Moment kam mir der kleine Fotograf die letzten Stufen vom Fahrstuhl entgegen. Er grinste und gab mir eine der drei Taschen, die er schleppte. „Morgen, Max", sagte er. „Mach nicht so ein saures Gesicht." Ich deutete auf die Uhr. „Weißt du, wie spät es ist? Um halb sechs sollten wir im Chefbüro sein." „Ich weiß, aber bis sechs schaffen wir es dicke." Es hatte keinen Zweck, mit ihm eine Diskussion anzufangen. Meist wurde er da bei laut und hysterisch. Er selbst bezeichnete das als Temperament, das er von sei nem italienischen Vater geerbt habe. Außerdem schien Schnellschuß schon zu wis sen, daß wir erst um sechs Uhr erwartet wurden. „Willst du diesen ganzen Kram etwa mit runternehmen?" fragte ich bissig. „Ich brauche Blitzlicht, zwei Lampen und zwei Kameras - diesmal keine Schnell schießer. Und du wirst auch einen Apparat mitnehmen und Fotos machen. Der Blitz dazu, Filme..." „Ich faß keine Kamera an. Oder schreibst du auch über die Leute in deiner Bohr maschine?" Natürlich würde Tizelli nicht eine Zeile schreiben, schon der Gedanke daran war ihm unerträglich. Wie alle anderen in der Redaktion kannte ich seine Abneigung gegen jedes geschriebene Wort, die so weit ging, daß er sogar die eigenen Fotos nur widerwillig beschriftete. Ich startete und grinste vor mich hin, während Tizelli belei digt aus dem Fenster sah. „Ich zeig dir ein paar Handgriffe, es ist wirklich nicht schwer", begann er nach ei ner Weile. „Das weiß ich: nur rauf drücken." Er warf mir einen bösen Blick zu, schluckte die Worte dazu jedoch hinunter. „Aber versuchen könntest du es, auch wenn es nichts wird. Wie sieht es denn aus, wenn wir von der einen Bohrmaschinenbesatzung die Fotos und von der anderen nur den Text haben." Das hatte ich mir auch schon überlegt, denn aus Sicherheitsgründen durfte sich neben den beiden Bohrmeistern jeweils nur noch eine Person in dem Gerät aufhal ten. „Gut, und ich sage dir, was du notieren mußt. Wenigstens das Wichtigste, in Stichworten." „Kannst du das nicht hinterher fragen?" „Kannst du nicht hinterher fotografieren?" „Ist gut. Wir haben ja Zeit genug, glaube ich", Tizelli gab widerstrebend nach. „Sechs Stunden, wenn alles gut geht. Oder kannst du vielleicht gar nicht schrei ben?" „Idiot", sagte Tizelli. Jetzt fühlte ich mich besser. Ich schaute auf die Uhr: zwanzig Minuten nach fünf. Die Verabredung ließ sich gut einhalten. Langsam mußte ich mich wohl auf den Zehn-Kilometer-Abstieg einstellen. Wir gingen vom Parkplatz der Baustelle zum Verwaltungsgebäude, in dem die mei sten Fenster erleuchtet waren. Ich wußte, daß auf dieser Baustelle rund um die Uhr gearbeitet wurde, doch ob das auch in den vielen Büros der Fall war? 6
„Hier herrscht ja ein reges Nachtleben", sagte ich zu dem Mann vom Werkschutz, der uns führte. „Heute ist es ganz verrückt. Um drei Uhr muß irgendwas passiert sein; sie haben fast alle Ingenieure alarmiert." „Dann kommen wir ja gerade richtig", sagte Tizelli lebhaft. „Und was ist pas siert?" „Weiß ich nicht. Meist ist es ja irgendwo tief im Schacht. Aber wo?" Der Werk-, Schutzmann hob zweimal die Schultern. „Wenn es im Schacht ist, dann dürfen wir vielleicht gar nicht runter", sagte ich. „Was, Sie wollen runter?" Wir traten durch die Eingangstür in den großen, hellen Vorraum, und der Werkschutzmann sah uns neugierig an. „Ja, in zehn Kilometer Tiefe", verkündete Tizelli stolz. Der Mann wiegte bedächtig den Kopf. „Ganz schön mutig. Ich wünsch Ihnen je denfalls Glück auf." Auf dem Weg zum Chefbüro schwieg er. Zuerst reagierte niemand auf unser Klopfen. Dann schien es, als habe jemand ge rufen. Der Werkschutzmann öffnete, das Vorzimmer war leer. Durch die ange lehnte Tür zum nächsten Raum hörten wir erregte Stimmen. Von Betongranaten, Lavablasen und Vereisung war die Rede. Als wir eintraten, wurde es still. Die vier Männer, die vor einer großen Wandscheibe mit farbig erleuchteten Schacht-Detail karten standen, drehten sich um und sahen uns überrascht an. Hinter dem Schreib tisch saß die Sekretärin und hob den Hörer eines gerade summenden Telefons ab. „Da sind wir", sagte Tizelli forsch. „Es gibt doch keine Probleme — oder?" Chefbauleiter Berndt kannten wir schon von unseren früheren Besuchen. Er war ein Wuchtiger Mann mit Halbglatze und einem vollen, immer ernst wirkenden Ge sicht. Jetzt verzog er es spöttisch. „Das Oder trifft zu. Vor knapp drei Stunden sind in einem Pilotschacht Erdbewegungen und ein Anstieg der Temperatur registriert worden. In neuntausendneunhundertvierzig Metern Tiefe." Er sah uns an, als sei damit alles klar. „Heißt das, die Arbeit an der letzten Bohrstufe wird eingestellt?" fragte ich. Berndt zuckte mit den Achseln und legte den Kopf ein wenig schief. „Wir sind uns noch nicht endgültig klar darüber. Die letzte Schicht muß nicht unbedingt ge fahren werden, praktisch reichen auch neuntausendneunhundertvierundneunzig Meter statt der vorgesehenen zehntausend. Auf jeden Fall kann ich nicht verant worten, daß Sie den gefährdeten Abschnitt betreten." „Wieso, das ist doch unser Risiko", fuhr Tizelli auf. „Das heißt, wenn es über haupt eins ist. Oder setzen Sie ihre Bohrmeister einfach der Gefahr aus?" „Jede Arbeit dort unten bedeutet Gefahr", erwiderte Berndt ruhig. Er wandte sich an die anderen Männer, die uns nicht sehr freundlich musterten, und stellte uns na mentlich vor. „Das sind die Kollegen von der Presse, die heute eine Reportage von der letzten Schicht machen wollten", sagte er dann. „Das wollen wir immer noch", korrigierte ihn Tizelli. Berndt ging gar nicht darauf ein. „Hier, meinen Chefingenieur Jens Wagner ken nen Sie ja bereits. Das ist Gennadi Strelzow von den Energieschächten des mittle ren Urals, und das ist Roberto Venturelli, direkt vom Vesuv." Wir reichten den Männern die Hand. „Sie haben einen italienischen Namen", sagte Venturelli zu Schnellschuß. „Sind Sie Italiener?" „Nur halber. Mein Vater kam aus Udine, war Radrennfahrer - Dino Tizelli. Ich heiße auch Dino." Die beiden nickten sich freundlich zu, doch ehe sie weitere fami liäre Daten austauschen konnten, sprach Berndt weiter. 7
„Nun kennen wir uns also. Diese erfahrenen Kollegen sind seit knapp einem Jahr als Berater bei uns. Sie wissen ja, daß es in der Sowjetunion fünf bis zu neuntau send und in Italien zwei bis zu siebentausend Meter tiefe Energieschächte gibt. Wir überlegen gerade, ob wir die Bohrung endgültig einstellen." Strelzow nickte. „Jeder Meter bringt neue Erkenntnisse für spätere Bohrungen, aber im Moment ist es zu ... zweifelhaft?" Er suchte nach dem richtigen-Wort. „Zu riskant", half ihm Wagner. „Ja, ich meine, es ist zu riskant, für einige neue Erkenntnisse in Gefahr zu kom men. Und jede Bohrung ist anders." „Ich denke, Sie sind in der Sowjetunion schon in sechzehn Kilometer Tiefe vor gedrungen", sagte Tizelli. „Das ist doch ein schönes Stück tiefer." „Teufe", sagte Wagner. Als er Tizellis verständnislose Miene sah, fuhr er fort: „Es heißt Teufe. Und außerdem waren es Versuchsbohrungen, ohne Gefahr für Men schen." „Das war auf Kola, da hat man genug Überraschungen erlebt. Dort war die Tem peratur bei zehn Kilometer fast doppelt so hoch wie erwartet, und wo man BasaltUrgestein erwartet hatte, da gab es Granit und Gneis. Und dann waren da Wasser lösungen mit Mineralien, und alles in strömender Bewegung. Darum muß man in dieser Tiefe ..., äh, Teufe, auch mit ganz neuen Situationen rechnen." „Ist es denn so schlimm?" fragte ich. „Ich meine, ob es eine echte Gefahr gibt." „Gefährlich ist alles, wenn der Teufel seine Suppe kocht", sagte Venturelli. „Der Teufel?" Tizelli musterte den Italiener neugierig. „So sagen wir in Italien, wenn der Vulkan unruhig wird. Heiß wie die Hölle, wie Teufels Suppe." Berndt sah mich an. „Solche Erdbewegungen sind nicht ungewöhnlich. Wir ha ben von Sohle sieben bis in die jetzige Teufe genau achtunddreißigmal unerwartete Werte registriert. Zweimal folgten darauf Einbrüche - na, sie wissen ja Bescheid." Er blickte nachdenklich zur Sekretärin hinüber, die in ihrem Block blätterte. „Gibt es neue Informationen?" Die Frau schüttelte den Kopf. „Nein. Der Vortriebsingenieur hat nur bestätigt, daß die Arbeit normal weiterläuft. Auch die Verbindung zu den Bohrmeistern ist gut." Berndt wandte sich an uns. „Sie haben es gehört, es ist alles ruhig jetzt. Es kann auch weiter ruhig bleiben - aber es kann ebensogut etwas passieren. Früher muß ten wir weitermachen, um die Termine einzuhalten, heute brauchen wir das nicht mehr. Das ist der Unterschied. Während wir in Ruhe abwarten, wie die Erde re agiert, könnten wir die Schachtabsteifungen weiter hinunterführen." Er winkte uns an die Tafel. „Im Moment reichen sie bis in neuntausendneunhundertdrei Meter hinab. Das Heck der VSVM befindet sich achtundzwanzig Meter tiefer - und ge nau hier liegt der wunde Punkt. Der befestigte Schacht hält zwanzigmal mehr Druck aus als dieser Bereich." Berndt zeigte mit einem Stab auf einen der gelben Schächte, die wie Scheinwer ferstrahlen durch braune und rötliche Erdschichten drangen. Ganz unten befanden sich jeweils etwa fünfzig Zentimeter lange und vier Zentimeter dicke Projektile, die an Raumschiffe erinnerten. Dieser Eindruck wurde noch durch winzige, rotgelbe züngelnde Flammen am unteren Ende der Raketen verstärkt. „Unser Bild zeigt eine elektronische, maßstabgerechte Wiedergabe der beiden VSVM und der sie umgebenden Gesteinsstrukturen auf den letzten dreihundert Me tern." Als Berndt mein fragendes Gesicht sah, fügte er hinzu: „VSVM, das heißt Vollschnitt-Vortriebsmaschine, Jede ist sechzig Meter lang und vier Meter im 8
