Ulf von Krause Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr
Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen Herausgegeb...
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Ulf von Krause Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr
Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen Herausgegeben von Thomas Jäger
Ulf von Krause
Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr Politischer Entscheidungsprozess mit Eskalationsdynamik
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Schindler / Verena Metzger VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Janssen Peters Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17855-4
Vorwort
Dieses Buch entstand als Dissertation, die im April 2010 im Fach Politikwissenschaft an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität Hagen eingereicht wurde. Es beinhaltet die wissenschaftliche Reflexion einer Entwicklung, die ich von 2001-2005 teilweise aus der ,,Innenperspekive" der politisch-militärischen Entscheidungsstrukturen beobachten konnte. Meine damals aufkeimenden Zweifel an der Rationalität der Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen - Rationalität im Sinne einer Zweck-Ziel-Mittel-Beziehung zwischen Politik und Militär - bildeten eine wesentliche Motivation, dem Zustandekommen der Entscheidungen mit wissenschaftlichen Methoden nachzuspüren. Dieses erfolgte im Bewusstsein, dass das Nachzeichnen von Entscheidungsprozessen ohne Einblick in interne Abläufe, die dem Forscher vor dem Öffuen der Archive weitestgehend verwehrt sind, lückenhaft bleiben muss. Somit stützt sich die Analyse auf die prinzipiell öffentlichen parlamentarischen Prozesse - auch, weil diese vor dem Hintergrund des Konstrukts der ,,Parlamentsarmee" durch das Bundesverfassungsgericht von besonderer Bedeutung sein sollten -, auf die Diskurse in der Gesellschaft sowie ergänzende Befragungen von und Interviews mit Parlamentariern und militärischen Verantwortungsträgern. Denjenigen, die dabei zu Antworten bereit waren, gilt mein Dank. Ich danke dem Betreuer meiner Dissertation, Herrn Univ.-Prof. (i.R.) Dr. Georg Simonis, ehemals Leiter des Fachgebiets Politik 11 (Internationale Politik), für die motivierende Beratung bei Themenformulierung und Strukturierung sowie für weiterführende, hilfreiche Anregungen bei der Erarbeitung. Weiterer Dank gilt Herrn Günter Wolf, der entstehende Entwürfe kontinuierlich auflogische Konsistenz und Verständlichkeit prüfte, mir in vielen Diskussionen als kritischer Partner für "geistiges Sparring" zur Verfügung stand und mich auch bei der redaktionellen Aufbereitung des Manuskripts unterstützte. Schließlich danke ich meiner Ehefrau Marlis von Krause für die mentale Unterstützung während der Erarbeitung und für die formale Durchsicht der letzten Fassung des Manuskripts. Königswinter, im Oktober 2010 Ulfvon Krause
Inhalt
Erster Teil- Grundlagen 1. Einführung 1.1 Empirischer Befund des ersten Augenscheins: Eskalation 1.2 Auslandseinsätze der Bundeswehr - Mittel der deutschen Außenpolitik seit den 90er Jahren 1.3 Einordnung in die politikwissenschaftliche Forschung 1.4 Entwicklung von Forschungsfragen 2. Angewandte Theorieelemente 2.1 Ansätze zur Erklärung des Inhalts von Außenpolitik
17 17 19 23 27 29 30
2.1.1 Einflüsse aus der internationalen Umwelt 2.1.1.1 Neorealismus 2.1.1.2 ModifizierterNeorealismus 2.1.1.3 Neoliberaler Institutionalismus 2.1.1.4 Transnationaler Konstruktivismus
30 30 31 32 33
2.1.2 Einflüsse innerhalb von Staat und Gesellschaft 2.1.2.1 Utilaristischer Liberalismus 2.1.2.2 Sozietaler Konstruktivismus 2.1.2.3 Einflüsse auf der Ebene der Individuen
34 35 38 39
2.1.3 Integrative Ansätze 2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
40 41
2.2.1 Multilateralismus
42
2.2.2 Nationale Interessen
45
2.2.3 Rollenkonzept der Zivilmacht
48
Inhalt
8
2.2.4 Zweck-Ziel-Mittel-Relation bei "klassischen Kriegen" und bei asymmetrischen Konflikten 2.2.4.1 Primat der Politik 2.2.4.2 Zweck-Ziel-Mittel-Relation bei Clausewitz 2.2.4.3 Gültigkeit bei asymmetrischen Konflikten 2.2.5 Demokratischer Frieden und ,,Parlamentsarmee" 2.2.5.1 Aspekte der Theorien des Demokratischen Friedens 2.2.5.2 Konstrukt der ,'parlamentsarmee" des Bundesverfassungsgerichts 2.2.5.3 Kriterien fürAuslandseinsätze
3. Methodik der Studie 3.1 Forschungsdesign Einzelfallstudie 3.1.1 Angewandte Methodenvielfalt 3.1.2 Methodische Probleme bei nichtöffentlichen Entscheidungsprozessen und die Rolle der Medien im Rahmen von investigativem Journalismus 3.2 Fallauswahl
51 51 52 53 60 60 63 66 69 69 69
70 71
3.2.1 Einzelschritte der Afghanistanentscheidungen
71
3.2.2 Auswahl der Eskalationsschritte
72
3.2.3 Begründung der Fallauswahl / Einordnung der Fallstudie
74
Zweiter Teil- Analyse Die Ausweitung der Afghanistaneinsätze: Resultat von Eigendynamik oder intentionalem Handeln? 4. Allgemeine Einßussfaktoren auf die Entscheidungen
79
4.1 Akteure
79
4.2 Institutionelle Rahmenbedingungen
84
4.3 Traditionslinien der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 - Zivilmachtdenken und Multilateralismus 87 4.4 ZwischenresÜIDee
91
Inhalt
5.
9
Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
93
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen im Spannungsfeld zwischen inneren und äußeren Einflussfaktoren
93
5.1.1 Situation in Afghanistan nach 2001 5.1.1.1 Geopolitische Situation 5.1.1.2 Gesellschaftliche Konfliktlinien 5.1.1.3 Fragile staatliche Strukturen 5.1.1.4 BÜTgerkriegsökonomie 5.1.1.5 Informationslage nach 2001
93 93 94 96 100 101
5.1.2 Besondere Bedingungen deutscher Außenpolitik nach dem 11. September 2001 (9/11) 5.1.2.1 Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat 5.1.2.2 Uneingeschränkte Solidarität und Bündnisfall 5.1.2.3 Zerwürfnis mit den USA über den Irak-Krieg und Versuch der Wiederherstellung des transatlantischen Verhältnisses
109
5.1.3 Interessen und Zielvorstellungen bei Partnern und internationalen Organisationen 5.1.3.1 USA 5.1.3.2 Vereinte Nationen 5.1.3.3 NATO 5.1.3.4 EU
111 112 118 122 127
5.1.4 Deutsche Zielvorstellungen 5.1.4.1 Kriterien fürAuslandseinsätze 5.1.4.2 Vager politischer Zweck bei den Erstentscheidungen für OEF und ISAF 200112002 5.1.4.3 Nachträgliches Ausformulieren zu ambitionierter ziviler und militärischer Zielvorstellungen 5.1.5 Zwischenresürnee 5.2 Dominanz militärischer Aspekte 5.2.1 Diskrepanz zwischen zivilen und militärischen Komponenten in der Realisierung der Zielvorstellungen
106 106 107
130 130
135 145 159 161 161
10
Inhalt
5.2.1.1 Quantitative Betrachtung 5.2.1.2 Qualitative Betrachtung
162 168
5.2.2 Übergreifen der Eskalationstendenzen von OEF aufISAF
170
5.2.3 Zwischenresütnee
174
5.3 Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan
175
5.3.1 Analyse
175
5.3.2 Zwischenresütnee
181
6. Eskalierende oder bremsende Einßüsse der Akteure 6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren
183 183
6.1.1 Agendasetting durch die Bundesregierung
184
6.1.2 Infonnationsvorsprung der Bundesregierung
185
6.1.3 Schwächen der parlamentarischen Kontrolle 6.1.3.1 Strukturprob1em der parlamentarischen Demokratie 6.1.3.2 "Rally 'Round the Flag" -Effekt und Pfadabhängigkeit 6.1.3.3 Fehlende strategische Kontrolle 6.1.3.4 Parlamentarische Kontrolle vs. militärische Geheimhaltung 6.1.3.5 Ausweichen aufDetailkontrolle der Durchführungsebene
192
199
6.1.4 Zwischenresütnee
201
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
192 193 194 197
203
6.2.1 Methodische Vorbemerkung
203
6.2.2 Skizze ausgewählter Diskursstränge zur Legitimation 6.2.2.1 Bündnissolidarität 6.2.2.2 Verteidigung am Hindukusch 6.2.2.3 Nationale Interessen
204 204 208 210
6.2.3 Grobanalyse zum Diskursstrang "Krieg" oder "Nicht-Krieg" 6.2.3.1 Diskurspositionen der Politik bis 2007
217 218
11
Inhalt
6.2.3.2 Diskurspositionen der öffentlichen Meinung bis 2007 6.2.3.3 Diskursbeiträge in der Populärliteratur 6.2.3.4 Veränderungen 2008/2009 6.2.4 Zwischenresürnee 6.3 Relevanz sonstiger Akteure
223 225 229 244 246
6.3.1 Parteien
247
6.3.2 Medien
250
6.3.3 Wissenschaft und "Think Tanks"
251
6.3.4 Verbände 6.3.4.1 Deutscher Bundeswehrverband (DBwV) 6.3.4.2 Nichtregierungsorganisationen (NRO)
254 254 260
6.3.5 Militärische Führung 6.3.5.1 Nationale Führung und Erstentscheidungen 6.3.5.2 NATO-Führung und Folgeentscheidungen 6.3.5.3 Nationale Führung und Folgeentscheidungen
262 263 265 268
6.3.6 Zwischenresürnee
273
Dritter Teil - Folgerungen 7. Ergebnis 7.1 Ergebnis der Überprüfung der Hypothesen aufPlausibilität
279 279
7.1.1 Multilateralismus und Zivilmachtdenken als relevante Einflussfaktoren, nicht hingegen "nationale Interessen"
279
7.1.2 Eskalatorische Wirkung des Multilateralismus
281
7.1.3 Spannungen zwischen Multilateralismus und Zivilmachttradition
282
7.1.4 Schwächung des Primats der Politik durch einen unpräzisen/unrealistischen politischen Zweck
282
7.1.5 Durch Diskrepanz zwischen zivilen und militärischen Mitteln steigendes Gewicht militärischer Aspekte
284
12
Inhalt
7.1.6 Trotz ,,Parlamentsannee" Dominanz der Exekutive in den Entscheidungsprozessen
285
7.1.7 Wegen Dominanz der Exekutive im gesellschaftlichen Diskurs kaum Relevanz anderer Akteure
287
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
8.
288
7.2.1 Bewertung der einzelnen Eskalationsschritte 7.2.1.1 Erstentscheidungen OEF und ISAF und Übernahme der ISAF-Führung 7.2.1.2 Ausweitung des ISAF-Engagements über Kabul hinaus (Kundus, Feyzabad) 7.2.1.3 Übernahme der Verantwortung für den Norden 7.2.1.4 Tomadoentsendung 7.2.1.5 Übernahme der QRF-Aufgabe 7.2.1.6 Beendigung OEF-Beteiligung und signifikante Erhöhung 2008 7.2.1.7 AWACS-Entscheidungen 2009 7.2.1.8 Aufstockung 2010
289
293 296 298
7.2.2 Gewicht der Hypothesen im Eskalationsprozess
300
7.2.3 Beantwortung der zentralen Forschungsfrage
301
289 290 290 291 292
7.3 Folgerungen für die Theoriebildung
307
Lehren aus der Causa Afghanistan ("Comparative Merit")
311
8.1 Durch Pfadabhängigkeit herausragende Bedeutung der Erstentscheidung
311
8.2 Stärkung der Rolle des Parlaments
314
8.3 Stärkung gesellschaftlicher Diskurse
318
8.4 Folgerungen für die Forschungsagenda
321
Nachwort
325
Inhalt
13
Anhang 9. Abkürzungsverzeichnis
333
10. Anlagen
335
10.1 Anlage 1: Forschungsfragen und Hypothesen
335
10.2 Anlage 2: Liste der Befragten / Interviewpartner
337
10.3 Anlage 3: Fragenkataloge
339
Anlage 3 a: Fragenkatalog für Vorsitzende/Obleute (AuswärtigerNerteidigungs-Ausschuss)
339
Anlage 3 b: Fragenkatalog für General Egon Ramms (Commander AJFC Brunssum)
341
Anlage 3 c: Fragenkatalog für Generalleutnant a.D. Norbert van Heyst (ehemaliger COM ISAF) 343 Anlage 3 d: Fragenkatalog für Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen (ehemaliger Deutscher Militärischer Vertreter im Military Committee)
344
Anlage 3 e: Fragenkatalog für General a.D. Gerhard Back (ehemaliger Commander AJFC Brunssum)
345
Anlage 3 f: Fragenkatalog für General Wolfgang Schneiderhan (Generalinspekteur der Bw)
346
10.4 Anlage 4: Entscheidungsschritte Afghanistaneinsätze
11. Literaturverzeichnis
347 349
11.1 Veröffentlichungen
349
11.2 Tages- und Wochenzeitungen
365
11.2.1 Druckausgaben
365
11.2.2 Online-Ausgaben
365
11.3 Ausgewertete TV-Sendungen mit Afghanistanbezug
366
11.4 Genutzte Homepages
367
11.5 Nicht veröffentlichte Vorträge
368
Personen-/Sachregister
369
Erster Teil
Grundlagen
1. Einführung
1.1 Empirischer Befund des ersten Augenscheins: Eskalation Ende 2001 setzte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder mit Hilfe der Vertrauensfrage die Zustimmung des Deutschen Bundestages durch, dass sich Deutschland mit mehreren Kontingenten an der Operation Enduring Freedom (OEF) beteiligte, darunter mit bis zu 100 Soldaten l in Afghanistan. Nur knapp 6 Wochen später wurde durch den Deutschen Bundestag eine Beteiligung an einem zweiten Afghanistan-Einsatz, der International Security Assistance Force (ISAF) mit bis zu 1.200 (weiteren) Soldaten gebilligt. Im Laufe der folgenden Jahre stimmte das Parlament immer wieder schrittweise Ausweitungen der Bundeswehreinsätze in Afghanistan zu, bis hin zu einer Kontingentobergrenze von 5.350 Soldaten im Februar 2010. Dieser Befund einer ,,Eskalation"2 wirft eine Reihe von Fragen auf. Ein erster Fragenkomplex rankt sich um die spezifische Rolle des Deutschen Bundestages bei Entscheidungen zu bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr. ,,Nationalstaatliche Entscheidungen über Krieg und Frieden sind zentraler Gegenstand der klassischen Demokratischen-Friedens-Forschung." (GeislBrockIMüller 2007, S. 69)
In dieser Forschungsrichtung kann man das Konstrukt der ,,Parlamentsarmee"3 des Bundesverfassungsgerichts (BVertD) als spezifische (und starke) Ausprägung der institutionellen Kontrolle der Exekutive bei Entscheidungen über Militäreinsätze interpretieren, offensichtlich mit dem Ziel, durch die Rechte des Parlaments vorschnelle Entscheidungen auf diesem Gebiet zu verhindern. So formuliert der Deutsche Bundestag in einer Broschüre zum Thema ,,Bundestag und Bundeswehr" plakativ:
2 3
Wenn im Folgenden von "Soldaten" gesprochen wird, so ist darunter immer zu verstehen "Soldaten und Soldatinnen". Der zugrunde gelegte Eskalationsbegriffwird im nächsten Abschnitt dieses Kapitels diskutiert. Das BVerfG prägte in seiner Entscheidung vom 12.07.2004 den Begriffdes ,,Parlamentsheeres" (vgl. Wiefelspütz 2005). Hier wird jedoch der korrektere Begriff "Parlamentsarmee" verwendet (vgl. z.B. Meyer2006, S. 51, in gleichem Sinne NoetzellSchreer 2007, S. 36, Klose 2007, S. 22, ebenso Gregor Mayntz. 2008, Umschlagtext). Zu der Qualifizierung als ,,Konstrukt" wird auf Kap. 2.2.5.2 verwiesen.
U. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
18
I. Einfiihrung ,,Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Das unterscheidet sie von den Streitkräften vieler anderer Länder. Der Deutsche Bundestag hat die Schlüsselrolle bei der Kontrolle der Streitkräfte inne, und nur mit Zustimmung des Parlaments sind bewaflhete Einsätze möglich." (Deutscher Bundestag 2008)
Damit stellt sich eine Reihe von Fragen zu der Ausweitung der Einsätze, die hier als "Eskalation" bezeichnet wird. Wurde die beobachtete Eskalation in einer Abfolge von Teilentscheidungen bewusst und gewollt vom Parlament beschlossen? Oder "entwickelte sich" eine Eskalationsdynamik trotz des Parlamentsvorbehalts? Wenn ja, worauf, aufweIche Faktoren bzw. Akteure, wäre die Eskalation zuriickzufUhren? Sind primär institutionelle Zwänge, z.B. im Sinne einer ,,Multilateralismusfalle" (Kaim 2007), oder Akteurshandeln für die Erklärung heranzuziehen? Sind diese Entscheidungen in eine Linie der Kontinuität der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland einzuordnen oder markieren sie einen Wandel der außenpolitischen Ausrichtung? Der Eskalationsbegriffwird zunächst rein deskriptiv verwendet. Anband von Merkmalen, die in Kap. 3.2 definiert werden, wird festzustellen sein, ob bei bestimmten Entscheidungsschritten eine Eskalation gegeben war oder nicht. Darüber hinaus machen die Fragen deutlich, dass der Begriff in dieser Untersuchung auch normativ angewendet wird. Es wird zu zeigen sein, dass mit der Idee der "Parlamentsarmee" und ihrer theoretischen Fundierung auch der Zweck verbunden war, eine ungewollte Eskalation zu verhindern. Wo das nicht gelingt, erhält der Eskalationsbegriff eine negative Konnotation. Ein zweiter Themenkomplex beinhaltet die seit Clausewitz viel diskutierte Frage des Verhältnisses von Politik und Militär, aus der Clausewitz in seiner Theorie des Krieges das Theorem vom Krieg als der ,,Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel" ableitet (Clausewitz 1952, Achtes Buch, S. 888).4 Und aus der er u.a. die Forderung nach dem Primat der Politik entwickelt, und zwar in einer Schärfe, die heute in Frage gestellt wird. 5 4 5
Im Rahmen dieser Fragestellung wird u.a. zu prüfen sein, ob es sich bei den Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan überhaupt um die Teilnahme an einem ,,Krieg" handelt. So formulierte Clausewitz: "Ja, es ist ein widersinniges Verfuhren, bei Kriegsentwürfen Militäre zu Rate zu ziehen, damit sie rein militärisch darüber urteilen sollen, wie die Kabinette wohl tun; aber noch widersinniger ist das Verlangen der Theoretiker, daß die vorhandenen Kriegsmittel dem Feldherrn überwiesen werden sollen, um danach eine rein militärischen Entwurf zum Kriege oder Feldzuge zu machen" (ebenda, S. 892, Hervorhebung im Original). Demgegenüber schreibt der Historiker Klaus Naumann unter der überschrift ,,Primat des Politischen - Die Eliteflihigkeit des Militärs": "Den Anforderungen einer strategischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik kann die politische Klasse allein gar nicht genügen. Eine strategische Beteiligung der Militärelite ist unausweichlich. Doch damit verändert sich die BaLance zwischen dem Politischen und dem Militärischen. Der formelle Primat der Politik als Auftrags- oder Weisungsverhältnis gegenüber den Streitkräften reicht immer weniger aus, er
1.2 Auslandseinsätze der Bundeswehr
19
Es wird im Rahmen dieser Studie daher auch zu untersuchen sein, wie sich bei den Entscheidungen für die Afghanistaneinsätze das Verhältnis zwischen Politik und Militär darstellt, insbesondere, wie der politische Zweck formuliert, wie daraus die militärischen Ziele bzw. die einzusetzenden Mittel abgeleitet wurden. Mithin stehen im Mittelpunkt dieser Analyse die politischen Entscheidungsprozesse über die Afghanistaneinsätze in Deutschland. Militärische Aspekte werden insoweit einbezogen, wie sie als Einflussgrößen auf die politischen Entscheidungen wirkten. Die Entscheidungen sind in eine Entwicklung einzuordnen, durch die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Rolle der Bundeswehr deutliche Veränderungen erfuhr.
1.2 Auslandseinsätze der Bundeswehr - Mittel der deutschen Außenpolitik seit den 90er Jahren Ein dominierendes Merkmal der Außenpolitik der ,,Bonner Republik" vor 1990 war - neben der Integration in das westliche Bündnissystem - eine "grundlegende Abwendung von der realpolitischen Großmachtidentität des deutschen Nationalstaates. Diplomatische Alleingänge, ÜberrumpelungsmHnÖver, rhetorisches Säbelrasseln, Einschüchterungsmaßnahmen, Erpressungsversuche oder Gewaltanwendung waren nicht länger akzeptierte Mittel der Politik." (Hellmann/Wolf/Schmidt 2007, S. 33)
Für die Bundeswehr bedeutete dieses, dass ihr Einsatz im Ausland verfassungsrechtlich nur dann zulässig sein sollte, wenn - wie es der Bundessicherheitsrat kurz nach Beginn der Kanzlerschaft von Helmut KoW am 03.11.1982 formuliert hatte"die Bundesrepublik Deutschland selbst angegriffen wird und sich mithin im Zustand der Ausübung des individuellen Selbstverteidigungsrechts befindet, sei es allein oder sei es gemeinsam mit anderen gleichzeitig angegriffenen Staaten".
Das führte zu dem ScWuss, dass ,,militärische Einsätze der Bw außerhalb des NATO-Bereichs grundsätzlich nicht in Frage kommen, es sei denn, es läge ein Konflikt zugrunde, der sich gleichzeitig als ein völkerrechtswidriger Angriff auf die Bundesrepublik darstellt." (zit. nach Siedschlag 1995, S. 35)
Diese Rechtsauffassung entsprach inhaltlich der der Vorgängerregierung Schmidt, so dass Siedschlag von einem "sicherheitspolitischen Konsensus" spricht (ebenda). Allerdings ergaben sich aus der deutschen Einheit und dem dadurch erfolgten Zugewinn an Souveränität Trends zur Veränderung. Als Stichworte seien hier muss durch einen Primat des Politischen ergänzt werden, der beide Seiten in die Verantwortung nimmt." (Naurnann 2008, S. 48)
20
1. Einfiihrung
nur genannt: "Normalisierung", "Gleichberechtigung", "machtpolitische Resozialisierung", aber auch kritisch ,,Militarisierung der Außenpolitik" (vgl. Hellmann/ WolflSchmidt 2007, S. 36 f.) bzw. - um eine andere Aufzählung zu verwenden ,,Normalität", ,,Kontinuität", "Gestaltungsmacht" (vgl. von Bredow 2008, S. 16)6. Diese Neuorientierung der deutschen Außenpolitik führte ab 1990 zu einer Zunahme von Einsätzen der Bundeswehr jenseits der NATO-Beistandsverpftichtung. Zwar gab es schon vor 1990 Einsätze der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen (VN) (vgl. Siedschlag 1995, S. 37 f.), die jedoch allesamt als humanitäre Unterstützung zu qualifizieren sind (vgl. Wölfte 2005, S.II). Aber nach der Wiedererlangung der Einheit änderte sich dieses schrittweise, wobei davon auszugehen ist, dass der Prozess des vermehrten Gebrauchs von Streitkräften als Mittel der Außenpolitik intentional vorangetrieben wurde. So erklärte Bundeskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung am 04.10.1990: ,,Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle sind uns bewußt: Dem vereinten Deutschland wächst eine größere Verantwortung in der Völkergemeinschaft zu, nicht zuletzt flir die Wahrung des Weltfriedens. Wir werden dieser Verantwortung sowohl im Rahmen der Vereinten Nationen, der Europäischen Gemeinschaft und der Atlantischen Allianz als auch in unserem Verhältnis zu einzelnen Ländern gerecht werden. Wir wollen daflir bald klare verfassungsrechtliehe Voraussetzungen schaffen. "7
Aus dem historischen Kontext ist zu schließen, dass die Absicht, klare verfassungsrechtliche Voraussetzungen zu schaffen, sich auf den Einsatz der Streitkräfte außerhalb des bisherigen (perzipierten) Rechtsrahmens bezog. Der erste "Test" kam kurz danach auf die Bundesregierung zu. Bei der Entscheidung zur (Nicht-)Beteiligung am Goltkrieg 1990/1991 konnte sie sich ,,zu einem entsprechenden militärischen Beitrag ... jedoch nicht durchringen und beteiligte sich stattdessen mit finanziellen Leistungen von über 17 Mrd. DM. In diesem Zusammenhang entstand der Begriffder ,Scheckbuch-Diplomatie', wobei dies den tatsächlichen deutschen Militärbeitrag gänzlich in den Hintergrund zu rücken scheint. Einheiten der deutschen Marine ersetzten die in die Golfregion abgezogenen NATO-Schiffe im Mittelmeer, deutsche Kampfjets wurden zur Unterstützung der NATO-Luftabwehr in die Türkei entsandt. Ohne entsprechende Vorbereitung leisteten deutsche Heeresflieger von türkischem Gebiet aus humanitäre Hilfe flir Flüchtlinge im Nordirak. Die nach dem Ende des Krieges eingesetzten Waffeninspektoren stützten sich 6 Jahre lang auf deutschen Lufttransport, während der oben erwähnte Marineverband Minen im Persischen Golfbeseitigte." (Wölfle 2005, S. 11)
6 7
Eine weitergehende Erörterung dieser Trends erfolgt im Kap. 4.3. Bundestags-Plenarprotokoll (BT PIPr) 11/228 v. 04.10.2000, S. 18028 (Hervorhebung im Original).
1.2 Auslandseinsätze der Bundeswehr
21
DembinskilHasencleverlWagner stellen fest, dass die Bundesregierung "unmittelbar nach dem Goltkrieg (begann), in der Öffentlichkeit fiir eine prominentere Rolle der Bundeswehr out of area zu werben und das schrittweise in die Tat umzusetzen" (Dembinski/Hasenc1everfWagner 2007, S. 138, Hervorhebung im Original).
Noch deutlicher wurde erkennbar, dass hinter der Ausweitung der Militäreinsätze eine bewusste Strategie steckte8, als der neu ernannte Bundesminister der Verteidigung Volker Rübe auf der Kommandeurtagung der Bundeswehr 1992 in Leipzig formulierte: "Wir werden uns bald der Forderung gegenübersehen, auch an Blauhelm-Aktionen der Vereinten Nationen teilzunehmen. Im Parlament gibt es auch hierfiir eine breite Unterstützung. Dies sollten wir nutzen, um noch in diesem Jahr die notwendigen Voraussetzungen fiir einen derartigen Einsatz zu schaffen. Heute gibt es bereits 40.000 Blauhelme in der Welt. Es wäre fiir das Ansehen und die politische Stellung des vereinten Deutschland ein schwerer Schaden, würden wir uns weiterhin verweigern.... Das Hineinwachsen in eine größere außenpolitische Verantwortung ist ein organischer Prozeß, der Zeit braucht. Dies gilt vor allem fiir militärische Kampfeinsätze, wie sie im Golf-Krieg im Auftrag der Vereinten Nationen durchgeführt wurden. Allerdings kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich Deutschland auf Dauer nicht der Pflicht entziehen kann, auch an Operationen zur Wahrung und Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit teilzunehmen." (Rübe 1992, S. 12 t)
Ein erster Schritt auf diesem Wege war der 1992 - schon vor dem Amtsantritt von Minister Rübe - begonnene Einsatz eines Sanitätsverbandes in Kambodscha im Rahmen von UNTAC9. Dieser war zwar weiterhin als ,,humanitärer Einsatz" zu qualifizieren, seine eskalatorische Qualität lag jedoch in der regionalen Dimension. Eine weitere Ausweitung der deutschen Militäreinsätze erfolgte 1993/1994 mit der Beteiligung an der VN-Operation UNOSOM 11 10 in Somalia, bei dem erstmals Truppenteile entsandt wurden, deren primärer Auftrag nicht humanitäre Unterstützung, sondern militärische Einsatzunterstützung war (logistische Unterstützung für eine indische Brigade). Erst als diese nicht im Operationsgebiet eintraf, verschob sich der Auftrag mehr und mehr in Richtung humanitärer Unterstützung der Bevölkerung. Bereits im Entscheidungsprozess zum Einsatz der AWACS-Flugzeuge während des Goltkrieges, aber auch im Zusammenhang mit der Entsendung des Kontingents für Somalia, wurde das BVerfG mit der Frage befasst, ob Einsätze außerhalb des Vertragsgebiets der NATO ("Out of Area-Einsätze") verfassungsgemäß 8 9 10
Vgl. dazu auch die Darstellung bei Meyer 2006, S. 54 f. UNTAC = United Nations Transitional Authority in Cambodia. UNOSOM = United Nations Operation in Somalia.
22
I. Einfiihrung
seien, ob also die Rechtsposition des Bundessicherheitsratsbeschlusses von 1982 aufgegeben werden dürfe. Mit seiner denkwürdigen Entscheidung vom 12.07.1994 räumte das BVerfG alle diesbezüglichen Zweifel aus (vgl. für eine detaillierte Darstellung und Bewertung der Entscheidung: Wiefelspütz 2005, S. 186 ff.). Diese neue Verfassungsinterpretation hatte Konsequenzen für die deutsche Sicherheitspolitik. Hellmann formulierte diese wie folgt: "Unübersehbar war jedenfalls, dass im Laufe der 1990er Jahre (und vor allem nach dem Regierungswechsel 1998) die Parameter deutscher Sicherheitspolitik sukzessive geographisch ausgedehnt und funktional umgedeutet wurden. Die Fixierung auf die Verteidigung des eigenen Territoriums wurde durch die Gewährleistung bzw. Förderung demokratischer Transformation und die Eindämmung von Gewalt in Osteuropa sowie Südosteuropa verdrängt. Funktional wurden die Parameter deutscher Sicherheitspolitik dahingehend umgedeutet, dass an die Stelle von Abschreckung und Territorialverteidigung eine ,proaktive' Strategie der ,Krisenprävention' bzw. eine reaktive Strategie des ,Krisenmanagements' trat, die ab Mitte der 1990er Jahre immer häufiger den Einsatz militärischer Mittel als ,ultima ratio' einschloss." (Hellmann 2007, S.6l2)11
Die entsprechenden Bundeswehreinsätze waren in Stichworten: Embargoüberwachung in Ex-Jugoslawien im Rahmen der NATO-Operation SHAPE GUARD 1992-1996; Beteiligung an den Operationen in Bosnien-Herzegowina IFOR12 1995-1996 und SFOR13 1996-2004 und KFOR seit 1999 14 sowie die Beteiligung am Luftkrieg gegen Serbien im Rahmen der Operation ALLIED FORCE 1999. Mit letzterer kam es zum ersten Kampfeinsatz in der Geschichte der Bundeswehr - nach der geographischen Ausweitung der letzten Jahre also auch eine Intensivierung des Gebrauchs von Militärmacht. In diese Entwicklung reihen sich die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr ein, die 2001 begannen und bei denen seitdem - wie oben angesprochen - eine andauernde Eskalation hinsichtlich der Zahl der Soldaten, der Einsatzregion sowie der Qualität der eingesetzten militärischen Mittel zu beobachten ist.
