Illustrationen
von
Klaus Vonderwerth
1. Auflage 1982
© DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN - DDR 1982
Lizenz-Nr. 304-270/...
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Illustrationen
von
Klaus Vonderwerth
1. Auflage 1982
© DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN - DDR 1982
Lizenz-Nr. 304-270/73/82-(20)
Gesamtherstellung: Karl -Marx-Werk Pößneck V 15/30
LSV 7501
Für Leser von 12 Jahren an
Bestell-Nr. 631 651 0
DDR 5,80 M
oder:
Wie Kittsburgh
zu einem Affen kam
Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte. Die Mülltonne war kakelbunt angemalt und stand auf dem Dach des Hauses. Pinky hatte sie gefunden. Nun ja, nicht rich tig gefunden, aber auch nicht richtig gestohlen. Sie lag eines Morgens mitten auf der Straße. Pinky stellte sie erst einmal auf den Bürgersteig. Nicht, daß er besonders ordentlich war, aber er liebte Autos, und der Gedanke, daß eines zu schnell um die Ecke biegen und mit der Mülltonne zusammenstoßen könnte, gefiel ihm gar nicht. Als die Mülltonne am späten Nachmittag immer noch auf dem Bürgersteig herumstand, rollte er sie auf den Hof und stellte sie zwischen das Gerumpel, das dort überall herumlag. Er wartete zwei Tage, dann schleppte er sie auf das Dach, schrubbte sie aus, bemalte sie und erklärte sie zu seinem Thron. Da hockte er nun, sechs Stockwerke über der Stadt, an einen Schornstein gelehnt, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und träumte seinen Lieblingstraum: Ganz Kittsburgh war im Centralpark zusammengelaufen, die Kapelle spielte einen Tusch, der Bürgermeister hob die Hand, ein Raunen lief durch die Menge, das Tuch fiel und gab das neue Denkmal frei. Und da stand er, Pinky, in Marmor auf einem Sockel, an dem ge schrieben stand: „Die Stadt Kittsburgh ihrem großen Sohn“. An dieser Stelle wechselte Pinkys Traum von Mal zu Mal. Einmal wurde ihm ein Denkmal gesetzt, weil er ein berühmter Jazztrompeter geworden war, dann ein Astronaut, dann wieder ein Erfinder ..., am liebsten aber träumte Pinky, er wäre der berühmteste Detektiv der USA; daher auch sein Spitzname:
nach dem großen Pinkerton, der im vorigen Jahrhundert die weltberühmte Detektivagentur gegründet hatte. Von der Straße gellte Monsters Pfiff. Pinky schob den Kopf über die Dachbrüstung. Monster fuchtelte aufgeregt mit den Armen und gab das Zeichen: Supersuper! Pinky sprang so schnell er konnte die rostigen Stufen der Feuerleiter an der Au ßenwand des alten Backsteinhauses hinunter. „Ein Zirkus, ein Zirkus!“ Monster gestikulierte aufgeregt mit den Armen. Sie liefen durch den Centralpark, dann den Wa shington-Boulevard hinunter, hätten beinahe einen Polizisten umgerannt, der mit weit aufgerissenem Mund gähnte, als gäbe es nichts Langweiligeres, als am Washington-Boulevard mit sei nen vielen Geschäften Streife zu gehen. Dann liefen sie durch die 53. Straße, und noch nie war sie ihnen so lang vorgekom men wie heute. Endlich erreichten sie die Festwiese. Die Zir kuswagen standen im Halbkreis, wie eine Wagenburg in einem Indianerfilm, und in ihrer Mitte lagen bereits die Bahnen des Zeltes; gerade wurden die Zeltmasten abgeladen. Ein kleiner Wanderzirkus! Für Pinky und Monster aber war es wie ein Wunder aus einer anderen Welt: kein Fernsehen, kein Kintopp, wo man nie wußte, war es nun Schein oder Wirk lichkeit, hier gab es richtige Löwen, Pferde, zwei Elefanten und — Affen. Pinky und Monster liebten Tiere. Die beiden trieben sich oft in dem kleinen Gehege herum, das sich hochtrabend „Kittsburgh-Zoo“ nannte, aber nur ein paar Käfige mit Vögeln, ein halbes Dutzend Pfauen, Präriehunde, zwei Elche und einen alten Bisonbullen beherbergte. Zugegeben, nicht gerade präch tig, aber für zwei zwölfjährige Jungen, die in den dunklen Zim mern von „Potters Kinderheim“ lebten, war es ein Paradies. Und kostenlos! Im Zirkus hingegen wollte man schon für den billigsten Steh platz 50 Cent. Woher nehmen? Ihnen fiel nicht einmal ein, wo sie es hätten stehlen können. Und verdienen? Seit es so viele Arbeitslose in Kittsburgh gab, nahmen die Erwachsenen den Jungen sogar die kleinen Gelegenheitsarbeiten als Auto wäscher oder Zeitungsausträger weg. Auch auf der Festwiese
standen ein paar Dutzend Männer und hofften, daß sie viel leicht einen Dollar verdienen könnten. Doch die Leute vom Zir kus schienen keine Hilfe zu brauchen. Sie sahen ein Mädchen, das zwischen den Wagen mit einem halben Dutzend Bällen jonglierte. „Du bist doch bestimmt vom Zirkus?“ erkundigte sich Pinky. „Bin ich.“ Das Mädchen sah die beiden nicht an, es hatte nur Augen für seine Bälle. „Trittst du auch auf?“ wollte Monster wissen. „Klar. Jeden Nachmittag und jeden Abend.“ „Mit den Bällen, was? Das kannst du auch prima!“ „Ihr solltet mich mal sehen, wenn ich das auf dem Elefanten mache.“ „Auf 'nem richtigen Elefanten?“ rief Pinky. „Mensch, bist du doof! Denkst du, wir haben welche aus Pappe?“ „Wir würden uns das gerne mal ansehen“, sagte Monster, „es gibt da nur ein Problem.“ Das Mädchen ließ einen Ball nach dem anderen in seine Arme fallen, dann musterte es die beiden von Kopf bis Fuß. „Ihr habt kein Geld?“ „So ist es“, sagte Monster. „Wir sind aus 'nem Waisenhaus.“ Das Mädchen überlegte. „Ich will mal sehen, was ich für euch tun kann“, sagte es. „Seid morgen um halb vier am Eingang und fragt nach mir. Ich bin Cindy.“ „Machen wir!“ riefen Pinky und Monster wie aus einem Mund. Sie lungerten noch bis zum Einbruch der Dunkelheit am Zirkusgelände herum und sahen zu, wie das Zelt aufgebaut und der Eingang geschmückt wurde. Dann flammten lange bunte Lichterketten auf, und Musik dröhnte aus den Lautsprechern zur Stadt hinüber. Weil sie zehn Minuten zu spät ins Heim kamen, schickte Pot ter sie ohne Abendbrot ins Bett, und am nächsten Tag mußten sie zur Strafe die Treppe scheuern. In ihrer Wut schrubbten sie die abgetretenen Stufen so blank, daß die Blindschleiche, wie sie Missis Potter nannten, sie ausnahmsweise einmal lobte und
jedem einen Apfel als Belohnung gab. Erst als sie hineinbeißen
wollten, stellten sie fest, daß die Äpfel schon Faulstellen hatten.
Und Ausgang bekamen sie auch nicht. Potter befahl ihnen, den
Dachboden aufzuräumen.
„Können wir dann gehen?“ fragte Pinky.
Potter nickte vergnügt. „Dann dürft ihr gehen.“ Er dachte si cher, daß die beiden mindestens zwei Tage dafür benötigten, er hatte ja keine Ahnung, daß der Dachboden längst aufgeräumt war. Pinky und Monster hatten schon vor ein paar Wochen das Gerumpel auf die Straße geschleppt und zwei Häuserblocks weiter auf einem Ruinengrundstück abgelegt. Die verbliebenen alten Möbel hatten sie an der einen Wand aufgetürmt und den Boden nicht nur gefegt, sondern sogar gescheuert. Seitdem nutzten sie den Boden als Baseballplatz. Potter paßte auf, daß sie auch tatsächlich nach oben gingen. Sie setzten sich auf das Dach und ließen sich die Sonne ins Ge sicht scheinen. Als die Uhr der St.-Josephs-Kirche drei schlug, kletterten sie über die Dachbrüstung und sprangen die Feuer leiter hinunter. Zu schnell. Das Dröhnen der Treppe alarmierte Potter. Als Pinky gerade am zweiten Stock vorbeifegte, schoß Potters Arm aus dem Fenster und packte Pinky am Fußgelenk. Er konnte sich noch an dem Geländer festhalten, sonst wäre er kopfüber hingestürzt. Monster konnte seinen Schwung nicht mehr abbremsen und prallte hart auf Pinky auf. Potter zog ihn am Fuß zum Fenster herein und schnauzte: „Kommt mal rein, aber dalli!“ Potter baute sich vor den beiden auf, stemmte die Fäuste in die Seite und blickte sie drohend an. „Also abhauen wolltet ihr! Das setzt acht Tage Ausgangssperre und vier Wo chen Fernsehverbot.“ „Warum“, maulte Monster, „wir haben doch ...“ „Schnauze, Bastard!“ brüllte Potter. „Jetzt rede ich.“ Aber dann sagte er kein einziges Wort, sondern starrte sie nur an. „Ich warte auf eine Erklärung“, knurrte er endlich. „Wird's bald?“ „Sie haben erlaubt, daß wir gehen können, wenn der Boden aufgeräumt ist“, sagte Pinky. „Wir sind fertig.“
„Na, das wollen wir uns mal ansehen!“ Potter packte mit der linken Hand Pinky am Ohr und mit der rechten Hand Monster, so schob er die beiden vor sich die Treppe hinauf. Als er den Bo denraum sah, ließ er sie los, schüttelte den Kopf und kaute auf seinem Schnurrbart. „Wie habt ihr denn das so schnell geschafft?“ fragte er. Monster sagte gar nichts, er rieb sich wütend sein Ohr, bei ihm griff Potter immer doppelt hart zu. Pinky zuckte nur mit den Schultern. „Dürfen wir gehen?“ fragte er. „Erst mal nach unten!“ kommandierte Potter. Vor der Tür des Heimes blieb er stehen. „Da ihr so fixe Jungens seid“, sagte er, „könnt ihr schnell mal zum Gemeindehaus gehen, da sind zwei Bündel Kleidung für uns abzuholen.“ „So ein gemeiner Schuft“, schrie Monster, kaum daß sich die Tür hinter Potter geschlossen hatte. ,Ade, Cindy, ade, Zirkus! Wir brauchen doch fast eine viertel Stunde bis zum Gemeinde haus, die ganze Straße runter und die Siebzehnte wieder zu rück, und mit den Bündeln dauert es noch länger!“ „Nehmen wir die Luftlinie“, sagte Pinky und rannte die Treppe hinauf. „Wir werden doch nicht wegen ein paar abgeleg ter Hosen auf den Zirkus verzichten. Schlimm genug, daß wir in Second-hand-Klamotten* rumlaufen müssen.“ „Wir sind ja nur Second-hand-gueys**“, fluchte Monster. Sie waren schon oft über die Dächer gelaufen und kannten fast jeden Fußbreit hier oben. Doch es war ganz etwas ande res, freihändig herumzuturnen, als mit dicken Kleiderbündeln auf dem Buckel über die schmalen Simse und um die Schorn steine herum zu balancieren, sechs Stockwerke über dem Bo den, zumal sie dabei noch über einen Spalt zwischen zwei Häusern springen mußten, der gut anderthalb Meter breit war. „Ich springe zuerst“, sagte Monster, „du wirfst mir dann die * Second hand - aus zweiter Hand, Gebrauchtwaren ** gueys - Burschen; Second-hand-gueys = Schimpfwort, etwa: abgelegte Kin der
Bündel hinüber, aber paß auf, daß sie nicht auf dem Hof lan den.“ Pinky traute sich gar nicht, einen Blick nach unten zu wer fen. Er bereute schon lange, daß er diese tollkühne Idee gehabt hatte. Zehn vor halb vier warfen sie keuchend die Bündel vor Potter . auf den Boden, der riß Mund und Augen auf und starrte sie an wie ein Weltwunder. Pinky und Monster warteten nicht, bis er die Sprache wiederfand, sie stürzten davon. Der Eingang zum Zirkus war mit Besuchern verstopft, und als sie sich endlich bis zur Kasse durchgedrängelt hatten, schüttelte die Kassiererin den Kopf. „Cindy ist längst in der Garderobe“, erklärte sie, „die muß sich doch umziehen und schminken.“ Ohne Eintrittskarten wollte die Frau sie nicht durchlassen, und als sie sich von hinten auf das Gelände schleichen wollten, mußten sie feststellen, daß inzwischen ein Holzzaun den Zirkus lückenlos einschloß. Monster warf sich ins Gras und trommelte wütend mit den Fäusten auf den Boden. Pinky setzte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Versuchen wir es eben morgen wieder, morgen klappt es be stimmt“, tröstete er seinen Freund, dabei war ihm selbst zum Heulen. Am nächsten Tag waren sie bereits um halb vier am Eingang, doch Cindy ließ sich nicht blicken. Sie warteten und warteten. Halb Kittsburgh schien in den Zirkus zu gehen, nur sie mußten draußen bleiben. Schließlich gab Pinky es auf. „Ich bleibe“, erklärte Monster, „vielleicht kommt sie doch noch.“ „Die hat uns längst vergessen“, sagte Pinky und trollte sich. Als er durch den Centralpark lief, schnappte er ein paar Worte auf: ... „Millionen“........Gangster“... „Verbrecher“... Pinky schlug einen Haken, der Detektiv in ihm war erwacht. Er huschte ins Gebüsch und schlich sich an die Bank, von der die Worte gekommen waren. Den einen der beiden alten Man
ner, die dort saßen, kannte Pinky. Jeder in Kittsburgh kannte ihn: Jonathan W. Morgan, der Besitzer des größten Warenhauses, mehrerer Dutzend Läden, Restaurants und riesiger Ländereien rund um die Stadt. Man vermutete, er sei der reichste und mächtigste Mann von Kittsburgh. Und der geizigste. „Stimmt's nicht“, sagte er gerade, „wäre es nicht ein Verbrechen, meine Millionen derart aufs Spiel zu setzen?“ Pinky lauschte, und mit der Zeit konnte er sich einen Reim auf die Geschichte machen: Morgan hatte Angst, seine beiden Söhne würden sich nach seinem Tod bis aufs Messer befehden, um den anderen um sein Erbteil zu bringen. „Du weißt doch“, sagte Morgan, „was für Gangster die beiden sind.“ Aber er sagte es nicht ohne Bewunderung, er war stolz auf seine Söhne. „Schreib doch in deinem Testament, was jeder bekommen soll“, schlug der andere Mann vor. „Bist du verrückt? Dann erfährt doch auch das Finanzamt, wieviel ich wirklich besitze, und meine Söhne müssen riesige Steuern bezahlen.“ „Am Ende sogar noch die Steuern, die du nie bezahlt hast“, meinte der andere und kicherte. „Wenn ich nur wüßte, wie ich die beiden dazu bringen kann, ehrlich miteinander zu teilen. Ich gäbe sonstwas dafür.“ „Was?“ fragte Pinky laut. Die beiden Männer fuhren herum. „Hast du uns belauscht, verdammter Bengel?“ schrie Morgan. Wütend schüttelte er den Kopf. „Da setzen wir uns extra in diesen verdammten Park, damit uns niemand zuhören kann, und nun das!“ „Ich hab nur zufällig Ihr Gespräch gehört“, beschwichtigte Pinky. „Ich weiß eine Lösung für Ihr Problem. Was geben Sie mir dafür?“ „Einen Dollar.“ Pinky grinste. Wenn Morgan so dumm war, nicht selbst auf die Lösung zu kommen, sollte er auch dafür zahlen. Mindestens hundert Dollar. Oder tausend? Aber dann fiel Pinky ein, daß er gar nichts mit Geld anfangen könnte. Höchstens verstecken.
Und dann immer die Angst haben, daß ein anderer es fände und einfach einsteckte. Wer würde einem Waisenkind, das so arm war, daß es auf Kosten der Stadt in „Potters Kinderheim“ untergebracht werden mußte, glauben, er hätte das Geld nicht gestohlen? Und selbst wenn Morgan bestätigte, es Pinky gege ben zu haben, war es verloren. Dann müßte er es bei Potter ab liefern. „Freien Eintritt zum Zirkus“, sagte Pinky kurz entschlossen, „für mich und meinen Freund, solange der Zirkus in Kittsburgh bleibt.“ Morgan nickte. Viel zu schnell, überlegte Pinky, und er fügte hastig hinzu: „Und einen Affen für den Zoo.“ Morgan lachte. Pinky schien ihm zu gefallen. „Aber nur, wenn du wirklich eine Lösung weißt“, sagte er, „und wenn du schweigen kannst. Zu keinem Menschen ein Wort!“ Pinky versprach es. „Raus mit der Sprache.“ „Erst den Zirkus bezahlen“, forderte Pinky, „und den Affen.“ „Vertraust du mir nicht?“ „Wer wird schon einem reichen Mann trauen“, antwortete Pinky. Morgan grinste. „Erst die Ware, dann das Geld“, sagte er. „Bei Ihnen im Warenhaus geht es umgekehrt“, erwiderte Pinky. „Ich bin doch nicht dumm. Wenn ich es Ihnen jetzt sage, bekomme ich nie etwas. Erst zahlen!“ „Du bist ein harter Geschäftsmann, was?“ Morgan kniff die Augen zusammen und musterte Pinky. Sie gingen zum Zirkus, doch Morgan kaufte keine Eintritts karten. Er ließ den Direktor kommen, sagte ihm nur, wer er war, und ließ sich zwei Dauerfreikarten geben. Pinky streckte die Hand aus, aber Morgan steckte die Karten in die Tasche. Dann gingen sie zum Rathaus. Der Bürgermeister machte ein ziemlich dummes Gesicht, als Morgan ihm einen Scheck gab: „Eine Spende für den Zoo. Aber es muß ein Affe dafür gekauft werden.“
Dann schickte Morgan den Bürgermeister hinaus, hielt Pinky die Eintrittskarten hin: „So, nun raus mit der Sprache!“ Pinky mußte ihm die Lösung ins Ohr flüstern. Morgan schlug sich mit der Hand vor die Stirn. „Daß ich nicht selbst darauf ge kommen bin! Natürlich.“ Er sah Pinky erstaunt an. „Das ist ja eine Tausenddollarantwort.“ Tausend Dollar bekam immer der Sieger im Fernsehquiz. Pinky hätte sich vor Wut in den Hintern beißen können, daß er nicht mehr verlangt hatte, zum Beispiel jeden Tag zwei Paar Würstchen und Cola gratis in einem von Morgans Selbstbedie nungsrestaurants. Und Eis! Soviel er und Monster verdrücken konnten. Wenigstens ein einziges Mal. Morgan grinste nur, als Pinky ihn jetzt noch darum bat. „Ich gebe nie mehr, als ich unbedingt muß“, sagte er. Pinky kochte vor Wut und beruhigte sich erst wieder, als er auf seiner Mülltonne saß und über die Dächer der Stadt blickte. Wer außer mir, dachte er, hat schon Freikarten für alle Vorstel lungen? Jeder fängt klein an. Auch Pinkerton hat einmal ganz klein anfangen müssen. Wenn er erst einmal ein berühmter De tektiv war, dann sollten die Reichen schon bluten, wenn sie seine Hilfe brauchten. Nur den Morgans würde er nie wieder helfen, mochten sie bieten, soviel sie wollten. Nie wieder. Als er dann mit Monster im Zirkus saß und die Pferde und Löwen, die Affen und Clowns sah, war er doch sehr zufrieden, zumal er sich sagen konnte, daß er klüger gewesen war als der gerissene Morgan. Schlimm war nur, daß er mit niemandem darüber sprechen durfte, nicht einmal mit Monster. Dem hatte Pinky erklärt, daß er einem alten Mann im Centralpark gehol fen und dafür die Freikarten bekommen hätte. Cindy hatte sie nicht vergessen. Als sie die Manege betrat, er blickte sie Pinky und Monster und winkte ihnen zu. Es war ein toller Anblick, wie sie sich auf den Rüssel des Elefanten setzte, von ihm auf den Rücken gehoben wurde und dann dort oben mit ihren Bällen jonglierte, während der Elefant im Kreis herum marschierte. Pinky und Monster klatschten noch, als
Cindy schon aus dem Zelt verschwunden war und die Ponys hereinkamen. Nach der Vorstellung fing Cindy die beiden ab. „Wo wart ihr denn?“ sagte sie. „Ich habe auf euch gewartet.“ „Wir sind nur ein paar Minuten zu spät gekommen“, erklärte Monster. „Wir waren ganz schön traurig, das kannst du uns glauben.“ „Na, ihr seid ja auch ohne meine Hilfe reingekommen“, sagte sie, „und sitzt sogar in der Loge.“ „Und das jeden Tag.“ Monster lächelte sie an. „Ich werde keine deiner Vorstellungen versäumen.“ Zehn Tage lang hockten sie jeden Nachmittag im Zirkus, und auf den allerbesten Plätzen dazu: in der Direktionsloge, ganz vorne an der Manege. Wenn die Raubtiere vorgeführt wurden, saß ein Löwe direkt vor ihrer Nase auf seinem Podest. Es roch herrlich nach Wildnis, und wenn der Löwe brüllte, kroch ihnen ein kalter Schauer über den Rücken. Zweimal gingen sie sogar in die Abendvorstellung. Da sie nur zwei Jungen im Heim waren, hatte Potters Frau das Jungenschlafzimmer kurzerhand mit Beschlag belegt und zu ihrem Näh- und Bügelzimmer erklärt. Nur wenn einmal je mand von der Stadtverwaltung kam, um das Heim zu besichti gen, wurden schnell zwei Betten in dem Zimmer aufgestellt, und Pinky und Monster wurden verwarnt, ja nicht zu verraten, daß sie eigentlich in der kleinen Kammer schlafen mußten. Doch die Kammer hatte auch einen Vorteil: das Fenster. Es war so klein, daß Potter gar nicht auf die Idee kam, jemand könne dort hinausgelangen. Für Pinky und Monster aber war das kein Problem. Das Fenster lag so günstig, daß sie mit einem Schwung auf die Feuerleiter hangeln und sich heimlich aus dem Staub machen konnten, sobald die Potters das Haus ver ließen. Leider geht das Gute immer viel zu schnell zu Ende. Zur letz ten Vorstellung brachte Monster einen dicken Strauß Feldblu men mit, den er unten am Fluß gepflückt hatte, und warf ihn Cindy zu, als sie sich beim Publikum für den Beifall bedankte. Sie warf Monster einen Handkuß zurück.
An diesem Abend vernahm Pinky ein jämmerliches Schluch zen aus dem oberen Bett. Pinky brauchte nicht zu fragen, warum Monster weinte: er hatte sich in Cindy verliebt, und er würde sie nie wiedersehen. Um ihn zu trösten, erzählte Pinky, wofür er die Freikarten bekommen hatte. Monster hörte auf zu schluchzen. „Und“, fragte er, „was hast du dem alten Mann gesagt, wie er das Problem lösen kann?“ „Ist doch ganz einfach“, antwortete Pinky. „Wenn er seine Söhne zwingen will, ehrlich zu teilen, muß er in seinem Testa ment nur verfügen, daß der eine Sohn das Erbe aufteilen soll und der andere sich zuerst seinen Teil aussuchen darf.“ „Klasse“, sagte Monster, „das machen wir beide jetzt auch im mer so!“ Als Pinky nun Monster auch noch verriet, daß zu der Beloh nung ein Affe gehörte und der alte Mann im Centralpark nie mand anders als Jonathan W. Morgan gewesen war, sprach Monster eine ganze Woche nicht mehr mit ihm, weil er „ein solch verdammtes Lügenmaul“ nicht zum Freund haben wollte.
Das Gespenst der Ashtons Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte. Er war nackt, Turnhose und Hemd hingen an einem Haken am Schornstein. Es war erst zehn Uhr vormittags, doch die Hitze drückte schon wie ein feuchtes, wattiges Tuch auf die Stadt, schmutziger Dunst hüllte die Kirchtürme ein, und die fet ten Schwaden aus den Fabrikschornsteinen fielen wie nasse Säcke zu Boden. Selbst von Pinkys kakelbuntem Tonnenthron auf dem Dach war nur ein kleiner Teil von Kittsburgh zu sehen. Pinky träumte, er käme gerade vom Mars zurück und die ganze Stadt hätte sich eingefunden, um den berühmten Astro nauten zu begrüßen. Es war ein Triumphzug, wie ihn Kitts burgh noch nie gesehen hatte; an allen Ecken tönten Jazz trompeten, Orchester und Chöre; Kinder streuten Blumen, aus den Fenstern regnete es Konfetti, und von allen Seiten wurden ihm riesige Eiswaffeln entgegengestreckt. Pinky seufzte. Er war ein Idiot gewesen, von Morgan nicht auch noch Freieis zu verlangen. Sommerferien ohne Eis! Und nirgends eine Chance in Sicht, ein paar Cents zu verdienen. Ein gellender Pfiff riß Pinky aus seinen Gedanken. Monster stand auf dem Dach. Er hopste mit grotesken Schritten heran, bemüht, seine nackten Füße nicht an dem rostigen, schartigen Blech zu verletzen. Dicke Schweißtropfen liefen ihm über Ge sicht, Hals und Brust; er schien die sechs Treppen im Galopp heraufgerannt zu sein. „Kokomm runter, Pipinky!“ Monster stotterte vor Aufregung. „Da unten wartet ein irrer Typ in einem irren Straßenkreuzer, der will dich sprechen.“
Pinky lehnte sich wieder zurück und schloß die Augen. Er ließ sich doch nicht verklapsen. Ein Straßenkreuzer, der vor der vergammelten Fassade ihrer Mietskaserne hielt und ausge rechnet auf einen Sprößling von Potters Waisenhaus wartete! Monster rüttelte ihn hoch. „Mann, ehrlich. Guck doch runter!“ Pinky angelte nach seinen Baseballschuhen, zog den linken Schuh auf den rechten Fuß und den rechten Schuh auf den lin ken Fuß, dann drückten sie zwar, aber die großen Zehen guck ten nicht so aus den Löchern heraus und verbrannten sich nicht an dem heißen Blech des Dachs. Er blickte erst gemäch lich nach der einen, dann nach der anderen Seite, bevor er sich in Richtung Straße bewegte, um — ganz zufällig, versteht sich — einen Blick hinunterzuwerfen. Da stand tatsächlich ein riesiger Straßenkreuzer, vielleicht sogar ein „Monza“, dicht umringt von zerlumpten, halbnackten Kindern, die bestimmt noch nie einen solchen Wagen aus der Nähe gesehen hatten. Pinky war im Nu hellwach. Wenn er auch nicht glaubte, daß der Typ da ausgerechnet auf ihn wartete, so konnte er sich doch nicht den Anblick eines solchen Super schlittens entgehen lassen. Wenn er irgend etwas noch mehr liebte als Tiere, dann Straßenkreuzer. „Glaubst du mir nun?“ Monster hielt Pinky Hemd und Hose hin. „Was will'n der von dir?“ „Was weiß ich?“ „Ist vielleicht 'ne Art Superman, der sich der unterdrückten Waisenkinder annimmt! Wenn er dich einlädt, nimmst du mich doch mit, was?“ Monster grinste von Ohr zu Ohr. „Stell dir vor, Pinky, mit dem Schlitten durch Kittsburgh gondeln, am Hotel .Majestic' vorfahren und rein in die stinkfeine Bude, so wie wir sind. Der Portier muß die Tür vor uns aufreißen und stramm stehen,* und an der Eisbar sagt Superman: ,Bestellt euch, was ihr wollt.'„ „Erst mal sehen, wie wir ungeschoren an Skunk vorbeikom men“, erwiderte Pinky. Skunk* war ihr neuer Spitzname für * Skunk - Stinktier
Potter. Sie peilten die Lage an der Feuerleiter: im zweiten Stock waren alle Fenster geöffnet. Also schlichen sie die Treppe hinab. Die ausgetretenen Stufen knarrten. Die Tür mit dem gro ßen Emailleschild „Potters Kinderheim — eine gottesfürchtige und gottgefällige Zuflucht für Waisenkinder“ stand einen Spalt offen. Durch die Ritze quoll ein Schwall wüster Flüche, die wohl kaum Gottes Wohlgefallen erregt hätten. Pinky und Monster hielten die Luft an; als sie eine Treppe tiefer angelangt waren, mußten sie losprusten. Aber Potter fluchte noch immer so laut, daß er sie nicht hören konnte. Es war tatsächlich ein „Monza“, und der Mann war ein irrer Typ: ein Muskelprotz, wie man ihn sonst nur im Fernsehen oder auf Reklamebildern zu sehen bekommt. „Das ist Pinky“, sagte Monster und zeigte mit dem Daumen auf seinen Freund. Der Blonde nickte. „Okay, Pinky, ich warte am Lincoln, beeil dich. Aber komm allein.“ Fast lautlos fuhr der „Monza“ an. Pinky war es recht. Sicher, es wäre eine Supershow gewesen, sich in den Schlitten zu schwingen und huldvoll mit der Hand zu winken. Doch Potter würde das erfahren und ihn dann ins Gebet nehmen, um herauszubekommen, warum ein Mann, der sich solch einen Wagen leisten konnte, ausgerechnet einen sei ner Schützlinge abholte. Pinky hatte schon eine Vermutung. Bestimmt sollte er Mor gan noch einmal helfen. Aber der würde auf Granit beißen. Und wie er den abfahren lassen würde. Für Sie, Mister Morgan? Ein mal und nie wieder. Und wenn der ihm Berge von Eis ver sprach. Oder vielleicht doch? Pinky rannte zum Lincolndenkmal. Er betrachtete vergnügt die Blumenrabatte gegenüber der Statue, wo, dessen war er ganz sicher, eines Tages sein Denkmal stehen würde. Vielleicht nicht für den kühnen Astronauten, aber für den berühmten De tektiv Pinky. Der Blonde sagte kein Wort. Er zeigte nur stumm auf den Platz neben sich, und bevor Pinky es sich hatte bequem ma chen können, schoß der „Monza“ davon, raus aus der Stadt, in
eine Gegend, in der Pinky noch nie gewesen war: große, teuer eingezäunte Grundstücke, zwischen deren Büschen und Bäu men vornehme Villen aufblitzten. Plötzlich bog der Wagen scharf rechts ein, raste auf ein hohes stählernes Tor zu, das sich automatisch öffnete und hinter ih nen sogleich wieder schloß, fuhr durch einen gepflegten Park und hielt federnd vor einem Haus im Stil der alten Landsitze. Der Blonde winkte Pinky, ihm zu folgen. Sie stürmten durch eine geräumige, mit Palmen und ande rem Grünzeug vollgestellte Halle, dann eine breite Treppe hin auf. Pinky hatte keine Zeit, sich richtig umzusehen, aber er ver spürte die angenehme Kühle des Raumes. Sie landeten in einer Art Büro. Hinter dem Schreibtisch saß ein doppelbäuchiger Mann mit Glatze und Goldrandbrille. „Hier ist er“, sagte der Blonde und verschwand wieder. Der Glatzkopf stand auf, ging um Pinky herum und musterte ihn von allen Seiten. „Da hätten wir also unseren Wunderknaben“, knurrte er. „Willst du 'ne Cola?“ Er wartete die Antwort nicht ab, sondern goß ein Glas voll, stellte es auf den Tisch und wies mit seinem dicken Zeigefinger auf einen Klubsessel. „Du also hast dem alten Morgan geholfen.“ Pinky blickte unschuldsvoll, als könne er gar nicht verstehen, wovon der andere sprach. „Freut mich, daß du das Maul halten kannst“, sagte der Glatz kopf. „Aber ich weiß Bescheid. Von Morgan selbst. Zirkuskarten und Affe. Genügt das?“ Pinky nickte. ' „Schon mal was vom Gespenst der Ashtons gehört?“ Pinky überlegte, in welchem Comic oder Fernsehspiel davon die Rede gewesen sein könnte, doch ihm fiel nichts ein. „Die Bedingungen sind klar“, sagte der Glatzkopf. „Kein Wort zu irgend jemand, okay?“ „Die Hölle soll mich verschlingen, wenn ich meine Klienten verrate“, antwortete Pinky. Der Glatzkopf grinste.
„Du bist hier im Haus von Abraham Ashton, dem die große Kleiderfabrik in Kittsburgh-Süd gehört und die Kette der ,ABCDrugstores'* und noch einiges mehr zwischen hier und New York.“ Und ob Pinky die „ABC-Drugstores“ kannte. Sie sollten das beste Eis der Welt haben, hieß es. Pinky schmeckte es schon auf der Zunge. „Ich bin Bill Sailor, verantwortlich für die persönliche Sicher heit von Mister Ashton. Vielleicht kannst du mir helfen.“ „Warum gerade ich? Warum nicht Ihr blonder Superman?“ „Mich und meine Leute kennt hier jeder. Aber auf so einen Jungen wie dich, denke ich mir, wird niemand achten. Paß auf, Kleiner: Es gibt eine Legende, daß dem Chef des Hauses Ashton kurz vor seinem Tod ein Gespenst erscheint und ihm sein bevorstehendes Ende anzeigt. Dreimal. Zweimal war es schon da.“ Sailor zog eine Grimasse. „Natürlich glaube ich nicht an Gespenster, aber leider denkt der Chef nicht so. Und er ist schwerkrank. Jede Aufregung kann ihn .umwerfen. Das erste Mal konnte ich es vertuschen. Vorgestern abend tanzte im Park ein eigenartiges, schillerndes Licht vor den Bäumen. Ich habe Ashton abgelenkt und schnell den Vorhang zugezogen. Gestern hat er es aber mitbekommen. Plötzlich raunten geheimnisvolle Stimmen von überall: du mußt sterben — du mußt sterben — du mußt sterben... Er hat fast einen Herzschlag bekommen. Ich fürchte, das mörderische Gespenst wird heute oder morgen zum dritten mal auftauchen.“ „Haben Sie jemanden in Verdacht?“ fragte Pinky. Er saß in seinem Sessel, als jage er schon seit Jahrzehnten Verbrecher' und als sei es für ihn etwas Alltägliches, von den Reichen die ser Welt gerufen und um Hilfe gebeten zu werden, das Glas läs sig in der Hand, die nackten Beine übereinandergeschlagen. Er bedauerte unendlich, daß er keine Pfeife besaß, die er ab und zu aus dem Mund nehmen konnte, um bedeutungsvoll zu nicken. „Ich schätze, es ist einer seiner drei Neffen, die auch hier im Haus wohnen“, erklärte Sailor. „Ich zeige sie dir nachher. Ich * Drugstore - ursprünglich Drogerie, heute Bezeichnung für eine Imbißstube, die gleichzeitig ein Laden ist
dachte, ich stelle dich offiziell als Boy an, der im Haushalt zur
Hand geht. Da kannst du dich unauffällig umsehen.“
„Und was habe ich davon?“
„Anständiges Essen, neue Sachen“, Sailor pickte mit seinem Zeigefinger Löcher in die Luft in Richtung auf Pinkys ausge franste Jeans, „so kannst du schließlich hier nicht rumlaufen, und wenn du tatsächlich...“ Sailor blickte ihn lächelnd an. „Wieviel Dollar Honorar verlangst du denn so pro Tag?“ „Kein Geld“, antwortete Pinky gelassen, „Potter, dieses Stink tier, würde es mir doch nur abnehmen. Und kein Tagegeld. Er folgshonorar: Freies Eis für mich und meinen Freund in den ABC-Drugstores', ein ganzes Jahr lang ...“ „Okay“, sagte Sailor, „und du kannst dich ,einmal komplett einkleiden aus Ashtons Fabrik. Von mir aus auch dein Freund.“ „Wir sind sieben“, erklärte Pinky gelassen, „zwei Jungen und fünf Mädchen.“ „Du bist ja ein richtiger Geschäftsmann“, meinte Sailor. „Das kostet den alten Ashton doch keinen Pfennig“, erwi derte Pinky, „das bißchen Eis fällt nebenbei ab, und die Kleider werden doch als wohltätige Spende abgebucht, oder? Sein Le ben sollte Ihnen mehr wert sein.“ „Wieviel?“ fragte Sailor mißtrauisch. „Einen Elefanten.“ Sailor starrte ihn mit offenem Mund an. „Bist du verrückt? Was hast du von einem Elefanten?“ , „Mein Vergnügen. Und jeder andere auch, der in den Zoo kommt. Sie gehen wohl nie in den Zoo?“ Sailor schüttelte verwundert den Kopf. „Wenn Sie nicht wollen ...“ Pinky stand auf. „Bleib sitzen“, befahl Sailor. Er blätterte im Telefonbuch, wählte eine Nummer und fragte, wieviel ein Elefant koste, dann erkundigte er sich nach den Preisen für andere Tiere. „Elefant ist nicht drin“, erklärte er schließlich, „allerhöchstens eine Gi raffe. Das ist das Teuerste, worüber ich allein entscheiden kann. Vielleicht macht der Chef einen Elefanten daraus, wenn du Erfolg hast.“
Pinky willigte ein, doch er bestand darauf, daß sie einen rich tigen Vertrag schlössen. Schriftlich. Sie einigten sich darauf, ihn an den Pfarrer der katholischen Gemeinde zu schicken, weil der bestimmt den Mund halten und keinen von beiden be trügen würde. Dann rief Sailor bei Potter an und erklärte, er wolle Pinky für ein oder zwei Tage als Gartenhilfe engagieren. Potter interessierte nur, wieviel Sailor zahlen wollte. Für einen Dollar pro Tag — an ihn, versteht sich — war er bereit, seinen Schützling zu verkaufen, solange der andere ihn nur haben wollte. Pinky bekam ein Hemd, Jeans, Sandalen und Strümpfe, mußte sich duschen und dann — tatsächlich arbeiten: Staub wi schen, Fenster putzen und bohnern! Er fluchte, daß er hier mehr arbeiten müsse als beim Skunk. Und am Ende vielleicht noch für umsonst. Na ja, nicht ganz. Neue Jeans waren schließ lich nicht zu verachten, und das Essen war einfach Klasse. Pinky durfte sich in der Küche über die Reste hermachen. Er hätte nie geglaubt, daß es Leute gab, die so viel übrigließen. Wenn er einmal vom Reichsein geträumt hatte, dann, daß er so viel zu essen hatte, wie er verdrücken konnte. Nun wußte er es besser. Reichtum hieß Überfluß. Schade, daß Monster nicht da war, es hätte selbst für dessen unersättlichen Magen noch ge reicht. Hier hätte er dem Spitznamen Ehre machen können, den Pinky ihm verpaßt hatte: nach Krümelmonster, der Figur aus dem Fernsehen. Am Abend stieg Pinky hundemüde zu der Bodenkammer hin auf, die man ihm als Nachtquartier zugewiesen hatte. Eigent lich wollte er wieder hinunterschleichen und sich umsehen, doch er war zu müde und schlief sofort ein. Er träumte, daß er in seinem Büro saß, die Sekretärin fragte über die Sprechan lage, ob er einen gewissen Morgan empfangen wollte, und er antwortete: Nein, ich habe keine Zeit für diesen Herrn. Da gellte ein Schrei durch das Haus. Pinky brauchte lange, bis er wußte, wo er sich befand. Dann verhedderte er sich noch in den Hosenbeinen. Als er endlich in die Halle kam, lungerten dort schon ein Dutzend Diener und
Hausmädchen herum und die drei Neffen, alle nur notdürftig bekleidet. Vor der Tür der Bibliothek standen Sailor und der Superman. Der Blonde versperrte den Zugang, und Sailor er klärte, es sei weiter nichts passiert, alle sollten wieder auf ihre Zimmer gehen. Pinky versteckte sich hinter einer der Palmen und wartete, bis die anderen sich verzogen hatten. Dann ging er zu Sailor. Der nahm ihn mit in die Bibliothek. Auf dem Fußbo den lag eine rechte Hand, der Stumpf leuchtete blutigrot. „Keine Angst“, sagte Sailor, „die Hand ist aus Kunststoff. Und dem Chef ist zum Glück das Herz nicht stehengeblieben, als das Ding durchs Fenster flog. Aber viel hat nicht gefehlt.“ Er nahm die Hand vorsichtig hoch und steckte sie in eine Plasttüte. Sie sah verdammt echt aus. „Glauben Sie, daß Fingerabdrücke dran sind?“ fragte Pinky. „Kaum. Wer derart raffiniert vorgeht, denkt auch an so etwas. Und auf dem Rasen vor dem Fenster sind natürlich keine Spu ren zu finden.“ „Haben Sie die Polizei benachrichtigt?“ Sailor schüttelte den Kopf. „Der Chef duldet keine Polizei in seinem Haus. Und was sollten die Bullen schon finden, was wir nicht selbst herausbekommen könnten?“ Er kreuzte die Arme über der Brust und sah aus dem Fenster, das immer noch offen stand. Es war eine sternklare Nacht. „Wer wußte, daß Mister Ashton hier in der Bibliothek saß?“ erkundigte sich Pinky. „Jeder im Haus. Der Chef liest jeden Abend bis nach Mitter nacht.“ „Fremde scheiden aus?“ „Absolut. Das Tor ist nicht geöffnet worden, seit du gekom men bist, und die ganze Nacht patrouillieren drei Wachmänner mit Hunden an den Mauern entlang. Es muß einer aus dem Haus gewesen sein, aber wer? Wenn ich es nicht herausbe komme, versucht er es sicher morgen wieder, und dann ...“ „Zeigen Sie Ihrem Chef doch einfach die Hand noch mal“, schlug Pinky vor, „damit er sie sich richtig ansieht und merkt, daß hier kein Gespenst am Werke ist.“
„Ausgeschlossen. Vielleicht würde er dabei vom Schlag ge troffen.“ „Sie haben den Neffen noch nicht verraten, was vorgefallen ist?“ Sailor schüttelte den Kopf. „Warum sagen Sie es ihnen nicht? Wäre doch interessant, wie sie reagieren.“ Sailor ging zum Haustelefon, Pinky sprang auf und nahm den zweiten Hörer, so daß er mithören konnte. Zuerst rief Sai lor Jonathan, den ältesten der drei, an. „Jemand hat Ihrem Onkel eine abgetrennte Hand ins Fenster geworfen und versucht, ihn damit so zu erschrecken, daß er einen Herzschlag bekommt und stirbt.“ „Eine abgetrennte Hand?“ Das Entsetzen klang echt. „Waren Sie die ganze Zeit auf Ihrem Zimmer?“ erkundigte sich Sailor. Jonathan wurde wütend. „Wollen Sie etwa mich verdächti gen? Warum glauben Sie überhaupt an einen Anschlag? Haben Sie nie von dem Gespenst der Ashtons gehört?“ „Habe ich“, antwortete Sailor, „doch ich glaube nicht an Ge spenster.“ Benjamin Ashton lachte, als Sailor ihn fragte, wo er gewesen sei. „Ein Alibi habe ich nicht “, erklärte er. „Ich war sogar im Park heute abend, doch ich habe noch beide Hände. Wollen Sie sie sehen? Nun, Sie werden den Unhold schon entlarven.“ Er ki cherte. „Sie brauchen ja nur herauszufinden, wer sich die Rechte abgeschnitten hat — das kann doch nicht schwer sein!“ Dann lachte er wieder. David Ashton erklärte Sailor für verrückt. „Das glaube ich nur, wenn Onkel Abraham es mir selbst erzählt“, sagte er. „Ich gehe sofort zu ihm.“ „Wollen Sie ihn umbringen?“ schrie Sailor. „Sie wissen doch, daß er jetzt keine Aufregung verträgt.“ „Wollen Sie mich etwa hindern, meinen Onkel zu besuchen?“ schrie David Ashton zurück. „Ja, das will ich, notfalls mit Gewalt.“
„Das werden Sie bereuen“, drohte David Ashton und legte auf. Sailor sah ratlos drein. „Nun sind wir auch nicht schlauer als zuvor.“ „Wissen Sie wirklich nicht, wer es war?“ fragte Pinky. „Aber das ist doch ganz einfach!“ Sailor blickte Pinky an wie der Ochs das neue Tor. „Rufen Sie den Pfarrer an und erklären Sie, daß der Vertrag erfüllt wurde“, forderte Pinky, „dann verrate ich es Ihnen.“ „Jetzt, mitten in der Nacht?“ Pinky grinste. „Potter sagt immer, ein guter Christ ist Tag und Nacht für seine Schäfchen zu sprechen.“ „Ich rufe ihn gleich morgen früh an“, erwiderte Sailor. „Der Pfarrer braucht seinen Schlaf.“ „Ich auch“, sagte Pinky. „Also bis morgen früh.“ Und er ging hinaus. Sailor starrte ihm ungläubig nach. Er ließ Pinky sogar ausschlafen. Wahrscheinlich glaubte er nicht, daß Pinky den Fall tatsächlich gelöst hatte. Als Pinky ihn aber nach dem Frühstück aufsuchte und die Lösung verriet, machte er große Augen. „Du bist ja wirklich ein As!“ sagte er. Dann rief er den Pfarrer an und den Chef der „ABC-Drugstores“, den er erst anschnau zen mußte, bis er begriff, daß Pinky und Monster ein Jahr lang so viel Eis essen dürften, wie sie wollten, und dann noch den Leiter der „Ashton-Kleiderfabrik“, damit der ein dickes, gut sor tiertes Paket mit Kleidung als Spende von Mister Ashton an „Potters Kinderheim“ schickte. Sobald Abraham Ashton aufgestanden war, ging Sailor zu ihm und brachte seinem Chef schonend bei, daß einer seiner Neffen Gespenst gespielt hatte, um ihn auf diese Weise umzu bringen, und als Ashton die drei zu sich rief und es dem Täter auf den Kopf zusagte, war der so verblüfft, daß er sich verriet. Pinky durfte nicht dabeisein. Er durfte auch nicht fragen, ob Ashton nicht doch einen Elefanten spendieren wollte. Sailor stellte es als sein Verdienst hin, daß der Täter entlarvt worden war.
Monster war froh, als Pinky so schnell wieder zurückkam, doch als Pinky erzählen wollte, was er alles zu essen bekom men hatte, stopfte Monster sich die Daumen in die Ohren und schrie laut: „Nein, nein, nein!“ Er beruhigte sich erst, als Pinky das große Paket aufmachte, das die Köchin ihm mitgegeben hatte. Sie veranstalteten ein großes „Super-Monster-Gala-Fres sen“ auf dem Dach. Monster verdrückte sogar die gebratenen Froschschenkel, an die Pinky sich nicht herantraute. „Du solltest dich öfter als Boy verkaufen lassen“, sagte er schließlich. „Scheint gar kein schlechter Job zu sein. Wer weiß, ob du als Detektiv so gut essen kannst.“ „Ich will dir ein Rätsel aufgeben“, antwortete Pinky und er zählte die Geschichte von der abgetrennten Hand, natürlich ohne den Namen Ashton fallen zu lassen, und er verriet auch nicht, daß es mehr als ein Rätsel war. Monster grübelte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf. „Krieg ich nie raus. Wer ist denn nun der Gangster?“ „Klar wie Kloßbrühe“, sagte Pinky gelassen. „Der zweite na türlich. Keiner der drei hatte die Hand zu sehen bekommen, nachdem sie durch das Fenster geworfen worden war. Nur der Täter konnte also wissen, daß es eine 'Rechte' gewesen ist.“ „Supersuper“, sagte Monster. „Vielleicht wirst du doch mal 'n richtiger Detektiv.“ „Oder Hellseher.“ Pinky hob beschwörend die Hände und blickte in die Ferne. „Ich sehe, ich sehe, daß der Kittsburgher Zoo in wenigen Tagen eine, eine — Giraffe geschenkt bekommt.“ „Ja, ja“, brummte Monster unbeeindruckt. „Und zwei Flöhe aus Potters Waisenhaus.“
28
Nachts
sind alle Katzen grau
Pinky saß vor seiner Mülltonne und träumte. Auf den ersten, flüchtigen Blick konnte man denken, er ar beite: Sein Arm war halb ausgestreckt, die Hand hielt einen Pinsel, doch Pinky bewegte sich nicht. Er saß da, als hätte ein Zauberspruch ihn in einen Dornröschenschlaf versenkt; nur von dem Pinsel tropfte ab und zu ein roter Klecks zu Boden. So versunken war Pinky, daß er nicht bemerkte, wie Monster an ihn heranschlich. Pinky schreckte hoch, als ein Grashalm seinen Nacken berührte. Er starrte seinen Freund verdutzt an. „Wohl wieder geträumt?“ fragte Monster. „Was warst'n dies mal, Astronaut oder Jazztrompeter? Oder König von Hawaii?“ „Halt's Maul“, konterte Pinky. „Ich habe nur nachgedacht, ob ich das Ding ganz und gar rot anstreiche.“ „Warum? Ich find sie prima so bunt.“ „Weil es Herbst ist und die Farben schon abblättern und weil ich nicht will, daß sie verrostet. Ist schließlich das einzige, was ich besitze.“ „Und die Maiskolbenpfeife und das Matchbox-Auto und das Taschenmesser?“ „Pah! Die Pfeife ist so ausgebrannt, daß sie kaum noch als Friedenspfeife beim Indianerspielen zu gebrauchen ist, und am Matchbox-Auto fehlt ein Rad, und das Taschenmesser hat nur noch eine schartige Klinge.“ „Du vergißt den Affen und die Giraffe“, spottete Monster, „das sind doch eigentlich so gut wie deine, oder? Mann, wenn's fürs Spinnen Geld gäbe, wärst du längst Millionär.“ „Und du, wenn's Fressen bezahlt würde!“
„Apropos Fressen ...“ Monster griff in die Hosentasche und holte zwei Birnen hervor. „Hab ich der Blindschleiche geklaut.“ Sie setzten sich an den Schornstein und kauten. „Rot und weiß gestreift“, sagte Monster. „Wer?“ „Na, die Tonne. Und ein blaues Feld mit Sternen.“ Er lachte. „Mülltonne als Sternenbanner! Kannst sie dann zu 'ner Kunst ausstellung schicken. Gibt Leute, habe ich mal gehört, die mit so was ein Vermögen machen.“ „Verrat mir lieber, woher wir ein paar Cents bekommen“, er widerte Pinky, „ich bin völlig abgebrannt.“ „Mann!“ Monster schlug sich die Hand vor die Stirn. „Hab ich doch ganz vergessen! Da unten ist so 'ne Flasche, die will dich sprechen. Ich hab gesagt, ich such dich. Der sieht so aus, als könntest du bei dem leicht 'nen halben Dollar lockermachen. Geh doch mal runter.“ „Wenn er mich sprechen will, soll er raufkomme n“, erklärte' Pinky großkotzig. Monster war schon verschwunden. Die Flasche erwies sich als ein ältlicher Mann, dem der Auf stieg aufs Dach sichtlich schwergefallen war, er wischte sich die Schweißtropfen von ^er Stirn mit einem Taschentuch, das mindestens einen Dollar gekostet hatte. „Ich will allein mit dir sprechen“, sagte er. Pinky gab Monster einen Wink, zu verschwinden. Der Mann vergewisserte sich erst, ob sie auch allein auf dem Dach waren. „Mister Morgan will dich sehen“, sagte er dann. „Wenn es Schwierigkeiten gibt, soll ich dich unter einem Vor wand bei Potter loseisen; es wäre ihm aber lieber, wenn nie mand etwas erfährt. Kannst du das einrichten?“ „Könnte ich schon“, sagte Pinky, „aber ...“ „Aber was?“ „Warum sollte ich?“ „Morgan will dich sehen“, wiederholte der Mann mit einem Tonfall, als verkünde er einen Befehl des Präsidenten der USA. „Ich will ihn nicht sehen“, erwiderte Pinky. „Nun mach keinen Ärger!“
Pinky musterte den anderen. Der sah so aus, als würde er den Ärger bekommen, wenn er ihn nicht bei Morgan an schleppte. „Das Mindesthonorar ist ein Dollar“, sagte Pinky. Der Mann nickte und holte einen Dollarschein aus der Brief tasche. „Und zwei Dollar fürs Schweigen.“ Der andere blickte wütend, holte aber noch zwei Scheine her aus. „Wann kannst du am besten weg? Gleich?“ „Heute nachmittag um drei. Ich warte am Lincoln.“ „Okay.“ Der Mann war kaum verschwunden, als Monster hinter dem Schornstein hervorkam. „Habe ich richtig gehört — Morgan? Sag mal...“, Monster hielt den Kopf schief und blickte Pinky in die Augen, halb miß trauisch, halb ehrfurchtsvoll, „hast du damals etwa wirk lich ...?“ „Vergiß es“, antwortete Pinky und hielt seinem Freund einen Dollar hin. „Hier hast du Schweigegeld.“ Monster stieß einen Pfiff aus. „Mensch, wo der herkommt, gibt's sicher noch mehr davon. Was will denn Morgan von dir?“ „Keine Ahnung. Heute nachmittag sind wir schlauer. Ich“, verbesserte er sich dann, „denn meine Klienten bezahlen vor al lem meine Verschwiegenheit.“ „Blas dich bloß nicht so auf! Klienten!“ Monster breitete die Arme aus und brüllte: „Pinky hat Klihäähnten, Klihäähnten, Klihäähnten!“ „Reg dich wieder ab“, rief Pinky ihn zur Ordnung. „Schließ lich hat es dir doch im Zirkus gefallen, oder? Und dein täglich Eis?“ „Eis allein macht nicht glücklich“, erwiderte Monster. „Sieh zu, daß du dem alten Geizhals was Richtiges zu essen abknöp fen kannst.“ Pinky nahm den Pinsel und setzte sich vor seine Tonne, doch bevor er den Pinsel ansetzte, stand er schon wieder auf.
„Hör zu, Monster“, sagte er ernst, „du weißt entschieden zu viel. Ich muß sicher sein, daß du nicht quatscht!“ „Wie werde ich!“ „Schwörst du's?“ Monster hob die Finger zur Schwurhand. „Die Hand soll mir verdorren, Frösche und Schlangen sollen jede Nacht in mein Bett kriechen, und der Blitz soll mich treffen ...“ „Und ich soll mich nie wieder satt essen können“, ergänzte Pinky. „Nie wieder!“ „... und ich soll mich nie wieder satt essen können“, wieder holte Monster feierlich, „mein Leben lang, wenn ich auch nur ein einziges Mal ein Geheimnis von Pinky verrate. Das schwöre und gelobe ich!“ Morgan begrüßte Pinky, als wäre es die größte Freude seines Lebens, daß ein halbwüchsiger Bengel aus Potters Waisenhaus so nett war, ihn in seinem Privatbüro zu besuchen. „Willst du auch einen Kognak, wenigstens einen kleinen Schluck?“ fragte er dann. „Ein guter französischer Tropfen.“ „Danke, im Dienst trinke ich nie“, erwiderte Pinky gelassen. Er hätte zu gerne einmal probiert, wie Kognak schmeckte, doch er hatte Angst, auch von einem kleinen Schluck schon betrun ken zu werden. Wer mit einem Morgan zu tun hatte, tat gut daran, einen klaren Kopf zu bewahren. „Aber eine Cola würde ich nehmen.“ „Zigarre auch?“ Die zweihandlange Brasil nahm sich in Pinkys Lippen wie ein Brecheisen aus. Und ihm war schon nach dem ersten Zug zum Brechen. Mit Mühe unterdrückte er den Hustenreiz und nahm schnell einen Schluck Cola. „Du wolltest nicht kommen?“ fragte Morgan. „Warum?“ „Ich habe mir geschworen, nie wieder für Sie zu arbeiten.“ „Schade“, sagte Morgan. „Richtig geschworen? Ich meine, so mit Kreuz und Blut und allem Drumherum?“ Pinky zuckte nur mit den Schultern. „Aber du bist gekommen. Ich nehme an, nicht nur wegen des Dollars.“ Er lachte. „Bist neugierig, was?“
„Reden Sie nicht drumherum“, erwiderte Pinky. „Was haben Sie für Probleme?“ Morgan lachte auf. „Du sprichst schon wie ein richtiger Boß. Hast wohl deine Detektivagentur bereits eröffnet? Wie gehen die Geschäfte?“ „Besser als Ihre, nehme ich an, sonst hätten Sie mich kaum rufen lassen.“ Pinky schlug die Beine übereinander und flegelte sich in den riesigen Sessel, als säße er alle Tage in so einem Fünfhundertdollargerät und nicht auf Potters armseligen Hok kern, an denen man sich andauernd Splitter einriß. „Hast recht, wozu drumherumreden“, antwortete Morgan. „Ich kann wieder mal deine Hilfe gebrauchen. Im Warenhaus wird gestohlen.“ „Das ist doch nichts Neues ...!“ „Weiß ich“, unterbrach Morgan. „Diese kleinen Diebstähle ko sten mich nichts, die sind schon in den Preisen einkalkuliert. Hier geht es um größere Beträge.“ „Bitte berichten Sie.“ Endlich hatte Pinky einen Grund, die Mordszigarre wegzupacken; er legte die Hände an die Schläfen, als müsse er sich konzentrieren. Morgan berichtete zuerst, welche Sicherheitsmaßnahmen in seinem Kaufhaus getroffen worden waren: Spiegel und Fern sehkameras, mit deren Hilfe jeder Winkel überschaubar wurde, durchsichtige Spiegel, durch die Verkäuferinnen und Hausde tektive unbemerkt beobachten konnten, Alarmanlagen, mit de nen die besonders wertvollen Waren gesichert waren; zwei De tektive streiften den ganzen Tag durch das Warenhaus, an jedem der drei Ausgänge stand noch einer und belauerte die her auskommenden Kunden; abends wurden die Tore mit schweren Gittern verschlossen und mit Lichtschranken gesichert, die so fort Alarm auslösen würden, und ein Wachmann kontrollierte jede Stunde die Türen. „Aber es hilft nichts“, schloß Morgan. „Die Türen sind jeden Morgen verschlossen gewesen, auch Fenster und Luftschächte, und tags ist niemandem etwas Verdächtiges aufgefallen. Wir haben den Dieben Fallen gestellt. Einmal haben wir eine
Menge teuren Schmuck ausgelegt, und die Polizei hat sich acht
Nächte lang im Warenhaus versteckt, ein andermal wurden
zwei Wochen lang alle Eingänge und Öffnungen mit Fernsehka
meras überwacht, niemand ist in die Falle gegangen. Aber
einen Tag später waren sie wieder da, in der Pelzabteilung.“
„Was hat es Sie bisher schon gekostet?“ wollte Pinky wissen.