Durchmesser, hier maßstablich verkleinert auf sechzig zu vier Zentimeter." „Und die Flammen dort unten, sind das Laserstrahler?" Berndt nickte Wagner zu, und der erklärte, daß es sich um kombinierte Plasma Laser-Strahlgeräte handele, die sich buchstäblich durch das Gestein brannten. „Dann kann man ja nicht mehr von Bohren sprechen", sagte ich. „Sie können ruhig ,bohren' schreiben", erwiderte Wagner, „auch wenn sich die Vortriebsmethoden aufgrund der verschiedenen Gesteinsstrukturen verändern. Un sere Bohrgeräte reichen von Formen wie Löffel, Meißel, Rollen über Wasserstrah len mit zweitausend Atü bis zu Laser- und Plasmabrennern, und dieses sogar noch kombiniert." „Die Maschine sieht aus wie ein Raumschiff", stellte auch Tizelli fest. Er fotogra fierte eifrig. „Die VSVM ist auch wie ein Raumschiff konstruiert: völlig autonom, und die Be satzung wird von einem Kontrollzentrum wie bei einem Orbitalflug überwacht." Ich betrachtete die leuchtende Wand voller Interesse. Die kleinen flackernden Lichter unter den Bohrmaschinen erweckten wirklich den Eindruck von Triebwer ken. In jedem der zylindrischen Geräte erkannte ich jetzt auch zwei winzige Figu ren, die sich sogar zu bewegen schienen. „Sind das die Bohrmeister?" fragte ich. Berndt nickte. „Das ist natürlich nur eine schematische Darstellung, wir haben auch direkten Kontakt mit ihnen." Er ging an seinen Schreibtisch und drückte ei nige Tasten. Auf der gegenüberliegenden Wand belebten sich mehrere Bildschirme und aus farbig flimmernden Linien bildeten sich die Köofe und auch die Körper von vier Männern. Sie trugen hellblaue Kombinationen, ihre Gesichter glänzten vor 9
Schweiß. Auf weiteren Bildscheiben leuchteten Ziffern und Kurven, veränderten und ergänzten sich. „Das ist eine Überspielung aus dem Leitzentrum, von dort kon trollieren Ärzte ständig die körperliche Verfassung der Bohrmeister." „Und die Ingenieure den Vortrieb und die Arbeit der Geräte", ergänzte Wagner. „Sozusagen als doppelte Sicherung." „Sind das neue Geräte, ich meine, im Vergleich zu den Bohrmaschinen vor drei Jahren?" fragte ich ihn. „Verbesserte, sie sind absolute Weltspitze", sagte er stolz. Dann schränkte er ein: „Bisher gibt es auf der Welt ja nur ein paar Schächte bis zu einer Tiefe von zehntausend Metern, und die besitzen fast alle unterschiedliche geologische Eigen schaften. Doch unsere VSVM können unter den meisten Bedingungen eingesetzt werden: Sie halten einem Druck von achttausend Atmosphären stand, wiegen je weils einhundertachtundsechzig Tonnen und kommen bei normalen Verhältnissen - also etwa in Basalt oder Granit und zwischen einhundert bis zweihundert Grad Celsius Hitze — jede Stunde bis zu einhundertzehn Zentimeter voran." Er nannte mir noch weitere interessante Zahlen, und ich notierte eifrig. Für eine Reportage konnte man nie genug Informationen sammeln, auch wenn man sie später vielleicht nicht alle benötigte. Schnellschuß arbeitete ebenfalls, doch hatte ich das Gefühl, daß er vor allem den Italiener immer wieder auf seine Fotos bannte. „Aber jetzt wird doch weitergebohrt, wie ich sehe", sagte Tizelli. „Wir haben die Bohrmeister über die Situation informiert", sagte Berndt. „Sie wol len ihre Schicht zu Ende fahren." „Es wäre doch bei diesem Projekt die letzte für die vier Männer, stimmt's?" Tizelli sah den Chefbauleiter listig an. „Das stimmt." „Und um neun Uhr sollte nun die allerletzte Schicht beginnen. Glauben Sie, daß die Männer so dicht vor dem Ziel aufgeben?" „Das ist jetzt nicht die wichtigste Frage. Aber sie müssen ja jeden Moment eintref fen." Er sah fragend zu seiner Sekretärin hinüber, doch die schüttelte kaum merk lich den Kopf. „Wir werden ihnen jedenfalls die Entscheidung überlassen. Voraus gesetzt ...", er nickte Venturelli zu, „vorausgesetzt, der Teufel kocht seine Suppe nicht doch weiter." „Und was wäre dann?" fragte Tizelli „Dann würde ich anordnen, daß die Bohrung vorübergehend eingestellt wird." „Und das ließe sich ökonomisch vertreten?" „Ja. Wir würden die fünfundzwanzig Meter Schacht sichern, dann könnte es wei tergehen." „Achtundzwanzig Meter", sagte Tizelli. Berndt sah den Fotografen irritiert an, und Wagner mischte sich ein. „Es stimmt, doch die Schachtverkleidung ist nur fünfundzwanzig Meter lang, drei Meter müs sen als Toleranz bis zum Heck der Bohrmaschine bleiben. „Und wie lange würde es dauern, bis Sie die Schächte gesichert haben?" fragte ich. „Drei Schichten", sagte Wagner. „Also achtzehn Stunden. Morgen um diese Zeit könnten wir weitermachen, wenn alles einigermaßen ruhig bleibt." „Warum haben Sie denn überhaupt solch eine Lücke entstehen lassen?" fragte Ti zelli ärgerlich. Ich wunderte mich über seine fast störrische Beharrlichkeit. „Einige Schachtstellen mußten nachgearbeitet werden, weil sich die Wandstatik durch geotektonische Einflüsse veränderte. Die Bohrmaschinen konnten während dieser Zeit ihre Arbeit fortsetzen." 10
„Wie bitte?" Tizelli sah den Chefingenieur an, als habe er ihn in japanisch über den Ausbruch des Fudschijama informiert. „Die von der Maschine sonst ganz exakt ausgebohrten Schächte mit glatten Wän den sind durch Erdbewegungen etwas eingedrückt worden", übersetzte Berndt. „Und nun entschuldigen Sie uns bitte, wir müssen weiterarbeiten." Er deutete auf einige bequeme Ledersessel im Hintergrund des Raumes. Dann wandten die vier Männer sich wieder der Leuchtwand zu. Ich lauschte noch einen Moment ihren Worten, die hauptsächlich aus für mich unverständli chen Fachausdrücken bestanden. Wie Ärzte während der Visite, ging es mir durch den Kopf. Hier kannte ich allerdings die Diagnose: Die Arbeit vor Ort war jetzt ge fährlicher, als ich es mir ausgemalt hatte. Daß die heißen Erdmassen in dieser Tiefe auch die Bohrmaschine samt Inhalt zusammendrücken konnten, war eine unan genehme Vorstellung. Ich betrachtete die konzentrierten, schweißglänzenden Gesichter der Bohrmei ster auf den Bildschirmen und versuchte, mich in ihre Lage zu versetzen. Dachten sie überhaupt an die Gefahr? „Sag doch auch mal was", forderte Schnellschuß mich leise auf. „Oder willst du ohne Ergebnis zurückfahren?" „Jedenfalls werde ich die Bohrmeister nicht überreden, sich nur wegen unseres Ar tikels unnötig zu gefährden", gab ich ebenso leise zurück. „Dann kommen wir mor gen eben noch mal her." „Morgen, morgen", fauchte Tizelli ärgerlich. „Morgen nachmittag muß ich nach Tansania fliegen. Die große Viehfarm, die wir aufgebaut haben, wird eingeweiht. Acht Seiten Farbfotos." „Das würde ich mir auch nicht entgehen lassen. Vielleicht hast du sogar Zeit, im Indischen Ozean zu baden." „Und die Reportage hier?" Er zeigte mit dem Daumen in Richtung Fußboden. „Dann macht eben ein anderer die Fotos, Knut zum Beispiel." „Knut - du spinnst wohl. Lieber laß ich die Sache in Tansania sausen." Tizelli sah mich wütend an. Und da fiel mir wieder ein, daß er gegenüber Knut Deller eine fast krankhafte Abneigung hegte. Nicht nur weil er neben dem genau zwei Meter gro ßen Kollegen wie ein Schüler aussah, vor Jahren war Deller, allerdings aufgrund ei ner Intrige, auch noch statt Tizelli zu einer Reportage nach Tibet geschickt worden. Erstaunlicherweise hatte der sonst vor Arbeitseifer kaum übersprudelnde Deller von dort ausgezeichnete Bilder mitgebracht, und dieser Erfolg zog natürlich weitere attraktive Einsätze nach sich. Es war Tizelli sehr schwergefallen, seine ehemalige Spitzenposition zurückzugewinnen. „Nein, diese Sache mach ich!" sagte er ent schlossen. Nun war ich mir fast sicher, daß wir das Finale der Zehn-Kilometer-Bohrung vor Ort miterleben würden. Es sei denn, der italienische Vesuvteufel meldete sich wie der. Die vier Bohrmeister kamen gut gelaunt in den Raum. Zwei von ihnen waren höch stens fünfundzwanzig Jahre alt, die anderen beiden wohl Ende Vierzig. Sie begrüß ten den Chefbauleiter, die Ingenieure und nickten auch uns freundlich zu. Nur ei ner der beiden älteren Männer, ein hagerer und zäh wirkender Typ, nicht viel größer als Tizelli, sah sich mißtrauisch um. „Was ist denn passiert?" fragte er. Berndt erklärte ihm die Situation. „Wenn das alles ist, dann hätten wir die Arbeit ja schon hundertmal abbrechen müssen", sagte der Hagere. 11
Tizelli nickte ihm begeistert zu. „Wir müssen den Vortrieb nicht unbedingt unterbrechen", räumte Berndt ein. „Trotzdem würde ich vorschlagen, vierundzwanzig Stunden zu warten, um inzwi schen den Schacht zu sichern." „Und was wird mit den fünf Tagen Planvorsprung?" fragte einer der jüngeren. „Die Prämie dafür ist dann auch futsch, oder?" „Nur anteilmäßig, für diesen Tag", gab Berndt zu. „Das läßt sich eben nicht än dern." „Und wenn die Erde morgen wieder knurrt, dann ist der nächste Tag weg", sagte der zweite ältere Bohrmeister. „Wir haben nicht monatelang geackert, um dicht vor dem Ziel aufzugeben." „Richtig, das bißchen Risiko ist doch kein Grund, einfach auf schwerverdientes Geld zu verzichten", rief Tizelli. Er sprang auf und ging auf die Bohrmeister zu, die ihn neugierig musterten. „Dieser Mann und sein Kollege sind übrigens der zweite Grund, warum Sie einen Tag warten sollen", sagte Berndt mit sachlicher, fast gelangweilt wirkender Stimme. „Die angekündigten Reporter. Ihnen gegenüber kann ich das Risiko nicht verant worten." „Das sollen Sie auch nicht", ereiferte sich Tizelli. „Wir sind nicht mehr minderjäh rig und können für uns allein entscheiden." Berndts Gesicht blieb unbewegt, doch nun hob sich seine Stimme. „Und ich ent scheide, wer was in unseren Schächten macht." „Wenn wir allein arbeiten, gibt es doch keine Bedenken", vergewisserte sich der hagere Bohrmeister. „Bedenken schon ... Was soll ich Ihnen da noch sagen." „Eben." Der Hagere nickte seinen Kollegen zu. „Wir fahren ein." „Und wir kommen mit", sagte Tizelli. Er ergriff demonstrativ seine Fototaschen und forderte mich mit einer Kopfbewegung auf, ihm zu folgen. „Soll der ganze Aufwand umsonst gewesen sein ... Bedenken Sie, es ist die letzte Gelegenheit, Fo tos von den Männern da unten zu machen. Jahrelang haben sie Heldentaten voll bracht, haben der Gefahr ins Auge geblickt, geschuftet bei glühender Hitze, von Steinen umgeben - die Leser wollen doch wissen, wo diese Kerle arbeiten, wer diese Kerle sind, wie sie aussehen." Ihm fiel noch etwas ein. „Und die Leute sollen aucl\ wissen, was diese Männer denken, ob sie auch mal Angst haben. Das kann nur geschrieben werden, wenn man an Ort und Stelle dabei war." Reden konnte Tizelli, das mußte man ihm lassen. Die Bohrmeister, wohl niemals so direkt als Helden tituliert, lächelten verlegen und begannen, uns etwas wohlwol lender zu betrachten. „Also, von mir aus", sagte der Hagere. „Ich meine, von uns aus können die Kolle gen Reporter mitkommen." Berndt legte den Kopf schief und sah seine Ingenieure an. „So groß ist das Risiko nicht, denke ich", erklärte Venturelli. Mir kam es sogar vor, als zwinkere er Tizelli zu. Wagner schüttelte verneinend den Kopf, und Strelzow sagte: „Ich bin gegen die kleinste Gefahr, wenn sie nicht sein muß." „Ich auch", entschied Berndt. „Bis zur Sohle sieben können Sie mitfahren und Ihre Fotos machen. Und welche Meinung haben Sie dazu?" Er sah mich an. Ich hatte der Diskussion amüsiert und fast unbeteiligt zugehört. Mir fehlte ein fach die innere Einstellung, diese Reportage unbedingt machen zu wollen. Zum an deren traute ich mir einen annehmbaren Bericht auch zu, ohne an einem Ereignis 12