11
12 13 14
Von anderen Autoren werden die deutschen militärischen Einsätze bis 1999 hingegen als zu zögerlich und wenig überzeugend bewertet. So schreibt z.B. Christian Hacke: ,,Die deutschen Beiträge kamen fast immer zu spät, wirkten nie freiwillig und waren in keinem Fall Ergebnis eigener deutscher außenpolitischer Interessensbestimmung oder eigener aktiver Sicherheitspolitik, sondern waren Reaktion auf äußeren Druck und Beschwerden. Jetzt rächte sich, dass die Bundesrepublik schon in den achtziger Jahren mehrfache Aufforderungen zur militärischen Hilfe ,out ofarea' negativ beschieden hatte." (Hacke 2008,S. 502) IFOR = Implementation Force. SFOR = Stabilization Force. KFOR= Kosovo Force.
1.3 Einordnung in die politikwissenschaftliche Forschung
23
1.3 Einordnung in die politikwissenschaftliche Forschung Im Folgenden soll der Themenkomplex in die politikwissenschaftliche Forschung eingeordnet werden. Als erster grober Raster kann eine allgemeine zweidimensionale Systematik dienen, die für die Klassifikation sozialwissenschaftlicher Theorien entwickelt worden ist (vgl. Simonis/Elbers 2003, S. 102), die jedoch auch für die Verortung unserer Fragestellung geeignet erscheint. Sie differenziert nach Untersuchungsebenen und erkenntnistheoretischer Betrachtungsweise. 15 Nach dieser Systematik gehört unsere Fragestellung schwerpunktmäßig auf die Ebene der politischenAkteure. Wie die weitere Diskussion zeigen wird, müssen jedoch ggf. Wechselwirkungen zwischen der Akteurs- und der Systemebene sowie der Ebene der gesellschaftlichen Akteure berücksichtigt werden, so dass die Zuordnung zur Ebene der politischen Akteure nicht trennscharf ist. Von der erkenntnistheoretischen Orientierung her ist die Fragestellung als empirisch-analytisch einzustufen, allerdings ergänzt um konstruktivistische Aspekte. 16 Entscheidungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen einer Internationalen Organisation gehören zum Gegenstandsbereich der Außenpolitik. Dabei wird Außenpolitik in dieser Studie in einer kurzen und prägnanten Definition verstanden als "das Insgesamt der Handlungen eines Staates im Verkehr mit anderen Staaten oder mit nicht-staatlichen Akteuren außerhalb seiner territorialen Grenzen" (von Bredow 2008, S. 38 17). Implizit ist in der Definition enthalten, dass "Handlungen von Staaten" durchAkteure vollzogen werden, dass Außenpolitik also "gemacht" wird (vgl. Hellmann, Wolf, Schmidt 2007, S. 17). Das Verständnis von Außenpolitik basiert auf "der grundlegenden Unterscheidung zwischen einem Innen und einem Außen, einer Grenze, die zwischen jenen, die zu ,uns' gehören, und ,Fremden' eine Trennlinie sieht" (Hellmann/Wolf/ Schmidt 2007, S. 18). Diese Untersuchung greift aber nicht die früher in der Politikwissenschaft intensiv diskutierte Frage auf, ob es eine strikte Trennung von Außen- und Innen15
16 17
Simonis/Elbers unterscheiden die Untersuchungsebenen ,,Politische Akteure", ,,Politische Systeme" und "Politische Gesellschaft" sowie die erkenntnistheoretischen Orientierungen ,,historischdialektisch", ,,historisch-analytisch", "empirisch-analytisch" und ,,konstruktivistisch". Zur Diskussion des Verhältnisses konstruktivistischer Perspektiven zu ,,herkömmlichen" Ansätzen siehe die folgenden Ausflihrungen sowie Kap. 3.1.1. Von Bredow referiert an dieser Stelle einen "bunten Strauß" an Definitionen des Begriffs in der politikwissenschaftlichen Literatur sowie die Diskussion, ob Außenpolitik wirklich Außen-Politik sei. Die gewählte Definition entspricht - aufeinem höheren Abstraktionsgrad im Wesentlichen den ausflihrlichen Begriffsbestimmungen im Lexikon der Politik (vgl. Seidelmann 1994, S. 42 ff.).
24
I. Einfiihrung
politik gebe, wo die Grenzlinie verlaufe, ja, ob der Außenpolitik nicht sogar ein Primat über die Innenpolitik zukommen müsse. Vielmehr wird dem Konzept gefolgt, dass es eine "breite Schnittstelle beider Gegenstandsbereiche" gibt (vgl. von Bredow 2008, S. 37).18 Für die Analyse bedeutet ein solches Konzept, dass Forschungsansätze und Theorien zu wählen sind, die Interdependenzen zwischen innen- und außenpolitischen Prozessen erfassen und transparent machen können. Insofern folgt der Autor von Bredow nur mit Vorsicht, wenn dieser feststellt: ,,Aber der Kreis der Akteure, die vornehmlich in und mit der Außenpolitik beschäftigt sind, ist deutlich zu identifizieren und abzuheben von andem politischen Handlungsträgern." (von Bredow 2008, S. 37)
Vielmehr erscheint es realistisch, dass aufgrund von Interdependenzen auch die analytische Zuordnung der Akteure zu den beiden Politikbereichen unscharf werden kann, was in der Analyse zu beachten sein wird. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit deutscher Außenpolitik kann verschiedenen Grundlinien der bisherigen Forschung zugeordnet werden, einem ,,historisch-deskriptiven Zweig", einer "theoretisch informierten Außenpolitikforschung" und einer "theoriegeleiteten Außenpolitikanalyse" (vgl. HellmannlWolfl Schmidt 2007, S. 39 tf.). Während erstere den Schwerpunkt auf die bloße Rekonstruktion außenpolitischen Handelns legt, findet man bei theoretisch-informierten Forschungsvorhaben mehr und mehr einen "bewussteren Umgang mit theoretischem Gedankengut" (vgl. ebenda, S. 42). Diesen Trend fortführend steht bei theoriegeleiteten Arbeiten eine ,,Konzentration aufbestimmte Erklärungsvariablen (wie z.B. die Erforschung des Einflusses innergesellschaftlicher Kräfte sowie die Prägekraft von Normen und Werten) im Mittelpunkt des Interesses. Sie umfasst dabei sowohl die Überprüfung von Hypothesen der traditionellen Großtheorien der Internationalen Beziehungen - z.B. RealismusINeorealismus - wie auch der Anwendung neuerer, im weitesten Sinne konstruktivistischer Ansätze aufGegenstände aus dem Bereich der deutschen Außenpolitik." (Hellmann/Wolf/Schmidt 2007, S. 43)
Der Autor verortet seine Arbeit im Bereich der theoriegeleiteten Arbeiten, da er beabsichtigt, die Analyse nicht nur allgemein an einer Theorie bzw. Theorierichtung auszurichten, sondern sich durch ein breiteres Spektrum von Theorieelementen aus den unterschiedlichen Forschungssträngen und -perspektiven leiten zu lassen. 18
Schon vor 35 Jahren formulierte Karl Dietrich Bracher, dass ,,zugleich mit einer Scheidung von innerer und äußerer Politik auch der Satz vom Primat der Außenpolitik fragwürdig geworden" sei (zit. nach von Bredow, S. 37). Und Seidelmann stellt - unter Bezug auf Krippendorf- gleichermaßen fest: ,,Die traditionelle analytische Trennung von Innen- undAußenpolitik gilt inzwischen als überholt." (Seidelmann 1994, S. 43)
1.3 Einordnung in die politikwissenschaftliche Forschung
25
Relevante Forschungsansätze bzw. -perspektiven für außenpolitische Entscheidungen - in einer anderen Systematisierung auch "Großtheorien" genannt (vgl. ebenda, vgl. auch Kre1l2004, S. 34 ff. 19) - finden sich in der Literatur in großer Vielfalt. Mehrheitlich werden dabei (neo-) realistische, utilaristisch-liberale, z.T. marxistische und in jüngster Zeit auch feministische Ansätze diskutiert (vgl. z.B. Kre1l2004, S. 34 ff., vgl. auch Rittberger 2001 a, S. 3 fl). Hinzu tritt die konstruktivistische Perspektive. Rittberger macht deutlich, dass sich Neorealismus und utilaristischer Liberalismus einerseits und Konstruktivismus andererseits vorrangig durch das Handlungskonzept unterscheiden, das den Akteuren unterstellt wird. Bei ersteren handeln die Akteure nach der Logik rationaler Entscheidung (rational choice), bei letzterem nach der Logik der Angemessenheit (logic of appropriateness) (vgl. Rittberger 2001 a, S. 4). Risse, der diese Sicht weitgehend teilt, weist daraufhin, dass "die konstruktivistische Sichtweise häufig mit einer substantiellen, d.h. empirisch gehaltvollen Theorie der internationalen Beziehungen verwechselt (werde), so dass Konstruktivismus im gleichen Atemzug mit Realismus, Liberalismus, Marxismus, Institutionalismus oder anderen -ismen des Faches genannt wird" (Risse 2003, S. 100 f.).
Dieses sei aber irreführend. Vielmehr seien "fast alle substantiellen Theorieangebote und Fragestellungen der Internationalen Beziehungen (sind) inzwischen bereichert bzw. neu interpretiert worden" (Risse 2003, S. 102), was zu einem "zunehmenden theoretischen Pluralismus in den Internationalen Beziehungen" führe (vgl. Risse 2004, S.112).20 Diese Studie wird bewusst aufTheorieelemente aus verschiedenen Perspektiven abheben, einschließlich der konstruktivistischen. Näheres wird hierzu in Kapitel 2.1. ausgeführt. Sie wird dabei allerdings marxistische (bzw. polit-ökonomische) und feministische Ansätze nicht berücksichtigen, da diese für die Fragestellung wenig erklärungsmächtig erscheinen. Das schließt nicht aus, dass auch ein möglicher Einfluss ökonomischer Interessen auf die in Frage stehenden Entscheidungen zu analysieren sein wird. In einem Ansatz, der verschiedene Perspektiven integriert, stehen jedoch mögliche ökonomische Interessen neben anderen. 21 19
Krell grenzt Großtheorien einerseits gegen Metatheorien, andererseits gegen Bereichstheorien
ab. 20 21
Ähnlich argumentiert auch U1bert (2005, S. 1), fllr die der Konstruktivismus allerdings eher den Rang einer ,,Metatheorie" einnimmt. Demgegenüber ergibt sich aus einem polit-ökonomischen Ansatz, dass Fakten nur selektiv zur Kenntnis genommen bzw. bewertet werden, um politische Entscheidungen primär oder überwiegend ökonomisch erklären zu können. Einen solchen Analyseansatz findet man z.B. bei Wolf (2002), was u.a. in folgender Feststellung deutlich wird: "Schließlich bildet die Weltwirtschaft
26
I. Einfiihrung
In einem inzwischen "klassischen" Aufsatz zur Theorie außenpolitischer Entscheidungsprozesse entwickelt HelgaHaftendom eine dreidimensionale Systematik fiir derartige Entscheidungen. Diese differenziert nach folgenden Dimensionen: (1) ,,Ebenen der Analyse", (2) ,,Entscheidungstypen" und (3) "theoretische Annahmen". (Haftendorn 1990, S. 407 ff.). Als Analyseebenen unterscheidet sie "individuelle Akteure", ,,kollektive innerstaatliche Akteure", "Staaten" und ,,Internationale Organisationen". Entscheidungstypen sind für sie ,,Planungs-", ,,Routine-" und ,,Krisenentscheidungen". Theoretische Annahmen beziehen sich auf "rationales Handeln der Akteure", das "operative" sowie das" psychologische Umfeld". Erklärungen des Entscheidungsverhaltens durch das operative Umfeld ("operational environment") erfolgen aus den sozialen und organisatorischen Strukturen ("situational or organizational variables") oder aus dem internationale System (vgl. Haftendorn 1990, S. 406 ff.). Hier verknüpft Haftendorn also die Akteurs- und die Systemebene (vgl. ebenda, S. 404). Erklärungen durch das psychologische Umfeld zielen auf die Erfassung des Einflusses von "belief systems", dem "organizational code" oder "cognitive mapping" auf die Entscheidungen der Akteure (vgl. ebenda, S.413 ff.). Durch Einordnung des Komplexes der Afghanistanentscheidungen in Deutschland in die Systematik von Haftendorn kann man Anhaltspunkte fiir die Relevanz der Einflussfaktoren bzw. für die Auswahl der zu nutzenden Theorieelemente gewinnen. Bezüglich der Untersuchungsebene wird erkennbar, dass auf der Akteursebene sowohl individuelle und kollektive staatliche und nichtstaatliche Akteure, als auch Staaten und Internationale Organisationen zu berücksichtigen sind. Die Zuordnung der einzelnen Entscheidungsschritte der Afghanistanentscheidungen zu Entscheidungstypen erscheint nicht einheitlich. Sie dürfte im Zeitablauf variieren. Während die ersten Teilentscheidungen aufgrund des hohen Zeitdrucks sowie des Fehlens hinreichender Informationen über Einsatzziele und -bedingungen Merkmale von Krisenentscheidungen aufwiesen, spricht einiges dafür, dass sich die Entscheidungen im Laufe der Zeit zunehmend zu Routineentscheidungen entwickelten. Hinsichtlich der theoretischen Annahmen sind sowohl die Handlungslogik der Akteure als auch das operative Umfeld - in diesem Kontext Z.B. das nationale und internationale Institutionengefüge - als analyserelevante Faktoren zu berücksichtigen, darüber hinaus aber auch das psychologische Umfeld - z.B. das innenpolitische Meinungsbild sowie die Erwartungen anderer Staaten und internationaler Akteure. einen wichtigen Hintergrund fllr die Militarisierung von Politik: Die fehlende Nachfrage der Massen wird durch die Nachfrage nach Waffen ersetzt." (vgL Wolf 2002, hinterer Klappentext)
1.4 Entwicklung von Forschungsfragen
27
Zusammengefasst stellt diese Untersuchung somit eine theoriegeleitete Analyse von Krisen- und Routineentscheidungen aufder Ebene nationaler Akteure dar, die in ein nationales sowie internationales Institutionen- und Denkgefüge eingebettet sind, mit denen sie in Wechselwirkung stehen. Dabei werden theoretische Ansätze aus unterschiedlichen Perspektiven heranzuziehen sein.
1.4 Entwicklung von Forschungsfragen Nach der Einordnung des Problemkomplexes in die politikwissenschaftliche Forschung sollen im Folgenden die Forschungsfragen dieser Studie präzisiert werden. Die zentrale Fragestellung leitet sich aus dem ,,Befund des ersten Augenscheins" - Eskalation - und der Besonderheit der deutschen Rechtslage ab. Sie lautet: Welche Erklärungen gibt es - vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich starken Stellung des Deutschen Bundestages ("Parlamentsarmee") - für die Eskalationsdynamik der deutschen Einsätze? Diese übergreifende Fragestellung wird in eine Reihe von Teilfragen aufgelöst, zu denen später - im Zusammenhang mit der Darstellung der relevanten Theorieelemente und Konzepte - Hypothesen formuliert werden. Die erste Teilfrage knüpft an die Debatte in der Politikwissenschaft der 90er Jahre an, ob die deutsche Außenpolitik in der Kontinuität eines ausgeprägten Multilateralismus steht, oder ob die veränderten Rahmenbedingungen in Europa nach 1990 zu einem Wandel in Richtung einer Nutzung neuer Gestaltungsspielräume geführt haben. 22 Auf unseren Problembereich übertragen führt diese Überlegung zur ersten Teilfrage: F 1: Waren bei den einzelnen Entscheidungsschritten für die Afghanistaneinsätze mehr die außenpolitischen Traditionslinien der Bundesrepublik Deutschland, neue außenpolitische Interessen undZielvorstellungen der Bundesrepublik und/oder Erwartungen von Internationalen Organisationen bzw. von Bündnispartnern ausschlaggebend? Die zweite Teilfrage zielt darauf ab festzustellen, wie sich in den Afghanistanentscheidungen das Verhältnis VOn Politik und Militär darstellt. Sie lautet: F 2: Ist als Grundlagefür die Entscheidungen eine stimmige Zweck-Ziel-Mittelrelation im Clausewitzschen Sinne identifizierbar? Die nächsten Teilfragen beziehen sich auf die Akteure. Im Mittelpunkt steht dabei die Machtverteilung zwischen Parlament und Exekutive, wie sie durch das Institutionengefüge bestimmt wird, und zwar sowohl im Verfassungsrecht als auch in der 22
vgl. zu einer Skizze dieser Diskussion Risse 2007, S. 49 f. sowie Mau112004, S. 17 f.
28
1. Einfiihrung
Verfassungswirklichkeit. Darüber hinaus geht es aber auch um den Einfluss anderer relevanter Akteure auf die Entscheidungsschritte, wobei in diesen Fragekomplex auch die gesellschaftlichen Diskurse einbezogen werden. Die Teilfragen lauten:
F 3: Welche Akteure bzw. welche Merkmale des Institutionengefüges waren in den Entscheidungsprozessen relevant? Wirkten sie eskalationsfördernd oder -hemmend? F 4: Wie beeinflussten gesellschaftliche Diskurse die Entscheidungsprozesse?
2. Angewandte Theorieelemente
Nach der Einordnung des Themenkomplexes in die politikwissenschaftliche Forschung und der Präzisierung der Forschungsfragen sollen im folgenden Kapitel die Theorieelemente diskutiert werden, die für die Analyse herangezogen werden. Durch die territoriale Definition des bürgerlichen Nationalstaates im Westfälischen Staatensystem, in dem "politische Identität gegeneinander und nicht miteinander bestimmt wurde" (Seidelmann 2004, S. 1), war zunächst eine Trennung von eigenen und ausländischen Interessen entstanden. Dieses hatte zu einer weitgehend unabhängigen Außenpolitik der einzelnen Staaten geführt, die vorrangig der Exekutive zugeordnet war (vgl. Seidelmann 1994, S. 42, 47). Seit geraumer Zeit werden jedoch in der Politikwissenschaft erkennbare Veränderungsprozesse diskutiert. So beschreiben KarlIKrause schon 1978 als neue Struktunnerkmale von Außenpolitik die Ausweitung des Gegenstandsbereichs, eine wachsende Komplexität, die Zunahme der relevanten Akteure sowie den Trend, dass außenpolitische Entscheidungen immer weniger nationale Angelegenheiten sind. Dadurch konstatieren sie eine Tendenz zur Entparlamentarisierung (KarV Krause 1978, S. 55 f.). Knapp 30 Jahre später skizziert das Handbuch zur Deutschen Außenpolitik als Ausprägungen moderner Außenpolitik die Aspekte Demokratisierung, Europäisierung, Transnationalisierung und Globalisierung (vgl. Hellmann, Wolf, Schmidt 2007, S. 19 ff.). Es ist plausibel, dass derartige Veränderungen im Verständnis von Außenpolitik unterschiedliche theoretische Zugänge zur Analyse außenpolitischer Entscheidungen nach sich ziehen. Die Erörterung des theoretischen Rahmens soll in zwei Schritten erfolgen: zunächst werden verschiedene Ansätze zur Erklärung des Inhalts von Außenpolitik skizziert und diskutiert. Danach werden Einzeltheorien bzw. Theorieelemente soweit dargestellt, wie es für die Verwendung in dieser Studie - d.h. als Bestandteil des theoretischen Rahmens für die empirische Analyse - erforderlich erscheint. Die Skizze der Theorien stützt sich im Wesentlichen auf das Projekt eines Autorenteams um Volker Rittberger, in dem die deutsche Außenpolitik nach der Wiedervereinigung analysiert wurde (Rittberger 2001). Als Grundlage wurde durch die Autoren u.a. eine "recht aufwendige Theorie- (Re-) Konstruktionsarbeit geU. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
2. Angewandte Theorieelemente
30
leistet" (vgl. List 2002, S. 203), in der die vielfältige, vorrangig angelsächsische Literatur zu den Großtheorien umfassend verarbeitet wurde. Da die hier zu leistende Analyse den Schwerpunkt nicht bei den Theorien sucht, sondern theoriegeleitet empirisch vorgehen will, erscheint es aus arbeitsökonomischen Gründen zweckmäßig, sich auf die profunde Aufarbeitung der Theorien im Rittberger-Projekt zu stützen und auf die Rezeption der anglo-amerikanischen Originalliteratur weitgehend zu verzichten. Die theoretischen Ansätze werden danach geordnet, ob sie Außenpolitik durch Faktoren der internationalen Umwelt ("von außen") oder aus gesellschaftlichen bzw. innenpolitischen Faktoren ("von innen") erklären. 2.1 Ansätze zur Erklärung des Inhalts von Außenpolitik
2.1.1 Einflüsse aus der internationalen Umwelt 2.1.1.1 Neorealismus Lange Zeit hindurch war der dominierende Ansatz zum Verständnis von Außenpolitik die "exklusive" Annahme, nur äußere Einflüsse bestimmten das außenpolitische Handeln eines Staates. Einflüsse innerhalb des Staates oder gar individuelle Faktoren wurden weitgehend ausgeblendet. Die Forschungsperspektive im Rahmen dieser Tradition, die vor allem während des Kalten Krieges überwog, war der Neorealismus, der im Wesentlichen aus den Arbeiten von Kenneth N. Waltz hervorging (Waltz 1979). Bei dieser Forschungsrichtung handelt es sich aber eigentlich nicht um einen Theorienkomplex zur Erklärung von Außenpolitik, sondern zur Erklärung der internationalen Beziehungen (vgl. Baumann/Rittberger/Wagner 2001, S. 37 f.). Gleichwohl wurden und werden aus neorealistischen Überlegungen Ableitungen zum außenpolitischen Verhalten von Staaten gewonnen,23 so dass in der Literatur auch von neorealistischen Theorien der Außenpolitik gesprochen wird. 24 Am plausibelsten erscheint eine Position, nach der die Struktur des internationalen Systems den Staaten Anreize und Restriktionen für ein den machtpo23
24
BaumannlRittberger/Wagner formulieren prägnant (2001, S. 37): ,,Although neorealism frequently analyses state behaviour, neorealism lacks an explicit theory of foreign policy". Waltz selbst verneinte vehement, dass aus dem Theorienansatz auch Schlussfolgerungen für die Außenpolitik eines einzelnen Staates gezogen werden können und titelte: "International Politics is not Foreign Policy" (Waltz 1996). Vgl. zum Beispiel die Einführung von Volker Rittberger zu seinem Forschungsbericht über die deutsche Außeupolitik nach der Wiedervereinigung, in der er schreibt: "To achieve these goals, we bad to formulate three theories oJJoreign policy which could be submitted to an empirical test." Im folgendeu skizziert er dann Realismus, modifizierteu Realismus und utilaristischeu Liberalismus (Rittberger 2001 a, S. 3 ff., Hervorhebung UvK)
2.1 Ansätze zur Erklärung des Inhalts von Außenpolitik
31
litischen Realitäten entsprechendes Verhalten setzt, ohne die Außenpolitik zu determinieren (vgl. Baumann 2007, S. 65 25 ). Neorealistische Theorieansätze kommen mit einer geringen Zahl von Annahmen und Variablen aus. Sie sehen Staaten als einzige Akteure der Außenpolitik, denen sie rationales Akteursverhalten und den Willen zum Überleben unterstellen, deren primäres Ziel also die Selbstbehauptung ist. Als unabhängige Variablen definieren sie erstens ein Staatensystem, das durch das Fehlen einer übergeordneten Instanz gekennzeichnet ist (,,Anarchie"), und zweitens die relative Machtverteilung der Staaten in diesem System. Diese bestimmen in derartigen Theorieansätzen das außenpolitische Verhalten der jeweiligen Staaten. Bezogen aufunsere Fragestellung nach Entscheidungsprozessen in der deutschen Außenpolitik nach 1990 wäre aus der neorealistischen Perspektive im Sinne von Waltz, die These der Herausbildung einer "Zentralmacht Deutschland" abzuleiten gewesen, die eine aufeigene Interessen ausgerichtete und zunehmend unilaterale Außenpolitik anstrebt. Wie die Forschungsergebnisse zum außenpolitischen Verhalten der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung aber weit überwiegend zeigen, ist die empirische Evidenz dieser Perspektive gering (vgl. zu dieser Diskussion: Baumann 2007, S. 67 ff.), so dass dieser Theorieansatz in dieser Studie nicht weiter verfolgt werden soll. 2.1.1.2 Modifizierter Neorealismus Allerdings gibt es in der neorealistischen Literatur Weiterentwicklungen, die für diese Analyse relevant sein können. Sie lassen sich unter dem Begriff "Modifizierter Neorealismus" subsummieren (vgl. Baumann/RittbergerlWagner 2001, S. 53 ff.).26 Kernstück dieser theoretischen Weiterentwicklung ist die ·Überlegung, dass Machtpolitik (als eine zentrale Kategorie des Neorealismus) in zwei unterschiedlichen Ausprägungen zu Tage treten kann, und zwar einerseits im Streben nach Autonomie und/oder andererseits nach Einfluss (vgl. ebenda, S. 44 f.). Wenn zu entscheiden ist, ob ein Staat sich Internationalen Organisationen anschließt bzw. diese verlässt, können diese beiden Teilziele in Konkurrenz zuein25
26
Baumann formuliert: "Die relative Machtposition eines Staates ist ein wesentlicher Faktor für seine Außenpolitik, doch dem Staat bleibt auch die Möglichkeit, sich nicht entsprechend seiner Machtposition zu verhalten, was aus Sicht der Theorie jedoch höchst unklug wäre, da das Handeln wider die Systern1ogik: rnittel- und langfristig erhebliche Nachteile für den Staat mit sich brächte." (Baumann 2007, S. 65) Baumann/Rittberger/Wagner beziehen sich auf Brooks, der zwischen "neorealism" und "postclassical realism" unterscheidet. Den letzteren Begriffhalten sie für unglücklich, da er bereits in der Abgrenzung des Neorealismus vom klassischen Realismus eines Edward H. Carr und Hans J. Morgenthau verwendet wird (vgl. ebenda, S. 54).
32
2. Angewandte Theorieelemente
ander stehen. Denn die Einbindung in solche Organisationen verringert den Grad der Unabhängigkeit in außenpolitischen Entscheidungen - also seine Autonomie - kann aber andererseits seine Einflussmöglichkeiten auf andere Staaten erhöhen. Die unterschiedliche Priorisierung dieser beiden Ziele im Konfliktfall kann als Kriterium zur Unterscheidung verschiedener Zweige des Neorealismus herangezogen werden. Im Verständnis von Waltz und seinen Anhängern genießt das Ziel der Autonomie absoluten Vorrang, so dass Staaten Internationale Organisationen nach Möglichkeit meiden. Demgegenüber sehen andere Autoren Konstellationen, in denen diese absolute Priorität der Autonomie nicht greift, so dass es auch unter neorealistischen Annahmen rational sein kann, Internationalen Organisationen beizutreten (vgl. für einen Überblick BaumannlRittbergerlWagner 2001, S. 54 f.). Das ist dann der Fall, wenn der Zugewinn an Einflussmöglichkeiten einen höheren Nutzen verspricht als der Verlust an Autonomie. Solche Konstellationen sind durch eine vergleichsweise geringe direkte Bedrohung der Sicherheit eines Staates gekennzeichnet (BaumannlRittbergerlWagner sprechen von "security pressure" (ebenda, S. 55).27 Als ein aktuelles Beispiel für die Erklärungskraft dieser Theorievariante kann die Wertung der außenpolitischen Strategie der USA als "instrumenteller" bzw. "selektiver Multilateralismus" oder als "kompetitiver Multi-Multilateralismus" gelten. Kooperation in Internationalen Organisationen bzw. ,,Koalitionen der Willigen" findet nur dort und nur so lange statt, wie es den Interessen der USA förderlich ist. (vgl. Bram12009, S. 16, S. 20). 2.1.1.3 Neoliberaler Institutionalismus Damit rückt die modifizierte neorealistische Theorie hinsichtlich der Frage einer Einbindung in Internationale Organisationen in die Nähe des neoliberalen Institutionalismus im Verständnis von Robert O. Keohane, der die rationalistische Erklärung von Kooperation in das Theoriengebäude des Institutionalismus einfiihrte (vgl. Züm 1994, S. 320 f., vgl. auch BaumannlRittbergerlWagner 2001, S. 56). Die empirische Evidenz dieser Theorievariante wurde durch die Forschungen zur Interdependenz (vgl. Z.B. Keohane/Nye 1977) und zu Regimen (vgl. als "Klassiker" Keohane 1984, für einen Überblick List 2007) eindrucksvoll bestätigt. Da im Kontext dieser Studie Multilateralismus einen zentralen Untersuchungsaspekt darstellt, ist die Einbindung in Internationale Organisationen als ein theoretischer Rahmen für die Analyse in dieser Studie relevant. Dabei soll nicht weiter differenziert werden, ob die Einbindung mehr aus der modifiziert realistischen 27
Durch eine solche überlegung wird in das neorealistische Theoriengebäude eine weitere (intervenierende) Variable eingefügt (vgL Baumann/RittbergerlWagner 2001, S. 55).