„Das mußt du nicht wissen“, wehrte Morgan ab.
„Aber ich soll doch die Gangster entlarven, oder?“
„Wenn du wirklich ein so guter Detektiv bist...“
„Bin ich. Der beste weit und breit. Was wird gestohlen?“
„Alles. Kühlschränke, Pelze, Teppiche, Schmuck, Uhren, elek tronische Rechner, aber auch Whisky und teure Konserven, mal ein Stück, mal eine ganze Wagenladung; es scheint kein Sy stem dahinterzustecken.“ „Das ist das System“, meinte Pinky. „Was sagst du?“ Morgan blickte Pinky aufgeregt an. „Ach, das müssen Sie nicht wissen.“ Pinky nahm schnell einen Schluck Cola. Er hätte es Morgan auch gar nicht erklären können. Er hatte es nur gesagt, um überhaupt etwas zu sagen. „Sie haben wirklich keinen Verdacht?“ „Ich verdächtige alle!“ Morgan zog wütend an seiner Zigarre. „Wahrscheinlich steckt da jemand vom Personal mit drin. Des halb bin ich auf dich gekommen. Dich kennt dort niemand. Und niemand wird etwas von dir erfahren. Ich selbst werde dich abends einschließen und früh wieder herausholen, und wenn du dich tags umsehen willst, bist du eben ein Kunde.“ „Ein Kunde ohne Geld?“ Pinky zeigte seine leeren Hände. „Du bekommst zwei Dollar von mir, dafür kannst du einkau fen.“ „Zehn“, sagte Pinky. „Drei“, erhöhte Morgan. „Elf“, sagte Pinky. „Vier.“ „Zwölf.“ „Fünf, aber das ist mein letztes Angebot“, brüllte Morgan. „Warum schreien Sie so?“ fragte Pinky ganz unschuldig.
„Also fünf Dollar zum Einkaufen. Und zwanzig Dollar in Mün
zen.“
„Ich denke, du nimmst kein Geld?“
„Nennen Sie das Geld? Sie! Eine Handvoll Münzen kann ich schon irgendwie verstecken, und wenn Potter es findet, sage ich, ich hätte es mir in den Herbstferien mit Gartenarbeit ver dient.“ Morgan nickte. Und grinste. „Du hast schnell gelernt.“ „Wenn man öfter mit Leuten wie Ihnen zu tun hat“, erwiderte Pinky. „Und wenn ich den Fall löse? Bekomme ich dann einen Elefanten für den Tierpark?“ Morgan schüttelte heftig den Kopf. „Ich kann Elefanten nicht ausstehen! Vielleicht ein Känguruh? Känguruhs kann ich gut leiden.“ Pinky lachte auf. „Sie halten mich wohl für völlig vertrottelt? Ich weiß, was ein Känguruh kostet. Mindestens ein Paar.“ „Einverstanden“, sagte Morgan schnell. „Und zwei Taschenmesser, die besten aus Ihrem Kaufhaus.“ Morgan stöhnte, aber er nickte zustimmend. „Und für jeden von uns Potterkindern ein Paar gefütterte Stiefel und Schlittschuhe.“ Morgans Gesicht lief puterrot an. „Als wohltätige Spende“, fuhr Pinky ungerührt fort, „das wird Ihr Ansehen in Kittsburgh noch stärken; alle Welt wird sie als ein leuchtendes Vorbild loben.“ „Lachen wird man über mich, wenn ich auf meine alten Tage anfange, das Geld aus dem Fenster zu werfen! Kein Mensch darf davon erfahren.“ „Also einverstanden?“ „In drei Teufels Namen.“ „Kommen wir also zum letzten Punkt: Für meinen Freund Monster und mich ein Jahr lang jeden Tag zwei Hamburger* in einer Ihrer Gaststätten.“ „Das ist zuviel“, schrie Morgan. „Eis könnt ihr haben, von mir aus.“ * Hamburger - warmes Sesambrötchen mit einer Scheibe gebratenem Hack fleisch, Gurke, Tomate, Salat, Senf und Ketchup
Pinky lachte ihm ins Gesicht. Das konnte dem alten Geizhals so passen. Der wußte doch ganz genau, daß sie seit der Entlar vung des Ashton-Gespenstes ihr Eis in den „ABC-Drugstores“ bekamen. Und wer sollte im Winter jeden Tag ein paarmal Eis essen. „Wollen wir mal überschlagen, was es Sie kosten kann, wenn die Gangster noch ein paar Wochen Selbstbedienung spielen?“ fragte er. „Aber Sie müssen mich ja nicht engagieren. Lassen Sie sich doch jemanden aus New York kommen. Ich wollte so wieso nicht für Sie arbeiten.“ Pinky trank den Rest Cola aus und erhob sich. „War nett, Sie mal wiederzusehen.“ „Schon gut“, sagte Morgan, „aber nur, wenn du Erfolg hast.“ „Das heißt, wenn ich keinen haben, muß ich mir die Nächte umsonst um die Ohren schlagen? Wollen Sie mich in Versu chung bringen, jede Nacht selbst ein wenig zu stehlen?“ „Das wirst du nicht“, erklärte Morgan, „du nicht! Ich würde es dir auch nicht raten, schließlich hole ich dich morgens ab. Also, die zwanzig Dollar bekommst du auf jeden Fall, nun aber Schluß.“ Er hielt Pinky die Hand hin. „Und die Taschenmesser“, sagte Pinky und schlug ein. „Kannst du dich wegschleichen, oder muß ich Potter einwei hen?“ „Ich könnte mich wegschleichen, aber es wäre mir lieber, wenn Sie mich einkaufen. Bieten Sie dem Skunk einen Dollar pro Nacht, und er vermietet mich gleich für ein ganzes Jahr.“ * Pinky hatte Angst. Einem anderen gegenüber hätte er es natür lich nie zugegeben, doch er war ja allein in dem großen, leeren, nahezu finsteren Warenhaus. Hoffentlich blieb er es. Er schickte ein Stoßgebet zum Großen Manitu. Er war zwar nicht sicher, ob es einen Gott gab, aber jetzt hoffte er inständig, daß es einen gäbe. Und einen Schutzengel könnte er hier auch drin gend gebrauchen. Erst jetzt wurde ihm klar, worauf er sich ein gelassen hatte. Wenn die Diebe ihn bemerkten, würden sie kaum versuchen, sich sein Schweigen mit einer Tüte Bonbons zu erkaufen. Sie
würden ihm einfach den Hals umdrehen. Daß er nicht gleich daran gedacht hatte! Er hatte es doch oft genug im Fernsehen gesehen, wie skrupellos Gangster sein konnten. Er verfluchte sich, daß er diesen lebensgefährlichen Auftrag angenommen hatte. Aber die eine Nacht mußte er nun durchstehen. Sobald seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hat ten, sah er sich nach einem Versteck um. Das Warenhaus war so übersichtlich wie nur möglich eingerichtet! Er konnte sich höchstens hinter einem der Ladentische oder einer der großen Waren verbergen, einem Kühlschrank oder einem Klavier; wer weiß aber, was die Gangster heute holen würden? Vielleicht ge rade die Fernsehtruhe, hinter der er hockte. Da kam ihm eine Idee. Im ersten Stock, nahe der großen Treppe, stand eine Gruppe von Schaufensterpuppen und warb für Wintersportkleidung. Pinky stieg hinauf und besah es sich von nahem. Das war es. Auf einer Bank saß eine Puppenmutter mit ihrem Puppenknaben, und der hatte seine Größe. Pinky prägte sich das Bild ganz genau ein. Wenn die Diebe vom Perso nal waren, konnte ihnen die kleinste Veränderung auffallen. Dann nahm er den Puppenjungen von der Bank, setzte sich dessen Pudelmütze auf und zog dessen Anorak an. Zuerst wollte er auch noch die Skistiefel nehmen, doch die waren der art klobig und schwer, daß er im Notfall kaum damit wegren nen könnte. Ach was, auf die Füße einer Puppe würden die Diebe wohl nicht gucken. Wohin mit der Puppe? Schließlich nahm er sie auseinander und verstaute die Teile einzeln unter den Verkaufstischen der Umgebung. Den Kopf steckte er in einen Papierkorb. Ein Schauer fuhr ihm über den Rücken, als der abgetrennte Kopf ihn mit weit offenen Augen aus dem Papierkorb anstarrte; Pinky knüllte schnell etwas Papier zusammen und warf es in den Korb. Dann saß er Probe auf der Bank. Ja, so konnte er es bequem eine Stunde und länger aushalten. Die Angst legte sich. Nun wollte er sich in Ruhe umsehen. Pinky holte sich erst einmal eine Taschenlampe. Als er pro bierte, ob sie funktionierte und wie weit ihr Strahl reichte,
machte es plötzlich hinter ihm: Brrrrring — klinnnnng — klinnnnng — linnnng ... Pinky versteinerte. Dann sprang er blitzschnell zur Seite und drehte sich um, die Taschenlampe schlagbereit in der Hand. Niemand stand hinter ihm. Er war nur gegen eines dieser mo dernen Kinkerlitzchen gestoßen, das auf dem Tisch der Schmuckabteilung nebenan stand, eine Art Federbusch aus Stahldrähten, die jetzt gegeneinanderstießen und tönten. Der Schreck war ihm derart auf den Magen geschlagen, daß er sofort in die Lebensmittelabteilung gehen mußte. Zum er sten Mal in seinem Leben kostete er, wie geräucherter Lachs schmeckte, probierte Nußschinken, Schokolade mit Trüffeln, Ananaskonfitüre und französischen Camembert. Das war ja fast noch besser als bei Ashtons. Er überlegte gerade, wie er eine Dose Kaviar aufbekommen könnte, da schien es ihm, als ob irgendwo ein Fahrstuhl ging. Pinky verstaute schnell noch ein paar Riegel Schokolade in der Tasche und verschwand nach oben. Es war leichtsinnig, lebensgefährlich leichtsinnig, sich hier den Bauch vollzuschlagen. Kaum saß er auf seiner Bank, da hörte er eine Tür gehen. Hinter ihm. Und er durfte sich nicht umdrehen, nicht einmal den kleinen Finger bewegen. Hoffentlich kamen die nicht hier her und entdeckten die Taschenlampe. Eine Wintersportschau fensterpuppe mit einer Taschenlampe, das mußte doch auffal len. Aber weglegen konnte er sie auch nicht. Schwere Schritte kamen näher. Gingen zur Treppe. Stiegen hinunter. Entfernten sich. Stille. Pinky hörte sein Herz schlagen, so still war es. Un heimlich. Da tönte es wieder: Brrrrring — klinnnnng — klinnnng — linnnng ... Die Diebe waren also in der Schmuckab teilung. Die Diebe? Es waren eindeutig nur die Schritte eines Mannes gewesen. Pinkys Neugier siegte über seine Angst. Einem mußte er notfalls entkommen können. Er konnte doch nicht einfach still sitzen bleiben und den da ungeschoren ent kommen lassen. Er mußte ihn wenigstens sehen, damit er ihn wiedererkannte. Er mußte nur ganz, ganz vorsichtig sein! Pinky zog leise den Anorak aus, der behinderte ihn jetzt nur.
Die Mütze behielt er auf. Falls er im Handgemenge einen Schlag auf den Kopf bekommen würde. Die Mütze war aus dik ker Wolle gestrickt und würde einiges abhalten. Dann schlich er nach unten, huschte hinter den Ladentischen entlang — und stieß gegen einen Papierkorb. Bonnng! hallte es durch den Raum. Pinky stand stocksteif da. Hielt die Luft an. Lauschte. Kaum wahrnehmbare Schritte. Ein Schatten huschte davon. Was sollte er tun? Was würde der andere jetzt tun? Ihn beob achten, klar. Und wenn er sich davonmachte, würde der Dieb über ihn herfallen. Pinky überlegte fieberhaft. Und wenn er so tat, als wäre er nicht allein? Würde der darauf hereinfallen? Nein, er mußte den Dieb in Sicherheit wiegen. So tun, als habe er gar keine Ahnung von ihm! Pinky stellte sich mitten in den Raum, damit der Dieb sehen konnte, daß er nur ein Junge war. Der sollte glauben, daß es sich um einen Streich handelte. Um eine Wette! Vielleicht würde er ihn dann ungeschoren ab ziehen lassen. Pinky schlenderte zum Informationsstand und griff zum Telefon. Er wählte die Nummer, die Morgan ihm ge geben hatte, doch der meldete sich nicht. „Hallo, Monster“, sagte Pinky schließlich. Er sprach sehr laut und langsam, damit der Dieb ihn gut verstehen konnte. „Muß mal wieder 'ne Stimme hören. Ganz schön unheimlich hier, so mutterseelenallein. Blöde Wette. Zum Glück ist die Zeit ja bald rum. — Okay, bis bald.“ Nirgends hatte sich etwas geregt. Was würdest du denn tun, wenn du der Dieb wärst, dachte Pinky. Dich nicht verraten. Ab warten, bis dieser blöde Knabe verschwindet. Ein Dieb ist kein Mörder. Es sei denn, er fühlte sich entdeckt. Wo mag er nur sein? So oft, wie der hier klaut, hat der sich bestimmt ein prima Versteck ausgedacht, für den Fall, daß er mal überrascht wird. Der Schatten war in Richtung der großen Wand gehuscht. Dort war nirgends eine Tür. Aber Puppen! Klar, der war auf die glei che Idee gekommen wie er! Pinky konnte also in aller Ruhe nach oben gehen und so tun, als ve rschwinde er, sich in Wirk lichkeit aber verstecken.
Doch dann entkam der Dieb unerkannt. Verflixt noch mal! Halt, sagte sich Pinky. Da der Dieb nun weiß, daß er es nur mit einem Jungen zu tun hat, und sich immer noch totstellt, wird er nichts riskieren. Du kannst ja mal — ganz zufällig — vorbeischlendern und dich überzeugen, ob er wirklich Schau fensterpuppe spielt. Nur, wie sollte Pinky erkennen, welche Puppe unecht war? An der Kleidung? Nur wenn der abgeris sene Sachen trug, aber das würde der nicht, wenn die Schaufen sterpuppen sein geplantes Versteck waren. Alle anfassen? Der Dieb durfte es schließlich auf keinen Fall merken, wenn Pinky ihn entdeckt hatte. Pinky wollte schon aufgeben, da fiel ihm die Lösung ein. Er lachte vergnügt. Ein Meisterdetektiv weiß sich eben in jeder Lage zu helfen. Er schaltete die Taschenlampe an, wanderte langsam durch den Raum, ließ das Licht über die Waren huschen, nahm hier und da einmal etwas in die Hand und näherte sich so langsam den Puppen, ließ das Licht über die Gesichter streichen. Hof fentlich verlor der Dieb nicht die Nerven. Da war er! Nicht ein mal seine Wimpern zuckten, als das Licht ihn traf. „Blöde Puppen, eine so doof wie die andere“, sagte Pinky und ging wieder zurück. Er versuchte es noch einmal mit dem Tele fon. Jetzt meldete Morgan sich sofort. „Heute kommen die Diebe wohl nicht?“ meinte er. „Ach, weißt du, Monster“, antwortete Pinky, „ich wollte dir nur sagen, daß du schon mal die Hamburger holen sollst, sonst ist die Imbißbude zu, wenn ich komme. Du hast die Wette verlo ren.“ „Ich verstehe“, sagte Morgan aufgeregt. „Wie viele sind es dann?“ „Einer genügt mir“, sagte Pinky. „Ich komme sofort. Ich bin in ein paar Minuten da.“ „Das sage ich dir, Monster“, erwiderte Pinky, „sobald die zehn Minuten um sind, hau ich ab.“ Er fühlte sich erleichtert. So lange würde der Dieb es wohl aushalten. Pinky stellte sich so, daß der Mann ihn sehen konnte. Er blickte scheinbar woan dershin, doch aus dem Augenwinkel beobachtete er den Dieb.
Es dauerte keine zehn Minuten, bis Morgan erschien und mit ihm niemand anderes als Captain Henderson, der Chef der Kri minalpolizei von Kittsburgh. Unter dem Chef machte Morgan es wohl nicht. An der Tür postierten sich noch zwei Polizisten. Die lassen sich nicht allein mit einem Gangster ein, dachte Pinky. Die Lampen flammten auf und leuchteten das Waren haus taghell aus. Morgan blickte sich mißtrauisch um. „Na, wo ist er?“ „Sehen Sie ihn denn nicht?“ fragte Pinky vergnügt zurück. „Er steht vor Ihnen.“ „Du willst mich wohl zum Narren halten!“ Pinky zog Morgan und Henderson zu den Puppen. „Und was ist das hier?“ „Schaufensterpuppen“, sagten die beiden wie aus einem Mund. „Na, dann geben Sie der da mal die Hand.“ Die falsche Puppe lachte und streckte die Hand aus. „Guten Abend, Mister Morgan.“ „Kennen wir uns?“ fragte Morgan verwirrt. „Ich bin's, Edgar Dulles, Ihr Hausdetektiv. Ich habe mich hier versteckt, um endlich die Diebe zu entlarven.“ „Ach so!“ Morgan warf Pinky einen wütenden Blick zu. „Ver sager!“ „Dann fassen Sie ihm mal in die Tasche“, forderte Pinky. Der Kriminalchef griff zu, und als seine Hand wieder hervor kam, war sie voller Schmuck. Henderson rief die Polizisten und ließ Dulles abführen. „Kein Wunder, daß wir den Gangster nie fassen konnten“, sagte Morgan. „Niemand war so gut über alle Sicherheitsmaß nahmen und über alle Fallen informiert wie er. Und für ihn war es auch kein Problem, das Diebesgut abzutransportieren, er hatte ja alle Schlüssel. Erzähle, wie war es?“ „Einen Moment.“ Pinky verschwand und kam mit drei Dosen Cola zurück, schwang sich auf einen Ladentisch und ließ die Beine baumeln. „Sie gestatten doch? Mit trockenem Mund ist schlecht reden.“ Er hielt Morgan und Henderson eine Cola
Dose hin. „Ich nehme an, der Kognak aus Ihrem Warenhaus ist Ihnen nicht gut genug.“ Morgan nickte verdattert. Er setzte sich sogar mit auf den Tisch und trank aus der Dose, während Pinky berichtete. Natürlich nicht von seiner Angst; das Versteck als Schau fensterpuppe stellte er als wohldurchdachten Beobachtungspo sten hin, und den Besuch in der Lebensmittelabteilung unter schlug er ganz. Morgan und Henderson lauschten gespannt. „Da ich fürchten mußte, Sie nicht mehr zu erreichen“, sagte Pinky, „mußte ich wenigstens wissen, wie er aussah. Also leuch tete ich allen Puppen ins Gesicht.“ „Und da“, unterbrach ihn Morgan aufgeregt, „hat er mit den Lidern gezuckt und sich so verraten.“ „Ganz und gar nicht“, widersprach Pinky. „Nicht mal mit der Wimper hat er gezuckt. Zum Glück! Denn wenn er geglaubt hätte, sich verraten zu haben ...“ „Wärst du sicher nicht mehr am Leben“, fiel Captain Hender son ein. „Das hätte leicht schiefgehen können, Junge.“ Pinky blickte Morgan in die Augen. „Das hatten Sie doch mit einkalkuliert, nicht wahr?“ „Um Gottes willen!“ Morgan machte ein erschrockenes Ge sicht, es sah fast echt aus. „Aber wie hast du ihn dann erkannt?“ „Ja“, sagte Henderson, „das möchte ich auch gerne wissen. War doch ziemlich dunkel, nicht wahr?“ „Das war sein Pech.“ Pinky grinste und sah triumphierend von einem zum anderen. Sie wußten es wirklich nicht! „Na, in der Dunkelheit sind doch die Pupillen des Auges ganz groß, so bald aber Licht auf sie fällt, werden sie kleiner. Bei Puppen augen natürlich nicht.“ Henderson nickte anerkennend. „Wenn du groß bist, komm zu mir. Solche Leute suche ich dringend.“ „Das wird wohl nichts werden“, sagte Pinky, „ich habe vor, Detektiv zu werden.“ „Ich glaube, du wirst wirklich mal ein großer Detektiv“, sagte Morgan. „Hier, dein Honorar.“ Er drückte Pinky vier Rollen Münzen in die Hand.
„Und ich glaube “, erwiderte Pinky, „ich bin es schon.“ Er sprang vom Tisch und ging, nein, schritt zum Ausgang, jeder Zoll ein bedeutender, ein erfolgreicher Mann. An der Tür holte Morgan ihn ein. Er packte Pinky am Arm und hielt ihn zurück. „Mir scheint, du hast eine Kleinigkeit übersehen.“ Blitz schnell nahm er Pinky die Taschenlampe aus der Hand. „Ich hoffte, Sie würden es freundlicherweise übersehen“, ant wortete Pinky, „wo ich Ihnen doch etliche tausend Dollar er spart habe.“ „Hunderttausende“, verbesserte Morgan- und stieg in sein Auto. „Nicht, daß ich so eine Taschenlampe nicht verschmerzen könnte, aber du weißt doch, es ist mein Prinzip, nie einen Cent mehr als unbedingt nötig auszugeben.“ „Fast hätte ich es vergessen“, murmelte Pinky, zog die Ski mütze und schwenkte sie dem abfahrenden Auto hinterher wie ein Prinz seinen Federhut. Dann holte er einen Riegel Schoko lade aus der Tasche und biß hinein, während er sich auf den langen Weg quer durch die Stadt zu Potters Waisenhaus machte. Ein Auto hielt neben ihm. Henderson. „Kann ich dich nach Hause bringen?“ fragte er. „Gern. Ich bin hundemüde.“ Pinky kletterte in den Wagen. „Haben Sie das mitbekommen?“ „Mit der Taschenlampe? Was erwartest du von Morgan? Kannst noch froh sein, daß er dich nicht wegen Diebstahls an zeigte, zuzutrauen wäre es ihm.“ „Und daß er keine Leibesvisitation gemacht hat.“ „Du hast doch nicht etwa ...?“ „Nur eine Handvoll Schokolade.“ Pinky zog die Riegel hervor. „Sie werden mich doch nicht bei der Polizei verpfeifen, was?“ Henderson grinste. „Einem so guten Detektiv muß man ge wisse Freiheiten erlauben.“ „Wollen Sie auch einen Riegel?“ Henderson griff zu. „Nichts schmeckt besser“, sagte er, „als geklaute Schokolade.“
Der Kidnapper Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte. Die Tonne stand zwischen den beiden großen Schornsteinen. Pinky hatte eine; dicke Pappe fest in die Lücke geklemmt und die Ritzen mit Teer verschmiert, den er bei den Straßenarbei tern „gefunden“ hatte, so daß der kalte Herbstwind nicht hin durchpfeifen konnte. Er hörte, wie die Dachluke sich öffnete und dann mit dumpfem Knall wieder zufiel. „Ich sitze zwischen den Schornsteinen, Monster“, rief er. Doch nicht Monster, sondern Marie-Antoinette, die Neue, schob ihren Kopf um die Ecke. Der königliche Name war das einzige, was ihre Eltern ihr hinterlassen hatten. Und Sommersprossen. Mehr als genug. Für jede einen Dollar, und Marie-Antoinette wäre Millionärin gewesen. „Mensch, das ist ja ein prima Blick über die Stadt“, sagte sie begeistert. „Siehst du die Kirche da hinten? Da haben wir gewohnt.“ Pinky grunzte nur. Marie-Antoinette wandte sich schnell ab, aber Pinky sah doch, daß ihr Tränen in die Augen schössen. Es war halt noch zu neu für sie, ohne Vater und Mutter dazustehen; die beiden hatten bei einem Autounfall das Leben verloren. „Komm her, hier ist es warm.“ Pinky ließ sich von seinem Thron gleiten. „Du holst dir sonst noch 'ne Erkältung. Und bei der Blindschleiche krank zu sein, das ist kein Vergnügen. Strenge Bettruhe und Diät.“ So, wie er „Diät“ aussprach, mußte es abscheulich schmecken. „Das sind ja die Stars-and-Stripes*! “ Marie -Antoinette zeigte auf die Mülltonn enbemalung. „War das deine Ide e?“ * Stars-and-Stripes - Sterne und Streifen: die Flagge der USA
„Nein, Monsters“, gab Pinky zu.
„Und wenn du da sitzt, spielst du dann, du wärst der Präsi dent der Vereinigten Staaten?“ „Nee, König.“ Monster hatte sich klammheimlich angeschli chen und feixte. Pinky brachte ihn mit der drohenden Faust zum Verstummen. Marie-Antoinette kletterte auf die Tonne. „Dann bin ich jetzt die Prinzessin“, verkündete sie. „Bettelprinzessin“, murmelte Monster. Pinky schüttelte mißbilligend den Kopf. „Ist doch wahr“, maulte Monster. „Aber man sagt es nicht“, raunte Pinky. Er zog seinen Freund zur Dachbrüstung. „Man tritt einen, der schon am Boden liegt, nicht noch mit Füßen. Die muß sich doch erst eingewöhnen.“ „Tut mir leid, hab's nicht so gemeint.“ Monster knuffte Pinky an den Arm. „Vergessen?“- Pinky nickte wie ein weiser alter Mann. Schließlich war er drei Wochen älter. „Die Squaw will doch wohl nicht immer im Wigwam der Krie ger rumhocken?“ erkundigte sich Monster. „Magst du Weiber? Ich nicht. Die wollen bloß heiraten und Kinder kriegen.“ Mon ster winkelte das linke Bein an, umklammerte das Fußgelenk mit der Hand und hopste auf dem rechten Bein über das Dach. „Schaffst du das auch?“ „Kinderspiel“, antwortete Pinky verächtlich. Monster zog sein Taschenmesser. Er überlegte lange, welche der vier Klingen er nehmen wollte. Die längste. „Wollen wir Messer werfen?“ Schon segelte das Messer durch die Luft, überschlug sich ein paarmal und bohrte sich mit der Spitze in das alte Brett, mit dem Potter das Loch im Schorn stein zugenagelt hatte. „Aber das schaffst du nicht!“ „Pah, wenn ich wollte!“ „Dann will doch! Kannst es ja doch nicht! Los, zieh dein Mes ser, du Feigling!“ Pinky war nicht so verrückt, sich vor einem Mädchen zu bla mieren. Marie-Antoinette stand auf, schnippte mit dem Finger gegen das Messer, daß es sich federnd bog, lächelte Monster an erkennend zu und verschwand in der Luke.
„Jetzt kannst du aufhören, den starken Mann zu markieren“, sagte Pinky, „die Prinzessin ist weg.“ Monster holte sein Messer, rieb die Klinge an der Hose blank und ließ sie einschnappen. „Gut, daß du die Taschenmesser be sorgt hast“, meinte er. „Wenn uns jetzt wieder mal einer von der Lyons-Bande* angreift...“ „Solltest du lieber um dein Leben laufen!“ „Immer weglaufen“, maulte Monster. „Wenn wir denen mal so eine richtige Lektion verpassen, lassen die uns schon in Ruhe. Aber so werden sie immer frecher. Neulich war sogar einer auf dem Schulhof. Aber die Pauker haben so getan, als sä hen sie ihn überhaupt nicht.“ „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkom men“, sagte Pinky. „Mann, ist das von dir?“ „Nee, aus der Bibel. Zweitausend Jahre alt.“ „Ach so.“ Monster winkte ab. „Damals gab's auch noch keine Rocker. Was wollen die bloß?“ „Ihre Wut abreagieren und starker Mann spielen, aber an die Erwachsenen trauen sie sich nicht ran.“ „Wenn 'ne Truppe zusammen ist, schon. Wenn das so weiter geht, terrorisieren die das ganze Stadtviertel.“ Die Lyons hatten ihren Namen von der verlassenen Tank stelle, in der sie ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten, der Reklame-Löwe der Benzingesellschaft war ihr Wahrzeichen, sie trugen ihn auf ihren Jacken, manche hatten ihn sich sogar auf den Arm oder die Brust tätowieren lassen. „Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen ist einfach doof“, erklärte Pinky. „Erstens sind das schon richtige Halbstarke, zweitens endet so was früher oder später im Krankenhaus oder sogar im Leichenschauhaus. Oder du wirst von den Bullen geschnappt, und dann bist du vorbestraft. Als Vorbestrafter würde ich nie 'ne Lizenz als Privatdetektiv bekommen.“ „Du kannst immer noch zur Polizei gehen. Captain Hender son leckt sich die Finger, wenn er dich bekommt. Aber wer * Lyons - Löwen
nimmt mich, 'n Halbblut aus'm Waisenhaus? Für mich ist es doch egal, ob ich vorbestraft bin oder nicht, ich bekomme so wieso nie 'ne Lehrstelle oder 'nen anständigen Job.“ Pinky faßte Monster an beiden Schultern und blickte ihm in die Augen. „Ich laß dich nicht im Stich, Monster. Wenn ich meine Detektivagentur aufmache, wirst du mein Teilhaber, und wenn ich zur Polente gehen muß, dann nur, wenn Henderson dich auch nimmt, okay? Schließlich haben wir Blutsbrüder schaft geschlossen.“ „Hugh!“ sagte Monster. „Beim großen Manitu“, bekräftigte Pinky. „Pinky!“ Die Prinzessin steckte den Kopf durch die Dachluke. „Mister Potter sucht euch. Er ist schon ganz schön wütend.“ „Das Stinktier soll warten“, rief Monster. „Ach, ich gehe lieber“, sagte Pinky, „sonst muß ich bloß wie der die Treppe scheuern.“ * „Setz dich!“ kommandierte Potter. Er stellte sich drohend vor Pinky auf und kreuzte die Arme über der Brust. „Was hast du denn schon wieder ausgefressen, he?“ Pinky machte das unschuldigste Gesicht, das er nur zustande bekam. „Ich?“ „Du und dein Freund Hodge-podge*.“ Pinky überlegte angestrengt, doch ihm wollte nichts einfal len. Wahrscheinlich hatte sich nur der alte Hankshaw mal wie der beschwert, weil sie zu laut auf dem Hof herumgetobt hat ten. Oder Miß Pennypilky, die Hausbesitzerin? Die schickte so gar Anzeigen an die Polizei, weil sie Potter mit seinen Waisen kindern aus dem Haus haben wollte. „Wer ist Malcolm?“ schrie Potter. Pinky überlegte fieberhaft. Der einzige Malcolm, den er kannte, war der legendäre Boxer Malcolm Z., doch der war schon ein paar Jahre tot. „In der 24. Straße“, bellte Potter. * Hodge-podge - Mischmasch, hier als Schimpfwort gebraucht, weil Monsters Mutter eine Negerin war und sein Vater ein Weißer
„Ich weiß es wirklich nicht“, stotterte Pinky. „Nun gut.“ Potters Gesicht entspannte sich. „Er hat 'nen Jun gen vorbeigeschickt, du sollst mal zu ihm kommen. Aber daß du rechtzeitig zurück bist, sonst gehst du ohne Abendbrot ins Bett.“ „Kann ich Geld für den Bus haben?“ bat Pinky. „Deine Beine sind jung genug“, entschied Potter. „Und wenn du dich nicht aufhältst, schaffst du es bequem.“ Wie sollte er das schaffen? Die 24. Straße lag fast am anderen Ende der Stadt. Und mit ein paar Minuten war es dort sicher nicht getan. Bestimmt suchten die Malcolms seinen Rat als De tektiv, was sonst? Woher mochten sie nur von ihm wissen? Pin kys Neugier wuchs. Dann fiel ihm ein, daß der Weg durch das Gebiet der Lyons-Bande führte. Schweren Herzens ging er in die Schlafkammer, kroch unter das Bett, hob den großen Tape tenfetzen an und zog einen Mauerstein aus der Wand; er nahm ein paar Münzen aus ihrem „Safe“. Wer immer die Malcolms sein mochten und was immer sie von ihm wollten, das Fahrgeld würden sie wohl erstatten. Pinky hatte keine Ahnung gehabt, wie lang die 24. Straße war. Sie ging nicht nur nach dem Edison-Boulevard weiter, sie führte sogar noch über die Hamilton-Straße hinaus. Als der Bus sich langsam der Hausnummer 1000 näherte und noch immer eine elende Mietskaserne die andere ablöste, brachen all seine Hoffnungen zusammen. Hier in den Slums würde ihn kaum ein „zahlungsfähiger Klient“ erwarten. Doch dann, jenseits der Au tobahn, wandelte sich schlagartig das Bild: lauter gepflegte Ein familienhäuser, und als er schließlich vor der Nummer 1112 stand, witterte Pinky wieder eine Chance. Die Malcolms waren mit Sicherheit nicht so reich wie ein Morgan oder Ashton, doch zu den Wohlhabenden der Stadt konnte man sie bestimmt zählen. Pinky mußte eine Weile warten, bis der Summer ertönte und das Gartentor sich öffnen ließ. An der Haustür erwartete ihn eine Frau Ende Zwanzig. Wenn sie frisch frisiert und nicht so verheult gewesen wäre, hätte sie sicher noch bei einem Schön heitswettbewerb mitmachen können. Sie blickte ihn nur kurz
an, dann ließ sie ihn ein und verriegelte die Tür. Jetzt erst fragte sie: „Bist du Pinky?“ Ihr Mann saß in der Wohnstube, die linke Hand auf dem Te lefon. Sein Gesicht sah nicht so aus, als erwartete er Pinky mit Ungeduld. Missis Malcolm bot Pinky Platz an, sonst nichts. Sie selbst hatte eine Riesenkanne Kaffee vor sich stehen, aus der sie sich immer wieder einschenkte, und sie steckte sich sofort eine neue Zigarette an, wenn die alte zu Ende war. „Wir haben gehört, du kannst schweigen?“ begann sie. „Von wem?“ „Kannst du es? Schwörst du es? Beim Leben deiner Mutter?“ „Meine Mutter ist schon lange tot“, antwortete Pinky, „glau ben Sie, ich wäre sonst in diesem miesen Waisenhaus?“ „Ach, entschuldige, wie dumm von mir!“ „Schon gut. Ich schweige auch ohne Schwur. Wer immer Ih nen von mir erzählt hat, er wird es bestätigen.“ „Mister Morgan. Er hat meinem Mann damals erzählt, daß du den Diebstahl in seinem Warenhaus aufgeklärt hast. Mein Mann ist im gleichen Golfklub wie er.“ Alles, was recht ist, dachte Pinky. Reklame macht der alte Geizhals für dich. „Weshalb haben Sie nach mir geschickt?“ „Unser Benny ist verschwunden.“ Missis Malcolm schluchzte. „Entführt.“ Das also war es: Kidnapping. Wenn Pinky etwas noch mehr haßte als rohe Gewalt und Erpressung, dann Kindesentfüh rung. Er fand es viel zuwenig, daß darauf die Todesstrafe stand, er hätte Gangster, die zu so etwas fähig waren, vorher noch gemartert, zumindest skalpiert. Aber wahrscheinlich würde das auch nicht mehr bewirken als die Todesstrafe. Immer wieder wurden Kinder entführt, um die Eltern zu erpressen, und nur zu oft kam es vor, daß die Verbrecher, sobald sie Angst beka men, entdeckt zu werden, das Kind töteten, um ihr erbärmli ches Leben zu retten. Kidnapper, das wußte schon jedes Schul kind, waren eiskalte, kaltblütige, blutgierige Gangster, die vor nichts mehr zurückscheuten. Sich mit so einem einzulassen ... „Benny ist erst zwei“, schluchzte Missis Malcolm.
„Seit wann ist er verschwunden? Wie haben Sie es erfahren? Hat der Entführer schon seine Lösegeldforderung genannt? Weiß die Polizei davon?“ „Niemand weiß es“, sagte Missis Malcolm, „und es darf auch niemand erfahren; der Erpresser hat gedroht, Benny sonst zu töten. Und es dürfen auch keinerlei Nachforschungen ange stellt werden; er sagte, er würde das sofort erfahren. Fünfzig tausend Dollar will er haben, und er würde anrufen, wann, wo und wie das Lösegeld zu übergeben sei.“ „Und was soll ich dabei tun?“ erkundigte sich Pinky ratlos. Malcolm machte zum erstenmal den Mund auf. „Ich habe dir gleich gesagt, es ist Unsinn“, knurrte er. „Gib ihm einen Vierteldollar für den Weg und 'nen Schluck Cola, und dann schick ihn nach Hause.“ Er sah Pinky finster an. „Aber wehe, wenn du quatscht. Ich drehe dir eigenhändig den Hals um.“ „Entschuldige“, sagte Missis Malcolm, „ich habe dir nicht mal was zu trinken angeboten. Hast du Hunger?“ „Immer.“ Pinky sah auf die Uhr über dem Kaminsims. „Und bis ich zu Hause bin, ist das Abendbrot längst vorbei.“ „Komm mit in die Küche.“ Missis Malcolm holte einen Haufen Sachen aus dem Kühl schrank und stellte sie vor Pinky auf den Tisch. Sie achtete nicht darauf, was er nahm, sie starrte die ganze Zeit aus dem Fenster. Dann sah sie ihn an, Verzweiflung in den Augen. „Mister Morgan meinte, du könntest vielleicht...“ „Wenn ich nicht mal Nachforschungen anstellen darf? Warum eigentlich nicht? Wer achtet schon auf einen Jungen.“ „Mein Mann würde es merken“, sagte sie. „Du mußt ihn ver stehen. Er will kein Risiko eingehen.“ „Das verstehe ich gut.“ Pinky legte Schinken auf seine Stulle. Die vierte. „Wo haben Sie die Nachricht gefunden? Wie sah sie aus?“ „Aus Zeitungswörtern zusammengeklebt. Sie lag in unserem Briefkasten. Sie ist nicht mal mit der Post gekommen. Ich habe
doch schon den ganzen Nachmittag aus dem Fenster gesehen,
weil ich dachte ...“
„Kommen viele Leute hier bei Ihnen vorbei?“
„Kaum jemand. Der Briefträger, der Wäschemann, mal ein Polizist.“ „Warum wenden Sie sich nicht an die Polizei?“ „Weil der Kidnapper es uns verboten hat. Und mein Mann sagt, bei der Polizei sind sie alle so korrupt, verkaufen solche Nachrichten gleich an die Zeitungen, und dann ...“ „Ich glaube, Captain Henderson könnten Sie vertrauen“, sagte Pinky. „Nein, es geht nicht.“ „Wie ist Benny denn verschwunden? Ich meine, wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?“ „Er hat hinter dem Haus gespielt, wie jeden Nachmittag. Der Arzt hat es empfohlen: Bei jedem Wetter wenigstens eine Stunde.“ „Konnte man ihn von der Straße aus sehen?“ „Eigentlich nicht.“ „Sie glauben also, es muß jemand gewesen sein, der sich aus kannte? Haben Sie Hauspersonal?“ „Anne, unser Kindermädchen, und Jennifer, sie macht den Haushalt.“ „Und wo sind die beiden jetzt?“ „Anne habe ich Urlaub gegeben. Wenn ich sie sehe ...“ Missis Malcolm begann wieder zu schluchzen. „Und Jennifer?“ „Die ist schon seit vier Wochen krank.“ „Sind Sie sicher?“ „Ja, ich habe sie besucht. Sie hat sich das Bein gebrochen, sie kann es unmöglich gewesen sein.“ Aber sie kann den Tip gegeben haben, sagte sich Pinky. Er fragte nach der Adresse. Missis Malcolm rückte sie nicht her aus. „Okay“, sagte Pinky, „lassen Sie mich zur Hintertür hinaus, und sagen Sie mir, wo die Gartengeräte stehen.“
„Gartengeräte?“ „Sehen Sie nicht, daß das Laub vom Rasen geharkt werden muß? Wenn der Erpresser Ihr Haus beobachtet hat, wird er sich fragen, warum ich zu Ihnen gekommen bin. Laubharken ist eine Erklärung. Außerdem kann ich mich dabei unauffällig um sehen.“ Zum ersten Mal lächelte Missis Malcolm. „Ich glaube, Mister Morgans Tip war doch nicht so schlecht.“ Pinky harkte fein säuberlich einen breiten Streifen neben den Hecken, die das Grundstück einschlössen. In der Ecke an der Straße war ein Loch, groß genug, daß ein Mann bequem hindurchschlüpfen konnte, wenn er nicht gerade drei Zentner wog. Und diese Ecke war auch vom Haus aus. schlecht einzuse hen. Pinky harkte noch bis zum Weg. „Es wird schon dunkel“, sagte er zu Missis Malcolm, „ich muß morgen weitermachen.“ Dabei nickte er ihr ermutigend zu. „Et was habe ich schon entdeckt. Rufen Sie Potter an, mieten Sie mich zwei oder drei Tage als Gartenhilfe. Bieten Sie dem Skunk einen Dollar pro Tag. Nein ...“, Pinky deutete zum Fen ster hinaus, auf die andere Straßenseite; hinter den Grundstük ken erhob sich ein Abhang, der dicht mit Sträuchern und Bäu men besetzt war, „der Kerl hat doch geschrieben, er würde alles mitbekommen. Wenn das nicht bloß eine leere Drohung ist, muß er sich dort drüben verstecken und Ihr Haus mit einem Fernglas beobachten. Also mieten Sie mich und meinen Freund Monster, auf den Dollar mehr kommt es bei Ihnen ja wohl nicht an.“ „Natürlich nicht. Und was bekommst du für dich?“ „Wissen Sie, ich bringe es nicht übers Herz, jetzt mit Ihnen über Geld zu verhandeln. Geben Sie irgend etwas. Und falls ich Benny finde ...“ „Kannst du dir wünschen, was du willst!“ Missis Malcolm holte eine Zuckerdose aus dem Küchenschrank. „Hier, als An zahlung. Damit du auch wiederkommst. Du hast mir schon Mut gemacht.“ Es waren drei Dollarscheine.
Mit Potter telefonieren wollte sie jedoch nicht. „Besser, mein Mann weiß von nichts.“ Sie gab Pinky einen Brief mit und legte vier Dollar hinein. „Langsam machst du dich“, sagte Potter zufrieden, als Pinky ihm den Brief gab. „Du siehst, man kann auch mit ehrlicher Ar beit sein Geld verdient.“ Daß Pinky nicht sein, sondern Pot ters Geld verdiente, übersah er großzügig. Gutgelaunt bot er ihm Abendbrot an, obwohl die anderen längst im Bett lagen. Pinky schmierte zwei Klappstullen und nahm sie mit in die Kammer. „Hier, Häuptling Faß-ohne-Boden!“ Er reichte die Stullen ins Oberbett. Monster haute sofort rein. „Gilt dein Schwur noch?“ erkundigte sich Pinky. „Immer und ewig.“ „Dann betrachte dich ab sofort als Privatdetektiv und als mein Partner.“ Pinky weihte Monster in den Fall ein. „Du streifst morgen nachmittag durch das Hügelgelände gegenüber dem Haus“, schloß er. „Es wird kaum auffallen, wenn sich ein Junge dort ein paar Stöcke zum Schnitzen holt.“ „Und wenn ich den Kerl sehe?“ „Tust du, als hättest du nichts bemerkt, gehst zur nächsten Telefonzelle und rufst mich an, okay?“ „Es würde noch weniger auffallen, wenn ich nicht allein wäre“, meinte Monster. „Bist du verrückt? Sollen wir noch jemanden einweihen?“ „Der muß es ja nicht wissen. Wenn ich zum Beispiel die Prin zessin mitnähme?“ „Eine Squaw auf dem Kriegspfad?“ Pinky lachte laut los. „Monster, Monster! Ich denke, du kannst Weiber nicht leiden?“ Er äffte Monster nach: „Die wollen bloß heiraten und Kinder kriegen!“ „Was du gleich wieder denkst. Meinst du nicht auch ...?“ „Nein. Wenn du jetzt auch mein Partner bist, der Boß bleibe ich. Ist das klar?“ „Wie Kloßbrühe.“
Den Dollar für den Skunk mußte Pinky tatsächlich abarbeiten. Das Grundstück schien immer größer zu werden. Wenn er nur daran dachte, wie gerne Potter ihn für einen Dollar verkaufte, kam ihm der kalte Kaffee hoch, genauer gesagt, die eiskalte Cola aus Missis Malcolms Kühlschrank. Monster hat es gut, dachte er, der kann jetzt Indianer spielen. Nein, das war unge recht. Er bekam hier gut zu essen, während Monster mit den Hamburgern aus Morgans Billigrestaurant vorliebnehmen mußte, die ihnen langsam schon zum Hals heraushingen. Au ßerdem riskierte Monster womöglich seinen Hals, wenn der Er presser auf ihn aufmerksam wurde. Aber Monster würde schon vorsichtig sein und notfalls auch schneller rennen können als der gewiefteste Gangster; schließlich war Monster der King auf allen Sportfesten, wenn es ums Rennen ging. Kurz nach vier rief er an. Zum Glück war Mister Malcolm noch in seinem Büro. Monster war schrecklich aufgeregt, er hatte auf dem Hügel einen Mann mit einem Fernglas gesehen. Pinky bestellte Monster zum Supermarkt. Dann erklärte er Missis Malcolm, daß sie beide einkaufen gehen müßten, sobald ihr Mann nach Hause kam. „Irgendwann müssen Sie ja einkaufen“, sagte er, „und so ist es am unauffälligsten. Wir gehen beide zu Fuß, und ich trage Ih nen dann die Beutel.“ Monster wartete schon ungeduldig. Der Mann, so berichtete er, habe eindeutig zu Malcolms Haus geblickt, wenn auch nur kurz, dann sei er weitergegangen. Aber vielleicht hatte Monster ein Geräusch verursacht und ihn dadurch verscheucht? Mon ster hatte den Mann in den Büschen zweimal überholt, um sich sein Gesicht ganz genau einzuprägen. Die Beschreibung sagte Missis Malcolm nichts. Auch ihrem Mann nicht, dem sie, als sie nach Hause kamen, beichteten, was seine Frau mit Pinky ver abredet hatte. Zuerst machte Malcolm ein wütendes Gesicht, doch als er al les gehört hatte, war er zufrieden, daß seine Frau Pinky nicht einfach weggeschickt hatte. „Aber gib dem Jungen jeden Tag einen Vierteldollar extra“,
sagte er, „schon für die Gartenarbeit. Kannst du morgen die trockenen Sträucher abschneiden, Pinky?“ Als Pinky am nächsten Tag zu den Malcolms kam, herrschte dort verzweifelte Aufregung. Der Kidnapper hatte sich noch im mer nicht gemeldet, aber eine der Morgenzeitungen berichtete über die Entführung: „Kidnapping in Kittsburgh?“ Der Artikel erschien zwar mit einem Fragezeichen und enthielt mehr Ver mutungen als Fakten, auch wurde .der Name der Malcolms nicht genannt, für den Entführer konnte es aber kein Geheim nis sein, wer da gemeint war. „Nun ist alles vorbei!“ Frau Malcolm weinte. „Ich möchte nur wissen, welches Schwein da gequatscht hat!“ tobte ihr Mann. Er sah Pinky lauernd an. „Wir nicht!“ beteuerte der. „Hast du nicht im Golfklub mit Mister Morgan darüber ge sprochen?“ fragte Missis Malcolm. „Als du nach Pinkys Adresse gefragt hast?“ „Morgan hat mir geschworen, zu schweigen“, antwortete ihr Mann. „Ich vertraue ihm.“ Sie überlegten gerade zu dritt, wie die Zeitung es erfahren haben mochte, da tauchte Captain Henderson auf. „Tag, Robert, Tag, Lilly. Wie geht's?“ Er musterte Pinky. „Sind wir uns nicht schon mal über den Weg gelaufen?“ Pinky zuckte mit den Schultern, als könnte er sich an nichts erinnern. „Na, das fällt mir noch ein“, sagte Henderson. „Auf mein Per sonengedächtnis kann ich mich verlassen. Wo ist Benny?“ er kundigte er sich dann. „Bei der Großmutter“, antwortete Malcolm. „Warum?“ Henderson deutete auf die Zeitung. „Es gibt nicht allzu viele Leute, die da in Frage kommen: .Mitglied eines angesehenen Golfklubs der Stadt', dazu ein zweijähriger Knabe! Und weil wir fast Nachbarn sind, dachte ich, ich guck mal bei Ihnen vorbei.“ „Uns geht das nichts an“, beteuerte Malcolm. „Woher weiß eigentlich die Zeitung davon?“ fragte Pinky. „Wollte man mir nicht verraten. Angeblich ein anonymer An
ruf. Der Anruf könnte stimmen, wenn auch nicht anonym. Die Sekretärin hat mir da was geflüstert, von einem Kellner im Golfklub ... Aber das geht Sie ja nichts an, nicht wahr?“ Hen derson blickte in die Runde. „Nun gut. Wenn Sie mich sprechen wollen, Robert, wissen Sie ja, wo Sie mich finden können.“ Er sah Pinky scharf an. „Und du, mein Freund, du bist — nein, das war ein anderer. Na, ich komme noch dahinter.“ „Wenn der Entführer das Haus beobachtet“, sagte Malcolm, nachdem die Tür hinter dem Captain zugefallen war, „dann weiß er, daß die Polizei hier war.“ Er stöhnte verzweifelt. „Sie müssen jetzt etwas unternehmen“, forderte Pinky. „Bit ten Sie die Leute von der Zeitung, einen Aufruf an den Entfüh rer zu drucken. Versichern Sie ihm, daß er das Geld jederzeit bekommen kann. Ohne Polizei. Sie müssen ja Ihren Namen nicht nennen. Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: .Verzwei felte Eltern flehen den Entführer an ...'„ Missis Malcolm rannte heulend aus dem Zimmer. Ihr Mann überlegte eine Weile, dann legte er Pinky die Hand auf die Schulter. „Du hast wahrscheinlich recht. Willst du mitkom men?“ „Ist wohl besser, wenn Ihre Frau jetzt nicht allein im Hause bleibt.“ „Wie alt bist du?“ erkundigte sich Malcolm. „Zwölf.“ Malcolm sah Pinky lange an, schüttelte dann den Kopf und ging. In den nächsten zwei Tagen geschah nichts. Wenn man davon absehen wollte, daß die „Kittsburgh Daily News“ den Aufruf an den Kidnapper druckte und daß Missis Malcolm einen Nerven zusammenbruch hatte. Da sie auf keinen Fall in ein Kranken haus wollte, wurde sie rund um die Uhr von drei Kranken schwestern betreut, die sich ablösten. Pinky schmiß den Haus halt auch ohne Ablösung, kaufte ein, kochte, wusch ab und trieb sich so viel wie möglich im Garten herum. Um einen triftigen Grund vorzutäuschen, fing er an, die Fensterläden zu streichen. Er stellte fest, daß viel mehr Leute die Straße entlangkamen,
als Missis Malcolm gesagt hatte, und daß praktisch jedermann die Gelegenheit zum Kidnapping hätte herausfinden können: hinter dem Haus führte ein Weg entlang, von dem aus man un geniert das Grundstück beobachten konnte. Abends pokerte Pinky mit Malcolm, um ihn auf andere Ge danken zu bringen. Er war sich nicht sicher, ob Malcolm tat sächlich so zerstreut oder ein so miserabler Pokerspieler war oder ob er ihn absichtlich gewinnen ließ. Obwohl sie nur um einen Cent spielten, hatte Pinky jeden Abend über einen Dollar gewonnen. Er schlief jetzt auch bei den Malcolms: auf dem Sofa im Wohnzimmer. Monster streifte nach wie vor über den Hügel, obgleich Pinky ihm gesagt hatte, daß das sinnlos geworden sei. Jeden Abend rief er an und gab seinen „Tagesreport“, Teil eins: Ermittlungen, Teil zwei: Bericht über „das Nest des Skunk“. Die Prinzessin kam verdächtig oft darin vor, und Pinky stellte zu seiner Überraschung fest, daß er fast so etwas wie Neid emp fand. Den Gedanken, daß er Sehnsucht nach diesem „sommer sprossigen Balg“ haben könnte, wies er natürlich weit von sich. Sonntag früh klingelte das Telefon. Eine heisere Stimme fragte nach den Malcolms. „Die schlafen noch“, erklärte Pinky, „kann ich nicht...“ „Wer bist du?“ unterbrach der Heisere. „Ein Neffe. Meine Mutter ist krank, da hat sie mich zu Onkel Robert geschickt. Soll ich ihn wecken?“ „Ja. Sag, es ist dringend.“ Pinky stellte das Gespräch ins Schlafzimmer um, doch er tat nur so, als lege er auf, und hörte mit. Der Heisere fragte, ob es vielleicht Malcolms Kind sei, das da verschwunden war. Ihm sei etwas Verdächtiges aufgefallen, und wenn er tatsächlich den entführten Jungen gesehen habe, dann gäbe es sicher eine Be lohnung. Malcolm verabredete sich mit dem Mann. Kurz darauf stürmte er die Treppe hinunter. „Bleib lieber hier“, rief er seiner Frau zu, „falls es falscher Alarm ist. Jemand muß im Haus sein, wenn der Entführer sich meldet. Ich nehme Pinky mit.“ Drei Ecken weiter wurden sie gestoppt. Ein Wagen versperrte
die Fahrbahn. Henderson. Der Captain stieg aus seinem Auto und kam herüber. Malcolm kurbelte nur die Scheibe runter. „Guten Morgen, Robert“, sagte Henderson, „wohin denn so früh?“ Pinky begrüßte er nicht. „Geht das die Polizei etwas an?“ „Weiß ich's?“ Das Lächeln verschwand aus Hendersons Ge sicht. „Passen Sie auf, Robert, ich bin nicht offiziell hier. Noch nicht. Aber das kann sich in einer Minute ändern. Mir machen Sie nichts vor, ich weiß, daß Benny gekidnappt wurde. Es ist nicht schwer, herauszubekommen, daß es bei allen Mitgliedern von allen Golfklubs dieser Stadt nur einen zweijährigen Jungen gibt, der im Augenblick nicht bei seinen Eltern ist. Ich will Ih nen helfen.“ Malcolm kniff die Lippen zusammen. „Sie haben vor ein paar Minuten einen Anruf bekommen ...“ „Woher wissen Sie das?“ brüllte Malcolm. „Lassen Sie etwa mein Telefon abhören? Das ist ungesetzlich!“ „Ich weiß es“, entgegnete Henderson. „Und daß Sie sich jetzt mit einem Verbrecher treffen wollen.“ „Gar nichts wissen Sie!“ Die beiden starrten sich an wie zwei Kampfhähne, die im nächsten Augenblick übereinander herfallen würden. Dann schickte Malcolm Pinky auf die hinteren Sitze und öffnete die Tür. Henderson stieg ein und ließ sich erklären, was bisher ge schehen war. „Gut, sehen wir uns diesen heiseren Knaben mal an“, sagte er dann. „Ich komme mit. Als Freund. Einverstanden?“ Der Heisere zeigte sich ziemlich überrascht, als sie zu dritt ankamen. Er schien Henderson nicht zu kennen, zumindest ver zog er keine Miene, als Malcolm den Kriminalchef als Nach barn ausgab. Pinky sah sich den Mann genau an, und je länger er ihn musterte, desto geringer wurde seine Hoffnung, daß die ses Würstchen ihnen helfen könnte. Der sah eher wie ein Pen ner aus, der sich wichtig machen und ein paar Dollar abstauben wollte. Als erstes wollte er wissen, wieviel Belohnung Malcolm ihm geben würde, wenn er ihn zu seinem Sohn führte.