direkt beteiligt zu sein. Trotzdem sagte ich: „Jeder Text wird besser, wenn man eine Sache miterlebt. Und ohne echte, also richtige Fotos geht es erst recht nicht. Wir müssen also hinunter, soll der gesamte Aufwand im nachhinein nicht lächerlich wirken." Berndt wußte, was ich meinte. „Da Ihre Reportage genehmigt und empfohlen ist, muß ich den Anordnungen folgen, Da ich aber auch für Ihre Sicherheit verantwort lich bin, diese augenblicklich jedoch nicht garantieren kann, ordne ich hier eine kurzzeitige Arbeitseinstellung an." Einen Moment war es still in dem Raum. Dann holte der Hagere geräuschvoll Luft und stieß hervor: „Das darf doch nicht wahr sein!" Er warf mir einen bösen Blick zu, als sei nun ich der Alleinschuldige. „Und wir sind die Dummen, was?" „Moment." Tizelli hob die Arme, blickte kurz auf sein Handgelenk und fragte: „Wieviel Zeit haben wir noch?" „Eigentlich keine mehr", erwiderte Wagner. „Darf ich schnell mal telefonieren?" Ohne die Antwort abzuwarten, trat Tizelli an den Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Während er wählte, sagte er halb über die Schulter zu Berndt: „Wenn jene hohe Regierungsstelle, die unsere Reportage genehmigte, jetzt die Verantwortung für unsere Sicherheit trägt, könnten wir doch mit runterfahren.'' „Dann wäre es mir egal", sagte Berndt ärgerlich. Tizelli grinste, und dann wurden wir Zeuge, wie er mit unserem morgens immer schlechtgelaunten Chefredakteur diskutierte und ihn so weit brachte, daß er sofort den verantwortlichen Staatssekretär anrufen wollte. „Nun müssen wir aber", drängte Wagner. „Und die Genehmigung?" fragte Tizelli. „Wir haben auch unten Telefon", sagte Berndt. „Ich komme mit." Bis auf Venturelli und Strelzow machten wir uns gemeinsam auf den Weg in die Tiefe. Der Abstieg bis zur Sohle sieben dauerte länger als eine halbe Stunde. Berndt hatte sein Büro von allen Zwischenstationen angerufen, aber noch hatte sich kein Mitar beiter des Ministeriums gemeldet. Nach jedem Gespräch wurde seine Miene zufrie dener und Tizellis Gesichtsausdruck verbitterter. Auf Sohle vier, die mit ihren riesigen Aggregathallen, Arbeitsräumen, Depots und dem Bahnhof einer unterirdischen Stadt glich, mußten wir alle überflüssigen Sachen zurücklassen. Danach ging es in Fahrstühlen weiter. Niemand sprach, und je tiefer wir kamen, um so konzentrierter wirkten alle. Obwohl ich mehrmals die Be leuchtung musterte und keine Veränderung feststellte, schien das Licht der Lampen irgendwie schwächer zu werden. Trotz eines leichten Luftzuges hatte man ständig das Gefühl, immer in der Nähe eines unsichtbaren Backofens zu stehen. Ich wußte, daß die Gesteinstemperatur in dieser Tiefe einhundertsechzig Grad Celsius betrug. Alle Wände waren gut isoliert und von einem Kühlwassersystem durchzogen, doch die überall befestigten Thermometer zeigten zwischen sechsunddreißig und vierzig Grad an. Als wir nun die Sohle sieben erreichten, steuerte Berndt sofort auf den Kontroll posten zu. Das war ein kleines, neben den Fahrstühlen befindliches Büro mit vielen Meßgeräten, die von einem Ingenieur überwacht wurden. Darin befanden sich auch Telefon- und Fernsehverbindungen zur Leitzentrale. Wir sahen durch die Glasscheibe, wie er den Hörer abnahm, einige Worte sprach und dann wieder auf legte. Das dauerte nicht länger als bei seinen acht Gesprächen zuvor. Tizelli konnte 13
seine Enttäuschung nicht unterdrücken und stieß leise einige Worte hervor, die hauptsächlich aus Zischlauten bestanden. Mit undurchdringlicher Miene kam Berndt zurück und deutete auf eine Tür, hin ter der die vier Bohrmeister bereits verschwunden waren. „Das gilt auch für Sie, meine Herren Reporter." Ich sah ihn überrascht an, und Tizelli traten fast die Augen aus den Höhlen. „Wir dürfen also ...", sagte er. „Ihr Chefredakteur und der Staatssekretär halten persönlich die Hand über Sie und kommen für jeden Schaden auf, erklärte Berndt. „Na, mir kann's recht sein. Er will das sobald wie möglich selbst bestätigen, hat ihr Chefredakteur jedenfalls gesagt." Soweit man in Berndts Gesicht lesen konnte, schien er erleichtert. In mir stieg ein leiser Verdacht auf, der aber von einer plötzlich ansteigenden Spannung verdrängt wurde. Die Entscheidung war gefallen. Nach der ungünstigen Ausgangssituation heute früh hatte ich die Verwirklichung unseres reizvollen und abenteuerlichen Vorhabens kaum noch ernsthaft in Betracht gezogen. Jetzt war es plötzlich Tatsache: Wir sollten uns wirklich so dicht wie bisher nur wenige Men schen auf der Welt der Höllenglut des Erdkerns nähern. Sofort wurde mir heiß. Ich schaute auf das Thermometer, die Temperatur war nicht gestiegen. In den Umkleidekabinen zogen wir uns aus und duschten. Während die Bohr meister sich danach mit schnellen, sicheren Griffen die skaphanderartigen Kombi nationen überzögen, machte uns die Einkleidung große Mühe. Zwar fanden wir in dem Arsenal verschiedener Größen die für uns passenden, doch die flachen Ener gie- und Sauerstoffbehälter auf dem Rücken, die Gerätegürtel und das einer Gas maske ähnelnde Sauerstoffgerät mußten angepaßt und exakt befestigt werden. Das bereitete auch Berndt und Wagner einige Schwierigkeiten. Der Hagere war zuerst fertig. Anscheinend hatte er seinen Groll gegen uns überwunden, denn er half Ti zelli beim Ankleiden und fand sogar aufmunternde Worte für ihn. „Sie haben ja so viel mit der Salamanderhaut zu tun, daß ich inzwischen schon für sie fotografieren werde", sagte er. „Sie brauchen mir nur die richtigen Knöpfe zu zeigen." Es war klar, wen der Hagere in seine Maschine haben wollte. Tizelli reichte mir zwei Kameras. „Du weißt ja Bescheid." „Und hier dein Schreibblock, Kugelschreiber und Recorder", erwiderte ich. Schnellschuß verzog den Mund, nahm die Dinge ohne Kommentar entgegen. Während der Abfahrt zur Sohle acht gab sich Berndt aufgeräumt. Er fragte, ob wir in den engen Kabinen fotografieren wollten, ob uns das Familienleben der Bohrmeister nicht auch interessiere und ob wir nachher weitere technische Daten wissen wollten, er würde sie uns heraussuchen lasseh. Die Hitze machte uns immer mehr zu schaffen, so daß unser Gespräch schließlich versiegte. Beim Umstieg auf Sohle acht wurde es wieder kühler. Berndt hielt uns nochmals zurück und winkte mich ins Büro des Kontrollingenieurs. „Ich brauche die endgül tige Bestätigung", sagte er. Tizelli, der mir gefolgt war, sah ihn empört an. „Wollen Sie damit sagen, daß un ser Chefredakteur lügt?" Berndt wiegte unbestimmt den Köpf. „Ihr Chef kann jedenfalls nicht die Verant wortung hier unten für Sie übernehmen." Mit einigen Knopfdrücken stellte er die Verbindung zu seinem Büro her. „Was ist, Jooki, hat sich der Staatssekretär gemel det?" fragte er seine Sekretärin. „Nein, Chef. Er mußte zu einer Konferenz, ein Abteilungsleiter hat angerufen." Berndt wandte sich langsam zu uns um, sah Tizelli in die Augen und fragte miß trauisch ins Telefon: „Und wie heißt der?" 14
„Doktor Dochel, Referent für Energiefragen." „Kenne ich nicht. Hast du eine Aufzeichnung gemacht?" „Natürlich, Chef." „Überspiel sie mal!" Der dienshabende Ingenieur stellte die Verbindung her, ein Bildschirm flammte auf. Ein verhältnismäßig junger Mann mit Bart, seriöser Brille und Fliege erschien. Ich erkannte ihn sofort und hätte mich vor Schreck fast verschluckt. Es handelte sich um Dr. Dochel, das stimmte, doch dieser Dr. Dochel war in unserer Redaktion Leiter der wissenschaftlichen Abteilung. Nun saß er in würdevoller Haltung an sei nem Schreibtisch, hinter seinem Rücken ließen sich ein großer Schrank mit Bü chern und die Hälfte einer geologischen Karte erkennen. Ich wunderte mich, wo er sie so schnell aufgetrieben hatte. „Dann fahr mal ab, Jooki", sagte Berndt. Das Bild bewegte sich, und gleichzeitig drang der Ton zu uns im Auftrag des Staatssekretärs mit, daß die beiden Reporter Dino Tizelli und Max Holzer berech tigt sind, bei einem Einsatz der Bohrmeister dieselben zu begleiten und eine Repor tage von der Zehntausend-Meter-Bohrung vor Ort zu machen. Die Verantwortung dafür wird von uns getragen." Es folgte eine kleine Pause, in der unser Doktor noch strenger in die Kamera blickte und hinzusetzte: „Das ist dem Chefbauleiter Berndt sofort mitzuteilen." „Hm." Berndt starrte nachdenklich auf das Bild, und ich hatte den Eindruck, er war nicht zufrieden. „Sonst noch was, Jooki?" „Nein. Reicht das nicht, Chef? Soll ich zurückrufen?" Nach einem schnellen Blick auf die Uhr schüttelte Berndt den Kopf. „Danke, Jooki." Er schaltete ab und hielt uns die Hand hin. „Dann Glück auf, Kollegen." Tizelli hatte seinen Mund inzwischen wieder geschlossen. Er nickte Berndt zu, sagte jedoch nichts. Anscheinend hatte diese List sogar ihm die Sprache verschla gen. Dr. Dochel war sie jederzeit zuzutrauen, doch wie weit hatte unser etwas ängst licher, korrekter Chefredakteur seine Finger dabei mit im Spiel? Zu sechst fuhren wir weiter bis zur Sohle neun. Die Bohrmeister nutzten die Zeit zu einem Kurzlehrgang, in dem sie uns die Funktion der Kühlkombination erklär^ ten und zeigten, wozu die im Gürtel befindlichen Werkzeuge und Geräte dienten. Wir probierten alles durch, danach wurden wir wie bei einer Prüfung abgefragt. Das alles lenkte uns ab, bis sich ein zuerst schwacher und undefinierbarer Druck immer stärker auf die Brust legte. Ich durfte gar nicht daran denken, welche gewal tigen Erdmassen über uns hingen und von der Seite auf den Schacht drückten, der nicht einmal mit einem Nadelstich in einem Kürbis zu vergleichen war. Inzwischen waren die Temperaturen weiter gestiegen. Ich sah den roten Strich auf den Thermo metern der Sohle neun bei sechsundvierzig Grad stehen. Ab und zu begegneten uns Männer, die meisten von ihnen trugen nur eine kurze Hose. Ihre Körper zeigten kaum einen Schweißtropfen. „Das wäre mir jetzt auch lieber", sagte ich. „Bequemer ist es schon, aber verboten", erwiderte der stämmigere der beiden älte ren Bohrmeister. Er war etwas größer als der Hagere. Tizelli machte einige Fotos, und sofort kam einer der kaum bekleideten Männer heran. „Was soll denn das?" fragte er. „Wir sind Reporter, Sie kommen in die Illustrierte", sagte Tizelli. „Damit wir Arger kriegen, Mann." „Ich kann das Gesicht unscharf • machen oder Sie von hinten fotografieren", schlug Tizelli vor. „Und warum ist es verboten?" 15