2.1 Ansätze zur Erklärung des Inhalts von Außenpolitik
33
oder der institutionalistischen Perspektive zu erklären ist. Wesentlich ist, dass es sich um Einflüsse von außen aufdie außenpolitische Entscheidungsfindung handelt. 2.1.1.4 Transnationaler Konstruktivismus (Modifiziert) neorealistische und institutionalistische Theorieansätze gehen wie oben skizziert - beide von rational handelnden Akteuren aus. Dieser Annahme setzt die neuere Forschungsrichtung des Konstruktivismus eine andere Handlungsmotivation entgegen, die der Logik des "angemessenen Handelns". Nicht das Kalkül, ihre Interessen maximal durchsetzen (Modell des homo oeconomicus), leitet das Handeln der Akteure, sondern ihr Bemühen, Übereinstimmung mit "wertegestützten, intersubjektiv geteilten, Erwartungen angemessenen Verhaltens (soziale Normen)" zu erreichen (Modell des homo soziologicus) (Boekle, Rittberger Wagner 2001, S. 7F8). Akteure handeln nach dieser Vorstellung somit ,,norm- und regelgeleitet auf dem Hintergrund subjektiver Faktoren, historisch-kultureller Erfahrungen und institutioneller Einflüsse" (vgl. ebenda, S. 74). In einer konstruktivistischen Theorie der Außenpolitik sind Normen die unabhängige Variable. Zu deren Operationalisierung heben Boekle/Rittberger/Wagner dabei auf die Kriterien "Kommunalität" und "Spezifizität" ab. 29 Soweit ein solches Normengefüge der transnationalen Umwelt zuzuordnen ist, gehört es in den bisher diskutierten Kontext von Einflüssen aufAußenpolitik von außen. Soweit es zur innergesellschaftlichen Sphäre gehört, wird es im nächsten Kapitel zu erörtern sein. Wie der Neorealismus und der neoliberale Institutionalismus so geht auch der transnationale Konstruktivismus davon aus, dass das außenpolitische Verhalten von Staaten vor allem durch Einflüsse aus der internationalen Umwelt geprägt wird. Dabei wird das neorealistische Konzept des internationalen Systems durch 28
29
Die Autoren stützen sich bei ihrer Definition des Begriffs "Soziale Normen" auf Finnernore/Sikkink und Legro (vgl. ebenda, S. 74). Sie verstehen dabei Nonnen auch als kleinere Einheit von ,,Internationalen Institutionen", die "Sets von aufeinander bezogene Normen (repräsentieren), die in ihrer Gesamtheit Rollen konstituieren und den diesen zugeschriebenen konkreten Verhaltenserwartungen eine Bedeutung geben ... Gleichzeitig verleihen Institutionen Normen Dauerhaftigkeit" (ebenda, S. 83, Rervorhebung im Original). Vgl. fiir eine umfassende Darstellung des komplexen Begriffs ,,Institutionen" in den Sozialwissenschaften Waschkuhn 1994. Bei der Kommunalität geht es um die Menge von Einheiten eines sozialen Systems, die eine Verhaltenserwartung teilen. Erst wenn eine kritische Masse erreicht ist ("tipping point"), kann von einer Wirkung der Norm ausgegangen werden. Die Bestimmung des tipping point ist theoretisch äußerst problematisch. Sie erfolgt bei BoeklelRittbergerlWagner pragmatisch ("eine klare Mehrheit"). Bei der Spezifizität geht es um den Grad der Präzision, mit der angemessenes und unangemessenes Verhalten unterschieden werden können (vgl. Boekle, Rittberger, Wagner 200 I, S. 76).
34
2. Angewandte Theorieelemente
das der internationalen Gesellschaft ersetzt, "die als soziales System die Identitäten und Präferenzen ihrer Mitglieder konstituiert und die durch deren Handeln reproduziert wird."30 Auf diese Weise entsteht Gleichartigkeit im Verhalten von Staaten (Isomorphie), die auf die Wirkung internationaler Normen zurückgeführt wird (vgl. Boekle, Rittberger Wagner 2001, S. 71, S. 82).31 Internationale Normen wirken auf das außenpolitische Handeln von Staaten, weil diese um ihre Reputation als normgerecht handelnde Mitglieder der transnationalen Gesellschaft bemüht sind. Dabei hebt Reputation im Konstruktivismus auf Legitimität ab, im Gegensatz zum Reputationsbegriffrationalistischer Theorien, bei denen das Interesse an Reputation nutzenorientiert ist (Anerkennung als verlässlicher Verbündeter bzw. Verhandlungspartner). Dieses unterschiedliche Konzept von Reputation führt auch zu unterschiedlicher Sanktionierung von Normverletzungen. Bei rationalistischen Theorien sind dieses vor allem materielle Sanktionen, die die Kosten einer Handlungsalternative erhöhen, bei konstruktivistischen Theorien immaterielle bzw. symbolische Sanktionen, die den Status eines Staates als legitimes Mitglied der Gemeinschaft in Frage stellen (vgl. ebenda, S. 79). In diesem Konzept des transnationalen Konstruktivismus spielen Internationale Organisationen darüber hinaus eine Rolle als "Sozialisatoren", als "teachers of norms". Staaten berücksichtigen die Verhaltensanforderungen, die von Internationalen Organisationen an sie gerichtet werden, um in der Wertegemeinschaft, die diese repräsentieren, als gleichberechtigt anerkannt zu werden (vgl. ebenda, S. 78 f.). Insbesondere aufgrund der Rolle der internationalen Organisationen sind bei der Diskussion von Entscheidungen über die Afghanistaneinsätze im Lichte des Multilateralismus somit auch konstruktivistische Erklärungsmuster mit heranzuziehen.
2.1.2 Einflüsse innerhalb von Staat und Gesellschaft Im Gegensatz zu neorealistischen Ansätzen, bei denen die Außenpolitik eines Staates nur durch die Konstellation des Staatensystems - bei identischem Interesse aller Staaten an ihrem Selbsterhalt - bestimmt oder zumindest beeinflusst wird, gehen liberale Theorien der Internationalen Beziehungen von der Annahme 30 31
Bei dieser Reproduktion kann es auch zu einer Veränderung der Normen ko=en, die damit nur für einen gegeben Zeitraum als fix anzusehen sind. Die Autoren formulieren: ,,Normgerechtes Verhalten wird nicht wie in rationalistischen Erklärungen mit einer ,Nachfrage' der Staaten nach geregelter internationaler Kooperation erklärt (Keohane 1983). Vielmehr wird das ,Angebot' von wertegestützten Erwartungen angemessenen Verhaltens in der internationalen Gesellschaft als Ursache für isomorphes Staatenverhalten betrachtet." (ebenda, S. 83) Der Quellenhinweis bezieht sich auf Keohane, Robert O. (1983): The Demand for International Regimes, in: Stephen D. Krasner (Hrsg.), International Regimes, Ithaca, NY, 141-171 (vgl. ebenda, S. 100).
2.1 Ansätze zur Erklärung des Inhalts von Außenpolitik
35
aus, dass Staaten in ein staatlich-gesellschaftliches Beziehungsgeflecht eingebettet sind, das eine "fundamentale Wirkung aufihr Verhalten in der Weltpolitik" entfaltet. Moravcsik formuliert diese Abgrenzung prägnant wie folgt: "Social ideas, interests, and institutions influence state behavior by shaping state preferences,
that is, the fundamental social pUIJloses underlying the strategie ca1culations of governments. For liberals, the configuration of state preferences matters most in world politics - not, as realists argue, the configuration of capabilities and not, as institutionalists (that is, functional regime theorists) maintain, the configuration of information and institutions." (Moravcsik 1997, S. 513)32
2.1.2.1
Utilaristischer Liberalismus
Diese Prämissen der liberalen Theorie verbinden Freund/Rittberger mit der Annahme rational handelnder Akteure und entwickeln daraus eine "Utilaristisch-Liberale Außenpolitiktheorie" (vgl. Freund/Rittberger 2001, S. 68), wobei sie zwischen einer strukturbezogenen ("structural") und einer amtsbasierten ("agency based") Variante unterscheiden. Letztere hebt darauf ab, die Interessen der innenpolitischen Akteure und die Strukturen der Interessenvermittlung, die in Policy-Netzwerken interagieren, in die Analyse zur Erklärung von Außenpolitik einzubeziehen, (vgl. ebenda, S. 71 ff.). Diese Variante soll im Folgenden skizziert werden. Die Autoren entwickeln für ihren Theorieansatz eine Systematik der Akteure im außenpolitischen Entscheidungsprozess (vgl. dazu ebenda, S. 79 ff.). Sie unterscheiden "Politische", "Administrative", "Politisch-Administrative"33 und "Private Akteure". Erstere bilden das Politisch-Administrative System (PAS), letztere unterteilen sie in "Unternehmen" ("companies"), "Ökonomische Interessenverbände" ("economic pressure groups") und "Politische Interessengruppen" ("political advocacy groupS").34 32
33
34
Moravcsik hebt nicht nur auf die Beziehung Staat-Gesellschaft im Inneren ab, sondern auch auf die transnationale ("the relationship of state to the domestic and transnational social context"). Insoweit bedeutet di: Einordnung im Kapitel "Einflüsse innerhalb des Staates" eine Eingrenzung seines Konzepts. Politische Akteure hängen direkt von einer Wahl ab, sei es - wie Parlamentarier - vom Wähler, sei es - wie der deutsche Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin - vom Parlament. Administrative Akteure werden ernannt - im deutschen System typischerweise Beamte, z.B. in den Referaten der Ministerien. Politisch-administrative Akteure bilden das Bindeglied zwischen diesen beiden anderen Kategorien. Im deutschen System gehören z.B. die Bundesminister zu dieser Kategorie (vgl. FreundlRittberger 2001, S. 81, 84, 85). Das Policy-Netzwerkkonzept von FreundlRittberger entspricht in etwa der Definition im Lexikon der Politik (vgl. Schubert 1998), allerdings differenzieren sie die Akteure weiter aus und betrachten zusätzlich zu den Interessengruppen auch Unternehmen. Der Autor dieser Studie verwendet für die Übersetzung von "economic pressure groups" und "political advocacy groups" die beiden Begriffe "Interessengruppen" und "Interessenverbände" differenzierend, anders als in der Literatur, wo sie z.T. synonym verwendet werden (vgl. z.B. Thibaut 1998). Dieses ergibt
36
2. Angewandte Theorieelemente
Den Akteuren ordnen sie theoretisch ermittelte ,,Basis-Interessen" zu. Diese sind bei allen Akteuren gleichermaßen auf Erwerb bzw. Erhalt von materiellen und immateriellen Ressourcen zur Sicherung ihrer Existenz gerichtet. Dieses konkretisiert sich jedoch für die verschiedenen Akteursgruppen unterschiedlich. Den Akteuren des Politisch-Administrativen Systems schreiben die Autoren als Basis-Interessen Ausweitung oder Erhalt ihrer politischen Entscheidungsmacht und/oder Ausweitung ihrer finanziellen Ressourcen zu. Politische Akteure haben zusätzlich das dominante Interesse der Wiederwahl. Privaten Akteuren unterstellen sie als Basis-Interesse die Vergrößerung ihrer finanziellen Mittel (als Grundlage für die Erreichung der jeweiligen Organisationsziele). Dabei müssen Unternehmen ihre erforderlichen Mittel selbst verdienen (durch Geschäftserfolg). Demgegenüber sind Interessengruppen aufMitgliedsbeiträge und/oder Spenden angewiesen. 35 Aus diesen Basis-Interessen ergeben sich die Präferenzen der Akteure. Mit Bezug zur Außenpolitik schließen FreundlRittberger für die Akteure des PolitischAdministrativen Systems, dass diese jeweils Alternativen favorisieren würden, die wirtschaftliche Vorteile für das eigene Land brächten. Hinsichtlich des Erhalts eigener politischer Entscheidungsmacht prognostizieren sie, dass diese Akteure generell gegen eine Übertragung von Kompetenzen an Internationale Organisationen seien (vgl. FreundlRittberger 2001, S. 83 ff.). Während die erste Folgerung schlüssig, aber für diese Studie nur von nachrangiger Relevanz zu sein scheint,36 wird der Folgerung einer grundsätzlichen Ablehnung der Übertragung von Kompetenzen auf Internationale Organisationen nicht uneingeschränkt gefolgt, weil die Verteilung von politischen Ressourcen in Mehrebenensystemen kein Null-Summen-Spiel ist. Wie die Theorieansätze zu Mehrebenen-Spielen (vgl. z.B. Putnam 1988 oder Grande 1996) sowie zur Mehrebenengovernance (vgl. für einen Überblick: Benz 2007, S. 299 ff.) zeigen, können in Mehrebenensystemen insbesondere die Exe-
35
36
sich aus der Beschreibung der beiden Kategorien bei FreundlRittberger als "industry and farmers' associations or trade unions" bzw. als ,,non-profit-oriented private organizations" (vgL Freund! Rittberger 200 I, S. 88). Eine vergleichbare theoretische Zuschreibung von handlungsleitenden Interessen findet sich auch in der Literatur (vgL MayntzJScharpf 1995 a, S. 55, die in ihrem ,,klassischen" Beitrag über den Akteurzentrierten Institutionalismus in Anlehnung an Schimank formulieren: ,,Ähnlich haben auch korporative Akteure generell unterstellbare Interessen am eigenen Bestand, an Ressourcen und an Autonomie."). Außenpolitische Entscheidungen mit ökonomischen Wirkungen sind vorrangig in den PolicyBereichen Außenwirtschafts-, Energie-, Agrar- und Umweltpolitik vorzufinden, im Bereich der Sicherheitspolitik hingegen selten, Z.B. bei herausragenden Rüstungsvorhaben, die in internationaler Kooperation realisiert werden und bei denen neben den militärischen auch außenwirtschaftliche Aspekte eine Rolle spielen. Ein Beispiel dafür ist der "Eurofighter" (vgL für eine Kurzdarstellung dieses Projekts Wibe12005, S. 90 fI.).
2.1 Ansätze zur Erklärung des Inhalts von Außenpolitik
37
kutiven zusätzlichen Handlungsspielraum auf der einen Ebene gewinnen, wenn sie auf der jeweils anderen Ebene Bindungen eingehen. Die empirische Relevanz dieser Theorien kann insbesondere im europäischen Mehrebenensystem gezeigt werden. Aber auch die Legislativen können Einbußen ihrer politischen Entscheidungsmacht teilweise ausgleichen. So haben Bundestag sowie Bundesrat es bisher verstanden, ihre "Verluste" im Zuge der Europäisierung durch Zugewinn an innerstaatlichen Kompetenzen gegenüber der Bundesregierung z.T. auszugleichen. 37 Privaten Akteuren werden von FreundlRittberger Präferenzen für außenpolitische Alternativen zugeschrieben, die für sie Zugewinne an Ressourcen erwarten lassen - für Unternehmen Gewinn und internationale Wettbewerbsfähigkeit; für Verbände Vorteile für ihre Mitglieder, die dazu beitragen können, das jeweilige Verbandsmandat zu sichern bzw. auszuweiten; für Interessengruppen die Sicherung der Basis ihrer Arbeit durch Spenden und Mitgliedsbeiträge, um die jeweiligen Organisationsziele verfolgen zu können. Im Laufe der Studie wird zu prüfen sein, inwieweit diese Aspekte für die Analyse Relevanz haben. Einen spezifischen Blick auf den Teilaspekt der Kooperation von Akteuren innerhalb des Politisch-Administrativen Systems liefert die Sichtweise ,,Außenpolitik als Produkt von Organisations- und Regierungshandeln" (vgl. Allison/Zelikow 1999, S. 255 ff.). Für Deutschland wurde dieser theoretische Ansatz in einer Interpretation ,,Außenpolitik als Ergebnis des Handeins von Bürokratie" konkretisiert (vgl. KrauselWilker 1978). Die Autoren zeigen zum einen, dass ein Großteil der außenpolitischen Entscheidungen durch administrative Akteure - die Referate der Ministerien - vorbestimmt wird, zum anderen, wie schwierig die Lenkung durch die politisch-administrativen Akteure - die Leitung der Ministerien - ist, und folgern daraus, dass den administrativen Akteuren somit eine "eminent politische Rolle" zukommt. Allerdings relativieren sie die oben formulierten theoretischen Annahmen, dass die Handlungsmotivation dieser Akteure ausschließlich Erhalt ihrer politischen Entscheidungsmacht und Ausweitung ihrer materiellen Ressourcen sei. KrauselWilker kommen zum Ergebnis, dieses sei zwar ein wesentlicher Faktor, doch daneben gebe es auch andere Elemente, wie Parteizugehörigkeit, politische Einstellung sowie das "klassische Loyalitätsverständnis mancher Beamter" (vgl. ebenda, S. 52 f.). Zusammengefasst erscheinen Systematisierung und - mit Ausnahmen - Thesen zu Wirkungszusammenhängen und Handlungsmotivation der Akteure, die die Liberal-UtilaristischeAußenpolitiktheorie (inklusive ihrer Konkretisierung im Mo37
Vgl. fllr ein empirisches Beispiel zusätzlicher Handlungsoptionen der Regierung im europäischen Mehrebenensystem: von Krause 2008, S. 103 fI., fllr eine Kurzdarstellung und -bewertung der Veränderungen der Kompetenzen der verschiedenen Akteure auf der Bundesebene: ebenda, S. 41 ff.
2. Angewandte Theorieelemente
38
dell der Außenpolitik als Produkt von Bürokratie) anbietet, als weiterer geeigneter theoretischer Rahmen für den in dieser Studie zu behandelnden Problemkomplex. 2.1.2.2 Sozietaler Konstruktivismus Während der vorgestellte Ansatz des utilaristischen Liberalismus Interessen der Akteure in den Mittelpunkt stellt, führt die Anwendung der konstruktivistischen Perspektive auf innergesellschaftliche Einflüsse zu einer Theorievariante, die Boekle/RittbergerlWagner als "Sozietalen Konstruktivismus" bezeichnen. Nach dieser Theorie wird das außenpolitische Verhalten in der (nationalen) Gesellschaft durch vorhandene soziale Normen beeinflusst. Die Autoren unterscheiden dabei einerseits zwischen "gruppen-" und andererseits ,,kultur- und identitätsorientierten" Ansätzen. Erstere heben den Einfluss von Eliten ("Epistemische Gemeinschaften", "Advocacy-Koalitionen") hervor. Für letztere sind ,,nationale Identität" bzw. "politische Kultur"38 erklärende Variable. (vgl. Boekle, Rittberger, Wagner 2001, S.85 ff.). An anderer Stelle in der Literatur wird von außenpolitischen Rollenkonzepten gesprochen, die in der Lage sind, "die jeweiligen Weltbilder, normativen Grundprinzipien und Annahmen über Kausalzusammenhänge außenpolitischer Akteure systematisch miteinander zu verknüpfen" (Kirste/MaullI996, S. 295). Boekle/RittbergerlWagner bezweifeln allerdings die Eignung von nationaler Identität und politischer Kultur für die Analyse konkreten außenpolitischen Verhaltens; diese Kategorien seien eher für die Erklärung der Grundorientierung von Außenpolitik geeignet (vgl. Boekle, Rittberger, Wagner 2001, S. 86). Das ist insoweit schlüssig, als die Autoren mit ihrem Ansatz das ehrgeizige Ziel verfolgen, aus ihrer konstruktivistischen Außenpolitiktheorie Prognosen für künftiges Verhalten der Akteure abzuleiten, was hohe Anforderungen an die Operationalisierung der Variablen stellt. Bei einer primär empirisch-analytischen Fragestellung, wie in dieser Studie, kann hingegen die Grundorientierung zur Ex-post-Erklärung des Verhaltens der Akteure (mit) beitragen (so auch der Erklärungsansatz bei Risse 2007). Zu folgen ist den Autoren, wenn sie soziale Normen als Untermenge der politischen Kultur ansehen, die sich aufgrund ihrer "unmittelbaren Verhaltensorientierung" besser für eine Analyse außenpolitischen Verhaltens eignen (Boekle, Rittberger, Wagner 2001, S. 85). Anknüpfungspunkte zur Gewinnung von Indikatoren 38
Dalgaard-Nielsen definiert: "Culture is eoneeived as a system ofbeliefs composed ofself-perceptions (Germany's role, interests and obligations in international security), beliefs about the generalized other (aversions and threat perceptions), and operational beliefs about the effieacy and legitimacy of different ways of proteeting German interests and dealing with the threat environment (the efficacy of diplomatie versus more forceful means)." (Dalgaard-Nielsen 2005, S. 342)
2.1 Ansätze zur Erklärung des Inhalts von Außenpolitik
39
für solche Normen sehen sie in der Verfassungs- und Rechtsordnung einer Gesellschaft, in Partei- und Wahlprogrammen, Parlamentsdebatten und Meinungsumfragen, wobei wiederum die oben diskutieren Kriterien der Kommunalität und Spezifizität zu beachten sind (vgl. ebenda, S. 90 ff.). Es liegt im Konzept des Normbegriffs, den BoeklelRittbergerlWagner gewählt haben, dass Normen ein gewisses Maß an Stabilität aufweisen. 39 Allerdings besteht zwischen gesellschaftlichen Normen und Akteuren eine Wechselwirkung. Durch deren Handeln kann es zu einer Veränderung der Normen kommen.4Q Diesen Aspekt grenzen die Autoren aufgrund ihres Forschungsziels allerdings aus (vgl. Boekle, Rittberger, Wagner 2001, S. 81). Für diese Studie erscheint die Wechselwirkung jedoch relevant. Daher sind Aktivitäten der Akteure zur Beeinflussung der Meinung in der Gesellschaft mit in die Analyse einzubeziehen. Zusammengefasst ist der sozietale Konstruktivismus ein weiterer geeigneter theoretischer Rahmen für den in dieser Studie zu behandelnden Problemkomplex.
2.1.2.3 Einflüsse auf der Ebene der Individuen Während der sozietale Konstruktivismus auf Normen abhebt, die das Kriterium der Intersubjektivität erfüllen, untersuchen kognitivistische Theorien Ideen von einzelnen Akteuren ("belief systems held by individuals") als Einflussgröße auf außenpolitische Entscheidungen. Auch wenn "belief systems" soziale Ursprünge haben, so schreibt der Theorieansatz "den individuellen tTberzeugungen der Entscheidungsträger einen eigenständigen Einfluss aufaußenpolitisches Verhalten und mehr oder weniger explizit einen hohen Grad an Autonomie gegenüber ihrem sozialen Umfeld zu" (Boekle, Rittberger, Wagner 2001, S. 75). Aufgrund der erheblichen Einwände in der Literatur gegen den Nutzen solcher Ansätze (vgl. ebenda, S. 75), aber auch wegen zu erwartender großer Probleme, die eine empirischen Erfassung individueller "belief systems" - insbesondere bei aktuellen Fallbeispielen, die historisch noch nicht aufgearbeitet werden konnten - aufwerfen würde, sollen kognitivistische Theorieansätze in dieser Studie nicht angewendet werden.
39 40
Das ist bei der nationalen Identität und der politischen Kultur noch ausgeprägter (vgl. Boekle, Rittberger, Wagner 2001, S. 86). Risse betont, dass es auch einen Rückkopplungsprozess zwischen außenpolitischem Handeln und nationaler Identität gibt (vgl. Risse 2007, S. 52).
40
2. Angewandte Theorieelemente
2.1.3 1ntegrative Ansätze Die Vielfalt an theoretischen Zugängen und Ansätzen wirft die Frage auf, welches die "richtige" Perspektive für die Analysen in dieser Studie ist. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass die Treffsicherheit verschiedener Theorien problemabhängig unterschiedlich ist. Hieraus ist schon fiiihzeitig in einem ,,Klassiker" der Außenpolitikforschung der Schluss gezogen worden: ,,Multiple, overlapping, competing conceptual models are the best that tbe current understanding of foreign policy provides." (Allison/Zelikow 1999, S. 40 1)
Auch wenn die Arbeit von Allison und Zelikow, die in ihrer ersten Auflage auf das Jahr 1991 zurückgeht, inhaltlich weitgehend als überholt angesehen wird (vgl. z.B. Schneider 1997, S. 110), so war die methodische Erkenntnis der Notwendigkeit von "multiple, overlapping, competing conceptual models" zukunftsweisend und ist auch für heutige Forschungsarbeiten relevant. Diese zentrale Erkenntnis lässt auch für diese Studie einen integrativen Ansatz angeraten erscheinen, in dem die aufgezeigten Theorieansätze zusammenfließen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ggf. aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche theoretische Aussagen gewonnen werden, wodurch möglicherweise die Erklärungskraft abnimmtY Dieses spricht nach Auffassung des Autors aber nicht gegen einen integrativen Ansatz, sondern schärft vielmehr den Blick für die Grenzen der Aussagefähigkeit einzelner Theorieelemente. Für einen solchen integrativen Ansatz gilt es, einen analytischen Rahmen zu finden. Zur Erinnerung: die Problemstellung dieser Studie ist dadurch gekennzeichnet, dass Entscheidungen staatlicher Akteure auf Ebene des Nationalstaates zu analysieren sind, die in Interaktion mit dem internationalen Umfeld (andere Staaten, Internationale Organisationen, ggf. transnationale Bewegungen) und innerstaatlichen Einflüssen (staatliche Stellen und nicht-staatliche, gesellschaftliche Gruppen) entstehen. Die Formalstruktur dieser Problemstellung lässt sich gut mit dem Ansatz der Mehrebenen- bzw. Multilevel Governance erfassen, der für diese Studie als Bezugsrahmen genutzt werden sollY 41
42
Ein Beispiel dafür liefert die konstruktivistische Außenpolitiktbeorie von Boekle/Rittberger/ Wagner, wenn sie transnationalen und sozietalen Konstruktivismus zusammenführt. Die möglichen Fallkonstellationen haben Konsequenzen für die Prognosefllhigkeit der Theorie. Wenn z.B. Erwartungen aus internationalen Normen mit denen aus nationalen gesellschaftlichen Normen übereinstimmen, ist die Erklärungskraft der Theorie hoch, wenn sie einander widersprechen, ist eine konstruktivistische Erklärung unterbestinnnt (vgl. Boekle, Rittberger, Wagner 200 1, S. 80). Zu den unterschiedlichen Schreibweisen in der Literatur vgl. von Krause 2008, S. 12, FN 7. Für diese Studie wird im Deutschen die Schreibweise ,,Multilevel Governance" gewählt, wobei der Begriff synonym mit "Mehrebenengovemance" gebraucht wird.
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
41
BachelFlinders beschreiben dieses Konzept (unter Bezugnahme auf Marks) wie folgt: "The multi-level govemanee concept thus contained both vertical and horizontal dimensions. 'Multi-level' referred to increased interdependence of govemments operating at different territoriallevels, while 'governance' signaled the growing interdependence between governments and non-governmental actors at various levels." (Bache/Flinders 2004 a, S. 3)
Der Multilevel Governance-Ansatz ist also durch die beiden Dimensionen ,,Interaktion zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren" sowie ,,institutionelle Differenzierung über mehrere Ebenen", gekennzeichnet. Dabei kommen unterschiedliche Modi der Politikkoordination (Governance-Modi) zum Tragen. Sie können in "wechselseitige Abstimmung", "Verhandlungen", ,,Netzwerke", "Wettbewerb" und "hierarchische Steuerung" unterteilt werden (vgl. Benz 2007, S.297).43 Bei der Anwendung in dieser Studie wird Governance zunächst nicht als Theorie, sondern als eine analytische Perspektive verstanden (vgl. Schimank 2007, S. 29), innerhalb derer unterschiedliche TheorienlTheorieelemente zur Anwendung kommen können. 44 Punktuell soll der Begriff der Mehrebenengovernance jedoch auch inhaltlich verwendet werden, wenn nämlich gefragt wird, welche Ergebnisse die komplexen Entscheidungsstrukturen zu den Afghanistaneinsätzen hervorgebracht haben. Diese sind u.a. durch eine - wie im Kontext der Diskussion des Begriffs "Global Governance" formuliert worden war - "Verdichtung der internationalen Zusammenarbeit in internationalen Organisationen und Regimen" (Nuscheler 2002, S. 76) gekennzeichnet. Bei einer solchen Betrachtung wird der Terminus ,,Multilevel Governance" für die multinationale Ebene bewusst normativ verwandt - analog zum Begriff "Good Governance" auf der einzelstaatlichen Ebene. 45
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente Für die Problemstellung dieser Studie sind die folgenden Theorieelemente und Konzepte relevant, die kurz skizziert und aus denen Hypothesen für die empirische Analyse abgeleitet werden. 43
44 45
Benz differenziert - wie ausgefiihrt - nach "Govemance Modi". Schimank unterteilt in "Governanee Mechanismen" und nennt "Wechselseitige Beobachtung", "Wechselseitige Beeinflussung" und "Wechselseitige Verhandlungen" in unterschiedlichen Strukturen (Märkten, Netzwerken, Polyarchien und Hierarchien) (vgl. Schimank 2007, S. 34 ff.). Vgl. für einen Überblick über die Vielschichtigkeit des Governance-Begriffs BenzJLütz/Schimanki Simonis 2007 a. Damit wird der Auffassung gefolgt ,,Ein normativ geprägtes Verständnis von ,Governance' bezieht sich auf die Art und Weise, wie politische Entscheidungen getroffen, Politik fonnuliert und implementiert wurde" (Klemp/Poeschke 2005, S. 20).
42
2. Angewandte Theorieelemente
Aus dem Theoriebereich von Erklärungen der Außenpolitik "von außen" ist für Deutschland das Konzept des Multilateralismus von zentraler Bedeutung. In dieser Analyse wird ein besonderer Fokus darauf gerichtet, dass multilaterale Erwartungen in Konkurrenz zu innerstaatlichen bzw. innergesellschaftlichen Einflüssen so stark werden können, dass sie diese dominieren. Aus der Fülle von Teiltheorien zur Erklärung von Außenpolitik "von innen" wurden vier Elemente als besonders brauchbar für unsere Thematik ausgewählt: erstens Überlegungen zur Entstehung ,,nationaler Interessen", zweitens das vorrangig konstruktivistisch orientierte Zivilmachtkonzept von Maull, drittens die Zweck-Ziel-Mittel-Relation von Clausewitz und ihre Weiterentwicklung für die heutige Zeit und viertens das für die zu untersuchende Thematik zentrale Konstrukt der Parlamentsarmee, wie es vom BVerfG entwickelt wurde. Dieses wird in den Rahmen der monadisehen Theorie des ,,Demokratischen Frieden" gestellt. In dem Kontext ist es nicht nur als institutionelle Restriktion zu betrachten. Vielmehr sind unter dem Aspekt der Rückbindung der Parlamentarier an ihre Wähler auch innergesellschaftliche Diskurse und deren Auswirkungen auf Parlament und Regierung relevant.
2.2.1 Multilateralismus Der Begriff des Multilateralismus" steht im engen Zusammenhang mit dem Institutionenbegriff. Keohane definiert Institutionen als "persistent and connected sets of rules, formal and informal, that prescribe behavioural mIes, constrain activity, and shape expectations." (Keohane 1990, S. 732)
Daran anknüpfend beschreibt Ruggie ,,Multilateralismus" als eine bestimmte institutionelle Form in den Internationalen Beziehungen,46 die dadurch gekennzeichnet ist, dass auf der Basis von verallgemeinerten Verhaltensgrundsätzen zwischen drei oder mehr Staaten deren Verhalten koordiniert wird47 (vgl. Ruggie 1990 a, S. 10, S. 14). Mit dem Merkmal der verallgemeinerten Verhaltensgrundsätze erweitert Ruggie die Begriffsbestimmung von Keohane, die lediglich allgemein auf die Koordinierung des Verhaltens abhebt (vgl. Keohane 1990, S. 731 f.). Sowohl Ruggie als auch Keohane gehen bei ihren Definitionen von einem institutionalistischen Ansatz aus. Das Konzept ist aber auch in anderen theoretischen Perspektiven anwendbar. Ruggie weist selber bei der Verdeutlichung seiner Überlegungen durch historische Beispiele daraufhin, dass die USA als Hegemon 46 47
Originalwortlaut: "a generic institutional form". Originalwortlaut: "What distinguishes the multilateral form from others is that it coordinates behavior among tbree or more states on the basis of generalized principles of conduct."