„Was hatten Sie sich denn gedacht?“ fragte Henderson. „Nun, der Kidnapper verlangt fünfzigtausend Dollar. Ich dachte, die Hälfte.“ „Fünftausend“, sagte Henderson, „und keinen Cent mehr.“ Malcolm warf ihm einen wütenden Blick zu. „Wollen wir handeln, wo es um das Leben meines Benny geht? Zehntau send. Und noch einmal zehntausend, wenn Sie uns auf die Spur des Verbrechers bringen. Also, wo ist mein Junge?“ „Ich weiß ja gar nicht, ob es tatsächlich Ihr Kind ist“, sagte der Mann. Dann berichtete er, daß er vom Fenster seines Zim mers aus in einem leerstehenden abbruchreifen Haus gegen über einen Mann und ein Kind beobachtet hatte. Zuerst habe er gedacht, daß es Vater und Sohn seien, weil der Mann ganz lie bevoll mit dem Kleinen umging, dann aber sei ihm aufgefallen, daß der Mann das Kind allein ließ, wenn er außer Haus ging. „Würden Sie ein kleines Kind allein in so einem verfallenen Haus lassen? Ich meine, da wird man nachdenklich. In so 'nem Schuppen gibt's doch Ratten und Ungeziefer. Und wie ich dann in der Zeitung las ...“ „Erst heute?“ unterbrach ihn Henderson. „Ja, heute morgen. Ich kann mir keine Zeitung leisten“, sagte der Mann. „Ich fische mir ab und zu mal 'ne Zeitung aus den Pa pierkörben.“ „Das ist doch jetzt unwichtig“, unterbrach Malcolm. „Wo ist das Haus? Steigen Sie ein.“ „Vorsicht“, mahnte Henderson, „wir müssen sehr genau über legen, wie wir vorgehen wollen. Ich schlage vor, wir begeben uns erst einmal in die Wohnung von Mister...?“ Er sah den, Heiseren scharf an. „Nennen Sie mich Smith. Oder wie Sie wollen.“ „Also Mister Smith. Wie sieht der Mann aus?“ Die Beschreibung, die Smith gab, hatte absolut nichts mit dem Mann zu tun, den Monster beobachtet hatte. Smith hauste im dritten Stock einer völlig verfallenen Miets kaserne. In den unteren Stockwerken fehlten schon alle Türen. Die ganze Straße sollte offensichtlich demnächst abgerissen
werden, auf der Fahrbahn standen ein paar Kräne, Bagger und Kipper. „Dort!“ Smith wies auf ein Fenster im zweiten Stock des ge genüberliegenden Hauses. „Der Mann scheint noch nicht wie dergekommen zu sein. Ich sah, wie er heute früh wegging. Dann baute der Junge eine Weile mit den Bauklötzen am Tisch, hatte es aber wohl bald über, denn er legte sich auf seine Ma tratze. Da, in der Ecke! Sehen Sie, jetzt steht er auf.“ „Das ist Benny“, brüllte Malcolm. „Los, worauf warten wir noch?“ Smith stürmte gleich hinterher. „Ich krieg doch meine Beloh nung, was?“ Auf der Straße holten Pinky und Henderson die beiden ein. Der Captain bestand darauf, daß er als erster die Wohnung be trat, und das war wörtlich zu nehmen: Er probierte gar nicht erst, ob die Tür abgeschlossen war, er trat sie mit einem kräfti gen Fußtritt ein, dann die Tür zu dem Zimmer, in dem der Junge sein mußte, seine Pistole hatte er schußbereit in der Hand. Benny stand ängstlich in der Fensterecke, Kunststück, wenn einer die Türen auf diese Art aufmacht. Malcolm sprang auf ihn zu. „Benny!“ „Papa!“ Die beiden flogen sich in die Arme. Henderson ging los, die übrigen Räume auf diesem Flur zu untersuchen. „Nichts“, sagte er, als er wiederkam. „In der Küche eine Ma tratze, ein paar Töpfe, ein Haufen Lebensmittel und leere Pak kungen. Also, genug zu essen scheint der Kerl Ihrem Benny ge geben zu haben. Und jede Menge Bonbons.“ „Ich sag doch, es sah aus wie Vater und Sohn“, meldete sich Smith. „Wer weiß, ob ein anderer überhaupt dran gedacht hätte, daß hier was faul ist.“ Pinky studierte noch immer das „Kinderzimmer“. Selbst für den wenig verwöhnten Geschmack eines Potterschen Waisen kindes war es nicht gerade üppig eingerichtet: ein Tisch und auf dem Boden eine alte Matratze mit einer fleckigen Decke, dafür aber eine Menge Spielzeug, eine Puppe und ein Teddy und eine Mickymaus, eine kleine Eisenbahn und Autos aus
Plast, ein Karton voller billiger Tiere und Bausteine; auf dem
Tisch stand ein Turm aus acht Würfeln.
„Den hat der Kleine heute früh gebaut?“ fragte Pinky.
„Hab ich doch vorhin erzählt“, antwortete Smith mürrisch.
„Ich geh schnell mal zum nächsten Telefon“, sagte Hender son. „Zwei von meinen Leuten sollen herkommen und den Kid napper in Empfang nehmen, wenn er zurückkommt.“ „Das können Sie sich sparen.“ Pinky schloß die Tür und stellte sich davor. Die drei Männer blickten ihn erstaunt an. „Du meinst, er wird nicht wiederkommen?“ fragte Malcolm. „Er ist ja schon hier.“ Pinky zeigte auf Smith oder wie der Mann heißen mochte. „Dort steht er.“ „Ich?“ schrie der Heisere empört. „Ich schlag dir gleich ein paar in die Fresse, du unverschämter Bengel.“ Er wandte sich an Malcolm. „Das laß ich mir nicht bieten. Ich nicht. Oder ist das 'n abgekartetes Spiel, Mister? Damit Sie mich um meine Belohnung prellen können?“ „Beruhigen Sie sich“, sagte Malcolm. „Ich weiß auch nicht, was in den Jungen gefahren ist. Sie bekommen natürlich Ihre Belohnung.“ „Fragen Sie diesen famosen Mister Smith doch erst, woher er eigentlich wußte, daß Sie überhaupt ein Kind in diesem Alter haben. In der Zeitung hat Ihr Name nicht gestanden.“ „Da irrst du dich“, sagte Henderson. „In der heutigen Aus gabe der .Kittsburgh Daily News' standen die Namen von drei Familien, die in Frage kommen.“ „Und die hat jemand schon so früh in den Papierkorb gewor fen, daß Mister Smith sie vor acht Uhr herausfischen konnte?“ „Habe ich!“ krähte Smith. „Und nun halt gefälligst die Klappe, Kleiner.“ „Ich denk gar nicht dran. Sie haben doch heute morgen gese hen, wie der Kidnapper das Haus verlassen hat?“ „Mit dir red ich nicht.“ „Antworten Sie“, befahl Henderson. Er holte seine Polizei marke heraus und hielt sie dem Heiseren unter die Nase. „Das hab ich ja schon gesagt“, brummte der.
„Und daß der Junge dann mit den Bausteinen spielte?“ Pinky j zeigte auf den Turm. Smith nickte. „Nun, Mister Malcolm“, sagte Pinky, „stellen Sie Benny doch mal auf den Fußboden. Hier, am Tisch.“ Malcolm sah Hender son an, und erst als der zustimmte, tat er es. „Benny, gib Papa den Baustein, ja?“ Pinky zeigte auf den obersten Würfel des Turmes. Benny reckte den Arm so weit er konnte, aber seine Finger reichten nicht mal an den dritten der acht Würfel. „So, Mister“, sagte Pinky bissig, „und nun erklären Sie uns, wie der Kleine heute früh den Turm gebaut hat. Sie haben doch zugesehen, nicht wahr?“ Smith blickte sich um, als suche er einen Stuhl oder einen Hocker, aber in dem Zimmer war nichts als die Matratze. Dann machte er einen Satz zur Tür. Captain Henderson packte ihn, und ehe Smith sich versah, hatte er Handschellen an. Pinky musterte das Häufchen Unglück. Das war nun wirklich kein eiskalter Gangster. Ein armer Teufel, der versucht hatte, mit einer verzweifelten Tat zu Geld zu kommen. Doch selbst wenn er den kleinen Benny gut behandelt hatte, durfte man mit einem Kidnapper Mitleid haben? „Ich komme nachher bei Ihnen vorbei, Robert“, sagte Hender son und führte den Kidnapper ab. „Warum hat er nicht fünfzigtausend kassiert?“ fragte Mal colm. „Weil ihm die Sache zu heiß geworden ist, nachdem es schon in der Zeitung stand“, erklärte Pinky. „Eine Belohnung zu kas sieren, das traute er sich noch. Und fast hätte es ja geklappt.“ * Das Wiedersehen von Mutter und Kind hätte jedem Schnulzen film Ehre gemacht. Pinky schien es gar nicht zu geben. Die Malcolms schleppten ihren Sprößling erst einmal ins Bad und schrubbten ihn ab, dann verschwanden sie mit ihm im Kinder zimmer. Pinky ging in die Küche und holte das Frühstück nach, und als die Malcolms keine Anstalten machten herunterzukom
men, aß er allein zu Mittag, genauer gesagt, er tafelte: Thun fisch-Mayonnaise auf Toast als Vorspeise, Roastbeef mit Moos beeren und gehackten Walnüssen auf Maisbrei als Hauptge richt und als Nachtisch eine Dose Mango. Er fand, das hätte er verdient. Dann setzte er sich vor den Fernseher. Die Sender schienen miteinander verabredet zu haben, die Kinder so zu langweilen, daß sie lieber im Freien spielen wollten. Pinky ging nach oben. „Komm rein!“ Missis Malcolm winkte Pinky, er solle sich zu ihr auf den Teppich setzen und mit Benny spielen. „Ich wollte eigentlich gehen“, erwiderte Pinky. „Sie brauchen mich ja wohl nicht mehr.“ , „Setz dich“, sagte Missis Malcolm. „Ist er nicht goldig, unser Bennyleinchen?“ „Laß ihn doch gehen, wenn er will“, meinte ihr Mann. „Da wäre noch eine Kleinigkeit.“ Pinky blickte Missis Mal colm in die Augen. „Sie waren so freundlich, mir eine Beloh nung zu versprechen, wenn Sie Ihren Jungen zurückbekom men.“ „Stimmt. An was dachtest du denn?“ „An einen Elefanten.“ „Was?“ Malcolm fielen fast die Zähne aus dem Mund. „Einen richtigen Elefanten?“ „Für den Tierpark“, erklärte Pinky. „Ich meine, Sie haben doch gerade fünfzigtausend Dollar gespart, und da ...“ Malcolm stand auf und stellte sich vor Pinky in Positur. „Du hast Benny doch nicht gefunden, oder?“ „Okay. Aber ich habe Sie davor bewahrt, dem Kidnapper zehntausend Dollar in den Rachen zu werfen. Und hatten Sie nicht weitere zehntausend ausgesetzt, wenn der Gangster ge faßt würde?“ Malcolm winkte seiner Frau. „Gib ihm fünf Dollar, Lilly. Ich denke, damit ist er gut bedient.“ Missis Malcolm ging mit Pinky nach unten. Sie schüttete das Geld aus der Zuckerdose in seine Hände. „Nimm's ihm nicht übel“, bat sie. „Er ist nur im Moment so, so ..., du mußt das ver stehen, all die Aufregung ...“
„Ich verstehe schon.“ Pinky sah sie mitleidsvoll an. „Sie ha ben es auch nicht gerade leicht mit ihm, was?“ Missis Malcolm wurde rot wie ein kleines Mädchen. Sie drückte ihn an sich und küßte ihn auf beide Wangen. „Tausend Dank“, flüsterte sie. „Ich lege was auf die Seite, das verspreche ich dir. Aber für einen Elefanten wird es wohl nicht reichen.“ „Macht nichts“, sagte Pinky. „Drücken Sie mich lieber noch mal. Es ist schon so lange her ...“ Als er das Gartentor hinter sich schloß, stoppte Hendersons Wagen vor dem Grundstück. Der Captain winkte Pinky zu sich. „Na, Meisterdetektiv, hast du wieder die Taschen voll?“ Aha, dachte Pinky. Jetzt hat er sich erinnert, daß ich den Dieb in Morgans Warenhaus gestellt habe. Und an die paar Rie gel Schokolade natürlich. Er zeigte den Inhalt seiner Hosen tasche vor. „Aber dieses Mal ganz legal.“ „Wieviel ist es denn?“ Pinky musterte seinen Reichtum. „Zwölf oder dreizehn Dol lar.“ „Und das ist alles?“ „Oh, Mister Malcolm meinte, fünf Dollar seien schon reich lich. Na, er muß ja wissen, was ein Malcolm wert ist.“ „Hauptsache, du weißt, wieviel du wert bist.“ Henderson sah Pinky an, als schätze er ihn ein; seinem Gesicht nach mußte er ihn ziemlich hoch veranschlagen. Er drückte Pinky fünf Dollar in die Hand. „Danke“, sagte Pinky, „nun reicht es ja für ein richtiges Fest essen. Da wird sogar Monster satt.“ Henderson lachte. „Ich dachte, du würdest dir schon ein Mäd chen einladen.“ „Das ist eine gute Idee“, erwiderte Pinky. „Ich kenne da eine Prinzessin...“ „Eine richtige Prinzessin?“
„Wie aus dem Märchenbuch. So long, Captain!“ Pinky tippte mit zwei Fingern an seine Mütze und lief davon.
Der falsche
Weihnachtsmann
Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte. Die Tonne stand auf dem Hausboden, und statt in den Him mel starrte Pinky in eine von Spinnweben verhängte Finsternis. Irgendwo hinter ihm spielten die Ratten Haschen oder Versteck. „Pinky?“ brüllte Monster draußen im Treppenhaus. Sollte er brüllen, bis er schwarz wurde. Pinky hatte keine Lust, sich in seinen Träumen stören zu lassen, Träumen der Erinnerung an die Weihnachtsfeiern zu Hause. Wie lange war das nun her? Vier Jahre. Vier lange Jahre in Potters Waisenhaus, und wenn er an damals dachte, verlor er die letzte Lust, hinunterzugehen und sich die salbungsvolle Weihnachtspredigt des Skunk anzu hören. „Pinky?“ Monster riß die Bodentür auf. „Steckst du hier im Dustern? Komm raus, es schneit!“ Das war natürlich etwas anderes. Pinky rutschte von seinem Thron und rannte mit Monster aufs Dach. Dichte weiße Flok ken fielen vom Himmel und verliehen sogar Kittsburgh weih nachtliche Stimmung, zumal jetzt die Kirchenglocken in die abendliche Stille hallten. Die beiden Jungen standen ganz still und blickten über die Stadt. Monster legte seinen Arm um Pin kys Schulter. „Schön, was?“ Dann holte er etwas aus der Hosen tasche und drückte es Pinky in die Hand. „Für dich. Und fröhli che Weihnachten!“ Es war ein Biber, fingerlang, und aus wei ßem Hickoryholz geschnitzt. „Dein Totemtier, Häuptling Großer Biber!“ Pinky hatte vor kurzem einen richtigen Totemtraum gehabt, geradeso, wie es in dem Buch über die Irokesen beschrieben
war: Stundenlang war er über die Prärie einer geheimnisvollen Spur nachgejagt, die ihn schließlich zu einem Biberbau führte, und als er das Tier erlegen wollte, hatte es sich aufgerichtet und ihm mit den Vorderpfoten einen Zweig hingehalten. Pinky und Monster hatten sofort gewußt, wie dieser Traum zu deuten war, und Monster war sicher, daß in Pinkys Adern Irokesenblut rann, zumindest von irgendeinem Urgroßvater. „Brauchst ja nur mal deine Nase anzusehen“, hatte er gesagt, und als Pinky mit zwei Spiegelscherben sein Nasenprofil begut achtete, schien es ihm auch so. Wer weiß, vielleicht war er der Nachkomme eines berühmten Häuptlings? Als Spurensucher, das behauptete nicht nur Monster, das wußte er längst selbst, war er kaum zu schlagen. „Das ist wahrlich ein großes Geschenk“, bedankte er sich bei Monster, „Und hier ist was für dich. Fröhliche Weihnachten!“ Er gab Monster die Mundharmonika, die er schon vor Wochen ge kauft hatte, von dem Geld, das Captain Henderson ihm gegeben hatte. „Die ist ja nagelneu!“ jubelte Monster. Er probierte sie gleich aus. Ein schwermütiger Blues klang durch die Nacht. Als Mon ster aufhörte, räusperte sich jemand hinter ihnen. Die Prinzes sin. „Hab noch nie so ein schönes Lied gehört“, sagte sie leise. „Dafür könnt ich dich küssen.“ „Und warum tust du es nicht?“ Monster hielt ihr den Mund hin. „Hast recht.“ Die Prinzessin drückte einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. „Gesegnetes Fest. Und für dich auch, Pinky.“ Pinky bekam einen Kuß auf die Stirn. „Ich hab da was für dich“, sagte er verlegen, „nur eine Klei nigkeit.“ Es war eine dünne Kette, die in dem spärlichen Licht wie echtes Gold aussah. „Da“, sagte Monster und hielt der Prinzessin einen geschnitz ten Affen hin, der eine so komische Grimasse zeigte, daß sie laut lachte. Bevor Monster noch ein enttäuschtes Gesicht zie hen konnte, drückte die Prinzessin den Affen mit beiden Hän den an die Brust. „Und ich habe gar nichts für euch“, sagte sie traurig.
„Kannst uns ja noch mal küssen! Was meinst du, Monster?“ Pinky schüttelte sich und ging zur Dachluke. „Mir wird kalt. Kommt ihr mit?“ Die Blindschleiche war gerade dabei, die Lichter am Weih nachtsbaum anzuzünden, die fünf Kleinen standen herum und begrüßten jede aufflammende Kerze mit lautem: „Ah“ und „Oh“. Unter dem Baum stand für jeden ein bunter Teller mit Obst und Süßigkeiten. Und vor jedem Teller lagen Schlitt schuhe, sogar vor dem der Prinzessin. Hat der alte Skunk also doch noch ein Paar dazugekauft, dachte Pinky. Potter hielt eine lange Rede. Wie gut es ihnen doch eigentlich ginge und daß der liebe Gott keinen rechten Christenmenschen im Stich ließe, und gerade in diesem Jahr hätte es sich doch wieder einmal gezeigt, wieviel echte Menschenliebe und Sama ritertum es auch in Kittsburgh gäbe: wenn er nur daran denke, daß sie alle, weit über die amtliche Hilfe hinaus, neue Sachen bekommen hätten und Winterstiefel und jetzt sogar Schlitt schuhe! Ja, auch der Weihnachtsmann habe sie gut bedacht. Pinky verkniff sich ein Grinsen. Wenn du wüßtest, wer der Weihnachtsmann in Wirklichkeit ist, dachte er. Für den Weih nachtstruthahn habe es leider nicht gereicht, sagte der Skunk, aber Schweinebraten mit Klößen sei ja auch nicht zu verachten. Pinky schlang das Essen wütend in sich hinein. Nicht, daß er Schweinebraten nicht mochte — viel zu selten gab es den! —, aber er wußte, daß im Keller eine mächtige Pute hing. Und noch andere Leckerbissen, die von mildtätigen Spendern für das „Pottersche Waisenhaus “ abgeliefert worden waren und die nicht auf den Festtisch kamen. Während er seinen Apfelpudding aß, kam ihm eine Idee, und dieses Mal konnte er sein Lachen nicht rechtzeitig unterdrük ken, sondern bekam es quer in die Kehle und prustete Puddingund Apfelbrocken über den Tisch. Zur Strafe durfte er den Ab wasch übernehmen. Allein! Die Potters gingen zur Kirche, wie sie sagten, in Wirklichkeit aber zu einem Ehepaar, mit dem sie befreundet waren und regelmäßig pokerten. Was sollten sie wohl auch mit Geschenkpäckchen in der Kirche?
Monster und die Prinzessin kamen in die Küche, um Pinky zu helfen, nachdem sie die Kleinen ins Bett gesteckt hatten. Jetzt verriet Pinky ihnen, warum er vorhin so geprustet hatte. „Wir werden eine zweite Weihnachtsfeier veranstalten“, er klärte er. „Mit den Leckerbissen aus dem Keller.“ „Und wie willst du die bekommen?“ fragte Monster. „Die Blindschleiche hat doch alles auf einem Brett direkt unter der Kellerdecke verstaut, damit die Ratten nicht rankommen. Und wir natürlich. Du weißt genau, die Leiter ist angeschlossen. Ja, wenn du noch durch das Fenster kämst, da könntest du mich huckepack nehmen, aber seit Potter die Holzblende vor das Fenster genagelt hat, können wir nicht einmal mehr Holzstan gen für eine Behelfsleiter hindurchstecken.“ „Vielleicht komme ich rein“, meinte die Prinzessin. „Nicht nötig.“ Pinky kicherte. „Monster schafft das ganz al leine. Und die Potters werden ewig rätseln, wie jemand an ihre Hamstervorräte gekommen ist.“ Sie rollten Schneekugeln auf der Straße zusammen und sta pelten sie vor dem Kellerfenster. Niemand beachtete sie, heute abend war alle Welt nur mit sich selbst beschäftigt. „Zwäng dich jetzt durch das Fenster, Monster“, wies Pinky an, „wir reichen dir Schneebatzen hinein, damit baust du an der Wand eine Treppe. Zum Schluß reißt du sie ein und zertram pelst den Schnee. Bis die Potters wieder in den Keller kommen, ist er weggetaut und das Wasser im Abfluß verschwunden.“ Monster zwängte und schlängelte sich durch den schmalen Spalt zwischen Blende und Wand. Die Prinzessin gab zu, daß sie das nie geschafft hätte. „Los“, rief Monster, „laßt den Schnee rieseln!“ Pinky und die Prinzessin reichten ihm dicke Bälle hinein. Es dauerte lange, bis Monster genügend Material für seine Treppe zusammen hatte. Als erstes reichte er eine Salami und eine Blutwurst heraus. „Schokolade ist leider nicht, und der Truthahn ist auch ver schwunden“, berichtete er, „aber Kompott gibt's. Blaubeeren,
Birnen und Ananas, außerdem jede Menge Kekse, Lebkuchen, Datteln, Rosinen und Orangensaft.“ „Immer her damit“, befahl Pinky, „schließlich ist nur einmal im Jahr Weihnachten, und die Sachen sind ohnehin Spenden für uns und nicht für die Potters.“ Von dem Orangensaft erwischte Monster nur noch vier Do sen, dann brach die Schneetreppe unter ihm zusammen. Er zer trampelte die Reste und kletterte zum Fenster hinaus. Sie be-' seitigten die Spuren, trugen ihre Beute ins Haus, breiteten sie unter dem Weihnachtsbaum aus und zündeten die Lichter wie der an. Dann holten sie die Kleinen aus den Betten. „Paßt auf“, sagte Pinky, „der Weihnachtsmann war noch mal hier, doch wir dürfen es niemandem verraten, vor allem nicht Mister und Missis Potter, sonst holt er die Schlittschuhe wieder ab, und das wollt ihr doch wohl nicht?“ „Nein!“ schrien alle im Chor. „Na, dann nichts wie ran.“ Das war nun wirklich ein Fest. Die Prinzessin erzählte Mär chen, zwei der Mädchen konnten noch Weihnachtsgedichte, und Monster spielte auf seiner Mundharmonika, zuerst Weih nachtslieder, dann zum Tanz. Alle waren traurig, als sie Schluß machen mußten, und alle versicherten, daß sie noch nie ein so schönes Weihnachtsfest verlebt hätten. * Am nächsten Tag ging die Blindschleiche gleich nach dem Mit tagessen in den Keller und kam Sekunden später mit verbisse ner Miene zurück. Dann verschwand sie lange mit dem Skunk nach unten, und als die beiden wiederkamen, schlössen sie sich in ihrem Schlafzimmer ein. Monster kroch auf die Feuerleiter und belauschte sie durch das offenstehende Fenster. „Das wird denen ewig ein Rätsel bleiben“, gab er flüsternd Bericht. „Die haben vielleicht überlegt, wie wir das angestellt haben könnten! Aber jetzt sind sie gerade dabei, sich gegensei tig zu überzeugen, daß wir es auf gar keinen Fall gewesen sein können. Wenn die wüßten ...“ In diesem Augenblick klingelte es. Die drei fuhren zusam
men. Potter brüllte, Pinky solle die Tür aufmachen und sagen, er sei nicht zu Hause. Als er dann aber den piekfein geschnie gelten Chauffeur in der piekfeinen Uniform erblickte und der ihn mit einer formvollendeten Verbeugung begrüßte und fragte, ob er „die Ehre mit Mister Potter persönlich“ habe, legte der Skunk seine Falten zu einem honigsüßen Lächeln zusammen und nickte. „Gibt es in diesem Haus einen Knaben mit Namen Pinky?“ wollte der Chauffeur wissen. Potter winkte Pinky mit dem Zeigefinger zu sich und packte ihn am Ohr. „Was ist mit ihm? Hat er was ausgefressen?“ „Das entzieht sich meiner Kenntnis“, antwortete der Chauf feur, „ich habe lediglich den Auftrag, ihn zu Senator Appleby zu bringen. Aber ich glaube, es geht um eine Spende für Ihr wohl tätiges Institut.“ Potter kniff Pinky noch einmal kräftig ins Ohr, bevor er ihn freigab. „Wasch dich und zieh deine besten Sachen an, Bengel. Daß du mir ja keine Schande machst!“ Pinky sauste davon, ehe der Skunk ihn noch einmal in die Finger bekam. „Mann, 'n richtiger Senator*?“ Monster staunte, er wienerte Pinkys Stiefel noch einmal auf Hochglanz. „Quatsch, Appleby ist doch bei den Wahlen durchgefallen“, er klärte Pinky, „aber das klingt nun mal vornehmer. Außerdem ist er im Senat der Universität, da kann man ihm, wenn man ein Auge zudrückt, den Titel schon zuerkennen. Sag mal, du liest wohl überhaupt keine Zeitung mehr? Wie willst du da mal Detektiv werden?“ „Hauptsache, der Senator hat auch einen vornehmen Weih nachtsmann mit einem vornehmen Sack.“ Pinky glaubte nicht an die Geschichte mit der Spende. Die hätte Appleby auch mit seinem Chauffeur vorbeischicken kön nen. Doch der Skunk würde nicht so weit denken, der würde es gar nicht wagen, an den Worten eines Senators zu zweifeln, selbst wenn das kein echter Senator war. * Senator - Abgeordneter des Parlaments der Vereinigten Staaten
„Ich werde mal mit dem Weihnachtsmann sprechen“, ver sprach er, „was möchtest du denn gerne?“ „Einen Truthahn, einen ganzen, für mich allein.“ „Unverbesserlicher Freßsack!“ verabschiedete sich Pinky. Der Weihnachtsmann, der ihn bei Applebys erwartete, hatte eine Glatze und einen mächtigen Bauch und blinzelte Pinky verschmitzt durch seine Goldrandbrille an: Mister Sailor, der Sicherheitschef von Abraham Ashton. „Na, ist mir die Überraschung gelungen?“ „Total“, gab Pinky zu. Er stellte sich ganz dicht vor Sailors Doppelbauch auf und starrte ihm ins Gesicht. „Wo hast du denn deine rote Mütze gelassen, lieber Nikolaus? Und was hast du mit deinem Bart gemacht?“ fragte er unschuldig. „Komm hier rein.“ Sailor winkte ihn in ein kleines Zimmer. „Nimm Platz, Cola und Orangenjuice stehen schon bereit, oder nimmst du an Feiertagen stärkere Getränke?“ „Wie kommen Sie denn hierher?“ „Ich paß auf meinen Chef auf, der die Feiertage bei Appleby verbringt.“ Sailor grinste breit. „Seine Neffen hat er zum Teufel gejagt, was du sicher verstehen wirst, aber er wollte Weihnach ten auch nicht allein sein. Du wirst hier noch mehr vornehme Leute antreffen.“ „Brauchen Sie wieder 'ne Küchenhilfe?“ „Nein, aber ich dachte, ich sollte dir mal wieder eine Chance geben“, antwortete Sailor gönnerhaft. „Das heißt, Sie kommen ohne mich nicht weiter, was? Worum geht's denn diesmal?“ „Juwelenraub.“ „Hat der Senator nicht auch einen privaten Schutzheiligen?“ „Den hat er vor Weihnachten entlassen. Ich weiß nicht, warum, vielleicht wollte er nur die Weihnachtsgratifikation und das dreizehnte Monatsgehalt sparen.“ „Und die Polizei?“ „Denkst du, ein Mann wie der Senator ist scharf darauf, Bul len im Haus zu haben, damit die das Unterste zuoberst kehren und seine Gäste und die liebe Verwandtschaft in die Mangel
nehmen und am Ende noch Leibesvisitationen machen? Des halb hat er mir ein paar Stunden Zeit gegeben, doch wenn wir den Fall nicht schnell aufklären, muß er die Polizei rufen, schon damit die Versicherung keine Schwierigkeiten macht.“ „Okay, berichten Sie.“ Pinky nahm einen großen Schluck Cola. „Ich bin ganz Ohr.“ „Und eine Schnodderschnauze.“ Sailor lachte. „Aber ich kann dich gut leiden.“ „Kunststück“, sagte Pinky leise, aber Sailor hatte es doch ge hört. Er verzichtete auf eine Antwort und machte sich an den Bericht über das Vorgefallene. „Appleby hat seiner Frau in diesem Jahr hundsteure Juwelen beschert, ein Riesenkollier, so dick, daß sogar Missis Appleby ihr Doppelkinn dahinter verstecken kann“, sagte Sailor, „dazu die passenden Ringe, Armbänder und ein Diadem.“ Er kicherte. „Du hättest sie sehen sollen. Sie hat sich schnell die Haare a la Marie-Antoinette frisieren lassen, der sollen die Klunker näm lich mal gehört haben, so eine französische Königin, ich weiß nicht, ob du von der schon gehört hast.“ Pinky nickte gelassen. „Marie-Antoinette kenne ich sehr gut. Sozusagen persönlich.“ Sailor blickte ihn mißtrauisch an, „Bitte weiter.“ „Nach dem Essen haben sich alle gleich zum Mittagsschlaf zurückgezogen. Kein Wunder, wie die reingehauen haben! Als bekämen sie sonst nichts zu essen. Plötzlich hört die Zofe von Missis Appleby, die gerade auf dem Flur war, einen Schrei aus dem Zimmer ihrer Herrin. Sie stürzt hin, Missis Appleby liegt ohnmächtig im Bett. Als sie wieder zu sich kommt, sagt sie, sie wäre aufgewacht, und da hätte ein Weihnachtsmann neben ih rem Bett gestanden. Mit 'nem Colt in der Hand — ein Trommel revolver, hat Missis Appleby gesagt, also wird es wohl ein Colt gewesen sein —, und mit der anderen Hand hat der Nikolaus ge rade den neuen Schmuck in die Manteltasche gestopft.“ Sailor wischte sich Schweißperlen von der Glatze. „Die Zofe hatte niemanden auf dem Gang gesehen, sie hat auch gleich die Tür vom Ankleidezimmer aufgerissen und nachgesehen, ob
der falsche Weihnachtsmann da raus ist — die Türen in den Räumen von Missis Appleby gehen nach vorne in den Park hinaus —, aber der Park ist tief verschneit, und es gibt keine einzige Spur im Schnee. Zum Haupteingang kann er auch nicht abgehauen sein“, fuhr Sailor fort, „da hätte er durch die Halle müssen, und da saß ich. Auch nicht hinten raus; da hätte er durch die Küche gemußt, und dort war noch Hochbetrieb. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die sich allesamt miteinander verabredet haben. Alle ande ren Türen waren verschlossen, und es führen keine Spuren zu ihnen. Also müßte er noch im Haus sein, oder hast du mal von einem fliegenden Weihnachtsmann gehört?“ „Die Applebys haben doch bestimmt einen direkten Zugang vom Haus zur Garage “, meinte Pinky. „Da waren die Chauffeure und spielten Karten, sechs Mann.“ Sailor nickte Pinky schwermütig zu. „Wir haben das ganze Haus durchsucht, nirgends war jemand zu finden, der Senator hat sogar unter einem Vorwand bei seinen Gästen reinge schaut. Natürlich hat er nicht unter die Betten und in die Schränke geguckt, aber ich denke, die hätten das schon ge merkt, wenn jemand reingekommen wäre.“ „Und das Personal?“ „Ich habe mich diskret umgehört. Keiner von ihnen war in der fraglichen Zeit allein oder abwesend, außer Missis Apple bys Chauffeur, den hat sie zum Flughafen geschickt.“ „Also einer der Gäste?“ „Scheint unwahrscheinlich. Die sind allesamt reich genug.“ „Vielleicht ist einer Schmucksammler? Oder jemand wollte Missis Appleby einen Streich spielen.“ „Hab ich mir auch schon gedacht. Wie aber bekommen wir das heraus? Und unauffällig dazu! Dem Senator wäre es natür lich am liebsten, wenn seine Gäste überhaupt nichts mitbekom men. Das brachte mich auf die Idee, dich holen zu lassen, du kannst dich doch unauffällig ein bißchen umsehen.“ „Wieder als Boy?“ „Nein, als mein Neffe. Deine Mutter ist überraschend er
krankt, und Mister Appleby erlaubt großzügigerweise, daß du
bis heute abend hierbleiben darfst. Er weiß natürlich Bescheid.
Komm, wir gehen erst einmal zu ihm.“
„Weiß er etwa auch von Morgan?“
„Kein Sterbenswörtchen. Das ist schließlich dein Geheimnis.“
Pinky nickte zufrieden.
* Der Senator war Pinky auf den ersten Blich sympathisch, er war, was man einen gutaussehenden Mann in den besten Jah ren nannte: groß, schlank, sportlich, weißhaarig, etwa fünfzig. Er lächelte gewinnend und drückte Pinkys Hand, als begrüße er seinesgleichen, aber das mußte er schließlich beherrschen: Wer Senator werden wollte, mußte auf seinen Wahlreisen Tau sende von Händen schütteln und jede so, als sei es ihm eine ganz besondere Freude, gerade diese Hand zu drücken. „Das also ist unser kleiner Held“, sagte er. „Glaubst du, du kannst Mister Sailor helfen?“ „Ich hoffe doch, Senator.“ „Aber du weißt, Pinky, äußerste Diskretion! Skandale sind tödlich für einen Politiker.“ „Und Indiskretion für einen Detektiv. Die Juwelen sind doch wohl gut versichert?“ „Finanziell hätten wir keinen Verlust“, sagte der Senator, „nur, meine Frau würde sich sehr grämen.“ „Ich werde mein Bestes tun“, versicherte Pinky. „Und wenn ich die Täter finde?“ „Die Täter? Nicht bloß einer?“ „Nein, bestimmt nicht.“ „Wie kommst du darauf?“ „Darüber möchte ich noch nicht sprechen.“ Pinky deutete an, daß er schließlich ein Recht auf Berufsgeheimnisse habe. „Wie hatten Sie sich die Honorarfrage gedacht, Senator?“ „Darüber habe ich, ehrlich gesagt, überhaupt noch nicht nachgedacht. Hast du feste Sätze?“ Pinky überhörte den spöttischen Unterton. Appleby sollte noch lernen, ihn ernst zu nehmen. Pinky war da ganz zuver
sichtlich. „Unser Waisenhaus könnte Spielzeug gebrauchen“, sagte er, „und besonders dringend neue Kinderbetten.“ „Einverstanden. Ich schreibe einen Scheck aus, sagen wir, über dreihundert Dollar? Davon kann Mister Potter dann ein kaufen.“ „Das würde ich lieber selbst besorgen“, meinte Pinky. „Steht es so bei euch?“ . „Sagen wir es so: Ich weiß besser als Mister Potter, was wir Kinder benötigen. Vielleicht kann ich mit Ihrem Chauffeur ein kaufen fahren, und er bringt es dann als Ihr Präsent? Wir könn ten ja sogar der Zeitung einen Tip geben. Ich meine, ein biß chen Reklame kann ein Politiker doch immer gebrauchen.“ „Sehr einverstanden.“ Appleby nickte beifällig. „Und wir hatten in diesem Jahr keinen Truthahnbraten“, sagte Pinky traurig. „Den sollt ihr bekommen, mit Preiselbeeren und allem Drum und Dran und von dem besten Koch der Stadt zubereitet. Bist du mit der Küche des Hotels .Majestic' einverstanden?“ „Ja, aber bitte bestellen Sie zwei Truthähne. Wir sind zehn Personen, und ein paar sind starke Esser.“ „Genehmigt. Noch einen Wunsch?“ „Der Schmuck ist doch sicher eine Menge wert“, meinte Pinky. „Hunderttausend?“ „Mehr.“ Der Senator lächelte. „Das Geld bekomme ich jedoch von der Versicherung wieder.“ „Aber Ihre Frau würde sich grämen.“ Tiefes Mitleid schwang in Pinkys Stimme. „Wieviel wäre es Ihnen wert, Ihrer Frau die sen Gram zu ersparen?“ Der Senator lachte laut auf. „Du bist richtig, Junge. Was meinst du denn, wieviel?“ „So viel, wie ein Elefant kostet. Für den Tierpark. Als Spende. Von mir aus mit einem Schild am Gehege: .Gespendet von Se nator Appleby'.“ „Dich werde ich für meine nächste Wahlkampagne holen“, sagte Appleby, „aber ein Elefant geht nicht, das kann ich mir nicht leisten.“
„Sie? Sie sind doch reich genug.“ „Es gäbe einen politischen Skandal, wenn ausgerechnet ich einen Elefanten spende. Ich bin doch Demokrat*. Willst du nicht einen Esel?“ Pinky schüttelte traurig den Kopf. „Kein wohlhabender Mann kann Elefanten leiden. Wie wäre es mit einem Nashorn?“ „Gut, ein Nashorn. Aber nur, wenn du den Täter findest.“ „Und die anderen Spenden?“ „Die beiden Truthähne bekommst du auf jeden Fall, die müs sen ohnehin jetzt gleich bestellt werden. Nun aber Schluß und an die Arbeit.“ „Von dir kann ich ja noch einiges lernen“, sagte Sailor, als sie sich auf den Weg machten. „So jung und schon so clever.“ „Kommen Sie ein paar Jahre in unsere Skunkhöhle“, schlug Pinky vor, „da lernen Sie manches.“ Zuerst gingen sie einmal um das Haus herum, und wer die beiden beobachtete, mußte tatsächlich annehmen, daß da der Onkel mit seinem Neffen einen Verdauungsspaziergang unter nahm. Sie bewarfen sich mit Schneebällen. Pinky fing damit an: weil er den Schnee prüfen wollte. Der Schnee lag hier unge fähr fünf Zentimeter hoch, und er klebte ein bißchen, so daß eventuelle Spuren nicht verweht sein konnten und es auch un möglich war, sie unauffällig zu beseitigen. Applebys Haus war wie ein Landsitz gebaut: ein breit ausla dendes zweistöckiges Gebäude mit langen Seitenflügeln zur Rückseite, die den sogenannten Wirtschaftshof einschlössen. Alle Zimmer im Erdgeschoß hatten Flügeltüren zum Park, doch der Schnee verriet, daß in den letzten vierundzwanzig Stunden niemand ein oder aus gegangen war, ein unberührter weißer Teppich führte bis an die Türen heran. Nur in der Auffahrt zum Haupteingang war der Schnee zerfahren, und der Platz vor der schweren Doppeltür war natürlich gefegt. „Na, hast du was entdeckt?“ erkundigte sich Sailor. * Das Zeichen der Demokratischen Partei der USA ist der Esel; die zweite große bürgerliche Partei, die Republikaner, hat den Elefanten als Wahrzeichen
„Vielleicht.“
„Was?“ Sailor blickte Pinky lauernd an.
„Ich werde doch nicht so dumm sein und es Ihnen verraten“, antwortete Pinky. „Damit Sie wieder, wie bei der Gespensterge schichte, auf meine Kosten den klugen Mann spielen und den Ruhm einheimsen. Und ein gepfeffertes Honorar.“ „Das war etwas anderes“, erwiderte Sailor, „das mußt du ver stehen. Da ging es schließlich um meinen Ruf und um meinen Job. Aber hier? Von mir aus verdiene dir ruhig dein Nashorn. Ich werde dir sogar dabei helfen.“ „Das finde ich richtig prima.“ Pinky lächelte Sailor an, als glaube er ihm sogar. „Haben Sie denn etwas entdeckt?“ „Nicht mehr als zuvor.“ Auf dem Wirtschaftshof fanden sie auch nichts, was ihnen weiterhalf. Hier war der Schnee mit Hunderten von Spuren übersät, die aber alle zum Hintereingang führten, und den hatte ja, wenn Sailor sich nicht irrte, niemand benutzt. Pinky ließ sich die Dachböden und die Keller zeigen; die Zimmer woll ten sie untersuchen, wenn die Gäste zu Tisch saßen. Sie gingen in die Küche, um sich ein wenig aufzuwärmen, da stürzte ein junger Mann in Chauffeursuniform herein, in jeder Hand einen Thermosbehälter, das Gesicht bleich, er keuchte vom schnellen Lauf. „Überfall“, stöhnte er, stellte die Behälter ab und ließ sich auf einen Stuhl sinken. „Wo? Wann? Wie?“ schrie Sailor. „Draußen am Parkplatz.“ Jameson war der Chauffeur von Missis Appleby. Sie hatte ihn mittags zum Flughafen geschickt, um dort frische Erdbeeren und Ananas zu holen, die man eigens aus Kalifornien hatte einfliegen lassen, um sie heute abend mit Schlagsahne zu reichen. „Ich war gerade aus dem Wagen gestiegen“, berichtete Jame son, „da kam mir ein Weihnachtsmann entgegen. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, daß da etwas faul ist, ich wußte ja, daß Missis Appleby einen Weihnachtsmann bestellt hatte, ich glaube, einen Studenten, aber plötzlich zog der einen Revol ver aus der Manteltasche und befahl .Hände hoch'.“
„Warum haben Sie den Mann nicht festgehalten?“ herrschte Sailor den Chauffeur an. „Ich war völlig verdattert und hob sofort die Hände“, vertei digte Jameson sich. „Mann, wenn vor Ihnen plötzlich ein Weih nachtsmann auftaucht, denken Sie auch nicht daran, den fest zuhalten, außerdem hatte ich ja die Thermosbehälter, und dann hatte er auch schon die Pistole in der Hand und hielt sie auf mich gerichtet. Bis er vom Grundstück verschwunden war.“ „Entwischt, verdammt noch mal!“ Sailor griff sich an den Kopf, als wolle er seine längst verschwundenen Haare raufen. „Würden Sie den Mann wiedererkennen?“ „Wie denn? Er trug doch 'ne Larve.“ „Wann sind Sie losgefahren?“ „Gleich nach dem Mittagessen.“ „War das nun eine Pistole oder ein Revolver?“ erkundigte sich Pinky. „Ich glaube, ein Colt. So ein Trommelrevolver.“ Sailor blickte Pinky an und nickte bedeutungsvoll. „Also muß er sich gleich nach dem Juwelenraub draußen versteckt haben“, flüsterte er Pinky ins Ohr, „denn die beiden Ausgänge werden seitdem bewacht. Aber warum ist er nicht schon eher abge hauen?“ Sailor winkte dem Chauffeur. „Kommen Sie, wir wol len uns das mal ansehen.“ * Der Wagen stand ein Stück hinter dem Haus neben den Autos der Gäste. „Hier sehen Sie noch meine Fußspuren“, erklärte Jameson. „Ich bin neben der zerfahrenen Auffahrt gegangen, weil ich Angst hatte, in dem glitschigen Schnee auszurutschen. Und hier“ — er zeigte auf die Stelle —, „hier hat dieser Weihnachts mann mich angehalten. Was ist eigentlich los mit dem? Ist was passiert?“ „Nichts Besonderes“, antwortete Sailor, „aber schließlich hat er Sie mit einem Colt bedroht.“ Pinky lief den Weg auf und ab, die Nase zu Boden gerichtet wie ein Polizeihund, der die Spur aufnehmen will.
„Von dem falschen Nikolaus wirst du kaum einen Fußab druck finden“, meinte Jameson, „der ist in den Reifenspuren ge gangen.“ „Vielleicht doch?“ Pinky suchte den Weg bis zur Toreinfahrt ab, doch er fand nichts, und draußen gab es viel zu viele Fuß spuren; der Weg zur Kirche führte an Applebys Grundstück vorbei. Sie gingen wieder ins Haus. Pinky und Sailor zogen sich in das kleine Zimmer neben der Halle zum „Kriegsrat“ zurück. „Tut mir leid für dich“, sagte Sailor, „der ist uns entwischt. Ich werd mal gleich zum Senator gehen und ihm sagen, er soll die Polizei benachrichtigen.“ „Warten Sie bitte noch ein bißchen“, bat Pinky. „Ich verstehe ja, daß du ungerne aufgibst“, erwiderte Sailor, „ich hätte dir das Nashorn gegönnt, sogar einen Elefanten, aber du bekommst ja wenigstens die Truthähne; auf den Senator kann man sich verlassen.“ „Ich will mich noch mal draußen umsehen“, sagte Pinky. „Irgendwas stimmt hier nicht. Da war was — wenn ich bloß wüßte, was!“ „Na gut.“ Sailor machte eine großzügige Geste. „Aber nicht länger als eine halbe Stunde. Ich hol mir inzwischen ein Bier aus der Küche.“ Dort waren sie gerade dabei, die Thermosbehälter auszupak ken. Pinky sah nachdenklich zu, wie ein paar große Schüsseln mit den herrlich roten Früchten gefüllt wurden. „Bedien dich“, sagte der Chefkoch lachend, „da bleiben noch genug übrig.“ Pinky ließ sich das nicht ein zweites Mal sagen. So gut, wie die Erdbeeren aussahen, so gut schmeckten sie. Mitten im Win ter, dachte er, und unsereins bekommt kaum in der Hochsaison mal eine. Die Ananasfrüchte wurden zu seinem Leidwesen noch nicht aufgeschnitten. Pinky nahm die leeren Thermosbe hälter in die Hand. Ganz schön schwer. Er steckte noch schnell eine Erdbeere in den Mund, dann ging er hinaus und drehte noch einmal eine Runde um die Gebäude. Im Park blieb er eine Weile stehen und besah sich die Vorderfront. Plötzlich ging ein
Lächeln über sein Gesicht. Zufrieden trottete er weiter: zum Parkplatz, wo er um den Wagen herumging, mit dem Jameson vom Flughafen gekommen war. Dann studierte er noch einmal die Stelle, an der der falsche Weihnachtsmann Jameson aufge halten hatte. Schließlich nickte er und ging wieder ins Haus. „Kommen Sie mit“, forderte er Sailor auf. „Wir wollen den Se nator informieren.“ „Hast du es endlich aufgegeben?“ Pinky lächelte nur. Sie baten den Senator in das kleine Zimmer. „Wo ist Ihre Frau?“ erkundigte sich Pinky. „Und wissen Sie, wo die Zofe sich im Moment aufhält?“ „Bei meiner Frau im Schlafzimmer. Ich war vor ein paar Mi nuten bei ihr, um sie zu fragen, ob sie sich stark genug fühlt aufzustehen.“ Der Senator nickte zufrieden. „Sie ist eine ver dammt tapfere Frau. Den Schock hat sie noch nicht überwun den, aber sie wird sich nichts anmerken lassen.“ „War die Zofe die ganze Zeit bei ihr?“ „Ich glaube schon. Vorhin las Minny ihr aus der Bibel vor.“ „Rufen Sie Ihre Frau an und bitten Sie sie, die Zofe unter irgendeinem Vorwand für zehn Minuten hinauszuschicken“, bat Pinky. „Und dann lassen Sie uns zu ihr gehen.“ Der Senator blickte Sailor fragend an, der zuckte mit den • Schultern. „Ich glaube, ich habe etwas entdeckt“, erklärte Pinky, „das möchte ich mit Ihnen und Ihrer Frau besprechen.“ Der Senator rief über das Haustelefon an, seine Frau schien keine Fragen zu stellen. Appleby nickte nur, blickte auf seine Uhr, und nach zwei Minuten machten sie sich auf den Weg. Frau Appleby lag noch auf dem Bett, aber sie war schon ange kleidet. Sie blickte die drei erwartungsvoll an, der Senator setzte sich zu ihr und streichelte ihre Hand. Sailor lehnte sich an den Türrahmen, Pinky blickte sich kurz um, dann zog er einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. „War Ihre Zofe die ganze Zeit bei Ihnen?“ begann er. „Ja, warum?“
„Das ist gut.“ Pinky lächelte zufrieden. „Sehen Sie, mir ist da etwas aufgefallen. Die Zofe hat doch gesagt, sie habe gleich aus dem Fenster des Ankleideraums nebenan geblickt, aber nie manden gesehen.“ Frau Appleby nickte. „Die Tür wurde überhaupt nicht geöffnet! Sie geht nämlich zum Park hin auf. Der Schnee hätte also weggeschoben sein müssen. Er ist aber unberührt. Die Zofe hat gelogen.“ „Das ergibt doch keinen Sinn“, meinte der Senator. „Die Lüge nicht. Aber daß sie gelogen hat, muß einen Sinn haben. Also, wie war das, blieb die Zofe lange Zeit nebenan?“ „Nein, ich habe sie gleich wieder zu mir gerufen. Sie wollte losrennen und Alarm schlagen, doch ich habe meinen Mann über das Haustelefon gerufen.“ „Da ist noch jemand, der lügt“, sagte Pinky, „und zwar Ihr Chauffeur.“ „Jameson?“ „Ja, Jameson. Was mich als erstes stutzig machte, war die Tatsache, daß er mit dem Wagen nicht in die Kellergarage ge fahren ist, das wäre für ihn doch bequemer gewesen, und Platz war da ja für Ihr Auto. Das mußte einen Grund haben. Ich habe mir die Stelle noch einmal genau angesehen, wo er angeblich von dem Weihnachtsmann überfallen wurde.“ „Angeblich?“ rief Sailor. „Er muß ihn gesehen haben, sonst hätte er ihn nicht so genau beschreiben können, denk doch mal an den Revolver!“ „Das ist ja das Rätsel. Er hat ihn ganz genau beschrieben, aber er kann ihn nicht gesehen haben! Selbst wenn der falsche Nikolaus in den Wagenspuren gelaufen wäre, wir hätten wenig stens mal ein Stück von einem Schuhabdruck finden müssen, schließlich ist seitdem kein Auto mehr dort entlanggefahren. Was viel wichtiger ist: Jameson hat doch erzählt, er hätte brav die Hände gehoben.“ „Stimmt“, bestätigte Sailor. „Dann gehen Sie mal in die Küche, nehmen in jede Hand einen der Thermosbehälter, aber voll, und versuchen Sie, die
Hände zu heben. Unmöglich! Er hätte die Behälter vorher ab stellen müssen. Aber es gibt keine Spur von ihnen im Schnee. Warum lügt er?“ Pinky blickte triumphierend in die Runde. „Ich glaube, das Ganze hat sich so abgespielt: Der falsche Weih nachtsmann war niemand anderes als die Zofe. In Mantel und Kapuze und unter der Larve konnte niemand sie erkennen, und wenn jemand einen Weihnachtsmann sieht, sucht er unwillkür lich nach einem Mann.“ „Aber Minny hätte doch den Schmuck einfach nehmen kön nen, während ich schlief“, warf Missis Appleby ein. „Und der Verdacht wäre sofort auf sie gefallen! Nein, Sie soll ten den Dieb sehen! Und beschreiben: ein Weihnachtsmann. Und damit auch ja jeder daran glaubt, behauptet Jameson, er habe ihn auch gesehen und daß er entkommen wäre. In Wirk lichkeit hat die Zofe, als Sie ohnmächtig wurden, schnell das Kostüm ausgezogen und es samt dem Schmuck versteckt. Dann erst hat sie Sie munter gemacht. Ich behaupte, der Schmuck ist noch nebenan. Da ist er ja auch gut aufgehoben, hier in Ihren eigenen Zimmern wird man ihn doch zuletzt suchen.“ „Das geht nicht auf“, meldete sich Sailor. „Wenn die Zofe es gewesen ist, warum hat sie nicht erst die Sachen weggebracht und danach Missis Appleby aus der Ohnmacht geweckt?“ „Jemand anderes hätte den Schrei hören und ins Zimmer kommen können“, meinte Pinky. „Dann wäre herausgekom men, daß sie zu der Zeit nicht dort gewesen ist. Vielleicht wollte sie den Schmuck auch später wegbringen. Ja, bestimmt! Als sie angeblich nebenan aus der Tür blickte, hat sie ihn an sich ge nommen, und als sie hinausrennen wollte, um Hilfe zu holen, wollte sie ihn verstecken, aber Missis Appleby hat sie ja nicht weggelassen.“ „Sehen wir doch einfach nach“, schlug der Senator vor. , „Lassen wir die Zofe nachsehen“, erwiderte Pinky. „Wir ver stecken uns im Schlafzimmer, Ihre Frau geht hinaus und schickt Minny unter einem Vorwand her. Mal sehen, was sie dann macht.“ Die Zofe ging sogleich an einen der Wandschränke. Sie er
tappten sie mit dem Weihnachtsmannkostüm in der Hand. In der einen Tasche steckte der Schmuck, in der anderen der Colt. Der Senator nahm ihn an sich. Er rief zwei Dienstboten herbei, dann Jameson. Der wurde kreidebleich, als er die Versamm lung erblickte und den Nikolausmantel auf dem Bett, dann sah er den Colt in der Hand des Senators und lachte. „Das ist nur ein Spielzeug“, rief er. Aber er machte keine An stalten zu fliehen. Sailor drehte ihm den Arm auf den Rücken. Der Senator warf den Spielzeugcolt auf das Bett. „Komm“, sagte er zu Pinky, „verständigen wir die Polizei.“ „Lassen Sie mich da raus “, bat Pinky. „Warum? Angst vor der Polizei? Wenn du was ausgefressen hast, könnte ich das jetzt gleich in Ordnung bringen.“ „Nicht nötig. Aber ich mö chte nicht auffallen. Das ist nie gut für ein Waisenkind. Mister Sailor wird Captain Henderson schon alles richtig erklären.“ Pinky lächelte Sailor an. „Ich schenke Ihnen den Ruhm. Sie können sich ja mal dafür erkenntlich zeigen.“ „Mach ich, du Rotznase!“ rief Sailor vergnügt, entschuldigte sich aber gleich bei Frau Appleby für den Ausdruck. „Gut, ich laß dich nach Hause fahren.“ Der Senator sah auf die Tür. „Da könnt ihr gleich die beiden Truthähne im ,Majestic' abholen. Den Scheck schicke ich morgen.“ ' „Die hätte ich doch glatt vergessen!“ rief Pinky. „Rufen Sie bitte bei Potter an und sagen Sie, daß ich Abendessen mit bringe? Sonst werden die inzwischen schon mit Stullen abgefüt tert. Und können Sie Potter nicht eine Geschichte erzählen, weshalb Sie ausgerechnet nach mir geschickt haben? Er braucht schließlich nicht zu wissen, warum ich hier war.“ Der Senator blickte ziemlich hilflos. „Erzählen Sie ihm doch, Sie hätten einen Freund gehabt, den Sie Pinky nannten, und als Sie erfuhren, daß es hier einen Wai senknaben gibt, der ebenso heißt, hatten Sie eine sentimentale Anwandlung.“ „Ich hatte wirklich einen Freund, der Pinky hieß!“ „Um so besser.“ Pinky wandte sich an Missis Appleby. „Ha
ben Sie nicht eine Abbildung von Ihrem Schmuck für mich? Ich möchte es gerne meiner Freundin zeigen, sie heißt nämlich Marie-Antoinette.“ Missis Appleby hatte ein wunderbares Farbfoto. „Komm doch mit ihr vorbei“, sagte sie, „dann darf deine Marie-Antoinette den Schmuck einmal anlegen.“ „Aber nur das Duplikat“, wandte Appleby ein. „Die echten Juwelen wandern schnellstens in einen Safe. Das ist mir zu gefährlich.“ „Die Prinzessin wird es nicht merken“, versicherte Pinky, „ich nehme die Einladung dankend an.“ „Kommt gleich morgen“, schlug Missis Appleby vor, „ich hebe euch ein paar Erdbeeren auf.“ „Nun aber los“, drängelte der Senator, „wir müssen die Po lizei anrufen.“ Auf dem Gang hielt Pinky ihn an. „Ich möchte Sie gerne noch etwas fragen. Unter vier Augen.“ „Und was?“ „Wie wird man eigentlich Senator? Ich meine, kann das je der?“ „An sich schon. Wir leben in einem freien Land. Jeder hat das Recht, sich zur Wahl zu stellen. Wenn du aber nicht einer der beiden großen Parteien angehörst und keine sehr einflußrei chen Freunde hast, hast du keine Chance. Und so ein Wahl kampf kostet sehr viel Geld. Hunderttausende von Dollars, manchmal Millionen.“ „Ich verstehe. Noch eine Frage: Wenn Sie zu Ihren Wählern sprechen, sagen Sie da immer die Wahrheit?“ „Ach, weißt du“, antwortete Appleby. „Was ist Wahrheit? Ich meine, ich lüge nie direkt, aber ...“ „Danke, das genügt mir“, unterbrach Pinky. „Ich hatte es schon befürchtet.“ „Ich rechne trotzdem mit deiner Stimme “, rief der Senator ihm lachend nach.