„Sicherheitsbestimmungen", erwiderte der Mann kurz. „Das wäre ein herrlicher Gegensatz - oben achtzehn Grad minus und hier tropi sche Temperaturen. Männer mit Wintermänteln im Schnee und daneben halb nackte Körper." Bei seinen Worten fielen mir die Warterei im kalten Auto wieder ein und der kör nig rieselnde Schnee. Es war wie eine andere, kaum noch vorstellbare Welt, doch wurde mir sofort etwas wohler dabei. „Also gut, dann nur Fotos von hinten", sagte der Mann. „Was denken Sie denn, wenn die Kühlsysteme hier mal versagen und die Hitze reinbrodelt, wie wir dann flitzen müssen. Und wehe, es kommt raus, daß wir ohne Schutzanzüge rumgelaufen sind." „Sehen die Ingenieure das nicht?" fragte ich. Mein Bohrmeister griente. „Wenn hier mal einer von den Chefs runterkommt, er fahren wir das früh genug." Die nächsten fünfhundert Meter legten wir in drei Etappen zurück. Obwohl ich nicht mehr an all das Gestein über und neben uns denken wollte, spürte ich fast physisch diese Massen und das tiefe Loch unter uns, in das wir scheinbar endlos hineinfielen. Rund einhundertfünfzig Meter ging es jetzt von Zwischensohle zu Zwischensohle. Wenn der Fahrstuhl nun plötzlich versagte und abstürzte? Unzwei felhaft besaß er eine gute Sicherung, die das verhinderte, doch meine Phantasie ließ sich trotzdem nicht bremsen. Als Textmensch mußte man sich wohl auch einiges vorstellen können, um seine Gedanken und Gefühle auszudrücken. In diesem Mo ment beneidete ich Tizelli. Der hatte es gut, der war schwindelfrei. Ich hatte ihn schon auf Schornsteinen herumturnen sehen, die so hoch waren, daß vielen Men schen mulmig wurde, wenn sie nur hinaufblickten. Doch als ich ihn ansah, hatte ich den Eindruck, sogar ein himmelhoher Schornstein wäre ihm jetzt lieber gewesen. Trotz der Hitze war sein brünettes Gesicht blaß, er schluckte, seine Augäpfel rollten unruhig und drehten sich plötzlich nach oben. Der Hagere hatte das auch bemerkt. „Ist Ihnen nicht gut?" fragte er. Tizelli nickte unbestimmt. „Geht schon vorbei. Die Hitze!" „Das haben wir alle schon hundertmal durchgemacht", tröstete der Bohrmeister ihn. „Sie dürfen nicht daran denken, wo wir hier sind. Eine Made, die in einen Ap fel kriecht, macht sich auch keinen Kopf, wie sie wieder rauskommt." Schnellschuß stöhnte leise auf, wackelte mit dem Kopf und rutschte von der Bank. Wahrscheinlich hatte er etwas gegen Maden. Der Hagere und sein jüngerer Kollege hoben ihn vorsichtig hoch, klatschten ihm auf die Wangen. Einer holte aus dem im Fahrstuhl befindlichen Schrank einen Kühlbeutel und legte ihn auf Tizellis Stirn. Er schlug die Augen auf und krächzte: „So 'ne Scheiße." „Na, na", sagte der Hagere gutmütig. „Trinken Sie erst mal einen Schluck." Er setzte ihm eine Flasche an die Lippen. Die Aufgaben waren offensichtlich schon verteilt, denn der etwas größere Bohr meister blickte mich fest an. „Sie halten sich sehr gut, alle Achtung. Bisher ist noch jeder beim erstenmal schwach geworden. Wollen Sie auch einen Schluck?" Obwohl ich mich verhältnismäßig wohl fühlte, setzte ich die Flasche an. Das Zeug war kühl und brannte trotzdem. Wahrscheinlich Korn oder Wodka mit Zi trone. Plötzlich war mir, als lasse ein Bagger eine Tonne Sand auf mich herab und begrabe mich darunter. Ich merkte noch, wie ich mich krampfhaft gegen die Wand drückte und nach Luft schnappte, und dann waren wir auch schon an der Basis. Die Basis lag in neuntausendfünfhundert Metern Tiefe. Hier ging es sehr ge räuschvoll zu. Automatische Container rollten an die beiden Schächte und ver 16
schwanden in ihnen. Gleichzeitig tauchten andere aus der Tiefe auf, krochen zu dem zweiten Fahrstuhl und stellten sich wie gut gedrillte Soldaten in exakter Reihe neben der Tür auf. Wir konnten das Treiben ausgezeichnet überblicken, denn die beiden Schächte lagen nur knapp zweihundert Meter auseinander, und verbunden waren sie durch einen riesigen, mindestens fünf Meter hohen Saal. Mein Bohrmeister verabschiedete sich nun von dem Hageren, dessen Kollegen und Tizelli. „Wir müssen zum anderen Loch hinüber", erklärte er mir. Schon nach wenigen Schritten rann mir der Schweiß über den Körper, und meine Glieder kamen mir kraftlos und schwer vor wie nach einer schlaflos verbrachten schwülen Sommernacht. „Darf ich die Kühlung anstellen?" fragte ich. Der Bohrmeister hob unschlüssig die Schultern. „Das ist eigentlich noch keine Temperatur hier, erst siebenundvierzig Grad. Na ja, frischen Sie sich ein wenig auf!" Sofort kehrten meine Kräfte zurück, und ich konnte auch klarer denken. An scheinend vertrugen die anderen die Belastungen hier mühelos. Vor dem Schacht deutete der Bohrmeister auf die Container. „Das sind unsere Hunte, die bringen den Abraum hoch. Fassen Sie mal einen an." Ich berührte einen der langsam vorbeirollenden Container und zuckte zurück. Es war, als hätte ich eine heiße Kochplatte berührt. „Das Zeug hat immer noch über hundertachtzig Grad, und so gut isoliert sind die Dinger auch nicht", sagte er. In diesem Schacht erinnerte mich vieles an eine Baustelle auf der Erdoberfläche. 17
Rohrleitungen wanden sich bündelweise an Decken und Wänden entlang;, manche krochen in ihn hinein, begleitet von Kabeln in verschiedenen Farben. Über dem Schacht befand sich ein Stahlgestell mit Motoren, Ketten und Zahnrädern. Das, was sonst verkleidet und dem Auge verborgen blieb, ließ sich nun in allen Einzel heiten beobachten. Es war erstaunlich, wie simpel und doch stabil manche Dinge wirkten. So auch dieser Fahrstuhl, der nicht einmal den dritten Teil des Schachtes einnahm und an jeder Seite vier Zahnräder besaß, die in Zahnschienen liefen. Der Fahrstuhl hing also nicht an einem Seil, wie ich mir das dachte, sondern lief auto nom. Wir stiegen ein. Hier hatten immerhin noch sechs Männer mit Ausrüstung be quem Platz. „Du kannst den Anzug wieder abstellen", sagte der Bohrmeister zur mir. „Es ist besser, sonst gewöhnt man sich nicht an die Temperaturen." Ich schaltete die Küh lung ab, und er fuhr fort: „Übrigens, ich heiße Gerd, Gerd Hobler. Das ist Sven Rudke." Sie reichten mir die Hand, und auch ich stellte mich vor, als ob wir uns soeben kennengelernt hätten. „Also auf du und du. Hier unten zählen keine Titel und Be rufe, da sind wir alle nur einfache Kumpel." Mir war es recht, und ich hätte mich auch gern wie ein echter Kumpel gefühlt. Doch die Hitze zehrte schon jetzt an meiner Kraft und begann langsam durch die Poren bis auf meine Knochen zu dringen. Am schlimmsten war es auf der letzten Zwischensohle in neuntausendachthun dertfünfzig Metern. Hier sah es noch chaotischer aus, was die herumstehenden Ge räte, Werkzeuge, das Material und die dazwischen hantierenden Figuren betraf. Ich sage absichtlich Figuren, denn viele von ihnen waren Roboter. Sie wurden vor al lem beim Ausbau der Räume und für die Isolierung eingesetzt. Obwohl uns fahr bar* Kühlaggregate und vereiste Zwischenwände abschirmten, ließ sich die Hitze kaum ertragen. Manchmal glaubte ich, die heiße Luft nicht mehr atmen zu können. Der Schweiß quoll aus meinem Körper, als würde dieser zu Dörrfleisch getrocknet. Alle hier tätigen Menschen trugen eine Kühlkombination, und ich war sicher, daß sie diese auch eingeschaltet hatten. Ich beobachtete Hobler und Rudke, deren Ge sichter jetzt ebenfalls eine Schicht feiner Schweißperlen bedeckte. Trotzdem machten sie noch lange nicht den Eindruck, als wären sie mit ihren Kräften am Ende. Die jahrelange Gewöhnung an diese Temperaturen war wie ein Hochlei stungstraining gewesen. „Na, dann werden wir uns mal ein bißchen abkühlen", sagte Hobler endlich. ;,Jetzt kommt der warme Abschnitt." Dieser Fahrstuhl war wieder ganz anders konstruiert. Er bestand aus einer Art Stahlrohrkasten mit kombinierter Zahnrad- und Seilbefestigung und hing mit sei nen durchsichtigen Seitenwänden wie ein zerbrechliches Terrarium in der Röhre. Allerdings konnte ich zuerst kaum etwas erkennen. Rohrleitungen, Schienen und Kabel, ab und zu ein Container wurden vom Fahrstuhllicht erfaßt, huschten sche menhaft vorbei und bleiben in der Dunkelheit zurück. Ich hatte inzwischen jedes Gefühl für Zeit und Tiefe verloren. Mein Körper mußte mit all seinen Kräften gegen die ungewohnten Belastungen kämpfen, da blieb keine Muße, sich Gedanken über irgendwelche Gefahren zu machen. Nur hin und wieder schien sich eine heiße, körperlich spürbare Masse auf meine Brust zu legen und Herz und Lunge einzuschnüren. Das eingeschaltete Kühlsystem sorgte dafür, daß solche Augenblicke nicht allzulange anhielten. Der Fahrstuhl fuhr langsamer. „Jetzt müssen wir den Helm schließen", sagte Ho 18