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
43
nach dem Zweiten Weltkrieg Multilateralismus als Instrument zur Stabilisierung einer Politik des Machtgleichgewichts ("balance-of-power politics") sahen (vgl. Ruggie 1990 a, S. 26). Dieses ist ein typisch neorealistisches Bild. Und auch in konstruktivistischer Sichtweise erscheint Ruggies Multilateralismus-Konzept gut brauchbar, schreibt doch der transnationale Konstruktivismus gerade dem Normengefüge der transnationalen Umwelt eine erhebliche Wirkung auf die Außenpolitik eines Staates zu. Dieses erfordert jedoch eine Erweiterung des Konzepts. Denn der Multilateralismusbegriff bezieht sich bei Keohane und Ruggie nur auf Staaten, bei Keohane explizit - er grenzt transnationale Beziehungen ausdrücklich aus (vgl. Keohane 1990, S. 732) - und bei Ruggie implizit. Die Verwendung der konstruktivistischen Perspektive, aber auch der gewählte Analyseansatz der Multilevel Governance erfordern, den Multilateralismusbegriff für die Einbeziehung transnationaler Beziehungen offen zu halten. Ob das für diese Studie relevant ist, wird die empirische Analyse ergeben; von den theoretischen Grundlagen her sollte es jedoch nicht ausgeschlossen sein. Den weiteren Analysen wird somit ein Konzept zugrunde gelegt, in dem unter Multilateralismus eine bestimmte institutionelle Form in den internationalen Beziehungen verstanden wird, die dadurch gekennzeichnet ist, dass auf der Basis von verallgemeinerten Verhaltensgrundsätzen zwischen drei oder mehr Staaten und! oder ihren Gesellschaften das Verhalten außenpolitischer Akteure koordiniert wird. Für das Feld der Sicherheitspolitik wird in der Literatur daraus gefolgert, "dass Mitgliedschaften in wichtigen internationalen Institutionen, wie der UNO, der EU oder der NATO auch Folgeleistungen und ,Treuezeichen' mit sich bringen. Dadurch können sich einzelne Staaten zur Teilnahme an Militäraktionen verpflichtet fühlen, die sie ohne die Mitgliedschaft vielleicht nicht durchgeführt hätten ... Mitgliedschaften in internationalen Institutionen können daher Druck auf die einzelnen Staaten entfalten, sich als gute und würdige Mitglieder einer Gemeinschaft zu beweisen." (GeisIBrock/Müller 2007, S. 78)
Betrachtet man die in dieser Aufzählung genannten Internationalen Organisationen, so erscheint es geboten, das zuvor skizzierte abstrakte Konzept weiter zu differenzieren: zum einen in Multilateralismus in einem System der kollektiven Sicherheit (in unserem Fall der VN), zum zweiten in einem Bündnis zur kollektiven Verteidigung"8 (der NATO) und zum dritten in einer Gemeinschaft mit einer umfassenden politischen Zielsetzung (der EU), bei der gemeinsames sicherheitspolitisches Handeln (noch) eine Randbedeutung hat. 49 48 49
Zur Abgrenzung von ,,kollektiver Sicherheit" und ,,kollektiver Verteidigung" vgl. Lutz 1994, S.248. Als ein Beleg für diese Wertung sei folgendes Resümee zu den Außenbeziehungen der EU und zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zitiert: "Angesichts des wahrgenommenen
44
2. Angewandte Theorieelemente
In allen drei Varianten spielen aus utilaristischer Sicht gemeinsame Interessen die wesentliche Rolle; aus konstruktivistischer Perspektive kommt Loyalität gegenüber dem Kollektiv hinzu ("Treuezeichen" i.S. von GeislBrocklMüller). Und schließlich verleiht - als dritte Komponente - das System kollektiver Sicherheit der VN außenpolitischem Handeln in Form von Gewaltanwendung Legitimität. Einflüsse auf die Außenpolitik von außen können - wie oben gezeigt - in liberalistischer und in konstruktivistischer Sicht mit Einflüssen im Inneren konkurrieren. Für eine Konstellation, in der multilateralistische Zwänge außenpolitische Entscheidungen dominieren, wurde in der Literatur das Bild der ,,Multilateralismusfalle" geprägt (Kaim 2007).50 Der Begriff beinhaltet jedoch eine normative Komponente und soll daher in dieser empirisch-analytisch ausgerichteten Studie nicht weiter verwendet werden. Allerdings wird die Untersuchung sehr wohl auf das Phänomen einer evtl. Dominanz multilateralistischer Einflüsse auf außenpolitische Entscheidungen ausgerichtet. Dabei muss multilateraler Handlungsdruck nicht unmittelbar aus der internationalen Umwelt wirken. Die Überlegungen zum transnationalen Konstruktivismus haben einen zweiten, mittelbaren Wirkungsmechanismus verdeutlicht: Normen aus der multilateralen Umwelt können innerstaatliche und gesellschaftliche Identitäten und Präferenzen verändern und so eine nationale Identität bzw. außenpolitische Kultur prägen, die dann als innergesellschaftliche Einflussgröße wirkt. In der empirischen Analyse wird somit einerseits zu prüfen sein, ob in einer bestimmten Entscheidungssituation eine Dominanz des Multilateralismus gegeben ist. Dazu müssen die jeweiligen multilateralen Erwartungen spezifiziert und daraufhin abgeprüft werden, ob primär gemeinsame Interessen oder Loyalität (oder beides) als Handlungsmotivation gegeben sind. Danach ist zu fragen, ob bzw. welche nationale Identität bzw. politische Kultur den Entscheidungen zu Grunde liegt und ob diese ggf. multilateral geprägt wurde. Weiter gilt es zu erfassen, ob bzw. welche eigenständigen nationalen Interessen und Ziele explizit oder implizit vorliegen.
50
Defizits an Handlungsfähigkeit und Wirksamkeit der EU ist die politische und wissenschaftliche Debatte zu möglichen Reformen seit Jahrzehnten intensiv" (Wesseis 2008, S. 411). Kaim formuliert: "Einerseits hat sich die Bundesregierung seit der Wiedervereinigung immer stärker deklaratorisch dazu verpflichtet, auch militärisch größere Verantwortung in der internationalen Politik zu übernehmen, andererseits bindet diese multilaterale sicherheitspolitische Kooperation Deutschland jedoch stärker, als der Öffentlichkeit bewusst ist. Letztlich sind die politischen Kosten dieser Doktrin so hoch, dass die Bundesregierung einer einmal im Nato-Rat beschlossenen Mission keinen substantiellen deutschen Beitrag verweigern kann. Die Bundesrepublik ist somit Opfer ihrer eigenen, dem Multilateralismus verpflichteten Staatsräson, die das Bundesverfassungsgericht 1994 mit seinem Urteil zu deutschen Auslandseinsätzen bekräftigt hat." (K.aim 2007, S. 44)
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
45
Als weiterer Prüfungsschritt ist schließlich zu analysieren, inwieweit die Legitimation des Systems der kollektiven Sicherheit VN für die Entscheidungen von Relevanz war. Bei der Analyse des Verhältnisses multilateralistischer Erwartungen und Einflussgrößen aus der Gesellschaft stößt man auf die Problematik, dass sich durch die Einbindung in Internationale Organisationen die Unterschiede zwischen Einflüssen von außen und nationalen Interessen verwischen können. In der Literatur heißt es dazu: ,,Deutschland existiert nicht im luftleeren Raum, es ist eingebunden in internationale Bündnisse und Organisationen wie die Europäische Union, die NATO, die OSZE und die Vereinten Nationen. Gemeinschaftsinteressen erhalten damit generell einen höheren Stellenwert und Priorität gegenüber nationalen Interessen. Gemeinschaftsinteressen werden zu nationalen Interessen, wie auch nationale Interessen den Charakter von Gemeinschaftsinteressen annehmen können. Es vollziebt sich eine Interessenverflechtung miteinander kompatibler Interessen mehrerer LändeL" (Schreiber 2007, S. 37)
Allerdings - so folgert der Autor dieses Statements - ergäbe sich daraus keine vollständige Kongruenz, vielmehr blieben zwischen Staaten und Gemeinschaften Interessenunterschiede, die u.a. auf geografischen, kulturellen, historischen, aber auch politischen Unterschieden beruhten (vgl. ebenda). In dem Kontext ist ggf. auch der Spezialfall zu beachten, dass bei dominierenden multilateralen Einflüssen Erwartungen der internationalen Gemeinschaft auch deshalb erfüllt werden, weil es als eigenes Interesse gesehen wird, die Zielvorstellungen in den multilateralen Organisationen mit zu beeinflussen.
2.2.2 Nationale Interessen Die vorstehenden Überlegungen haben die Bedeutung von nationalen Interessen betont. Der Begriffdes "nationalen Interesses" ist ursprünglich vordemokratischer Natur und entwickelte sich - als "öffentliches Interesse" - im Zusammenhang mit den Konzepten der Staatsräson und der staatlichen Souveränität. Mit einem solchen Begriff verschob sich die Legitimation des außenpolitischen Handelns des Monarchen "aus der religiösen Transzendenz des Gottesgnadentums aufden Staat, dann auf das Volk bzw. die Nation" (vgl. Maull2006 a, S. 64). Theoretisch steht die Formulierung eines "nationalen Interesses" vor den Problemen der Transformation von Individualpräferenzen in Kollektiventscheidungen, die in der Demokratietheorie intensiv behandelt wurden (vgl. z.B. Schmidt 2001, S. 200 f.). In der wissenschaftlichen Behandlung entwickelte der Begriff vor allem in der Tradition der realistischen Schule einige Bedeutung und hob im Wesentlichen
46
2. Angewandte Theorieelemente
auf das Überleben von Staaten in der Anarchie ab (vgl. Kratochwil 1982, S. 1 f.). Nachdem sich die Erklänmgskraft dieser Ansätze als trügerisch erwies, wurde auch der Inhalt des Begriffs des nationalen Interesses zunehmend unscharf. Dieses führte zu Vorschlägen, den Begriffüberhaupt nicht mehr zu verwenden. Allerdings stellt Kratochwil fest: "On the one band the concept of the national interest is analytically fuzzy, while on the other hand it is important and used by decision makers." (ebenda, S. 2)
Auch im Kontext dieser Analyse wird es sich als notwendig erweisen, nationale Interessen bzw. das, was Akteure als solche ausgeben, in die Betrachtung mit einzubeziehen. Dazu soll der Begriff konzeptualisiert werden. Der Interessenbegriff ist auf der Ebene der politischen Analyse ein zentraler Arbeitsbegriff (vgl. Massing 1995, S. 222). Geht man von der einfachen Definition aus, nach der Interesse eine "allg. Bezeichnung für Neigungen, Ziele und Absichten von individuellen oder kollektiven Akteuren (ist), die aufi.d.R. materielle ökon. oder polit. Vorteile ausgerichtet sind" (Thibaut 1998 a, S. 280, Abk. im Original), so sollen davon abweichend in dieser Analyse die Begriffe ,,Interessen" und "Ziele" unterschiedlich verwendet werden. 51 Interessen sind der Zielformulierung vorgelagert. Der Zielbegriff wird im Kapitel 2.2.4. näher beleuchtet, wobei im Sinne der Clausewitzschen Begriffiichkeit nach dem politischen Zweck und der militärischen Zielsetzung differenziert wird. Doch wie "entstehen" nationale Interessen? Die Beobachtung der Realität führt zu der ernüchternden Feststellung: "The national interest is what the nation, i.e., the decision-maker decides it is." (KratochwiI1982, S. 252). Auch Maul! unterstreicht, dass nationale Interessen in der Realität ex post definiert werden. Sie seien das, "was (außen-)politischen Entscheidungsprozessen gewissermaßen als abstrakte, aus dem Handeln der beteiligten politischen Akteure amalgamierte Motivation zugrunde liegt." (Maul12006 a, S. 64)
51
52
Maull formuliert zutreffend: ,;Zwar sind die Begriffe ,Ziele' und ,Interessen' in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht völlig trennscharf zu unterscheiden, aber ,Ziele' werden eindeutig von der Politik formuliert. In einem demokratischen Politikverständnis sind ,Interessen' daher die umfassendere Kategorie; sie müssen von der Regierung in Zielsetzungen umgegossen werden. Orientieren sich aber die Interessen an den Zielen, so bedeutet dies faktisch, dass die Bestimmung der Interessen ebenfalls von der Regierung monopolisiert wird." (Maul12006 a, S. 70). Kratochwil zitiert Furniss/Snyder (Edgar Furniss and Richard Snyder, An Introduction to American Foreign Policy, New York: Rinehart, 1955, on p. 5).
47
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
Aus dieser ,,Definitionsmacht" der Politik folgert er, "dass die Bestimmung des ,nationalen Interesses' zwar Prärogative der Exekutive ist, sie hierbei aber auch den ,checks and balances' der Machtkontrolle durch die anderen Gewalten unterworfen ist und diesen gewisse Mitwirkungsmöglichkeiten einzuräumen hat. Kritik und Widerspruch gegen die Definition der Regierung durch die Opposition, in den Medien und durch die Wissenschaft sind legitim." (ebenda)
Dieses Zusammenwirken verschiedener Akteure soll anband eines Vierfelderschemas skizziert werden. 53 Dabei werden auf der einen Seite die Akteure Exekutive und Parlament zur Kategorie ,,Politik" zusammengefasst, auf der anderen Seite alle Akteure, die man unter dem Begriff "Öffentlichkeit" zusammenfassen könnte. Besondere Bedeutung kommt dabei der Wissenschaft und den Medien zu.
Tabelle 1: Schema der Definition von ,,nationalen Interessen" Wissenschaft/Medien
Politik
perzipiert
nicht perzipiert
perzipiert
I
2
nicht perzipiert
3
4
Das Schema verdeutlicht, dass vier Fallkonstellationen zu diskutieren sind: 1.
2.
3.
53
Die Politik formuliert ein nationales Interesse, dieses wird von Wissenschaft und Medien perzipiert. Oder: Wissenschaft/Medien formulieren ein nationales Interesse, dieser Formulierungsvorschlag wird von der Politik perzipiert. Die Realisierung des nationalen Interesses ist gesellschaftlich breit akzeptiert. Die Politik formuliert ein nationales Interesse, welches sie gegenüber der Öffentlichkeit begründen muss. Dieses wird von Wissenschaft und Medien nicht perzipiert, entweder "passiv" (es wird nicht hinterfragt) oder "aktiv" (es wird dagegen argumentiert). Die Politik hat in der Realisierung des von ihr behaupteten nationalen Interesses keinen gesellschaftlichen Rückhalt oder muss Widerstände überwinden. Wissenschaft/Medien formulieren ein potentielles nationales Interesse, dieses wird jedoch von der Politik nicht perzipiert. Das vorgeschlagene nationa-
Der Autor dankt Prof. Georg Simonis für die Anregung zu dieser Systematisierung.
48
4.
2. Angewandte Theorieelemente
le Interesse wird nicht realisiert, ggf. gerät die Politik wegen Nichthandelns unter Rechtfertigungsdruck. Weder Politik noch Wissenschaft/Medien "entdecken" einen Sachverhalt als nationales Interesse. Es erfolgt daher auch keine Realisierung.
Diese Betrachtung unterstreicht die in einem pluralistischen System besonders ausgeprägte Bedeutung von Diskursen für die Frage nach ,,nationalen Interessen". Es sind aber nicht nur Diskurse erforderlich, sondern auch der Wille zur Umsetzung von formulierten und gesellschaftlich akzeptierten Interessen. Fröhlich formuliert diesen Sachverhalt wie folgt: "Im Idealfall sind sie (die Interessen, UvK) nicht nur der institutionellen Machtkontrolle im Sinne des checks and balances unterworfen, sondern werden auch im Diskurs organisierter Interessen und gesellschaftlicher Akteure entwickelt. In jedem Fall aber beinhalten sie ein aktives Eintreten zur Umsetzung der mit ihnen verbundenen Ziele." (Fröhlich 2008, S. 16)
Daraus folgt für unser Vorgehen: bei der Analyse der Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen der Bundeswehr sind nicht nur die parlamentarischen Diskurse einzubeziehen, sondern auch die zwischen Politik und Öffentlichkeit. Dieses soll im Rahmen einer Diskursanalyse (Kapitel 4.3.2) erfolgen.
2.2.3 Rollenkonzept der Zivi/macht Weitgehend der konstruktivistischen, in Teilen aber auch einer institutionalistischen Perspektive zuzuordnen ist das Rollenkonzept der Zivilmacht, das im Jahr 1990 durch Beobachtung der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und Japans nach 1945 formuliert worden war (vgL MaulI1990/1991). Der Begriff ,,zivilmacht" geht auf Norbert Elias zurück, der Zivilisierungsprozesse in den europäischen Gesellschaften des Mittelalters und der beginnenden Modeme untersucht hatte. Zivilisierung bedeutet für Elias, "dass gewaltsame Formen der Konfliktaustragung durch die Herausbildung eines staatlichen Gewaltrnonopols, Institutionalisierung alternativer Formen der Konfliktaustragung und Verinnerlichung des Gewaltverbots zunehmend eingehegt und zurückgedrängt wurden." (vgl. die Darstellung bei Maul12007, S. 73)54
Durch normative Anwendung dieses Konzepts auf die internationalen Beziehungen entwickelt Senghaas mit seinem "zivilisatorischen Hexagon" ein "mehrstufiges Komplexprogramm Zivilisierung", das sechs interdependente Zieldimensionen umfasst (vgl. dazu ebenda, S. 7455 ): 54 55
Maull weist hin auf Elias, Norbert: über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt a.M. 1976. Maull verweist aufSenghaas, Dieter (Hrsg.): Frieden machen, Frankfurt a.M. 1997.
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
• • • • • •
49
Entprivatisierung von Gewalt, Kontrolle des Gewaltmonopols und Herausbildung von Rechtsstaatlichkeit, Schaffung von Interdependenzen und Affektkontrolle, demokratische Beteiligung, soziale Gerechtigkeit, konstruktive politische Konfliktkultur.
Eine auf diese Zieldimensionen ausgerichtete außenpolitische Grundorientierung bezeichnet Maull als "Rollenkonzept der Zivilmacht" und definiert abstrakt: ,,zivilmächte sind demnach Staaten, die sich dem Ziel einer Zivilisierung der Politik verpflichtet flihlen und entsprechend handeln." (ebenda, S. 74)
In früheren Arbeiten hatte Maull dieses "RollenbÜDdel" bereits operationalisiert und Zivilmächten folgende idealtypischen Wertorientierungen und Zielsetzungen sowie außenpolitische Verhaltensweisen und Instrumente zugeschrieben: • •
•
• •
•
56
Gestaltungswille (i.S. von Vorreiter- und Vorbildfunktion bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen in ihrem regionalen Umfeld), nationale außenpolitische Zielsetzung wertorientiert, unter dem Primat demokratisch-sozialstaatlicher Innenpolitik (Übertragung des innerstaatlich erreichten Stands der Zivilisierung auf die internationalen Beziehungen), Zivilisierung als Zielsetzung der internationalen Politik (durch Eingehen von Interdependenzen, Verrechtlichung und Institutionalisierung der internationalen Beziehungen, insbesondere der Konfliktbearbeitung), Definition nationaler Interessen unter Einbeziehung universeller Werte und in Verflechtung mit den Interessen anderer Staaten, spezifische außenpolitische Handlungsmuster (kein Unilateralismus, Kooperation in Wertegemeinschaften, prinzipiell gewaltfreie Konfliktbearbeitung, außer bei individueller oder kollektiver Selbstverteidigung unter bestimmten Auflagen), Anwendung vorrangig politisch-diplomatischer außenpolitischer Instrumente; aber Zivilmachtorientierung ist für Maull kein Pazifismus; vielmehr gehört auch Mitwirkung an Maßnahmen der kollektiven Sicherheit gegen Rechtsbrecher nach entsprechender Legitimation (durch z.B. den VN-Sicherheitsrat) dazu. 56
Dieses ist eine gerame Darstellung, für mehr Details vgl. Kirste/MaulI1996, S. 301 ff, und Maull 1992, S. 269 ff.
50
2. Angewandte Theorieelemente
Maull will sein Konzept sowohl analytisch als auch normativ-politisch verstanden wissen. In der analytischen Dimension ähnelt es dem oben skizzierten Konzept der "außenpolitischen Kultur", normativ beeinflusst es die außenpolitischen Perzeptionen der Akteure und wirkt auf ihr Entscheidungsverhalten. In der empirischen Analyse der Afghanistanentscheidungen soll das Konzept im letzteren Sinne verwendet werden. Die theoretischen Zusammenhänge, die zum Multilateralismus und zum Zivilmachtkonzept diskutiert wurden, spielen vorrangig bei der Beantwortung der ersten Forschungsfrage eine Rolle. Diese lautete: F 1: Waren bei den einzelnen Entscheidungsschritten für die Afghanistaneinsätze mehr die außenpolitischen Traditionslinien der BundesrepublikDeutschland, neue außenpolitische Interessen und Zielvorstellungen der Bundesrepublik und/oder Erwartungen von Internationalen Organisationen bzw. von Bündnispartnern ausschlaggebend? Hierzu werden folgende Hypothesen formuliert, die in der empirischen Analyse der Afghanistanentscheidungen auf Plausibilität überprüft werden: •
• •
Hyp I: Ausgeprägte Pfadabhängigkeit von den außenpolitischen Traditionen der Zivilmacht und des Multilateralismus sind wesentliche Einflussfaktoren aufEntscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen der Bundeswehr, nicht hingegen" nationale Interessen ". Hyp 2: Dominanz des Multilateralismus wirkt aufgrund der Forderungen! Erwartungen des internationalen Umfelds eskalierend. Hyp 3: Andauernde Eskalation führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen einer multilateral handelnden Exekutive und Zivilmachtperzeptionen in der Gesellschaft.
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
51
2.2.4 Zweck-Ziel-Mittel-Relation bei" klassischen Kriegen" und bei asymmetrischen Konflikten 2.2.4.1
Primat der Politik
Der Primat der Politik gilt heute als ein notwendiges Merkmal demokratischer Staaten57 und meint allgemein, dass Streitkräfte der politischen (zivilen) Kontrolle unterworfen sind58 • Dem liegt - wie von Bredow formuliert - die Zielsetzung zu Grunde, das problematische Verhältnis von Demokratie und Militär bzw. von Demokratie und Krieg ,,mittels Regeln, Institutionen und Leitbildern so zu gestalten, dass die Streitkräfte ein wirksames Instrument in der Hand der politisch legitimierten Regierung bleiben und weder absichtlich noch unabsichtlich eine Schwächung der demokratischen Grundsätze und Willensbildung in der Gesellschaft bewirken können." (von Bredow 2008 a, S. 41)59
Die Vorstellung eines Primats der Politik: ist jedoch schon vor der Herausbildung des demokratischen Rechtstaats entstanden. Clausewitz entwickelte sie als Bestandteil seiner Theorie des Krieges, und zwar im Rahmen der Charakterisierung des Krieges als "wunderliche Dreifaltigkeit". Die Natur des Krieges setzt sich nach diesem Bild aus drei z.T. widersprüchlichen Tendenzen zusammen, der "ursprünglichen Gewaltsamkeit des Krieges", der "freien Seelentätigkeit des Feldhenn" sowie der "untergeordneten Natur eines politischen Werkzeugs". Die Theorie des Krieges muss sich zwischen diesen unterschiedlichen Erscheinungsformen mit veränderlicher Größe "schwebend erhalten" (vgl. Clausewitz 1952, Erstes Buch, S. 111). In diesem Bild des Schwebezustands - Bassford spricht von dynamischen Kräften ("dynamic forces") (Bassford 2007, S. 78) - werden sowohl das dem Gebrauch militärischer Mittel innewohnende Potential zur Eskalation und damit zur
57
58
59
Dieses folgt implizit aus den Kriterien, die diverse Internationale Organisationen, wie die Weltbank, die OECD, aber auch Freedom House, fiir "Good Govemance" formuliert haben. Diese Kriterien sind insbesondere "Rechtstsatlichkeit" und ,,Rechenschaftspflicht gegenüber demokratisch gewählten Institutionen" (vgL fiir einen Überblick der Kriterienkataloge Czada 2010, S. 205 ff.). Von Bredow weist daraufhin, dass derBegriff"civiliancontrol" der angelsächsischenMilitllrsoziologie im Deutschen entweder in "politische Kontrolle" oder "zivile Kontrolle" übersetzt wird, und folgert, dass "erst beide Übersetzungen zusammen ... den gemeinten Sinn (ergeben)" (von Bredow 2008 a, S. 35 f.). Von Bredow merkt jedoch an, dass die institutionelle Einbindung von Streitkräften allein nicht ausreichend ist, sondern dass zusätzlich über das Mittel der "politischen und sozialen Integration" erreicht werden muss, dass "Streitkräfte, also die Soldaten, das heißt im übrigen mit besonderem Nachdruck, wenn auch nicht ausschließlich: das Offizierkorps,... sich mit den die Demokratie tragenden Normen und Werten identifizieren (sollen)" (von Bredow 2008, S. 45).
52
2. Angewandte Theorieelemente
Entgrenzung des Krieges, als auch die Zweckrationalität des Militäreinsatzes durch politisches Kalkül sichtbar, das tendenziell zu einer Begrenzung des Krieges führt. 60 2.2.4.2 Zweck-Ziel-Mittel-Relation bei Clausewitz Vor dem Bild der wunderlichen Dreifaltigkeit entwickelt Clausewitz in Auswertung der Kriege seiner Zeit - von "Jena über Moskau bis Waterloo" (vgl. HerbergRothe 2006, S. 60 ff.) - seine Überlegungen zur Zweckrationalität des Krieges, die in der bekannten Formel einer "Zweck-Ziel-Mittel-Relation" münden. Dabei istwie Herberg-Rothe detailliert darstellt - der Gebrauch der Begriffe bei Clausewitz über die Jahre nicht konstant. Der frühe Clausewitz sprach Z.T. vom ,,zweck des Krieges", dann wieder vom "Zweck im Krieg". Für letztere Formulierung verwendete er - wie Herberg-Rothe feststellt - in seinen späteren Schriften durchgängig den Begriff des ,,ziels in der Kriegfiihrung" (vgl. Herberg-Rothe 2001, S. 130). Wir folgen dem Ergebnis von Herberg-Rothe, dass beim späten Clausewitz mit dem Begriff,,zweck" der politische Zweck (bzw. die politische Absicht) eines Krieges gemeint ist, der "außerhalb der Kriegskunst" liegt. Der Begriff ,,ziel" beschreibt die militärische Zielsetzung eines Krieges, die damit zum Instrument des politischen Zwecks wird, aber auch ihrerseits auf den politischen Zweck zurückwirkt. Der Begriff "Mittel" bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Interpretation. Herberg-Rothe arbeitet heraus, dass diesen drei Ebenen unterschiedliche Rationalitäten zuzuordnen sind: er spricht - in Anlehnung an Max Weber - von der "Wertrationalität der Zwecke", der "Verfahrensrationalität der Ziele" und der ,,zweckrationalität der Mittel" (vgl. ebenda, S. 129 ff.). Der Begriff der Wertrationalität der Zwecke geht zunächst davon aus, dass es verschiedene politische Handlungsmäglichkeiten gibt, aus denen rational die beste auszuwählen iSt. 61 Der Begriffbeschreibt aber ggf. nicht nur die Situation, 60
61
Über diese gegensätzlichen Interpretationsmöglichkeiten von Clausewitz ist in der Literatur intensiv gestritten worden. Einerseits wird Clausewitz als ..Theoretiker des entgrenzten Krieges" dargestellt (so von John K.eegan), andererseits wird (z.B. von Martin von Creveld) seine Theorie als überholt angesehen, da aufgrund der von ihm propagierten zweckrationalen, per definitionem begrenzten Kriegfiihrung nicht gegen Gegner gewonnen werden könne, wenn diese eine entgrenzte Kriegfiihrung praktizierten (vgI. zu dieser Debatte Herberg-Rothe 2001, S. 14 ff., S. 126 fI.). Bassford betont die widersprüchlichen Tendenzen, die in dem instabilen Schwebezustand liegen, und eine innere Gegensätzlichkeit des Krieges bedingen sowie zu einer ..inhärenten Unvorhersehbarkeit des Krieges" führen (Bassford 2007, S. 81). Herberg-Rothe erklärt den Widerspruch zwischen Ent- und Begrenzungsinterpretationen, in dem er TextsteIlen, die aufEntgrenzung deuten, dem frlihen, solche, die aufBegrenzung schließen lassen, dem späten Clausewitz zuordnet. Clausewitz habe - so der Autor - nach Waterloo seine Sicht auf den Krieg verändert (vgI. Herberg-Rothe 2001, S. 125 f.). Wenn es nur einen einzigen Zweck gibt, die Erhaltung der eigenen politischen oder physischen Existenz, dann ist die Zweck-Ziel-Mittel-Relation außer Kraft gesetzt, dann zählt nur die Ef-
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
53
aus unterschiedlich bewerteten Alternativen diejenige mit dem "höchsten Wert" auswählen zu können. Herberg-Rothe interpretiert aus Clausewitz Darstellung des Russlandfeldzugs Napoleons, dass schon Clausewitz problematisiert habe, ob Russland überhaupt förmlich besiegt und erobert werden könne62 (vgl. HerbergRothe 2001, S. 134). Diese Interpretation wird in anderen Wertungen in der Literatur zwar nicht geteilt63 • Aber wie immer man die Frage hinsichtlich des Russlandfeldzugs konkret beantwortet, aus der Fragestellung wird deutlich, dass es Konstellationen geben kann, in denen ein angestrebter politischer Zweck bei realistischer Betrachtung nicht durch Krieg, also den Einsatz militärischer Gewalt, zu erreichen ist. Es kann also nicht nur darum gehen, unter verschiedenen politischen Alternativen die günstigste auszusuchen, sondern es muss zuvor die grundsätzliche Frage beantwortet werden, ob eine bestimmte politische Absicht überhaupt mit militärischen Mitteln erreichbar ist. Verfahrensrationalität ist bei Clausewitz eng mit dem Begriff der Kriegskunst verknüpft. Dabei geht es darum, die vorhandenen Mittel optimal zur Erreichung des militärischen Ziels einzusetzen. Fehlt eine Bindung der Verfahrensrationalität an den politischen Zweck, so besteht die Gefahr, dass Ziel und Mittel der Kriegführung sich verselbständigen, "zum Selbstzwecke werden" (vgl. ebenda, S. 132 f.), was zur Eskalation oder sogar zu einer Entgrenzung des Gewaltpotentials führen kann. Bei der Zweckrationalität der Mittel schließlich geht es darum, dass die Mittel der Kriegführung zur Zielerreichung geeignet (und ausreichend) sind. 2.2.4.3 Gültigkeit bei asymmetrischen Konflikten Clausewitz hat seine theoretischen Überlegungen deduktiv durch Auswertung der Kriegsgeschichte sowie Beobachtung der Kriege seiner Zeit gewonnen, bei denen es sich vorrangig um Kriege zwischen Staaten im Westfälischen System handelte.