Maskeraden Pinky stand auf seiner Mülltonne und fluchte. Das Dach war undicht. An den Schornsteinen hatten die alten Dachsparren der Last des Schnees nicht mehr standgehal ten, und jetzt tropfte es in den Boden hinunter, gerade auf die Tonne. Sie woandershin zu stellen hatte wenig Sinn; nur an den Schornsteinen war es warm genug, um eine Weile zu sitzen und zu träumen. Pinky überlegte, ob er das Loch selbst reparieren könnte, dann, ob er den Schnee vom Dach schippen sollte, schließlich verließ er fluchend den Bodenraum. Die Tropfen trommelten hinter ihm her: doong-doong-doong-doong ... Monster sah auf den ersten Blick, daß mit seinem Freund im Moment nicht gut Kirschen essen war. Aber vielleicht Hambur ger? Wenn Monster mal schlechte Laune hatte, half essen sofort. „Komm, wir gehen zum ,Saloon'„, schlug er vor. „Hast du schon wieder Hunger?“ knurrte Pinky. „Das ist hier vielleicht eine Gesellschaft: ein Stinktier, eine Blindschleiche und ein Vielfraß!“ „Und eine Prinzessin.“ Monster griente. „Die Prinzessin hat Hunger.“ Pinkys Gesicht entspannte sich sogleich. „Worauf warten wir dann noch?“ „Auf wen schon? Auf die Frauen, wie immer.“ Pinky registrierte amüsiert, daß Monster nicht mehr von Weibern sprach, wenn von der Prinzessin die Rede war. Sie brauchten nicht lange zu warten. „Na“, begrüßte die Prinzessin die beiden vergnügt, „seid ihr...“
„Pst!“ Monster legte den Zeigefinger ,an die Lippen. Sie schli chen auf Zehenspitzen hinaus, um die Potters nicht aus ihrem Mittagsschlaf zu wecken. Die Kleinen bauten in dem sogenann ten Vorgarten einen Schneemann; natürlich wollten sie mit kommen. Sie ließen sich erst abwimmeln, als Monster ihnen versprach, einen Elefanten zu bauen, wenn er zurückkam. „Richtig Scheiße“, knurrte er, als sie weitergingen. Pinky nickte. Auch er hatte jedesmal ein schlechtes Gewissen, wenn sie in den „Saloon“ gingen, aber vier Hamburger reichten nun mal nicht für alle Mäuler. Der „Saloon“ war nichts anderes als ein billiges Selbstbedienungsrestaurant, eines von vielen, die Morgan überall in der Stadt betrieb und die ihn, wie es hieß, al lein jedes Jahr eine Million schwerer machten. Gewiß, die Preise sind niedrig, aber Kleinvieh macht auch Mist, dachte Pinky, gewiß nicht unter zehn Prozent Profit, sonst hätte der alte Geizhals die Geschäfte längst abgestoßen. Morgans „Saloons“ hatten ihren Namen wegen der Aufma chung. Sie waren eingerichtet wie einst die Saloons im wilden Westen. Die drei nahmen an der langen Theke Platz. Der Bar keeper begrüßte sie nicht eben freundlich. Kunststück, drei Plätze von Kunden besetzt, die umsonst -aßen und zumeist nicht einmal eine Cola bestellten. „Die Brötchen sind heute besonders pappig“, meinte Monster, „und mit dem Fleisch haben sie auch mal wieder gespart.“ „Dafür ist das Salatblatt extra delikat.“ Pinky zog das mehr gelbe als grüne Blatt angewidert aus den Zähnen und warf es auf den Teller. „Reich mal das Ketchup rüber, Monster.“ „Ihr seid undankbar “, sagte die Prinzessin, „ihr solltet froh sein, daß Mister Morgan euch hier umsonst...“ Monster konnte gerade noch die Lippen zusammenpressen, bevor er seinen Bissen auf den Tisch spuckte. „Dankbar?“ murmelte er mit vollem Mund. Pinky drohte ihm hinter dem Rücken der Prinzessin mit der Faust, die hatte es aber doch mitbekommen. „Was habt ihr eigentlich dauernd für Geheimnisse“, maulte sie, „ich dachte, wir wären richtige Freunde?“
„Kleine Mädchen müssen alles essen, aber nicht alles wis sen“, erwiderte Pinky. „Doofer Angeber!“ „Halt dich lieber an mich“, sagte Monster. „Ich bin nicht so gemein zu dir.“ „Du? Ausgerechnet du, du blöder ...“ „Na, sag's schon: blöder Nigger. Das wolltest du doch sagen?“ „Würd ich nie“, beteuerte die Prinzessin. „Aber du denkst es. Alle denken so.“ „Ich nicht!“ Die Prinzessin legte Monster die Hand auf den Arm und sah ihm in die Augen. „Und Pinky auch nicht.“ „Der?“ grunzte Monster. „Das war auch zu komisch. Pinky ist doch selbst nicht blütenweiß, er hat Indianerblut in den Adern.“ „Tatsächlich, du bist 'ne Rothaut, Pinky?“ Die Prinzessin lachte. „Großer Häuptling, was?“ „Immer noch besser eine Rothaut als ein Rotfuchs mit Som mersprossen!“ Die Prinzessin schluckte, fast hätte sie geweint. Pinky hatte sie an der empfindlichsten Stelle getroffen. „Seid ihr endlich fertig, oder soll ich euch ein paar Colts ge ben, damit ihr's ausschießen könnt?“ meckerte der Barkeeper. „Schön ruhig!“ konterte Pinky. „Falls Sie es vergessen haben, wir sind Gäste Ihres Chefs. Wenn Ihnen das nicht paßt, können Sie ja kündigen!“ „Verdammtes Gesindel“, brummte der Barkeeper, er nahm die leeren Te ller wütend weg. „Haben die Herrschaften sonst noch einen Wunsch?“ „Drei Cola, eisgekühlt.“ Pinky warf gelassen drei Münzen auf den Tisch. „Der Rest ist für Sie!“ „Mann, bist du großzügig“, sagte Monster. „Großzügig? Weißt du, wieviel Trinkgeld das war? Ein Cent.“ „Ich meine die Cola.“ „Zur Versöhnung.“ Pinky stieß die Prinzessin an. „War nicht so gemeint. Für mich gibt's nichts Schöneres als eine Frau mit roten Haaren und Sommersprossen.“ „Genau, was ich sagen wollte.“ Monster knuffte die Prinzes sin in den Arm. „Verziehen?“
„Längst.“ Die Prinzessin lachte erst ihn an, dann Pinky. „Wie kann ich euch böse sein, ihr Blödköppe. Prost!“ Sie stieß mit den beiden an. „Ich möchte mal Sekt trinken“, sagte sie dann, „französischen Sekt. Und auf einen Ball gehen, das muß schön sein. Mit einem langen Kleid und richtigen Schuhen, nicht in solchen Botten.“ Sie stieß mit dem Stiefel gegen die Theke. „Und tanzen, tanzen, tanzen.“ „Dafür reicht unser Kleinge ld leider nicht“, meinte Monster, „und der Skunk wird uns was husten.“ „Oweiowei.“ Die Prinzessin zeigte zur Uhr und rutschte vom Hocker. „Ich muß ja abwaschen!“ „Ich helf dir.“ Monster schwang sich zu Boden. „Kommst du nicht mit, Pinky?“ „Mein Bedarf an Abwasch ist für diese Woche gedeckt. Ich bleib noch ein bißchen. Mal nachdenken.“ „Hast du wieder einen Fall?“ flüsterte Monster. „Leider nicht.“ Pinky hatte nicht lange Ruhe zum Nachdenken und Träumen. „Wolltest du dich nicht bei Mister Morgan beschweren?“ fragte der Barkeeper. „Da kommt er. Verpetz mich ruhig!“ Es war tatsächlich Morgan. Er blieb in der Tür stehen und warf einen Blick in die Runde, er schien ganz genau zu regi strieren, wie es in seinem Lokal aussah. Dann kam er auf die Theke zu und setzte sich neben Pinky. „Tag, Kleiner. Hier also schlägst du dir den Bauch auf meine Kosten voll. Hat's geschmeckt?“ „Wie es halt in so einem Laden schmeckt“, antwortete Pinky. „Das ‚Majestic’ ist es nicht gerade.“ „Sag bloß, du hast schon mal im ‚Majestic’ gegessen.“ „Oh“, sagte Pinky und schmatzte genüßlich, „den Truthahn machen sie dort ganz vorzüglich. Vor allem die Füllung.“ Morgan glaubte offensichtlich kein Wort. „Truthahn darf ich nicht mehr“, seufzte er, „ich darf fast überhaupt nichts mehr es sen. Mein Magen. Was glaubst du, wie gerne ich mal wieder in einen Hamburger beißen würde oder in eine Knackwurst.“
„Und was suchen Sie dann hier, etwa mich?“ „Nein.“ Morgan lachte schallend. „Da würde ich anrufen las sen. Ich mach mir ein Hobby draus, unvermutet in meinen Lo kalen und Geschäften aufzutauchen und nach dem Rechten zu sehen, wie einst Harun al Raschid.“ „Ich glaube nicht, daß der Würstchenbuden besessen hat“, meinte Pinky. „Der ist auch als Sultan geboren worden, ich habe als Waisen knabe angefangen.“ „Tatsächlich?“ „Ja, ich bin im Waisenhaus groß geworden. Vielleicht gebe ich dir deshalb immer wieder eine Chance; aber du machst dir ja nichts aus Geld, du willst lieber Tiere für diesen komischen Zoo, oder?“ „Erzählen Sie! Wie haben Sie das geschafft?“ Pinky war ganz aufgeregt. Morgan winkte dem Barkeeper, der sich a,ns andere Ende der Theke zurückgezogen hatte und die ganze Zeit her überblinzelte, um auf den ersten Wink seines Herrn herbeizu stürzen. „Einen kleinen Kognak“, bestellte Morgan, „nein, geben Sie mir lieber ein Glas Milch, aber nicht so kalt.“ Pinky verkniff sich die Bemerkung, daß er an Morgans Stelle auch lieber kei nen Kognak in diesem billigen Schuppen versuchen würde. „Die ersten tausend Dollar sind immer die schwersten“, be gann Morgan. „Ich habe das Geld jedoch bekommen, ohne einen Finger zu rühren. Ein Mann, der von zwei Polizisten ver folgt wurde, warf ein Bündel zwischen die Mülltonnen, sozusa gen mir zu Füßen. Du mußt wissen, daß ich damals oft auf den Mülltonnen saß und vor mich hin träumte.“ „Verstehe ich.“ Jetzt schmunzelte Pinky. „Und in dem Bün del ...“ „Waren fast tausend Dollar. Damit bin ich in das Schnapsge schäft eingestiegen. Damals war in den Staaten jeder Alkohol verboten, aber die Leute wollten natürlich trotzdem Schnaps trinken. Das war ein Bombengeschäft, illegal, doch man konnte schnell zu Geld kommen, wenn man sich nicht schnappen ließ.
Auf so einen abgerissenen Jungen wie mich hat die Polizei nicht geachtet. Als das Alkoholverbot aufgehoben wurde, war ich längst Teilhaber an unserer Firma und besaß etliche Tau sender.“ „Einfach so.“ „So einfach war es nun auch wieder nicht. Da gab es oft Schießereien. Mit der Polizei und mit anderen Banden. Ich bin selbst zweimal verwundet worden und dreimal verhaftet, doch man konnte mir nie etwas nachweisen.“ „Dann sind Sie also eigentlich ein Gangster“, sagte Pinky ver wundert. „Vorsicht, Kleiner! Wenn das einer behauptet, schicke ich ihm meine Rechtsanwälte auf den Hals und lasse ihn wegen Ver leumdung einsperren.“ Morgan nippte an seiner Milch. „Das waren Jugendsünden. Ich habe seitdem kein krummes Ge schäft mehr gemacht. Aber ich habe auch Glück gehabt. Ich hatte mein Geld in einer kleinen Fabrik angelegt, die produ zierte Rechenmaschinen, und die kamen gerade in Mode. Alle Welt schrie nach Rechenmaschinen. Dann kam der Krieg, und wir haben für die Army gearbeitet. Das war ein Geschäft! Nir gends wird so gut verdient wie an der Rüstung, das sage ich dir. Nach dem Weltkrieg kam der kalte Krieg und der Koreakrieg und der Vietnamkrieg und noch ein Dutzend kleine Kriege.“ „Und Sie haben fleißig daran verdient.“ Pinky sah auf Mor gans Hände, als wären sie blutbefleckt. „Ich oder ein anderer. Geld stinkt nicht, man muß es nehmen, wo man es kriegt. Denkst du, ich bin mit diesen Buden hier und dem Warenhaus reich geworden? Das betreibe ich nur neben bei, sozusagen als Hobby; ich will mich noch nicht als Rentner zur Ruhe setzen. Aber ich bin noch immer Teilhaber von der Fabrik, nur daß das inzwischen ein Riesenladen geworden ist. Die Kriege nehmen kein Ende, ob in Afrika oder Asien oder Südamerika.“ „Wenn es also irgendwo knallt, klingelt es in Ihrer Kasse!“ „Entrüstet, Kleiner? So ist es nun mal auf der Welt. Willst du es ändern?“
„Und ob! Wenn ich es nur könnte.“ „Du sieh erst mal zu, daß du auf die Beine kommst. Aber das ist heutzutage nicht mehr so einfach. Die Welt ist aufgeteilt, und die Großen fressen die Kleinen. Selbst die Gangster sind in Trusts und Monopolen organisiert; als Einzelgänger kannst du kaum noch was werden.“ „Doch, Detektiv. Und ich werde für die Gerechtigkeit kämp fen, das sage ich Ihnen.“ „Glaub es nur.“ Morgan erhob sich. Er winkte dem Barkee per. „Daß Sie meinen jungen Freund ja gut bedienen!“ „Aber selbstverständlich, Mister Morgan.“ Der Barkeeper be dankte sich mit einem Lächeln bei Pinky, daß der ihn nicht an geschwärzt hatte. Morgan zauste Pinky in den Haaren. „Mach's gut, Kleiner. Als ich so jung war wie du, hatte ich auch solche Träume.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber sie erfüllen sich nie! Nicht in diesem Land. Hier mußt du mit den Wölfen heulen.“ „Oder sie verjagen.“ „Okay.“ Morgan lachte. „Wenn ich dich wieder mal brauche,, ruf ich hier an; ich weiß ja nun, wie ich dich finde, ohne den Skunk aufzujagen.“ Drei Tage später winkte der Barkeeper Pinky ans Telefon, doch es war nicht Morgan. Ein Mister Frazer bat ihn zu sich, tatsäch lich, er bat. Und Pinky solle sich auf seine Kosten ein Taxi neh men. Hauptsache, er käme sofort. „Ich glaube, wir haben einen neuen Klienten“, flüsterte Pinky Monster ins Ohr. „Laß dir 'ne Ausrede für den Skunk einfallen.“ „Schon wieder Geheimnisse“, maulte die Prinzessin. „Dafür darfst du meinen zweiten Hamburger aufessen, Lieb ling.“ Pinky warf ihr noch eine Kußhand zu und verschwand. „Jeremias T. Frazer — Generaldirektor“ stand an der Tür, zu der einer der beiden Pförtner Pinky brachte. Das Büro befand sich im 24. Stock eines Hochhauses am östlichen Stadtrand, das Pinky schon oft vom Dach seines Hauses aus in der Ferne be trachtet hatte; wenn die Luft über der Stadt nicht zu dick war, spiegelte sich die untergehende Sonne in dem Glaskasten, und
bei Abendrot sah es so aus, als brenne es. Pinky hatte versucht, vom Fahrstuhl, der außen am Haus hochfuhr, die Mietskaserne auszumachen, in der sich „Potters Kinderheim“ befand, doch das war ein aussichtsloses Unterfangen, die Skunkhöhle ging in den Hunderten gleichgebauter Häuserblocks unter. Hinter der Tür erwartete ihn erst einmal ein Sekretariat, das groß genug war, das ganze Potterheim darin unterzubringen, und in dem nicht weniger als sechs Damen emsig auf ihren Schreibmaschinen hämmerten. Mister Frazers Zimmer war auch nicht gerade klein. Schließlich ist er General, sagte sich Pinky, wer weiß, wie viele Direktoren dem unterstehen. Frazer sah eher wie ein Tennisspieler aus. Er kam Pinky ent gegen, drückte ihm herzhaft die Hand, musterte ihn einen Au genblick, zog sich einen Mantel an und ging mit ihm durch eine Seitentür hinaus und eine kleine Treppe zum Dach hinauf. „Sicher ist sicher“, sagte er. „Hier oben sind wir garantiert al lein, und niemand kann uns belauschen.“ Pinky blickte über die mächtigen Werksanlagen. „Gehört das alles Ihnen?“ Frazer lachte. „Das wäre schön. Nein, ich bin nur ein Ange stellter.“ „Aber sicher ein sehr gut bezahlter. Woher wissen Sie eigent lich von mir?“ „Ich habe versprochen, es nicht zu sagen. Es genügt doch, daß ich es weiß. Und daß du Tiere liebst.“ Frazer lächelte, „Ich gehe auch manchmal mit meinen Kindern in den Zoo.“ „Dann hätten Sie längst schon mal was dafür tun sollen.“ „Was fehlt dir denn noch?“ „Vor allem ein Elefant.“ „Zu teuer. Ich bin kein Millionär. Was hältst du von Bären?“ „Eisbären mag ich.“ „Darüber läßt sich reden. Also ...“ „Eine Frage, bevor wir anfangen“, unterbrach Pinky. „Stellen Sie auch Waffen oder Munition her?“ „Nein. Das ist eine chemische Fabrik. Warum fragst du?“ „Ich wollte es nur wissen. Also, wo drückt Sie der Schuh?“
„Ich werde erpreßt“, sagte Frazer. Womit, wollte er nicht ver raten, das sei auch nicht wichtig für Pinky, und von wem, wisse er selbst nicht. „Morgen abend“, erklärte Frazer, „soll ich das Geld übergeben und dafür die — nun, die Unterlagen, um die es geht, bekommen. Aber ich fürchte, man will mich reinlegen. Ich soll zu dem Maskenball in der Stadthalle gehen, dort wird man mir Näheres sagen. Schlau überlegt; auf so einem Maskenball kann einer leicht untertauchen. Viel zu leicht. Du sollst dich in meiner Nähe halten und aufpassen, vielleicht kannst du dem Kerl unauffällig folgen, auf dich achtet er bestimmt nicht. Mein Wagen wird startbereit vor der Tür stehen, du brauchst nur hin einzuspringen, und du sollst nichts riskieren ...“ „Bei einem Erpresser riskiert man immer was “, warf Pinky ein. „Der will schließlich auf keinen Fall entlarvt werden. Zu mindest nicht, wenn er Ihnen tatsächlich die Unterlagen zu rückgibt. Aber ich glaube nicht, daß er das vorhat.“ „Das befürchte ich eben.“ Frazer lehnte sich auf die Brüstung und starrte hinunter, daß Pinky Angst bekam, er würde sich in die Tiefe stürzen. „Er verlangt so viel, daß meine ganzen Ersparnisse draufgehen. Ein zweites Mal könnte ich nicht zahlen.“ „Sie sagten, ein Junge würde kaum auffallen, aber auf einem Maskenball spät in der Nacht dürfte niemand mehr auffallen als ein Kind.“ „Nicht dort. Es ist eine Veranstaltung des ‚Hickory-Klubs’, und viele Mitglieder werden ihre Kinder mitbringen; wir zum Beispiel gehen als Familie eines englischen Lords aus dem 17. Jahrhundert, und unsere beiden Tö chter kommen mit.“ „Da können Sie doch einen kleinen Mohren gebrauchen, als Page“, meinte Pinky. „Ich denke da an meinen Freund Monster. Und die Prinzessin kann ...“ „Prinzessin? “
„Wir sind zu dritt, ein eingespieltes Team“, prahlte Pinky. „Sechs Augen sehen mehr.“ „Zu viele Mitwisser“, lehnte Frazer ab. „Ich bin der einzige, der weiß, worum es geht. Ich bin der
Boß“, sagte Pinky. „Und für die Verschwiegenheit meiner Leute lege ich die Hand ins Feuer. Wann geht der Ball los?“ „Um zwanzig Uhr, könnt ihr da weg?“ Pinky nickte. Sonnabends gingen die Potters immer um sie ben zum Pokern und kamen erst am nächsten Morgen zurück. „Nur unsere Partnerin müßten Sie loseisen. Mieten Sie sie doch als Babysitter. Und was die Kostüme betrifft, wir sind alle gleich groß. Für die Prinzessin bitte ein langes Kleid. Ich gehe als Schiffsjunge, da kann ich mich notfalls schnell umziehen. Und wir brauchen natürlich etwas Geld.“ Frazer blinzelte mißtrauisch. „Zehn Dollar pro Nase wird es Ihnen wohl wert sein, daß wir uns die Nacht um die Ohren schlagen. Wir müssen ja mal was zu uns nehmen.“ „Natürlich. Entschuldige.“ „Außerdem ist es mein Prinzip, immer auch etwas für unsere Kleinen zu tun. Wir haben zu Weihnachten Schlittschuhe be kommen, aber wir haben kein Eis. Auf der Eisbahn kostet es Eintritt, es ist auch zu weit für die Kleinen. Vor ein paar Jahren hätten wir noch zu den überschwemmten Wiesen am Fluß ge hen können, doch seit Sie hier“ — Pinky wies auf die Fabrikan lagen — „und Ihresgleichen immer mehr warmes Abwasser in den Fluß leiten, frieren die nicht mehr zu. Bei uns um die Ecke gibt es ein leerstehendes Grundstück. Könnte Ihr Unterneh men das nicht über Winter mieten und eine Spritzeisbahn anle gen? Sie haben doch sicher einen Fonds für Soziales oder so.“ „Das müßte gehen. Noch etwas?“ „Ich will keinen Bären. Zwei Gibbons, samt Anlage.“ „Das kostet einen Haufen Geld“, rief Frazer unwillig. „Wenn Sie den Erpresser nicht bezahlen müssen, haben Sie einen Haufen Geld gespart, oder? Und falls es nicht klappt...“ „Bin ich erledigt. Schon wenn es jemand erfährt, daß ich er preßt werde.“ „Ich weiß es jetzt.“ „Kein Aufsichtsrat der Welt würde das einem zwölfjährigen Jungen abnehmen.“
„Und der Mann, der Ihnen den Tip mit mir gab?“
Frazer lächelte. „Ich habe ihn nur gefragt, was er tun würde, wenn er in der Klemme säße und weder zur Polizei gehen könne noch zu einem Privatdetektiv, der ihn am Ende in der Hand hätte. Da gab er mir deine Telefonnummer.“ „Das ist nicht unser Telefon.“ Pinky grinste. „Ich geb Ihnen die richtige Nummer. Damit Sie Marie-Antoinette für morgen abend engagieren können. Am besten, Sie rufen gleich an.“ Potter war sofort einverstanden. Er erkundigte sich, ob Fra zer die Prinzessin nicht gleich für einen längeren Zeitraum ha ben wolle, dann würde er im Preis heruntergehen. Dann schrieb Frazer die Schenkungsurkunde für den Tierpark und steckte sie in einen Umschlag, doch den Brief behielt er. „Morgen nacht kannst du ihn selbst einwerfen“, sagte er. „Hoffentlich.“ „Bestimmt.“ Pinky verabschiedete sich. „Und wenn Sie Mi ster Morgan das nächste Mal sehen, bestellen Sie ihm — nein, lassen Sie es lieber.“ Pinky und Monster verließen das Haus eine viertel Stunde nach den Potters, aber nicht durch die Korridortür; die war zweifach verschlossen und außerdem noch mit schweren Eisen riegeln und einer dicken Kette gesichert, als ob die Potters Angst hätten, jemand könne ihre Zöglinge stehlen, doch wer weiß, was in dem Safe in ihrem Schlafzimmer verborgen war. Die beiden hangelten zu dem Fenster ihrer Schlafkammer hin aus, turnten zur Feuerleiter hinüber und warteten dort, bis die Straße leer war und niemand sie dem nächsten Polizisten als Ausreißer übergeben konnte. Frazers Auto stand wie verabre det am Washington-Boulevard. Pinky und Monster zogen sich im Auto um und ließen ihre Sachen im Wagen. Marie-Antoinette wartete im Vorraum der Stadthalle. In dem meergrünen Ballkleid und mit all dem glitzernden Schmuck sah sie wie eine echte Prinzessin aus, sie hatte sich sogar die Lippen geschminkt. Als sie die beiden erblickte, vergaß sie ihre
königliche Würde und lief auf sie zu, fiel erst Monster um den Hals, dann Pinky. „Pinky, das vergeß ich dir nie!“ Sie drückte ihm einen laut schmatzenden Kuß auf den Mund. Pinky wurde rot bis in die Ohren. Diese Weiber! dachte er wütend, und als die Prinzessin sich zu Monster umdrehte, wischte er schnell den Lippenstift von seinem Mund. Die Prinzessin führte sie in den Saal und zeigte Monster, wo die Frazers saßen. Die beiden Kinder, auf die Marie-Antoinette angeblich aufpaßte, waren wenigstens einen halben Kopf größer als sie. Punkt acht begann die Musik, und Pinky verfluchte sich bald, weil er diesen Auftrag übernom men hatte. Zwei Kapellen wechselten sich ab, und die Prinzes sinwollte keinen Tanz auslassen. Schließlich wurde er energisch. „Schluß mit der Hopserei“, verkündete er, „sonst bin ich nach her fix und fertig, wenn es darauf ankommt.“ Jetzt tanzten sie nur noch jede dritte Runde, und Pinky ach tete darauf, daß es immer ein langsamer Tanz war, das machte ihm ohnehin viel mehr Spaß, da konnte er die Prinzessin we nigstens anfassen, und ab und zu wurden sie in dem Gedrängel aneinandergepreßt. Monster blickte immer neidischer, wenn die beiden in Sichtweite kamen. Dafür brachte ihm der Kellner schon den dritten Eisbecher. Schließlich forderte Monster eine der Frazertöchter auf, und als er mit ihr an Pinky und der Prin zessin vorbeitanzte, legte er seinen Kopf an deren Schulter und tat ganz verliebt. Pinky knuffte ihn in den Rücken. „Zurück an deinen Platz, aber schleunigst“, befahl er. „Bist ja bloß neidisch“, erwiderte Monster, drehte aber doch seine Partnerin zu Frazers Tisch zurück. Pinky hatte schon längst alle Hoffnung verloren, daß sie hier etwas ausrichten könnten; tausend Masken, wie sollten sie da den Erpresser ausmachen? Nur wenn der einen Fehler machte. Pinky hielt sich immer so, daß er die Frazers im Auge behielt, ob sie nun am Tisch saßen oder tanzten oder an die Bar gingen. Frazer ließ sich nichts anmerken, er schien sich ausgemacht gut zu unterhalten. Kurz vor Mitternacht stand er auf, blickte wi e zufällig Pinky
an, blinzelte zweimal und ging langsam hinaus. So schnell hatte
Pinky die Prinzessin den ganzen Abend nicht gedreht. Im Nu
waren sie neben Frazer und rempelten ihn an.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Pinky.
„Schon gut.“ Pinky fühlte, daß Frazer ihm etwas in die Ta sche steckte. Während sie weitertanzten, holte Pinky es vorsich tig heraus. Ein Zettel mit aufgeklebten Zeitungsbuchstaben. Er zog die Prinzessin in eine Ecke, und während er so tat, als binde er sich den Schuh zu, las er die Nachricht des Erpressers: „Punkt Mitternacht Herrentoilette. Nehmen Sie die Kabine am Fenster. Schieben Sie das Geld in die Kabine nebenan. Dann 5 Minuten warten. Sie bekommen l Garderobenmarke. Dort das Bewußte. Sprechen Sie mit niemandem. Ich beobachte Sie. Keine Tricks. Sonst erschieße ich Ihre Töchter!!!“ Pinky ließ den Zettel verschwinden und blickte sich um. Nie mand schien ihn zu beachten. Er tanzte mit der Prinzessin am Tisch der Frazers vorbei und stieß einen Pfiff aus. Monster blickte ihn fragend an. Pinky blinzelte ihm zu. Monster stand auf und ging langsam hinaus. Als sie ihn überholten, flüsterte Pinky: „Beobachte den Hinterausgang. Jeder, der aus der Toi lette kommt und gleich zur Garderobe oder zum Ausgang geht, ist verdächtig. Und du, Prinzessin, bleibst an der Treppe.“ „Was ist denn los?“ fragte die Prinzessin. „Will mir das nicht mal einer erklären?“ „Später.“ Pinky hopste die Treppe zum Untergeschoß hinun ter. Auf der Herrentoilette herrschte Hochbetrieb, alle Kabinen waren besetzt, Frazer verschwand gerade in der am Fenster. Ein Waschbecken wurde frei. So ausgiebig hatte Pinky noch nie seine Hände gewaschen. Im Spiegel konnte er die vorderen Ka binentüren beobachten. Hoffentlich sind es nicht mehrere, dachte er. Vielleicht war einer der Männer hier ein Komplize des Erpressers. Wer? Da ging die Tür neben Frazers Kabine auf. Ein Gorilla kam heraus. Eine mittelgroße Gestalt. Dick oder dünn? Das weite Fellkostüm ließ keinen Schluß darauf zu. Der Kopf steckte in einer Pappmaske. Vielleicht war es gar kein Mann! Doch. Der Gorilla stellte sich in aller Ruhe vor
eines der Becken, fummelte lange und ungeschickt mit den Af fenhänden, bis er den Reißverschluß seines Kostüms aufbe kam, und pinkelte dann ganz geruhsam. Ging zu den Waschbek ken und wartete, bis er drankam. Jetzt muß er die Hände zei gen, dachte Pinky. Dann weißt du wenigstens, was für Hände er hat. Oder war das gar nicht der Erpresser? Warum verschwand der Gorilla nicht einfach? War der so raffiniert, daß er hier see lenruhig abwartete, was geschah? „Nun bist du aber sauber, was?“ Ein Indianerhäuptling schob Pinky beiseite. Wenn er nicht auffallen wollte, mußte er jetzt gehen. Da kam Frazer heraus. Er hatte die fünf Minuten nicht abwarten können. Sein Gesicht verriet, daß er das Geld los war. Pinky drehte ihm den Rücken zu und stieg die Treppe hinauf. Hoffentlich quatschte Frazer ihn nicht an. Aber der rannte an ihm vorbei, in der Hand eine Garderobenmarke. Gleich hinter ihm kam der Gorilla gemächlich die Treppe herauf und schlen derte zum Ausgang. Und Frazer war nirgends zu sehen! Mon ster auch nicht. „Komm!“ Pinky packte die Prinzessin und zog sie davon. „Was ist denn los?“ kreischte sie. „Pst! Mach jetzt kein Theater.“ Der Gorilla winkte eine Taxe heran und stieg ein. „Entwischt!“ fluchte Pinky. Bis sie Frazers Wagen erreicht hatten, war der Gorilla längst über alle Berge. Er merkte sich wenigstens die Nummer. Da kreischten Bremsen vor ihm. Fra zers Auto! Der Chauffeur hatte Pinky herauskommen sehen und war auf gut Glück losgefahren. „Sie sind Klasse“, bedankte sich Pinky. „Los, ab, der Taxe nach. Wir haben keine Zeit, auf Mister Frazer zu warten.“ „Von mir aus. Der Chef hat mir befohlen, alles zu tun, was du sagst. Worum geht es eigentlich?“ „Das möchte ich auch endlich wissen“, sagte die Prinzessin, „oder ich steige sofort aus.“ „Nichts ist los“, antwortete Pinky. „Ich will nur feststellen, wo der Gorilla bleibt. Dann fahren wir wieder zurück zum Ball. Ich tanze auch die ganze Nacht mit dir.“
„Tust du ja doch nicht!“ „Non stop. Monster und ich werden uns ablösen. Wie die bei den Kapellen.“ Frazers Chauffeur schien die Verfolgung Spaß zu machen. Er hielt immer Abstand zu der Taxe, wenn möglich, ließ er noch ein oder zwei andere Autos zwischen sich und dem Gorilla. „Sind Sie mal bei der Polizei gewesen?“ erkundigte sich Pinky. „Nee, aber ich habe genug Krimis gesehen. Ist dies ein Krimi? Und du bist der Detektiv, was?“ Der Chauffeur lachte vergnügt. „Hol mal schon deine Pistole heraus.“ Pinky hatte angenommen, daß der Gorilla sich nach Hause fahren ließ, doch die Taxe fuhr in die Innenstadt, und in der 5. Avenue, wo kein Mensch wohnte, sondern nur Geschäfte, Fir men und Banken waren, hielt sie plötzlich. „Weiterfahren!“ kommandierte Pinky. Er rutschte vom Sitz und kauerte sich auf den Boden. „Um die nächste Ecke und an halten. Steigt er aus?“ „Scheint so“, sagte der Chauffeur. Pinky sprang aus dem Wagen und flitzte zur Ecke, im Laufen zog er die Jeansjacke über; die weiße Schiffermütze hatte er schon unterwegs gegen seine Pudelmütze vertauscht. Die Taxe fuhr gerade an. Sie war leer. Und der Gorilla nirgends zu sehen. Pinky steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte leise pfeifend die Straße hinunter, bereit, jederzeit davonzulau fen. Er blickte in jedes parkende Auto, vielleicht war der Gorilla nur in seinen eigenen Wagen umgestiegen? Nein. Er mußte in einem der beiden Häuser verschwunden sein, vor denen die Taxe gehalten hatte. Doch die waren fest verschlossen, sogar mit schweren Gittern, und die konnte der Gorilla unmöglich in wenigen Sekunden geöffnet und wieder geschlossen haben, dazu noch lautlos. Aber da war eine Durchfahrt zum Hof. Und auf dem Hof sechs Ausgänge! Jeweils acht Stockwerke und wer weiß wie viele Büros oder Lager. Wie sollte er den Mann hier finden? Kein Licht verriet, daß er einen der Aufgänge be nutzte. Pinky duckte sich hinter die Mülltonnen. Vielleicht wartete
der in einem der Eingänge und beobachtete, ob er verfolgt wurde. Ruhe! befahl sich Pinky. Erst einmal nachdenken. Warum hat er sich nicht in der Stadthalle umgezogen? Weil er nicht sicher sein konnte, ob Frazer nicht doch jemand zu Hilfe geholt hatte, der ihn verfolgte und sein Gesicht sah. Und wenn er gleich nach Hause fuhr, konnte der Taxifahrer ihn verraten, an einen Gorilla erinnert man sich. Und er fällt auf, wenn er nachts durch die Straßen läuft. Irgendwo muß er sich umzie hen, und hier ist es nachts einsam. Pinky mußte nur warten, bis er wieder herauskam. Und wenn der in einer der Firmen arbei tete? Dann blieb er bis morgen in seinem Büro. Oder verließ das Haus durch den Vordereingang. Eine Tür klappte. Pinky hatte nicht mitbekommen, welche. Er kroch noch mehr in sich zusammen. Doch niemand erschien. Also war der erst jetzt reingegangen. Und stand hinter der Tür oder schlich im Dunkeln die Treppe hoch. Pinky stand auf und ging zum ersten Eingang. Verschlossen. Auch der zweite, der dritte. Der vierte war offen. Und Pinky hörte den Fahrstuhl summen. Er sah auf die Firmenschilder neben der Tür. Mann, das war's! „William O. Leclercq — Kostümverleih für Bühne, Film und Fernsehen, Maskenbälle und Festveranstaltungen“. Pinky mußte lachen. Als ob jemand in Kittsburgh einen Film drehen wollte. Und das kleine Theater brauchte bestimmt ebenso selten Kostüme von Mister Leclercq wie das winzige örtliche Fernsehstudio. Aber die Idee war nicht schlecht. Der hängte seinen Gorilla in aller Seelenruhe wieder auf die Stange und verschwand. Vielleicht hatte er ihn sogar heimlich „ausge borgt“, falls doch jemand danach forschen sollte. Das Türschloß konnte man mit einen einfachen Dietrich öffnen. Auch das im dritten Stock. Mister Leclercq schien wenig Angst um seine Ko stüme zu haben. Vielleicht hatte er sie gut versichert und hoffte sogar, daß sie gestohlen wurden. Die Tür war nur angelehnt. Pinky schlich hinein. Die Hoflampen warfen ein bißchen Licht in die Räume, gerade genug, die gröbsten Umrisse zu erkennen. Da, eine Stimme. Eine heisere, krächzende Stimme. Pinky duckte sich hinter einen langen Tisch, der am Fenster stand.
„Alles okay“, hörte er. „Ich zieh mich gerade um. Ich nehme den Hund. Um vier.“ Also nichts wie raus und unten warten. Im Schein der Hof lampen würde er den Erpresser gut sehen können. Und dann mit dem Wagen verfolgen. Pinky wollte auf allen vieren hinaus kriechen, doch er verhedderte sich mit dem Fuß in einer Schnur, das Telefon knallte krachend zu Boden. „Verdammt!“ schrie der Erpresser auf. Ein Schatten rannte durch den Raum, sprang zur Tür hinaus, knallte sie zu, schloß sie ab. Pinky saß verdattert am Boden und rieb sich den Ellen bogen. Da saß er nun. Eingesperrt, und der Verbrecher konnte ungestört abziehen. Und unerkannt. Pinky sprang zur Tür. Der Schlüssel steckte von außen. Verkantet. Selbst wenn er einen Dietrich bei sich gehabt hätte, er hätte die Tür nicht öffnen kön nen. Zum Fenster: Der Mann ging ganz ruhig über den Hof. Pinky sah nur einen Hut und einen dunklen Mantel. Er hätte sich in den Hintern beißen können vor Wut. Er machte das Licht an. Nun konnte er sich auch in Ruhe umblicken. Das Gorillakostüm lag nebenan auf dem Schreibtisch. Viel leicht könnte die Polizei was damit anfangen, aber Frazer wollte ja keine Polizei. Pinky suchte die Nummer der Stadt halle aus dem Telefonbuch. Es dauerte lange, bis er dem Mann am anderen Ende der Leitung klarmachen konnte, daß der Mi ster Frazer an den Apparat holen mußte, und eine Unendlich keit, bis Frazer endlich kam. „Wo steckst du?“ fragte er. „Und wo haben Sie gesteckt?“ fragte Pinky zurück. „Als es darauf ankam, waren Sie nirgends zu finden.“ „Ich mußte in die obere Garderobe, im Rang“, sagte Frazer. „Ich mußte doch wissen, ob er wirklich die Unterlagen dort ab gegeben hatte.“ „Hat er?“ „Ja. Aber er ist dir entwischt, was? Erzähle!“ „Holen Sie mich erst mal hier raus.“ Er beschrieb Frazer, wo er zu finden war. Dann sah er sich um. Du meine Güte, war das ein Ramsch. Leclercq schien seine Kostüme auf Versteigerun
gen zu erwerben, wahrscheinlich, wenn mal eine Filmfirma Pleite machte oder das Unbrauchbare aussortierte. Die meisten waren nicht einmal mehr für einen Maskenball zu gebrauchen, viele schmutzig oder zerrissen. Pinky setzte sich an den Schreibtisch und musterte kopfschüttelnd den Haufen Schuhe rundum. Plötzlich stutzte er, nahm einen Schuh in die Hand, der von den anderen abstach, so neu und gepflegt sah er aus. Er schloß die Augen, um sich ganz genau zu erinnern. Ja, als der Erpresser vorhin hinausstürzte, hatte es sich angehört, als humpelte er. Und da war noch etwas gewesen. Pinky ließ alles noch einmal in seinem Gedächtnis ablaufen, wiederholte ein paarmal das Telefongespräch: „Ich zieh mich gerade um. Ich nehme den Hund. Um vier.“ Aber er hatte nicht „dog“ gesagt, sondern „hound“! Pinky wartete voller Ungeduld, daß die Tür geöffnet wurde. Monster war mitgekommen. „Na, Meisterdetektiv“, sagte er, „schöne Blamage, was?“ Pinky grinste ihn an. „Du kannst dich gleich hier mit hinhän gen, so, wie du aussiehst!“ Monster hatte noch immer das rote Jäckchen und die grünen Pluderhosen an und den riesigen Tur ban auf dem Kopf. „Weiß gar nicht, was du hast“, sagte er, „ich gefalle mir so.“ „Könnt ihr euch nicht nachher anblödeln“, unterbrach Fra zer. „Hast du den Mann gesehen?“ Pinky berichtete. Frazers Gesicht wurde immer länger. „Das Geld kann ich also in den Schornstein schreiben“, sagte er. „Es ist nicht einmal sicher, daß es ein Mann ist; so heiser und krächzend, wie du es beschrieben hast, kann es auch eine Frau gewesen sein, die ihre Stimme verstellt.“ „Es ist ein Mann“, sagte Pinky. „Und ein Weißer.“ Frazer sah ihn ungläubig an. Pinky griente. „Ich habe ihn doch beim Pinkeln beobachtet.“ „Das hilft uns auch nicht weiter.“ „Aber das hier!“ Pinky hielt triumphierend den Schuh in die Höhe.
„Ach, du willst wohl Aschenputtel spielen. Allen Männern in der Stadt den Schuh anpassen, was?“ „Er ist nicht aus Kittsburgh“, sagte Pinky gelassen. „Und um vier verläßt er die Stadt.“ Frazer schien nichts zu verstehen. Monster auch nicht. „Na, welcher Mann sagt heute noch ,hound' zu einem Hund? Er nimmt den ,Greyhound'*. Um vier. Wir müs sen nur rechtzeitig am Busbahnhof sein und allen Leuten auf die Füße gucken. Als ich ihn aufstörte, hat er im Dunkeln einen falschen Schuh erwischt. Ich glaube kaum, daß er sich nachts ein Paar neue besorgen kann. Also wird er mit zwei verschiede nen Schuhen dort antanzen.“ „Worauf warten wir noch!“ Frazer sprang auf. „Wir haben noch über drei Stunden Zeit“, sagte Pinky, „er wird bestimmt erst in der letzten Minute kommen. Fahren wir inzwischen noch mal in die Stadthalle, ich habe der Prinzessin ein Tänzchen versprochen.“ „Jetzt bin ich aber dran“, rief Monster. „Soviel du willst“, sagte Pinky großzügig, „von mir aus jeden Tanz. Dafür eß ich jetzt Eis. Und Würstchen. Mann, bin ich hungrig.“ „Iß, soviel du Lust hast“, sagte Frazer. „Du bist mein Gast. Und du natürlich auch, Monster. Und die Prinzessin, versteht sich.“ Um halb vier waren sie am Busbahnhof. Nicht weniger als sie ben Busse sollten gegen vier Uhr abfahren, doch nachts mußten alle Fahrgäste durch das Abfertigungsgebäude, und da gab es nur zwei Eingänge. Pinky postierte sich an dem einen, Monster am anderen. Frazer wartete mit der Prinzessin in der Halle. Pinky hätte nicht geglaubt, daß so viele Leute in dieser Herr gottsfrühe mit dem Bus fuhren. Und mit was für zerlumpten Schuhen zuweilen. Sogar Sandalen, mitten im Winter. Monster entdeckte ihn. Er stieß einen Pfiff aus. Frazer fielen fast die Augen aus dem Kopf. Er ging auf den Mann zu, der völ * Greyhound = ein großes Verkehrsunternehmen mit Überlandbussen in den USA
lig verdattert dastand, als er Frazer erblickte. Pinky schlich
sich in den Rücken des Erpressers und bohrte ihm seinen Zei
gefinger in den Mantel.
„Keine Bewegung!“ befahl er. „Sonst knallt's!“
„Auf Sie wäre ich nie gekommen.“ Frazer schüttelte den Kopf. Seinem Gesicht nach mußte es die größte Enttäuschung seines Lebens sein. „Stell dir vor, Pinky, mein eigener Rechtsanwalt!“ rief er. „Nun nehmen Sie ihm schon das Geld ab“, sagte Pinky. „Sonst erregen wir noch Aufsehen. Der Bulle dahinten wird schon unruhig.“ Frazer griff dem Mann unter den Mantel und holte ein Päck chen hervor. „Sie haben ja nicht mal nachgesehen“, sagte er. „Ich wußte, Sie würden es nicht riskieren, mich zu betrügen“, antwortete der Erpresser. „Für uns wird es höchste Zeit“, mahnte Pinky, „sonst sind die Potters noch vor uns zu Hause. Die Herren scheinen sich ja gut genug zu kennen, um den Rest unter sich ausmachen zu kön nen.“ Frazer nickte, er war immer noch durcheinander. „Bitte den Brief“, sagte Pinky, und als Frazer nicht gleich ver stand, fügte er hinzu: „Für den Zoo. Und denken Sie mal an die Schlittschuhe.“ „Das habe ich gestern schon erledigt.“ „Was willst du denn mit Schlittschuhen?“ fragte die Prinzes sin. „Wir haben doch unsere von Weihnachten noch nicht ein mal benutzt.“ „Eben.“ „Will mir nicht endlich einmal einer verraten, was hier los ist?“ schrie die Prinzessin wütend. „Lieber nicht.“ Pinky zeigte auf den Polizisten, der sich in Marsch gesetzt hatte. „Bis morgen, Prinzessin. Und paß gut auf deine kleinen Babys auf, damit sie dir nicht noch mehr über den Kopf wachsen!“
Tödliche Träume Pinky hing mit dem Kopf in der Mülltonne und würgte. Du Idiot, dachte er, warum bist du auch zur Schule gegangen! Du könntest jetzt schön im Bett liegen, statt hier im Keller von den Lyons gequält zu werden. Gegen den Gestank in der Müll tonne waren der Kamillen-Bitterbeeren-Tee der Blindschleiche und acht Tage Haferbrei eine wahre Delikatesse. Die beiden Halbstarken, die ihn gepackt hatten, drehten seine Arme noch ein Stück höher auf den Rücken und drückten seine Nase in die fauligen Abfälle, dann rissen sie ihn hoch. „Ich glaube, das reicht erst mal“, höhnte der Anführer der Bande, der sich „Chief Halfpint“* nannte, aber nicht, weil er eine halbe Portion war, ganz im Gegenteil, der hätte als Bo xer gehen können, sondern weil es eine seiner Gewohnheiten war, eine halbe Pinte Starkbier in einem Zug hinunterzukippen. „Wenn du noch einmal die anderen gegen uns aufhetzt “, drohte er, „nehmen wir dich richtig vor!“ Die Tür wurde aufgerissen. „Polente!“ Die Lyons rannten da von. Noch nie hatte Pinky sich so über das Erscheinen von Po lizei gefreut. Es wurde auch Zeit, daß die hier einmal Ordnung schafften, die Bande wurde immer dreister; einige der Lehrer, so hieß es, hatten sich schon mit Schlagringen und Totschlä gern bewaffnet. Doch die beiden Polizisten jagten nicht hinter den Lyons her, sie nahmen ihn — Pinky! — in den Polizeigriff und schleppten ihn nach oben, unter den Augen der ganzen Schule über den Hof und schubsten ihn in einen Polizeiwagen, in dem schon ein Dutzend anderer Jungen hockte. * Half-Pint - Halbe Portion; Pint - fast ein halber Liter
„Was soll der Quatsch!“ schrie Pinky. „Laßt mich sofort...“
„Maul halten und hinsetzen!“ Der Polizist an der Tür schwang drohend seinen Schlagstock. Pinky blickte sich um. Aus seiner Klasse war niemand weiter dabei, einer aus der 6c, die anderen alle aus den siebenten und achten Klassen. Er wollte fragen, was los sei, doch kaum hatte er den Mund aufgemacht, da stieß der Polizist ihm den Knüppel vor die Brust. Sie stopften noch drei Jungen in die Grüne Minna, dann ging die Fahrt los. Sie endete im Polizeipräsidium. In der Rauschgiftabteilung, wie Pinky dem Schild am Eingang entnehmen konnte. Was hatte er mit Rauschgift zu tun! Er war doch nicht verrückt, so ein Zeug zu schlucken, er trank nicht mal Bier. Die Polizisten ließen sich nichts erklären. Sie führten Pinky in eine Zelle. Er mußte sich nackt ausziehen, dann suchten sie seine Arme und Beine nach Injektionsstellen ab, sogar zwi schen den Zehen und in den Augenbrauen sahen sie nach. Irgendeiner mußte denen gepfiffen haben, daß er Rauschgift nahm, und nicht nur Haschisch oder eine der vielen bunten Ta bletten, sondern harte Drogen. „Kannst dich anziehen!“ Die Tür knallte zu, bevor er was sa gen konnte. Nun saß er im Knast. In einer richtigen Zelle. Wer weiß, wann er hier wieder rauskam. Pinky mußte nicht lange warten. Ein baumlanger Polizist holte ihn ab. In Handschellen. So wurde er über den Flur ge führt, wo die anderen noch saßen und ihn anstarrten, als hätten sie es mit einem Mörder zu tun. Der Polizist brachte ihn — zu Henderson! „Machen Sie ihn los und lassen Sie uns allein“, be fahl der Captain. „Setz dich.“ Henderson schob ihm lächelnd eine Dose Cola zu. „Entschuldige den Aufwand, aber ich wollte dich mal sprechen.“ „Machen Sie das jetzt immer so?“ fragte Pinky. „Reg dich wieder ab. Es war nötig. Ich erkläre es dir gleich.“ „Eine Razzia in der Schule und ein Dutzend Festnahmen, nur um mich zu sprechen? Das erzählen Sie lieber einem, der sich die Hosen mit der Kneifzange anzieht.“
„Ganz schön eingebildet.“ Der Captain grinste. „Die Razzia war sowieso fällig. Ihr werdet seit Wochen von den Löwenköp fen terrorisiert...“ „Die sollten Sie lieber einsperren!“ rief Pinky erbost. „Kommt noch. Aber dazu brauche ich Zeugen, die bereit sind, gegen die Lyons auszusagen. Bist du bereit?“ „Und laß mich dann zusammenschlagen, was? Nee, danke.“ „Siehst du, so geht es uns meistens. Niemand will uns helfen.“ „Wundert Sie das? Zwei sperren Sie ein, und die anderen neh men Rache.“ Henderson nickte nur. „Hast du dich nicht gewundert, daß die Lyons sich über eure Schule hermachen?“ „Ja, aber, ich habe keine Erklärung gefunden.“ „Das ist nicht nur in eurer Schule so, sondern überall in der Stadt, und es gibt eine Erklärung: In den nächsten Tagen wer den unter dem Schutz der Halbstarkenbanden Dealer* an den Schulen auftauchen. Das ist eine großangelegte Offensive der Rauschgifthändler. Die wollen sich jetzt auch bei uns schon an die Schulkinder heranmachen, und leider haben sie nur zu oft Erfolg. Es gibt zu viele Dumme, die Kummer in der Schule oder zu Hause haben und sich von diesen Banditen bunte Träume als Ausflucht aus ihrem Elend aufschwätzen lassen. Tödliche Träume. Wer mit dreizehn oder vierzehn damit anfängt, ist mei stens mit achtzehn schon tot. Oder ein Wrack.“ Das war für Pinky kein Geheimnis. Er hatte genug darüber gelesen, und die Lehrer hielten schon in den fünften und sechs ten Klassen Vorträge über die Gefahren des Rauschgiftes, aber auch über die Schädlichkeit des Rauchens und des Alkohols, und viele nahmen es nicht ernst. Vor allem in den oberen Klas sen gab es nicht wenige, denen es egal war, was später mal aus ihnen wurde, weil sie ohnehin keine Chance sahen, jemals einen Beruf oder auch nur einen Job zu finden, wo doch schon seit Jahren Tausende von gesunden, kräftigen Männern in Kittsburgh arbeitslos blieben. Eine Kette der Aussichtslosig keit: ohne Arbeit kein Geld, ohne Geld keine Wohnung, keine * to deal - teilen, verteilen; dealer = Name für die kleinen Rauschgifthändler
Reisen, kein Vergnügen, kein Mädchen, keine Frau, keine Kin der ... Von der kärglichen Wohlfahrtsunterstützung konnte man gerade sein Leben fristen. War es ein Wunder, wenn einer wenigstens für ein paar Stunden in eine bunte, verlockende Traumwelt fliehen wollte? „Warum legen Sie diesen Gangstern nicht das Handwerk, be vor sie kleine Kinder verführen können?“ „Das eben will ich. Doch dazu brauche ich Hilfe. Zum Beispiel von dir. Du bist doch ein großer Detektiv, nicht wahr?“ Hender son schmunzelte. „Ich?“ fragte Pinky verwundert. Henderson. lehnte sich zurück und verschränkte die Arme über der Brust. „Paß mal auf, Kleiner. Der schlimmste Fehler, den du ma chen kannst, ist, den anderen für dumm zu halten. Überheblich keit ist ein sicherer Weg zum schmählichen Untergang. Meinst du, ich weiß nicht, was in dieser Stadt los ist? Ich weiß recht gut, daß dein Name bei den feinen Leuten von Kittsburgh als Ge heimtip gehandelt wird, wenn es darum geht, schmutzige Wä sche zu waschen, ohne uns einzuschalten.“ „Was wissen Sie?“ Henderson lächelte. „Das werde ich dir nicht verraten. Aber bilde dir nur nicht zuviel ein, nur weil du ein paarmal Glück ge habt hast.“ „Vielleicht bin ich wirklich gut?“ „Soll ich dir verraten, warum man dich ruft? Erstens, weil du ungefährlich bist; selbst wenn du mal quatschen solltest: Wer würde einem Potterkind glauben, zumal gegen die Aussage von einem Mister Morgan oder Mister Appleby, vor allem aber bist du exotisch. So was wie eine wahrsagende Zigeunerin oder eine schmuddelige Alte, die den Hexenschuß wegzaubert, arm, abge rissen, ein Kind, ein Waisenkind — paß auf, wenn du aus den kurzen Hosen rausgewachsen bist, gibt dir kein Hund mehr ein Stück Brot.“ „Das glauben Sie!“ „Werd nicht frech. Wenn ich will, sitzt du morgen vor dem Ju
gendgericht und anschließend in einem geschlossenen Heim. Wegen Irreführung der Polizei, wegen Nichtanzeige, Mitwisser schaft und Vertuschung von Verbrechen, wegen Unterschla gung von Beweismaterial — wieviel, meinst du, bekommst du dafür? Auf keinen Fall eine Lizenz als Privatdetektiv. “ „Das können Sie nicht machen!“ stieß Pinky hervor. „Ich könnte es. Aber ich möchte es nicht. Du sollst nur wis sen, auf welch dünnem Seil du tanzt. Und wenn es mal schief geht, wird keiner deiner mächtigen Herren dich überhaupt ken nen.“ Pinky saß da wie ein Häufchen Unglück. So hatte er es noch nie betrachtet. Henderson hatte ihn völlig in der Hand. „Okay“, sagte er kleinlaut. „Was muß ich tun?“ Henderson beugte sich vor und blickte ihm in die Augen. „Ich will dich nicht unter Druck setzen, ich will dich als Verbünde ten gewinnen. Glaube mir, ich meine es gut. Ich mag dich, weiß der Teufel, warum, vielleicht kann ich mich noch zu gut an meine Kinderzeit erinnern. Laß uns ein Gentleman's Agree ment* schließen: Ich tue so, als wenn ich nichts wüßte von deinem Detektivspiel, aber wenn du es mit einem richtigen Verbrechen zu tun bekommst, erfahre ich es sofort. Schon zu deinem Schutz. Ich möchte dich nicht eines Tages im Leichenschauhaus besu chen.“ Er streckte die Hand über den Tisch. „Okay?“ Pinky schlug ein. Ein Stein war ihm vom Herzen gefallen. „Was wollen Sie wissen?“ „Die Vergangenheit vergessen wir. Aber in Zukunft...“ „Großes Ehrenwort.“
„Nun zu den Lyons. Wir müssen es sofort erfahren, wenn die Dealer an der Schule auftauchen. Und ich brauche genaue Per sonenbeschreibungen.“ „Da hätten Sie mich nicht unter Druck setzen müssen“, sagte Pinky, „gegen diese Schweine mache ich freiwillig mit.“ „Um so besser. Leider hat es wenig Sinn, wenn wir die Dealer sofort festnehmen. Das sind kleine Fische, und es kämen nur andere. Wir müssen versuchen, über sie an die Zwischenhänd * Gentleman's Agreement - Abkommen unter ehrlichen Männern
ler und an die Hintermänner zu kommen, die Haie im Hinter grund. Und wir müssen erfahren, wie das Gift in unser Gebiet gebracht wird. Für einen großen Fisch gibt es sogar eine Beloh nung.“ Henderson lächelte. „Keinen Elefanten, aber immerhin: zehntausend Dollar. Das wäre doch ein schönes Startkapital für einen jungen, strebsamen Privatdetektiv, was?“ „Dafür muß 'ne alte Frau lange stricken“, sagte Pinky begei stert. „Ich lasse dich jetzt wieder abführen und bis heute abend ein schließen“, sagte Henderson, „damit niemand auf die Idee kommt, du wärst ein Polizeispitzel. Vielleicht hast du auf die Art sogar eher eine Chance, etwas herauszubekommen.“ „Soll ich mich als Geheimagent bei den Lyons einschlei chen?“ „Das laß lieber sein. Zu gefährlich. Und zu keinem Menschen ein Wort, nicht einmal zu deinem Freund Monster. Und wenn du Informationen hast, rufst du mich an. Nur mich, verstan den?“ „Sie können wohl auch nicht all Ihren Leuten trauen?“ „Am Rauschgifthandel wird zuviel Geld verdient“, antwortete Henderson traurig. „Polizisten sind auch nur Menschen und lei der nicht selten bestechlich. Sie werden zu schlecht bezahlt.“ * Nicht nur Monster wollte wissen, was Pinky erlebt hatte, am nächsten Tag wurde er auf dem Schulhof dicht umlagert. Pinky erzählte Schauergeschichten, wie man ihn gefilzt und verhört hätte. „Aber aus mir bekommen die Bullen kein Sterbenswörtchen heraus“, prahlte er. Dann blickte er in die Runde. „Möchte nur wissen, wer mich bei der Polente verpfiffen hat.“ Alle beteuerten lauthals ihre Unschuld. „Hast du denn wirk lich schon mal...?“ fragte einer. „Das geht dich einen feuchten Dreck an!“ Pinky versicherte sich mit einem kurzen Seitenblick, daß der „diensthabende “ Lyon auch fleißig zuhörte. Am schwersten fiel es ihm, die Prinzessin zu belügen und Mi
ster Eryman, seinen Mathelehrer, der ihn über eine Stunde lang ins Gebet nahm und ihn immer wieder beschwor, doch keine Dummheiten zu machen, es sei doch „verdammt blöde“, wenn „ein so begabter Junge“ wie Pinky sich leichtfertig das Leben versauen würde. Pinky war zweimal drauf und dran, Mi ster Eryman die Wahrheit zu sagen. Als sie abends in ihrem Doppelstockbett lagen, weihte er Monster ein, allerdings nicht, ohne sich vorher zu überzeugen, daß die Potters weitab vom Schuß vor dem Fernseher hockten und daß Monster noch ei sern zu seinem Schwur stand. „Ich habe zwar dem Captain Schweigen gelobt“, sagte Pinky, „aber wenn ich mit keiner Menschenseele darüber sprechen kann, ersticke ich. Außerdem sehen vier Augen mehr als zwei, und deine Lauschlöffel allein hören mehr als ein Dutzend ge wöhnlicher Ohren.“ Wie recht er hatte. Zwei Tage später winkte Monster ihn kurz vor der Stunde auf den Schulflur. „Morgen kommen sie“, flüsterte er Pinky ins Ohr. „Ich habe eben zwei von den Lyons im Keller belauscht.“ In der Tat standen am nächsten Mittag zwei unauffällige Ty pen unweit des Schuleingangs und fischten sich aus dem Strom der nach Hause gehenden Schüler ein paar heraus, die sie wohl für geeignete Opfer hielten. So harmlos die beiden etwa acht zehnjährigen Burschen auch wirkten, sie schienen ihr schmut ziges Handwerk zu verstehen, oder sie waren sehr gut infor miert worden; sie winkten mit sicherem Blick nur solche Jun gen heran, die schon davon gesprochen hatten, daß sie gerne mal „fixen“ würden. Pinky und Monster spielten noch eine Partie Messerstechen in einer Ecke des Schulhofs, von der aus sie alles gut beobach ten konnten, wenn auch nicht mithören. Pinky wußte auch so, was da passierte. Die Dealer boten den ersten „Schuß“ umsonst an, um so höhere Preise nahmen sie dann, wenn das Opfer süchtig war und um jeden Preis neues Gift wollte, und wenn es dafür stehlen oder gar Schlimmeres mußte. „Schuß“ ist der rich tige Ausdruck dafür, dachte Pinky, Selbstmord auf Raten.