bler. „Wir kommen zur Schachtkolonne." Er prüfte sorgfältig, ob mein Helm richtig saß, und zeigte auf den Mikrofonschalter. „Alles in Ordnung?" Seine Stimme war dicht an meinem Ohr. „Alles klar", sagte ich. Er nickte mir aufmunternd durch die Sichtscheibe zu. Dann verschwamm sein Gesicht, mir wurde schwindlig, und ich fühlte mich wie von einem riesigen Deck bett umschlossen. Es gab Menschen, die schon in einem normalen Fahrstuhl Platz angst überkommt, denen mußte ähnlich zumute sein. „Es geht gleich vorbei." Hoblers Stimme klang hohl an meinem Ohr. „Wir haben auch immer damit zu tun. Solltest du größere Schwierigkeiten bekommen, machen wir den Helm kurz auf." Die Stimme tat mir gut. „Es geht schon, denke ich." Inzwischen war die Temperatur trotz der Kühlung gestiegen. Mit einem kleinen Ruck blieb der Fahrstuhl stehen. Jetzt wurde es auch im Schacht hell. Wir schweb ten weiter, an kleinen Kränen, Platten, Seilen und an Männern in dicken, unförmig wirkenden Skaphandern vorüber. Einige winkten uns zu. „Diese Jungs bewundere ich", sagte Rudke. „Bei den Temperaturen an der Schachtisolierung arbeiten, mein lieber Mann." „Können wir hier halten?" fragte ich. „Ja, warum?" fragte Hobler zurück. „Ich würde gern ein paar Fotos machen." Der Fahrstuhl stoppte neben zwei Männern, die vor der Wand hingen. Es war kurz unterhalb der Trennstelle zwischen dem bereits isolierten Teil und dem wie er starrtes Wasser glänzenden Gestein. Ich nahm die Kamera, stellte die Entfernung ein und knipste. „Moment", sagte Hobler. „Hier, durch den Havarieausstieg macht es sich besser." Er klappte eine Fensterluke herab, so daß ich mich hinausbeugen konnte. Die Männer sahen mir durch ihre Helmfenster zuerst verwundert, dann belustigt zu. Ich fotografierte bis zum letzten Bild und hatte schließlich kaum noch die Kraft, den Männern zuzuwinken. Wir fuhren weiter, kurz darauf hielt der Fahrstuhl. „Vorwärts, Kollegen, ihr müßt zurück", sagte Hobler. „Wir warten schon, ihr lahmen Enten", klang eine andere Stimme im Kopfhörer. Hobler griente und deutete nach unten. „Die haben es jetzt geschafft. Na, und in sechs Stunden sind wir auch fertig." Er entriegelte die Bodenplatte und klappte sie zurück. Behende kletterte er in die Tiefe. Rudke nickte mir zu, und ich folgte ihm. Diese Röhre hatte kaum achtzig Zentimeter Durchmesser. Nach wenigen Metern kam ich in einen hellerleuchteten Raum, in dem Hobler und ein Bohrmeister der anderen Schicht standen. Ich nickte ihm zu, nahm aber erst die andere Kamera und machte einige Fotos von den bei den, die sich umarmten. „Macht's gut, Jungs. Glück auf für die letzte Schicht." Der Bohrmeister schüttelte mir herzlich die Hand und umarmte auch Rudke, der gerade aus der Röhre geklet tert war. „Eigenartig, wenn man nicht mehr runter braucht", sagte er und klomm schnell zum Fahrstuhl hoch. Ich stieg mit Hobler weiter hinab, während Rudke in der oberen Sektion blieb. Vier Stockwerke tiefer saß der zweite Mann vor einem Schaltpult, das dem Cockpit eines Flugzeuges ähnelte. „Dann beeil dich mal", sagte Hobler. „Gab's was Wichtiges?" Der Mann trug ebenfalls eine Kombination, doch hing ihm der aus Weichplast bestehende Helm wie ein luftleerer Fußball auf dem Rücken. Wir öffneten die Helme ebenfalls. 19
„In der letzten halben Stunde hat sich nichts verändert", sagte der Mann. „Die er reichte Schicht hier ist überraschend instabil, jedenfalls deuten die Werte der Pilot sonde auf Massebewegungen hin." „Wir werden ja sehen", sagte Hobler nüchtern. Dann waren wir allein. Allein in fast zehntausend Metern Tiefe und umschlossen von heißen und, wie ich eben gehört hatte, nicht einmal stabilen Gesteinsmassen. Ich mußte es wohl glauben, obgleich ich mich im Moment nach der Enge des Fahr stuhls und bei wieder geöffneter Kombination erleichtert fühlte. Hier war es hell, die Wände wirkten solide und sicher, und die Luft kam mir frisch und kühl vor. Ein Blick auf das Thermometer verriet mir die Temperatur: achtundvierzig Grad. Auch das Wohlbefinden ist wahrscheinlich nur eine Sache der Relation. Ich hatte Zeit, mich in Ruhe umzusehen, denn Hobler begann mit seiner Arbeit. Er
überprüfte die Kontrollgeräte, verglich die Kurven und Ziffern eines Bildschirms
mit einer Funktionskarte und blieb längere Zeit vor den kleinen Sichtschirmen
. eines Schrankes stehen, von dem das Wort „Medium" leuchtete. Mir war klar, daß
es sich hier nicht um das Orakel von Delphi handelte, sondern um die Werte des
uns umgebenden Mediums Erde. Und die schienen alles andere als Hoblers Wohl
wollen zu erregen. Er schaltete die Gegensprechanlage ein und fragte Rudke, ob bei
ihm alles in Ordnung sei. Von seinen beiden Vorgängern ließ er sich bestätigen, daß
sie mit dem Fahrstuhl sicher die Zwischensohle hundertfünfzig Meter über uns er
reicht hatten, dann nahm er Verbindung mit der zweiten VSVM auf. „Na, wie fühlst du dich?", hörte ich Tizellis Stimme. Entweder klang sie aufgrund der Störungen so bedrückt, oder Schnellschuß war angeschlagen. Hobler deutete auf das Mikrofon, und ich sprach hinein. „Mir geht's gut, nur der unterste Schachtabschnitt war höllisch." Einen Moment knisterten die Geräusche der Tiefe aus dem Lautsprecher, dann meldete sich Tizelli mit belegter Stimme: „Fand ich auch. Und vergiß nicht, Fotos zu machen!" „Ich weiß, nur raufdrücken. Und du schreibst alles auf, ja?" Nach kurzer Zeit meldete sich ein anderer. „Unserem Fotografen geht es nicht gut, er hat bisher noch keine Bilder machen können. Aber wir werden ihn schon wieder hinbekommen." Tizelli und keine Bilder machen - das sah bedenklich aus. Doch wurde er auch medizinisch überwacht, und schließlich gab es jetzt viel dringendere Probleme. „Habt ihr die Daten der Pilotsonde?" Hobler wandte sich an das Leitzentrum. „Die Temperaturen sind um weitere vierzig Grad gestiegen." „Aber sie bleiben doch konstant im Moment." Das Jaaa klang sehr langgezogen. „Allerdings sind noch tektonische Störungen hinzugekommen. Das Epizentrum liegt Kurs Südost, zweiunddreißig Grad für VSVM eins und achthundertfünfzig Meter entfernt. Die Erschütterungswellen brei ten sich mit Stärke neun horizontal in mehreren Richtungen aus." „Auch auf uns zu?" „Ja, auf beide VSVM, wobei Ihre Maschine dem Zentrum einhundertvierzig Meter näher liegt." „Das habe ich schon gesehen", brummte Hobler. . Plötzlich schrumpfte der Raum wieder zusammen und wurde das, was er in . Wirklichkeit war: ein zerbrechlicher kleiner Hohlkörper in einer von unvorstellba rem Druck zusammengepreßten Welt. Das Summen der Aggregate und ein gleich mäßiges Rauschen erweckten den Schein einer gewissen Sicherheit, doch dann 20
zuckte ich zusammen. Es scharrte und polterte, als kratze ein Steinbrocken gegen die Außenhaut. Klopfte der Teufel schon an? Meine Augen weiteten sich unwillkürlich, und ich starrte Hobler an. Er schüttelte den Kopf. „Das sind Transportgeräusche, wenn manchmal größere Brocken durch die Rohre gesaugt werden." Er kletterte in die nächste Sektion hinab und winkte mir, ihm zu folgen. „Hier ist der Schaltraum, er und die drei Sektionen darüber sind die sogenannte Lebensabteilung", erklärte er. „Im Havariefall kann dieser Teil der Maschine abge trennt werden und sich zur Not auch allein zurückbohren. Jedenfalls, wenn der Schacht nicht völlig eingedrückt und die Energiezufuhr nicht unterbrochen ist. Sonst schaffen wir höchstens zehn Meter. Trotzdem - leben können wir sogar sechs Monate im oberen Teil der Maschine, so lange reichen die Lebensmittel und der Sauerstoffvorrat. Das haben wir der Raumforschung zu verdanken. Und Energie für die Lebenserhaltungssysteme gibt es in dieser Tiefe unbegrenzt, denn wir kön nen die hohen Temperaturen durch eine kleine Kraftwerksanlage ähnlich wie oben in elektrische Energie umwandeln und zur Kühlung verwenden." Er lächelte mir beruhigend zu und machte mit der Hand eine ausholende Bewe gung. „Hier beginnt nun der Werkteil unserer Wühlmaus. Hinter dieser Verklei dung befinden sich die Abraummaschinen. Das Gestein wird mit der erhitzten Luft nach oben gepreßt und auf der nächsten Sohle in die Container geladen." Er klet terte ein Stockwerk tiefer. „Das sind die Kühlaggregate, und den Schluß bildet ganz unten die Bohrmaschine." 21
Ich war ein wenig enttäuscht. Glatte Wände ohne irgendwelche Instrumente um gaben uns. Hier blieb ebenso wie in den anderen Sektionen nur ein Raum von knapp zweieinhalb Metern Durchmesser frei. Allerdings fehlte unten die Luke, denn weiter ging es nicht mehr. Hobler schob eine der Verkleidungen zurück, und sofort steigerte sich der ge dämpfte Lärm zu einem Kreischen und Brummen, als würden in einer Tischlerei sämtliche Maschinen benutzt. Er deutete auf kleine verschiedenfarbene Platten, die mit Schrauben befestigt waren und über denen sich jeweils ein magisches Auge und Fenster mit immer neu aufleuchtenden Ziffern befanden. „Von hier aus lassen sich die Bohrgeräte auswechseln", erklärte er. „Oder man kann sie manuell nachstellen." „Kommt das oft vor?" fragte ich. „Jetzt wird das Gestein zerstrahlt, normalerweise halten die Düsen etwa drei Schichten. Die Bohrköpfe mußten wir fast in jeder Schicht auswechseln. Defekte gibt es öfter mal." Er blickte nachdenklich auf den Boden. „Viel schlimmer ist es, wenn der Steinfresser kaputtgeht. Das kostet Zeit." Durch die Maschine ging ein Ruck, wir schienen uns zu heben. Der kleine Raum war von einem Knirschen erfüllt, als brächen die Wände zusammen. Erschrocken musterte ich den Boden. „Das war unser Steinfresser", sagte Hobler. Er lauschte aufmerksam, und ich hatte den Eindruck, als sei er nicht ganz zufrieden. „Eigentlich ist es ein kombinierter Steinbrecher und Bagger; er zerkleinert den Abraum und befördert ihn zu den Ab saugrohren. Dazu stemmt sich die Maschine einen halben Meter hoch." Nach kurzer Zeit gab es abermals einen Ruck, diesmal in anderer Richtung. Gleichzeitig schrillte eine Klingel hinter der Verkleidung. Hobler nahm die Wand platte ab, nachdem er die andere wieder befestigt hatte. „Wenn man vom Teufel spricht", sagte er. „Die erste Düse ist hinüber." Ich dachte an einen anderen Teufel und hoffte, der würde uns in Ruhe lassen. Während Hobler eine Deckplatte löste, über der das magische Auge erloschen war, fotografierte ich ihn. „Das sind die Kanäle für den Düsenwechsel", erklärte er.. „Insgesamt gibt es sech zig davon." Wieder rumpelte es, und Hobler hielt lauschend in seiner Arbeit inne. Dann be eilte er sich. „Geh schon hoch, ich komme sofort." Im Schaltraum hörte ich Rudkes Stimme. „Gerd, was ist los? Melde dich." Ich wunderte mich, daß er noch in der obersten Sektion war, und wurde gleich zeitig unruhig. Irgend etwas schien nicht zu stimmen. Kurz darauf kam Hobler in hohem Tempo durch die Bodenluke geklettert, wie ein Matrose bei Alarm. Schnell überblickte er das Steuerpult, drückte einige Tasten und fragte: „Wie sind die Druckwerte bei euch?" „Zwanzig über normal", antwortete die Stimme des Hageren. „Der Druck kommt aus Richtung Epizentrum." Rudke war herabgeklettert und hörte zu. „Bei uns liegt der Druck in Heckhöhe und noch darüber", fuhr Hobler fort. „Ei genartigerweise steigt das Bohrtempo." „Deshalb hört es sich also an wie damals bei Einbruch auf acht-zwei", sagte Rudke. „Verdammter Mist." „Unke hier nicht rum", sagte Hobler ruhig. „Stimmt das Vortriebstempo: fünf Meter fünfzig je Stunde?" Diesmal war es eine Stimme aus dem Leitzentrum, und sie gab sich Mühe, sachlich zu klingen. 22