62
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fektivität des Verfahrens (vgl. Herberg-Rothe 2001, S. 132). Dieses unterstreicht Clausewitz Unterscheidung zwischen "existenzieller" und "instrumenteller" Kriegfilhrung. Clausewitz schreibt:"Das russische Reich ist kein Land, was man fönnlich erobern, d.h. besetzt halten kann (...)Ein solches Land kann nur bezwungen werden durch eigene Schwäche und durch Wirkungen des inneren Zwiespalts." (Clausewitz 1952, Achtes Buch, S. 922) So schreibt Moran: "Clausewitz rejected what bad already become the common-place explanation for France's defeat: that Napoleon was doomed from the moment he set out to overwhelm the Russians in a single campaign. Clausewitz was not willing to settle for this ....Napoleon did not faH because he made some kind of logical error in the reconciliation of ends and means. In Clausewitz's judgment the end was feasible enough, and the means adequate, if barely so" (Moran 2007, S. 101).
54
2. Angewandte Theorieelemente
Dieses Verständnis vom Krieg reicht bis in die heutige Zeit und hebt maßgeblich auf die ,,klassischen" völkerrechtlichen Tatbestände ab. Daase betont, dass ein Kriegsbegriff, der weitgehend von einem europäischen Verständnis von Nationalstaaten als Akteuren und vom Krieg als einem spezifischen RechtsZllstand zwischen ihnen ausgeht, nur noch eingeschränkt gilt. Er schreibt: ,,Doch entsprechen die meisten militärischen Konflikte, von denen wir umgangssprachlich sagen, sie seine Kriege, nicht mehr diesem Muster. Sie sind in der Mehrzahl Bürgerkriege und haben, wenn überhaupt, nur aufeiner Seite einen staatlichen Akteur. Die Folge ist, dass Begriffund (empirische) Wirklichkeit des Krieges zunehmend auseinander klaffen." (Daase 2003, S. 164) 64
Hoch zeigt, dass dieses allerdings keine Entwicklung unserer Zeit ist, wenn er feststellt: "Sowohl in der Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg wie parallel zum zwischenstaatlichen Krieg in der Zeit nach 1648 war und ist stets auch eine ganz andere Kriegsform präsent. Sie ist nicht, wie der zwischenstaatliche Krieg, durch gegenseitig anerkannte Regeln gekennzeichnet, sondern gerade durch deren Abwesenheit. Es sind dies die so genannten ,kleinen Kriege'"'. Synonym spricht man auch von ,Iow-intensity conflicts', von ,asymmetrischen Kriegen' oder von ,Partisanen'- bzw. ,Guerillakriegen'··; kürzlich sind Bezeichnungen wie ,postnationaler Krieg'·7 und ,neo-hobbesscher Krieg'" hinzugekommen. Dabei handelt es sich um all jene Kriege, die nicht zwischen den regulären Armeen moderner Staaten ausgefochten werden. In unserer Zeit treffen in kleinen Kriegen in der Regel die regulären Streitkräfte von Staaten auf der einen Seite und nichtstaatliche Akteure auf der anderen Seite als Gegner aufeinander." (Hoch 2002, S. 18 f.)
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67 68
Dieses spiegelt - wenn auch zunächst zögerlich - die aktuelle völkerrechtliche Literatur wider. So betont Ipsen, dass der klassische (Staaten-)Krieg in der Realität nach dem Zweiten Weltkrieg die absolute Ausnahme darstellt. Entsprechend setzt sich auch im Völkerrecht mehr und mehr der Begriffdes "bewaffileten Konflikts" durch, bei dem neben Staaten auch nichtstaatliche Akteure in Erscheinung treten (vgl. Ipsen 2004, S. 1212 ff.). Originalfußnote Nr. 4 bei Hoch: "Der Begriffdes ,kleinen Krieges' im deutschen Sprachgebrauch geht auf Carl von Clausewitz zurück, der ihn in Abgrenzung zu den zwischenstaatlichen, den ,großen Kriegen' verwendet. Siehe Carl von Clausewitz: Meine Vorlesungen über den kleinen Krieg, gehalten auf der Kriegs-Schule 1810 und 1811, in: ders.: Schriften, Aufsätze, Studien, Briefe. Bd. I, hg. von Wemer Hahlweg. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1966, S. 208599." Originalfußnote Nr. 5 bei Hoch:,,Der spanische Begriff ,guerilla' bedeutet wörtlich ,kleiner Krieg'; im Deutschen hat die teilweise tautologische Bezeichnung "Guerillakrieg" Verbreitung gefunden." Originalfußnote Nr. 6 bei Hoch:"Ulrich Beck: über den postnationalen Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 44 (1999), Nr. 8, S. 984-990." Originalfußnote 7 bei Hoch: "Trutz von Trotha: Formen des Krieges. Zur Typologie kriegerischer Aktionsmacht, in: Sighard NeckelJMichael Schwab-Trapp (Hg.): Ordnungen des Krieges. Beiträge zu einer politischen Soziologie der Gewalt und des Krieges. Opladen: Leske + Budrich, 1999, S. 71-95, dort S. 92."
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
55
Hoch meint jedoch, dass keine der oben genannten Bezeichnungen dem Phänomen des kleinen Krieges wirklich gerecht wird und sieht in den Begriffen "großer" bzw. ,,kleiner" Krieg theoretische Idealtypen, die selten in reiner Form auftreten. Vielmehr trifft man in der Realität i.d.R. auf Misch- oder Parallelformen (vgl. ebenda, S. 19). Kleine Kriege unterscheiden sich von Staatenkriegen durch fließende Grenzen zwischen Krieg und Frieden, eine bewusst angestrebte Asymmetrie durch Kampf gegen Nichtkombattanten sowie die Zunahme nichtstaatlicher Akteure und damit eine Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols (vgl. Münkler 2006), was einer ,,Rückkehr des Mittelalters in der Sicherheitspolitik" gleichkommt (vgl. Hoch 2002, S. 20 ff., S. 33, in gleichem Sinne auch Wolfrum 2007, S. 466). Kleine Kriege sind - wie Goertz formuliert - "per definitionem ,entgrenzt', ,enthegt', ,entzivilisiert', ,barbarisiert', da alle Mittel zum Einsatz gebracht werden" (Goertz 2006, S. 79). Münkler spricht vom "Vernichtungskrieg" im Gegensatz zum ,,Niederwerfungskrieg" (Münkler 2007 a, S. 12). Ihr Anteil am kriegerischen Geschehen hat seit dem Zweiten Weltkrieg beständig zugenommen (vgl. Daase 2003, S. 166). Aus diesen Überlegungen entsteht zwangsläufig die Frage, inwieweit die theoretischen Erkenntnisse von Clausewitz - für unsere Analyse vor allem die Zweck-Ziel-Mittel-Relation - in der heutigen Zeit mit ihrer Vielzahl anderer Konfliktformen noch Gültigkeit haben, oder ob die neuen Formen militärischer Auseinandersetzung Clausewitz quasi ,,hinter sich gelassen haben", wie es Kritiker behaupten. 69 Zur Beantwortung dieser Frage ist der Begriff des Krieges bei Clausewitz näher zu analysieren. In einem Sammelband "Clausewitz in the 21st Century" (StrachanlHerbergRothe 2007), einer Art "Clausewitz-Renaissance", diskutieren namhafte Autoren Aktualität und Zeitbezug der Theorien von Clausewitz. Der Band enthält eine Reihe von z. T. etwas "kühnen" Versuchen, modeme Kriegsformen aus dem Gedankengut von Clausewitz abzuleiten,7° aber u.a. auch einen bestechenden analytischen Ansatz, in dem Daase durch Dekonstruktion und anschließende Rekonstruktion des Clausewitzschen Kriegsbegriffs zeigt, wie modeme Erscheinungsformen des Krieges mit dem theoretischen Werkzeug von Clausewitz erschlossen werden können. 69
70
Daase referiert die Positionen von van Creveld, Luttwak, Metz und Kaldor, denen er weitgehend "intellektuelle Ignoranz" vorwirft (vgl. Daase 2007, S. 182). Diese Kritik wiederholen Daase/ Schindier mit dem Zusatz: "Clausewitz wird häufiger zitiert als gelesen." (Daase/Schindier 2009, S.702) Genannt seien hier die Beiträge "Clausewitz and the Privatization of War" (Münkler 2007) "Clausewitz and the Nature ofWar on Terror" (Echevarria TI 2007) oder sogar "Clausewitz and Information Warfare" (Lonsdale 2007). Diese Interpretationen sollen hier jedoch nicht weiter vertieft werden.
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2. Angewandte Theorieelemente
Daase zerlegt den Kriegsbegriffin die fünf Elemente "Angreifer", "Verteidiger", "Gewaltmittel", ,,ziel des Krieges" und "politischen Zweck" und stellt fest, dass Clausewitz in seinem Kriegskonzept - ganz im Sinne des lange vorherrschenden Kriegsbegriffs - als Angreifer einen Staat sah, der mit einer regulären Armee versuchte, die Armee eines anderen Staat zu vernichten, um diesen zur Erfüllung seines Willens zu zwingen (vgl. Daase 2007, S. 186). Dieser analytische Ansatz erlaubt nach Auffassung von Daase, auch "weniger typische" Kriegsformen zu beschreiben. 71 Er analysiert den kleinen Krieg durch Variation der Elemente "Verteidiger" und "Gewaltmittel"72- wobei er noch einmal betont, dass bereits Clausewitz diesen abgehandelt hatte, zwar weniger umfassend als den großen Krieg, aber mehr als in seinem Hauptwerk enthalten ist (vgl. ebenda, S. 186, ausführlicher bei Daase/Schindler 2009, S. 703 ff.). Im Ergebnis führt dieses zu einer Erweiterung des Kriegsbegriffs von Clausewitz, den Daase bereits Jahre zuvor wie folgt formuliert hatte: "Im weitesten Sinne - d.h. als politische Gewalt - ist Krieg deshalb der Einsatz organisierter Gewalt zur Erreichung militärischer Ziele zur Durchsetzung politischer Zwecke; im engeren Sinne - als Staatenkrieg - ist er der Einsatz konventioneller Militärmacht zur Niederwerfung der gegnerischen Armee, um dem Feind seinen politischen Willen aufzuzwingen. Der Wandel politischer Akteure und die Veränderung der Zwecke, Ziele und Mittel lassen dann die Vielfalt der Kriegsforrnen als ,Familienähnlichkeit politischer Gewalt' erscheinen" (Daase 2003, S. 167, Hervorhebung UvK).
Was bedeutet das für die Zweck-Ziel-Mittel-Relation in asymmetrischen Konflikten? Zunächst zur Zweck-Rationalität. In kleinen Kriegen kann aufgrund der existenziellen Kriegführung der Akteure - wie oben dargestellt - die Zweckrationalität außer Kraft gesetzt sein. Bei der Analyse von asymmetrischen Konflikten ist hinsichtlich dieser Fragestellung zwischen nicht-staatlichen und staatlichen Akteuren zu differenzieren. Auf Seiten der nicht-staatlichen Akteure, die nach den Kriterien kleiner Kriege kämpfen, kann es zur Außerkraftsetzung der Zweckrationalität kommen, muss es aber nicht. Auch asymmetrisch kämpfende Akteure können eine politische Strategie verfolgen - wenn sie z.B. "a war ofpolitical attrition" führen (Cordesman 2008, S. 14) - der "nicht aufVernichtung der gegnerischen Armee zielt, sondern aufihre Zerstörung durch Erschöpfung" (Daase/Schindler 2009, S. 705). Diesen Gedanken formulierte Michael Stürmer nach einem Taliban-Angriff in Kabul wie folgt: 71 72
,,By changing one or more elements in the schema, new farms ofpolitical via1ence are envisaged and we move away from the concept ofwar as used in ordinary language." (Daase 2007, S. 186) Variation "Verteidiger": von einem Staat zu nicht-staatlichen Akteuren; Variation "Gewaltmitte1": von regulären Streitkräften zu organisierter oder nicht organisierter Gewalt (vgl. Daase 2007, S. 186).
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
57
,,Krieg ist brutale Kommunikation, und in den asymmetrischen Kriegen unserer Zeit ist Terror das Mittel, dessen sich der Schwächere gegen den Stärkeren bedient. Wenn die Insurgenten lange genug durchhalten, wn die Wähler in Deutschland und anderswo in Ablehnung und Protest zu versetzen, dann haben sie gewonnen. Der Entnervung der Seelen folgt der Sieg auf dem Terrain. "73
In solchen Konstellationen wirkt der politische Zweck allerdings nicht "begrenzend", sondern - wie das Beispiel der Selbstmordanschläge zeigt - im Gegenteil "entgrenzend". Anders jedoch auf Seiten der staatlichen Akteure. Diese kämpfen auch in asymmetrischen Kriegen mit regulären Streitkräften und sehen sich im Allgemeinen den Regeln der "klassischen" Kriegfiihrung sowie der Einhegung des Krieges durch das Völkerrecht verpflichtet. Für sie hat daher der Primat des politischen Zwecks die Funktion einer Begrenzung der Gewaltanwendung. Versagt diese, so besteht die Gefahr, dass die Akteure durch tendenzielle Regellosigkeit und Entgrenzung des Krieges in Widerspruch zu ihren eigenen politischen und ethischen Grundlagen geraten und damit ihr Selbstverständnis und ihre eigene Gesellschaftsordnung geflihrden. (vgl. Hoch 2002, S. 29).74 Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang, dass Krieg eine "dezidiert öffentliche Angelegenheit ist und in den Mediengesellschaften in Zukunft auch bleiben wird" (ebenda, S. 30 f.). Welche Folgerungen ergeben sich für die Verfahrensrationalität auf der Zielebene? Nach dem Clausewitzschen Verständnis ist auf dieser Ebene die militärische Zielsetzung für große Kriege angesiedelt, die Streitkräfte des Gegners zu vernichten, um ihn zur Erfüllung des eigenen Willens zu zwingen. Goertz vertritt die plausible These, dass staatliche Akteure dazu neigen, diese Zielsetzung der großen Kriege "systemwidrig" auch in asymmetrischen Konflikten anwenden zu wollen, weil ihre Streitkräfte :für einen solchen Zweck organisiert und ausgebildet sind. Dadurch besteht die Gefahr, dass sie sich in solchen Konflikten als "institutionell schwach" erweisen (vgl. Goertz 2006,
S.76). Die empirische Evidenz dieser These scheint hoch zu sein. Daher übernehmen wir die Schlussfolgerung von Goertz, dass in kleinen Kriegen eine andere Zielsetzung geboten ist, nämlich eine "Counter-insurgency-(CI-)Strategie". Eine solche muss darauf ausgerichtet sein, "die Loyalität der Bevö1kerung wiederzuerringen und zu erhalten, im Gegensatz zu konventionel1en offensiven Operationen, die aufdie physische Vernichtung irregulärer Kräfte hinzielen ... Der Schwerpunkt einer CI-Doktrin liegt nicht im Zerschlagen der feindlichen Streitkräfte, son73 74
Kommentar "Taliban-Angriff war ein taktischer Fehlschlag" in: Welt-Online vom 18.01.2010 (Zugriff: 18.10.2010). Dieses ist der Kern der Kritik van Crevelds an Clausewitz (vgl. Rerberg-Rothe 2001, S. 127; vgl. auch Daase 2007, S. 182).
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2. Angewandte Theorieelemente dem im Gewinnen der Legitimität innerhalb der Bevölkerung." (Goertz 2006, S. 80 f., im gleichen Sinne auch Hippier 2009, S. 40 f. 7')
Diese Veränderung auf der Ziel-Ebene muss sich zwangsläufig auch auf die Mittelebene auswirken. Da die Forschung daraufhindeutet, dass Ursachen und Dynamik von Aufständen (Goertz nennt das "Insurgency-Anfalligkeit") im Wesentlichen ökonomisch und sozial-strukturell bedingt sind, muss eine Counter-InsurgencyStrategie primär aufwirtschaftlichen und politisch-sozialen Komponenten basieren (vgl. Goertz 2006, S. 81). Diese sollten den weitaus größeren Teil der Anstrengungen ausmachen. 76 Für die sekundäre Zielsetzung der Zerschlagung der subversiven Organisation bedarf es nicht so sehr regulärer, sondern spezifischer Streitkräfte, sogenannter "Spezialkräfte", die aufGuerillakriegführung spezialisiert sind (vgl. NoetzeVSchreer 2006, S. 277).
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Hippier formuliert: ,,Früher wie heute gilt es im Krieg, den Willen und die Fähigkeit (beides hängt offensichtlich eng zusammen) des Gegners zur Fortsetzung des Konflikts zu brechen - aber während früher beides vor allem von der Funktionsfllhigkeit und Stärke der eigenen Streitkräfte abhing, ist dies bei vielen neuen Kriegsformen nur noch sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr der Fall. Bei den beiden oben genannten Kriegstypen (gemeint sind ,Aufstandskriege' und Kriege in failed states; UvK) wird dies in der Regel vor allem dadurch erreicht, dass dem Gegner die ökonomische, gesellschaftliche und politische Basis für die Führung des Krieges entzogen wird." (Hippier 2009, S. 40) Hippier zeigt, dass diese Erkeuntnis auch allmählich Eingang im operativ-taktischen Denken des US-Militärs findet und zitiert das aktuelle Handbuch des US Marine Corps zur Aufstandsbekämpfung, in dem es heißt: ,,Es ist leichter, einen Aufstand von seinen Ressourcen zu trennen und ihn so sterben zu lassen als jedenAufständischen zu töten." (vgl. ebenda, S. 40) Als Originalquelle nennt Hippler: US Army/US Marine Corps: Counterinsurgency Field Manual FM 3-24, Chicago 2007, S. 40). Am Beispiel des ISAF-Einsatzes wurde dieses vom Befehlshaber des Allied Joint Forces Command, General Egon Ramms, wie folgt quantifiziert: "Ich spreche und unterscheide bei uns immer von der militärischen Aufgabe und der Aufgabe, die ich als ,nation building' bezeichne. Die militärische Aufgabe, für Sicherheit im Land zu sorgen, bezeichne ich immer mit einer Menge von etwa 20%. Der andere Teil ist Wiederaufbau." (Quelle: Interview in Focus Online vom 20.03.2008; Zugriff: 22.07.2009) Dieses bestätigte er auch in einem Interview mit dem Autor am 17.11.2009 und antwortete auf die Frage, ob diese Zahlen "gegriffen" oder analytisch ermittelt worden seien: "Ich habe das für mich aber auch einmal ermittelt, von meinem Stab ermitteln lassen, bevor ich von der amerikanischen CI-Strategie gewusst habe. Ich habe damals immer von 20-25% gesprochen, und nach der CI-Strategie spricht man tatsächlich von 20% militärischem Anteil. Und die anderen Dinge, um die Bevö1kerung an uns zu binden, sie zu überzeugen, mit uns zusammenzuarbeiten, kommen aus anderen Quellen, aus anderen Ressorts." Es heißt dort: "Die veränderten sicherheitspolitischen Rabmenbedingungen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus erfordern - wie in Afghanistan - einen verstärkten Einsatz von Spezialkräften. Nur diese sind meist in der Lage, gegen einen Gegner zu operieren, der sich nicht an konventionelle Streitkräftestrukturen und Einsatztaktikten hält, sondern zu asymmetrischen Mitteln der Kriegfiihrung greift."
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
59
Im Ergebnis ist damit festzustellen, dass die Zweck-Ziel-Mittel-Relation von Clausewitz nicht durch Zeitablaufüberholt ist. Durch Variation der Elemente Verteidiger und Gewaltmittel- und damit Adaption an heutige Gegebenheiten - stellt sie vielmehr ein Konzept dar, das auch für Analysen von militärischen Einsätzen in unserer Zeit fruchtbar gemacht werden kann, also auch für die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr. Und dieses gilt unabhängig vom Ergebnis des innenpolitischen Diskurses in Deutschland, ob es sich bei diesen Einsätzen um Kriege handelt oder nicht. Auf diesen Diskurs wird im Kapitel 4.3.2. eingegangen. Bei Anwendung dieses Konzepts gilt es, als erstes den jeweiligen politischen Zweck herauszuarbeiten, der einem Einsatz zugrunde gelegt worden ist, und dessen Wertrationalität zu überprüfen. Dabei ist die Besonderheit zu berücksichtigen, dass in Einsätzen von Koalitionsstreitkräften ein politischer Zweck übergreifend multinational formuliert wird bzw. werden müsste, aus dem dann eine nationale Zweckformulierung abzuleiten ist. Diese müssten deckungsgleich, zumindest jedoch kompatibel sein. In dem Zusammenhang stellt sich auch die Frage, inwieweit nationale Regierungen aufgrund der multilateralen Einbindung überhaupt eigenständige nationale Zwecke definieren können. Anschließend ist die Verfahrensrationalität auf der Zielebene zu bewerten, bei asymmetrischen Konflikten insbesondere, inwieweit die Zielsetzung der Logik des kleinen Krieges entspricht, und ob sich dieses auch in der Mittelbereitstellung abbildet. Auf einer solchen Grundlage kann dann die Wirksamkeit des Primats der Politik beurteilt werden. Insbesondere können so evtl. vorhandene Indizien für eine Verselbständigung der militärischen Zielsetzung aufgedeckt und untersucht werden, wie die Ebene der Politik darauf reagiert. Insofern kann die Zweck-Ziel-Mittel-Relation nicht nur als analytisches Instrument und Bezugsrahmen für die Ermittlung empirischer Daten Verwendung finden, sondern auch normativ als Referenzmodell zur Bewertung, inwieweit Entscheidungsprozesse einer rationalen Handlungslogik gefolgt sind. Aus dem Komplex der Zweck-Ziel-Mittel-Relation war oben als zweite Forschungsfrage abgeleitet worden:
F 2: Ist als Grundlagefür die Entscheidungen eine stimmige Zweck-Ziel-Mittel-Relation im Clausewitzschen Sinne identifizierbar? Hierzu werden die folgenden Hypothesen formuliert, die in der empirischen Analyse der Studie auf Plausibilität überprüft werden:
•
Hyp 4: Unpräzise und unrealistische politische Zielvorgaben (Befriedung, Demokratisierung nach westlichem Verständnis, Trennung von OEF und ISAF) schwächen den Primat der Politik und bieten Raum für eine Eskalationsdynamik.
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•
2. Angewandte Theorieelemente
Hyp 5: Aufgrund der z. T. krassen Diskrepanz zwischen politischem Zweck und der Zielsetzungjür die Einsätze sowie zwischen Zielen und eingesetzten Mitteln - zivil wie militärisch - gewinnen militärische Aspekte bei den Entscheidungen zunehmend an Gewicht, was insbesondere bei fortschreitender Verschlechterung der Sicherheitslage eskalierend wirkt.
2.2.5 Demokratischer Frieden und "Parlamentsarmee " Nach intensiven politischen und juristischen Auseinandersetzungen um Möglichkeiten und Grenzen von Auslandseinsätzen der Bundeswehr nach dem Ende des Kalten Krieges (s. Kap. 1.2.) wurde in Deutschland mit dem Konstrukt der "Parlamentsarmee" eine institutionelle Regelung geschaffen, die als Konkretisierung eines wesentlichen Aspekts der Theorien des Demokratischen Friedens gesehen werden kann. In diesem Kapitel sollen zunächst für diese Studie relevante Kernaspekte dieser Forschungsrichtung skizziert werden. Anschließend werden die Überlegungen beleuchtet, die dem Konzept der "Parlamentsarmee" zu Grunde liegen. Schließlich soll geprüft werden, ob in Politik und/oder Wissenschaft sinnvolle Kriterien zur Operationalisierung des Konzepts entwickelt werden können bzw. wurden. 2.2.5.1
Aspekte der Theorien des Demokratischen Friedens
Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich eine Forschungsrichtung entwickelt, die in der Literatur als "Theorie des Demokratischen Friedens" bezeichnet wird.7 8 Wir folgen hier allerdings der Sicht von Müller, dass zwei in ihren Kausalitätsannahmen eng verbundene Theorievarianten vorliegen und übernehmen von ihm die Bezeichnung "Theorien des Demokratischen Friedens" (vgl. Müller 2002, S. 46 f.). Die "monadische Theorie des demokratischem Friedens" behauptet, Demokratien seien friedfertiger als andere staatliche Systeme. Dagegen unterstellt die "dyadische Theorie", dass Demokratien sich ausschließlich untereinander friedfertiger verhielten (vgl. ebenda). Diese Aussagen werden auch in der empirischen Forschung insoweit bestätigt, als ,,Demokratien im internationalen Staatensystem proportional genauso oft in Kriege verwickelt werden, wie Nicht-Demokratien - nur eben nicht untereinander - ,(dieses) hat sich als ,empiri-
78
VgL für eine Darstellung der Entwicklung der wissenschaftlichen Debatte: Scheel 2007, S. 209 f..
2.2 Spezifische relevante Theorieeiernente
61
scher Doppelbefund in der DF-Forschung niedergeschlagen und harrt nach wie vor einer überzeugenden Erklärung." (Scheel 2007, S. 210)"9
Es ist also eine Herausforderung an die Forschung zu erklären, wie die negative Seite des Doppelbefundes, das nicht friedfertigere Verhalten von Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien, zu Stande kommt, da beide Theorievarianten auf die gleichen Kausalitätsannahmen rekurrieren (vgl Müller 2002, S. 48). In der Literatur werden vier Argumentationslinien zur Erklärung der höheren Friedfertigkeit von Demokratien entwickelt - institutionell, rationalistisch-utilaristisch, normativ-kulturell und herrschaftssoziologisch - die sich ergänzen (vgl. Krell2004, S. 194 ff. und Scheel 2007, S. 209). Müller fasst die Keminhalte der Theorien des Demokratischen Friedens in acht Hypothesen zusammen, wobei er fünf der monadischen und drei der dyadischen Variante zuschreibt (vgl. Müller 2002, S. 55. S. 67). Für diese Studie mit dem Untersuchungsgegenstand der Einsätze der Bundeswehr in Afghanistan, die keine Einsätze gegen den Staat Afghanistan sind - und bei dem es sich auch (noch) nicht um eine Demokratie handelt - ist nur die monadische Theorievariante relevant, der folgende Hypothesen zuzuordnen sind. ,,1. Weil die Bürger in einer Demokratie ihre Interessen rational kalkulieren, setzen sie über ihre Partizipation an den Entscheidungen eine friedliche Außenpolitik durch." ,,2. Aufgrund ihrer Wertorientierung setzen die Bürger in einer Demokratie über ihre Partizipation an den Regierungsentscheidungen eine friedliche Außenpolitik durch." ,,3. Die Strukturen demokratischer Institutionen erschweren die Vorbereitung und Inszenierung eines Krieges und tragen somit zu einer friedlichen Außenpolitik bei." ,,4. Auf Grund ihrer Wohlfahrtinteressen undIoder ihrer normativen Ausrichtung aufkooperatives Verhalten entwickeln Demokratien interdependente Beziehungen mit anderen Staaten, die den Frieden fördern." ,,5. ,Auf Grund ihrer Wohlfahrtinteressen und/oder ihrer normativen Ausrichtung aufkooperatives Verhalten strebend Demokratien nach der Gründung Internationaler Organisationen, die den Frieden fördern." (Müller 2002, S. 55)'0 79
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Die quantitativen empirischen Forschungsergebnisse sind jedoch in der Literatur umstritten, da die zugrunde gelegten Konzepte zur Operationalisierung der Variablen "Krieg" und "Demokratie" höchst unterschiedlich sind, so dass die Ergebnisse je nach Autor und Methode variieren. Der ,,Doppelbefund" wird jedoch im Großen und Ganzen bestätigt. (vgl. Scheel 2007, S. 211 f., in gleichem Sinne Geis, Müller, Wagner 2007 a, S. 14 ff.). Die hier nicht relevanten Hypothesen flir die dyadische Variante lauten (Müller 2002, S. 67): 6. "Demokratien erkennen andere Demokratien als ihren Interessen und normativen Orientierungen nach auf Frieden hin orientiert. Sie streben daher nach friedlichen Beziehungen mit anderen Demokratien." 7. "Demokratien erkennen andere Demokratien als ihren Interessen und normativen Orientierungen nach aufFrieden hin orientiert. Sie entwickeln daher enge Interdependenzen mit anderen Demokratien, wodurch sich die friedlichen Beziehungen zwischen den Demokratien festigen."