„Wir müssen uns was einfallen lassen“, sagte er, als er mit Monster nach Hause ging, „so aus der Ferne haben wir keine Chance, an die zehntausend Mäuse zu kommen. Hast du nicht eine Idee?“ Die Idee kam von Henderson. Drei Tage nach ihrem ersten Auftauchen waren die Dealer wieder verschwunden. Dafür er schien die Polizei in der Schule und machte Großrazzia. Alle Schüler der oberen Klassen mußten ihre Sachen vorzeigen und wurden gründlich untersucht; wer verdächtig war, wurde ins Lehrerzimmer gebracht, Pinky ins Zimmer des Direktors. Henderson erwartete ihn dort. „So“, sagte er, „nun halt mal die Augen schön offen. Wir haben heute früh zugeschlagen: vier Zwischenhändler festgenommen und die gesamte Mannschaft, die vor den Schulen herumlungerte. Die Organisation muß also neu aufgebaut werden, vielleicht hilft uns das weiter. Leider ist mein Mann bei den Lyons verschwunden. Ich hoffe, er hat nur die Hosen voll und es ist ihm nichts Ernsthaftes zugestoßen. Aber ich habe auch in den anderen Banden meine Leute, einer wird schon was hören. Könntest du die Löwenköpfe unauffällig im. Auge behalten?“ „Ist geritzt“, sagte Pinky. „Wenn ich bei uns auf den Schorn stein klettere, kann ich ihr Hauptquartier beobachten. Sobald sich dort etwas tut, rufe ich Sie an.“ Es war ein harter Job. Der Wind pfiff kalt über das Dach. Ohne Monster wäre nichts aus der Überwachung geworden; so konnten sie sich alle Viertelstunde ablösen und auftauen. Doch die Lyons schienen ausgewandert zu sein. Nach dem Abendbrot rannten die beiden Detektive schnell noch einmal aufs Dach. In der Tankstelle brannte Licht. Aber Pinky konnte sich nicht wegschleichen und Henderson anrufen. „Jetzt müßte man dort Mäuschen spielen können“, sagte Pinky, als sie im Bett lagen und warteten, daß die Potters schla fen gehen sollten. „Und warum tun wir es nicht?“ fragte Monster. „Denk doch mal an den Leitungsschacht.“ Pinky schlug sich an die Stirn. Daß er den vergessen hatte!
Monster und er hatten die Tankstelle gründlich untersucht, nachdem sie von der Firma „Lyons“ aufgegeben worden war. Sie hatten gehofft, sich dort einnisten zu können, doch die Lyons-Bande hatte sie vertrieben. Damals hatten sie festge stellt, daß es in der Tankstellenbude eine Falltür gab, sie war fest verschlossen, doch später entdeckten sie, daß die Tür zu dem Kanal der Warmwasser-Fernleitung führte, die unter der Tankstelle hindurchlief; und in diesen Kanal konnte man im Keller eines leerstehenden Hauses unweit der Tankstelle ein steigen. Sie waren oft in den Kanal gekrochen, um sich aufzu wärmen. Wenn sie da langschlichen — die Falltür war nur aus Holz; man mußte hören können, was oben gesprochen wurde. „Verdammt, wenn die Stinktiere doch endlich ins Nest krö chen“, sagte Pinky. „Hast du 'ne Ahnung, was es heut in der Glotze gibt?“ Sie hatten Glück, die Potters gingen außer Haus. Pinky und Monster verschwanden durch ihren „Privateingang“. Es war nicht schwer, die Stelle unter der Tankstelle auszu machen: durch die Ritzen der Falltür schimmerte Licht. Und es war auszuhalten da unten, es war zwar dunkel, aber wesentlich besser geheizt als ihre Schlafkammer. Nur langweilig. Entsetz lich langweilig. Die Lyons konnten offensichtlich nichts anderes als herumblödeln, vor allem über Mädchen. Es war widerlich. Plötzlich fuhren sie zusammen. Oben hatte ein Telefon ge klingelt. Pinky überlegte. War das Telefon noch in Betrieb ge wesen, als sie damals die Tankstelle untersuchten? Auf keinen Fall. „Nein“, hörten sie eine Stimme von oben, „Halfpint ist noch nicht da. — Ja, kann ich. — Hat mal jemand 'n Stift zur Hand?“ fragte der oben. Pinky hatte. Nur kein Papier. Er schrieb sich auf den Arm, was der Lyon seinem Kumpan ansagte: „Achteins — sechsdrei — fünfdrei — neunzwei...“ Sechs Gruppen zu je vier Doppelziffern. Sie warteten nicht mehr ab, bis Halfpint kam. Sie waren viel zu aufgeregt, um noch länger still im Dunkeln hocken zu können.
„Mann, ein richtiger Geheimcode“, sagte Monster, als sie den Kanal verlassen hatten und wieder laut sprechen durften. „Kannst du den knacken?“ „Weiß nicht. Auf keinen Fall schnell. Ich muß es gleich Hen derson durchgeben.“ Sie rannten zur nächsten Telefonzelle. Der Captain war weder im Präsidium noch zu Hause zu erreichen. Erst morgen vormittag, meinte seine Frau. „Da haben wir ja Zeit“, sagte Pinky, „also nichts wie ran.“ Sie setzten sich in die Küche. Monster brühte Tee: „Um das Gehirn anzuheizen.“ Pinky schrieb die Ziffern auf ein Blatt Papier. 8,1 - 6,3 3,3 - 7,3 2,1 - 9,3 2,1 - 6,1 2,1 - 2,2 3,1 - 4,1
- 5,3 - 9,2 - 4,3 - 3,1 - 0,6 - 0,0 - 7,3 - 2,3 - 7,2 - 4,3 - 3,2 - 7,3
Sie hatten oft in Büchern davon gelesen oder im Fernsehen mit angesehen, wie eine Geheimschrift enträtselt wurde, doch nun standen sie vor den Ziffern wie der Ochs vorm neuen Tor. Klar, die Zahlen standen für Buchstaben, doch wo fanden sie den Schlüssel des Codes? „Versuchen wir es mit dem Alphabet“, schlug Monster vor, „eins gleich erster Buchstabe und so weiter.“ „Ist nicht.“ Pinky schüttelte den Kopf. „Hab ich schon über prüft. Guck dir die Zahlen an, keine ist höher als neun. Das Al phabet hat sechsundzwanzig Buchstaben. Und wenn du immer die zwei Zahlen zusammennimmst, sind die meisten größer als sechsundzwanzig. So einfach ist das leider nicht.“ „Es muß aber ganz einfach sein“, sagte Monster. „Halfpint ist doch alles andere als ein Geistesriese; wenn der das entziffern soll, muß es geradezu idiotisch einfach sein.“ „Vielleicht ist es ein Buch? Die erste Zahl gibt die Seite an oder die Zeile und die zweite den Buchstaben.“ „Kannst du dir Halfpint mit 'nem Buch vorstellen?“ Monster kicherte. „Ich nicht. Und seine Alten erst recht nicht.“
„Doch!“ Pinky boxte Monster auf den Arm. „Seine Eltern sind fromm. Und fromme Leute haben wenigstens ein Buch, sogar Potter hat es: die Bibel. Komm!“ Potters Bibel lag auf dem Fernseher,so, daß jeder sie sofort sehen mußte, wenn er ins Zimmer kam. Doch die Bibel half ihnen nicht weiter. Wie sie es auch anfingen, mit den Seiten oder mit den Zei len der ersten und dann der letzten Seite des Alten und des Neuen Testaments, es ergab keinen Sinn. Im Bett rätselten sie weiter. „Bestimmt gilt es für ein Buch“, behauptete Pinky, „nur, für welches? Da haben wir nun die Zehntausenddollarbelohnung zum Greifen vor uns und wissen nicht weiter.“ „Henderson wird schon weiterwissen“, tröstete Monster, „die haben doch Spezialisten für so was. Häng dich gleich morgen früh an das Telefon. Am besten auf der Post, da fällt es nicht auf. Ich stehe Schmiere.“ „Monster“, schrie Pinky, „das ist es: das Telefon!“ „Ich versteh immer Bahnhof“, sagte Monster. „Auf der Wählscheibe stehen doch nicht nur Zahlen, sondern auch Buchstaben. Über jeder Zahl drei. Und die zweite Zahl von diesem Code ist nie höher als drei. Komm runter!“ Sie flitzten auf den Flur und schrieben sich das Muster vom Telefon ab. 2 3 4 5 6 7 8 9 . ABC DEF GHI JKL MNO PRS TUV WXY Über der Eins und der Null standen keine Buchstaben.
„So, jetzt sag mal an, Monster.“
„Achteins.“
„Ein T.“
„Sechsdrei.“
„Ein O.“
„Fünfdrei...“
In der dritten Reihe stutzen sie. Was konnte „Nullsechs“ be deuten? Und gleich danach sogar Nullnull! Über der Null stan den keine Buchstaben. Vielleicht waren es richtige Zahlen? Sie ließen es so stehen, doch als sie fertig waren, sah es nicht ge rade nach einem geknackten Geheimcode aus:
TOLX
FRID
AY6O
AMSE
ABRI
DGES
„Verflucht“, rief Pinky, „doppelt verschlüsselt. Nun sind wir wie der am Ende unseres Lateins.“ „Vielleicht ist es 'ne Fremdsprache “, überlegte Monster. „Aber Halfpint und Fremdsprache? Der kann doch kaum eng lisch.“ Sie stierten auf das Blatt. „Guck dir mal die letzten beiden Zeilen an“, sagte Monster nach einer Weile. „Wenn du die zu sammen nimmst: ABRIDGES, das hat doch fast einen Sinn. Es müßte zwar eigentlich heißen ,a bridge' oder ,the bridges'*, doch es ist wenigstens ein richtiges Wort.“ „Monster, du bist ein Genie“, jubelte Pinky, „Klar, das geht. Und das dann auch. Und das und das und das. Paß auf.“ Pinky schrieb die Buchstaben noch einmal hin, hintereinander, und er setzte ein paar Punkte dazwischen: To L.X. Friday 06.00 a.m. seabridges** „Monster, ich könnte dich küssen.“ „Das laß mal lieber die Prinzessin machen“, erwiderte der. „Du, mit den Seebrücken kö nnen doch eigentlich nur die in Newport gemeint sein, oder kennst du noch andere?“ „Ich kenne nicht mal die. Ich bin noch nie an der See gewe sen.“ Newport, das wußte er trotzdem, war ein kleiner Ort an der Küste, etwa dreißig Meilen von Kittsburgh entfernt; vor Zeiten sollte es mal ein richtiger Hafen gewesen sein, sogar von einem Seeräuberschlupfwinkel wurde gemunkelt, aber jetzt war es nur noch ein Badeort. Monster kannte ihn ganz gut. Seine Mutter hatte einmal im Sommer dort gearbeitet. Es gab * a bridge - eine Brücke, the bridges - die Brücken ** Für L.X. Freitag sechs Uhr früh, Seebrücken
drei „Seebrücken“ am Strand, sie führten ein Stück hinaus aufs Meer und trugen Lokale auf ihren Köpfen. „Mann, der Captain wird Augen machen!“ rief er. „Wenn das kein Erfolg ist.“ ' Sie erwischten Henderson beim Frühstück. Er fluchte wie ein Präriespatz. Pinky hielt den Telefonhörer ein Stück vom Ohr ab, bis der Captain sich ausgetobt hatte. Henderson war am Abend zu Hause gewesen, doch seine Frau hatte Pinkys Anruf nicht ernst genommen. „Verdammt noch mal“, schrie Henderson, „wenn wir Halfpint letzte Nacht beschattet hätten, hätte der uns zu diesem geheim nisvollen Mister X geführt, und wir wüßten jetzt, wer der Kopf der Bande von Kittsburgh ist. Ich fahre gleich ins Präsidium, vielleicht ist noch etwas zu retten. Sieben Uhr? Da muß Mister X noch in Newport sein.“ Henderson war so in Eile, daß er nicht nachfragte, wie Pinky zu der Nachricht gekommen war, sondern sich mit der beiläufi gen Erklärung zufriedengab, er habe das Gespräch an einer Telefonzelle belauscht. Am späten Nachmittag rief Pinky den Captain noch einmal an, dieses Mal war Henderson wesentlich besserer Laune. Sie hatten Mister X zwar nicht erwischt — selbst zu dieser Zeit hiel ten sich ein paar hundert Urlauber in Newport auf —, aber Hen derson hatte den Ort abriegeln lassen und unter dem Vorwand, man suche zwei entsprungene Zuchthäusler, alles, was Newport verlassen wollte, unter die Lupe genommen; dabei hatten sie einen Transport der Rauschgifthändler gefaßt. „Stell dir vor, in einem Milchwagen“, sagte der Captain. „Der Fahrer streitet natürlich alles ab; kann sogar sein, daß er nichts davon wußte, es wäre nicht das erstemal, daß Gangster Un schuldige als Helfershelfer mißbrauchen.“ „Aber das hilft Ihnen wohl nicht viel weiter“, meinte Pinky. „Wenn Sie die großen Fische nicht fangen ...“ „Noch ist die Sache nicht aussichtslos“, erwiderte Henderson. „Da die Gangster nicht wissen, daß wir die Razzia ihretwegen
gemacht haben, werden sie denken, es war Zufall, daß wir die Ladung kassierten, und werden es wieder versuchen. Bis dahin müssen wir eben wissen, wer Mister X ist. Ich lasse Halfpint rund um die Uhr von meinen besten Leuten beschatten.“ Pinky verriet nicht, daß er eine noch bessere Idee hatte, wie man erfahren konnte, wann Mister X wieder nach Newport kommen sollte. Schließlich bekam man nicht alle Tage eine Chance, zehntausend Dollar zu verdienen. Monster streikte. Wer weiß, wann der nächste Anruf kam. Sie konnten unmöglich Nacht für Nacht im Leitungsschacht hok ken, Potter würde schnell dahinterkommen, und schließlich müßten selbst zwölfjährige Jungen mal schlafen. „Sonst pennen wir da unten ein“, sagte Monster, „und so wie du schnarchst, haben wir die Lyons sofort auf dem Hals.“ Schweren Herzens beschlossen sie, ein paar Dollar aus ihrer Kriegskasse zu opfern. Sie wollten Potter sagen, sie hätten einen Job als Babysitter, um abwechselnd abends wegbleiben zu können. Dafür aber mußten sie dem Skunk jedesmal einen angeblich verdienten Dollar abliefern; unter dem machte er es nicht mehr. Doch war der Preis, der ihnen winkte, diesen Ein satz nicht wert? Als der fünfte Dollar in Potters unersättlichen Taschen ver schwunden war, fanden sie den Plan gar nicht mehr so gut. Monster war für Aufgeben. „Nein“, widersprach Pinky, „wir haben schon zuviel inve stiert. Das wäre doch alles verlorenes Geld. So dicke haben wir es schließlich nicht.“ Sie hatten nicht einmal mehr genug, um es noch eine Woche durchzuhalten. Pinky nahm die Taschenlampe und „Tom Sawyers Aben teuer“ und machte sich auf den Weg. Sie hatten sich ange wöhnt, im Kanal zu lesen, weil es sonst wirklich zu langweilig war und sie Gefahr liefen, in der molligen Wärme einzu schlafen. Tom Sawyer, Huckleberry Finn und Joe Harper hatten sich gerade in die Kirche geschlichen, um mitzuerleben, wie der ganze Ort ihren Tod betrauerte, da kam der Anruf. Pinky fuhr
zusammen — er hatte darüber nachgedacht, daß ihm niemand eine Träne nachweinen würde außer Monster und der Prinzes sin ... Die Taschenlampe fiel runter und erlosch, er konnte sie nicht wiederfinden. Und der Stift war auch nicht in der Hosen tasche! Pinky bemühte sich, soviel Zahlen wie möglich in sein Ge dächtnis zu graben. Er schloß die Augen, um sich besser kon zentrieren zu können. Sechszwei, zweieins, zweieins, neun drei... Eine Hand packte ihn am Genick. Pinky erstarrte. Er hätte sich nicht gewundert, wenn er vor Schreck tatsächlich zu Stein geworden wäre wie im Märchen. Rauhe Hände rissen ihn hoch, drehten seine Arme auf den Rücken, preßten seine Kehle zu; Pinky hätte auch so alles willenlos über sich ergehen lassen, zu groß war der Schock der Überrumpelung. Es wurde hell. Die Falltür Öffnete sich. Man hievte Pinky in die Tankstellenbude. Halfpint stand vor ihm, grinsend, die Arme über der Brust gekreuzt, er ließ seine Muskeln spielen, daß der tätowierte Löwenkopf zu fauchen schien. „Hab ich euch nicht gesagt, daß da unten nicht nur Ratten rumkriechen? Oder doch! Kennen wir uns nicht, du Ratte?“ Nun ist alles aus, dachte Pinky. Monster schlief längst und würde ihn vor morgen früh nicht vermissen. Ihm blieb nichts, als eisern zu schweigen; denn wenn er auch nur ein Wort sagte, dann würde er am Ende alles verraten, das wußte man doch aus dem Fernsehen. Die Lyons schleppten ihn in den hinteren Raum der alten Tankstelle, zogen ihn nackt aus und fesselten ihn an ein eiser nes Rohr. Sie untersuchten seine Sachen, nahmen sogar die Ta schenlampe auseinander, aber da war zum Glück nichts zu fin den. Halfpint blätterte das Buch durch, bevor er es in die Ecke schmiß. „Na, Tom Sawyer“, höhnte er, „dann verrate mir mal, was du da unten wolltest! Und wo ist dein Huckleberry Finn?“ Pinky biß sich auf die Lippen. Er schwieg auch, als die vier Lyons auf Halfpints Befehl ihre Messer aufklappten und sie
ihm auf die Brust setzten, sogar, als sie langsam zudrückten und die Haut aufrissen. Pinky schloß die Augen. Er konnte jetzt unmöglich noch sein Blut fließen sehen. „Stopp!“ Halfpint packte Pinky an den Haaren und riß seinen Kopf hoch. „Bis jetzt war es nur Spaß. Spuck aus, oder wir ma chen dich kalt.“ Er wischte mit der Hand über Pinkys Brust und schmierte ihm das eigene Blut unter die Nase. „Du siehst, das ist kein Indianerspiel. Oder doch?“ Halfpint grinste. „Die Rot häute haben da ein paar hübsche Martern erfunden.“ Pinky schwieg. Er schrie nicht einmal, als zwei der Lyons ihre Lederkoppel aus den Hosen zogen und ihn damit durch prügelten. „Genug“, sagte Halfpint. „Ich muß erst mal in die Stadt. Dann machen wir weiter. Aber daß ihr ihn nicht inzwischen kalt macht, ich will auch was davon haben. Möglicherweise nimmt er Vernunft an, wenn wir ihn eine Weile im eigenen Saft schmo ren lassen.“ Pinky schickte ein Stoßgebet zu Manitu und allen anderen Göttern, die vielleicht doch irgendwo über den Wolken thron ten, daß Halfpint von Hendersons Leuten festgenommen wer den sollte und nie wiederkam. Vielleicht hatte er dann eine Chance. Die Lyons würden kaum gegen den Befehl ihres Chefs handeln. Und wenn erst einmal der Tag kam ... Pinky fror. Oder war es nicht nur die Kälte, die seine Zähne klappern ließ? Die Zeit schien stillzustehen. War nicht schon eine Ewigkeit vergangen? Doch von draußen kamen keine An zeichen des anbrechenden Tages, kein Lichtschimmer, kein stärker werdender Autolärm. Dafür kam Halfpint. „Bringt Holzkohle!“ ordnete er an. „Wir wollen dieser Ratte mal ein bißchen Feuer unter dem Hintern machen. Vielleicht ist es ihr zu kalt zum Singen.“ Pinky hatte keinen Zweifel, daß Halfpint das wörtlich meinte. Er rief sich die Beispiele aus der Geschichte der Irokesen ins Gedächtnis, wo tapfere Krieger lieber heldenmütig die schlimmsten Martern ertragen hatten, als ihren Stamm zu ver raten. Wenn wirklich Indianerblut durch seine Adern floß und
seine Vorfahren jetzt aus den ewigen Jagdgründen zu ihm her unterblickten, dann sollten sie stolz auf ihn sein. Die Lyons schichteten einen Stapel Holzkohle auf den Boden. Direkt unter dem Schild „Rauchen und jeder Gebrauch von of fenem Feuer polizeilich verboten!“ Einer schüttete etwas Ben zin über die Kohle und zündete den Scheiterhaufen an. Er brannte fast ohne Rauch. „Bindet ihn los“, befahl Halfpint. „Hände hoch!“ tönte es in dem Augenblick. Die Fenster zer klirrten. Pistolenläufe richteten sich auf die Lyons. Halfpint machte noch eine Bewegung, als wolle er davonstürzen, dann erblickte er Captain Henderson in der Tür und streckte brav die Hände in die Luft. Kurz darauf nahm er sie wieder runter. Um sie in Handschellen zu stecken. Die Lyons wurden abge führt. „Das war wohl Rettung in letzter Sekunde“, meinte Hender son, als er Pinkys Fesseln löste. „Ich hatte schon mit meinem Leben abgeschlossen, als Half pint wiederkam“, gestand der. „Ich hatte so sehr gehofft, Sie würden ihn festnehmen. Aber daß Sie ihn hierher verfolgten und die ganze Truppe hoppnahmen, war ja noch besser.“ „Wir hätten die Bande in Ruhe gelassen“, sagte Henderson, „wenn dich nicht jemand bei der Polizei verpfiffen hätte.“ Er lachte. „Komm mal her, Bürschchen!“ Monster kam herein, er lächelte Pinky schief an. „Mußte ich doch“, sagte er verlegen. „Und es war ja auch richtig.“ „Goldrichtig!“ Pinky wollte ihm um den Hals fallen. Erst als Monster entsetzt zurückwich, dachte Pinky daran, daß er über und über mit Blut beschmiert war. „Sind nur Schrammen“, sagte er, „nicht der Rede wert.“ Henderson bestand trotzdem darauf, daß Pinky mit zum Prä sidium kam und der Polizeiarzt seine Wunden behandelte. Nun tat es erst richtig weh: als der Arzt die Wunden mit Jod auspin selte. „Hat es sich wenigstens gelohnt?“ fragte Monster, als Pinky in Hendersons Zimmer gebracht wurde.
„Vielleicht. Ein paar Worte habe ich mir merken können. Zuerst habe ich ja geflucht, daß ich nicht mitschreiben konnte, aber dann war ich heilfroh, wer weiß, was die sonst mit mir ge macht hätten.“ Pinky wandte sich an Henderson. „Kann ich mal 'n Blatt Papier haben?“ Er schloß die Augen und legte die Hände vor das Gesicht. Henderson wollte etwas sagen. „Pst!“ machte Monster. Pinky begann zu schreiben: 6,2 - 3,1 - 2,1 - 9,3 - 0,7 - 0,0 7,1 - 6,1 - 7,3 - 3,2 - 2,1 - 2,2.
„Was ist denn das?“ fragte Henderson erstaunt. „Nur 'ne Geheimschrift“, antwortete Monster lässig. „Aber wir haben den Code schon geknackt.“ Er schrieb das Codemu ster hin. Dann entzifferten sie die Zahlen. ... nday 7.00 p.m. seab... * „Viel ist es ja nicht“, sagte Pinky, „aber ich denke, das wird Ih nen weiterhelfen, Captain. Es kann sich nur um Sonntag oder Montag handeln, alle anderen Tagen haben kein ,n' vor dem ,day'. Und die Zeit von dem Treffpunkt wissen wir auch.“ Er blickte Henderson an. „Nehmen Sie uns mit nach Newport?“ Henderson lachte. „Wie könnte ich auf die Hilfe von zwei so ausgebufften Detektiven verzichten! Aber nun ab in die Klappe. Ich werde euch lieber nach Hause bringen, damit Mister Potter keinen Terror macht.“ „Nicht nötig“, wehrte Monster ab. „Der Skunk hat keine Ah nung, daß wir nicht in der Falle liegen. Lassen Sie uns nur bis vors Haus fahren.“ Natürlich konnten sie nicht gleich einschlafen. Pinky mußte genauen Bericht erstatten, und er ließ es sich nicht nehmen, es auch wirklich ganz genau zu machen, vor allem die Marter szenen. „Ein Glück, daß ich nicht einschlafen konnte“, meinte Mon ster, „und daß ich unruhig wurde, als du nicht wiederkamst.“ Er blickte Pinky in die Augen. „Sag mal, ob mich nun wirklich der Blitz trifft, oder ob ich mich nie wieder satt essen kann?“ * ... ntag 7.00 Uhr abends, Seeb...
„Weil du den Schwur gebrochen hast?“ Pinky verkniff sich sein Lachen und schüttelte ernst den Kopf. „Keine Angst, Mon ster. Wenn es einen Gott gibt, dann wird er deine gute Tat nicht bestrafen, sondern belohnen. Was mich angeht, ich verzichte erst einmal ein paar Tage zu deinen Gunsten auf meine Ham burger.“ Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne strahlte von einem fast wolkenlosen Himmel; man mußte sich wundern, daß die Bäume nicht schnell ihre Blätter in die Vorfrühlingsluft ge schickt hatten. Halb Kittsburgh schien den Sonntag am Meer zu verbringen. Auf der Strandpromenade wimmelte es nur so von Leuten, die Eiswagen waren umlagert wie im Hochsommer, und in den Lokalen auf den Seebrücken war kein Platz frei. Henderson beauftragte einen seiner Leute, einen Tisch zu re servieren, und machte mit Pinky und Monster einen ersten „Spaziergang“. Das Wort Inspektion wäre auch unangebracht für diesen herrlichen Tag gewesen. Monster und Pinky bedau erten immer wieder, daß sie die Prinzessin nicht hatten mitneh men dürfen. In diesem Punkt war Henderson hart geblieben. „Es ist schlimm genug, daß du bis über die Ohren. drin steckst“, sagte er zu Pinky, „ich kann nur hoffen, daß mein Ab lenkungsmanöver bei Halfpint gewirkt hat und kein Verdacht auf dich fällt.“ Henderson hatte Halfpint mehrmals scharf befragt, warum die Lyons Pinky so hart angefaßt hatten, und so getan, als ver mute er, Pinky solle in die Bande der Löwenköpfe aufgenom men werden und das Fesseln und Hautaufschlitzen gehöre zum Aufnahmeritual. Halfpint hatte geschwiegen. Zu allem. Er hatte auch nicht verraten, wer Mister X war. So verdächtigten Pinky und Monster nun alle und jeden auf ihrem Rundgang, zweimal sogar einen von Hendersons Leuten, wie der Captain lachend verriet. Henderson vermutete, daß das Rauschgift mit einem Boot nach Newport gebracht wurde und daß die Nachricht den Ter min der Lieferung enthielt. Er hatte seine Leute so früh in
Marsch gesetzt, weil sie in dem Strom der Ausflügler weniger auffielen, außerdem konnten sie sich inzwischen schon ein we nig umsehen. Der eigentliche Einsatz sollte erst um achtzehn Uhr beginnen. Aber Pinky glaubte bald nicht mehr, daß sie Mi ster X in diesem Gewimmel aufspüren würden. Vielleicht, wenn ,,-nday“ Montag bedeutete, am Montag würden bestimmt weni ger Leute in Newport sein. Doch dann konnten sie nicht mitma chen. Henderson hatte sich geweigert, Pinky und Monster von der Schule, zu befreien. Als sie um vier Uhr wieder zur Seebrücke kamen, stand ein Tisch für sie bereit, sogar ein Fenstertisch, von dem aus sie einen wunderbaren Blick auf das Meer hatten. Der Captain spendierte Rieseneisbecher mit doppelt Sahne. „Ihr seid doch sicher nicht gut bei Kasse“, meinte er. „Völlig pleite“, gab Pinky zu. Henderson schickte die beiden Jungen anschließend noch zum Kuchenbüffet. Dann waren sie so vollgefressen, daß sie un bedingt einen Verdauungsspaziergang machen mußten. „Wenigstens hatten wir einen schönen Ausflug“, meinte Mon ster, „nur schade, daß man noch nicht baden kann.“ Sie liefen den Weg auf den Dünen entlang; als der Ort in ver einzelten Häusern auskleckerte, wollte Pinky umdrehen. Mon ster zog ihn weiter: noch ein paar Minuten, und sie kämen an eine „irre Felsklippe“, von der man die ganze Küste überblicken könne. Es war wirklich ein toller Ausblick von da oben, und nicht nur Monster wußte das. Auf dem Steilufer saß ein Priester und malte. Das Bild war fast fertig, und Pinky fand, daß es die Stim mung der Küste wunderbar traf. Schade, daß der Geistliche ge rade Kaffeepause machte und sich aus einer großen Blech büchse ein Stück Streuselkuchen nahm, an dem er mindestens fünf Minuten zu kauen haben würde. Pinky hätte zu gerne zu gesehen, wie das Bild weiterwuchs. Zeichnen war eine seiner schwachen Seiten, doch mit Farben konnte er gut umgehen, und Missis Pendergast, die Zeichenlehrerin, hatte ihm gezeigt, wie man mit Wasser-, Tempera- und Ölfarben arbeitete.
„Donnerwetter noch mal“, sagte Pinky, „das ist wirklich ge lungen. Wie lange arbeiten Sie an so einem Bild?“ „Ein, zwei Tage“, erwiderte der Priester, „gestern habe ich das Motiv skizziert und den Himmel und das Meer angelegt; wenn ich mich ranhalte, schaffe ich es bis heute abend.“ Monster zog Pinky fort. „Komm, der Onkel wartet.“ Sie hat ten sich geeinigt, von Henderson nur als von ihrem Onkel zu sprechen; man konnte nie wissen, wer mithörte. „Kunst schafft dich, was?“ rief Monster, als sie zu den Brük ken zurücktrabten, „du bist ja völlig versunken. So aufregend fand ich das Bild nun wieder nicht.“ „Nein?“ Pinky griente und setzte zum Spurt an. „Aber der Ma ler, der Maler ist aufregend.“ „Was ist denn schon dabei, wenn 'n Priester malt?“ keuchte Monster. „Renn doch nicht so! Vor sieben kommen die Gang ster nicht.“ „Wenn sie überhaupt kommen!“ brüllte Pinky und ver schärfte das Tempo. Henderson saß noch immer am Fenster und blickte ent spannt auf die See. Als die beiden Jungen sich keuchend auf ihre Stühle fallen ließen, winkte er den Kellner heran und be stellte Cola. „Ihr faucht, als hättet ihr Mister X schon gejagt“, sagte er lachend. „Das nicht, aber...“ Pinky rang nach Atem. „Wenn die das Zeug tatsächlich mit einem Boot liefern, dann werden die Gang ster doch kaum einfach so angetuckert kommen. Ich meine, wenn ich so etwas organisieren müßte, dann hätte ich ein paar Leute, die sich in Newport umsehen und signalisieren, ob die Luft rein ist.“ „Damit rechne ich auch“, sagte Henderson. „Nur, wer ist es?“ Er zeigte in den vollen Raum. „Such dir einen aus.“ „Das Signal müßte von See aus zu sehen sein“, meinte Pinky. „Wir haben zwei schnelle Boote draußen. Die Männer sind als Angler getarnt und passen auf, wenn jemand Lichtsignale gibt.“ „Die können lange warten.“ Pinky wartete, bis der Kellner die Cola serviert hatte, bevor er weitersprach. „Der Spion wird
nicht blinken. Der sitzt einfach da. Wir müßten nur wissen, wann es ‚Gefahr’ bedeutet: wenn er da ist, oder wenn er nicht da ist.“ Henderson sah Monster fragend an, der zuckte verständnis los mit den Schultern. „Der Priester auf der Klippe!“ sagte Pinky. „Willst du behaupten, daß jetzt schon die Priester mit Rauschgift handeln?“ fragte Monster. „Vielleicht ist es gar kein richtiger Priester“, meinte Pinky. „Ein Priester wäre jedoch eine ideale Tarnung. Wer verdächtigt schon einen Geistlichen, der friedlich am Meer sitzt und seinem Hobby nachgeht? Auf jeden Fall ist dieser Priester kein richti ger Maler.“ „Vorhin hast du seine Malkünste noch in den höchsten Tönen gelobt.“ „Habe ich“, gab Pinky zu, „inzwischen ist mir aber ein Licht aufgegangen, ein ganzer Kronleuchter sogar. Er hat doch be hauptet, er hätte heute daran gemalt und er hoffe, das Bild bis zum Abend fertig zu haben, nicht wahr?“ Monster nickte. „Wie kann er das? Das Bild ist mit Temperafarben gemalt, ich kenn diese Tuben gut, er hatte jedoch überhaupt keinen Was sernapf, um die Farben zu verdünnen. Klettert er etwa immer die Klippen hinunter und taucht seinen Pinsel ins Meer?“ Henderson nahm Pinky ins Verhör. Pinky erklärte, woher er so gut über Farben Bescheid wußte und daß er sich bestimmt nicht geirrt hätte. De r Captain ging hinaus und schickte einen Beamten los, er solle sich das mal mit dem Fernglas ansehen. „Der malt überhaupt nicht“, berichtete der Beamte, als er zu rückkam. „Er sitzt nur da, und wenn jemand den Weg entlang kommt, tut er so, als mache er gerade Pause.“ „Was nun?“ überlegte Henderson, „festnehmen oder nicht?“ Schließlich holte er eine Münze heraus. „Zahl heißt Fest nahme.“ Er warf die Münze in die Luft, fing sie auf und knallte sie auf den Tisch. Der Adler lag oben. „Auf jeden Fall müssen wir aufpassen, daß der Mann nicht entwischt“, sagte Hender son. Dann bestellte er Abendbrot.
Der Adler brachte Glück. Um sieben Uhr signalisierten die „Angler“, daß ein Motorboot aufgetaucht, aber draußen vor An ker gegangen sei. Der Priester mit seiner Staffelei war auch von See her gut auszumachen. Er saß um halb acht noch da, obwohl er jetzt be stimmt kaum noch die Farben unterscheiden konnte. Um acht packte er zusammen, ging zu seinem Auto, das hinter den Dü nen im Wald stand, und fuhr ein Stück nach Süden. Dort hielt er an und ging zum Meer hinunter, zufällig gerade an der Stelle, an der das Boot der Gangster im Schutz der Dunkelheit und mit abgeschaltetem Motor an Land trieb. Es wurde schnell hell. Taghell. Die beiden Polizeiboote leuch teten die Szene mit Scheinwerfern aus und schnitten dem Boot die Flucht zur See ab, von den Dünen stürmten zwei Dutzend Polizisten mit Maschinenpistolen herunter. Die Gangster ver suchten gar nicht erst, sich zu wehren. * „Das war ein wunderschöner Tag für einen Angler: ein halbes Dutzend prächtiger Fische, vielleicht nicht die ganz großen, aber immerhin.“ Henderson legte die Füße auf den Schreibtisch und rekelte sich. Dann stocherte er mit seinem Lineal in dem Stapel auf der Tischplatte: Ausweise, Portemonnaies, Schlüssel bunde, Papiere und Revolver. „Es ist natürlich kein richtiger Priester. Na, vielleicht wird er im Knast fromm, Zeit genug wird er haben, ich schätze, so zwölf bis fünfzehn Jahre. Dann habt ihr eure Detektivagentur ja längst aufgebaut, was?“ „Klappt das mit der Belohnung?“ fragte Pinky aufgeregt. „An mir soll es nicht liegen“, antwortete Henderson. „Ich werde eure Verdienste dick herausstreichen. Streng vertrau lich, das versteht sich. Wenn ihr später mal mit diesem Fall Re klame machen wollt, könnt ihr es ja selbst tun.“ „Mann, was machen wir bloß mit dem ganzen Kies!“ schrie Monster. „Was hältst du von Ferien an der See? Ich werde mor gen gleich Plätze reservieren lassen.“ „Laß dir Zeit“, sagte Henderson. „Wenn ihr die Belohnung überhaupt bekommt, dann erst mit achtzehn. Solange wandert
sie auf ein Sperrkonto. Wäre ja auch schade, sie müßte sonst nämlich eurem Vormund übergeben werden.“ „Dem Skunk?“ Monster schüttelte entsetzt den Kopf. „So ein Mist! Soviel Mäuse, und wir sind total pleite.“ „Ja, das war's wohl für heute.“ Henderson fischte mit dem Li neal einen Umschlag aus den beschlagnahmten Sachen und schob ihn über den Tisch in Richtung Pinky. Der Umschlag fiel zu Boden, Henderson schien es nicht zu merken. „Ich werde mir mal einen Kaffee holen und dann das Zeug da registrieren“, sagte er, „sonst kommt am Ende noch etwas weg.“ Er ging zur Tür. Dort drehte er sich kurz um und zwinkerte Pinky zu. „Haut mal ab, Jungs“, sagte er, „es ist spät genug. Pot ter habe ich angerufen, daß unser Ausflug ein wenig länger ge dauert hat.“ Der Captain war kaum aus dem Zimmer, als Pinky sich bückte und den Umschlag aufhob. Er legte ihn nicht auf den Tisch. Er steckte ihn in die Tasche. Monster bekam den Mund kaum wieder zu. Henderson stand noch auf dem Flur. Er brachte sie zum Ausgang. „Schade“, sagte er, „daß immer die Falschen zuviel Geld in der Tasche haben, oder?“ Jetzt blinzelte Pinky. Henderson sah in die Sterne. * Potter wunderte sich immer noch, daß ausgerechnet die Polizei seine Zöglinge an die See eingeladen hatte. Und auch darüber, daß die beiden ohne Widerrede sofort ins Bett gehen wollten. -“Seeluft macht müde“, erklärte Monster. „Wir waren ja nicht beide allein an der See“, fügte Pinky hinzu, „die Polizei hatte ein paar Autos vollgeladen. Vielleicht ist es eine neue Aktion? So 'ne Art vorbeugende Verbrechensbe kämpfung? Daß sie positiv auf gefährdete Jugendliche einwir ken wollen?“ Das war zwar nicht die Wahrheit, aber auch nicht direkt gelo gen. Zumindest war es eine einleuchtende Erklärung für Potter. „Wenn ihr so müde seid“, sagte er, „dann brauch ich ja nicht nachzugucken, ob ihr das Licht ausmacht, was?“ Sie machten nicht nur das Licht aus, sie krochen sogar unter
Pinkys Bettdecke, damit Potter den Schein der Taschenlampe nicht sehen konnte. „Nun zeig endlich, was in dem Umschlag ist“, forderte Mon ster. „Du hast vielleicht Nerven, bei den Bullen zu klauen.“ „Klauen? Ich hab nur was gefunden!“ Der Umschlag war voll bunter Bilder: kleine Stahlstiche mit den Porträts ehemaliger Präsidenten der USA, hübsch um rahmt. Sechs Franklin, ein Grant, fünf Jackson, elf Hamilton und dreizehn Washington.* „Das sind Bilder, wie ich sie liebe“, jubelte Monster. „Nicht nur schön, sondern auch praktisch.“ „Du siehst, es ist gar nicht verkehrt, Kunst zu sammeln“, sagte Pinky. „Aber nun kriech mal unter das Bett und steck die Herren in unseren Safe.“
* Die Bilder der Präsidenten sind auf den Dollarnoten: l $ = Washington, 2 $ Jefferson, 5 $ = Lincoln, 10 $ = Hamilton, 20 $ - Jackson, 50 $ - Grant, 100 $ Franklin; zusammen also 873 Dollar
Mord
auf dem Rummelplatz
Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte. Die Prinzessin saß neben ihm in einem Korbstuhl und las „Tom Sawyer als Detektiv“. Sie klappte das Buch zu, schloß die Augen und lehnte sich vorsichtig zurück, der Korbstuhl vertrug keine heftigen Bewegungen. Monster hatte ihn von einem Hau fen Sperrmüll auf der Straße geholt und mit Draht geflickt, und Pinky hatte ihn angestrichen, flaschengrün; von weitem sah er wie neu aus, doch er knarrte erbärmlich bei jeder Bewegung. „Tom und Huck hatten es noch gut “, sagte die Prinzessin leise, „eine Menge Freiheit und ringsum das ganze Land für Entdeckungsreisen und Abenteuer. Und wir?“ „Wir haben Fernsehen“, erwiderte Pinky, „und Abenteuer gibt's auch in der Stadt.“ „Gibt es? Was schon!“ Die Prinzessin verzog verächtlich den Mund. „Aber daß ein Junge Detektiv spielt, nein, ein richtiger Detektiv ist, das geht heute nicht mehr.“ Pinky holte tief Luft, doch dann sagte er nichts als: „Wer weiß, vielleicht doch? Man müßte es wirklich mal versuchen.“ „Lieber nicht. Entweder bekommst du es mit den Verbre chern zu tun, und die greifen heute doch schnell zum Revolver, oder mit der Polizei, und die ist nicht weniger brutal und hinter hältig.“ „Du siehst zuviel Fernsehen“, sagte Pinky gelassen. „Die Wirklichkeit ist ganz anders.“ Er mußte sich auf die Zunge beißen, um der Prinzessin nicht von Captain Henderson zu erzählen, der ein guter Polizist und ein guter Freund war.