Der Bohrmeister starrte konzentriert auf das Steuerpult. „Fünf fünfzig - das gibt's doch nicht", sagte Rudke fassungslos. „Das ist ja wie Lehmboden." „Es stimmt, fünf sechzig sogar. Ich schalte den Vortrieb aus." „Einverstanden, Vortrieb ausschalten", kam die Bestätigung. „Sofort Lotsenboh rung ansetzen." „Und wie sieht's bei euch in der Zwei aus?" fragte Hobler. „Temperaturanstieg um dreißig, Druck sechzig über normal, langsam steigend, Tempo drei zwanzig." Dazwischen hört ich einige Zahlen und undeutliche Sätze, als wenn die Ingenieure im Leitzentrum diskutierten. Dann kam die Anordnung: „An VSVM zwei: Vortrieb ebenfalls einstellen. Zum Notausstieg bereitmachen." „Was heißt das, was ist denn los?" Plötzlich klang eine schrille Stimme durch un seren Schaltraum. „Ruhe, Reporter, ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Haben wir schon hundertmal mitgemacht." Das war der Hagere, und seine Worte galten Tizelli. Anscheinend hatte der-^die Nerven verloren. „Ich will raus, ich will raus", schrie Tizelli. Ich hörte leises Fluchen, Stöhnen, als wenn zwei Männer miteinander rangen, dann war die Verbindung unterbro chen. „Jetzt nicht die Nerven verlieren, schön ruhig", sagte Rudke zu mir. Er hob be schwörend die Hände, doch ich hatte den Eindruck, als wolle er sich selbst erst ein mal beruhigen. Trotz der bedrohlichen Situation griente ich Hobler zu, was ihn aber nicht aufzu heitern schien. Bis auf ein leises Summen herrschte plötzlich eine gefährliche Stille. Hobler neigte lauschend den Kopf und drehte sich dann den Instrumenten zu. Mir kam es mit einemmal so vor, als dringe die Glut der Erde schon durch die isolierten Wände der Maschine bis in meine Kombination. Mir wurde so heiß, als fresse sich Feuer durch meine Haut und rinne wie flüssiges Blei durch tausend kleine Adern in meine Brust. Das Licht, die Hitze, der enge Raum, die ungewohnte Ruhe, alles wirkte plötzlich so bedrohlich, daß langsam und völlig unkontrolliert eine wilde Angst in mir aufstieg. Es war ein Gefühl, als versinke unsere Stahlrakete in einem glühenden Brei und werde gleichzeitig zusammengequetscht. „Aber wie kommt denn das?" fragte Rudke. „Keine Ahnung. Und dann hier." „Die Pilotsonde hätte das doch feststellen müssen." „Hat sie auch. Aber wer sollte denn wissen, was das bedeutet." Die Worte drangen wie durch Watte zu mir. Obwohl sie meine bösen Ahnungen noch bestätigten, gab mir der Klang der Stimmen wieder Kraft. Ich war nicht allein, ich mußte mich zusammennehmen. „Und die Bodenwerte?" Rudke zeigte anklagend auf das Steuerpult. „Das ist ja wie heiße Butter." Hobler zuckte nervös die Schultern. „Das begreife ich auch nicht. Bei dem Druck. Und die Verbindung zur Pilotsonde ist jetzt ganz abgebrochen. Vielleicht hilft die Lotsensonde uns weiter." Er machte sich am Steuerpult zu schaffen. Rudke und ich beobachteten ihn schweigend. Da hatten sich die beiden mehrere tausend Meter durch den Erdmantel gewühlt und sicherlich manch gefährliche Situation überstanden. Und nun schien ihnen die letzte Schicht zum Verhängnis zu werden. Das gibt's doch nur im Film, dachte ich, das kann doch nicht wahr sein. Aber sehr beruhigen konnte mich der Gedanke nicht. 23
„Ich glaub es nicht - zehntausend Meter", Rudke stöhnte auf. Er drehte sich zu mir um und schüttelte störrisch den Kopf. „Wir sinken ein. Bei dem Bodendruck. Von allein." „Hier Leitzentrum, Wagner", die Stimme des Chefingenieurs klang durch den Raum. „An VSVM eins: Sichtverbindung einschalten und sofort Seitenanker aus fahren. Bereitmachen zum Ausstieg." „Wir haben jetzt genau zehntausend Meter erreicht, aber wir sinken weiter", sagte Rudke aufgeregt. „Ich weiß. Was ist mit der Lotsenbohrung?" „Wir bekommen keine Werte", sagte Hobler. „Ich seh mal nach!" Er kletterte durch die Luke nach unten. Kaum war er verschwunden, rief Rudke: „Bleib hier, Gerd!" Wagner befahl: „Besatzung VSVM eins sofort aussteigen!" „Das kann doch nicht stimmen - nein, da schwankt ja alles ..." Rudkes Stimme klang immer höher und schriller. Dann schrie er: „Ger*d, komm hoch! Sofort, hörst du, Gerd!" Irgend etwas schurrte an der Außenwand der Bohrmaschine entlang. In diesem Moment erschien Hobler. Er kletterte aus der Luke, und seine schütte ren hellblonden Haare klebten ihm dunkel am Kopf, als hätte er sie soeben aus dem Wasser gezogen. Das Gesicht leuchtete rot und war mit großen Schweißtrop fen bedeckt. Er hatte die Augen weit aufgerissen und schien uns nicht zu sehen. Wie unter Schock, dachte ich. Er ging zum Steuerpult und sagte mit ganz normaler Stimme: „Wir müssen die Lebenssektion abtrennen." „Trennen Sie ab ...", bestätigte Wagner. Weiter kam er nicht. Zuerst dachte ich, der Seitenanker verursache die Geräu sche. Es klang, als ächze eine uralte Stahlbrücke unter der Last einer ständig wach senden Autolawine. Das Quietschen steigerte sich. Dann folgte eine Art Seufzen und Knarren, das man sich auf einem sturmgepeitschten Segelschiff vorstellen konnte. Während Hobler unbeirrt am Pult hantierte, lauschte Rudke mit erstarrter Miene. Ich beobachtete die beiden und wurde von wilden Vermutungen erfaßt. Was das auch alles bedeuten mochte, eins stand für mich fest: Was jetzt dort drau ßen geschah, was sich mit unheimlicher Gewalt und tödlichem Druck gegen die Stahlwände der Bohrmaschine preßte, war ebenso überraschend und neu für die beiden wie für mich. Doch das war alles nur Vorspiel. Jetzt erst brachen die tausend Teufel richtig los. Sie warfen sich mit Getöse und Gepolter gegen unser Gefährt, zischten und kreischten wie unzählige Dampfventile und drangen mit solcher Wucht in die Oh ren, daß der ganze Körper wie von innen her erschüttert wurde. Ich hielt mich an der Leiter fest, Rudke und Hobler lagen halb über dem Steuerpult und hielten da bei die Augen wie gebannt auf die Instrumente gerichtet. Ich weiß nicht, wie lange alles dauerte, vielleicht fünf, vielleicht zehn Minuten, und ich weiß auch nicht, ob uns nur die Geräusche wie schwere Wellen überrollten und schüttelten oder ob die mächtige Maschine wirklich wie ein kleines Fischer boot vom Sturm hin und her geworfen wurde. Das hat Tizelli davon, das schadet ihm gar nichts, dachte ich mit müder Schaden freude, als alles vorbei war. Ein alberner Gedanke, zumal ich nicht einmal wußte, ob der Fotograf ähnliches erlebte. Doch zu einer anderen Reaktion war ich nicht fä hig. Ich verspürte keine Todesangst und keinen Schmerz, keine Erleichterung und keine Hitze. Ich war nur völlig erschöpft. Es mußte ja so kommen; mit Tizelli pas sierte immer etwas. „Mach die Kombination zu", sagte Hobler mit heiserer Stimme. „Es sind über 24
achtzig Grad." Er zerrte sich den Helm über den Kopf und gab Rudke einen Stoß. Dann drehte er sich um und half mir. „Wie fühlst du dich?" Jetzt erst spürte ich das Feuer, das auf meiner Haut brannte und wie glühende Lava in mich hineinfloß. „Uns geht's jetzt wohl allen nicht sehr gut", sagte ich. „Richtig", erwiderte Hobler. „Marian, das ist unser Kumpel in der Zwei, würde jetzt sagen: Haben wir alles schon hundertmal erlebt. Also, kein Grund zur Besorg nis." Er wandte sich an Rudke. „Ist die Verbindung unterbrochen?" „Nur die Bildleitung", sagte der junge Bohrmeister. Er arbeitete mit hastigen, doch sicheren Handgriffen am Kommunikationsgerät. „Also ganz ehrlich: Unsere Situation ist ziemlich ernst", sagte Hobler. Er legte mir die Hand auf die Schulter und sah mich durch das Sichtfenster an. „Wir sitzen schön in der Tinte." „In der Suppe", erwiderte ich. „In des Teufels Suppe sitzen wir." Ich kam von die sem Bild nicht lös. So bedrohlich unsere Lage jetzt auch wirkte, der Vergleich mit der Hölle nahm ihr einiges von der gefährlichen Wirklichkeit. „Das kann man laut sagen, das ist sogar noch besser." Er lachte leise. „Du hast dich gut gehalten, wirklich, sehr gut. Unsere Kutsche steht jetzt, das ist wichtig. Hoch kommen wir schon." Daran zweifelte ich nicht. Wahrscheinlich wurde meine Zuversicht auch dadurch gestärkt, daß ich nicht wußte, was eigentlich passiert war und wie es um die Bohr maschine und über ihr aussah. Plötzlich hörte ich Wagners Stimme wieder im Kopfhörer, sie klang aufgeregt und war von knisternden Nebengeräuschen beglei tet. „VSVM eins, meldet euch. Was ist los? Hört ihr mich?" Rudke nickte seinem Kollegen zu. „Uns geht's gut", sagte Hobler. „Die Lebens sektion ist fest verankert bei zehntausendvier Metern, die Maschinensektion liegt mindestens dreißig Meter tiefer, das heißt, die Verbindung zu ihr riß dort ab." „Sie leben, alles soweit in Ordnung?" fragte Wagner erneut. „Ja, auch unser Kollege Reporter. Ich glaube, der ist sogar der ruhigste von uns." Er hüstelte nervös. „Was ist im Schacht passiert?" Es dauerte einige Sekunden, als müsse Wagner sich die Antwort erst überle gen. „Dicht über dem Heck Ihrer Maschine gibt es einen Einbruch, er ist jetzt etwa achtzehn Meter stark. Die Havariekolonne hat schon mit der Arbeit begonnen." Ich sah unwillkürlich zur Decke hoch, und sofort wurde mir elend. Das Gefühl kam so plötzlich, daß es mir den Atem nahm. Ich lehnte mich gegen die Leiter und umklammerte den Handlauf. „Wenn nichts weiter passiert, halten wir es schon einige Zeit aus", sagte Hobler. „Die Innentemperatur steht jetzt konstant bei einundsechzig Grad, die Außentem peratur beträgt nach unseren Messungen vierhundertvierzig Grad." „Wir müssen auf eine transparente Schicht gestoßen sein, wie auf einen Treib sandsumpf in der Wüste. Es ist unerklärlich. Was meldet die Lotsensonde?" „Die Verbindung ist seit einundzwanzig Minuten unterbrochen." Ich hatte jedes Wort verstanden. Demnach mußte diese unterirdische Erdbewe gung mindestens eine Viertelstunde gedauert haben. Und wir hatten alles lebend überstanden. Der Nebel vor meinen Augen lichtete sich, gab Hobler und Rudke langsam frei. Beide hatte von meinem Schwächeanfall nichts bemerkt. „Die Meßergebnisse der Lotsensonde sind hier gespeichert, jedenfalls, solange sie noch übermittelte", sagte Hobler. „Vorher hatte die Pilotsonde ja schon einen Tem peraturanstieg registriert, doch erscheint das direkt harmlos im Vergleich zu den neuen Werten: Vier Meter vor dem Bug waren es vorhin fünfhundertzehn Grad, vierzig Meter tiefer siebenhundertsechsunddreißig. Dann fiel die Sonde innerhalb 25