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2. Angewandte Theorieelemente
Der jüngste Zweig der Forschung zum Demokratischen Frieden konzentriert sich auf die Aufdeckung von inneren Widersprüchen der einzelnen Kausalmechanismen, wie sie in Müllers Hypothesen zum Ausdruck kommen. Müller nennt sie ,,Antinomien". Es handelt sich dabei zum einen um Widersprüche einer Hypothese mit sich selbst, zum anderen um Widersprüche zwischen zwei Hypothesen (vgl. ebenda, S. 56). Widerspruch mit sich selbst meint bei Müller, dass sich die friedensfördernde Wirkung einer Hypothese nicht zwingend einstellt, sondern auch friedensgefährdende Konsequenzen denkbar sind. Ein Beispiel ist seine Antinomie 1 (,,Rüstung zur Opfervermeidung"), die sich im Ergebnis als friedensgefährdend auswirken kann (vgl. ebenda, S. 57).81 Als Beispiel für einen Widerspruch zwischen zwei Hypothesen sei Antinomie 9 ("Sachzwang der Sicherheitsgemeinschaft") genannt, die wir oben bereits als potentielle Ursache für eine Dominanz des Multilateralismus beschrieben hatten. 82 Müller formuliert insgesamt 21 Antinomien, von denen sechs für diese Studie als relevant erscheinen. Sie können als ,,Prüffragen" für die empirische Analyse dienen und das Sammel, Ordnen und Bewerten der Fakten zu den Afghanistanentscheidungen leiten. Die als relevant eingeschätzten Antinomien sind: • • •
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Antinomie 1 ("Rüstung zur Opfervermeidung") wie zuvor erläutert. Antinomie 2 ("gewaltsamer Demokratieexport"). 83 Antinomie 3 ("Durchsetzung von sektoralen Interessen"). 84 8. "Demokratien erkennen andere Demokratien als ihren Interessen und normativen Orientierungen nach auf Frieden hin orientiert. Sie entwickeln daher Internationale Organisationen mit anderen Demokratien, wodurch sich die friedlichen Beziehungen zwischen den Demokratien festigen" Müller entwickelt folgende Argumentation: Aus der Hypothese 1 "Rational handelnde Bürger setzen über ihr Partizipation an den Entscheidungen eine friedliche Außenpolitik durch" kann eine dysfunktionale Entwicklung folgen. Der Wunsch, Kosten der Rüstung und - für den Fall eines aufgezwungenen Krieges - Opfer zu vermeiden, führt ggf. zu Entscheidungen in Richtung einer erhöhten Effizienz der Rüstungsausgaben. Der Trend einer "Revolution in Military Affairs" ist ein Beispiel dafür. Dieses kann im Ergebnis dazu fUhren, dass die Schwelle zu Kriegsentscheidungen wegen erhöhter Effizienz der KriegsfUhrung und weniger zu erwartender Opfer sinkt (vgl. Müller 2002, S. 57). Das Phänomen entsteht aus der möglichen Konkurrenz zwischen Hypothese 1 (Bürger setzen durch Partizipation eine friedliche Außenpolitik durch) und Hypothese 5 (internationale Einbindung), (vgl. Müller 2002, S. 62). Er kann aus der in Hypothese 2 postulierten Wertorientierung der Bürger für Demokratie entstehen, wenn Überlegenheitsgefühle gegenüber der nichtdemokratischen Außenwelt so stark werden, dass ,,Erzwingungshandeln" als legitim oder sogar geboten erscheint. (vgl. Müller 2002, S. 58). Sie kann aus dem in Hypothese 3 beschriebenen pluralistischen, wettbewerblich agierenden demokratischen Prozess entstehen, der prinzipiell offen ist, so dass ggf. auch nationalistische oder
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
63
•
Antinomie 7 (,,Macht der Propaganda").85
•
Antinomie 9 ("Sachzwang der Sicherheitsgemeinschaft") wie zuvor erläutert. Antinomie 10 ("Macht der Medien").86
•
In der Mehrzahl dieser Antinomien spielen die innerstaatlichen bzw. innergesellschaftlichen Diskurse eine Rolle. Daher soll diesem Aspekt in der empirischen Analyse - zumindest partiell- Aufmerksamkeit gewidmet werden. Der theoretische Ansatz, den Doppelbefund des Demokratischen Friedens aus den Antinomien zu erklären, wurde inzwischen weiterentwickelt und hat zu der These geführt, aufgrund der immanenten Antinomien des Demokratischen Friedens könnte es auch zu "Demokratischen Kriegen" kommen (vgl. GeislBrocki Müller 2007). 2.2.5.2 Konstrukt der "Parlamentsarmee" des Bundesverfassungsgerichts Staatsrechtlich gehört die Außenpolitik nach der seit langem geltenden herrschenden Meinung zu den Prärogativen der Exekutive. Daneben wird seit einiger Zeit aber auch die Auffassung vertreten, dass sie im demokratisch verfassten Rechtsstaat als ,,kombinierte" oder "gemischte Gewalt" zwei Funktionsträgern - der Exekutive und der Legislative - zugeordnet ist (vgl. Wiefelspütz 2005, S. 180 f.). Deren Befugnisse und Zusammenwirken sind institutionell geregelt, wobei diese Institutionen einem Wandel unterliegen. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Einbindung von Demokratien in internationale Institutionen und Organisationen hat die Politikwissenschaft den Trend einer Verstärkung der Dominanz der Exekutive gegenüber Parlament und Öffentlichkeit konstatiert. Züm nennt das "exekutiven Multilateralismus" (Züm
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86
rüstungsfreundliche Kräfte Einfluss nehmen können. Im Kontext des Demokratischen Friedens wäre die Entstehung eines ,,Militärisch-Industriellen Komplexes" ein Beispiel für eine solche Entwicklung (vgL ebenda, S. 58 f.). Sie kann aus einer Konkurrenz zwischen Hypothese I (durch Partizipation eine friedliche Außenpolitik durchsetzen) und Hypothese 3 (institutionelle demokratische Strukturen erschweren Vorbereitung und Inszenierung eines Krieges) abgeleitet werden. Es ist gerade die plurale Struktur demokratischer Gewaltenteilung, die auch eher gewalt- oder konfiiktbereiten Minderheitsinteressen Einflusschancen gibt. In bestimmten Fällen flillt auch die Loyalität der Bürger gegenüber demokratischen Institutionen ("Rallying around the Flag") unter diese Kategorie (vgL vgL Müller 2002, S. 61 f.). Hier liegt die mögliche Konkurrenz zwischen Hypothese 2 (Wertorientierung der Bürger) und Hypothese 3 (institutionelle demokratische Strukturen erschweren Vorbereitung und Inszenierung eines Krieges). Exekutiven sind gegenüber Forderungen anfällig, die aus ,,moralischer Empörung" oder "Erschütterung" erwachsen, insbesondere, wenn man ihnen im öffentlichen Diskurs oder im parlamentarischen Prozess vorwirft "wegzuschauen" (vgL Müller 2002, S.63).
64
2. Angewandte Theorieelemente
2004, S. 262 ff.), andere Autoren sprechen von einer "Entparlamentarisierung" der Außenpolitik (vgl. Biermann 2004, S. 610 ff., bei dem zahlreiche Hinweise auf die Literatur zu finden sind). Dieses trifft in besonderem Maße aufdas Einbringen von Streitkräften in integrierte supranationale Strukturen zu. Hieraus wird gefolgert: "Vor allem stellt sich angesichts eines Demokratiedefizits im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik die Frage nach den Verantwortlichkeiten bei Entscheidungen über den Einsatz militärischer Gewalt... Aus der Perspektive der DF-Forschung müssen solche Schwierigkeiten der demokratischen Kontrolle von Exekutiven gerade im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik natUrlich alarmierend wirken." (DembinskilHasencleverlWagner 2007, S. 138)
Die Autoren nennen - unter Abstützung auf Moravcsik - vier Mechanismen, die die Dominanz der Exekutive zu Lasten anderer politischer und gesellschaftlicher Gruppen verstärken: (1) erweiterte Möglichkeiten, die nationale politische Agenda zu bestimmen, (2) hohe Kosten für Parlament und Öffentlichkeit, Entscheidungen abzuändern oder zu blockieren, denen ihre Regierungsvertreter in internationalen Foren zugestimmt haben,87 (3) privilegierter Informationszugang und (4) Aufbau eines "ideologischen Rahmens", wie z.B. Bündnissolidarität (vgl. ebenda, S. 138). In diesen Kontext der Forschungsergebnisse zum Demokratischen Frieden ist die verfassungsrechtliche Konstruktion der Parlamentsarmee einzuordnen,88 die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 12.07.1994, dem sog. "Streitkräfteurteil" geschaffen hat. Die Kernaussage des Urteils lautet wie folgt: "Während die auswärtige Gewalt von der Verfassung weitgehend dem Kompetenzbereich der Exekutive zugeordnet wird... , sehen die grundgesetzlichen Regelungen über die Wehrverfassung fiir den Einsatz bewaffneter Streitkräfte grundsätzlich eine Beteiligung des Parlaments vor. Die auf die Streitkräfte bezogenen Regelungen des Grundgesetzes sind - in den verschiedenen Stufen der Ausformung - stets darauf ausgelegt, die Bundeswehr nicht als Machtpotential allein der Exekutive zu überlassen, sondern als ,Parlamentsheer' in die demokratisch rechtsstaatliehe Verfassung einzufligen, d.h. dem Parlament einen rechtserheblichen Einfluß aufAufbau und Verwendung der Streitkräfte zu sichern." (BVerfG 90 S. 381 f., zit. nach Wiefelspütz 2005, S. 188) 87
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Ein plakatives Beispiel dafiir ist die Entscheidung zum Einsatz der Bundeswehr in Ost-Timor am 07.10.1999. Außenminister Fischer hatte am 22.09.1999 vor der UNO-Vollversammlung eine deutsche Beteiligung zugesagt, ohne vorher das Parlament zu konsultieren. Fischer räumt in seinen Memoiren ein, dass er seine öffentliche Ankündigung in der Tat vor Kabinettsbeschluss und Information des Parlaments gemacht hatte, was er ex post als "groben handwerklichen Fehler" bezeichnet. Im Kabinett habe der Bundeskanzler dann erklärt, "wenn der Bundesaußenminister fiir Deutschland in der Generalversammlung der VN eine Zusage mache, dann müsse das Kabinett zustimmen" (Fischer 2007, S. 259 f.). Ähnlich war die Reaktion des Deutschen Bundestages. In einem Gespräch mit Rafael Biermann erklärte der damalige stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Hans-Ulrich Klose, man habe den Regierungsantrag "knurrend... durchgewunken" (vgl. Biermann 2004, S. 618, FN 39). Vgl. zum spezifischen Beitrag von Parlamenten im Politikprozess als Teilaspekt der Diskussion um den Demokratischen Frieden: Dietrich/Hummel/Marschal12007 , S. 9 fI.
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
65
Wiefelspütz meint, dass das Verfassungsgericht zu dieser Auffassung durch eine ,,kühne Interpretation des Grundgesetzes" gekommen sei (vgl. ebenda, S. 189)89 und formuliert an anderer Stelle, die "Erfindung" des konstitutiven Parlamentsvorbehalt sei ein "verfassungspolitischer Geniestreich" gewesen (vgl. ebenda, S. 198)90. Denn dieser habe nicht nur verfassungsrechtliche Streitfragen geklärt, sondern auch - wie zahlreiche von ihm zitierte Kommentare zeigen - politische Blockadesituationen aufgelöst und damit die Handlungsfähigkeit der Regierung wiederhergestellt (vgl. ebenda, S. 192). Vor allem aber ist der konstitutive Parlamentsvorbehalt die Institutionalisierung gestärkter parlamentarischer Rechte, die im Kontext unserer Überlegungen zu bewerten sind. Folgt man einer Kategorisierung der Machtressourcen von Parlamenten bei der Mitwirkung an Entsendeentscheidungen für militärische Einsätze (die parlamentarische "war power"), wie sie in der Literatur vorzufinden ist (vgl. DietrichIHummellMarschall 2007, S. 14 f),91 so ist die Ausgestaltung der Rechte des Deutschen Bundestages der dort definierten wirkmächtigsten Kategorie (1) zuzuordnen (vgl. ebenda, S. 20). In der Literatur zu den Theorien des Demokratischen Friedens wird zwischen ,,handlungsbeschränkenden" und "transparenzschaffenden Wirkungen" demokratischer Institutionen unterschieden (Geis, Müller, Wagner 2007 a, S. 19). In der empirischen Analyse dieser Studie wird es daher darum gehen, die handlungsbeschränkenden und die transparenzschaffenden Wirkungen des Konzepts der Parlamentsarmee bei den Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen der Bundeswehr herauszuarbeiten. Dabei wird zwischen dem Verfassungsrecht (einschließlich der Folgegesetzgebung) und der Verfassungswirklichkeit zu differenzieren sein. Damit soll ein Beitrag zur Beantwortung der Frage geleistet werden, wie in den Entscheidungsprozessen die Gewichte zwischen Exekutive und Parlament verteilt sind.
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90 91
Er zitiert u.a. Uwe Wesei, der schreibt, "das Urteil sei zwar vernünftig, aber das Grundgesetz sage zur Verfassungsmäßigkeit in Art. 87 a GG das Gegenteil und über die Zustimmung des Bundestages gar nichts" (Wesei, Der Gang nach Karlsruhe, S. 304 f., zit. nach Wiefelspütz 2005, S. 192). Wiefelspütz zitiert Rupert Scholz, der formuliert hatte, es handele sich ,,mehr um Verfassungsschöpfung qua Richterrecht als um Verfassungsauslegung" (ebenda. S. 201). Dietrich/Hummel/Marschall de:linieren folgende flinfKategorien: (I) Parlamente könnten jegliche Entsendung per Einzelfallentscheidung verhindern ("comprehensive war power"); (2) ex-anteZustimmung des Parlaments erforderlich, aber nicht für jeden Fall ("selective war power"); (3) nachträgliches parlamentarisches Vetorecht ("deferred war power"); (4) Parlament hat nur das Recht auflnformation, kann die Entsendung jedoch nicht verhindern ("basic war power") und (5) keine spezifischen Rechte des Parlaments ("de:licient war power") (DietricbIHununel/Marschall 2007, S. 14 f.).
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2. Angewandte Theorieelemente
2.2.5.3 Kriterien für Auslandseinsätze Aus den vorstehenden Überlegungen zu den Theorien des Demokratischen Friedens und der Institution der "Parlamentsarmee" folgt die Fragestellung, ob hieraus Kriterien entwickelt worden sind, anhand derer die Akteure in Deutschland Entscheidungen für Auslandseinsätze der Bundeswehr vorbereiten und treffen können. Die Formulierung "Wie? Wann? Wo? Wie oft" (Perthes 2007) bringt die zu beantwortenden Fragen auf einen Nenner. Dabei stimmen die unterschiedlichen Beiträge in Wissenschaft und Politik, die sich im Laufe der Zeit mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt haben, in einer Prämisse überein: ,,Eine Art Checkliste, bei der anstelle einer politischen Auseinandersetzung nur abgehakt und ausgezählt würde, ob genügend Bedingungen erfilllt sind oder nicht, kann und darf es in einer parlamentarischen Demokratie nicht geben. Solche Entscheidungen müssen auf der Grundlage einer informierten strategischen Debatte getroffen werden, die auch die zunehmende Skepsis in der Bevölkerung anspricht. Gleichwohl lassen sich die kritischen Fragen oder Prüfsteine definieren, die dabei zu berücksichtigen sind." (perthes 2007, S. 17)
Solche Kriterien - so sie entwickelt worden wären - können zum einen bei der empirischen Analyse der Afghanistanentscheidungen als Orientierung für das Sammeln und Bewerten der Fakten dienen. Zum anderen ist in der Analyse der Frage nachzugehen, ob ein Diskurs über die Kriterien stattgefunden hat und inwieweit dieser ggf. das Entscheidungsverhalten der Akteure beeinflusste. Zum Komplex des Demokratischen Friedens, des Konstrukts der "Parlamentsarmee" und der gesellschaftlichen Diskurse, u.a. zu den Kriterien für Auslandseinsätze, wurden oben folgende Forschungsfragen gestellt:
F 3 Welche Akteure bzw. welche Merkmale des Institutionengefüges waren in den Entscheidungsprozessen relevant? Wirkten sie eskalationsfOrdernd oder -hemmend? F 4: Wie beeinflussten gesellschaftliche Diskurse die Entscheidungsprozesse? Hierzu werden die folgenden Hypothesen formuliert, die in der Analyse der Afghanistanentscheidungen einer Überprüfung zu unterziehen sein werden:
•
•
Hyp 6: Trotz der verfassungsrechtlich starken Position des Parlaments dominiert die Exekutive in der Verfassungswirklichkeit die Entscheidungsprozesse. Hyp 7: Im gesellschaftlichen Diskurs dominiert die Bundesregierung. Sie ist bestrebt, das Spannungsverhältnis zwischen Eskalation der Einsätze und Zivilmachtdenken durch Verschleierung des militärischen Charakters der Einsätze abzumildern. Dadurch waren bisher weder das Parlament noch
2.2 Spezifische relevante Theorieelemente
67
die Öffentlichkeit noch andere Akteure in der Lage, die Eskalationsdynamik nachhaltig zu bremsen. Anlage I listet noch einmal alle Forschungsfragen und Hypothesen im Zusammenhang auf.
3. Methodik der Studie
Nach der Darstellung der theoretischen Grundlagen fiir die beabsichtigte Analyse der Afghanistanentscheidungen in Deutschland soll im Folgenden die Methodik der Studie erläutert werden.
3.1 Forschungsdesign Einzelfallstudie Der empirische Befund einer Eskalation soll im Rahmen einer Fallstudie analysiert werden. Fallstudien gehören zu den Methoden der vergleichenden Politikwissenschaft, deren Bedeutung in den letzten zwei Jahrzehnten zugenommen hat (vgl. PickeVPickellLauth/Jahn 2009 a, S. 10). Die Struktur dieser Studie folgt einem Forschungsdesign von Muno, der - in Anlehnung an Bennet/George und Munck - ein Fünf-Stufen-Schema fiir Fallstudien entwickelt hat. Dieses sieht folgende Teilschritte vor (vgl. Muno 2009, S.127): 1. 2. 3. 4. 5.
Problemstellung, Theoretischer Rahmen, Fallauswahl, Eigentliche Fallstudie, Schlussfolgerung.
Die beiden ersten Schritte wurden in den beiden vorherigen Kapiteln abgearbeitet, in diesem Kapitel folgen methodische Überlegungen, die Fallauswahl und die Einordnung der Fallstudie.
3.1.1 Angewandte Methodenvielfalt Die Analyse soll mit verschiedenen Methoden erarbeitet werden. Dabei kommen - mit Ausnahme einer statistischen Darstellung von Finanzaufwendungen fiir die Einsätze - ausschließlich qualitative Methoden zur Anwendung. Auch wenn Entscheidungsprozesse den Untersuchungsgegenstand bilden, so ist keine systematische Prozessanalyse beabsichtigt. Vielmehr sollen Fakten heuU. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3. Methodik der Studie
ristisch empirisch ermittelt werden, anband derer die in Kapitel 1.4 formulierten Forschungsfragen beantwortet werden können. Das Vorgehen kann sich an dem orientieren, was GeorgelBennet als "process tracing" bezeichnet haben (vgl. Muno 2009, S. 125). Muno übersetzt dieses als "das Aufspüren oder Nachverfolgen eines bestimmten Vorganges" mit dem Ziel, "den kausalen Prozess - eine Kausalkette oder Kausalverbindung - zwischen einer unabhängigen Variable (oder Variablen) und dem Ergebnis der abhängigen Variable zu identifizieren" (ebenda). Kernstück der Faktenerarbeitung ist die Textanalyse von Veröffentlichungen und Verlautbarungen der Akteure, von Parlamentsvorgängen sowie von Medienberichten. Dabei sollen wesentliche Argumente von Bundesregierung, Parteien, Fraktionen des Deutschen Bundestages, Verbänden und anderen Akteuren herausgearbeitet werden. Für Teilaspekte ergänzen punktuelle Befragungen bzw. Interviews von ausgewählten Entscheidungsträgern die Textanalysen. So wurden die Vorsitzenden und Obleute der Bundestagsfraktionen im Auswärtigen Ausschuss sowie im Verteidigungsausschuss der 14.-16. Legislaturperiode per Fragebogen mit offenen Fragen um ihre Einschätzung gebeten. Die Antworten erfolgten teils schriftlich, teils in Interviews. Darüber hinaus konnten einige führende Militärs (in nationaler bzw. NATO-Führungsverantwortung) befragt werden. (Für eine Übersicht über den befragten Personenkreis s. Anlage 2, für die Fragenkataloge s. Anlage 3 a - 3 f). In einem begrenzten Teilbereich - dem Diskurs in Politik und Gesellschaft zur Legitimation und zur Natur der Afghanistaneinsätze (Kampfeinsatz oder Stabilisierungseinsatz, Krieg oder Nicht-Krieg) - soll das Instrument der Diskursanalyse angewendet werden.
3.1.2 Methodische Probleme bei nichtöffentlichen Entscheidungsprozessen und die Rolle der Medien im Rahmen von investigativem Journalismus Das Aufarbeiten von Fakten aus Entscheidungsprozessen der Außen- und Sicherheitspolitik steht vor einer doppelten Problematik: zum einen kann nicht davon ausgegangen werden, dass interne Abläufe vollständig dokumentiert werden - ein Teil der Beweggründe der Akteure dürfte aus unterschiedlichen Gründen schriftlich nicht fixiert worden sein. Zum anderen besteht die Schwierigkeit, dass Dokumente, die noch nicht das "Archivalter" erreicht haben - nach § 5 des Bundesarchivgesetzes steht Archivgut im Allgemeinen erst nach 30 Jahren der Forschung zur Verfiigung - dem Forscher häufig aus Gründen der Geheimhaltung nicht zugänglich sind. Damit besteht die Gefahr, dass aus dem veröffentlichten Material Fehlschlüsse gezogen werden, insbesondere, weil man in Betracht ziehen muss, dass Veröffentlichungen nicht objektiv, sondern mit einem bestimmten Zweck erfolgen.
3.2 Fallauswahl
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Da der Gegenstand der Analyse jedoch politische Entscheidungen sind, bei denen parlamentarische Prozesse eine zentrale Rolle spielen, ist mit der Parlamentsdokumentation eine "Schicht" der verschiedenen Entscheidungsebenen weitgehend transparent. Damit kann insbesondere die Schnittstelle zwischen Bunderegierung und Parlament bei den formalen Entscheidungen relativ gut bewertet werden. Inwieweit unter oder über dieser Schicht informelle Aktivitäten, strategische Überlegungen bzw. Einflussnahmen von anderen gesellschaftlichen Gruppen das Entscheidungsverhalten der Akteure im parlamentarischen Prozess beeinflussen, kann nur indirekt aus dem sonstigen Material bzw. aus Hintergrundinformationen, u.a. aus den Interviews, geschlossen werden. Dass dabei Gesichtspunkte oder Absichten von Akteuren völlig im Verborgenen bleiben, erscheint aufgrund der Funktion einer freien Presse in der Demokratie unwahrscheinlich. Der investigative Journalismus hat in vielen Fällen - auch und gerade im Zusammenhang mit den Afghanistanentscheidungen - frühzeitig Überlegungen und Planungen aufgedeckt, lange bevor sie offiziell in der Dokumentation der parlamentarischen Prozesse sichtbar wurden. Ein typischer Ablaufist dabei, dass Journalisten von einer Idee oder Planung "Wind" bekommen, dieses der Öffentlichkeit zugänglich machen, die betroffenen Akteure häufig sofort dementieren, und eine gewisse Zeit später die offiziell veröffentlichten Vorschläge oder Anträge weitestgehend dem seinerzeit dementierten Rechercheergebnis entsprechen. 92 Hieraus wird der Schluss gezogen, dass die Auswertung von Medienberichten eine brauchbare Methode zur Erkenntnisgewinnung darstellt, wenn bei der Interpretation eine gewisse Vorsicht an den Tag gelegt wird.
3.2 Fallauswahl
3.2.1 Einzelschritte der Afghanistanentscheidungen Die Thematik dieser Analyse sind die Entscheidungen in Deutschland zu den Afghanistaneinsätzen der Bundeswehr im Zeitraum November 2001 bis Februar 201 O. Aus dem Plural kann man erkennen, dass es sich nicht nur um die deutsche Be92
Beispiele: im Februar 2008 meldeten mehrere Zeitungen, die Bundesregierung plane eine Erhöhung des Umfangs des deutschen Kontingents auf 4.000 - 5.000 Soldaten (die Süddeutsche Zeitung nannte die Zahl 4.500). Der Regierungssprecher dementierte mit den Worten, an einer Aufstockung werde derzeit "nicht gearbeitet" ("Nachdenken ja, Aufstockung nein" in: Süddeutsche-Online vom 11.02.2008; Zugriff: 17.10.2008). Am 16.10.2008 beschloss das Parlament genau diese neue Obergrenze. Zur gleichen Zeit gab es erste Medienberichte zu Überlegungen hinsichtlich einer Beendigung der deutschen Beteiligung an OEF (vgl. Welt-ünline vom 17.02.2008; Zugriff:26.06.2008, NTV.de vom 16.02.2009; Zugriff: 01.07.2009). Mit dem Mandat vom 13.11.2008 wurde die Beendigung fiir OEF in Mghanistan dann tatsächlich realisiert.
3. Methodik der Studie
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teiligung an ISAF handelt, die von der Zahl der eingesetzten Soldaten dominiert, sondern auch um den Einsatz deutscher Soldaten in Afghanistan bei der "Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA "93 im Rahmen von OEF. Entscheidungsprozesse fiir bewaffnete Einsätze der Bundeswehr verlaufen komplex und werden von diversen formell und informell handelnden Akteuren beeinflusst. Unterschiedliche Entscheidungsschritte können entweder voneinander unabhängig erfolgen, oder mit anderen verknüpft sein, sie verlaufen teils zeitlich konsekutiv teils parallel bzw. überlappend. Für diese Studie erfolgt die Abgrenzung von Entscheidungsschritten - mit einer Ausnahme - anband des Kriteriums "Zustimmung des Deutschen Bundestages zu einem Antrag der Bundesregierung zum bewaffneten Einsatz der Bundeswehr". Dabei markiert jede diesbezügliche Bundestagsentscheidung einen Entscheidungsschritt. Der Ausnahmefall betrifft die Übernahme der Aufgaben einer "Quick Reaction Force" (QRF) durch Deutschland am 01.07.2008, der von der Bundesregierung ohne Zustimmung des Deutschen Bundestages entschieden wurde. Es bestand zwischen der Bundesregierung und der Mehrheit des Parlaments Einvernehmen, dass es fiir diese Aufgabenerweiterung keiner Mandatserweiterung bedurfte.94 Gleichwohl wird sie in dieser Analyse als eigenständiger Entscheidungsschritt erfasst, weil aus Sicht des Autors die neue Aufgabe eine qualitative Veränderung bedeutete. Damit vertritt der Autor hier eine andere Meinung als die Bundesregierung.95 Die Auswertung der Bundestagsdrucksachen bzw. P1enarprotokolle zeigt, dass mit diesem definitorischen Konzept bis Februar 2010 23 Entscheidungsschritte identifiziert werden können (8 Bundestagsbeschlüsse fiir OEF, 14 fiir ISAF und die Entscheidung der Bundesregierung zur Übernahme der QRF-Aufgabe ab 01.07.2008).
3.2.2 Auswahl der Eskalationsschritte Die Prüfung, ob diese Entscheidungsschritte eine Eskalation beinhalten, wird anband der Kriterien ,,zahl der mandatierten Soldaten", "geographischer Einsatzraum" sowie "Qualität der militärischen Operationen" durchgeführt. Ein Eskalationsschritt - im deskriptivem Verständnis - wird dann angenommen, wenn die 93 94 95
So der offizielle Wortlaut in den Anträgen der Bundesregierung aufZustimmung des Deutschen Bundestages zur Beteiligung an OEF. Vgl. BT PIPr 16/139, S. 14641 u. 14643. Der Parlamentarische Staatsekretär im BMVg, Thomas Kossendey, erklärte im Deutschen Bundestag: "Das ist zwar eine neue Aufgabe - das sollte man sehr deutlich sagen - ... , sie bedeutet aber keine neue Qualität." (vgl. BT PIPr 16/139 S.I4643)
3.2 Fallauswahl
73
Zahl der mandatierten Soldaten erhöht,96 der Einsatzraum ausgeweitet und/oder die Einsatzoptionen militärisch anspruchsvoller werden. 97 Nicht als Eskalation soll hingegen die rein zeitliche Verlängerung eines Mandats, ohne Änderung der genannten Kriterien, bewertet werden. 98 In Anlage 4 werden die mit diesen Kriterien identifizierbaren Entscheidungsschritte aufgelistet und die Mandatsinhalte unter der Fragestellung einer evtl. Eskalation skizziert. Daraus können folgende 11 Eskalationsschritte und ein Deeskalationsschritt abgeleitet werden (in Anlage 4 grau unterlegt): 1. 2. 3.
4.
96 97
98
99
16.11.2001: Beteiligung an OEF mit 100 Soldaten der Spezialkräfte. 22.12.2001: Beteiligung an ISAF mit 1.200 Soldaten, beschränkt auf den Großraum Kabul. 20.12.2002: Übernahme der Leitfunktion für ISAF (gemeinsam mit den Niederlanden) und Erhöhung des deutschen Anteils an ISAF auf 1.500 Soldaten, zuzüglich 1.000 für bis zu einem Jahr zur Wahrnehmung der Leitfunktion). 24.10.2003: Ausweitung des Einsatzgebietes auf die Region Kundus99 in Nord-Afghanistan (Betreiben eines regionalen "Provincial Reconstruction Team" (PRT)) und Erhöhung des Anteils an ISAF auf2.250 Soldaten (davon bis zu 450 für Kundus). Kurzfristige, technisch bedingte Erhöhungen der Zahl der eingesetzten Soldaten, z.B. während Kontingentwechsel, werden allerdings nicht als Eskalation gewertet. Dabei wird allein auf das Mandat abgestellt, nicht hingegen auf den Zeitpunkt der Umsetzung. So beinhaltet z.B. die Ausweitung des Mandats der ISAF vom 16.10.2008 eine Erhöhung der Zahl der Soldaten im Einsatz von 3.500 auf 4.500. Von dieser Ermächtigung wurde jedoch erst Anfang 2009 teilweise Gebrauch gemacht, als die Zahl der Soldaten auf ca. 4.200 angehoben wurde. Man könnte auch die rein zeitliche Verlängerung eines Mandats als Eskalation bewerten, wenn bei der ursprünglichen Entscheidung die zeitliche Begrenzung bewusst gewählt worden war, um den Einsatz danach zu beenden. Dieses ist z.B. flir die Entscheidung zur deutschen Teilnahme an der EU-Operation zur Absicherung der Wahlen im Kongo (EUFOR RD CONGO) anzunehmen, der auf vier Monate begrenzt wurde. Die Entscheidungen flir die Mghanistaneinsätze erfolgten hingegen vermutlich im Bewusstsein, dass nach Ablauf des Mandats dieses verlängert werden würde. Anmerkung zur Schreibweise von afghanischen Namen: es wird den Transkriptionsregeln der deutschsprachigen Nachrichtenagenturen gefolgt, in denen Namen aus Afghanistan z.T. eingedeutscht werden (vgI. zu diesem Vorgehen: Merey 2008, S. 8). So wird z.B. die Schreibweise ,,Kundus" angewandt, nicht "Kunduz", wie sie von der Bundesregierung anfangs angewendet wurde (vgI. z.B. BT Drs 15/1700 v. 15.10.2003). Inzwischen ist die Schreibweise in der Bundesregierung uneinheitlich. Das BMVg schreibt weiterhin "Kunduz", im Afghanistankonzept der Bundesregierung vom September 2008 liest man überwiegend ,,Kundus", aber auch noch ,,Kunduz" (vgI. Bundesregierung 2008, S. 23 bzw. 34).
74
3. Methodik der Studie
5.