„Ach, du hast doch keine Ahnung“, rief die Prinzessin, „du bist eben ein, ein unverbesserlicher ...“ „Träumer“, schlug Monster vor, der gerade den Kopf durch die Dachluke steckte. Er zog sich bis auf die Turnhose aus und hockte sich an den Schornstein. „Sei bloß vorsichtig, Prinzes sin“, warnte er, „Maisonne macht besonders viel Sommer sprossen.“ Die Prinzessin streckte die Zunge raus. „Ich mag sie ja“, versicherte Monster. „Ich liebe deine Som mersprossen, jede einzelne, aber komm nicht an und heule, daß sie dich in der Schule verspotten.“ „Dann kommst du eben zu mir“, schaltete Pinky sich ein. „Ich verdresche jeden, der dich beleidigt.“ „Können wir jetzt von den Sommersprossen zu den Sommer ferien übergehen?“ fragte Monster. „Ich habe ein neues Camp ausgemacht, von den Pfadfindern, die nehmen auch Kinder, die nicht Mitglied sind, Jungen und Mädchen, und es kostet nur zweihundertfünfzig Eier pro Nase für acht Wochen, inklusive Reisekosten. Da könnten wir alle drei...“ „Wo wollen wir soviel Geld hernehmen?“ rief die Prinzessin. „Ach, ihr Spinner!“ „Das laß unsere Sorge sein“, erwiderte Pinky. „Kommst du mit?“ „Acht Wochen mitten im Wald“, schwärmte Monster, „ein gro ßer See ist da zum Baden und Angeln, Boote und Ponys, ein Traum.“ „Träumt nur.“ „Das ist ernst gemeint“, sagte Pinky. „Das Geld beschaffen wir, und wir finden auch jemand, der uns angeblich in das Camp einlädt. Wenn es nichts kostet, findet sich immer ein Wohltäter.“ Er nickte Monster zu, „Wir werden das gleich mal bekaspern. Unter Männern.“ „Verstehe, ich bin überflüssig.“ Die Prinzessin nahm ihr Buch und ging. Bevor sie in der Dachluke verschwand, drehte sie sich noch einmal um. „Ich würde gerne mitkommen“, sagte sie, „sehr gerne. Und ich kann auch schweigen. Wie ein Indianergrab.“
Monster holte ein Stück Kreide aus seiner Hosentasche. „Wollen mal Kassensturz machen.“ Er schrieb die Zahl 873 auf das Dach. „Zwei Dollar hatten wir noch. Siebehundzwanzig ha ben wir inzwischen ausgegeben, bleiben achthundertachtund vierzig. Davon siebenhundertfünfzig für das Camp und für jeden zwanzig Dollar Taschengeld, bleiben ..., er rechnete zusam men, „bleibt ein Rest von achtunddreißig. Nicht eben üppig, aber irgendwann mußt du ja mal wieder einen Fall bekommen.“ „Hoffentlich!“ Pinky blickte über die Stadt, als erwarte er dort irgendwo ein Notsignal, das ihn zur Hilfe rief. „Schon über drei Monate kein Klient mehr, den Rauschgiftfall können wir ja nicht rechnen.“ „Wir müßten eine Anzeige in die .Kittsburgh Nachrichten' setzen“, meinte Monster, „es wissen einfach zu wenige von dei nen Talenten.“ „Ist auch besser“, sagte Pinky. „Warum rechnest du eigentlich so genau nach, Monster?“ „Weil ich eben ein paar hübsche bunte Wägelchen in der Stadt gesehen habe. Und Plakate. Auf der Festwiese wird ein Rummel aufgebaut. Morgen geht's los: Karussells und Schieß buden, Riesenrad und Luftschaukel, 'ne Löwennummer und 'ne Geisterbahn, Pfannkuchen und Zuckerwatte, kurzum, alles, was mein Herz begehrt.“ Er wischte die Zahlen aus, nur die 38 ließ er stehen. „Ich schlage vor, wir nehmen die Kleinen mit und las sen für jeden einen Dollar springen, für uns Große sogar zwei oder drei. Wer ist dafür?“ Monster hob den Arm hoch. Pinky zögerte keinen Augenblick, die Hand zu heben. „Ein stimmig angenommen. Und der Skunk soll auch ein paar Cent lockermachen.“ Der Skunk zeigte sich großzügig, er spendierte jedem seiner Zöglinge einen Vierteldollar für Karussell und einen zweiten Vierteldollar zum Vernaschen, und er war sehr zufrieden, als Pinky erklärte, sie würden auf die Kleinen aufpassen, er müsse nicht mit zum Rummelplatz kommen. *
Die Katastrophe kam nach dem Mittagessen. Pinky und Mon ster halfen der Blindschleiche beim Abwasch, der wie jeden Sonntag besonders groß war; sonntags wurde auch in Potters Waisenhaus „getafelt“: Es gab Suppe, ein Hauptgericht, Pfann kuchen oder Semmelpudding und Kompott, dazu Bier für die Potters und Brause für die Kinder. Dreimal zehn Teller, zehn Schüsseln, zehnmal Besteck und zehn Gläser, der Abwasch wollte kein Ende nehmen. Die Prinzessin half inzwischen den Kleinen beim Anziehen. Die standen dann schon abmarschbe reit und lärmten auf dem Flur, während Pinky und Monster noch die Gläser und das Besteck abtrockneten. Pinky winkte die Prinzessin heran und drückte ihr sein Geschirrtuch in die Hand, er müsse schnell noch etwas erledigen. „Du warst doch gerade vor dem Essen auf dem Klo“, sagte die Prinzessin. Pinky machte ihr eine lange Nase und flitzte in die Kammer, kroch unter das Do ppelbett, hob den Tapetenfetzen hoch, zog den losen Mauerstein heraus — und griff ins Leere! Er tastete den „Safe“ mit den Fingerspitzen ab, doch er fand nichts als ein paar Mörtelbrocken. Das Geld war weg. Ihm wurde ganz flau im Magen. Er legte sich auf sein Bett und atmete schwer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Monster stürmte herein. „Was machst du denn so lange?“ Monster stieß ihn an. „Fehlt dir was, Pinky?“ „Und ob“, stöhnte Pinky, „achthundertachtundvierzig Dollar.“ „Das kann nicht dein Ernst sein!“ Monster griff sich die Ta schenlampe und kroch unter das Bett, er kam kreidebleich wie der hervor. „Soll das 'n Witz sein?“ Er rüttelte Pinky. „Du hast das Geld versteckt, was? Mach doch nicht solchen Quatsch!“ „Das ist leider bitterer Ernst“, sagte Pinky. „Man hat uns be stohlen.“ „Wer?“ „Wer schon!“ „Du meinst — Potter?“ Monster ließ sich auf das Bett sinken. „Wer sonst. Die Prinzessin? Unmöglich. Und die Kleinen? Das hätten wir mitbekommen. Und ein Fremder — der wäre kaum
in unserer Kammer unter das Bett gekrochen und hätte die Ta
petenfetzen untersucht. Wann waren wir denn das letztemal an
unserem Safe?“
„Vor zwei Wochen, als wir ...“
„Sag mal, Monster, hast du das Loch in die Wand gemacht?“
„Nein, das war schon da. Ich habe es nur entdeckt.“
Pinky nickte. „Dann ist alles klar. Bestimmt hat Potter es frü her als Versteck benutzt, und jetzt ist es ihm wieder eingefal len, und er hat mal nachgesehen.“ „Dieses verdammte Stinktier!“ Monster schlug sich mit der Faust auf den Schenkel. „Aber das rückt er schön wieder her aus, sonst...“ „Was sonst?“ Pinky seufzte verzweifelt. „Der Skunk wird von nichts wissen. Kannst du beweisen, daß Geld in dem Loch steckte? Und wenn, kannst du beweisen, daß es unser Geld war und daß wir es zu Recht besaßen? Selbst dann könnte er es be halten, unser lieber Vormund.“ „Deshalb war er so großzügig“, schrie Monster. „Mit unserem eigenen Geld!“ Monster begann vor Wut zu weinen. Pinky setzte sich auf und legte Monster den Arm um die Schulter. „Heulen hilft nichts.“ „Und ich hatte mich so auf den Rummel gefreut. Und auf das Ferienlager.“ „Bis dahin bekommen wir neues“, tröstete Pinky ihn. „Wieviel hast du denn noch?“ Sie untersuchten all ihre Taschen. Keine zwei Dollar. Die Prinzessin riß die Tür auf. „Wo bleibt ihr? Die Kleinen machen schon Terror.“ Vom Flur tönte es „Rummel, Rummel, wir wollen zum Rummel!“ Pinky und Monster erhoben sich. „Sagt bloß, ihr habt geheult?“ erkundigte sich die Prinzessin. „Warum denn?“ „Vor Freude“, knurrte Monster, „wir fahren doch so gerne Ka russell.“ Die Prinzessin schüttelte den Kopf. „Dann kommt endlich.“ „Geht schon vor“, flüsterte Pinky Monster zu, „ich will mich mal kurz mit dem Skunk unterhalten.“
Er konnte dem doch unmöglich einfach das Feld überlassen. Und er wollte wissen, ob Potter es gewesen war. Vielleicht rückte er wenigstens einen Teil wieder heraus, wenn Pinky es ihm auf den Kopf zusagte. Und wenn er dem Skunk erklärte, daß sie das Geld von Henderson bekommen hatten? Potter hatte einen Heidenrespekt vor der Polizei, er würde nie wagen, sich mit dem Captain anzulegen. Aber Henderson würde es ab streiten, wenn der Skunk ihn anrief. Und er würde Pinky die Freundschaft kündigen. Ein für allemal. Pinky hätte laut schreien können vor Wut und Verbitterung. Da hatte er nun einen klassischen Kriminalfall, kannte den Tä ter und stand hilflos da, er konnte nicht mal seinen Freund, den Chef der Kriminalpolizei, um Hilfe gegen den Dieb bitten. Pinky ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Dann klopfte er bei den Potters. Der Skunk saß vor dem Fernseher und sah sich ein Baseballspiel an. „Kann ich Sie einen Moment stören?“ fragte Pinky höflich. „Komm rein, aber leise, meine Frau schläft.“ Potter winkte ihm zu, er solle sich setzen. Pinky blickte ihm in die Augen. Er mußte sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden, doch er hatte sich vorgenommen, den Skunk stur anzugucken, um an dessen Reaktionen zu erkennen, woran er war. „Was halten Sie von Diebstahl?“ begann er. „Sehr verwerflich“, antwortete Potter. „Du sollst nicht steh len, heißt es. Du kennst doch die Zehn Gebote.“ „Heißt es nicht auch, daß es besonders verwerflich ist, wenn einer Hilflose und Waisen bestiehlt?“ Potter nickte Zustimmung. Der Hund ließ sich nichts anmer ken. Konnte der so lügen? Vielleicht war er unschuldig? „Ich hoffe, du wirst so etwas nie tun“, sagte Potter. „Ich hoffe sehr, daß du keine Schande über unser Haus bringst.“ Er beugte sich weit vor, der Tabakgeruch aus seinem Munde wehte Pinky in die Nase. „Das sage ich dir, wenn ich dich je mals beim Stehlen erwische ...“ „Übergeben Sie mich der Polizei?“ „Nein“, sagte Potter, „nur, wenn es gar nicht anders geht. Du
bist mir wie ein Sohn. Ich würde erst einmal versuchen, dich mit Liebe zu erziehen. Und mit Härte.“ Potter winkte mit dem Kopf zum Schrank, auf dem der Rohrstock lag. „Hast du gestoh len?“ „Nein“, antwortete Pinky. „Ich nicht.“ Potter hielt seinem Blick stand. „Und wenn Sie einmal, ganz zufällig, Geld finden würden, sa gen wir achthundertachtundvierzig Dollar, was würden Sie dann tun?“ „Wenn ich nicht herausfinden könnte, wem dieses Geld recht mäßig gehört“, sagte Potter, wobei er das „rechtmäßig“ beson ders betonte, „dann würde ich es für ein Geschenk des Herrn betrachten und es für euch, meine lieben Kinder, verwenden.“ Potter grinste. „Das wäre doch eine gute Tat, nicht wahr?“ „Haben Sie etwas gefunden?“ fragte Pinky. „Wieso, hast du etwas verloren?“ fragte Potter zurück. Pinky gab es auf. Dem war nicht beizukommen. Aber er war nun ganz sicher, daß niemand anderes als der Skunk ihren Safe ausgeräumt hatte. Er stand auf. „Die anderen warten auf mich.“ „Ja, lauf nur. Und viel Spaß.“ „Für zwei Vierteldollar pro Nase?“ Sie sahen sich lange an. Potter wandte den Blick zuerst ab. „Na gut“, sagte er, „ich will nicht so sein.“ Er holte ein Bündel Geldscheine aus der Hosentasche und fischte vier 1-DollarScheine heraus. „Einen Roosevelt könnten Sie in Anbetracht der besonderen Situation schon dazutun“, meinte Pinky. „Ich hoffe nicht, daß wir eine .besondere Situation' haben“, er widerte Potter. Pinky machte den letzten Vorstoß. „Monster, Marie-Antoi nette und ich würden gerne mal abends zum Rummel gehen. Dürfen wir?“ „Gut. Aber nicht länger als bis neun Uhr, sonst bekomme ich Ärger mit der Jugendfürsorge, und das willst du doch wohl nicht?“ *
Die anderen warteten vor der Festwiese auf Pinky. Monster blickte ihn erwartungsvoll an. Pinky zeigte die Scheine. „Mehr war nicht zu machen“, sagte er. „Setzt euch mal einen Augenblick hin.“ Er erklärte den Kleinen, wieviel Geld für jeden bereitstand und was man damit anfangen könne. Sie maulten nicht, daß es so wenig war, sie hatten längst gelernt, daß es nie soviel gab, wie man wollte, sondern immer nur, was einem zugeteilt wurde. Nach langem Hin und Her entschlossen sie sich, nur Karussell zu fahren und dafür auf das Naschen zu verzichten. Pinky und Monster verständigten sich mit einem Blick. Sie würden von ih rem Anteil eine Runde Zuckerwatte spendieren. Als sie dann sahen, wie die Kleinen sich amüsierten, verga ßen sie für eine Weile ihr Unglück. Die Prinzessin wollte unbe dingt in die Gespensterbahn. Pinky und Monster knobelten, wer sie begleiten durfte und wer solange auf die Kleinen auf passen mußte. Monster gewann. Dafür fuhr Pinky mit der Prin zessin Kettenkarussell. Zum Schluß sahen sie sich noch die Lö wen aus „Hamiltons Super-Sensations-Löwen-Show“ an, die zwischen den Vorstellungen in ihren Käfigen hinter dem Zelt gratis zur Schau gestellt wurden, um Zuschauer anzulocken. Für den Eintritt hatten sie kein Geld mehr, doch es war auch so ein großes Erlebnis. Die Löwen sollten in Kürze gefüttert wer den und rannten unruhig in ihren Käfigen auf und ab und brüll ten, daß es einem durch Mark und Bein ging. „Mann, sind das Bestien“, staunte Monster. „Das nächste Mal mußt du unbedingt Löwen besorgen.“ „Nur zu gerne“, antwortete Pinky, „wenn ich nur einen Klien ten fände.“ Gleich nach dem Abendbrot machten die drei sich wieder auf den Weg. Potter gab ihnen sogar noch Geld, zwar keinen „Roo sevelt“, aber für jeden zwei „Washingtons“. Jetzt, im Schein der vielen hundert bunten Lichter, war der Rummel noch viel verlockender und aufregender, selbst als sie das Geld auf der Achterbahn und bei den Autoscootern ausge geben hatten. Sie vergaßen völlig die Zeit. Plötzlich war es zehn
Uhr, die Buden wurden geschlossen, und die Musik brach mit einem Schlag ab. Nach all dem Lärm war die Stille gespen stisch. „O weih, nichts wie nach Hause“, rief die Prinzessin, „das wird ja was geben!“ Monster nahm ihre Hand und rannte los. In dem Moment schrie jemand: „Die Löwen sind los. Die Lö wen sind los!“ Panik brach aus. Alle rannten wild durcheinander, stürzten in wilder Flucht irgendwohin, vielleicht gerade den Löwen ins gierige Maul, denn niemand wußte, wo sie jetzt waren. Pinky wurde von dem Strudel fortgerissen, verlor Monster und die Prinzessin aus den Augen, schlug einen Haken, um dem dich ten Gedränge zu entkommen, plötzlich stand vor ihm eine Gruppe von Männern. Aus der großen Schießbude wurden Gewehre herausgereicht. Auch Pinky bekam eines in die Hand gedrückt. Er wollte es schon zurückgeben, da merkte er, daß es kein simples Luftge wehr war, sondern eine Kleinkaliberwaffe in Form der berühm ten Winchesterbüchsen, wie sie in allen Indianer- und Cowboy büchern vorkamen. Er preßte das Gewehr an die Schulter und legte auf die Reklamezielscheibe oben an der Bude an. Sein Finger krümmte sich wie von selbst, zog den Abzug bis zum Druckpunkt, zog durch, der Rückstoß schlug den Kolben gegen seine Schulter, der Knall des Schusses ging in dem Stimmenge wirr der Männer unter. Trotz des fahlen Lichtes sah Pinky, daß die Kugel ins Schwarze der Zielscheibe traf. Er lud durch und schoß gleich noch einmal. Wieder ins Schwarze. Ja, das ist eine Büchse, dachte er. „Hier lang“, schrie jemand, „alle folgen mir!“ Der breite Mittelweg war inzwischen menschenleer. Die Männer schwärmten nach beiden Seiten zwischen den Buden und Karussells aus, die Gewehre schußbereit in der Hand. Sie schienen vom Jagdfieber gepackt, und niemand dachte daran, daß ein Kleinkalibergewehr bestimmt nicht die richtige Waffe für eine Löwenjagd ist. Auch Pinky nicht. „Dahinten, bei der Tombola!“
„Nein, am Riesenrad!“ Pinky sah einen Schatten, der hinter dem Riesenrad vorbei huschte, ihm gerade gegenüber. Er nahm ihn ins Visier, ließ den Gewehrlauf mit der Bewegung des Schattens mitschwen ken, drückte den Abzug bis zum Druckpunkt. Kein Löwe, son dern ein Mann trat aus dem Dunkeln hervor. Pinky konnte ge rade noch den Lauf hochreißen, so daß sein Schuß in die Luft ging. Der Mann schrie auf, griff sich mit beiden Händen an die Brust und brach zusammen. Zwei Männer stürzten zu ihm. „Es ist Hamilton“, schrie der eine. „Hamilton ist tot!“ Alle stürzten herbei, drängten sich um den toten Mann neben dem Riesenrad. „Wer hat geschossen?“ fragte einer. Schweigen. Ein Finger tippte Pinky auf die Schulter. Ein bärtiges Gesicht blickte ihn grimmig an. „Du hast doch geschossen. Ich habe es ganz genau gesehen, ich stand ja dicht neben dir.“ „Nein, ich habe in die Luft geschossen!“ Pinky schüttelte die Hand des Bärtigen ab. „Halt, dageblieben. Das könnte dir so passen: erst einen er schießen und dann verduften!“ Der Bärtige packte ihn im Ge nick, seine Finger waren wie stählerne Klammern. „Hier, die ses Bürschchen hat Hamilton erschossen!“ Jetzt umringten alle Pinky und den Bärtigen. „Ich war es nicht“, beteuerte Pinky, „glaubt mir doch. Warum sollte ich ihn denn erschießen?“ „Ruhe, Leute, Ruhe!“ Ein Mann in Lederkleidung und mit einem riesigen Cowboyhut auf dem Kopf drängelte sich mit bei den Händen durch die Männer, sein Gewehr hatte er über die Schulter gehängt. „Wenn der Junge es getan hat, dann bestimmt nicht mit Ab sicht. Es war ein Unfall“, sagte der Cowboy. „Nicht wahr, du hast nicht mit Absicht auf Hamilton geschossen?“ „Ich habe überhaupt nicht auf ihn geschossen!“ sagte Pinky. Ein Blitz knallte ihm ins Gesicht, er mußte die Augen zusam menkneifen. Als er sie wieder aufmachte, sah er, wie jemand mit einem Fotoapparat hantierte, er schoß eine Aufnahme nach
der anderen, von Pinky, von der ganzen Gruppe, von der Leiche. „Mann“, sagte er, „das nenn ich Dusel, sonst kommt man immer zu spät zum Tatort. In der Redaktion werden sie Augen ma chen!“ „Der Junge war es.“ Der Bärtige schüttelte Pinky. „Ich hab dich gesehen, wie du angelegt hast und mit dem Lauf mitgegan gen bist wie ein alter Jäger, und dann hast du abgedrückt.“ „Ich hab aber in die Luft geschossen!“ „Das soll die Polizei feststellen“, sagte der Cowboy. „Los, die Gewehre zur Schießbude!“ Alle folgten seiner Aufforderung. Der Cowboy sprang mit einem Satz über den Tisch der Bude, offensichtlich war er der Besitzer. „Legt die Knarren hier auf den Tisch, und jeder schreibt seinen Namen auf den Schaft sei ner Waffe.“ Er holte Filzstifte unter dem Tisch hervor. Dann zeigte er auf die beiden Männer, die ihre Waffe schon abgelegt hatten. „Ihr paßt auf, daß keiner sich wegschleicht.“ Er zeigte auf einen dritten. „Und du rufst die Polizei an.“ „Und die Löwen?“ fragte einer. „Was wird mit den Löwen?“ „Was ist mit den Löwen?“ erkundigte sich eine Frau, sie drängte sich von der Seite an den Tisch. „Was soll mit den Lö wen sein?“ „Die Löwen sind los.“ „Quatsch“, sagte sie, „unsere Löwen sitzen friedlich in ihren Käfigen, ich komm grad von da.“ Die Männer starrten sie entgeistert an. „Wo ist Bill?“ fragte sie. „Hat einer Bill gesehen?“ Die Männer wichen vor ihr zurück. Sie blickte durch die sich öffnende Lücke, blickte zwischen den Buden hindurch und sah die Gestalt neben dem Riesenrad liegen. Mit weit aufgerisse nen Augen ging sie auf den Toten zu, ganz langsam zuerst, dann immer schneller, rannte die letzten Meter, warf sich vor dem Mann nieder und rüttelte ihn. „Bill! Bill! Wach doch auf!“ Alle waren ihr gefolgt und standen nun schweigend um sie herum, Pinky im Eisengriff des Bärtigen. „Den weckt niemand mehr auf“, sagte einer leise, „der ist tot.“ Die Frau schluchzte auf. Der Mann zog sie hoch und nahm
sie fest in seine Arme. Alle schwiegen betreten. Eine Sirene tönte von ferne, kam näher. Ein Streifenwagen preschte mit blinkendem Rotlicht durch die Budengasse und bremste mit quietschenden Reifen. Zwei Polizisten sprangen heraus, der eine blieb am Wagen, die Pistole schußbereit, der andere stürmte mit dem Knüppel in der Hand herbei. „Was ist hier los?“ Der Bärtige stieß Pinky vor sich her. „Wir dachten, die Löwen sind los“, erklärte er dem Polizisten, „und da haben wir uns mit den Gewehren aus der Schießbude bewaffnet. Dabei ist es pas siert. Der Junge hier hat im Dunkeln den Mann für einen Lö wen gehalten und erschossen.“ „Nein!“ schrie Pinky. „Du Schuft, du Schuft!“ Die Frau wollte sich losreißen und auf Pinky stürzen, doch der Mann hielt sie fest. „Ich war es nicht!“ rief Pinky. „Halt's Maul!“ brüllte der Polizist. „Hier redet nur, wer ge fragt wird!“ Er sah sich drohend um. „Wo sind die Gewehre?“ Der Cowboy erklärte es ihm. „War 'ne kluge Idee“, lobte der Polizist. „Die Mordkommission ist schon unterwegs, der Sergeant wird zufrieden sein.“ Er winkte seinem Kollegen. „Paß auf die Knarren auf. Und du“ — er zeigte mit dem Knüppel auf Pinky — „komm mal her.“ „Glauben Sie mir doch“, sagte Pinky. Der Polizist stieß ihm den Knüppel unter das Kinn, daß Pinky würgen mußte. „Du redest nur, wenn ich dich frage, ver standen?“ Nur weg, dachte Pinky. Der macht dich sonst fertig. Der und der Bärtige. Noch wußte niemand, wer er war. Sein Name stand auch nicht auf dem Gewehr. Das hatte der Cowboy ihm abge nommen und beiseite gelegt. Wenn es ihm gelang, ein paar Me ter Vorsprung zu gewinnen, dann konnte er sich unter einem der Karussells verkriechen, und irgendwie würde er dann schon davonkommen. Der Polizist wandte sich an die Frau. „Ist das Ihr Mann, Mis sis?“
„Nicht direkt mein Mann, aber ...“ Der Rest ging in Schluch zen unter. „Schon gut, setzen Sie sich bitte ins Auto.“ Jetzt. Pinky setzte zum Sprung an und schoß davon. Jemand stellte ihm ein Bein. Er flog hin, schlug mit dem Gesicht auf den Boden, wurde hochgerissen. „Das könnte dir so passen!“ Der Polizist machte die Hand schellen von seinem Koppel los und schloß sie um Pinkys Handgelenke. Pinky sah sofort, daß er die Hände aus der ge schlossenen Fessel ziehen konnte. Der Polizist leider auch. Er nahm sie ihm wieder ab und ließ sie um seine Fußgelenke schnappen, dann stieß er ihm mit dem Knüppel vor die Brust, daß Pinky umflog. „Da bleibst du“, befahl der Polizist. „Und die anderen alle zu mir, einer nach dem anderen, damit Ordnung in die Angelegen heit kommt, und ich will von jedem 'n Stück Ausweis sehen, 'n Führerschein oder Versicherungsausweis oder so.“ Niemand kümmerte sich mehr um Pinky. Doch er hätte auch mit den größten Anstrengungen nicht davonhopsen können. Er versuchte aufzustehen, fiel aber gleich wieder um. Scheißbulle, fluchte er leise. Hoffentlich kam die Mordkommission bald. Die würden ihn ausreden lassen. Die Mordkommission kam mit drei Wagen. Der Chef infor mierte sich kurz bei den Polizisten des Streifenwagens, dann ging die Besatzung des einen Wagens zu dem Toten, die des zweiten mit dem Cowboy zur Schießbude. Der Chef kletterte auf das Podest des Riesenrads. „Alle mal herhören!“ brüllte er. „Ich bin jetzt der Chef hier, damit das klar ist. Ich bin Sergeant Simon P. Blake. Meine Freunde sagen Blacky zu mir, aber im Dienst kenne ich keine Freunde. Und ich bin immer im Dienst! Wer mich kennt, weiß, daß man mich Blackjack* nennt. Und wer nicht spurt, wird mich schnell kennenlernen.“ Er blickte drohend über die Ver sammlung zu seinen Füßen. „Wer hat was vom Mord gesehen? Hand hoch!“ * Blackjack = Totschläger
Nur der Bärtige hob die Hand. „Sie bleiben, wo Sie sind. Alle anderen hier zu mir auf die Tri büne. Und wehe, wenn einer runtergeht, bevor ich es ihm er laube.“ Er winkte dem Cowboy, der von seiner Bude zurück kam, er solle sich beeilen. Dann zeigte er mit dem Finger auf Pinky. „Du brauchst wohl 'ne Extraeinladung, was?“ Der Polizist aus dem Streifenwagen erklärte ihm, warum Pinky nicht laufen konnte. „Okay, bleib da liegen, Bürschchen.“ Er drehte sich zu den Männern um. „Guckt euch mal gegenseitig in die Pupillen. Fehlt einer, der vorhin bei dem Geschieße noch da war?“ Offensichtlich fehlte niemand, alle schüttelten den Kopf. „Prächtig, prächtig.“ Der Sergeant nickte zufrieden. „Also muß einer von euch hier der Mörder sein.“ „Der da!“ Der Bärtige zeigte auf Pinky. „Das ist doch kein Mörder“, sagte der Cowboy. „Es war über haupt kein Mord, sondern ein Unfall.“ „Schnauze, das entscheide ich!“ Der Sergeant sprang vom Po dest und ging zu dem Ermordeten. Pinky konnte von seinem Platz aus hören, was der Arzt ihm berichtete. Hamilton war von einem Geschoß kleinen Kalibers getroffen worden. Dann kam der Waffenexperte von der Schießbude. Nur aus drei der acht zehn Gewehre sei geschossen worden. Der Sergeant schüttelte ungläubig den Kopf. Er winkte den Cowboy zu sich. „Haben Sie Ihre Bude heute nicht aufgehabt?“ „Hab ich. Aber in der letzten halben Stunde war kein Betrieb, da hab ich schon angefangen, die Waffen zu reinigen, das mach ich jeden Abend so.“ „Und wie viele hatten sie schon geputzt, als der Rummel los ging?“ „Zwei fehlten, glaube ich, noch.“ „Also muß eines der drei Gewehre die Mordwaffe sein.“ Der Waffenexperte zeigte dem Sergeant sein Notizbuch. „Das sind die Namen, auf dem dritten Gewehr stand keiner.“ „Das hatte der Junge“, sagte der Cowboy. Der Sergeant rief die beiden Männer, deren Namen auf den
zwei Gewehren stand, doch die schieden schnell als Verdäch tige aus. Sie waren mit einem dritten weitab vom Tatort gewe sen, als der tödliche Schuß fiel. Der Sergeant baute sich vor Pinky auf. „Also du, mein Freund!“ Als Pinky den Mund auf machte, fauchte der Sergeant ihn an. „Schnauze! Auf dem Prä sidium kannst du singen, soviel du willst.“ * Im Präsidium mußte Pinky erst einmal die „Begrüßungszere monie“ über sich ergehen lassen: Name, Geburtsdatum, Wohn anschrift, Familienangehörige, vorbestraft? Dann wurden seine Fingerabdrücke genommen, und man brachte ihn zum Fotogra fen. Pinky ließ alles willenlos über sich ergehen. Das ist das Ende, dachte er, als er vor der Kamera saß. Nun kommt dein Bild ins Verbrecheralbum, und wer erst einmal im Polizeiarchiv registriert ist, der kommt nie wieder richtig auf die Beine. Auf keinen Fall zu einer Lizenz als Privatdetektiv. Da mochte er noch so unschuldig sein, ein Makel blieb immer zurück. Er machte sich keine Illusionen. Es sah verdammt schlimm für ihn aus. Er konnte nicht abstreiten, daß er geschos sen hatte, seine Fingerabdrücke waren auf dem Gewehr, und in dessen Magazin fehlten mindestens drei Schüsse. Dazu die Aussage des Bärtigen. Würde das Gericht Pinky glauben, daß er im letzten Augenblick in die Luft geschossen hatte? Und wenn er abstritt, am Riesenrad überhaupt geschossen zu haben? Konnte er nicht alle drei Kugeln auf die Zielscheibe geknallt haben, und eine war danebengegangen? Aber die beiden saßen mitten im Schwarzen. Und er hatte bestimmt nicht die Kraft, vor Gericht einen Meineid zu schwören. Am schlimmsten war, daß nur sein Gewehr als Tatwaffe in Frage zu kommen schien. Er wußte zwar, daß die Experten der Polizei bei einem Revolver feststellen konnten, ob der auch die Tatwaffe war, aber ging das auch bei einem Schießbudenge wehr? Auf den Sergeanten konnte er nicht rechnen. Der war of fensichtlich ein Großmaul, das sich besser aufs Kommandieren und Leuteschinden verstand als aufs Denken. Der wollte be stimmt nur den Fall schnell ans Gericht weitergeben.
Wenn er sehr viel Schwein hatte, würde das Gericht es als Unfall ansehen. Er konnte von Glück reden, daß der Schießbu denbesitzer so für ihn eintrat. Der verstand schließlich etwas von Waffen und vom Schießen. Aber war es nicht trotzdem fahrlässige Tötung? Kamen zwölfjährige Kinder eigentlich ins Gefängnis? Zumindest in ein geschlossenes Heim. Jetzt schien ihm Potters Waisenhaus wie ein Paradies, aus dem er vertrieben werden sollte. Nie wieder würde er Monster sehen. Und die Prinzessin! Nein, es mußte ihm etwas einfallen. Ihm war doch noch immer etwas eingefallen. Pinky lachte bitter, der Fotograf sah fragend zu ihm herüber. Nun hast du einen Klienten, dachte er, und was für einen! Nun sieh mal zu, wie du diesen Fall löst. Das war es. Wenn er her ausbekam, wer wirklich den tödlichen Schuß abgegeben hatte! Aber im Gefängnis? Ob Henderson helfen konnte? Der Captain mußte ihm helfen. Sergeant Blake zeigte sich überraschend freundlich. „Du hast Pech gehabt “, sagte er, „hast die Nerven verloren und abgedrückt. Da du noch 'n Kind bist, wird's nicht so schlimm werden. Wir machen jetzt das Protokoll, und dann kannst du dich ausschlafen. Allerdings hier bei uns. Ich schick 'nen Wagen bei deinem Heim vorbei, der Bescheid gibt. Sollen sie etwas mitbringen?“ „Glauben Sie mir doch, ich bin unschuldig“, erwiderte Pinky. „Sag ich doch, war 'n Unfall.“ „Nein, ich habe den Mann nicht erschossen!“ „Paß mal gut auf, Bürschchen“, der Sergeant wippte mit dem Stuhl, „wir können das schnell und freundlich erledigen, du kannst es aber auch auf die harte Tour haben.“ Er drehte die beiden Lampen auf seinem Schreibtisch zu Pinky und knipste sie an. Gleißende Helle sprang ihn an. Und Hitze. „Was meinst du, wie lange du das aushältst? Eine Stunde, zwei? Ich hab Zeit. Aber ich verrate dir eines: Unter den Lam pen hat noch jeder ausgepackt. Nicht lange, und du gestehst, daß du deine eigene Mutter umgebracht hast!“ „Ich war es aber nicht“, sagte Pinky verzweifelt.
Blake schlug ihm ins Gesicht. „Paß mal auf“, schrie er. „Du bist uns kein Unbekannter. Du bist schon mal festgenommen worden. Wegen Rauschgift.“ „Fragen Sie doch Captain Henderson“, bat Pinky, „der wird...“ „Der wird dir was husten“, brüllte Blake. „Denkst du, ich belä stige wegen solch einem Hosenscheißer wie dir den Chef?“ „Er ist mein Freund“, sagte Pinky. „Dein Freund ist er?“ Der Sergeant lachte höhnisch. „Der Captain? Und der Präsident der Vereinigten Staaten auch, ja?“ „Aber Mister Morgan. Rufen Sie ihn an.“ „Einen Dreck werde ich. Wir machen jetzt das Protokoll, oder ich laß dich in einer Zelle schmoren, bis du weichgekocht bist. Die Indizien reichen dicke, um den Fall ans Gericht weiterzuge ben, aber es ist ein kleiner Unterschied, wo du auf deinen Pro zeß wartest, im Untersuchungsgefängnis oder bei uns. Hier kann es verdammt ungemütlich sein.“ Pinky nahm all seinen Mut zusammen. „Ich will einen Vertei diger“, sagte er. „Jeder Bürger der USA hat ein Recht auf einen Verteidiger.“ Der Sergeant schüttete sich aus vor Lachen. „Ja“, sagte er dann, „so steht's in der Verfassung. Aber du bist noch kein Bür ger, du bist eine Rotzgöre. Und eine kriminelle dazu.“ „Aber daß ich mit meinem Vormund spreche, das dürfen Sie mir nicht verweigern.“ „Will ich das? Deinen Vormund kannst du sprechen. Im Bei sein von einem Beamten, versteht sich.“ „Dann rufen Sie ihn, gleich jetzt.“ „Mitten in der Nacht? Das wird aber eine Freude für Mister Potter sein.“ „Wieso Mister Potter?“ Pinky war die Ruhe selbst. „Mein Vor mund ist Captain Henderson.“ Dem Sergeant fiel der Kaugummi aus dem Mund. * „Ich bitte Sie um Entschuldigung“, sagte Pinky, „aber das war die einzige Mö glichkeit, an Sie heranzukommen.“
„Schon gut.“ Henderson lachte. „Ich bin ja so gut wie ein Vor mund für dich. Scheint, du sitzt bös in der Tinte, was?“ Pinky erzählte ihm, was wirklich geschehen war. Der Captain hörte aufmerksam zu. „Klingt wahr“, sagte er dann, „aber wie sollen wir es bewei sen? Die Untersuchung der Kugel ergibt nichts, die ist auf die Wirbelsäule des Toten geprallt und völlig verformt. Nur aus drei Gewehren wurde geschossen, die beiden anderen waren zu weit ab vom Tatort, und sie haben einen einwandfreien Alibizeugen, einen Mann mit sehr gutem Ruf.“ „Und der Fotograf? Da war ein Mann von der Presse, der war verschwunden, als Ihre Männer eintrafen.“ Henderson holte eine Zeitung aus seiner Aktentasche und schlug sie auf. Die erste Seite war ganz dem „Mord auf dem Rummelplatz“ gewidmet, obenan stand ein großes Bild von Pinky. Da er gerade von dem Blitzlicht geblendet worden war, sah er wie ein ausgebuffter Verbrecher aus und nicht wie ein unschuldiges Kind. „Der zwölfjährige Todesschütze“ stand in dicken Lettern unter dem Foto. „Ich werde mich mal um den Reporter kümmern“, sagte Henderson, „aber ich glaube nicht, daß er auch mit einem Gewehr geschossen hat.“ „Einer muß es gewesen sein“, meinte Pinky, „ich war es nicht.“ „Wer aber dann?“ „Mir ist heute nacht in der Zelle was eingefallen: Wer hat ei gentlich den falschen Alarm gegeben, daß die Löwen los sind?“ „Das ist eine gute Frage“, sagte Henderson. „Kann es nicht so gewesen sein: Jemand will diesen Hamil ton umbringen, weiß der Teufel, warum. Er schreit Alarm und sorgt dafür, daß ein Haufen Männer sich bewaffnet. Er rechnet damit, daß einer schon schießen wird und den Dummen abgibt. Wer hatte die Idee mit den Schießbudengewehren?“ „Das ist die zweite gute Frage“, sagte Henderson. „Wo aber ist die Mordwaffe? Die Gewehre in der Schießbude sind alle unter sucht worden, und auf unsere Experten kann ich mich verlas sen.“
„Hoffentlich mehr als auf Sergeant Blackjack.“ Der Captain seufzte. „Kannst du jetzt verstehen, warum ich solche wie dich für die Polizei werben will?“ „Ich verstehe Sie schon, trotzdem ...“ Pinky sah den Captain an. „Wenn sich herausstellt, daß einer unschuldig ist, kommen seine Fotos dann wieder aus dem Verbrecheralbum?“ Henderson lachte. „Nicht unbedingt. Aber in deinem Fall werde ich dafür sorgen. Wenn du unschuldig bist. Und wenn wir es beweisen können. Okay? Na, dann werde ich mich mal auf dem Rummelplatz umsehen. Übrigens, es war Besuch für dich da, leider kann in dieser Phase der Untersuchung kein Besuch gestattet werden.“ „Dürfen Sie mir wenigstens sagen, wer?“ „Ein Herr und eine Dame.“ Henderson schmunzelte. „Ein merk würdiges Paar. Stell dir vor: ein Monster und eine Prinzessin. * Am späten Nachmittag ließ Henderson Pinky wieder vorfüh ren. Es schien sich herumgesprochen zu haben, daß Pinky ein Schützling des Captains war, er wurde jetzt ohne Handschellen durch das Gebäude geführt. Auf Hendersons Tisch lag ein Sta pel Fotos. „Es war nicht herauszubekommen, wer den falschen Alarm gegeben hat und wer die Idee mit den Gewehren hatte“, sagte der Captain. „Der Schießbudenbesitzer sagt, er kann den Mann nicht beschreiben.“ Henderson legte die Fotos vor sich hin. „Das sind alle Aufnahmen, die der Reporter geschossen hat, ich glaube aber nicht, daß sie uns weiterhelfen.“ Sie sahen sich Bild für Bild ganz genau an. Plötzlich nahm Pinky das Bild, das er eben beiseite gelegt hatte, noch einmal zur Hand. „Ist was?“ erkundigte sich Henderson. „Ich weiß nicht. Irgendwas stimmt hier nicht, doch was?“ Sie starrten beide auf das Foto. Dann zeigte Pinky auf den Cowboy, der neben ihm stand. „Sehen Sie das Gewehr, das der über der Schulter trägt?“ Henderson blickte Pinky fragend an. „Das ist kein Schießbudengewehr “, sagte Pinky aufgeregt.
„Schießbudengewehre haben keinen Tragriemen! Das ist die
Mordwaffe, wetten? Und die hat auch nicht bei den anderen auf
dem Tisch gelegen und ist nicht von Ihren Männern untersucht
worden.
„Donnerwetter“, sagte Henderson, „du hast ein paar Augen.“
„Es geht schließlich um meinen Kopf“, erwiderte Pinky.
* Pinky wurde noch am gleichen Abend entlassen. Der Cowboy hatte dem Verhör des Captains nicht lange standgehalten. Sein größter Fehler aber war gewesen, daß er zu schlau sein wollte. Er hatte auf eines der Schießbudengewehre seinen Namen ge schrieben. Das Foto überführte ihn nun. Das Gewehr mit dem Tragriemen entdeckten die Polizisten zwischen einem Bündel von Brettern und Latten, die unter dem Wohnwagen des Schießbudenbesitzers festgezurrt waren. Da trickste Hender son den Cowboy aus. Er schoß mit diesem Gewehr in den Sand kasten hinter den Papierrosen in der Schießbude, holte die Ku gel heraus, besah sie sich mit der Lupe und behauptete, sie zeige dieselben Markierungen wie das tödliche Geschoß. „Ich gebe zu, es war nicht fair“, sagte Henderson zu Pinky, als sie zum Rummelplatz fuhren, „aber ist es fair, wenn einer ein Kind für sein Verbrechen büßen lassen will?“ „Und warum hat er Hamilton erschossen?“ „Aus Eifersucht. Hamiltons Freundin ist bis vor kurzem mit dem Cowboy über Land gezogen. In Kittsburgh sind sie wieder aufeinandergetroffen. Da ist die Wut mit dem Cowboy durchge gangen.“ Der Captain hatte alle Leute, die an der Löwenjagd beteiligt waren, zu einer Konferenz in ein Zelt auf dem Rummelplatz ge laden. Kaum war draußen die Musik verstummt, da begann sich das Zelt zu füllen. Einige der Männer erkannten Pinky wie der, zwei von ihnen grüßten zu ihm herüber und sahen ihn an, als hätten sie ein schlechtes Gewissen. Auch Reporter waren da, und nicht nur von den Kittsburgher Zeitungen, einige waren von weit her gekommen, um über den „Mord auf dem Rummel platz“ zu berichten.
Der Captain wußte, wie man eine Pressekonferenz aufzog, es war richtig spannend. Die Reporter schrieben fleißig mit, und andauernd flammten Blitzlichter auf. Pinky beobachtete genau, wer die Kamera auf ihn richtete, und blickte dann so, daß der Blitz ihn nicht wieder blenden und sein Gesicht zur Verbrecher visage machen konnte. Der Captain berichtete so geschickt, daß nicht klar wurde, welch geringen Anteil die Polizei an dieser „so überaus schnellen Aufklärung eines Kapitalverbrechens“ hatte. Er hatte Pinky vorher um Verständnis dafür gebeten und ihm erklärt, daß selbst er auf eine gute Presse angewiesen war, doch er verschwieg nicht, daß Pinky „wesentlich zur Aufklärung bei getragen“ hatte, und er strich mit bewegenden Worten heraus, daß Pinky „ein armes Waisenkind“ war. Der Besitzer des Riesenrades stand auf: „Ich finde, der Junge hat eine Belohnung verdient“, erklärte er. „Bei mir kannst du alle Tage umsonst fahren, sooft du willst.“ „Danke schön“, sagte Pinky, „aber ich würde lieber nur ein mal am Tag fahren und dafür die anderen aus unserem Heim mitbringen, wir sind nur acht.“ „Einverstanden“, sagte der Mann. Als er merkte, daß er in diesem Augenblick fotografiert wurde und weil er sich wohl eine gute Reklame von den Berichten der Zeitungen versprach, fügte er schnell hinzu: „Jeden Tag drei Fahrten gratis.“ „Bei mir auch“, meldete sich ein anderer, und dann noch ein paar. Pinky glühte vor Freude. Das würde eine siegreiche Heim kehr werden. Als sie das Zelt verlassen wollten, sprach Bill Ha miltons Freundin den Captain an. „Was soll ich denn nun mit den Löwen machen?“ fragte sie. „Bill hatte doch keinen Menschen mehr, der sie erben könnte, und wer weiß, wann sich ein Käufer findet. Ich will die Biester nicht mehr sehen.“ „Wollen Sie gar nichts dafür haben?“ fragte Pinky. „Wenn ich sie nur loswerde!“ „Das ist einfach. Schenken Sie die Löwen dem Kittsburgher Zoo.“
Der Blumendieb Pinky saß auf seiner Mülltonne und nähte. Neben ihm saß Monster im Korbstuhl und schnitzte. Das friedliche Bild täuschte. Während die beiden an den Kasperle puppen arbeiteten, die sie der Prinzessin zum Geburtstag schenken wollten, schmiedeten sie finstere Rachepläne. „Ich verstecke mich unter den Betten“, schlug Monster ge rade vor, „und belausche den Skunk, wenn er seinen Safe öff net. Kann doch nicht so schwer sein, die Zahlenkombination rauszubekommen.“ „Das ist schwerer Einbruch“, erwiderte Pinky, „da mach ich nicht mit.“ „Wir holen doch bloß unser Geld wieder“, meinte Monster, • „was soll daran Unrecht sein?“ „Dann weiß der Skunk doch genau, wer es war. Das Geld müssen wir abschreiben.“ „Aber Rache muß sein!“ „Einverstanden.“ Pinky hielt Monster den bunten Puppenkit tel hin. „Wird der überhaupt passen?“ Monster klappte die Säge seines Taschenmessers aus und sägte den Ahornast unter dem herausgeschnitzten Kopf ab; es sollte ein König werden, aber die Krone war noch nicht fertig. Monster hielt den Kittel an den Kopf. „Und ob das paßt Viel leicht solltest du Schneider werden? Kannst dir ja einen Gürtel machen: Sieben auf einen Streich!“ Pinky tat, als hätte er die Stichelei nicht gehört. Er kramte in dem Beutel mit Lumpen. „Was hältst du davon“, sagte er, „wenn wir den beiden Stinktieren das Fell färben. Blau wäre doch eine angemessene Farbe.“
„Und wie willst du das anstellen?“ „Ganz einfach: mit Yumahave-Wurzeln.“ „Ganz einfach“, wiederholte Monster, sein Ton ließ keinen Zweifel daran, daß er es für alles andere als einfach hielt, „und diese Jumahuma-Wurzeln geben wir den Potters und bitten sie, sich damit zu kämmen, was?“ „Yumahave “, verbesserte ihn Pinky mit dem Tonfall eines Meisters, der seinen tölpelhaften Lehrling belehrt. „Das ist ein uraltes Indianerrezept, die Medizinmänner der Mohawqui ha ben es benutzt. Sie raspelten die Wurzeln klein und legten sie zwei Tage in die Sonne; von dem Saft, der sich dann bildet, nah men sie vor den großen Beschwörungstänzen ein paar Tropfen ein, dann färbten sich ihre Haare blau, während sie um das To tem tanzten, alle konnten zusehen, und es galt als ein Glücks zeichen, daß der Stamm bei der Büffeljagd oder auf dem Kriegspfad siegreich sein würde. Die Wurzeln bekommen wir für ein paar Cent in der Apotheke, die werden immer noch ge sammelt“, Pinky schmunzelte, „als Mittel gegen Rheuma. Daß sie auch blaufärben, weiß kaum noch jemand, und eine ausge diente Injektionsspritze holen wir uns aus den Abfallkübeln der Poliklinik.“ „Willst du den Potters etwa 'ne Spritze verpassen?“ fragte Monster entgeistert. „So ähnlich. Wenn der Skunk dich wieder mal nach Schnaps schickt, spritzen wir den Yumahave -Saft durch den Korken in die Flasche, da bleibt keine Spur. Und es wird ihnen auch nicht auffallen, das Zeug soll färb- und geschmacklos sein. Am näch sten Tag laufen sie dann mit blauen Haaren rum. Wenn wir Glück haben, können wir sogar zusehen, wie sie blau werden.“ „Mann, du bist ein Genie“, schrie Monster. „Das machen wir! Wo hast du denn diese Idee wieder her?“ „Das mit der Wurzel aus der .Geschichte der nordamerikani schen Indianer', die ich gerade studiere, und die Idee mit dem Korken aus einem Krimi. Ich sage doch immer, du sollst mehr lesen. Lesen bildet.“ „Leider bildet es kein Vermögen“, sagte Monster. „So pleite
waren wir noch nie. Das eine sage ich dir: den nächsten Klien
ten müssen wir gehörig abkassieren. Du bist immer viel zu bil
lig gewesen.“
„Das glaubst du. Hast du mal nachgerechnet?“
„Pah, die paar Sachen! Einen so billigen Detektiv hätten die feinen Pinkel nirgends sonst in den Staaten finden können.“ „Auf jeden Fall haben sie das geglaubt.“ Pinky lachte. „Aber ich bin gar nicht so billig, zumindest nicht immer. Wenn ich nur an Morgan denke.“ „Dieser Geizkragen!“ fluchte Monster. „Das solltest du nicht von ihm sagen“, meinte Pinky, „der hat doch ganz fleißig bezahlt. Von dem Affen will ich nicht reden, aber dann: die Känguruhs, die Taschenmesser, sieben Paar Stiefel und sieben Paar Schlittschuhe, fünfundzwanzig Dollar in bar und die Hamburger, jeden Tag vier Stück, ein ganzes Jahr lang, das sind alleine eintausendzweihundertsechzig Dol lar.“ Monster riß Mund und Nase auf. „So viel?“ „Da staunst du, was? Die Aufklärung der Warenhausdieb stähle hat Morgan mindestens zwe itausend Dollar gekostet“, erklärte Pinky vergnügt. „Die hättest du in bar verlangen sollen.“ „Dann hätten wir überhaupt nichts bekommen. Für den Preis kann er sich einen erstklassigen Detektiv aus New York kom men lassen. Aber du hast recht, Monster, wir brauchen endlich einen neuen Fall. Ich hatte gehofft, daß die Berichte über den Rummelplatzmord helfen würden ...“ „So, wie du dich von dem Captain hast an die Wand spielen lassen?“ Monster spuckte wütend aus. „Schöner Freund.“ „Das war schon richtig“, sagte Pinky. „Das verbuche ich als Investition in die Zukunft. Sich den Chef der Kriminalpolizei zu verpflichten ist eines der besten Geschäfte, die ein angehender Detektiv machen kann. Glaub mir, das hilft uns noch mal mäch tig.“ Pinky blickte lange über die Stadt. „Verdammt noch mal, dieses Kaff hat ein paar hunderttausend Einwohner, da müßte doch wenigstens einer meine Hilfe brauchen!“
„Ich kann ja mal rumlaufen und fragen“, knurrte Monster. „So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Wir brauchen Geld.“ „Und wenn wir es haben, wo tun wir's dann hin? Wir brau chen einen neuen Safe. Aber einbruchssicher!“ „Den haben wir schon.“ Monster blickte seinen Freund triumphierend an. „Während du hier rumträumst, habe ich nämlich gearbeitet. Komm mal mit.“ Er führte Pinky ins Badezimmer und zeigte auf die Wandver schalung. „Siehst du was?“ Pinky schüttelte den Kopf. Potter hatte vor kurzem die Wände des Badezimmers mit rohen Brettern verkleidet, weil sich die Mauern mit ekelhaften, graugrünen Flecken überzo gen, die durch alle Farben und Tapeten durchschlugen. Mon ster klappte den Schraubenzieher seines Taschenmessers her aus. Vier kurze Drehungen, und ein Brett in Kopfhöhe war lose. Monster zeigte Pinky, daß er die Schrauben gekappt hatte, so daß sie nur ein paar Millimeter tief in den Dübeln saßen. Pinky zeigte auf die Wand hinter der Lücke. „Du meinst, es fällt nicht auf, wenn wir hier ein Loch graben? So lange können wir ja gar nicht auf dem Klo sitzen, oder es dauert bis Weihnachten.“ Monster grinste nur. Er hielt Pinky das Brett hin. „Siehst du was?“ fragte er wieder. „Nein.“ Monster zeigte auf eine haardünne Linie, die über die Kanten und die Rückseite des Brettes lief, dann faßte er es mit beiden Händen und zog das Kopfende wie den Deckel einer Dose ab. Der Raum, der sich in dem ausgehöhlten Brett auftat, war groß genug, ein Bündel Scheine zu fassen. Pinky sah Monster be wundernd an. „Aber das hast du doch nicht hier aufm Klo gemacht“, meinte er. „Da waren noch ein paar Bretter übrig“, antwortete Monster, „ich habe mir eines geschnappt und es bei Old Harry präpariert und dann gegen das Brett, das der Skunk angeschraubt hatte, ausgetauscht.“
Old Harry war ein Tischler in der Nebenstraße, ein alter Mann, der sich freute, wenn Monster in seine Werkstatt kam und ihm zur Hand ging. Monster hatte von ihm schon nahezu alles gelernt, was man mit Holz machen konnte. Leider durfte Old Harry keine Lehrlinge ausbilden, sonst brauchte Monster sich keine Sorgen um einen Beruf zu machen. „Den Safe hätten wir also“, sagte Pinky, „fehlt nur noch der Inhalt.“ „Für den mußt du sorgen“, sagte Monster und schraubte das Brett wieder an. Der neue Klient kam zwei Tage später, doch er fuhr nicht mit dem Auto vor, und er schickte auch keinen seiner Dienstboten. Er kam selbst und zu Fuß, und er trug auch keine teure Maß kleidung, sondern über den Knien abgeschnittene, ausgefran ste Jeans und ein T-Shirt, und seine Hautfarbe ließ keinen Zweifel darüber, daß er bestimmt nicht in der Lage war, hohe Honorare zu zahlen, selbst wenn der Klient schon erwachsen gewesen wäre: in ganz Kittsburgh gab es keinen einzigen wohl habenden Farbigen, schon gar nicht ein reiches vierzehnjähri ges Negermädchen, denn der neue Klient war niemand anderes als Georgia Prescott aus der 8b. Pinky schreckte hoch, als die Dachluke zuknallte. Da sein Unterricht erst in der zweiten Stunde begann, hatte er sich gleich nach dem Frühstück auf das Dach verzogen, um noch einmal die Geschichtszahlen zu wiederholen, die sie für heute aufhatten. Außerdem war die Luft in Kittsburgh selten so ange nehm und frisch wie nach einem Juniregen am Morgen. Von den Linden in der Straße stieg ein betäubender Duft auf. Georgia hatte geweint, und während sie sprach, schluchzte sie immer noch mal. „Man hat Vater verhaftet“, sagte sie. „Heute früh auf dem Markt. Joshua, sein Freund, ist gerade gekommen und hat es uns erzählt.“ „Und warum kommst du da zu mir?“ fragte Pinky. „Du mußt uns helfen. Du kannst doch so was.“
„Wie kommst du denn darauf?“
„Ach, das sagen doch alle.“ Georgia sah ihn mißtrauisch an. „Oder hilfst du nur den Reichen?“ Pinky mußte das erst einmal verdauen. Da war er also schon Stadtgespräch und wußte nicht einmal davon. Schöner Detek tiv! „Setz dich“, sagte er, „erzähl, was ist los?“ Georgias Vater arbeitete als Gebäudereiniger in einem der Geschäftshäuser der Innenstadt. Er arbeitete nachts, die Büros mußten zu Arbeitsbeginn sauber sein, und wenn er seine Arbeit erledigt hatte, ging er noch zum Markt und sah sich nach einem Gelegenheitsjob um, denn sein Verdienst war nicht allzu hoch, und die Prescotts waren zu sechst; Georgia hatte noch drei kleine Geschwister. Heute morgen nun war Prescott auf dem Markt verhaftet worden, weil er angeblich Blumen in den städtischen Anlagen gestohlen und verkauft hatte. „Das würde Daddy nie tun“, sagte Georgia. „Er müßte ja auch völlig vertrottelt sein. Mit Blumen kann man doch höchstens ein paar Cent verdienen, soll er dafür seine Arbeit riskieren?“ „Wer hat ihn verhaftet?“ wollte Pinky wissen.
„Ein Streifenwagen. Und sie haben ihn gleich mitgenommen. Er ist auf dem Revier in der 17. Straße.“ „Das heißt, ich kann nicht mal mit ihm sprechen“, sagte Pinky, „wie soll' ich da was für ihn tun?“ „Versuch es doch wenigstens “, bat Georgia. „Klar, mach ich.“ Pinky lächelte sie an. „Schon deinetwegen.“ Georgia gehörte zu den Mädchen, nach denen nicht nur er sich umdrehte. Sie war mit Abstand das schönste Mädchen der Schule, alle nannten sie nur „Miß Georgia“, und Pinky fand, sie hätte durchaus schon mit guten Aussichten bei den Schönheits wettbewerben mitmachen können, wenn auch nicht im Staate Georgia, wo Negerinnen keine Chance hatten. Sie war schlank, langbeinig und, wie die Erwachsenen so was bezeichneten, gut entwickelt. Für Jungen wie Pinky hatte sie sonst kein Auge. Sie flirtete zum Kummer ihrer Mutter mit den Halbstarken auf der
Straße, vor allem mit Big Moonshine*, einem Achtzehnjähri gen, der einen tollen Feuerstuhl fuhr. Pinky überlegte. Bis zum Beginn des Unterrichts war nur noch eine halbe Stunde Zeit, aber er hatte die ersten beiden Stunden bei Mister Eryman, Mathe und Geschichte, und der würde Verständnis zeigen, wenn Pinky ihm erklärte, warum er zu spät kam; Eryman war eine Wucht von einem Lehrer. „Warte unten auf mich“, sagte er zu Georgia, „ich komme gleich.“ Monster sah Pinky erstaunt an, als der seine Schulmappe nahm. „Ich habe noch was zu erledigen“, erklärte Pinky. Er setzte sich hin und schrieb einen Zettel. „Hier, Monster. Wenn ich nicht rechtzeitig da bin, gib das Eryman, ja?“ „Hast du einen Klienten?“ fragte Monster aufgeregt. „Ja, aber ... Ich erzähl es dir später.“ Bei den Prescotts war helle Aufregung. Georgias Schwester weigerte sich lauthals, zur Schule zu gehen, die beiden Jungen randalierten im Hinterzimmer, und Georgias Mutter saß ver heult mit dem Freund ihres Mannes in der Küche. Sie sah nur kurz auf, als Georgia mit Pinky hereinkam, dann schluchzte sie wieder jämmerlich. Plötzlich hob sie den Kopf und fauchte Georgia an. „Scher dich gefälligst in die Schule und nimm deine Schwester mit!“ Pinky nickte Georgia zu. „Geh nur“, flüsterte er, „du kannst jetzt doch nicht helfen. Wir unterhalten uns dann in der Pause.“ „Okay, ich geh ja schon“, sagte Georgia. „Das ist Pinky, von dem ich euch erzählt habe. Ich glaube, er wird uns helfen.“ Sie schickte Pinky ein Lächeln, für das er sonstwas getan hätte. Pinky setzte sich an den Küchentisch. „Ich muß Sie ein bißchen ausfragen, Missis Prescott“, sagte er, „und Sie auch, Mister.“ Prescotts Freund hielt Pinky die Hand hin. „Ich bin Joshua.“ „Und du sag nicht Missis Prescott zu mir“, sagte Missis Pres cott. „Für unsere Freunde bin ich Mammy Lu. Und du bist doch unser Freund, oder?“ * Big Moonshine — Spitzname. Wörtlich: Großer Mondschein
Mammy Lu konnte überhaupt nichts zur Sache sagen, nur daß es einfach undenkbar war, daß ihr Mann jemals etwas Un rechtes tun könne. „Bill hätte nie seinen Job aufs Spiel gesetzt“, erklärte sie, „schon gar nicht für ein paar Dollar. Seit vier Jahren ist er nun schon bei der Firma, er macht sogar unbezahlte Überstunden, damit er den Job nur behält. Du weißt doch, wie schwer es ist, Arbeit zu finden. Außerdem hätte er viel zuviel Angst. Er hat vor Jahren mal gesessen, wegen einer Schlägerei mit einem Po lizisten, er ist also vorbestraft. Und ein vorbestrafter Neger, zu mal wenn er einen Polizisten verprügelt hat, der darf sich über haupt nichts mehr zuschulden kommen lassen, den sperren sie schon ein, wenn er nur mal falsch hustet. Und was soll dann aus den Kindern werden? Er hängt so an ihnen. Nein, Bill hätte uns das nie angetan.“ Joshua nickte zustimmend. „Ich kenne keinen, der sanfter ist als Bill.“ „Waren Sie heute früh auf dem Markt, als es geschehen ist?“ erkundigte sich Pinky. „Ich gehe jeden Morgen zum Markt und hoffe, daß ich einen Job finde“, antwortete Joshua, „daher kenne ich Bill. Aber ich war heute später dran als sonst. Ich hatte mich untergestellt, weil es doch so regnete, und als ich kam, war die Polente schon da und nahm Bill fest. Ich habe nur noch gehört, wie der Poli zist ihn beschuldigte, er hätte in den Anlagen Blumen geklaut und sie auf der Straße verkauft.“ „Haben Sie noch ein bißchen Zeit?“ fragte Pinky. „Ich möchte mich mal auf dem Markt umsehen.“ „Ich habe weiß Gott mehr Zeit, als mir lieb ist“, sagte Joshua. „Ach du liebe Neune“, rief Mammy Lu. „Was mach ich denn bloß? Ich sollte längst die Kleinen bei der Nachbarin abgegeben haben und weg sein, ich helfe dienstags doch immer in der Wä scherei.“ „Gehen Sie nur“, sagte Pinky. „Wie ich die Polizei kenne, wird man Sie jetzt sowieso nicht zu Ihrem Mann lassen. Kennen Sie einen Rechtsanwalt, der sich seiner annehmen kann?“
„Woher sollte ich schon einen Rechtsanwalt kennen“, seufzte Mammy Lu. „Im Gemeindehaus soll einer sein, der auch für arme Leute was tut.“ „Gut, gehen wir zuerst ins Gemeindehaus“, schlug Pinky vor. Der Rechtsanwalt sollte erst am Nachmittag kommen. Mammy Lu ließ sich auf die Warteliste setzen, dann trennten sie sich. Mammy Lu ging zur Wäscherei, Joshua und Pinky zum Markt. „Da sitzen wir immer.“ Joshua zeigte auf das schmiede eiserne Geländer vor dem „Fulton-Hotel“. „Von da aus können wir den ganzen Markt überblicken und gleich sehen, wenn einer kommt, der Arbeitskräfte sucht; außerdem kann man manchmal einem Hotelgast das Gepäck tragen, dann muß man allerdings dem Hotelportier die Hälfte vom Trinkgeld abge ben.“ Nicht nur auf dem Geländer des Hotels, auch auf der Treppe des Rathauses hockten Arbeitssuchende wie Spatzen auf einem Telefondraht, niemand schien Verwendung für sie zu haben. Der Markt war von parkenden Autos umsäumt, selbst in der Mitte, wo eigentlich Halteverbot war, stand ein Wagen, doch der hatte wahrscheinlich eine Sondergenehmigung. Die grellbunte Schrift an der Seitenfront des Transporters verriet, daß er der „Kittsburgher Film-Fernseh-Presse-Reklame-Agentur“ gehörte, die hier offensichtlich einen Werbestreifen drehen wollte, denn neben dem Auto war eine Kamera aufgebaut. Zwei Männer standen vor dem Stativ, der eine, ein junger, fetter Bursche mit einer riesigen Sonnenbrille, die er wohl für das unentbehrliche Wahrzeichen eines Filmregisseurs hielt, gestikulierte wild mit den Armen und brüllte den anderen an, der wahrscheinlich der Kameramann war, denn auf seiner Brust baumelte ein Belich tungsmesser. Der Kameramann reagierte überhaupt nicht auf das Geschrei des anderen, er verschränkte die Arme und sah in die Gegend, als sei er ein Tourist und als gäbe es auf dem Kitts burgher Markt auserlesene Sehenswürdigkeiten zu besichti gen. Pinky stellte sich in ihre Nähe. „Seit dem frühen Morgen stehen wir jetzt hier“, schrie Mister
Sonnenbrille gerade, „und du hast schon dreimal den Streifen abgedreht, was willst du eigentlich noch?“ „Wenn in deinem Spatzengehirn auch nur ein Fünkchen Ver stand wäre“, brüllte der Kameramann zurück, „dann hättest du mitbekommen, daß jetzt ein Leichenwagen durchs Bild fuhr. Dieser elende Marktplatz ist so schon nicht gerade eine Wer bung für diese dreimal beschissene Stadt, aber dann noch ein Leichenwagen? Das ist doch zum Verrücktwerden, erst der Re gen, dann die Bullen und nun ein Leichenwagen! Warum läßt du den Platz nicht mal für 'ne viertel Stunde sperren?“ Der Ka meramann stieß wütend die Luft aus seinen Lungen. „Und jetzt ist die Sonne schon wieder weg!“ Mister Sonnenbrille ging be leidigt davon. In die Kneipe neben dem Rathaus. Pinky stellte sich vor den Kameramann. „Darf ich Sie mal was fragen?“ „Willst wohl zum Film?“ Der Kameramann lachte höhnisch. „Wenn du mich fragst, laß die Finger davon. Du hast es nur mit Idioten zu tun, und jeder führt sich auf, als wäre er das größte Genie von ganz Hollywood.“ „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob Sie gesehen haben, daß heute morgen ein Mann hier Blumen verkauft hat, ein Neger.“ „Hab ich. Und wie die Bullen den Mann festgenommen ha ben. Die sind mir direkt ins Bild gelaufen, deshalb bin ich ja so sauer. Da war nämlich richtig schönes Licht, die Sonne hat die sem Mistplatz sogar so was wie Stimmung verliehen.“ Pinky kribbelte es in den Fingerspitzen vor Aufregung. Viel leicht bekam er hier einen Beweis, daß nicht Prescott der Blu mendieb war. „Haben Sie ihn auch gefilmt, als er die Blumen angeboten hat?“ fragte er. „Ich bin doch nicht meschugge! Ich habe Mister Gernegroß extra losgeschickt, daß er den Mann aus dem Bild jagt. Dies soll eine Werbung für Kittsburgh werden. Ein Neger ist keine Wer bung, und wenn er die schönsten Rosen der ganzen Staaten in der Hand hat.“ „Schade“, sagte Pinky. „Ja, das finde ich auch“, sagte der Kameramann. „Ich hab nichts gegen Neger, doch es ist nun mal so.“
„Aber die Verhaftung haben Sie aufgenommen?“ „Leider.“ „Der Mann, der verhaftet wurde, war das derselbe, der die Blumen angeboten hat?“ „Ich glaube schon, aber beschwören würde ich es nicht. Ich habe nicht.so genau hingesehen, ich war zu wütend.“ Pinky ging niedergeschlagen zu Joshua zurück. „Wir müssen die Leute hier befragen“, sagte er, „jeden einzelnen. Wenn wir nur einen finden, der aussagt, daß nicht Bill Prescott die Blu men verkauft hat, ist er gerettet.“ Joshua war nicht so zuversichtlich. „Wenn der Richter ihm dann glaubt “, sagte er. Aber sie fanden nicht einmal einen Augenzeugen. Niemand wollte etwas gesehen haben, die meisten nicht einmal die Ver haftung. „Die haben Angst, daß sie in die Sache reingezogen werden“, erklärte Joshua traurig, „und ich kann das verstehen, wer will schon mit der Polizei zu tun haben.“ Sie sprachen noch mit dem Mann am Zeitungskiosk, dann gingen sie zum Polizeirevier in die 17. Straße und fragten, ob sie den Revierchef sprechen könnten. Der Polizist am Eingang ließ sie gar nicht erst rein, als er er fuhr, weshalb sie kamen. „So, wegen dem verhafteten Nigger“, sagte er höhnisch. „Da seid ihr sicher seine Rechtsanwälte, was? Macht bloß, daß ihr Leine zieht! Der Lieutenant würde mich ganz schön zusam menscheißen, wenn ich zulasse, daß ihr ihn belästigt.“ Pinky rief von der nächsten Telefonzelle im Präsidium an, doch Captain Henderson war nicht zu erreichen. „Dann können wir vorläufig nichts mehr tun“, sagte er. „Ich gehe jetzt zur Schule. Ich schlage vor, wir treffen uns heute nachmittag bei Mammy Lu.“ Mister Eryman zeigte überhaupt kein Verständnis. Er hörte sich Pinkys Erklärung zwar an, ohne ihn zu unterbrechen, aber Pinky konnte an dem wachsenden Unmut in Erymans Gesicht ablesen, daß es gleich ein Donnerwetter hageln würde.