von zwanzig Sekunden fast zehn Meter, danach riß die Verbindung ab." „Darum", krächzte Rudke. „Eine Lavahöhle." „Das ist unmöglich, eruptives Magma gibt es nicht", sagte Wagner. „Und was ist es dann? War denn jemand schon so tief unten wie wir und hat sich davon überzeugt?" schrie Rudke zurück. „Alle Untersuchungen haben bestätigt, daß erst unter dem Erdmantel in frühe stens zwanzigtausend Metern damit zu, rechnen ist. Magma gibt es nur in der Nähe von Vulkanen, vielleicht auch im Eger-Rift, aber nicht hier, Hunderte Kilometer da von entfernt ..." „Was ist es dann?" wiederholte Rudke. „Es kann nicht sein, aber es ist etwas. Aber was es ist, das weiß keiner. Holen Sie doch mal Ihre Experten, wozu sind die denn da?" „Es handelt sich um eine poröse, instabile Masse, die in Gneis oder Granitschich ten eingeschlossen ist", sagte jemand. Nur mit Mühe konnte ich die durch Störun gen verzerrte Stimme Strelzows erkennen. „In solch eine Kammer sind Sie wahr scheinlich eingedrungen." „Und die hohen Temperaturen?" fragte Hobler. Wieder verstrich eine endlose Zeit. „Wir haben eine ähnliche Situation nicht er lebt, es gibt keine Erfahrungen. Wir müssen alles erst untersuchen." Auch Venturelli meldete sich. „In Italien sind wir auf Magmahöhlen gestoßen, doch war dann alles flüssig, und die Temperaturen lagen weit über eintausend Grad Celsius." „Keiner weiß also genau Bescheid", stellte Hobler fest. „Nein, in zehntausend Metern ist vieles möglich. Ausschließen können wir nur, daß es sich um eine Magmahöhle oder Lava-Ader handelt. Und einen Erdölhori zont können wir auch nicht erreicht haben, dagegen sprechen die Tiefe und die Temperaturen. Sie sind jetzt nicht mehr in Gefahr, Sie stehen stabil", fügte Berndt fast beschwörend hinzu. „Die Bohrmaschine ist solchen Belastungen gewachsen. Ihnen passiert nichts." „Aber wie ist das überhaupt möglich, hier mitten in Europa?" Rudke flüsterte fast, und es hörte sich so an, als spreche er mit sich selbst. „Und das am letzten Tag, so eine Scheiße", schrie er plötzlich auf. „Hätten wir nur auf Berndt gehört." „Hör auf zu jammern, das konnte keiner voraussehen." „Warum mußten wir überhaupt so tief gehen?" „Mann, damit auch hier unten alles erforscht wird", fuhr Hobler ihn an. „Eines Tages werden wir noch tiefer bohren müssen, um Energie und Rohstoffe zu bekom men. Ein Risiko ist immer dabei, und wenn du zu feige bist, Sven, hättest du oben bleiben müssen." Die beiden standen sich sprungbereit gegenüber, als wollten sie aufeinander los stürzen. Ich konnte es dem jungen Bohrmeister nachfühlen, in dem die Furcht je den vernünftigen Gedanken erstickte. Unvermittelt fiel er in sich zusammen. Es sah aus, als weiche die Luft aus seiner Kombination und nur ein Restdruck bewahre den faltig gewordenen, fast leer wirkenden Anzug davor, völlig am Boden zu zer fließen. Hobler sprang auf Rudke zu und drückte ihn an sich. „Nicht schlappma chen jetzt, hörst du, Sven. Das geht gleich vorbei." Er drehte den Kopf zu mir. „Hilf doch mal!" Aber ich konnte mich nicht rühren. Ich hing wie festgeklebt an der Treppe und wußte, daß ich sofort umfallen würde, wenn ich das Geländer losließ. Hobler sah noch einmal her, sagte aber nichts. „Was ist los? Ist was passiert? Bitte sprechen!" 26
„Rudke fühlt sich nicht gut", antwortete Hobler dem Ingenieur. „Eine kleine Schwäche, ist nicht so schlimm." „Und der Reporter?" Das war Berndts Stimme. Sie klang stark und tief im Kopf hörer und gab mir unwillkürlich Sicherheit. „Reporter sind auch nur Menschen, sie haben Angst, aber sie machen sich deshalb nicht gleich in die Hosen", sagte ich. „Sie sind gut, Mann, Sie gefallen mir", dröhnte Berndts Stimme, und ich hatte den Eindruck, neben seiner Erleichterung klinge auch ein wenig Begeisterung darin. „Wenn Sie wieder oben sind, dann stoßen wir erst einmal an." „Was macht mein Kollege auf der Zwei?" „Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, das heißt, Ihr Fotograf ist ein we nig lädiert - die Nerven. Jedenfalls sind alle drei aus der Maschine raus. Der Schachteinbruch kam dort erst später, nicht halb so schlimm wie bei euch." „Und bei uns?" fragte ich. Rudke hatte sich aufgerichtet und sah Hobler an. Der nickte ihm aufmunternd zu und schaute dann zu mir. Es war ein Moment, in dem wir drei das gleiche fühlten. Alles in uns spannte sich wie bei den Passagieren eines Flugzeuges, das zu einer Bauchlandung ansetzt. Ich merkte, wie mein linker Mundwinkel zuckte. Nicht die Angst zerstört den Menschen, es ist die fehlende innere Kraft, sie zu besiegen. „Was ist los?" flüsterte Rudke. „Denkt er vielleicht, wir drehen durch?" Da meldete sich Berndt. Seine tiefe Stimme dröhnte beruhigend. Noch ehe er den ersten Satz beendet hatte, wußte ich, daß wir es schaffen würden. „Die Ret 27
tungsmannschaft ist schon in Aktion. Das eingebrochene Zeug ist gute dreihundert Grad heiß und porös wie Bimsstein. Also keine Probleme." Ich hörte, wie Hobler und Rudke aufatmeten. Die Luft in meiner Kombination wurde schlagartig frischer, die Lampen leuchteten heller, und die Geräusche dran gen wieder klar an mein Ohr. Das kann doch nicht stimmen, sagte mein Verstand, aber in solchen Situationen führt der Körper wahrscheinlich sein eigenes Leben. „Habt ihr mich gehört?" fragte Berndt unruhig. „Alles klar", erwiderte Hobler. „Wie lange braucht ihr etwa?" „Ich denke, höchstens zwanzig Stunden." Zwanzig Stunden. Die sachliche Antwort erschien mir genauso unwirklich wie zuvor der Erdsturm. Alles spielte sich außerhalb unserer stählernen Maschine ab, unbeeinflußbar von uns und ohne daß sich in unserer Kabine etwas sichtbar ver ändert hätte. Wir wußten, daß wir hier eingeschlossen waren wie Fliegen unter einem übergestülpten Bierglas und ohne Chance, allein aus diesen gewaltigen Mas sen herauszukommen. Zwanzig Stunden waren wenig, wenn man kurz zuvor noch damit gerechnet hatte, von dem ungeheuren Druck zermalmt zu werden. Und doch begann ich schon zu überlegen, wie ich es in diesem überhitzten Gefängnis, einge zwängt in die Kombination und auf engstem Raum mit Hobler und Rudke, aushal ten sollte. . „Dann schaffen wir es ja fast bis zum Schichtende", sagte Rudke. Er lachte ein we nig hysterisch auf. „Nur vierzehn Stunden mehr als sonst. Ich glaube, ich spinne." „Noch sind wir nicht oben", sagte Hobler. „Denk jetzt nicht an die Stunden, denk nur daran, daß wir überhaupt hier rauskommen. Sollen wir von uns aus etwas un ternehmen, Chef?" setzte er laut hinzu. „Nein, auf keinen Fall." Das war Wagners Stimme. „Wir sind zufrieden, daß Ihr Gerät fixiert ist. Bekanntlich wissen wir noch nicht, was sich abgespielt hat. Das muß alles noch genau untersucht werden, und das kann Wochen oder sogar Mo nate dauern." Ich glaube, Wagner war von dieser Aussicht begeistert, denn er fuhr eifrig fort: „Es gibt bisher keine Analogien zu diesem unterirdischen ..., ich möchte mal sagen, Sumpf. Wir werden ohne Zweifel viele neue, überraschende wissen schaftliche Erkenntnisse gewinnen." „Meine Erkenntnisse sind schon befriedigt", brummte Hobler. Wagner ging nicht darauf ein. „Haben Sie noch irgendwelche Daten aus der Ma schinensektion?" Hobler las die Werte vor. Soviel ich mitbekam, riß die Verbindung ab, als die Maschinensektion fünf Meter von uns entfernt war. So weit reichten wohl die Ka bel. Wo dieser rund einhundert Tonnen schwere Teil der Bohrrakete nun steckte, ließ sich nicht feststellen. Die erst seit acht Jahren eingesetzten Erdpeilstrahlen drangen kaum zwanzig Meter durch das Gestein, und innerhalb dieser Entfernung ließ sich nichts ausmachen. Unwillkürlich sah ich den mächtigen Bohrkörper unter unseren Füßen wegsinken und in eine rotflüssige Masse tauchen, sah, wie er von ihr förmlich aufgesogen, weichgeglüht wurde und sich schließlich auflöste. Und wir dazwischen als kleine, zischend zerspringende Blasen, die in der Höllenglut spur los vergingen. Oder konnte das immer noch Wirklichkeit werden? Ich riß mich mit Gewalt von solchen Vorstellungen los und nahm mir vor, in mei nem Bericht darauf zurückzukommen. Das war dann alles andere als Hochstapelei, denn nicht einmal Wagner oder Strelzow wußten, was sich in dieser Tiefe wirklich abspielte. Rudke mußten ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen sein, denn er fragte plötzlich: „Sinken wir wirklich nicht mehr?" 28
Er beugte sich über das Steuerpult, und auch Hobler betrachtete die Instrumente. „Zehntausendfünf Meter. Ich glaube ..., waren es vorhin nicht zehntausendvier?" „Bevor wir den Seitenanker ausgefahren haben", sagte ich. „Ein bißchen wird die Maschine wohl nachgesackt sein." Die beiden sahen mich zweifelnd an. Rudke räusperte sich. „Weißt du, was ein Meter bedeutet? Dafür brauchen wir sonst eine Stunde. Und das trotz Anker." Sie starrten wieder auf den Tiefenmesser und rührten sich nicht. Eine spannungs volle Stille entstand. Es war der Moment, in dem wir unsere Situation richtig begrif fen und in dem sich entschied, wie wir sie verkrafteten. Behielt jeder seine Nerven in Gewalt, konnten wir die zwanzig Stunden gut überstehen. Mein Blick fiel auf die Kamera. Ich nahm den Apparat und begann zu fotografieren. Zuerst schienen die beiden irritiert, dann lächelte Hobler. Auch Rudke bewegte sich und öffnete schließlich sogar den Helm. Irgendwie schien meine Tätigkeit sie zu beruhigen. Vielleicht weil man bei wirklicher Gefahr andere Dinge im Kopf hat, als Fotos zu machen. „Wir stehen wirklich fest", sagte Hobler nach einiger Zeit.