30.09.2004: Ausweitung des Einsatzgebietes auf die Region Feyzabad in Nordost-Afghanistan (Betreiben eines weiteren regionalen PRT). 6. 28.09.2005: Übernahme der Führung in der ISAF-Region Nord und Erhöhung des deutschen ISAF-Kontingents auf 3.000 Soldaten. Einsatz der deutschen Kräfte in Kabul und in der Region Nord. Einsatz in anderen ISAFRegionen für unabweisbare Unterstützungsmaßnahmen des ISAF-Gesamtauftrags zeitlich und im Umfang begrenzt möglich. 7. 09.03.2007: Einsatz von Tornado-Aufklärungsflugzeugen im gesamten ISAF-Verantwortungsbereich. Erhöhung der Personalobergrenze auf 3.500 Soldaten. 8. 01.07.2008: i.Tbemahme der Aufgaben einer QRF für die Nordregion. 9. 16.10.2008: Erhöhung des Gesamtumfangs des ISAF-Kontingent auf 4.500 Soldaten. 10. 13.11.2008: Beendigung des OEF-Anteils von 100 Soldaten Spezialkräfte in Afghanistan. 11. 02.07.2009: Beteiligung am NATO-AWACS-Einsatz im Rahmen von ISAF, (Einsatz im gesamten ISAF-Verantwortungsbereich) mit bis zu 300 Soldaten. 12. 26.02.2010: Erhöhung des Gesamtumfangs des ISAF-Kontingents auf 5.350 Soldaten, Verlagerung des Schwerpunkts aufAusbildung der Afghanischen National Armee.
Die Streichung der 100 Soldaten der Spezialkräfte aus dem OEF-Mandat vom 13.11.2008 ist in diesem Kontext gesondert zu betrachten. Formal handelt es sich offensichtlich um einen Schritt der ,,Deeskalation". Es wird im Zuge der Analyse festzustellen sein, ob eine solche tatsächlich vorliegt, ob es sich um ein rein formales Anpassen des Mandats an die Realität und/oder um eine "politische Kompensation" für die Zustimmung zum Eskalationsschritt vom 16.10.2008 handelt. Hingegen wird die Nichtverlängerung des AWACS-Mandats am 03.12.2009 nicht als Deeskalationsschritt bewertet, da die NATO nicht die Voraussetzungen für den Einsatz schaffen konnte (fehlende Überfluggenehmigungen).loo
3.2.3 Begründung der Fallauswahl / Einordnung der Fallstudie Mit den definierten Konzepten konnten - wie gezeigt - 23 "Entscheidungsschritte" und elf"Eskalationsschritte" (zuzüglich eines ggf. vorliegenden Deeskalations100 Vgl. ,,AWACS-Mandat soll nicht verlängert werden" in: FAZ.NET vom 17.11.2009 (Zugriff: 12.12.2009).
3.2 Fallauswahl
75
schritts) identifiziert werden. Gleichwohl wird hier argumentiert, dass es sich bei dieser Untersuchung um eine Einzelfallstudie handelt. Denn gegen eine Definition der zwölf Eskalations-lDeeskalationsschritte als eigenständige Fälle, die miteinander vergleichbar wären, spricht, dass sie nicht unabhängig, sondern durch ,,Pfadabhängigkeit" miteinander verbunden sind. Daher werden sie nur als ein ,,Fall", nämlich als ein Eskalationsprozess, interpretiert. lOl Die Zuordnung von Einzelfallstudien zur vergleichenden Politikwissenschaft ist strittig. Es hat sich aber die auf Sartori zurückgehende Meinung durchgesetzt, dass Einzelfallstudien einen Platz in der Komparatistik haben, wenn sie einen "comparative merit" aufweisen. Das ist immer dann der Fall, wenn sie "spezielle Fälle", also solche von besonderem Interesse, untersuchen (vgl. Muno 2009, S. 116). HaguelHarrop definieren fünf Typen von Einzelfallstudien mit "comparative merit":
1.
Representative case study:
2.
Prototypical case study:
Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie typisch für eine Kategorie ist. Bei dieser wird erwartet, dass sie einmal typisch werden wird.
3.
Deviant case study:
4.
Archetypical case study:
Sie untersucht einen Einzelfall, der von einer Norm abweicht.
5.
Sie zielen auf die Entwicklung neuer theoretischer Ansätze. Crucial (oder critical) case study: Sie testen eine Hypothese an einem Fallbeispiel, mit für die Theorie ungünstigsten Rahmenbedingungen (vgl. HaguelHarrop 2007, S. 91 f.; analog LauthlPickellPickel2009, S. 62 ff.).
Die beabsichtigte Analyse der Eskalationsdynamik: bei den Afghanistanentscheidungen verspricht einen "comparative merit", da - je nach Standpunkt - zu erwarten oder zu befürchten ist, dass die Erkenntnisse zumindest teilweise typisch werden. So formulierte der Präsident der Bundessicherheitsakademie 2005 bei einer Konferenz zur Bestandsaufnahme ,,Afghanistan - drei Jahre nach dem Aufbruch vom Petersberg": "In Afghanistan steht die Glaubwürdigkeit Deutschlands, der NATO und aller übrigen dort eingesetzten Nationen auf dem Spiel. ... Sicher ist, dass die Erfahrungen, die wir in Mghanistan sammeln, tiefe Auswirkungen auf die Bereitschaft haben werden, sich in zukünftigen Krisen in
101
Zur Problematik des Begriffs "Fall" und der Definition von ,,Fällen" vgL Muno 2009, S. 115. überwiegende Auffassung in der Literatur ist, dass die Falldefinition vom Erkenntniszweck abhängt, also pragmatisch erfolgen sollte.
76
3. Methodik der Studie ähnlicher Weise zu engagieren. Afghanistan ist deshalb in mancher Hinsicht ein Modell bzw. ein Präzedenzfall." (Adam 2005, S. 11)
In einem anderen Sinne bewertete auch Klaus Naumann den Charakter des Afghanistan-Einsatzes als Präzedenzfall, als er formulierte: ,,Der Mghanistan-Einsatz ist zum Musterfall strukturellen Politikversagens geworden." (Naumann 2008, S. 8)
Aufgrund solcher Qualifizierungen wird diese Analyse vorläufig als prototypische Einzelfallstudie eingeordnet. In der Diskussion der Ergebnisse wird zu überprüfen sein, inwieweit diese tatsächlich einen "comparative merit" aufweisen und ob sie damit diese vorläufige Charakterisierung bestätigen. Allerdings ist bei der Frage der Verallgemeinerung von Ergebnissen einer Einzelfallstudie aufgrund der immanenten methodischen Schwächen dieser Methode (vgl dazu Muno 2009, S. 121 ff.) äußerste Vorsicht angesagt. Bei der Bewertung der Ergebnisse gilt es daher, die Mahnung von Renate Mayntz vor Augen zu haben, die festgestellt hatte: ,,Die allgemein anerkannte Achillesferse erklärender Einzelaussagen ist es, dass sie anzweifelbar bleiben, weil immer auch andere als die gerade hervorgehobenen Ursachen entscheidend gewesen sein können und der Gegenbeweis im Rahmen einer Einzelfallstudie nicht lieferbar ist." (Mayntz 2002 a, S. 16)
Mit dieser Warnung im Ohr soll die empirische Analyse begonnen werden.
Zweiter Teil
Analyse Die Ausweitung der Afghanistaneinsätze: Resultat von Eigendynamik oder intentionalem Handeln?
78
Zweiter Teil
Um sich der Frage zu nähern, ob der beobachtbare Eskalationsprozess bei den Afghanistanentscheidungen in Deutschland Ergebnis eigendynamischer Prozesse oder intentionalen Handelns (oder beidem) ist, soll im 4. Kapitel das Entscheidungsumfeld umrissen werden. Das 5. Kapitel analysiert Faktoren, die eine Eigendynamik der Ausweitung der Einsätze auslösten bzw. förderten. Schließlich werden im 6. Kapitel beschleunigende oder bremsende Einflüsse der Akteure auf den Eskalationsprozess untersucht.
4. Allgemeine Einßussfaktoren auf die Entscheidungen
Zur Erfassung des Entscheidungsumfeldes werden zunächst ausgewählte Akteure skizziert, die für die Entscheidungen möglicherweise relevant waren. Danach werden die institutionellen Rahmenbedingungen erörtert, die für die Akteure handlungsleitende bzw. -beschränkende Wirkung hatten. Anschließend werden dominierende Traditionslinien der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland - mit Schwerpunkt seit 1990 - referiert, die im Sinne einer pfadabhängigkeit wirksam gewesen sein könnten.
4.1 Akteure Aufgrund der Tradition, dass Außenpolitik eine Domäne der Exekutive ist, wird als erstes der Akteur ,,Bundesregierung" angesprochen. Formal ist er im Entscheidungsprozess zu Einsätzen der Bundeswehr ein kollektiver Akteur, da das Verfahren mit einem Beschluss der Bundesregierung beginnt. 102 Faktisch wirken an der Vorbereitung eines solchen Beschlusses jedoch mehrere Ressorts mit, bei denen nicht unbedingt Interessenkongruenz unterstellt werden kann, so dass ggf. eine differenzierte Analyse geboten ist. Diese Ressorts sind das Auswärtige Amt (AA), das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg), das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie das Bundesministerium der Finanzen (BMF). Die Koordinierung obliegt dem Bundeskanzleramt (BK), wobei der Bundeskanzler/die Bundeskanzlerin je nach Bedeutung der Entscheidungsmaterie als eigenständiger Akteur handeln kann. 103 Der nächstwichtige Akteur bei Einsatzentscheidungen ist aufgrund des o.a. angesprochenen Konstrukts der Parlamentsarmee der Deutsche Bundestag. Auch bei diesem Akteur ist zwischen der Betrachtung als kollektiver Akteur (soweit formale Beschlüsse betroffen sind) und der Differenzierung nach Fraktionen bzw. - in bestimmten Fällen - sogar nach Meinungen von Einzelabgeordneten zu unterscheiden. 102 Wiefelspütz erläutert, dass mangels gesetzlicher Regelung bis zum Inkrafttreten des Parlamentsbeteiligungsgesetzes das Verfahren "dem herkömmlichen Gesetzgebungsverfahren nachgebildet war" (Wiefelspütz 2005, S. 313). 103 Richtlinienkompetenz gern. Art. 65 GG.
U. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
80
4. Allgemeine Einflussfaktoren auf die Entscheidungen
Nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz (parlBG) vom 18.03.2005 wird über Anträge der Bundesregierung auf Zustimmung zu Auslandseinsätzen nur im Bundestag entschieden - ohne Beteiligung des Bundesrates (weitere Einzelheiten werden im folgenden Kapitel dargestellt). Damit sind die Bundesländer bei solchen Entscheidungen nicht direkt beteiligt. Da sie jedoch in der Implementierung von zivilen Maßnahmen in Form von Polizeihilfsmissionen relevant sind, haben Bundes- und Länderregierungen eine ,,Bund-lLänder-Arbeitsgruppe Internationale Polizeimissionen" mit einer ständigen Geschäftsstelle im Bundesministerium des Inneren geschaffen. 104 Über diese Arbeitsgruppe sowie über eine Abstimmung zwischen dem Bundesinnenminister und dem Vorsitzenden der Innenministerkonferenz der Länder können die Länder ggf. Einfluss nehmen. Allerdings betrifft das die Entscheidungen zu den militärischen Einsätzen nicht unmittelbar. Daher werden die Bundesländer in der Analyse nicht als Akteure gesehen, wohl aber bei der Analyse der Relation von militärischen und zivilen Mitteln mit betrachtet. Fraktionen sind in ihre entsprechenden Parteien eingebunden. Je mehr Öffentlichkeitswirksamkeit eine Entscheidung zu Einsätzen der Streitkräfte entfaltet und je näher Wahltermine liegen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass strategische Überlegungen der jeweiligen Parteien entscheidungserheblich sind. Daher sind auch die Parteien als potentielle Akteure mit im Auge zu behalten. Die Bedeutung von Öffentlichkeit bzw. der öffentlichen Meinung für politische Entscheidungen ist heute nicht mehr umstritten. Wir folgen der Auffassung bei Rudzio, dass von der ,jeweils in der Öffentlichkeit vorherrschenden Meinung, der ,öffentlichen Meinung', ... das politische Verhalten der einfachen Bürger wie der Politiker bestimmt (wird)... Die Tatsache, dass Regierungen und große Parteien immer wieder Repräsentativurnfragen in Auftrag geben,lO' verdeutlicht den demokratischen Prozess ständiger Rückkopplung mit der Bfirgermeinung." (Rudzio 2006, S. 381 f.)
Inwieweit Öffentlichkeit jedoch als Akteur betrachtet werden kann, ist fraglich. Vielmehr bedarf es der vermittelnden Rolle von Medien, um Positionen und Anliegen "öffentlich" werden zu lassen. Für Rudzio sind Medien daher in Demokratien "zum zentrale Träger der öffentlichen Meinungsbildung" geworden (ebenda, S. 382).
104
105
Quelle: ,,Auslandseinsätze der deutschen Polizei - InfomJationsblatt Historie - (Stand: August 2009)", hrsg. von der Bund-/Länder-Arbeitsgruppe Internationale Polizeimissionen - Gst. AG IPM im BMI - http://www.bundespo1izei.de/cln_152/00_268544/DE/Homel_ Startseite/IPM/ Infoblaetter/_Infoblatt_HistorieAuslandseinsaetze,templateId=raw,property=publicationFile. pdf/_Infoblatt_HistorieAuslandseinsaetze.pdf (Zugriff: 26.02.2010). Originalfußnote Nr. 4 bei Rudzio: ,,Karl Georg von Stackelberg, Souffleur aufpolitischer Bühne, München, 1975, S. 7."
4.1 Akteure
81
Aber nicht nur die Öffentlichkeit bedarf der Mittlerrolle der Medien, auch die übrigen Akteure im Politikprozess sind auf diese angewiesen. Politik findet in den Medien statt. In den Medienwissenschaften wurde der Begriff ,,Mediatisierung" geprägt, der wie folgt erklärt wird: ,,Die Medien berichten nämlich nicht nur über die flir sie inszenierte Politik und darüber, was in der Politik entschieden wird, sondern sie ermöglichen und unterstützen bzw. erschweren oder unterlaufen die politischen Entscheidungen - nicht nur und nicht allein durch einen politischen Kommentar, Sondersendungen, Talkshows und Politikmagazine. Sie stellen vielmehr die Arena, in der Politik - zumindest ein Teil davon - betrieben wird." (Reichertz 2007, S. 27)
Neben dieser Mittlerfunktion kommt den Medienjedoch auch eine Rolle als eigenständiger Akteur zu. Sie wirken bei der Bestimmung der Themen der öffentlichen Diskussion ("agenda setting") mit (vgl. Rudzio 2006, S. 397 106). In einer Analyse ist daher zu fragen, welche Ereignisse von den Medien aufgegriffen, ausgearbeitet, verbreitet und verfolgt werden - ggf. investigativ - und welche Bedeutung bzw. welche Folgen diese Medienthematisierung erzeugt. Eine spezifische Rolle kommt - wie oben entwickelt (Kap. 2.2.2) - der Wissenschaft als Diskurspartner der Politik bei der Formulierung nationaler Interessen zu. Dabei sind auch die "Think Tanks" in die Betrachtung einzubeziehen, also Institute, die einerseits - aufder Basis einer Grundfinanzierung - wissenschaftlich forschend, anderseits - im Rahmen von Aufträgen gegen Honorar - politikberatend tätig sind. Aus ihrer Arbeit resultieren Basisinformationen über bestimmte Problembereiche, fundierte Analysen, mit denen sie am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen, aber auch konkrete Handlungsempfehlungen an die Politik. Für den Problembereich der Auslandseinsätze der Bundeswehr sind dieses insbesondere die "Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)" in Berlin, aber auch die ,,KonradAdenauer-Stiftung" und die ,,Friedrich-Ebert-Stiftung". Deren Arbeit ist daraufhin zu beleuchten, ob ihre Informationen und Analysen Einfluss auf die Entscheidungen ausübten, und inwieweit sie damit als Akteure relevant waren. Eine weitere Kategorie potentieller Akteure ist im Bereich der gesellschaftlichen Gruppen zu vermuten. Zum einen sind dieses Verbände. Hier besitzt der Deutsche Bundeswehrverband ggf. eine besondere Relevanz, da er sich regelmäßig zu Fragen der Auslandseinsätze - speziell in Afghanistan - zu Wort meldet. Zum anderen ist der Bereich der Nichtregierungsorganisationen (Non Governmental Organizations) (NROINGO) zu betrachten. Dabei ist davon auszugehen, dass 106
Rudzio zitiert aus der Literatur das Beispiel, dass drei Wochen vor der Bundestagswahl2002 eine Gegenüberstellung der Pressemitteilungen der Parteien und deren Aufnahme in fünf fiihrenden Medien ergab, dass keine der Parteien sich auf der Medienagenda mit den Schwerpunkten wiederfand, die sie in ihrer Pressearbeit formuliert hatte (vgl. Rudzio 2006, S. 397).
82
4. Allgemeine Einflussfaktoren auf die Entscheidungen
die Zahl der in Afghanistan tätigen NGOs in die Hunderte geht,107 so dass eine Einzelbetrachtung ausscheidet. Deutsche NGOs bündeln ihre Interessen durch ihren "Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V." (VENRO). Daher soll vorwiegend dessen Teilnahme am politischen Diskurs zu den Einsätzen der Bundeswehr auf Relevanz überprüft werden, ggf. aber auch die von Einzelorganisationen mit starkem Engagement in Afghanistan, wie z.B. der Welthungerhilfe. Als ein weiterer potentieller Akteur ist die militärische Führung in Betracht zu ziehen. Dabei sollen nur die Ebenen betrachtet werden, die aufgrund ihrer Nähe zur politischen Führung vorrangig Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungsprozesse haben. Nach diesem Kriterium zählen zur nationalen militärischen Führung der Generalinspekteur sowie die Inspekteure der Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche, die der politischen Leitung des BMVg fiir die Einsätze (Generalinspekteur) bzw. fiir die Einsatzbereitschaft ihrer Organisationsbereiche (Inspekteure) verantwortlich sind. lo8 Dabei erscheint deren Betrachtung als potentiell eigenständige Akteure zunächst widersprüchlich, sind sie doch organisatorisch Bestandteil des BMVg, das wir oben bereits als Teil des kollektiven Akteurs Bundesregierung identifiziert hatten. Unter der Fragestellung des Primats der Politik ist jedoch in die Betrachtung mit einzubeziehen, ob bzw. welche Impulse die nationale militärische Führung in den Entscheidungsprozess gegeben hat. Schließlich wäre bei der Suche nach potentiellen Akteuren in den Entscheidungsprozessen zu den Afghanistaneinsätzen auch die Industrie mit zu betrachten. Dieses ergibt sich aus der oben andiskutieren Ambivalenz von Rüstung, die einerseits ein Mittel zur Herstellung und Erhaltung der Funktionsfahigkeit von Streitkräften ist, andererseits aber auch - wie die Forschung zum Phänomen eines 107
108
SchetterlMielke verweisen auf Schätzungen für 2003 von über 1.000 nationalen und internationalen NGO, davon weit über 800 in Kabul (SchetterlMielke 2008, S. 24). Die Homepage des Chr. Michelsen Institute (http://www.cmi.no/afghanistan/index.cfm?id=11O&NGOs nennt eine Zahl von ca. 700 registrierten NGOs (Zugriff: 10.07.2009). Die Verantwortlichkeiten sind im sog. ,,Berliner Erlass" vom 21.01.2005 geregelt. Dieser bestimmt in Ziff. 1.2.: "Unterhalb der Leitung stehen - unbeschadet der Verantwortung des Ministers als Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt - der Generalinspekteur der Bundeswehr und die Inspekteure der Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine, der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr sowie der Inspekteur der Streitkräftebasis (Inspekteure) an der Spitze der Streitkräfte. Aus seiner Verantwortung, insbesondere für die streitkräftegemeinsamen Aufgaben, ergibt sich eine herausgehobene Stellung des Generalinspekteurs der Bundeswehr als zentrale militärische Instanz." Ziff. 2.1.2. beinhaltet die Verantwortung des Generalinspekteurs für die Einsätze und Ziff. 2.2.2. die der Inspekteure für Einsatzbereitschaft ihrer Organisationsbereiche. (http://www.bundeswehr.de/fileserving/ PortalFiles/C 1256EF40036B05BIW2696KN7093INFODE/BerlinerErlass.pdf; Zugriff: 11.07.2009).
4.1 Akteure
83
militärisch-industriellen Komplexes gezeigt hat 109 - zur Dynamik der Rüstungseskalation beitragen kann. Die Analyse wird diesen Aspekt jedoch nicht weiter vertiefen, weil der äußerst geringe Anteil der wehrtechnischen Industrie in Deutschland an der industriellen Gesamtproduktion keine relevanten Einflussmöglichkeiten der wehrtechnischen Industrie erwarten lässt, selbst wenn man in Betracht zieht, dass ggf. einzelne Unternehmen überproportional im Rüstungsgeschäft tätig sind. 110 Neben den genannten Akteuren in Deutschland sind auch solche auf internationaler Ebene zur berücksichtigen. Diese sind zum einen die wichtigen Internationalen Organisationen, vor allem die VN, die NATO und, begrenzt, die EU. Hinzu kommen einzelne Partner, hier vorrangig die USA. Und schließlich - aufgrund der multinationalen Einbindung der Bundeswehrkontingente - die NATOKommandostruktur. 111 Die multinationale militärische Führung der Einsätze in Afghanistan erfolgt für ISAF über vier Ebenen. 112 Nach dem oben definierten Kriterium der Nähe zur politischen Führung sollen die BefeWshaber des "Allied Command Operations" in Mons, Belgien als Bestandteil des Supreme Headquarters Allied Powers in Europe (SHAPE), des Allied Joint Forces Command (AJFC) in Brunssum, Niederlan109
110
111
112
Vgl. als aktuelles Beispiel für die Analyse der Entstehung eines neuen militärisch-industriellen Komplexes in den USA: Hennes 2003; für Versuche, einen solchen Komplex auch für Deutschland nachzuweisen: Mechtersheimer 1977 und Angerer/Schmidt-Eenboom 1988. Der Umfang der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland wird durch folgende Kennzahlen charakterisiert: 80.000 Mitarbeiter, ca. 17 Mrd. € Umsatz (Quelle: Homepage des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V., http://www.bdi.eu/I965.htm. Bezugsjahr nicht genannt; Zugriff: 21.02.20 I0). Setzt man dieses in Relation zur gesamten deutschen Industrie, so lauten die entsprechenden Zahlen für 2007: 5,2 Mio. Mitarbeiter, 1,57 Billionen Umsatz. Dieses ergibt einen Anteil der wehrtechnischen Industrie von ca. 1,5% bei den Mitarbeitern und ca. 1, I% beim Umsatz (Quelle für Zahlen der deutschen Industrie: Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie http://www.bmwi.delBMWi/Navigation/Wirtschaft/Industrie/gesamtwirtschaftlichebedeutung.html; Zugriff: 17.02.2010). In einem Multilevel Govemance-Ansatz wären grundsätzlich auch transnationale Akteure mit zu berücksichtigen, was hier aufgrund angenommener geringer Relevanz nicht weiter verfolgt werden soll. Die NATO-Kommandostruktur wird vom Bündnis wie folgt dargestellt "NATO's Allied Command Operations (ACO), based at the Supreme Headquarters Allied Powers in Europe (SHAPE), in Mons (Belgium), assumes the overall command ofthe operation. ACO's subordinate headquarters, Allied Joint Force Command (JFC) Headquarters Brunssum (The Netherlands), ...runs the operation, duties including the planning and command ofthe force as weil as the provision of a force commander and headquarters.... The new ISAF Upper Command Structure, will consist of a higher operational Headquarters, ISAF HQ commanded by a 4 star General, and a subordinate 3 star Headquarters (or Intermediate Headquarters), called ISAF Joint Command.... COMISAF (4 star), in ISAF Headquarters, will focus on the more strategie political-military aspects ofthe ISAF mission, synchronizing ISAF's operations with the work of Afghan and other international organizations in the country." (QueUe: http://www.nato.int/ isaf/structure/comstruc/index.html; Zugriff: 07.03.20 I 0).
84
4. Allgemeine Einflussfaktoren auf die Entscheidungen
de, sowie der Viersternegeneral (COMISAF) an der Spitze des ISAF-Headquarters in Kabul zur multinationalen militärischen Führung mit potentiellem Akteurscharalcter gerechnet werden.
4.2 Institutionelle Rahmenbedingungen Nach dieser Skizze potentieller Akteure, die an den Einsatzentscheidungen für Afghanistan mitwirken, sollen im Folgenden die institutionellen Rahmenbedingungen für diese Entscheidungsprozesse erläutert werden. Sie sind primär durch die Rechtslage gesetzt. Diese ergibt sich aus dem Streitkräfteurteil des BVertD vom 12.07.1994 (s. Kap. 2.2.5.2) und der parlamentarischen Praxis, die sich bis 2004 entwickelt hatte, und die 2005 im ParffiG gesetzlich normiert wurde. Neben der Rechtslage werden danach Aspekte erörtert, die sich in der Parlamentspraxis ergeben haben. Kernstück der rechtlichen Rahmenbedingungen ist der Grundsatz, dass "der Einsatz bewaffueter deutscher Streitkräfte außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes ... der Zustimmung des Bundestages (bedarf). "llJ
Dabei liegt nach dem Wortlaut des Gesetzes ein ,,Einsatz" vor, wenn "Soldatinnen oder Soldaten der Bundeswehr in bewaffuete Unternehmungen einbezogen sind oder eine Einbeziehung in eine bewaffuete Unternehmung zu erwarten ist."'l4
Diese Definition wurde durch das BVertD in seiner Entscheidung vom 07.05.2008 zum AWACS-Einsatz 2003 über der Türkei präzisiert. 1l5 Im Rahmen dieser Studie soll nur auf das Verfahren gern. § 3 ParffiG als "Standardverfahren" eingegangen werden, nicht jedoch auf das "vereinfachte Zu-
113
114 115
§ 1 Abs. 2 ParIBG. Wiefelspütz weist jedoch darauf hin, dass es sich beim konstitutiven Parlamentsvorbehalt um materielles Veifassungsrecht handelt, das unmittelbar und ungeachtet näherer gesetzlicher Ausgestaltung gilt (Wiefelspütz 2005, S. 206). § 2 Abs. I ParIBG. Der Kernsatz der Präzisierung lautet: ,,Für den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt kommt es nicht daraufan, ob bewaffuete Auseinandersetzungen sich schon im Sinne eines Kampfgeschehens verwirklicht haben, sondern darauf, ob nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffuete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist. Die bloße Möglichkeit, dass es bei einem Einsatz zu bewaffueten Auseinandersetzungen kommt, reicht hierfür nicht aus. Erst die qualifizierte Erwartung einer Einbeziehung in bewaffuete Auseinandersetzungen führt zur parlamentarischen Zustimmungsbedürftigkeit eines Auslandseinsatzes deutscher Soldaten." (Quelle: Bundesverfassungsgericht - Pressestelle: Pressemitteilung Nr. 52/2008 vom 07.05.2008, hrtps:11 www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg08-052.html; Zugriff: 11.07.2009).
4.2 Institutionelle Rahmenbedingungen
85
stimmungsverfahren" gern. § 4 ParffiG, das bei den Afghanistanentscheidungen nicht zum Tragen kam. Das Verfahren beginnt mit einem Antrag der Bundesregierung, der dem Bundestag rechtzeitig vor Beginn eines Einsatzes zuzuleiten ist. Das Gesetz spezifiziert die Inhalte eines solchen Antrags. Diese sind Angaben über den Einsatzauftrag, das Einsatzgebiet, die rechtlichen Grundlagen des Einsatzes, die Höchstzahl der einzusetzenden Soldatinnen und Soldaten, die Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte, die geplante Dauer des Einsatzes sowie die voraussichtlichen Kosten und die Finanzierung. Der Bundestag kann einem Antrag nur in Gänze zustimmen oder ihn ablehnen, eine Änderung ist nach dem Gesetz nicht zulässig. 116 Der Zustimmungsvorbehalt verleiht dem Bundestag also keine Initiativbefugnis. Vielmehr hat das BVerfG betont, dass ,,(D)er der Regierung von der Verfassung fiir außenpolitisches Handeln gewährte Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit ... durch den Parlamentsvorbehalt nicht berührt (wird) (zit. nach Wiefelspütz 2005, S. 314).
Auch wenn nach dieser Vorgabe des BVerfG der Bundestag zu Anträgen der Bundesregierung nur Ja oder Nein sagen kann, so haben sich in der Praxis durchaus Einflussmöglichkeiten ergeben. Wiefelspütz merkt an, "daß die strenge Unterscheidung zwischen der ausschließlich der Regierung eingeräumten Initiativbefugnis und dem Parlamentsvorbehalt der dynamisch-prozeßhaften, sich wechselseitig beeinflussenden Relation zwischen Parlament und Regierung kaum gerecht wird. Die Regierung ist gut beraten, wenn sie beizeiten die Bereitschaft und die Bedingungen des Parlaments fiir eine Zustimmung auslotet. Das Parlament hingegen beeinflußt die Initiativbefugnis der Regierung" (Wiefelspütz 2005, S. 314, FN 1328).
Biermann weist darauf hin, dass sich "informell eine viel frühzeitigere Einbeziehung der Regierungsfraktionen in die Willensbildung der Bundesregierung eingespielt" hat. Diese erfolgt vielfach noch vor der ersten, unverbindlichen Kräfteanzeige im NATO-Rat. Damit will die Regierung das Stimmungsbild in den Fraktionen sondieren. Es folgen umfassende Informationen für die Fraktionsspitze, die außen- und verteidigungspolitischen Sprecher sowie die Experten in den Arbeitskreisen. Mit dieser frühzeitigen Einbindung von Teilen des Parlaments wirbt die Regierung nach Biermanns Darstellung "um Wohlwollen". Sie kann auf diesem Weg formell parlamentarische Fristen verkürzen und das "Abstimmungsverhalten frühzeitig ermessen", um ggf. eine deutsche Beteiligung in internationalen Gremien ausschließen bzw. einstimmige Beschlüsse in diesen verhindern, wenn sie 116
§ 3 ParIBG.