„Das sind doch Kinkerlitzchen“, sagte Eryman. „Detektiv spielen! Das nächstemal kommst du nicht zur Schule, weil du unbedingt ein Cowboy sein mußtest oder ein Indianerhäuptling, ja? Was kannst du schon erreichen?“ Pinky schluckte. Er hätte Mister Eryman zu gerne erzählt, was er schon alles als Detektiv erreicht hatte, aber er war sich nicht sicher, daß das jetzt der richtige Ort und der richtige Au genblick für solch ein Geständnis war. So gab er nur zu, daß er nichts erreicht hatte. Noch nicht. „Doch, etwas schon“, widersprach Eryman. „Ihr habt heute eine Mathearbeit geschrieben, und da du unentschuldigt ge fehlt hast, bekommst du eine Fünf.“ Und die Pause war auch um. Pinky konnte gerade noch aus dem Treppenfenster sehen, wie Georgia mit ihren Freundinnen auf der anderen Seite des Hofes ins Schulgebäude ging. An der Tür blieb sie noch einmal stehen und blickte sich suchend um, doch sie schien nicht zu bemerken, daß er ihr zuwinkte. Dafür verbrachten sie die ganze nächste Pause miteinander, und Pinky registrierte befriedigt die neidischen Blicke der an deren Jungen. Er hätte sich noch viel wohler gefühlt, wenn er Georgia mehr als ein paar Trostworte und Versprechungen hätte geben können. Hoffentlich blieben es nicht leere Verspre chungen. Georgia schien nicht mehr so fest von seinen Fähig keiten als Detektiv überzeugt zu sein wie am Morgen. Gleich nach dem Mittagessen wollte Pinky sich verdünnisie ren; der Skunk erwischte ihn, als er gerade zur Tür hinaus schlich, und zog ihn am Ohr wieder in die Wohnung zurück. Pinky wurde abkommandiert, alle Zimmer zu scheuern. Wenn Monster ihm nicht geholfen hätte, wäre er bis zum Abend da mit beschäftigt gewesen. Die Prinzessin zog einen Flunsch, als Pinky sie um Hilfe bat, und ließ ihn stehen. „Brauchst dich nicht zu wundern“, sagte Monster, „so wie du dich heute auf dem Schulhof mit Miß Georgia gespreizt hast. War doch schon peinlich.“ * Kurz nach drei Uhr traf Pinky endlich im Präsidium ein, und er
hatte Glück, Captain Henderson war nicht nur da, er hatte so
gar Zeit für Pinky und hörte sich die Geschichte geduldig an.
„Und was soll ich nun tun?“ fragte er, als Pinky zu Ende war.
„Ich möchte mit Prescott sprechen.“
„Unmöglich. Ja, wenn er hier bei uns säße, aber so ...“ Hen derson schüttelte den Kopf. „Können Sie ihn nicht ins Präsidium bringen lassen? Sie sind doch der Chef.“ „Auch ein Chef muß Rücksicht auf seine Leute nehmen“, er klärte Henderson. „Das hier ist der Fall von Lieutenant Baxter, und der würde sich ganz schön querlegen, wenn ich ihm den ab nehmen wollte. Ich wüßte auch gar nicht, wie ich das begrün den sollte, es ist schließlich kein Kapitalverbrechen. Und jeder Polizist ist scharf auf Fälle, die sich so schnell aufklären lassen, das macht sich gut in der Erfolgsbilanz.“ „Können Sie nicht wenigstens mal anrufen?“ bat Pinky. „Ich würde zu gern wissen, warum die vom Revier so sicher sind, daß Bill Prescott der Blumendieb ist. Ich kann es nicht glauben. Vielleicht haben die einfach den ersten besten Farbigen festge nommen.“ „Das ist nicht ausgeschlossen“, gab Henderson zu, „aber selbst dann müßte man es beweisen können.“ „Und wenn Sie ins Revier fahren und sich mal umsehen?“ schlug Pinky vor. „Sag mal, warum verbeißt du dich eigentlich so in diesen Fall?“ fragte Henderson. „Ja, wenn es um einen Elefanten ginge, aber Prescott kann dir doch nicht mal einen Coyoten spendieren. Nenne mir einen triftigen Grund, warum ich mich für diesen Blumendieb einsetzen soll.“ „Weil er unschuldig ist.“ „Da hätte ich viel zu tun, wenn ich mich um alle zu Unrecht Beschuldigten selbst kümmern wollte. Dafür ist das Gericht da. Wenn er nicht schuldig ist, wird er auch nicht verurteilt.“ „Sind Sie ganz sicher?“ Pinky blickte Henderson in die Augen. Der Captain antwortete nicht, und er hielt Pinkys Blick auch nicht lange stand.
„Also warum?“ fragte er noch einmal. Pinky überlegte, wie er es Henderson am einfachsten erklä ren konnte. Er brauchte zwei Anläufe, bis er auf die einfachste Lösung kam und dem Captain beschrieb, wie Georgia aussah. Peinlich war nur, daß er dabei rot wurde. „Das ist ein überzeugender Grund.“ Henderson lachte und stand auf. „Da bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mal Lieutenant Baxter guten Tag zu sagen. Aber du bleibst hier. Draußen.“ Bevor Henderson in seinen Wagen stieg, winkte er Pinky noch einmal zu sich. „Und was ist mit der Prinzessin?“ fragte er. „Ich denke, die ist deine Freundin?“ Pinky druckste einen Augenblick herum. „Ja, das ist sie“, er klärte er, „aber doch mehr wie 'ne Schwester. Georgia aber...“ er suchte nach den richtigen Worten, „Georgia ist einfach eine Klasse für sich!“ „Achte Klasse, wenn ich mich recht erinnere“, spottete Hen derson und stieg in seinen Wagen. Als er zurückkam, schüttelte er mißmutig seinen Kopf. Er nahm Pinky mit in sein Büro. „Es sieht gar nicht gut aus für deinen künftigen Schwiegerva ter“, sagte er. „Ich schätze, du hast da den falschen Klienten; der braucht keinen Detektiv, sondern einen guten Strafverteidi ger. An sich ist es ja nur ein Bagatellfall, doch es gibt ein paar Umstände, die die Sache kompliziert machen.“ „Weil er vorbestraft ist?“ „Das auch. Aber die Rosen im Stadtpark sind von Miß Pen dergast gespendet worden. Ich nehme an, die ist dir ein Be griff?“ Pinky nickte. Und ob er diese alte Jungfer kannte, die auf al len Kinderfesten und Wohltätigkeitsveranstaltungen mit ihren altmodischen Blumenhüten herumlief und jedem Kind unter das Kinn griff, mit weißen Handschuhen, versteht sich, und jeden fragte, ob man auch immer schön brav sei, und einem dann ein 10-Cent-Stück in die Hand drückte, als verschenke sie ge rade 100-Dollar-Scheine. Pinky zog eine Grimasse, um Hender son anzudeuten, was er von Miß Pendergast hielt.
„Ich kann die alte Schachtel auch nicht ausstehen“, sagte der Captain, „aber sie ist eine Verwandte des Bürgermeisters, viel mehr, und das ist schlimmer, eine Verwandte seiner Frau. Und seit die Rosen gestohlen werden, jammert sie der Frau Bürger meister die Ohren voll und die ihrem Mann und der dem zu ständigen Revierchef, und das ist Lieutenant Baxter. Der ist heilfroh, wenn die Sache endlich erledigt ist.“ Pinky wollte etwas sagen, Henderson schnitt ihm das Wort mit einer energischen Handbewegung ab. „Zweitens: Es gibt einen Zeugen, wie man ihn sich besser nicht wünschen kann: Mister Scroogers, der Bürovorsteher des Bürgermeisters. Mister Scroogers hat heute früh, als er in die Stadt kam, gesehen, wie der Blumendieb seine Rosensträuße auf der Straße anbot. Er hat sich sogar für sechzig Cent einen Strauß gekauft, weil er sich den Mann ganz genau ansehen wollte; er wußte ja, wie sehr sein Chef daran interessiert war, daß der Blumendieb endlich gefaßt wurde.“ „Warum hat er ihn dann nicht gleich mitgenommen?“ „Dazu hatte er kein Recht“, sagte Henderson, „er ist schließ lich kein Polizist. Aber ich denke, er hatte vor allem keine Lust, sich mit einem Neger einzulassen. Ich kenne Scroogers, er hält nichts von Farbigen. Ungefähr eine Stunde später hat er dann den Mann unten auf dem Markt sitzen sehen und auf dem Re vier angerufen.“ Henderson sah Pinky an. „Scroogers selbst hat Prescott identifiziert, und er ist bereit, vor Gericht zu schwören, daß er der Blumenverkäufer ist.“ „Warum hat er nicht gleich auf dem Revier angerufen?“ fragte Pinky. Henderson ging nicht darauf ein. „Drittens“, sagte er, „du weißt sicher, daß Prescott vor Jahren eine Schlägerei mit einem Polizisten hatte und wegen Körper verletzung und tätlichem Angriff auf einen Polizeibeamten ver urteilt wurde?“ Pinky nickte. „Prescott hat sich auch dieses Mal der Festnahme wider setzt ...“ „Kunststück“, warf Pinky ein, „wo er doch unschuldig ist.“ „Und dabei“, fuhr Henderson fort, „hat er einem der Polizi
sten einen Kinnhaken versetzt, daß der k. o. ging. Der Blumen diebstahl wäre nicht schlimm gewesen, dafür hätte er nur eine Geldstrafe bekommen oder ein paar Wochen einsitzen müssen, doch jetzt ist es, wenn er einen harten Richter bekommt, Wider stand gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung im Wieder holungsfall, und das bringt ihm ein bis zwei Jahre.“ Pinky schlug wütend mit der Faust auf den Tisch. „Viertens“, sagte Henderson, „und das ist das allerschlimm ste: Der Polizist, den Prescott damals verprügelte, ist niemand anderes als Lieutenant Baxter, nur daß der damals noch Ser geant war.“ Pinky stöhnte auf. „Dann ist alles verloren“, sagte er. „Das fürchte ich auch. Auf jeden Fall ist im Moment nichts zu machen. Dir bleibt nichts, als deine Georgia in den Arm zu neh men und zu trösten.“ „Das ist nicht meine Georgia“, sagte Pinky leise, „leider.“ Dann saß er still da und starrte auf den Schreibtisch. Hender son störte ihn nicht. Der Captain blätterte in irgendwelchen Akten. „Ich glaube es trotzdem nicht“, sagte Pinky nach einer Weile. „Haben Sie mit Prescott gesprochen? Was sagt er?“ „Was soll er schon sagen? Daß er unschuldig ist, natürlich. Er will die ganze Zeit auf dem Geländer vor dem ,Fulton-Hotel' ge sessen haben, nur als es regnete, hätte er sich untergestellt, doch dafür kann er natürlich keinen Zeugen bringen.“ „Wissen Sie, was Prescott bei sich hatte, als man ihn verhaf tete?“ Henderson wußte es nicht. Pinky bat ihn, auf dem Revier an zurufen und sich zu erkundigen. Der Captain runzelte die Stirn, dann griff er aber doch zum Telefon. Er schrieb mit, was der Be amte am anderen Ende der Leitung ihm durchsagte, und schob Pinky den Zettel hin. Pinky studierte ihn sorgfältig. „Kein Mes ser und keine Schere“, sagte er. „Wie hat Prescott die Rosen ei gentlich abgeschnitten?“ „Das ist kein Beweis“, erwiderte der Captain, „er kann sein Messer versteckt haben.“
„Sagten Sie nicht vorhin, Scroogers habe sechzig Cent für seinen Blumenstrauß bezahlt?“ „So hat es Mister Scroogers zu Protokoll gegeben.“ „Und wie viele Sträuße hat der Dieb heute verkauft?“ „Mindestens drei. Einen hat Mister Scroogers gekauft, aber er hat vorher gesehen, daß der Dieb noch zwei andere ver kaufte.“ Pinky zeigte auf Hendersons Notizzettel. „Dann frage ich mich, warum Bill Prescott kein Kleingeld bei sich hatte, als er verhaftet wurde. Sehen Sie hier: ein 10-Dollar-Schein und vier Münzen zu fünf Cent. Wenn Prescott die Rosen verkauft hätte, müßte er doch Kleingeld bei sich haben.“ „Er kann das Kleingeld als Wechselgeld herausgegeben ha ben“, sagte Henderson. Er nahm sich den Zettel. „Nein, das geht auch nicht auf. Er wird es ausgegeben haben, bevor man ihn verhaftete.“ „Wo und wann? Prescott ist um acht Uhr verhaftet worden, da hat noch kein Geschäft und keine Gaststätte geöffnet, nicht ein mal ein Kiosk, außer dem Zeitungsstand. Glauben Sie, daß Prescott zwei Dollar für Zeitungen ausgibt?“ Henderson sah Pinky nachdenklich an. „Du meinst, Mister Scroogers hat falsch ausgesagt? Warum sollte er?“ „Um seinem Chef einen Gefallen zu tun, zum Beispiel. Aber ich denke, er hat sich nur geirrt und Bill Prescott mit dem wirk lichen Dieb verwechselt. Für einen Mann wie Scroogers sieht ein Neger wie der andere aus, der betrachtet doch alle nur als ,dreckige Nigger', oder?“ „Du könntest recht haben“, sagte Henderson. „Um so weniger wird er bereit sein, zuzugeben, daß er sich geirrt hat.“ Pinky raufte sich die Haare. „Das ist doch zum Verrücktwer den!“ rief er. „Als ob sich alles gegen Bill Prescott verschworen hätte! Da muß doch noch was zu machen sein!“ „Heute abend ist beim Bürgermeister eine Besprechung mit den Abgeordneten der Stadt“, sagte Henderson, „da sehe ich Mister Scroogers. Ich werde ihm mal vorsichtig auf den Zahn fühlen.“
„Sie glauben auch nicht, daß Bill Prescott der Blumendieb ist, nicht wahr?“ „Das mit dem Geld macht mich mißtrauisch“, gestand Hen derson. „Man müßte den richtigen Blumendieb erwischen oder wenigstens einen Zeugen, der ihn gesehen hat und schwört, daß es nicht Prescott gewesen ist.“ „Und wenn morgen wieder Rosen gestohlen werden, wäre das ein Beweis?“ „Untersteh dich!“ rief Henderson. „Das würde auch gar nichts nützen. Nicht, solange Mister Scroogers an seiner Aussage fest hält. Schließlich können mehr als einer auf die Idee kommen, Blumen zu stehlen. Mach ja keinen Quatsch. Versprichst du mir das?“ Selbst Pinkys Ohren waren rot geworden. Er hob zwei Finger zum Schwur. „Großes Ehrenwort.“ „Georgia muß wirklich ein bemerkenswertes Mädchen sein“, meinte Henderson. „Ich werde sie mir morgen mal ansehen.“ Pinky sah sie zehn Minuten später. Georgia stand vor ihrer Haustür und unterhielt sich mit Big Moonshine. Als sie Pinky erblickte, kam sie ihm ein paar Schritte entgegen, doch als er mißmutig den Kopf schüttelte, drehte sie sich schnell wieder um. Kurz darauf schwang sie sich auf den Soziussitz von Big Moonshines Motorrad und brauste mit ihm davon. Dann nicht, liebe Tante, dachte Pinky. Er war wütend und wollte nach Hause gehen, doch dann fiel ihm ein, daß Mammy Lu und Joshua auf ihn warteten. Schweren Herzens ging er hinauf. Weiß Gott, er war nicht der richtige Bote für schlechte Nachrichten. Mammy Lu seufzte schwer, als sie alles erfahren hatte. „Wir haben eben kein Glück“, jammerte sie, „Leute wie wir haben nie Glück.“ „Der Rechtsanwalt wird Bill helfen“, sagte Joshua, „ganz be stimmt. Das ist ein guter Mann.“ „Aber ein Neger!“ Mammy Lu schüttelte den Kopf. „Wir brauchten einen weißen Rechtsanwalt. Doch woher soll ich das Geld nehmen?“
„Das siehst du falsch, Mammy Lu. Anwalt ist Anwalt. Morgen früh spricht er mit Bill, und dann sehen wir weiter.“ „Wenn der Lieutenant ihn überhaupt zu Bill läßt. Nein, daß es aber auch derselbe Mann sein muß, mit dem Bill sich damals geprügelt hat! Es gibt so viele Polizisten, und ausgerechnet...“ Sie fing wieder an zu weinen. Pinky schlich sich hinaus, wäh rend Joshua versuchte, Mammy Lu zu beruhigen. * Baxter ließ den Anwalt zu Bill. Der Lieutenant benahm sich ab solut korrekt, fast schien es, als habe er vergessen, daß er Bill Prescott schon einmal begegnet war. „Ich denke, er will einen schnellen Prozeß“, sagte Rechtsan walt Wrangler, als Mammy Lu, Pinky und Joshua ihn am näch sten Nachmittag aufsuchten. „Das heißt, er kann keine Kompli kationen gebrauchen. Und es sieht so aus, als würde Bill schnell vor den Richter kommen. Und wohl auch verurteilt werden. Ich mache mir da keine Illusionen.“ „Was hat Bill Prescott Ihnen gesagt?“ erkundigte sich Pinky. „Er kann doch unmöglich allein auf dem Markt gewesen sein. Jemand muß ihn gesehen haben.“ „Du vergißt den Regen“, sagte Wrangler. „Es war ein richtiger Guß, alle haben sich untergestellt. Bill Prescott war schon sehr früh auf dem Markt. Die einzigen Leute, die er gesehen hat, sind die beiden von der Reklameagentur und der Mann im Zei tungskiosk. Der Zeitungsverkäufer kann sich nicht an Prescott erinnern, und die beiden anderen kann ich unmöglich als Zeu gen vor Gericht laden lassen, am Ende sagen sie auch noch aus, daß Prescott der Blumenverkäufer gewesen ist, du hast doch selbst erzählt, wie sauer sie auf den waren.“ „Auf den Regen“, korrigierte Pinky, „den Mann mit den Ro sen haben sie ja rechtzeitig verscheucht. Das heißt, daß minde stens Mister Sonnenbrille ihn gesehen hat. Wollen Sie ihn nicht doch mal befragen?“ Der Rechtsanwalt machte nicht gerade ein glückliches Ge sicht. „Es ist ein zu großes Risiko. Was, wenn Bill Prescott und der Blumendieb sich sehr ähnlich sehen? Wenn diese' Mann
mir sagt, daß er Prescott wiedererkennt, kann ich das vor Ge richt nicht verschweigen, und dann ist alles aus. Mister Scroo gers ist zwar ein einflußreicher Mann, aber auch der einzige Zeuge. Ich will versuchen, daß er vor Gericht unsicher wird, dann haben wir eine Chance.“ „Und wenn ich die Werbefritzen mal frage? Ich muß doch nicht vor Gericht die Wahrheit sagen.“ „Versuch es. Aber nur du allein.“ Wrangler wandte sich an Joshua und Mammy Lu. „Sie beide werden wohl vor Gericht aussagen müssen, und da ist es besser, Sie wissen von nichts.“ Die Werbefritzen drehten irgendwo außerhalb der Stadt. Pinky lief zum Präsidium, um mit Henderson zu sprechen. Er mußte lange warten, und dann hatte der Captain nicht einmal gute Nachricht für ihn. „Ich habe gestern abend mit Mister Scroogers gesprochen“, sagte er, „er ist fest überzeugt, daß er Bill Prescott nicht ver wechselt hat. Der wird sich auch vor Gericht nicht unsicher ma chen lassen. Er wird es beschwören, und das reicht, um deinen Schwiegervater zu verurteilen.“ „Sagen Sie doch nicht immer Schwiegervater“, beschwerte sich Pinky. „Was, schon vorbei mit der großen Liebe?“ „Ach, diese eingebildete Pute!“ schimpfte Pinky. „Also ist der Fall für dich erledigt?“ „Das nun wieder nicht. Prescott ist doch unschuldig, und was soll aus der Familie werden, wenn er in den Knast wandert?“ Henderson zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe Ihnen doch erzählt, daß auf dem Markt gefilmt wurde. Ich möchte mit den beiden Männern sprechen. Kommen Sie mit? Ich fürchte, mir allein werden sie keine Auskunft geben.“ Henderson lachte. „Seit dem Rummel schwörst du wohl auf fotografische Beweise, was?“ „Sie haben den Blumenverkäufer leider nicht aufgenommen, aber sie haben ihn weggejagt; also müßten sie ihn beschreiben können.“
„Dann sollte Prescotts Verteidiger mit ihnen sprechen. Der glaubt wohl nicht an die Unschuld seines Mandanten?“ Pinky mußte nicht erst viel erklären; Henderson verstand gleich, warum Wrangler nicht mit den Leuten von der Werbe agentur sprechen wollte. „Ja, er würde seine Anwaltslizenz riskieren, wenn er eine Aussage unterschlägt“, sagte er. „Wir beide “, meinte Pinky, „wir riskieren doch nichts. Wir müssen ja nicht zu dem Prozeß gehen und also auch nicht unter Eid aussagen, wenn es schiefgeht.“ „Du vergißt, daß ich Polizeibeamter bin. Ich kann nicht Be weismaterial unterdrücken. Dafür gibt es einen Paragraphen im Strafgesetzbuch.“ „Okay, geh ich eben allein!“ „Warte mal.“ Henderson überlegte einen Augenblick. „Ich könnte aber mitkommen und die beiden bitten, dir alles zu sa gen. Ich muß ja nicht zuhören, wenn ihr euch unterhaltet.“ „Danke schön!“ rief Pinky. „Sie sind wirklich ein Freund.“ Henderson rief bei der Werbeagentur an. Die beiden Mitar beiter waren noch unterwegs. Sie wollten gegen sechs Uhr zu rück sein. Der Captain bat, daß sie auf ihn warten sollten. „So, nun aber raus mit dir“, befahl er. „Ich habe noch anderes zu tun, als deine Fälle zu lösen.“ „Dafür helf ich Ihnen dann auch mal wieder.“ Pinky machte, daß er hinauskam. Der dicke Radiergummi knallte hinter ihm an die Tür. Pinky lief ziellos durch die Stadt. Er hatte zu nichts Lust. Schließlich ging er zum Rathaus. Er wollte sich diesen Scroo gers mal aus der Nähe ansehen. Er erkundigte sich bei dem Pförtner nach Scroogers Auto, angeblich, weil er den Auftrag habe, es zu putzen. Der Pförtner zeigte auf einen dunkelblauen „Lincoln“. Pinky setzte sich direkt vor das Auto in den Rinn stein, damit Scroogers ihm nicht entwischen konnte. Der „Lin coln“ könnte wirklich mal wieder geputzt werden, dachte er, und die Stoßstange könnte auch ausgeheult werden. Scroogers kam pünktlich um fünf aus dem Rathaus. Pinky
hatte einen älteren Mann mit verbissenem Gesicht erwartet, doch Scroogers war höchstens Mitte Dreißig und glich eher einem Filmschauspieler als einem Bürovorsteher. Er trug auch keine dicke Aktentasche unter dem Arm, sondern Tennisschlä ger, und er pfiff leise einen Schlager vor sich hin. Mit dem Mann sollte nicht zu sprechen sein? Pinky wartete, bis Scroo gers das Auto aufgeschlossen hatte, bevor er ihn ansprach. „Verzeihen Sie, Mister Scroogers, haben Sie ein paar Minu ten Zeit für mich?“ Scroogers musterte ihn belustigt. „Kommt darauf an. Worum geht's denn?“ „Um einen Freund von mir, der in Schwierigkeiten ist. Bill Prescott.“ Der Name schien Scroogers nichts zu sagen. „Der Mann mit den Rosen, den Sie gestern ...“ Weiter kam Pinky nicht. Scroogers riß die Tür auf, und wenn Pinky nicht zur Seite gesprungen wäre, hätte er sie vor den Bauch bekommen. „So, du bist 'n Niggerfreund? Geh zur Polizei, wenn du was willst.“ Scroogers knallte die Tür zu und startete. Nein, mit dem war wirklich nicht zu reden. * Die beiden von der Werbeagentur zeigten sich nicht gerade be geistert, als Pinky und Henderson auftauchten, aber sie waren schon erleichtert, als der Captain sie nicht offiziell befragte, sondern nur bat, „seinem Schützling“ ein paar Fragen zu beant worten. Wahrscheinlich hatten sie befürchtet, in einen Krimi nalfall verwickelt zu werden. „Könnten Sie den Mann beschreiben, der gestern früh die Ro sen verkauft hat?“ fragte Pinky Mister Sonnenbrille. „Sie haben ihn doch weggejagt.“ „Etwa sechzig, klein, mickrig.“ Pinky dribbelte mit den Fingern vor Aufregung. Prescott war Mitte Dreißig und groß und breitschultrig. „Ich kann ihn dir sogar im Bild zeigen“, sagte der Kamera mann. „Dieses Spatzengehirn ist doch nicht mal in der Lage,
einen Mann aus dem Bild zu jagen. Auf der ersten Aufnahme treibt er sich immer noch im Hintergrund herum.“ Pinky riß die Tür zum Flur auf und rief Henderson herein. „Sie haben ihn sogar auf dem Film!“ „Dann müssen Sie uns den Film gleich mal vorführen“, for derte Henderson. „Ab jetzt ist dies eine offizielle Amtshand lung. Der Film ist wichtiges Beweismaterial.“ Mister Sonnenbrille warf dem Kameramann einen wütenden Blick zu. „Mach schnell“, sagte der, „dann kommst du auch schnell zu deinem Abendbrot. Obwohl es nicht schaden würde, wenn du mal einen Abend fastest, du bist entschieden zu fett.“ Pinky rutschte unruhig auf dem Sitz im Vorführraum hin und her. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis der Film end lich eingelegt war, und dann war es auch noch der falsche! Mi ster Sonnenbrille hatte die zweite Aufnahme erwischt, in die die Polizei mit der Verhaftung Prescotts hineinplatzte. „Dauert ja nur zwei Minuten“, sagte der Kameramann. „Ist das ein Licht!“ Er sah wütend zu Henderson herüber. „Daß Ihre Leute mir die Aufnahme versaut haben, vergesse ich Ihnen nie!“ Pinky konnte seine Wut gut verstehen. Es war wirklich eine wunderbare Stimmung. Der Markt schien wie verzaubert, die Sonne spiegelte sich in den Fenstern und auf dem nassen As phalt und glitzerte im Lack der parkenden Autos. Die erste Auf nahme war nicht halb so schön. Und der Blumendieb kaum zu erkennen, er tauchte nur kurz im Hintergrund auf. Henderson fragte, ob man den Mann herausvergrößern könne. Der Kame ramann versprach, daß man ihn auf dem Bild bestimmt identifi zieren könnte. Pinky saß versunken da. „Du freust dich ja gar nicht“, sagte Henderson. „Doch. Ich frage mich nur, wie Scroogers diesen Mann mit Bill Prescott verwechseln konnte.“ „Ja, das wundert mich auch.“ „So blind kann einer doch gar nicht sein“, meinte Pinky. „Blind vor Haß auf alles, was schwarze Haut hat“, sagte Hen derson, „das gibt es.“
„Ich glaube ja, daß er ein Rassist ist, aber den Eindruck eines blindwütigen Fanatikers macht er nun doch nicht. Wenn da mal nicht etwas anderes dahintersteckt!“ „Was denn schon?“ Henderson schüttelte den Kopf. „Du siehst jetzt wohl schon überall Krimis, was?“ „Vielleicht war Bill ihm im Wege.“ „Nu mach mal 'n Punkt. Wie kann ein Bill Prescott dem Büro vorsteher des Bürgermeisters im Wege sein?“ Pinky gab noch nicht auf. „Vielleicht hat Bill gestern früh et was gesehen, was er nicht sehen sollte“, meinte er. „Er war der' einzige Mensch auf dem Markt.“ „Du darfst uns nicht vergessen“, sagte der Kameramann. Pinky überlegte. „Und als es regnete? Wo waren Sie da?“ „Wir haben eine Plane über die Kamera gehängt und uns in unseren Wagen gesetzt.“ „Das heißt, Sie waren von der Bildfläche verschwunden. Bill hat sich unter den Baldachin des „Fulton-Hotels“ gestellt. Er hat gesehen, wie Scroogers ankam, und Scroogers hat ihn gese hen.“ „Stop“, sagte Henderson. „Mister Scroogers ist um sieben ge kommen. Vor dem Regen.“ „Haben Sie ihn kommen sehen?“ fragte Pinky den Kamera mann. „Ein dunkelblauer .Lincoln'.“ Der Kameramann schüttelte den Kopf. „Aber ich war viel leicht gerade mit der Kamera beschäftigt. Und du, Dicker?“ „Du sagst doch immer, ich sehe nie was“, antwortete Mister Sonnenbrille gehässig. „Irgend etwas ist da oberfaul“, meinte Pinky. „Kannst ja Mister Scroogers fragen“, spottete Henderson. Der Captain stand auf und reckte sich. Pinky wandte sich an den Kameramann. „Können wir den zweiten Streifen noch einmal sehen?“ „Ich muß jetzt weg“, sagte Mister Sonnenbrille böse. „Und ich werde mich von niemandem aufhalten lassen. Von nieman dem!“ „Geh nur“, sagte der Kameramann, „ich mach das schon.“ Of
fensichtlich fand er Spaß an Pinkys Hartnäckigkeit, aber viel leicht wollte er sich auch nur noch einmal an seiner Aufnahme ergötzen. Während er den Film zurückspulte, ließ er sich erklä ren, worum es eigentlich ging. Dann ließ er den Streifen so langsam wie möglich durch den Projektor laufen. Es sah mäch tig komisch aus, wie die Leute sich im Schneckentempo vor wärtsquälten, während die Kamera über den Markt schwenkte und die Sonne einfing. „Stop!“ schrie Pinky. „Noch einmal“, forderte er. Henderson ließ sich mit einem tiefen Seufzer in einen Sessel fallen. „Das ist aber das letzte Mal“, sagte er, „so schön finde ich nämlich unseren Markt nicht mal bei Sonnenschein.“ „Wann will Scroogers gekommen sein?“ fragte Pinky aufge regt. „Um sieben. Kurz vor dem Regen.“ „Und das stimmt nicht! Passen Sie auf, wenn Scroogers ,Lin coln' ins Bild kommt: unter allen anderen Autos ist der Asphalt trocken, unter seinem nicht. Das heißt, der ,Lincoln' hat noch nicht dagestanden, als es regnete. Und Bill hat gesehen, wann er kam. Deshalb mußte er verschwinden.“ Henderson sagte keinen Ton, bis der Filmstreifen noch ein mal über die Leinwand geflimmert war, dann erhob er sich mit verbissenem Gesicht. „Ich glaube, ich weiß, warum Mister Scroogers so großen Wert darauf legt, daß er schon um sieben Uhr im Rathaus gewe sen sein will und warum er keinen Zeugen gebrauchen kann, der das Gegenteil aussagen könnte. Um Viertel acht hat es einen Verkehrsunfall gegeben. Ein Wagen hat ein Motorrad ge streift. Der Motorradfahrer ist tot, der Autofahrer geflüchtet.“ „Und Scroogers' Stoßstange ist an der Seite verbeult!“ schrie Pinky. ^ Pinky war der Held des Tages. Er bekam den Ehrenplatz an der Stirnseite der langen Tafel zwischen Mammy Lu und Bill Pres cott. Die Prescotts hatten das große Zimmer ausgeräumt und sich von den Nachbarn einen Ausziehtisch geborgt, trotzdem
war es knackend voll, einer drängte sich neben dem anderen. Joshua hatte seine Frau und seine Kinder mitgebracht, Mammy Lus Schwestern aus der Südstadt waren mit der gan zen Familie angerückt, und ein Haufen Nachbarn wollten Bill Prescotts Heimkehr feiern. Und jeder hatte etwas mitgebracht, Pinky hätte sich nicht gewundert, wenn die Tafel unter der Last der Schüsseln und Schalen zusammengebrochen wäre: Hühnersalat und Krebssalat, Reissalat und Gurkensalat, geräu cherter Seebarsch und Tintenfisch, Schinkenröllchen, Oliven, Tomaten und Auberginen, Orangen, Ananas und Mango, Streu selkuchen und Apfelkuchen, Mandelhörnchen und Nußtört chen, Nougatbrocken und eine riesige Schokoladentorte, und das waren nur die Vor- und Nachspeisen. Als Hauptgerichte gab es Spargelsuppe, Brei aus Süßkartoffeln und türkischem Honig, Schweinebraten mit Kartoffelbällchen, gefüllte Papayas . und mexikanische Steaks, danach sollte noch Semmelpudding serviert werden. Selbst Monster wäre hier überfordert gewesen. Pinky ärgerte sich, daß er Monster und die Prinzessin nicht mitgebracht hatte, kein Zweifel, sie wären herzlich willkommen gewesen. Doch er hatte nicht an ein solche s Gelage gedacht, als Georgia ihn zum Mittagessen einlud. Georgia half beim Aufti schen, und jedesmal, wenn sie Pinky einen neuen Teller vor setzte oder ihm eine Schüssel hinhielt, lächelte sie ihn an, daß er rot wurde. Bei der Begrüßung hatte sie ihn umarmt und ge küßt und ihm ins Ohr geflüstert, daß er der größte Detektiv al ler Zeiten sei. „Das ist ja prächtiger als unsere Hochzeitsfeier“, meinte Bill Prescott, „aber ich muß auch gestehen, daß ich heute ebenso glücklich bin wie damals.“ Dabei sah er recht grau unter der braunen Haut aus und saß mit hängenden Schultern und eingezogener Brust da. Lieute nant Baxter hatte es sich nicht verkneifen können, ihm zum Abschied den Ellenbogen in die Leber zu stoßen und mit der Handkante auf die Nieren zu schlagen, ein alter Bullentrick: es tat entsetzlich weh, hinterließ aber keine Spuren, so daß der Mißhandelte sich nicht einmal beschweren konnte.
Joshua hob das Glas. „Auf deine Freiheit, Bill!“ Pinky mußte mit allen links und rechts anstoßen. Er hatte sich vergeblich ge sträubt, er mußte zur Feier des Tages Wein trinken, und er hatte noch weniger Chancen, sich jetzt zu drücken, als man ihn aufforderte, ganz genau zu berichten, wie es ihm gelungen war, Bill Prescott aus der schier aussichtslosen Lage zu befreien. „Und ich hatte nicht geglaubt, daß du so ein helles Bürsch chen bist“, gestand Mammy Lu. Sie drückte ihn an die Brust und knutschte ihn ungeniert vor allen Gästen ab. „Schade, daß wir dich nicht belohnen können, wie es einem Meisterdetektiv zukommt.“ „Ach“, sagte Pinky, „wenn ich ab und zu mal vorbeikommen darf — Sie kochen so gut!“ „Sooft du willst“, sagte Mammy Lu, „von heut an gehörst du zu unserer Familie.“ „Das ist eine gute Idee, Mammy!“ rief Bill Prescott. Er legte Pinky die Hand auf die Schulter. „Willst du ganz zu uns kom men? Raus aus dem Waisenhaus? Wir nehmen dich als unseren Sohn an. Was meinst du, Mammy Lu?“ Pinky saß ganz steif da. Er kämpfte mit seinen Tränen. Wie der eine Familie haben. Und eine so herzliche und vergnügte dazu! „Sag schon ja“, forderte Mammy Lu. Es war mucksmäus chenstill an der Tafel. Alle blickten ihn an. „Ist es, weil du ein Weißer bist?“ fragte Bill Prescott. Pinky sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Ich könnte mir keine bessere Familie wünschen“, sagte er, „aber es kann nicht gut gehen. Selbst wenn ich ein halber India ner bin, wie mein Freund Monster behauptet, ich seh aus wie ein Weißer. Man würde über euch herfallen, wenn ihr mich auf nehmt, und nicht nur die weißen Rassisten. Solche Leute wie Scroogers gibt es doch auch bei den Farbigen. ,Trau keinem Weißen', ist das nicht das meistgebrauchte Wort bei euch? Ihr wärt bald bei Schwarz und Weiß unten durch, und...“, er konnte die Tränen nicht länger unterdrücken, er holte sein Ta schentuch heraus und schneuzte sich. „Aber ich danke euch. Das war das schönste Geschenk.“
„Ja, Haß erzeugt wieder Haß“, sagte Bill Prescott, „und es gibt nicht wenige von uns, die einen Weißen ve rächtlich finden, nur weil er weiße Haut hat; ist das ein Wunder bei all dem Unrecht? Du hast wohl leider recht, trotzdem, du sollst auch so zu unse rer Familie gehören.“ Er breitete die Arme aus. „Okay, mein Sohn?“ „Okay, Daddy“, sagte Pinky, Bill Prescott drückte ihn mit sei nen mächtigen Händen an sich. „Ich hätte dir so gerne eine Freude gemacht“, sagte er. „Gibt es denn keinen Wunsch, den wir dir erfüllen können?“ Pinky druckste eine Weile herum. Mammy Lu legte den Arm um seine Schulter. „Nun sag's schon!“ „Vielleicht könnt ihr an meiner Stelle meinen Freund zu euch nehmen“, sagte Pinky. „Er ist ein prima Kerl, und er müßte weg von Potter. Der Skunk kann ihn nicht leiden, schon weil er ein Mischling ist.“ „Bring ihn morgen her, damit wir ihn uns mal ansehen“, sagte Bill Prescott. „Und nun genug der rührseligen Szenen. Wir wollen lustig sein. Wer stimmt ein Lied an?“ Es wurde schon dunkel, als Pinky das Haus verließ, drei große Tragetaschen voller Leckerbissen in den Händen. Vor der Haustür stand Big Moonshine. Er pfiff und winkte Pinky zu. „Komm mal her, Kleiner.“ Pinky blickte sich schnell um und berechnete seine Chancen, Big Moonshine zu entkommen. „Ich reiß dir schon nicht die Ohren ab.“ Big Moonshine lachte. „Denkst du etwa, ich wäre eifersüchtig auf so eine halbe Por tion?“ Wenn du wüßtest, wie Georgia mich zum Abschied gedrückt hat, dachte Pinky, würdest du schon eifersüchtig sein. „Ich wollt dir nur sagen, wenn du mal Hilfe brauchst, auf mich kannst du rechnen.“ Big Moonshine hielt ihm die Hand hin. „Zu jeder Zeit und gegen jedermann.“ Pinky stellte die Tüten ab und schlug begeistert ein. „Läßt du mich auch mal auf deinem Feuerstuhl reiten?“
„Bis ans Ende der Welt“, sagte Big Moonshine. „Steig auf.“ Pinky stellte die Beutel hinter der Kellertür des Potterhauses ab, dann brausten sie zur Stadt hinaus, die Autobahn entlang und auf der Landstraße wieder zurück. Der Fahrtwind pfiff ihm in die Ohren, und ein Vollmond schien vom wolkenlosen Him mel, er kam sich vor wie der Geisterreiter aus „Arizona-Bill“, der des Nachts über die Prärie jagt, um die hinterhältigen und wortbrüchigen Bleichgesichter für ihre Untaten zu bestrafen. Beim großen Manitu, dachte er, ist das ein Tag! Monster war noch wach Und er war so aufgeregt, daß er nicht einmal über die Beutel herfiel. „Mann, du hast was ver säumt!“ sagte er. „Du hättest sehen sollen, wie die Stinktiere blau wurden. Gerade, als wir beim Abendbrot saßen. Bei Pot ters Schnurrbart fing es an. Die Kleinen haben Mund und Oh ren aufgerissen vor Entsetzen. Und dann die Potters erst!“ „Das hatte ich doch total vergessen“, sagte Pinky. „Wo sind sie jetzt, schlaf en sie schon?“ „Keine Ahnung. Ein Krankenwagen hat sie abgeholt. Ich glaube, wir haben zuviel von dem Zeug in die Flasche getan, sie sind abwechselnd aufs Klo gerannt und haben ganz blau gepin kelt.“ Monster machte einen Beutel auf und fischte sich ein Stück Kuchen heraus. „Irgendwie haben sie mir leid getan. Aber ich konnte ja nicht sagen, daß es ganz harmlos ist. Hof fentlich.“ Er blickte Pinky nachdenklich an. „Ob wir es ihnen auch nicht zu böse heimgezahlt haben? Wenn es auch Stink tiere sind, sie haben uns schließlich bei sich aufgenommen.“ „Dafür bekommen sie Geld von der Stadt“, sagte Pinky, „und müssen nicht in 'ner Fabrik arbeiten.“ „Trotzdem. Ich kann doch heilfroh sein, daß ich nicht in 'ner Anstalt gelandet bin.“ „Möchtest du gerne wieder eine Familie haben?“ fragte Pinky. „Dumme Frage.“ „Ich habe eine für dich.“ „Das ist nicht dein Ernst!“ Monster vergaß glatt, in den Ku chen zu beißen.
„Mit so etwas spaße ich nicht. Die Prescotts würden noch einen Jungen nehmen.“ „Das wäre ja das Große Los!“ rief Monster. Dann ließ er die Schultern hängen. „Aber dann müßte ich dich im Stich lassen.“ „Ich finde für mich auch noch was“, antwortete Pinky. „Und was heißt: im Stich lassen? So weit weg wohnen die Prescotts nicht. Wir könnten jede freie Minute miteinander verbringen, und wenn du mal Heimweh nach dem Skunknest bekommst, kannst du über die Feuerleiter klettern und in dein altes Bett kriechen.“ „Du wärst wirklich nicht traurig, wenn ich ginge?“ Pinky schüttelte energisch den Kopf. „Dann tu ich's! Mann, eine Familie, eine richtige Familie!“ Monster tanzte in der Kammer herum, dann blieb er vor Pinky stehen und sah ihm in die Augen. „Ich glaube, ich bring's doch nicht fertig, dich hier allein zu lassen.“ „Mach dir nicht in die Hosen“, sagte Pinky. „Wer weiß, ob du je wieder solch eine Chance bekommst. Und ich bleibe ja nicht allein, die Prinzessin ist doch noch da.“ „Die sehe ich dann ja nur noch in der Schule“, sagte Monster. Er blickte Pinky mißtrauisch an. „Du willst mich doch nicht ih retwegen loswerden?“ „Dafür bist du dann jeden Tag mit Miß Georgia zusammen“, antwortete Pinky, „hautnah, sozusagen.“ „Stimmt!“ Monster schmunzelte. „Vielleicht darf ich ihr mal den Rücken abseifen, wenn sie badet.“ Pinky verkniff sich sein Grinsen. Monster würde schnell da hinterkommen, daß er für Georgia nichts anderes war als ein kleiner Bruder.
Der arme Abraham Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte. «Er wollte gerade zur Landung auf dem dritten Planeten der Doppelsonne X-l im Sternbild des Löwen ansetzen, als die Prin zessin ihn auf die Erde zurückholte. „Seit drei Wochen warte ich darauf, daß du mit mir in den Tierpark gehst“, maulte sie, „hältst du alle deine Versprechen so?“ „Schon gut“, stöhnte Pinky und rutschte von seinem Thron, „bringen wir es hinter uns.“ Seit Monster mit Mammy Lu aufs Land gefahren war, um einer Verwandten der Prescotts bei der Ernte zu helfen, hatte er zu nichts mehr recht Lust. Sooft er nur konnte, verzog er sich auf das Dach und las oder träumte. Er hätte nicht gedacht, daß Monster ihm so fehlen könnte. Offiziell galt Monster als krank, damit es keinen Ärger in der Schule gab, und Pinky ging angeb lich jeden Tag zu ihm und nahm mit ihm den Lehrstoff durch; er ging tatsächlich jeden Tag bei den Prescotts vorbei, in der Hoffnung, daß Monster endlich zurück sei. Die Prinzessin steckte im Vorbeigehen kurz den Kopf bei den Potters in die Tür und sagte Bescheid, daß sie außer Haus gin gen. Sie fragten nicht mehr, ob es ihnen auch erlaubt würde. Die Potters waren völlig verändert aus dem Krankenhaus zu rückgekommen. Da die Ärzte ihnen weder sagen konnten, wo her sie so blau geworden waren, noch wie sie es wieder loswer den konnten, nahmen sie es als eine Strafe des Herrn, waren völlig in sich gekehrt, der Skunk noch mehr als seine Frau, sprachen nur noch das Notwendigste und fluchten überhaupt nicht mehr. Sie hielten sich soviel wie möglich in ihren Zim
mern auf und liefen auch in der Wohnung nie ohne Kopfbedek kung herum. Potter hatte sich seinen Schnurrbart abrasiert. Pinky hatte vergeblich in der „Geschichte der nordamerika nischen Indianer“ nach einer Information gesucht, wie lange der Saft der Yumahave-Wurzel wirkte, und er hatte auch nir gends etwas von einem Gegenmittel gefunden. Vor ein paar Ta gen hatte er sich in der Stadtbibliothek die Namen von zwei be rühmten Indianerforschern heraussuchen lassen und den bei den Experten geschrieben, ob sie Rat wüßten; er wollte die Pot ters nicht bis an deren Lebensende mit blauen Haaren herum laufen lassen. Pinky erkannte den Kittsburgher Zoo kaum wieder, an allen Ecken und Enden wurde gebaut. Die Prinzessin wollte zuerst zu den Gibbons. Sie konnte stundenlang zuschauen, wie die Affen am Seil über den Wassergraben hangelten oder sich über die Bambusstangen jagten. „Dafür könnte ich diesem Mister Frazer glatt um den Hals fallen“, sagte sie. „Das war die beste Idee seines Lebens , dem Tierpark die Gibbons zu schenken.“ „Fall lieber mir um den Hals“, meinte Pinky. Er lachte laut auf, als er ihr verdutztes Gesicht sah. „Komm, wir setzen uns in den Schatten“, sagte er. „Ich werde es dir mal erklären.“ Die Prinzessin hörte geduldig zu, doch sie machte ein Ge sicht, als erzähle Pinky ihr Märchen. „Frag Monster“, sagte Pinky enttäuscht. „Das ist in Wirklich keit alles von mir: die Gibbons von Frazer, der Schimpanse und die Känguruhs von Morgan, die Giraffen von Ashton, das Nas horn von Senator Appleby und die Löwen aus Hamiltons Rum melschau. Auf den Schildern der edlen Spender müßte eigent lich mein Name stehen. Aber wenn ich sehe, was jetzt hier ge baut wird, hätte ich mir lieber etwas anderes wünschen kön nen. Der Tierpark bekommt offensichtlich auch ohne mich ge nügend Spenden.“ Er stand auf und klopfte sich den Staub von den Hosen. „Ge hen wir weiter?“
Vor einem gerade fertig gewordenen Zwinger sprach er Joe Blackfoot* an, den alten Indianer, der seit Jahren den Tierpark wärter machte. „Was soll denn hier reinkommen?“ „Ein Waschbär. Eine Spende der Familie Malcolm.“ Also hat sie es doch wahrgemacht, dachte Pinky. Er nahm sich vor, Missis Malcolm anzurufen und sich zu bedanken. „Al lerhand los“, sagte er. Joe Blackfoot nickte zufrieden. „Die Kittsburgher haben end lich ihr Herz für den Tierpark entdeckt. Seit Morgan und Ashton den Anfang gemacht haben, will niemand mehr zurück stehen. Alle sind scharf auf einen Zwinger oder Käfig mit ih rem Namensschild dran. Wir bekommen noch Zebras und Hir sche, Antilopen und Lamas, einen Leoparden und einen Puma, Flamingos und Pelikane, einen Haufen Affen, zwei Esel, ein Dromedar und sogar einen Eisbären.“ „Elefanten auch?“ fragte Pinky. „Nee, der ist wohl allen zu teuer. Aber man möchte schon so auf die Knie fallen und dem lieben Gott danken, daß er den Kittsburghern endlich ein Einsehen geschickt hat.“ Pinky hätte Joe Blackfoot beinahe gesagt, da könne er gleich vor ihm niederknien. „Im Grunde ist das also alles dein Werk“, sagte die Prinzes sin, als sie weitergingen. „Wenn du nicht damit angefangen hät test, sähe es hier immer noch so traurig aus wie vor einem Jahr.“ „Du glaubst mir also?“ „Du hast mich noch nie belogen“, antwortete sie und hängte sich bei ihm ein. „Das werde ich auch nie tun“, versicherte Pinky. Unter den großen Platanen im Stadtpark war es wunderbar kühl. Sie setzten sich auf eine Bank gegenüber dem Lincoln denkmal, gerade an der Stelle, wo in Pinkys Träumen einmal sein Standbild stehen würde, doch davon verriet er der Prinzes sin nichts. Ein Mann muß seine Geheimnisse haben. „Hier steckt ihr also!“ tönte es plötzlich. Monster kam ange * Blackfoot - Schwarzfuß, einst ein berühmter Indianerstamm
rannt. „Ich habe euch schon überall gesucht. Ihr könntet den ar men Bluebottles* ruhig verraten, wohin ihr geht.“ Monster ließ sich neben der Prinzessin auf die Bank fallen und sah die bei den mit breitem Lachen an. „Man sollte es nicht für möglich halten, aber ihr habt mir richtig gefehlt.“ „Du uns auch“, sagte die Prinzessin, „nicht wahr, Pinky?“ „Gefehlt wäre übertrieben“, knurrte Pinky. „Aber ich bin froh, daß ich nun nicht länger in der Schule schwindeln muß. Und“ — jetzt lachte er — „ich freu mich schon, daß du all die Schulaufga ben machen mußt, die wir beide angeblich jeden Tag gepaukt haben. Ich habe überall verbreitet, was für ein ausnehmend kluges und fleißiges Bürschchen du bist und wie scharf darauf, mit deinem Wissen in der Schule zu protzen.“ Monster schickte Pinky einen giftigen Blick. „Willst du ein Eis?“ fragte er die Prinzessin. „Ich auch“, sagte Pinky. „Oder sind wir nicht mehr Partner?“ „Du bist doch völlig aus dem Geschäft“, erwiderte Monster. „Oder hast du endlich mal wieder einen Klienten gefunden?“ Er hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Kannst offen reden“, sagte Pinky. „Sie weiß es. Aber ich fürchte, du hast recht. Sieh dich schon mal nach einem anderen Beruf um.“ „Hab ich schon. Daddy besorgt mir eine Lehrstelle bei einem Tischler, den er kennt.“ „Ich brauche also nicht mehr mit dir zu rechnen“, sagte Pinky. „Da verzichtest du doch auch auf deinen Anteil an der Belohnung für die Rauschgifthändler, was?“ Monster sprang auf. „Kriegen wir die endlich?“ „Ich fürchte, nein“, seufzte Pinky. „Kinder kann man zu leicht übers Ohr hauen.“ „Ich werde dein Partner“, meldete sich die Prinzessin. „Ich wollte schon immer Detektiv werden.“ „Du? “ Pinky musterte sie belustigt. „Als Sekretärin kannst du einsteigen. “ * Blue = blau; Bluebottles = Kornblume, aber auch Schmeißfliegen
„Pah, das könnte dir so passen. Damit ich dir Kaffee koche und den Dreck wegräume? Hast du schon mal was von der Gleichberechtigung der Frau gehört? “ „Hab ich. “ Pinky grinste. „Aber noch nie von 'nem guten weib lichen Privatdetektiv. Den gibt's nicht mal im Fernsehen. “ „Kloppt euch ruhig“, sagte Monster. „Ich hole uns inzwischen ein Eis.“ Er fischte ein paar Münzen aus der Hosentasche. „Reicht aber nur für ein kleines. Mann, Pinky, das waren noch Zeiten, als wir auf Kosten von Old Ashton Eis essen konnten. Wirklich schade, daß du so gar nicht mehr ins Geschäft kommst.“ Sie hatten ihr Eis noch nicht aufgeleckt, da war Pinky wieder im Geschäft. Ellen, Monsters neugewonnene kleine Schwester, kam mit einem Jungen in den Park, das heißt, von weitem sah er aus wie ein Mann, wie ein feiner Mann sogar. Er trug trotz der Hitze lange weiße Hosen mit messerscharfen Bügelfalten, einen dun kelblauen Blazer mit einem goldgestickten chinesischen Dra chen auf der Brusttasche, ein blütenweißes Hemd mit steifem Kragen und einer Krawatte, als wolle er gerade zum Nachmit tagstee in Kittsburghs vornehmsten Golfklub gehen. Erst als er schon fast vor ihnen stand, sahen sie, daß er nichts anderes war als ein Junge und kaum älter als sie selbst, und die vornehme Kleidung konnte nicht davon ablenken, daß auch er unter Mit essern litt und daß er mit diesen Ohren hervorragend in einen Segelklub gepaßt hätte. „Das ist Pinky“, sagte Ellen und verschwand wie der Blitz, Monster rief Vergeblich hinter ihr her. „Große Autorität scheinst du in deiner Familie noch nicht zu besitzen“, spottete Pinky. Monster zog ihm eine Grimasse. Der fremde Junge stellte sich vor Pinky und hielt ihm die Hand hin. „Ich bin Abraham W*. Lincoln.“ Die drei lachten. Monster konnte es sich nicht verkneifen, das Gesicht des Jungen demonstrativ mit dem würdigen Antlitz von Präsident Abraham Lincoln zu vergleichen, dessen Denk mal ein paar Meter hinter dem Knaben stand. * W — nach dem englischen Alphabet „dabbeljuh“ gesprochen
„Sehr ähnlich siehst du ihm gerade nicht“, meinte er. „Bist du sicher, daß du nicht Washington heißt?“ Der Junge machte ein Gesicht, als langweile er sich entsetz lich, bestimmt hatte man ihn schon tausendmal mit seinem Na men angeödet. „Washington heiße ich auch noch“, sagte er ge lassen. „Abraham Washington Lincoln. Hast du noch mehr Witze aus deinem Kindergarten auf Lager? Geh doch in den Sandkasten buddeln, Kleiner, ich habe mit Pinky zu reden.“ Pinky rückte lachend zur Seite, um Abraham Platz zu ma chen. „Ja“, seufzte er, „manche Eltern strafen ihre Kinder schon bei der Geburt entsetzlich. Mir haben sie auch den Washington an gehängt, doch mein erster Name ist noch schlimmer: Absolon. Absolon Washington Beaver.“ Die beiden drückten sich herzhaft die Hand: zwei Leidensge nossen. Abraham warf sein Jackett über die Lehne der Park bank, setzte sich, machte den Schlips auf und streckte die Füße weit von sich. „Mußt du alle Tage so rumlaufen?“ erkundigte sich die Prin zessin teilnahmsvoll. „Ach, das ist nicht das Schlimmste“, antwortete Abraham. „Man muß sich mit vielem abfinden, wenn man in einem golde nen Käfig lebt.“ Er grinste Pinky an. „Was glaubst du, was ich alles anstellen mußte, um mal auszureißen. Seit drei Tagen si muliere ich Zahnschmerzen, damit ich in die Stadt fahren durfte. Ich muß mit dir sprechen. Unter vier Augen.“ „Du brauchst dich vor den beiden nicht zu genieren“, sagte Pinky, „wir sind ein Team.“ „Aber du bist der Kopf, nicht wahr?“ Pinky winkte Monster und der Prinzessin, sie sollten sich entfernen. Die beiden machten kein Geheimnis daraus, daß sie es nur widerwillig taten. Abraham sah auf seine Armbanduhr, ein Modell, von dem Pinky nicht einmal zu träumen wagte: eine dieser supermodernen, hundsteuren Electronics. „Gefällt sie dir?“ Abraham band die Uhr ab und hielt sie so, daß Pinky sie genau betrachten konnte: rund um die Ziffern
anzeige waren noch eine ganze Menge von Stiften und kleinen Feldern. Abraham drückte auf einen der Stifte, dann auf einen anderen, die Zahlen im Ziffernfeld veränderten sich, ver schwanden, neue tauchten auf, springende Ziffern zeigten den Wechsel der Zehntelsekunden an. „Paß auf.“ Abraham han tierte an seiner Uhr, dann zählte er mit. „Siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig.“ Bei der vollen Minute ertönte eine Melodie. „Du kannst dich aber auch durch einen Pfeifton wecken las sen“, erklärte Abraham. „Außerdem hat sie noch eine Stoppuhr und einen Countdown*, und du kannst sie so einstellen, daß sie zu jeder vollen Stunde ein Glockensignal gibt, und“ — er holte einen dünnen Stift aus seinem Jackett — „das ist zugleich ein elektronischer Rechner, so eine Art Minicomputer: Multiplizie ren und Dividieren, Prozentrechnung, Wurzelziehen und Poten zieren, sogar Differential- und Integralrechnung oder wie das heißt.“ Er sah Pinky an. „Ich schenke sie dir, wenn du mir hilfst.“ „Du scheinst es ja mächtig nötig zu haben“, rief Pinky. „Wenn du nur wüßtest, wie sehr!“ Abraham seufzte. „Und ich habe niemanden sonst, den ich um Hilfe bitten könnte.“ Abraham stellte seine Uhr so ein, daß wieder die Zeitansage zu sehen war. „Ich habe nur noch ein paar Minuten“, sagte er. „Meine Leute denken doch, daß ich beim Zahnarzt sitze. Ich habe der Sprechstundenhilfe gesagt, daß ich ein andermal wie derkomme, und bin hinten zum Haus hinaus. Aber ich habe zu viel Zeit gebraucht, um dich aufzuspüren, und mein Problem ist zu kompliziert, um es in wenigen Minuten zu erklären. Ich laß mir einen neuen Termin beim Zahnarzt geben, dann können wir uns dort treffen, sagen wir, übermorgen?“ Er lachte. „Tant chen wird sich schön wundern, daß ich schon wieder zum Zahn arzt gehe. Hast du auch Angst vorm Zahnarzt?“ Pinky durfte gar nicht daran denken. Seit drei Wochen schon verschob er den Zahnarztbesuch von einem Tag auf den ande ren. * Countdown: rückwärtslaufende Zeitzählung, z. B.: zehn, neun, acht...