„Es sieht so aus Und was nun?" fragte Rudke. Er machte jetzt einen recht gefaß
ten Eindruck. „Gibt es irgendwelche Probleme?" erklang Berndts Stimme. _^ „Wir überwachen euch weiter und melden uns nur noch, wenn wir neue Informa tionen für euch haben. Natürlich könnt ihr jederzeit zurückrufen." „Habt ihr unsere Frauen informiert?" fragte Hobler. Nach einem Blick auf mich fügte er hinzu: „Und die vom Reporter auch?" Berndt hüstelte. „Natürlich - aber die Familie des Reporters ... Wir haben seine Redaktion benachrichtigt." Ich mußte grinsen. „Dann ist ja alles in Ordnung, damit wissen meine Frau und meine Familie schon Bescheid." Hobler begriff zuerst. „Du bist gar nicht verheiratet?" „Bei meinem Beruf. Da finde mal erst eine Frau, die mitmacht." „Was sollen wir denn erst sagen", erwiderte Rudke empört. „Du siehst ja, wie ge fährlich wir leben." „Also ehrlich, ich finde, das hier ist ein ziemlich ruhiger Job. Jetzt können wir zwanzig Stunden schlafen und bekommen trotzdem unser volles Gehalt." Und dann erzählte ich ihnen einige Erlebnisse mit Tizelli, über die aufregende, hektische und manchmal sogar gefährliche Zusammenarbeit mit ihm. Natürlich übertrieb ich ein wenig, aber stimmte es nicht, daß mit Schnellschuß immer etwas passierte? Je denfalls war das Leben mit ihm sehr interessant - wenigstens im nachhinein. Und so spürte ich schon etwas Vorfreude bei dem Gedanken, später über dieses Ereignis in zehntausend Metern Tiefe zu berichten. Vorausgesetzt, wir erlebten keine unan genehme Überraschung mehr. Stunden waren vergangen. Hobler und Rudke hatten nach meinen Geschichten über Tizelli von ihren Familien, von ihrem Leben, ihren Wünschen und Hobbys ge sprochen. Die drohende Gefahr hatte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entste hen lassen und uns einander nähergebracht. Sie erzählten mir Dinge aus ihrem Le * ben, die ich unter normalen Umständen wohl nie erfahren hätte. Wir waren voller Zuversicht. Aber erst als wir eine Wachordnung aufstellten und versuchten zu schlafen, normalisierte sich unsere Situation etwas. Es rückte der Zeitpunkt heran, zu dem wir befreit werden sollten. Zu hören war nicht das leiseste Geräusch, und bis auf ein kurzes, unerklärliches Knirschen blie 29
ben wir weiter vom Schweigen der Erdmasseri umschlossen. Ein schleppender, von minutenlangen Pausen unterbrochener Dialog mit der Leitstelle hatte begonnen. Die Auskünfte waren sachlich und voller Zuversicht, doch jeder von uns spürte eine unangenehm kribbelnde Nervosität in sich aufsteigen. Neunzehn Stunden. Wir glaubten an die zwanzig Stunden wie an den Flugplan für Satellitenstarts. Dann war plötzlich die Verbindung unterbrochen. Alle Aggre gate unserer Maschine funktionierten, doch es drang kein Wort von der Leitstelle zu uns. „Vielleicht ein Kabelbruch", vermutete ich. „Aus welchem Grund denn?" sagte Hobler. „Zehntausendsechs Meter", rief Rudke und zeigte auf den Tiefenmesser. Er schluckte, hatte sich jedoch gut in Gewalt. „Wieder ein Meter mehr. Das Kabel ist gerissen." In die drohende Stille hinein klang ein leises Scharren. Wir legten die Köpfe zur Seite und lauschten. Es kam von oben. Rudke kletterte zur Luke hoch und lauschte nach oben. „Sie kommen, sie sind schon da", flüsterte er. Das Geräusch drang deutlicher zu uns. Jeder hielt den Atem an. Mein Herz be gann vor Freude zu klopfen, doch ich zwang mich ebenso wie die beiden anderen zur Ruhe. Wir wagten nicht, einander in die Augen zu sehen, als könnte dadurch al les in Frage gestellt werden. Erst als es gegen das Heck hämmerte, schrien wir vor Freude auf. Wir umarmten uns, dann klopfte Rudke wie wild oben gegen die Decke. Nach einem Moment 30
Ruhe wurden die Klopfzeichen erwidert. Der Rettungstrupp war da. Ich sah auf die Uhr. Neunzehn Stunden und vierundzwanzig Minuten waren vergangen. Auf Berndt konnte man sich wirklich verlassen. Was nun folgte, verlief erstaunlich sachlich und ganz unheroisch. Nur als der er ste Mann des Rettungstrupps zu uns herabkletterte, wollte Hobler dessen Hand gar nicht loslassen. Er klopfte ihm schweigend immer wieder auf die Schulter. Ich halte nicht viel von Männerküsserei, doch diesem kleinen, verschwitzten Kerl hätte ich am liebsten das Sichtfenster mit Küssen bedeckt. Er trieb uns zur Eile an. Also "klet terten wir schnell durch die knapp einen Meter weite Stahlröhre dem durchsichti gen Fahrstuhl entgegen. Er erwartete uns scheinbar so unberührt, wie wir ihn im Schacht verlassen hatten. Ich mußte an Berndts Worte denken; der ungesicherte Abschnitt war wirklich ein neuralgischer Punkt und wäre uns fast zum Verhängnis geworden. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, als sich der Fahrstuhl an den schon wieder vor der Wand hängenden Skaphandermännern vorbei in Bewegung setzte, der rettenden Erdoberfläche entgegen. Auf Sohle sieben erwarteten uns Berndt und Wagner. Der Chefbauleiter schüttelte nachsichtig den Kopf und be grüßte mich so: „Sie machen mir ja schöne Sachen, Reporter." Ich dachte einen Moment an den Schwindel mit unserem Dr. Dochel. Aber was sollte das jetzt. Wir waren heil und gesund aus der Tiefe zurück, alles andere zählte nicht mehr. Vier Stunden später empfing Berndt uns in seinem Büro. An der einen Wand stand eine Tafel mit Speisen, die sich auf jeder Hochzeit hätte sehen lassen können. Die beiden Bohrmeister der VSVM 2 waren ebenfalls anwesend, dazu die Sekretä rin, Venturelli und Strelzow. Von den vier mir unbekannten Gästen stellte Berndt mir zwei vor. Es waren ein Mitarbeiter im Staatssekretariat für Energiewirtschaft und der Staatssekretär im Ministerium für Bergbau. Nun wird er wohl doch noch von Dr. Dochel sprechen, dachte ich und beschloß, ihm zuvorzukommen. „Dann kennen Sie ja unseren Chefredakteur", wandte ich mich an den älteren, der mir zugänglicher schien. Er hatte ein rundes, rosiges Gesicht unter vollem, seriös wirkendem grauem Haar. Er nickte mir freundlich zu. „Er wird Ihnen dankbar sein für Ihre Unterstützung bei der Vorbereitung dieser Reportage. Sie wird bestimmt sensationell. Reporter bei einem Schachteinbruch direkt dabei. Das gab's noch nie." „Aber riskant war es jedenfalls", sagte er. „Zum Glück ist nichts passiert. Trotz dem will man an höchster Stelle Ihren Chefredakteur und Sie an einem der näch sten Tage unbedingt sprechen." Berndt griente vor sich hin, und auch der Staatssekretär beobachtete mich. „Und worum geht es?" fragte ich. Der Mitarbeiter des Energieministeriums räusperte sich. „Es geht um einige grundsätzliche Probleme der Energiegewinnung, um das Projekt , Weltraumener gie'." Ich sah ratlos von einem zum anderen. „Erst tief in die Erde, dann hoch in den Kosmos. Ich verstehe nicht ..." Der jüngere fuhr fort: „Das ist dann natürlich Sache unseres Ministeriums. Sie haben sich hier sehr tapfer gehalten, deshalb möchte der Minister Ihnen den Vor schlag unterbreiten, eine Reportage von der Energiestation im Weltraum zu ma chen. Sozusagen als Anerkennung. Und viel gefährlicher ist die Sache auch nicht." Berndt zog mich zur Tafel und reichte mir ein Glas. „Stoßen wir erst mal auf das letzte Unternehmen an", sagte er. Ich trank das Glas in einem Zug leer. Das hatte ich nötig. 31
„So ist es nun mal", fuhr Berndt fort. „Wäre unsere Sache schiefgegangen, würde der Minister Ihnen oder wenigstens Ihrem Chefredakteur etwas ganz anderes er zählen. Nun haben Sie sich gleich ein zweites Abenteuer eingehandelt." „Was macht eigentlich Tizelli, unser Fotograf?" fragte ich. Er fiel mir erst jetzt ein. „Er hat einen Schock erlitten, zwei, drei Tage Krankenhaus, dann hat er es über standen." „Aber seine Filme, wir brauchen das Material", sagte ich. „Mindestens acht Sei ten, mit Farbe." „Ach ja, wir haben sie in Verwahrung genommen." Berndt winkte seiner Sekretä rin. „Jooki, du hast doch die Sachen von dem Fotografen, bring sie bitte her!" Nach wenigen Sekunden kam Jooki mit einer kleinen Papiertüte zurück und gab sie mir. „Ich hab mich ein wenig um ihn gekümmert und ihn ins Krankenhaus be gleitet", sagte sie. „Er hat sich ziemlich schnell erholt, das sieht man auch daran, daß er an die Filme gedacht hat." Inzwischen hatte ich die Tüte geöffnet und drei Filme gefunden. „Ist das alles?" „Ja, er sagte mir, Sie sollten Ihre hinzutun." Was sollte ich dazu sagen. Ich widmete mich den ausgezeichneten Getränken, der Appetit zum Essen war mir vergangen. Trotz der Dramatik der letzten Schicht im Aggregat I endete alles noch ausge sprochen gemütlich im Kreise der Bohrmeister. Natürlich wird sich das in unserer Illustrierten etwas anders lesen, das ist klar. Nur als mir der Chefredakteur am an deren Tag vorschlug, in zwei Ausgaben hintereinander jeweils acht Seiten mit vie len Bildern zu bringen, wehrte ich mich dagegen. / „Wir müssen doch erst einmal die Fotos auswerten", sagte ich. „Dort unten, bei den Lichtverhältnissen und der Hektik." „Ach, da können Sie sich ganz auf Tizelli verlassen", erklärte der Chefredakteur. Ich wollte Tizelli nicht in die Pfanne hauen, deshalb sagte ich nur: „Mir wäre es aber lieber, wenn Schnellschuß die Bildgeschichte-in die Hand nimmt. Er muß doch bald aus dem Krankenhaus entlassen werden." „Wieso Krankenhaus?" Der Chefredakteur starrte mich an. „Tizelli ist gestern wie vorgesehen nach Tansania geflogen." Ich mußte mich setzen. „Nach Tansania. Aha." „Also hör mal, Max, du bist sicherlich noch ein bißchen durcheinander." Ich be kam kaum mit, daß mich der Chefredakteur zum erstenmal duzte. Und dann tat er etwas, was er wohl selten bei einem seiner Reporter gemacht hatte: Er klopfte mir freundschaftlich auf die Schulter und holte einen Kognak. „Diese Strapazen, die wirken noch nach — ich kann dich verstehen", fuhr er nach sichtig fort. „Jeder hat eben nicht Tizellis gute Nerven."
Ein junger Mensch in seiner Entwicklung - heißblütig und lebensdurstig, kritisch und widersprüchlich, stets suchend nach Gerechtigkeit - wird lebendig in dem Ro man von
Walter Baumert
Schau auf die Erde Die Jugend des Friedrich Engels Unbekanntes von den frühen Stationen eines großen Lebens gibt diesem Buch seine faszinierende Wirkung. 2. Auflage • 664 Seiten • Ganzleinen! 3 , - M
Verlag Neues Leben Berlin