„Übermorgen um drei, geht das?“ Abraham sah Pinky fle hend an. „Bitte!“ Er holte eine vornehme Brieftasche aus sei nem Jackett und entnahm ihr einen 20-Dollar-Schein. „Als An zahlung auf dein Honorar. Damit du glaubst, daß ich es ernst meine.“ „Gut“, sagte Pinky, „übermorgen um drei. Und wie kann ich dich erreichen, wenn was dazwischenkommt?“ Abraham blickte traurig. „Praktisch gar nicht.“ „Dann kommt eben nichts dazwischen“, versicherte Pinky. „Doktor Leyland“, sagte Abraham, „in der 5. Avenue, gleich neben dem Stadttheater. Setz dich einfach ins Wartezimmer.“ Er rückte die Krawatte gerade und zog sein Jackett an. „Und red nicht darüber, ja?“ „Meine Klienten erwerben nicht nur das Anrecht auf meinen Grips“, erwiderte Pinky, „sondern auch auf meine Verschwie genheit. Sag mal, woher weißt du eigentlich von mir?“ Abraham antwortete nicht. Er winkte noch einmal und sau ste davon. Pinky mußte Monster und die Prinzessin erst überzeugen, daß er tatsächlich noch nicht wußte, worum es ging. „Aber er scheint mächtig in der Klemme zu sitzen“, sagte er. „Sollte man gar nicht glauben, wenn einer so geschniegelt daherkommt.“ „Der arme Abraham“, witzelte Monster, „Mancher ist reich und arm zugleich“, sagte die Prinzessin. „Und wenn einer niemand anderen hat, an den er sich um Hilfe wenden kann, als ein wildfremdes Kind aus dem Waisenhaus, dann ist er schon sehr arm dran. Lieber verzichte ich auf so feine Klamotten und habe dafür ein paar gute Freunde.“ „Hast du“, versicherten Pinky und Monster wie aus einem Mund. „Wer redet denn von euch?“ sagte die Prinzessin und steckte den beiden die Zunge heraus. Monster mußte nach Hause, er wollte mit seinen Geschwi stern baden gehen. Er lud Pinky und die Prinzessin ein, mitzu kommen, Mammy Lu würde auch für sie den Eintritt bezahlen.
Pinky winkte ab. Er wollte unbedingt zur Post und nachfragen, ob ein Brief für ihn gekommen sei. Die Frau am Postschalter blickte ihn prüfend über die Brille an, als er sich nach einem postlagernden Brief für Absolon W. Beaver erkundigte. Pinky mußte erst drängeln, damit sie überhaupt nachsah. Sie hatte einen Brief. Für Mister Beaver. „Aber du bist kein Mister, oder?“ sagte sie. „Und woher soll ich wissen, daß du überhaupt Beaver heißt? Kannst du dich auswei sen?“ Daran hatte Pinky nicht gedacht, als er um postlagernde Ant wort bat. Aber er hatte sich die Briefe schließlich nicht an das Pottersche Waisenhaus schicken lassen können; der Skunk hätte sie unweigerlich geöffnet und dann gewußt, wer an sei nem Unglück schuld war. „Ich bin Absolon W. Beaver“, beteuerte Pinky. „Woher wüßte ich sonst von dem Brief? Und ich kann Ihnen auch das Kenn wort sagen: Yumahave.“ „Tut mir leid“, erwiderte die Postbeamtin, „ich darf dir den Brief nicht aushändigen, ich habe meine Vorschriften.“ „Und wenn ich noch sage, von wem der Brief kommt“, er kundigte sich Pinky, „reicht das dann?“ „Nicht einmal, wenn du mir sagst, was in dem Brief drin steht.“ Die Postbeamtin lachte. „Ich dürfte nämlich gar nicht reingucken, wir haben schließlich ein Postgeheimnis.“ „Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß meine eigene Post für mich ein Geheimnis bleiben soll!“ sagte Pinky. „Komm mit deinem Vater oder deiner Mutter.“ „Habe ich nicht mehr.“ „Dann mit deinem Vormund. Und nun mach Platz, da warten noch mehr Leute.“ Pinky hätte heulen können. Als Kind, dachte er, bist du gar nichts. Rechtlos und machtlos. Und der einzige Mensch, der hier hätte helfen können, Captain Henderson, war in New York. Ob er Morgan anrief? Zwecklos, der würde ihm was husten, sei netwegen extra zur Post zu fahren, und vielleicht reichte all sein Einfluß nicht aus, einen Beamten umzustimmen. Pinky
setzte sich draußen auf die Treppenstufen und heulte tatsäch lich. Über seine Hilflosigkeit. Er sah erst auf, als ein Auto mit quietschenden Reifen vor der Post hielt, ein Streifenwagen der Polizei. Sergeant Blake stieg aus dem Auto. Pinky nahm seinen Mut zusammen und sprach ihn an. „Erinnern Sie sich noch an mich, Sergeant?“ „Und ob. Hast du wieder jemand umgebracht?“ Blake lachte dröhnend. „Nein, aber ich möchte gerne jemanden umbringen“, erwi derte Pinky. „Die haben hier einen Brief für mich, aber sie wol len ihn mir nicht geben, weil ich ja keinen Ausweis habe. Die Postbeamtin hat erklärt, sie würde mir den Brief nicht einmal aushändigen, wenn ich mit der Polizei käme.“ „Na, das wollen wir doch mal sehen!“ empörte sich Blake. „Komm mal mit.“ Der Sergeant verhandelte nicht erst mit der Frau am Schal ter, er ging gleich zu Stampers, dem Leiter des Postamtes. „Sie sind doch der Chef hier“, fuhr er ihn an. „Ich will wissen, ob es einen Brief gibt für einen gewissen ...“ „Beaver“, flüsterte Pinky, „Absolon W. Beaver.“ „Für Absolon W. Beaver“, wiederholte Blake laut. Mister Stampers ging hinaus und kam schnell mit dem Brief zurück. „Geben Sie her!“ forderte Blake. „Den kann ich nur aushändigen, wenn Sie eine Verfügung vom Gericht bringen“, sagte Stampers. „Mann, wollen Sie etwa die Polizei bei der Ausübung des Dienstes behindern?“ brüllte Sergeant Blake. „Sie wollen sich wohl strafbar machen? Das hier ist ein dringender Fall!“ Der Leiter des Postamtes schien Blake zu kennen, und er schien wenig Lust zu verspüren, sich mit Sergeant Blackjack anzulegen. „Nun gut, weil Sie es sind“, sagte er, „will ich ein Auge zudrük ken. Aber Sie dürfen den Brief nicht mitnehmen ohne richterli che Beschlagnahme. Genügt es nicht, wenn Sie ihn hier lesen?“ „Genügt“, sagte Blake. „Machen Sie ihn auf.“ Stampers schien Übung darin zu haben; er öffnete den Brief
so geschickt mit einem dünnen Holz, daß kein Mensch dem Umschlag später ansehen konnte, daß er geöffnet worden war. „Aber der Junge muß raus“, forderte er, als er Blake den Um schlag gab. „Der Junge bleibt hier“, entschied Blake. „Und Sie gehen raus, und zwar dalli!“ Stampers räumte tatsächlich sein Zim mer. „Diese Bürohengste kapieren doch nie, wer wirklich die Macht hat“, schimpfte Blake. Zum ersten Mal in seinem Leben war Pinky froh darüber, daß Leute wie Sergeant Blackjack sich als die Herren der Stadt aufspielten. Der Brief kam von Professor Algermon von der Yale-Univer sität. Der Professor bedankte sich erst einmal für das große In teresse, das „Mister Beaver“ für sein spezielles Forschungsge biet zeigte, es sei heutzutage leider so selten geworden, daß sich noch jemand für die Kultur der Indianer interessiere. Er fragte an, auf welchem, Gebiet Mister Beaver speziell forsche, dann ließ er sich eine halbe Seite lang über die Schwierigkeiten aus, Geld für seine Arbeit zu bekommen, erst ganz zum Schluß nannte er das Gegenmittel für die blaufärbende Wirkung der Yumahave-Wurzel: man müsse die geraspelte Wurzel acht Tage lang in Büffelmilch legen und dann von dem Saft trinken. „Fertig?“ erkundigte sich Blake ungeduldig. Er nahm den Brief und rief Stampers wieder herein. „Hier, kleben Sie ihn so zu, daß niemand es merkt. Und wenn der Empfänger den Brief nicht abholt, schicken Sie ihn wieder zurück!“ Blake baute sich drohend vor dem Beamten auf. „Und die Schnauze halten, ver standen? Das war eine geheime Amtshandlung.“ Mister Stampers war offensichtlich froh, daß der Sergeant wieder ging, er brachte Blake und Pinky noch an die Tür. „Mensch, ich muß doch Briefmarken kaufen“, rief Blake, als er schon ins Auto steigen wollte. „Wenn ich das wieder verges sen hätte, hätt' meine Alte mir heute abend ganz schön Dampf gemacht.“ Yumahave-Wurzeln gab es noch genug in der Drogerie, doch
woher Büffelmilch nehmen? Schließlich fragte Pinky Joe Black foot, und der versprach ihm, er werde schon welche auftreiben, Pinky solle nur jeden Tag nachfragen, damit sie nicht sauer würde. Pinky verriet nicht, daß er das sowieso getan hätte. Am Donnerstag, Viertel vor drei, stand er vor dem Haus in der 5. Avenue. Das Schild von Doktor Leyland sah derart gedie gen aus, daß Pinky annahm, sie würden ihn nicht mal ins War tezimmer lassen. Der arme Abraham, wie Pinky ihn für sich nannte, kam mit einem sechssitzigen „Ford“ vorgefahren. Der Chauffeur sprang heraus, nahm die Mütze ab und riß die Tür vor Abraham auf. Pinky verdrückte sich in den Hauseingang. „Es wird heute etwas länger dauern, James“, sagte Abraham zu dem Chauffeur. „Holen Sie mich bitte in einer Stunde ab.“ Der Chauffeur nickte diensteifrig. „Mann, du ziehst ja 'ne mächtige Show ab“, sagte Pinky, als er Abraham im Hausflur begrüßte. „Die Show ist bald vorbei, wenn du mir nicht helfen kannst.“ Abraham lächelte gequält. „Ich sag nur beim Zahnarzt' Be scheid, daß sie nicht auf mich warten sollen, dann verziehen wir uns.“ „Der wird ganz schön sauer sein, wenn du ihm einfach einen Termin platzen läßt“, meinte Pinky. „Dem Schild nach zu urtei len, nimmt der doch mindestens zehn Dollar für 'ne Viertel stunde.“ „So billig ist er nicht “, sagte Abraham, „aber er darf den aus gefallenen Termin auf die Rechnung setzen.“ Abraham wollte unbedingt in einen Drugstore, pommes frites mit Ketchup und Hamburger essen, Pinky bestellte sich ein Eis. „Du glaubst gar nicht, wie gerne ich mal durch die Straßen laufen oder im Fluß baden möchte“, sagte Abraham. „Und warum tust du es nicht?“ fragte Pinky. „So, wie du dei nen Chauffeur herumkommandierst, kannst du dir doch alles erlauben.“ „Eben nicht! Schon gar nicht herumlungern. Ich darf nicht riskieren, daß man mich kidnappt. Ich bin zu reich. Noch.“
„Ach“, sagte Pinky ungerührt, „wenn du so scharf auf das ein fache Leben bist, können wir ja mal für eine Weile tauschen. Ich hätte nichts dagegen, mal in einem goldenen Käfig zu le ben.“ Abraham sah ihn nachdenklich an. „Mit dir zusammen würde es mir auf jeden Fall mehr Spaß machen“, sagte er. „Würdest du kommen?“ „Wie meinst du das?“ fragte Pinky verwirrt. „Na, für immer. Sozusagen als mein Bruder. Ich meine, nicht richtig, mit Adoption und so, da macht Tantchen nicht mit, aber wenn ich es fordere, wird sie dich vielleicht in unser Haus auf nehmen.“ Abraham schlug Pinky begeistert auf den Schenkel. „Klar, das machen wir. Ob meine Hauslehrer einen oder zwei unterrichten, spielt doch keine Rolle, und da lernst du mit Si cherheit mehr als in deiner Schule, und das bißchen Geld, dich einzukleiden und satt zu bekommen, spielt überhaupt keine Rolle. Und ich wäre nicht mehr allein. Wir gehen dann auch zu sammen aufs College und an die Universität. Was willst du wer den?“ „Detektiv“, sagte Pinky. „Ich glaube kaum, daß das auf einer Universität gelehrt wird.“ „Dann studierst du Jura. Ein studierter Rechtsanwalt hat be stimmt mehr Chancen als Detektiv, meinst du nicht?“ Pinky starrte Abraham an. Das kann doch nicht wahr sein, dachte er. Der gibt doch nur an. Aber Abraham machte nicht den Eindruck eines Faselhannes. Und er hatte nun schon drei mal gesagt, wie einsam er s ich fühlte. „Wenn du meinst“, sagte Pinky, „ich könnte es mir schon vor stellen, nur, es gibt da ein Problem.“ „Welches?“ Abraham machte ein Gesicht, als gäbe es für ihn kein Problem, das nicht zu lösen sei. „Genaugenommen zwei Probleme“, sagte Pinky. „Mein Pro blem ist, daß ich die Prinzessin nicht einfach im Stich lassen kann.“ „Die nehmen wir auch noch mit“, erklärte Abraham. „Und das zweite Problem ist, soweit ich verstanden habe, daß
du wahrscheinlich in Kürze darüber nachdenken mußt, wie du dich satt bekommst.“ „So schlimm ist es nicht“, sagte Abraham. „Aber schlimm ge nug schon. Paß mal auf.“ Abrahams Vater war vor drei Jahren an Herzinfarkt gestor ben, seine Mutter vor einem halben Jahr verunglückt. Bis zu seiner Volljährigkeit sollte er von seiner Tante Emily in einer abgeschiedenen und gut bewachten Villa draußen vor der Stadt aufgezogen werden. Der Anwalt der Familie war zu Abrahams Vormund erklärt worden, Mister Archer hatte schon seit dem Tod des Vaters das Vermögen verwaltet. Abraham sollte einmal der Erbe der Lincoln-Werke in New Jersey und von einem halben Dutzend weiterer Fabriken wer den, außerdem sollte er Anteile an mehreren Banken und Ree dereien und dazu Bergwerke und riesige Ländereien in Süd amerika erben. „Wenn die bis dahin nicht Revolution machen und mich ent eignen“, sagte Abraham, „aber von mir aus sollen sie das ruhig, das Vermögen in den Staaten ist größer, als ich in einem Leben durchbringen kann. Wenn ich es behalte. Vor ein paar Wochen ist Onkel Nick aufgetaucht — eigentlich ist er gar nicht mein Onkel, sondern ein Vetter meines Vaters — und hat ein Testa ment angebracht, das er erst jetzt gefunden haben will. Danach wird er der Alleinerbe, wenn Mutter sich nach Vaters Tod noch einmal verheiratet. Und das hat sie getan.“ „Und dein Stiefvater?“ erkundigte sich Pinky. „Ist mit Mammi ums Leben gekommen. Sie sind mit unserem Flugzeug abgestürzt, als sie zum Weekend auf unsere Insel in der Karibischen See fliegen wollten.“ Pinky schwieg. Er mußte das erst einmal verdauen: „unser“ Flugzeug und „unsere“ Insel. Und zum Wochenende in die Kari bische See! Abraham ließ ihm Zeit. Er zeigte nur auf den Eis becher, und als Pinky nickte, bestellte er noch einen. „Heißt das, daß du völlig verarmst, wenn das Testament aner kannt wird?“ fragte Pinky. Abraham lachte bitter. „Nein, Onkel Nick ist ja so großzügig!
Er hat angekündigt, daß er selbstverständlich für meine Erzie hung und Ausbildung aufkommen will und mir später auch ein mal eine Rechtsanwaltsfirma einrichten oder mir einen gutbe zahlten Posten in den Lincoln-Werken geben würde.“ „Also mußt du wenigstens nicht zu Potter kommen“, meinte Pinky. „Das ist schon etwas.“ „Aber ich will nicht, daß Onkel Nick sich das ganze Vermögen unter den Nagel reißt und daß ich von seiner Gnade abhängig bin!“ Abraham wurde rot vor Wut. „Er hat schon verkündet, er würde meine Erziehung selbst in die Hand nehmen. Und ich kann ihn nicht ausstehen. Vater konnte ihn auch nicht leiden, er hat ihn immer nur den .Hallodri' genannt, und Onkel Nick durfte unser Haus nicht betreten, solange Vater noch lebte.“ „Und du bist sicher, daß das Testament nicht in Ordnung ist?“ „Ich kann es einfach nicht glauben. So wie Vater mit ihm ge standen hat?“ „Warum hat dein Vater eigentlich nicht dich in diesem Testa ment als Alleinerben eingesetzt? Wie erklärt Onkel Nick das?“ „Es ist angeblich vor meiner Geburt ausgefertigt worden.“ „Was macht dieser Onkel jetzt, braucht er das Geld drin gend?“ „Reich ist er nicht, aber es geht ihm auch nicht schlecht. Mut ter hat ihm einen Direktorposten in den Lincoln-Werken be sorgt. Dadurch ist er ja auch an das Testament gekommen.“ „Erklär mir das mal.“ „Onkel Nick sagt, er hat das Testament gefunden, als er neu lich mal in Vaters Büchern blätterte. Vater hatte in seinem Büro eine ganze Menge Bücher, darunter seine Jahrbücher, so eine Art Kalender: ,Des christlichen Hausmannes Wegweiser durch das Jahr' mit einem Bibelspruch und einem Gebet für jeden Tag und einer Heiligengeschichte; wir sind katholisch, mußt du wissen.“ „Onkel Nick auch?“ „Der glaubt nicht mal an den Teufel“, erklärte Abraham, „der betet nur das Geld an.“ „Und da nimmt er eines Tages ganz zufällig eines der alten
Jahrbücher in die Hand und findet das Testament?“ Pinky schüttelte ungläubig den Kopf. „Sag mal, werden die Bücher nie abgestaubt? Dabei hätte das Testament doch längst herausfal len müssen.“ „Diese Bücher sind in Leder gebunden und mit einem Schloß versehen“, erklärte Abraham. „Wenn das zu ist, fällt da nichts raus.“ Pinky nickte, das konnte stimmen. Er hatte auch schon mal so ein Buch in der Hand gehabt. „Trotzdem, sehr unglaubhaft. Das kann ihm doch keiner abnehmen ...“ „Da gibt es ein Detail“, unterbrach ihn Abraham, „das die Sa che schon glaubwürdig macht: das Testament soll in dem Ka lender des Hochzeitsjahres meiner Eltern gelegen haben, ge nau zwischen den beiden Hochzeitstagen.“ „Wieso zwei Hochzeitstage?“ „Am zwölften Juni haben sie sich standesamtlich trauen las sen und am dreizehnten in der Kirche “, erklärte Abraham. „Und Onkel Nick sagt, er hat auch nicht zufällig darin geblät tert, sondern weil er die alten Schwarten wegschaffen lassen wollte.“ „Das Testament ist mit der Hand geschrieben?“ fragte Pinky. „Natürlich, sonst würde es ja nicht gelten.“ „Und die Handschrift ist geprüft worden?“ „Von Experten an der Universität. Aber da es um so viel Geld geht, könnte Onkel Nick sich schon den besten Fälscher der Staaten gekauft haben.“ „Kann ich es mal sehen?“ „Du kannst dir doch denken, daß Onkel Nick es nicht mehr aus der Hand gibt. Eine Fotokopie könnte ich dir das nächste mal mitbringen.“ „Was sagt dein Vormund, dieser Mister Archer?“ „Daß nichts mehr zu machen sei. Er könne höchstens noch den Prozeß um die Erbschaft hinauszögern und ein oder zwei Jahre gewinnen, mehr nicht. Er will versuchen, mit Onkel Nick einen Vergleich zu machen, daß ich wenigstens einen Teil der Erbschaft behalte. Er meint, Onkel Nick würde darauf einge
hen, weil ein Prozeß um ein so hohes Vermögen Riesenkosten verursacht.“ „Kann es sein, daß Mister Archer mit deinem Onkel Nick ge meinsame Sache macht, ich meine, daß der ihn gekauft hat?“ „Ich will es nicht hoffen.“ „Aber sicher bist du nicht?“ Abraham zuckte mit den Schultern. „Und deine Tante Emily?“ „Ist ein herzensguter Mensch, aber zu schwach, um sich ge gen einen so hartgesottenen Mann wie Onkel Nick zur Wehr zu setzen. Und seit Mister Archer kapituliert hat...“ Abraham sah verzweifelt aus. „Ich kann auch nicht zu einem anderen Rechts anwalt gehen oder ein Detektivbüro aufsuchen. Die würden mich rausschmeißen und sofort Mister Archer informieren.“ „Und wie soll ich dir helfen?“ sagte Pinky mutlos. „Ich weiß es nicht“, sagte Abraham. „Ich greife einfach nach jedem Strohhalm, und als Lucie mir von dir erzählte ...“ „Lucie?“ fragte Pinky. „Wer ist das?“ „So was wie meine Kinderfrau. Sie hält meine Sachen in Ord nung. Eine Cousine von Mister Prescott.“ „Das ist eine gute Empfehlung“, meinte Pinky. „Wir unterhalten uns über alles, sie ist ein richtiger Freund. Ich habe doch sonst niemanden. Und Lucie ist fest überzeugt, wenn es irgendeinen Menschen in den USA gibt, der mir helfen kann, dann bist du es.“ Pinky lachte. „Da kann ich ja gar nicht anders.“ „Du gibst also nicht gleich auf?“ Abraham sah Pinky bittend an. „Bei dem Honorar? Es bleibt doch dabei: Wenn ich dir helfe, holst du die Prinzessin und mich bei den Potters raus?“ „Mein Ehrenwort.“ Abraham hielt ihm die Hand hin, Pinky schlug ein. „Ich kläre das gleich heute abend mit Tante Emily und Mister Archer.“ „Sag lieber noch nichts“, meinte Pinky. „Dein Wort reicht mir. Schließlich müssen wir Waisenkinder uns doch gegenseitig hel fen, oder?“ Eine leise Melodie erklang.
„Ich muß weg!“ Abraham zeigte auf seine Uhr. „Das war der Wecker. Wann sehen wir uns wieder?“ „Wann du willst. Kannst du telefonieren?“ „Jederzeit.“ „Okay. Ruf bei Potter an und sag nur, daß ich dann und dann beim Zahnarzt sein soll, ganz egal, wer am Telefon ist.“ Abraham sprang vom Hocker. Pinky hielt ihn zurück. „Du mußt noch zahlen!“ „Mach du das bitte. Der Rest ist für dich.“ Abraham drückte ihm einen Geldschein in die Hand und stürzte hinaus. Es war ein 50-Dollar-Schein. „Auf jeden Fall ist er nicht knauserig“, sagte Pinky und be stellte ein großes Glas Malzmilch mit viel Schokolade. Dann machte er sich auf den Weg zum Zoo, um die Büffelmilch zu holen. „Du sollst heute nachmittag zum Zahnarzt kommen.“ Missis Potter sah Pinky mißtrauisch an. „Den Anruf hast du dir doch bestellt, was? Seit wann rufen die Ärzte ihre Patienten an, zu mal solche armen Hosenscheißer wie dich?“ Pinky überlegte fieberhaft. Wenn ihm nicht blitzschnell eine Erklärung einfiel, würde die Blindschleiche ihn bestimmt nicht gehen lassen. Sie sah so schon äußerst verbittert aus. Seit sie ihre Haare unter einem Kopftuch verbarg, wirkte ihr Gesicht noch kantiger und ihre Nase noch spitzer. „Ach, da läuft so ein Versuchsprogramm in der Poliklinik“, sagte er, „die haben Freiwillige in der Schule gesucht, und ich hab mich gemeldet, weil es einen Dollar dafür gibt. Ich darf doch die Hälfte behalten?“ „Darüber muß ich erst mit Potter sprechen“, sagte sie. „Also geh schon, aber daß du mir auch pünktlich um drei da bist!“ Dieses Mal mußte Abraham tatsächlich auf den Zahnarzt stuhl, und er hatte auch wenig Zeit, seine Tante war mit in die Stadt gekommen und wollte ihn in einer viertel Stunde abho len. Er gab Pinky die Fotokopie des Testaments, Pinky warf nur einen kurzen Blick darauf.
„Hast du auch das Untersuchungsergebnis von der Universi .tät?“ fragte er. „Nein, das habe ich nie zu sehen bekommen.“ „Das Testament ist von einem Zeugen unterschrieben“, sagte Pinky. „Was ist mit dem?“ „Das war der Leiter von Daddys Sekretariat. Der ist lange tot.“ Abraham sah Pinky forschend an. „Hast du schon eine Idee?“ „Vielleicht“, sagte Pinky, „aber ich will noch nicht darüber sprechen.“ Er hätte auch gar nichts sagen können, er wollte Abraham nur Mut machen, so verzweifelt wie der aus der Wäsche guckte. „Onkel Nick verlangt, daß meine Tante und ich nach New York ziehen“, sagte Abraham, „er hat schon eine Wohnung für uns gemietet.“ „Wann?“ „Ich fürchte, schon bald.“ Die Sprechstundenhilfe machte die Tür zum Wartezimmer auf und bat Abraham herein. „Ruf mich an“, sagte Pinky, „ich bin jeden Abend ab sieben zu Hause.“ Die Prinzessin wartete wie verabredet auf der Straße. Sie fuhren zur Stadtbibliothek. Pinky kramte lange in den Kartei kästen der Registratur; er wußte schon gut Bescheid hier, doch heute mußte er Hilfe in Anspruch nehmen. Die Bibliothekarin guckte nicht schlecht, als er ihr seine Buchwünsche mitteilte. „Willst du unter die Fälscher gehen?“ fragte sie. „Ganz im Gegenteil, ich möchte herausbekommen, wie man einem Fälscher das Handwerk legen kann.“ Dann saß er völlig versunken vor einem Bücherstapel im Le sesaal. Die Prinzessin blätterte eine Weile in den Büchern, dann stand sie leise auf und schlich sich hinaus. Die Lampen im Lesesaal waren schon eingeschaltet, als sie wiederkam und Pinky anstieß: „Hast du was entdeckt?“ flüsterte sie. „Das nicht, aber ich weiß jetzt, was man alles untersuchen kann, um die Echtheit eines Schriftstücks zu prüfen, vor allem
das Papier und die Tinte, aber da müßten wir das Original in die Hand bekommen.“
„Meinst du nicht, daß ein gewiefter Fälscher an so was denkt?“ „Bestimmt. Hier, in dem Buch ,Die berühmtesten Fälschun gen des Jahrhunderts' wird ein Fall beschrieben, wo die Fäl scher sogar Papier und Tinte aus dem Mittelalter nachgemacht und künstlich gealtert haben, das ist eine richtige Wissen schaft.“ „Aber sie wurden trotzdem entdeckt?“ „Nur weil die Leute Unsummen ausgegeben haben, um die Fälschung nachzuweisen; sie haben ein halbes Dutzend For scher beschäftigt, und es hat fast zwei Jahre gedauert, bis die dahinterkamen, wie die Fälscher es angestellt hatten. Ich fürchte, Abrahams Vormund wird da nicht mitmachen.“ „Auch nicht, wenn wir beweisen können, daß Onkel Nick ge logen hat?“ Die Prinzessin sah Pinky triumphierend an. „Sag bloß, du hast...?“ rief Pinky. Die Bibliothekarin hinter dem Ausgabepult machte „pst!“ und warf ihm einen drohenden Blick zu. „Hast du was entdeckt?“ flüsterte Pinky aufgeregt. „Habe ich!“ Die Prinzessin setzte sich. „Ich war oben auf der Galerie und habe mir mal die .Wegweiser des christlichen Hausmannes durch das Jahr' angesehen. Abrahams Eltern ha ben doch am zwölften und dreizehnten Juni geheiratet?“ „Stimmt.“ „Und Abrahams Onkel hat gesagt, er hätte das Testament zwischen den Seiten für diese beiden Tage gefunden?“ „Stimmt!“
„Das geht aber gar nicht. In dem Jahrbuch fängt jeder Monat mit einem doppelseitigen Bild an, dann kommt auf der linken Seite der erste Tag und auf der rechten Seite der zweite und so weiter.“ „Ja, und?“ „Du bist vielleicht ein Detektiv!“ Die Prinzessin schüttelte ab fällig den Kopf. „Der zwölfte und der dreizehnte Juni sind auf
demselben Blatt gedruckt, der zwölfte auf der Vorderseite und der dreizehnte auf der Rückseite, dazwischen kann also gar nichts gelegen haben.“ Pinky umarmte die Prinzessin und drückte ihr einen laut schmatzenden Kuß auf die Wange. Die Bibliothekarin stand auf und winkte die beiden zu sich. „Entweder ihr seid jetzt mucksmäuschenstill“, sagte sie, „oder ihr fliegt raus.“ „Entschuldigen Sie bitte, kommt nicht wieder vor.“ Pinky machte ein ganz zerknirschtes Gesicht. „Darf ich mir diese zwei Bücher mal ausleihen?“ Er durfte, und die Bibliothekarin sah den beiden schmun zelnd nach, als sie auf Zehenspitzen aus dem Lesesaal schli chen. „Dich nehme ich doch in meine Detektivagentur auf “, rief Pinky draußen. „Das muß ich mir erst noch mal überlegen“, sagte die Prinzes sin schnippisch, „so gut scheinst du gar nicht zu sein.“ Dann lachte sie. „Jetzt haben wir Abrahams Onkel.“ „Das leider noch nicht“, widersprach Pinky. „Er würde ein fach sagen, er hätte sich geirrt. Doch wir wissen jetzt, daß er ge logen hat, und das ist schon viel wert“ * „Da war schon wieder ein Anruf für dich, Pinky“, empfing Pot ter die beiden, „von Captain Henderson. Er will dich morgen im Präsidium sehen.“ Potter blickte Pinky scheel an. „Was hast du eigentlich dauernd mit der Polizei zu tun? Das gefällt mir ganz und gar nicht.“ „Dann schmeißen Sie mich doch raus“, sagte Pinky und ließ den Skunk einfach stehen. Die Potters taten so, als wäre nichts geschehen, auch beim Abendbrot schwiegen sie, sie schickten nur die Kleinen gleich ins Bett und zogen sich in ihr Wohnzimmer zurück. Die Prin zessin kam in Pinkys Kammer, nachdem sie den Abwasch ge macht hatte, und hockte sich auf sein Bett. „Du hast Potter ganz schön geschockt“, sagte sie.
„Ja, es war dumm von mir“, gab Pinky zu. „Eines Tages wird er mich für meine Frechheit büßen lassen.“ „Das fürchte ich nicht“, sagte die Prinzessin. „Er hat Angst davor, daß du auch noch gehst. Vorhin stand die Tür offen, und ich habe gehört, wie die beiden sich unterhalten haben. In der Stadtverwaltung gibt es Leute, die das Heim schließen und uns in das städtische Waisenhaus stecken wollen. Wenn wir beide zu Abraham ziehen, machen die das bestimmt. Was wird dann aus den Kleinen? Du weißt doch, da ist es noch viel finsterer als hier bei Potter. Ich glaube, das können wir nicht tun.“ „Sollen wir deshalb auf unsere Chance verzichten?“ schrie Pinky. „Habe ich nicht das Recht, auch mal an mich selbst zu denken?“ Die Prinzessin schwieg betreten. „Vielleicht können die Lin colns die Kleinen in einem kirchlichen Heim unterbringen“, meinte sie nach einer Weile. „Das wäre doch eine Lösung.“ „Erst müssen wir Abraham aus seiner Klemme erlösen“, sagte Pinky. Er zog die Fotokopie des Testaments aus dem Buch ,Die berühmtesten Fälschungen des Jahrhunderts'. „Ich habe noch keine Ahnung, wie wir das anstellen wollen.“ Das Testament bestand nur aus wenigen Zeilen auf einem Kopfbogen der Lincoln-Werke. Ich erkläre hiermit meine Frau Judith Lincoln, ge bürtige Sutherland, zu meiner Alleinerbin. Für den Fall, daß sie sich nach meinem Tod noch einmal verheiratet, erlischt diese Testamentsverfügung, und mein Vetter Nicolas P. Lincoln soll Alleinerbe sein. Patrick W. Lincoln New York, 13. Juni 1962 Als Zeuge: John F. Kensey. „Potter kann ganz beruhigt sein“, seufzte Pinky. „Wir gehen ihm schon nicht verloren.“
Captain Henderson hatte keine gute Nachricht aus New York mitgebracht. „Glaube mir“, sagte er, „ich habe geredet wie ein Wasserfall, ach was, wie die Niagarafälle, aber es hat ni chts ge nutzt. Sie wollen euch kein Geld für eure Hilfe bei der Fest nahme der Rauschgifthändler geben, nur ein Dankschreiben. Ich meine, das ist auch schon was wert, wenn ihr euch dann um eine Lehrstelle bemüht, aber ...“ „Und wenn wir nicht Kinder gewesen wären?“ Pinky sah Henderson in die Augen, der wich seinem Blick aus. „Bekommen wenigstens Sie eine Belohnung?“ Henderson schüttelte den Kopf. „Vielleicht, wenn ich es von Anfang an als mein Verdienst ausgegeben hätte, aber ich habe dich zu dick herausgestrichen. Ich habe sogar noch einen hal ben Anpfiff bekommen, ob ich jetzt meine Arbeit von Kindern machen lasse.“ Henderson breitete hilflos die Hände aus. „Un dank ist der Welt Lohn.“ „Trotzdem vielen Dank“, sagte Pinky. Er mühte sich, ein fröh liches Gesicht zu machen. „Dafür dürfen Sie mir noch mal hel fen.“ Er schilderte Henderson das Problem mit dem Testament. „Da ist wohl nichts mehr zu machen“, meinte der Captain. „Wenn erst einmal ein Gutachten vorliegt, kann dieser Onkel Nick sich darauf berufen, und er könnte nur noch durch einen Gerichtsbeschluß gezwungen werden, das Testament ein zwei tesmal untersuchen zu lassen. Abrahams Vormund müßte es auf einen Prozeß ankommen lassen, aber dann verscherzt er die Chance, daß Onkel Nick sich zu einem Vergleich bereit fin det und Abraham einen Teil des Erbes überläßt, und das scheint der nicht riskieren zu wollen, oder?“ „Kann die Polizei nichts machen?“ „Nur wenn Anzeige erstattet wird und wenn ein begründeter Verdacht auf eine Urkundenfälschung vorliegt. Doch dazu brau chen wir beweiskräftige Indizien.“ „Ich weiß nur, daß er gelogen hat.“ „Das beweist gar nichts. Das streitet er einfach ab.“ * Pinky gab auf. Abraham schien auch kein Interesse mehr an
dem Fall zu haben, er hatte sich seit zwei Tagen nicht gemeldet. Pinky packte die Bücher in eine Tüte. Auf dem Rückweg von der Bibliothek würde er in der 5. Avenue vorbeigehen und die Fotokopie bei Dr. Leyland hinterlegen. Irgendwann würde Abra ham schon zum Zahnarzt müssen. Wenn er überhaupt noch in seiner Villa vor der Stadt hockte und nicht längst in New York war. Na, sein Problem. Bevor er in die Praxis hinaufging, zog Pinky noch einmal die Fotokopie aus dem Umschlag und warf einen letzten Blick dar auf. LINCOLN - WERKE
Der Generaldirektor Hampshire, New Jersey 08 642 Park Lane 117-143 Ich erkläre hiermit... „... meinen Bankrott“, vervollständigte Pinky den Satz. Dann starrte er auf den Briefkopf. Preßte die Augen zusammen. Riß sie wieder auf. Tatsächlich, da stand die Lösung! Schwarz auf weiß. Nein, dachte er, so einfach kann es nicht sein. Doch es war noch gar nicht lange her, daß er in einem Zeitungsartikel gele sen hatte, wann der ZIP-Code* eingeführt worden war. Wann? Pinky lehnte sich an die Wand, stopfte die Daumen in die Oh ren und legte die Hände vor die Augen, um sich zu konzentrie ren. Kein Zweifel, 1963. Daß der Fälscher das übersehen hatte! Aber hatten nicht alle anderen es auch übersehen? Und er selbst. Ja, dachte er, über das Alltägliche, das Selbstverständli che macht man sich meistens gar keine Gedanken mehr. Pinky rannte zur Post. Er mußte ganz sichergehen. Mister Stampers wollte ihn rausschmeißen; erst als Pinky drohte, er würde mit Sergeant Blackjack wiederkommen, durfte er seine Frage stellen. Stampers wußte die Antwort nicht, und das war ihm sichtlich peinlich. Mit rotem Kopf blätterte er in ein paar * ZIP-Code = Postleitziffern-System der USA
Büchern, schließlich rief er die Bundespostverwaltung in Wa
shington an.
„Nur, damit ich dich wieder loswerde“, erklärte er wütend.
Als er Pinky das Ergebnis der Nachfrage mitteilte, schüttelte der ihm so kräftig die Hand und bedankte sich mit so über schwenglichen Worten, daß Stampers aus dem Staunen nicht herauskam. Dr. Leylands Praxis war schon geschlossen, doch die Sprech stundenhilfe machte Pinky die Tür auf, nachdem er Sturm ge klingelt hatte. „Hast du es aber eilig“, staunte sie. „Es geht um Leben und Tod“, erklärte Pinky. „Sie müssen mir helfen, das heißt einem Ihrer Patienten. “ „Bei uns geht es nie um Leben und Tod“, sagte die Sprech stundenhilfe, „wenn auch manche Patienten so tun. Du auch?“ Pinky gab es zu. Und daß er immer ein paar Tage vor dem Zahnarztbesuch kniff. „Du bist wenigstens ehrlich“, sagte sie. „Wo tut's denn weh? “ „Ach, wissen Sie, Miß ...“ „Sag einfach Marilyn zu mir.“ „Miß Marilyn, ein Freund sitzt furchtbar in der Klemme. Ich kann ihm helfen, aber dazu muß ich ihn sprechen, sofort. Es ist wahnsinnig wichtig!“ Marilyn lachte, doch sie suchte Abrahams Karteikarte her aus und rief in der Villa an. „Sagen Sie, daß Sie unbedingt mit ihm selbst sprechen müs sen“, raunte Pinky ihr zu, „weil, weil — weil bei der letzten Be handlung etwas falsch gemacht wurde.“ „Doktor Leyland würde mich auf der Stelle entlassen, wenn ich das tue “, sagte Marilyn. Sie erklärte erst einem Dienstboten, dann einem zweiten und schließlich Tante Emily, daß sie Abra ham sprechen müsse, dann drückte sie Pinky den Hörer in die Hand. „Ja, bitte?“ meldete sich Abraham. „Ich hab's“, brüllte Pinky in das Telefon. „Wann kannst du in die Stadt kommen?“
„In so einem Fall gleich morgen. Was ist es? Red schon!“ „Nicht am Telefon“, erwiderte Pinky, „aber es ist hundertpro zentig. Kannst schon mit deiner Tante und mit deinem Vor mund sprechen. Unsere Abmachung gilt doch noch? “ „Zweihundertprozentig. “ „Dann bis morgen. Wieder um drei?“ „Ja, aber am ,Majestic'.“ Pinky tanzte durch das Sprechzimmer. Am liebsten hätte er sich auf den Behandlungsstuhl gesetzt und wäre Karussell ge fahren. „Marilyn, dafür bekommen Sie einen großen Strauß Rosen“, versprach er. „Aber keine gestohlenen! “ Sie lachte und ließ ihn hinaus. Natürlich konnte Pinky an diesem Abend nicht einschlafen, obwohl er Schäfchen zählte und Wolken und schließlich sogar eine riesige Büffelherde. Er schlich sich zum Schlafzimmer der Mädchen und holte die Prinzessin heraus, sie hatte »auch noch nicht geschlafen. Dann lagen sie in der Kammer auf den Betten und schmiedeten Zukunftspläne, und ihre Träume wurden im mer bunter und immer verrückter, schließlich fuhren sie „mit unserem Flugzeug“ rund um die Welt und machten „mit unse rer Yacht“ eine Kreuzfahrt durch die Südsee. Die Prinzessin wollte sogar zum Mond. „Dafür reicht es bestimmt nicht“, meinte Pinky. „Außerdem fürchte ich, der arme Abraham wird nicht mehr so freigebig sein, wenn er erwachsen ist.“ „Ich heirate ihn einfach“, erklärte die Prinzessin, „dann muß er nach meiner Pfeife tanzen.“ „Und ich?“ rief Pinky ins Oberbett hinauf. „Untersteh dich, diesen pickligen Segelohrburschen zu heiraten. “ „Nur pro forma “, sagte die Prinzessin, „in Wirklichkeit liebe ich nur dich.“ Aber sie sagte es in einem Ton, der Pinky sehr daran zweifeln ließ. Um Mitternacht holten sie sich dann zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank und tranken sie aus, damit sie endlich ein schlafen konnten.
Abraham brachte Tante Emily und Mister Archer mit, Pinky kam nur mit der Prinzessin. Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Monster nicht eingeladen hatte. Wie oft hatten sie davon geträumt, einmal im „Majestic“ zu essen! Doch Pinky be fürchtete, die Lincolns würden es ihm übel vermerken, wenn er einen Negerjungen mit ins „Majestic“ brachte, und der erste Eindruck, das hatte er längst gelernt, war oft der ent scheidende. Sie setzten sich in eines der Konferenzzimmer des Hotels. Mister Archer schien es bestellt zu haben, auf dem Tisch standen schon Getränke bereit. Abraham machte nicht gerade ein glückliches Gesicht, fand Pinky, wahrschein lich glaubte er nicht, daß Pinky tatsächlich etwas entdeckt hatte. „Es ist ganz einfach“, begann Pinky, „so einfach, daß ich es beinahe übersehen hätte.“ Er schmunzelte. „Auf jeden Fall ha ben es der Fälscher und Onkel Nick übersehen, und das ist die Hauptsache.“ Er legte die Fotokopie auf den Tisch. „Sie haben doch auch den Briefbogen prüfen lassen?“ wandte er sich an Archer. „Es ist ein Originalbogen“, erklärte der, „und es ist ein alter Bogen.“ „Aber nicht alt genug!“ sagte Pinky triumphierend. „Sehen Sie hier, die Postleitzahl: 08 642. Diese Postleitzahlen wurden nach Auskunft der Bundespostverwaltung in Washington erst 1963 eingeführt.“ Pinky sprach diesen Satz ganz beiläufig aus, als sei es nur normal, daß er mit der Bundespostverwaltung in der Hauptstadt korrespondierte. „Sie kann also unmöglich auf einem Briefbogen stehen, der 1962 benutzt wurde.“ „Donnerwetter“, rief Archer, „diese Entdeckung ist wirklich was wert!“ „Finde ich auch.“ Pinky lächelte Abraham zu. Der verzog das Gesicht, hielt sich den Bauch und ging aus dem Zimmer. Er müsse schnell mal, sagte er. Archer legte sein Scheckbuch auf den Tisch und zückte einen goldglänzenden Kugelschreiber. „Ich habe mich entschlossen, dir für deine Dienste ein großzügiges Honorar zu geben“, sagte
er. „Fünfhundert Dollar.“ Er sagte es in einem Ton, als ver schenke er gerade die Hälfte des Millionenerbes. „Ist das alles?“ fragte Pinky ungläubig. „Hat Abraham nicht...?“ „Doch“, sagte Mister Archer, „aber das sind romantische Kin derideen, das geht nicht.“ Pinky stand auf, er war ganz bleich im Gesicht. Die Prinzes sin nahm seine Hand und drückte sie. Nun wußte Pinky, woher Abrahams Bauchschmerzen kamen. Er mußte auch hinaus. Auf der Stelle. Ihm war speiübel. „Den Scheck können Sie sich an den Hut stecken“, schrie er, „den kann ich ja gar nicht einlösen. Damit haben Sie doch ge rechnet, nicht wahr?“ „Nein“, sagte Archer, „das hatte ich nicht bedacht.“ Er holte seine Brieftasche hervor, nahm alle Scheine heraus und zählte sie auf den Tisch. Es waren dreihundertvierzig Dollar. „Haben Sie nicht noch etwas?“ fragte er Tante Emily, die mit betretenem Gesicht dasaß. Sie schob ihm wortlos ihr Täschchen zu. Archer nahm sich den Rest für die fünfhundert Dollar und schob Pinky die Banknoten hin. „Das ist doch ein ganz hübsches Sümmchen“, meinte er. „Geld!“ brüllte Pinky. „Ihr elenden Schleimscheißer denkt im mer, ihr könnt alles mit Geld regeln! Und dann rückt ihr mit einem Almosen heraus!“ Er stürzte aus dem Zimmer. Die Prinzessin griff sich die Geldscheine und rannte ihm nach. An der Treppe zum Kellergeschoß holte sie ihn ein. Abra ham stand unten vor den Toiletten, ein Häufchen Unglück. „Glaubt mir doch“, stammelte er, „ich habe versucht, was ich konnte. Schon meinetwegen.“ Er sah erst die Prinzessin an, dann Pinky. „Ich hatte mich so auf euch gefreut.“ „Wir glauben dir“, versicherte die Prinzessin. Abraham holte ein Etui hervor und öffnete es, ein schmaler goldener Ring mit einem Rubin lag darin. „Für dich“, sagte er und drückte der Prinzessin das Etui in die Hand, „es war der Lieblingsring meiner Mutter.“ Dann nahm er die Uhr vom Handgelenk und hielt sie Pinky hin.
„Kannst sie behalten“, knurrte der. „Kein Mensch würde mir glauben, daß ich die auf ehrliche Weise erworben habe.“ „Tante Emily hat daran gedacht.“ Abraham nahm einen Um schlag aus der Jackentasche. „Hier sind zwei von ihr unter zeichnete Schenkungsurkunden für euch.“ „Abraham?“ rief Tante Emily oben an der Treppe. „Abraham!“ „Ich komme.“ Abraham machte ein Gesicht wie ein geprügel ter Hund. „Bitte, nimm es doch. Ich kann wirklich nichts dafür.“ „Ja“, sagte Pinky, „mit uns machen sie, was sie wollen.“ Er nahm die Uhr und den Umschlag und gab Abraham die Hand. Zum erstenmal huschte ein Lächeln über dessen Gesicht. „Vielleicht sehen wir uns später mal wieder, und dann ...“ Er riß seine Hand los und rannte die Treppe hinauf. „Da geht er hin, der arme Abraham“, sagte die Prinzessin, es war nicht ganz klar herauszuhören, ob sie es spöttisch oder mit leidig meinte. Sie gab Pinky die Banknoten. „Hier, dein Honorar, Chef. Lei der reicht es nicht mal für das Ferienlager. Ich werde meinen Ring verkaufen.“ Pinky sah sie nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. „Das wirst du nicht. Potter wird uns den Rest geben.“ „Das glaubst du?“ „Und wie gerne er es uns geben wird! Ich habe da eine Idee. Aber jetzt müssen wir uns erst einmal trennen.“ Die Prinzessin sah ihn verwundert an. „Oder willst du mit auf ,Herren' kommen?“ * Der Skunk hockte allein vor dem Fernseher und brütete dumpf vor sich hin, er bemerkte Pinky erst, als der ein paarmal ver nehmlich hustete. „Ich habe lange darüber nachgedacht“, sagte Pinky, „glauben Sie nicht auch, daß es eine Strafe des Herrn ist?“ Er zeigte auf Potters Mütze. „Ich, an Ihrer Stelle, würde überlegen, was für eine Sünde ich begangen haben könnte, und es wiedergutma chen. Ich bin sicher, dann würde Gott verzeihen und den Fluch von Ihnen nehmen.“
„Meinst du wirklich?“ sagte Potter müde. „Ich bin felsenfest davon überzeugt“, erklärte Pinky. „Natür lich würde ich auch passende Gebete sprechen.“ „Hm“, machte Potter und drehte sich wieder dem Fernseher zu. Eine halbe Stunde später schickte er Pinky Bier holen. „Aber beeil dich“, sagte er, „es ist gleich acht.“ Nachdem Pinky das Bier abgeliefert hatte, untersuchte er den alten Safe unter dem Bett. Tatsächlich, die 848 Dollar lagen darin, nein, sogar 850. Pinky verstaute sie sicherheitshalber gleich in Monsters Badezimmerwandbrettgeheimschrank. Dann ging er in die Küche, nahm zwei irdene Schüsseln, goß in jede eine Tüte Joghurt und tat einen Schuß von dem Büffel milchsaft hinein. Er kostete vorsichtig, es schmeckte nicht schlecht. Die Potters sahen erstaunt auf, als er die Schüsseln servierte. „Im Laden hatten sie eine neue Sorte Joghurt“, erklärte Pinky treuherzig. „Aus Büffelmilch. Ich dachte, Sie sollten auch mal eine kleine Freude haben, Sie sind jetzt immer so be drückt.“ Die Potters kosteten erst mißtrauisch, sie wurden schließlich von ihren Zöglingen nicht mit Wohltaten verwöhnt, dann nick ten sie zufrieden und löffelten den Joghurt aus. Die Blindschlei che bedankte sich sogar mit einem Lächeln und fragte, ob er sich noch den Krimi ansehen wolle. Pinky ging lieber ins Bett. Wer weiß, wie die Wirkung der Büffelmilch ist, dachte er. Mitten in der Nacht rüttelte Potter ihn wach. „Du hattest recht!“ rief er. „Du hattest wirklich recht. Der Herr hat unsere Gebete erhört.“ Er zeigte auf seine Haare, die nur noch einen kleinen Blauschimmer hatten. „Oder steckst du dahinter?“ „Ich?“ fragte Pinky ganz erstaunt. „Na, ich weiß nicht. Ich trau dir allerhand zu.“ „Aber doch wohl keine Wunder, Mister Potter!“ „Sag mal, Pinky...“, der Skunk druckste herum“, „hast du zu fällig etwas gefunden?“ „Wieso, haben Sie etwas verloren?“ „Nein“, sagte Potter und ging hinaus. „Schlaf gut.“
Die Wandlung der Potters schien anzuhalten, sie waren auch nach drei Tagen noch vergnügt, und die Blindschleiche trällerte sogar ein Lied, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Potter er öffnete Pinky, sie wollten seinen dreizehnten Geburtstag groß feiern, er würde Monster und dessen neue Geschwister einla den. Monster strahlte, als er mit Miß Georgia ankam. „Na, wie steht's“, erkundigte sich Pinky, „darfst du ihr den Rücken waschen?“ „Noch nicht“, sagte Monster, „aber ich darf ihr schon bei den Schularbeiten helfen. Schade, daß sie nicht mit ins Ferienlager kommt.“ Er überreichte Pinky ein dickes Päckchen. „Von der Prescott-Familie. Die .Geschichte der südamerikanischen India ner'. Damit du beide Bände komplett hast. Und den Brief hier hat Tante Lucie gestern für dich abgegeben, von Abraham. Mach mal auf, ich bin gespannt wie ein Flitzbogen!“ Er stellte sich neben Pinky, so daß er gleich mitlesen konnte. Lieber Pinky! Als ich von Lucie erfuhr, daß Du Geburtstag hast, war ich fest entschlossen, zu Deiner Geburtstags feiej zu kommen. Dann mußte ich daran denken, wie schwer es für mich sein würde, in Eurem sicher sehr lustigen Kreis zu sitzen und dann wieder in meinen goldenen Käfig zurückzukehren. Außerdem schäme ich mich immer noch mächtig. Da wir mor gen nach New York fahren, brauche ich nicht mehr länger darüber nachzudenken. Tante Emily und ich wollen Dir zum Geburtstag — und zum Abschied — eine Freude machen. Der Kittsburgher Tierpark wird einen Elefanten bekommen: als Spende von Mister Absolon W. Beaver. Alles Gute. Für mich bist Du der beste Detektiv der Vereinigten Staaten, nein, der ganzen Welt. Dein Abraham.
Monster knuffte Pinky in die Seite. „Mann, Klasse! Was hast du denn sonst noch bekommen? “
„Sieh es dir an.“ Pinky schubste Monster ins große Zimmer, wo gerade das Möbelrücken begonnen hatte, um Platz für die Kaffeetafel zu schaffen. Es war wirklich eine festliche Tafel, mit weißen Decken, Kerzen und Blumen; die Potters hatten drei Torten spendiert, und Mammy Lu hatte zwei große Bleche Streuselkuchen gebacken. Endlich war alles an seinem Platz, nur das Geburtstagskind nicht. Monster lief in die Kammer, die Prinzessin in die Küche, Pinky war nirgends zu finden. „Wo kann er nur stecken?“ fragte die Prinzessin. Pinky saß auf seiner Mülltonne und träumte.