86
4. Allgemeine Einflussfaktoren auf die Entscheidungen
nicht mit einer Mehrheit rechnen kann (,,Frühwarn- und Antizipationsfunktion"). Allerdings schließt - so Biermann - "dieser Abstimmungsprozess die Opposition kaum ein (vgl. Biermann 2004, S. 618 f.H'7). Inzwischen gehören im Verfahren nach dem ParlBG auch die Befristung von Zustimmungen, Protokollerklärungen und begleitende Entschließungen zur Normalität (vgl. für Beispiele Wiefelspütz 2005, S. 314 ff.). Die Behandlung des Antrags im Parlament richtet sich nach dem Standardverfahren für Gesetzentwürfe. Hg Allerdings findet - im Gegensatz zu Gesetzesvorhaben - keine Beteiligung des Bundesrates statt. Da das BVerfG im Streitkräfteurteil für den Beschluss aufArt. 42, Abs. 2 GG abgehoben hatte, genügt für eine Zustimmung die einfache Mehrheit. Dieses ist bemerkenswert, weil die bis dahin vorgesehene einzige Rechtsgrundlage für den Einsatz der Streitkräfte, die Feststellung des Verteidigungsfalls nach Art. 115a GG, eine Zweidrittelmehrheit vorsieht. Da die Frage nach höheren Quoren für unterschiedlich intensive Einsatzformen jedoch Bestandteil der Erörterung vor dem BVerfG war (vgl. Meyer 2006, S. 59), hat das Gericht seine Entscheidung für die einfache Mehrheit offensichtlich bewusst ohne Parallelität zu Art. 115a GG getroffen. Nach § 8 ParlBG kann der Bundestag seine Zustimmung zu einem Einsatz widerrufen. Wiefelspütz weist daraufhin, dass dieses Rückholrecht nur aus wichtigem Grund bei wesentlichen Veränderungen der Umstände und nicht willkürlich ausgeübt werden dürfte. Darüber hinaus ist aber auch eine politische, letztlich auch eine bÜlldnispolitische Bewertung anzustellen. Dadurch kommt dem Bundestag "eine weite Einschätzungsprärogative zu, ob ein wichtiger Grund vorliegt" (Wiefelspütz 2005, S. 492). Klose hebt hervor, dass das Rückholrecht des Parlaments ein "starkes Korrektiv" für mögliche Fehlentwicklungen darstellt. Der Bundestag werde die Zustimmung zu einem Einsatz nur widerrufen, wenn die politische und militärische Lageentwicklung einen Widerruf erzwinge. Um dieses zu beurteilen, müsse das Parlament jedoch ausreichend informiert sein, woran es in der Vergangenheit "bis117
118
Biennann bezieht sich aufInformationen, die er in einem Gespräch mit Hans-Ulrich Klose (SPD) am 07.05.2004 erhalten hatte. Klose war damals stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, dessen Vorsitzender er bis 2002 gewesen war. § 78 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO-BT). In der Praxis werden die Anträge nach der Ersten Beratung im Plenum federfiihrend dem Auswllrtigen Ausschuss und mitberatend dem Verteidigungsausschuss, dem Haushaltsausschuss und ggf. weiteren Fachausschüssen überwiesen. Der Auswärtige Ausschuss fasst die Ergebnisse von mitberatenden Ausschüssen in einem Bericht und einer Beschlussempfehlung zusammen, die in einer Zweiten Beratung im Plenum erörtert werden. Das Ende des parlamentarischen Verfuhrens steht die Zustimmung oder Nichtzustimmung des Deutschen Bundestages (vgl. Wiefelspütz 2005,
S.313).
4.3 Traditionslinien der Außenpolitik der BRD seit 1955
87
weilen gemangelt" habe, insbesondere hinsichtlich der Einsätze von Spezialkräften (vgl. Klose 2007, S. 27, und die Diskussion in Kapitel 4.3.1.3 d). Nachdem dieses Informationsproblem mehrfach in Debatten zur Verlängerung von OEF- und ISAF-Mandaten bemängelt worden war, boten der Bundesaußenminister und der Bundesverteidigungsminister in einem gemeinsamen Schreiben vom 08.12.2006 folgendes Informationsverfahren an: ,,Die Bundesregierung informiert die Vorsitzenden, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Obleute des Verteidigungsausschusses und des Auswärtigen Ausschusses auf vertraulicher Basis vor der Entsendung von Spezialkräften und nach Abschluß von wichtigen Einzeloperationen, während des Einsatzes, sobald und soweit dies ohne Gefll.hrdung des Einsatzes, der Soldaten oder ihrer Angehörigen möglich ist. Die Obleute sind ermächtigt, diese Information vertraulich an die Fraktionsvorsitzenden weiterzugeben. Unter den gleichen Voraussetzungen wird derselbe Teilnehmerkreis alle sechs Monate in vertraulicher Sitzung zusammenfassend über KSK-Einsätze informiert." (zit. nach KIose 2007, S. 27)
Inwieweit dieses Verfahren relevant wurde und erfolgreich war, soll im Rahmen der empirischen Analyse weiter beleuchtet werden. Das Rückholrecht wird jedoch nicht weiter diskutiert, da es bis Februar 2010 im Rahmen der Afghanistanentscheidungen nie relevant geworden war.
4.3 Traditionslinien der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit 1955 - Zivilmachtdenken und Multilateralismus Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland war - folgt man einer Darstellung bei Maull- nach 1955 durch folgende zentrale Leitlinien gekennzeichnet: • • • • • • •
Bekenntnis zur außenpolitisches Bewältigung der deutschen Vergangenheit, konsequente Westorientierung, profunde Skepsis gegenüber militärischer Macht und militärischen Machtmitteln der Außenpolitik als prägendes Element der politischen Kultur, bewusster Souveränitätsverzicht und Integration in größere politische Zusammenhänge, Umorientierung der gesamtgesellschaftlichen Zielsetzung auf wirtschaftlichen Wiederaufbau und Konsolidierung der politischen Herrschaftsordnung, Festhalten am Ziel der Wiedervereinigung und Bestreben, in Gesamteuropa Sicherheit und Stabilität zu fördern, u.a. durch Entspannung und Zusammenarbeit über Blockgrenzen hinweg (vgl. Maull 2006, S. 423 f.).
88
4. Allgemeine Einflussfaktoren auf die Entscheidungen
In gleichem Sinne nennt Risse als Kennzeichen der deutschen außenpolitischen Nachkriegsidentität "Zivilmacht", ,,Multilateralismus" und ,,Europaorientierung" (Risse 2007, S. 53 f.). Dabei weisen HellmannlWolflSchmidt daraufhin, dass die Bereitschaft Deutschlands zur Einordnung in multilaterale Strukturen und das Festhalten am Ziel der Wiedervereinigung nicht spannungsfrei vereinbar waren. 119 Diesen Leitlinien aufder Zielebene entsprachen aufder instrumentellen Ebene folgende Merkmale: • • • • •
eine systematische Politik der Vertrauensbildung, die Präferenz für multilaterale Lösungsansätze, eine außenpolitische Kultur der Zurückhaltung, die Suche nach "politischen Lösungen" (Kompromisse, fairer Interessenausgleich) und ein konsequentes Engagement für Institutionalisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen auf allen Ebenen (vgl. Maull 2006, S.425).
Das Ende des Ost-West-Konflikts und die Veränderungen in Europa nach 1989 initiierten in der außenpolitischen Forschung eine intensive Debatte darüber, ob die Außenpolitik des wiedervereinigten Deutschlands mehr im Zeichen von Kontinuität oder von Wandel stehen WÜTde. 120 Ende der 90er Jahre war das Ergebnis dieser Debatte die überwiegende Meinung, dass hinsichtlich der beiden Elemente Zivilmacht und Multilateralismus im Wesentlichen Kontinuität feststellbar sei. Allerdings wurde dieser Befund in mehrerlei Hinsicht relativiert. Zunächst kam die Frage auf, ob sich Deutschland durch die Auslandseinsätze, also den vermehrten Gebrauch militärischer Instrumente als Mittel der Außenpolitik, vom Zivilmachtdenken entfernt hätte. Maull konstatierte eine "prekäre Kontinuität zwischen Pfadabhängigkeit und Anpassungsdruck" (Maull 2006). Einerseits sah er Kontinuität in den außenpolitischen Leitlinien und Instrumenten (vgl. ebenda, S. 422 ff.), andererseits identifizierte er Elemente des Wandels, die er mit den Stichworten "Normalisierung", "Assertive Germany", "Renationalisierung" und ,,neue außenpolitische Rhetorik" 119
Sie schreiben: "Dass Bonner Entscheidungsträger ihre Bündnistreue immer etwas deutlicher demonstrieren mussten als die übrigen NATO-Mitglieder, lag nicht zuletzt daran, dass die Bundesrepublik ungeachtet des niedrigen öffentlichen Profils ihrer Diplomatie eben doch hartnäckig ihre eigene Agenda beibehalten hatte. Der ,politische Zwerg' mochte sein wachsendes Wirtschaftspotential nicht konsequent als Machtinstrument verwenden; er ließ jedoch nie wirklich von seiner Absicht ab, die europäische Landkarte nachhaltig zu seinen Gunsten zu verändern." (HeLlmann/Wolf/Schmidt 2007, S. 32) 120 Für eine Kompaktdarstellung dieser Debatte vgl. Hellmann/Wolf/Schmidt 2007, S. 33 ff.
4.3 Traditionslinien der Außenpolitik der BRD seit 1955
89
kennzeichnete (vgl. ebenda, S. 426 ff.). In seinem Resümee überwog jedoch die Kontinuität, was er mit dem "gut verankerten und stimmigen außenpolitischen Rollenkonzept" der Zivilrnacht erklärte (vgl. ebenda, S. 441). Die Antwort Risses auf die Frage, ob sich Deutschland vom Zivilrnachtdenken entfernt hätte, knüpfte an der Feststellung an, dass Zivilmachtdenken nicht mit Pazifismus verwechselt werden dürfe. Auf dieser Basis kam er zum Ergebnis, dass selbst im Hinblick auf die Entwicklung der Auslandseinsätze Kontinuität statt Wandel vorherrsche. "Die Veränderung besteht nicht so sehr in der Teilnahme an militärischen Einsätzen per se, sondern im Gebrauch militärischer Mittel außerhalb des NATO-Bfindnisgebiets. Mir scheint es dabei in erster Linie um die Anpassung der deutschenAußen- und Sicherheitspolitik an die veränderte internationale Umweltzu gehenalsumeineVeränderungin ihren Grundorientierungen und ihrerkollektivenIdentität." (Risse 2007, S. 58)
Zu einem ähnlichen Schluss kam Wölfte, der am Ende eines umfassenden Vergleichs des Rollenkonzepts der Zivilrnacht und des Rollenverhaltens Deutschland - unter besonderer Berücksichtigung der Auslandseinsätze - feststellte: ,,Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik orientiert sich zumindest mit Blick auf den Streitkräfteeinsatz maßgeblich an den theoretischen Zielen einer Zivilmacht." (Wölfle 2005, S. 116)121
Das Element der Kontinuität im Zivi1machtdenken hat Relevanz für die Erklärung der Afghanistanentscheidungen in Deutschland. Denn - wie oben gezeigt - werden in sozialkonstruktivistischer Sicht außenpolitische Entscheidungen von vorherrschenden Selbstbildern in der Gesellschaft geprägt. Für unsere Fragestellung ist dabei insbesondere die Einstellungen der deutschen Gesellschaft zur Gewalt von Bedeutung, Und diese ist nach der Kontinuitätsthese pfadabhängig (vgl. Geisl BrockIMü1ler 2007, S. 84 f.). Hellmann bestätigte zum Ende des letzten Jahrzehnts zwar auch die Bewertung ,,Kontinuität",122 sah aber einen bereits Mitte der 90er Jahre beginnenden Wandel hin zu einem Phänomen, das er als "machtpolitische Resozialisierung Deutschlands im Konzert der großen Mächte" beschrieb, und das seiner Meinung nach zu 121
122
Wölfte wertete die Bundesrepublik Deutschland gleichwohl nicht als Zivilmacht im Sinne Maulls. Dabei stehen nach seiner Auffassung nicht die Auslandseinsätze der Bundeswehr einer Einordnung Deutschlands als Zivilmacht entgegen. Vielmehr werde dieses durch den Mangel an Gestaltungswillen und -fllhigkeit verhindert (Wölfle 2005, S. 116). Er formulierte: "Zwar ist die Zeit schon wieder zu weit fortgeschritten, um die größeren Publikationen zur deutschen Außenpolitik aus den letzten Jahren in Haftung zu nehmen, aber wenn man sich auf diesem Terrain derzeit orientieren will, dominiert noch immer das Bild einer weit gehenden ,Kontinuität' deutscher Außenpolitik in der Traditionslinie der Bonner Republik." (Hellrnann 2004, S. 84)
90
4. Allgemeine Einflussfaktoren auf die Entscheidungen
"einer der tiefsten und weitreichendsten Krisen" der Außenpolitik Deutschlands in der Nachkriegsgeschichte geführt hatte. (Hellmann 2004, S. 80). Die letztgenannte Wertung traf wohl auf den Zeitpunkt des Beitrags (2004) ZU. 123 Die Tatsache des Wandels wird von ihm jedoch auch in späteren Darstellungen bestätigt. So heißt es im Jahre 2007: ,,Die Kontinuitätsthese ließ sich allerdings in den letzten Jahren immer seltener mit den tatsächlichen Entwicklungen vereinbaren. In dem Maße, in dem Deutschland verstärkt an informellen internationalen Koordinierungsmechanismen beteiligt wurde, schwand sein Interesse an langwierigen, eher formell institutionalisierten Verfahren im großen Kreis. Solche Klagen sind in den letzten Jahren sowohl aus dem Umfeld der Vereinten Nationen wie auch aus der EU zu vernehmen." (Hellmann/Wolf/Schmidt 2007, S.37)
Diese Wertung verweist auf das zweite Element der Kontinuität deutscher Außenpolitik nach 1990, den Multilateralismus. Das überwiegend anerkannte Ergebnis der Debatte um Kontinuität oder Wandel am Ende der 90er Jahre war - neben der Betonung des Zivilmachtdenkens - die Feststellung: ,,Der Multilateralismus gilt gemeinhin als Kontinuitätselement der deutschen Außenpolitik" (Baumann 2005, S. 165).124 Allerdings arbeitete Baumann heraus, dass sich der deutsche außenpolitische Multilateralismus im Laufe der 90er Jahre systematisch zu verändern begonnen hatte (vgl. ebenda, S. 15). Er fasste das Ergebnis einer Diskursanalyse wie folgt zusammen: ,,Begründungen multilateraler Politik, die aufnormativ, historisch und habituell verankerte Verpflichtungen rekurrieren, dominieren in den späten 1980er Jahren und den Jahren unmittelbar nach der deutschen Vereinigung den Diskurs und verlieren danach innerhalb einiger Jahre ihre vorherrschende Position zugunsten von Begründungen, die auf die Nützlichkeit multilateraler Einbindung verweisen oder diese Einbindung mit dem Verweis auf Einfluss- und Statusgewinne beziehungsweise der Forderung nach ihnen verknüpfen. Multilaterale Politik wird damit vermehrt zu etwas Optionalem oder einem bloßen Instrument, um eigene Interessen gegenüber den Partnern oder gegenüber Dritten durchzusetzen." (ebenda, S. 167)
Allerdings blieb nach seinen Erkenntnissen die bis dato vorherrschende Begründung multilateraler Außenpolitik unter Verweis aufnormative oder faktische Erfor123
124
An anderer Stelle formulierte er explizit: ,,Das deutsch-amerikanische Zerwürfuis über einen Krieg gegen Saddam Husseins Irak ist das Symptom dieser außenpolitischen Krise." (Hellmann 2003, S. 39) In diesem Sinne erklärte Außenminister Fischer bei einer Konferenz der Leiterinnen/Leiter der deutschen Auslandsvertretungen am 04.09.2000: ,,Das Entscheidende aber ist, dass größeres Engagement sich an dem überwölbenden Ziel orientieren muss, das seit über 50 Jahren im Zentrum unserer Außenpolitik steht, nämlich der Stärkung des Multilateralismus und der Herrschaft des Rechts, also von Kooperation anstatt Hegemonie. Aus diesem ,multilateralen Imperativ' ergeben sich die Schwerpunkte deutscher Außenpolitik." (Fischer 2000, S. 7)
4.4 Zwischenresfimee
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demisse auch weiter ein wichtiges Merkmal des deutschen Multilateralismus. Die neuen Begründungsmuster kamen jedoch gleichrangig hinzu (vgl. ebenda, S. 167). Für die Frage nach einer evtl. Dominanz des Multilateralismus ist die Verschiebung im innergesellschaftlichen Diskurs jedoch von nachrangiger Bedeutung. Denn diese ist unabhängig davon, aus welcher Motivation bzw. mit welcher Begründung die Einbindung in multilaterale Zusammenhänge erfolgt.
4.4 Zwischenresümee Damit ist festzuhalten: Auch wenn die Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen in Deutschland formal den Akteuren ,,Bundesregierung" (wegen der Prärogative für die Außenpolitik) und ,,Deutscher Bundestag" (aufgrund des Konstrukts der Parlamentsarmee durch das BVerfG) zugewiesen sind, so hat die bisherige Überlegung gezeigt, dass eine Reihe weiterer Akteure potentiell relevant sein könnten und daher in der weiteren empirischen Analyse mit zu betrachten sind. Maßgebliche Einflussgrößen sind die institutionellen Rahmenbedingungen vor allem die Rechtslage nach den Entscheidungen des BVerfG und der Normierung im ParffiG, aber auch deren Ausgestaltung in der parlamentarischen Praxis. Schließlich sind Zivilmachtdenken und Multilateralismus im Sinne von Pfadabhängigkeit als Einflussgrößen relevant, da sie - zumindest bis zum Beginn unseres Untersuchungszeitraums - wesentliche Bestimmungsgrößen deutscher Außenpolitik waren, deren Gewichtung sich im Spannungsverhältnis zwischen Kontinuität und Wandel veränderte. Ob bzw. wie und wie stark auch für die Zeit danach, wird die empirische Analyse zeigen müssen.
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Das folgende Kapitel geht der Frage nach, welche eigendynamischen Komponenten zu einer Ausweitung der Afghanistaneinsätze der Bundeswehr beigetragen haben. Dazu werden die Hypothese einer Dominanz des Multilateralismus aufPlausibilität überprüft, das Verhältnis zwischen militärischen und zivilen Anteilen des deutschen Engagements in Afghanistan bewertet und die Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan seit Beginn der Einsätze analysiert.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen im Spannungsfeld zwischen äußeren und inneren Einfiussfaktoren Zur Beantwortung der Frage, welche eigendynamische Komponenten die Einsatzausweitung vorangetrieben haben könnten, soll zunächst kurz die Situation in Afghanistan nach dem Ende der Kriegsereignisse 2001 skizziert werden. Da eine umfassende Darstellung in der Literatur schwerpunktmäßig erst ab der Mitte des Jahrzehnts zu finden ist, soll auch geprüft werden, welche Informationen bei Beginn der Einsätze verfügbar gewesen waren und damit den Entscheidungen in den Jahren ab 2001 hätten zugrunde gelegt werden können.
5.1.1 Situation in Afghanistan nach 2001 Die Ausgangslage Afghanistans 2001 und den folgenden Jahren war durch die Faktoren "geopolitische Situation", "gesellschaftliche Konfliktlinien", "schwache staatliche Strukturen" und "BÜTgerkriegsökonomie" gekennzeichnet. 5 .1.1.1 Geopolitische Situation Seit Jahrhunderten bzw. sogar Jahrtausenden war das Gebiet des heutigen Afghanistan militärisches und wirtschaftliches "Durchgangsland" (ein "Highway of Conquest") (vgl. Schetter 2009, S. 21). Der Durchzug fremder Mächte bzw. Invasionsversuche gehen zurück bis zu Alexander dem Großen. Afghanistans geografische Position gab dem Land immer wieder politisches Gewicht in den strategi-
U. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
schen Überlegungen seiner Nachbarn und der Großmächte (vgl. Gomm/Günther 2005, S. 13). Aus dieser geografisch-strategischen Lage im Herzen Asiens wurde in der Literatur die Folgerung gezogen, dass das Land als ,'prototyp eines Pufferstaates schlechthin" gelten könne (vgl. Narwan 2006, S. 1). In der Sicht Narwans durchlief dieser Pufferstatus Afghanistans mehrere Phasen: In einer imperialen Phase geriet das Land zwischen das zaristische Russland und Britisch-Indien. In einer bipolaren Phase diente es - zusammen mit anderen Blockfreien Staaten - als Puffer zwischen den Interessen der rivalisierenden Mächte USA und UdSSR. Nach dem Untergang der UdSSR zerbrach das weltweite Puffersystem und regionale Konfliktpotentiale gewannen wieder an Bedeutung. Narwan nennt hier den chinesischen Kommunismus, die Rivalität zwischen den Sunniten in Pakistan und den Schiiten im Iran, den Panislamismus sowie das Nuklearpotential der Region. 125 Eine mögliche Entwicklung für Afghanistan sieht er spekulativ darin, dass das Land als ,,neuer Pufferstaat mit einer Neutralitätspolitik zwischen diesen antagonistischen Kräften ausgleichend wirken kann" (vgl. Narwan 2006, S, 299 f.). Aus einer solchen geostrategischen Situation Afghanistans ergibt sich, dass bei einem Engagement im Lande auch die Interessenkonstellation in der Region berücksichtigt werden muss. 5.1.1.2 Gesellschaftliche Konfliktlinien ,,Afghanistan is a very complex country, most of all because of its division into regions which vary tremendously among themselves in terms ofpopulation, culture, geography and history." (Giustozzi 2009 a, S. 2)
Auf diese Kurzform bringt der Herausgeber eines jüngst erschienenen Sammelbandes über die Entwicklung der Neo-Taliban seine Charakterisierung von Land und Gesellschaft in Afghanistan. Fundamental für das Verständnis der Probleme des Landes sind insbesondere eine ausgeprägte ethnische und sprachliche Vielfalt. 126 125
Eine polit-ökonomische geostrategische These von Baraki führt das aktuelle Interesse an Afghanistan darauf zurück, dass am 23. Juli 1997 "unter der Ägide der US-Regierung ein Vertrag über das 1.500 Kilometer lange Pipeline-Projekt von Daulatabad (Turkmenistan) über Quetta und Multan (pakistan) und weiter nach Neu Delhi die Grundlage für das Vorhaben der USFirma Unocal und der saudisehen Deltaoil", unterzeichnet worden war. Baraki folgert: "Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hatte Mghanistan kurzfristig seine brisante geostrategische Bedeutung verloren. Nach der Entdeckung der mittelasiatischen Rohstoffe bekommt das Land diese wieder zurück." (Baraki 2002, S. 38) 126 Ca. 42% der Bevölkerung von rund 30 Millionen Menschen sind Paschtunen, ca. 27% Tadschiken, je ca. 9% sind Usbeken und Hasara, die übrigen ca. 13% andere Minderheitsvolksgruppen (vgL Merey 2008, S. 26 t). Die Berechnung von Schetter weist größere Unsicherheitsintervalle auf, ist aber vergleichbar (vgL Schetter 2009 a, S. 124).
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
95
,,Die etwa 30 Hauptethnien des Landes, von denen die Hazaras, Nuristanies, Pashtunen, Tadjiken, Turkmenen und Usbeken die größten sind, leben in einem gespannten labilen Gleichgewicht nebeneinander und zum Teil miteinander. Jede dieser Ethnien beansprucht zum Teil deutlich abgrenzbare Siedlungsgebiete mit eigener kultureller und sprachlicher Identität." (Samimy 2005, S. 154)
Dabei ist allerdings nicht die ethnische Zugehörigkeit das Hauptidentifikationsmerkmal der Menschen, sondern ihre Stammeszugehörigkeit. 127 Insofern spielen Stammesführer und Clanchefs im öffentlichen Leben eine bedeutsame Rolle. Das Zusammenleben wird von ungeschriebenen Ehren- und Rechtskodizes geregelt, die stammes- bzw. ethnien-spezifisch sind. 128 Im Gebilde des "dynastischen" Staates Afghanistan - dem Vorläufer eines Afghanistan in den heutigen Grenzen - herrschten von Anfang an paschtunische Clans. Bei den nicht-paschtunischen Ethnien entwickelte sich erst im Kampf gegen die sowjetische Invasion in den 1980er Jahren ein politisches Bewusstsein, aus dem der Anspruch auf politische Partizipation und ethnische Entfaltung resultierte. Diese Bestrebungen konnten - wie Samimy feststellt - weder durch den "real existierenden Sozialismus" der "Demokratischen Volkspartei Afghanistans" noch durch die "despotische islamische Theokratie der Taliban-Milizen", die von den nicht-paschtunischen Volksstämmen in der historischen Kontinuität der paschtunischen Ethnokratie gesehen wurde, ausgelöscht werden (vgL Samimy 2005, S. 155). Die Taliban sind aus der Volksgruppe der Paschtunen hervorgegangen. Demgegenüber fanden in der Nordallianz, die 2001 die Taliban mit Hilfe der USA besiegten, vor allem Tadschiken, Usbeken und Hasara zusammen (vgl. Merey 2008, S. 27). Allerdings glauben Beobachter, inzwischen einen Trend feststellen zu können, dass sich diese Gegensätze im Zuge der internationalen Militäraktionen in Afghanistan verringern. 129
127
128 129
Schetter präzisiert: ,,Der Begriff ,Stamm' wird in Mghanistan grundsätzlich positiv für diejenigen Gemeinschaften verwendet, die sich über einen gerneinsamenAhnherm definieren können. Zumindest in der Idealvorstellung ihrer Angehörigen bauen Stämme auf verwandtschaftlichen Beziehungen auf. Ein solcher Stamm ist in Substämme und Clans verästelt." (Schetter 2009 a, S. 123) Für weitergehende Informationen zu dem Kodex der Paschtunen - dem ,,Paschtunwali" - vgL z.B. Schetter 2009 a, S. 126, Glassner 2009, S. 149 f. und Orywa12009, S. 186 ff. So stellt Ruttig in einer jüngst erschienenen Analyse der Taliban fest: "While the Taleban are still a predominantly Pashtun movement, their appeal amongst non-Pashtun groups is increasing. The deepening sense of occupation, undercurrents of anti-Westernism based on perceptions of an 'anti-Muslim' Western world and Islarnic moral superiority, a surge ofintemational Muslim solidarity (linked to development in the Middle Bast) and the joint mujahedin history establish common ideological denominators between the Taleban and a wider range offormer mujabedin that have currently joined the post-Taleban setup in Kabul. Enormous growing anger about the behaviour of foreign forces has a1ready brought groups closer to the insurgency that earlier had supported the international engagement in Afghanistan." (Ruttig 2009, S. 2)
96
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Zu der ethnischen Fragmentierung kommen in Afghanistan weitere Konfliktlinien hinzu, so z.B. Gegensätze zwischen städtischem Zentrum und ländlicher Peripherie, die durch das Aufeinanderprallen von traditionellen, z.T. mittelalterlichen Vorstellungen mit westlicher Zivilisation und amerikanisch-europäischen Demokratievorstellungen gekennzeichnet sind, zwischen regionalen Zentren und regionalen Peripherien, sowie eine ungleiche wirtschaftliche Entwicklung (vgl. Glatzer 2005, S. 85). 5.1.1.3 Fragile staatliche Strukturen Der Zeitpunkt der Entstehung des Staates Afghanistan in den heutigen Grenzen wird unterschiedlich datiert. Wir folgen der Auffassung von Schetter, das die Regierungszeit des Emir Abdurrachman von 1880 - 1901 den eigentlichen Beginn der afghanisehen Nationalgeschichte markiert. 130 Während dieser Zeitspanne oktroyierten die britischen und russischen Kolonialmächte Afghanistan - damals ein halbautonomes Protektoratl3l - feste territoriale Grenzen (vgl. Schetter 2009, S. 21). Seine volle Souveränität erreichte das Land erst 1919 (vgl. Schlagintweit 2009, S. 37). Allerdings kam ,,(D)der Aufbau von Staatlichkeit ... in Afghanistan zu keinem Zeitpunkt über einen embryonalen Status hinaus ....(So war) der Staat kaum in der Lage, Territorium, Bevölkerung, Administration und Gewaltmonopol in eine deckungsgleiche Beziehung zueinander zu bringen; Herrschaft wurde nach wie vor über Klientel- und Netzwerkbeziehungen einflussreicher Familien ausgeübt." (Schetter/Mielke 2008, S. 20)
Auch Merey betont, dass ,,zentraJregierungen in Afghanistan ... in der Vergangenheit von verschiedenen ethnischen Gruppen immer wieder bekämpft worden (sind) und ... sich als schwach erwiesen (haben)." (Merey 2008, S. 26)
130
BI
Azarbaijani-Moghaddam weist auf die Komplexität der Taliban-Bewegung hin, wenn sie feststellt: "The Taliban are consistently viewed through a monochromatic Pashtun lens and described as hundred per cent Pashtun, part of a 'complex historical and tribal phenomenon of the Pashtuns'. We are blinded to other alternatives by this stereotype ofthe Taliban." (AzarbaijaniMoghaddam 2009, S. 250) Schelter verweist darauf, dass die afghanische Geschichtsschreibung den Beginn eines afghanischen Nationalstaates auf 1747 datiert (so z.B. auch bei Samimy 2005, S. 154). Zu der Zeit wurde die Dynastie begründet, die bis zum Sturz des letzten Königs Sahir Schah 1973 andauerte. Schelter bewertet, dass diese Sicht die Realität aber nur bedingt wiedergebe, da das frUhe Reich noch nicht einmal Afghanistan hieß und auch noch keine Institutionen moderner Staatlichkeit hervorgebracht hatte (vgL Schelter 2009, S. 20 f.). Für eine Darstellung des Protektoratsstatus und der Autonomiegrenzen vgL Schlagintweit 2009, S.37.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
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Samimy spricht analog von "historisch bedingten Semi-Staatsstrukturen" (Samimy 2005, S. 143). Bei Glatzer findet sich folgende Analyse des traditionellen Verhältnisses zwischen Zentralregierung und regionalen bzw. lokalen Machthabern. Danach pflegte die Zentralregierung "dem Hinterland so viel lokale Autonomie wie möglich zu belassen, jedoch sofort mit harter Hand einzugreifen, wenn einzelne Konflikte drohen, der Kontrolle lokaler Institutionen zu entgleiten. Allein die Furcht vor der Möglichkeit eines solchen Durchgreifens reichte jahrzehntelang aus, um den Frieden in großen Teilen des Landes mit wenigen Hundertschaften an Ordnungskräften zu erhalten." (Glatzer 2005, S. 86)
Diese Strukturen waren 2001 jedoch durch einen ,,30-jährigen Krieg" (Rubin 2007, S. 3) weitgehend zerstört. Nach der "nahezu kompletten physischen Abtragung der staatlichen Infrastruktur" (SchetterlMielke 2008, S. 20) ist die oben skizzierte ethnische Fragmentierung noch stärker ausgeprägt. Merey folgert plakativ: ,,Bis auf die Staatsangehörigkeit und die Religion eint die verschiedenen Ethnien in Afghanistan nicht sehr viel." (Merey 2008, S. 27)
Die Entwicklung nach 2001 weist im Rahmen des ,,Bonn-Prozesses"132 einige Meilensteine des Wiederaufbaus staatlicher Strukturen auf, deren Relevanz für die Staatlichkeit und gesellschaftliche Kohärenz Afghanistans zu bewerten ist. Das sind zum einen die Verabschiedung einer Verfassung durch eine "Verfassungsgebende Loya Jirga"133 (Inkraftsetzung am 26.01.2004), zum anderen die Wahl des Präsidenten Karzai am 09.10.2004, der bis dahin als Interimspräsident - kraft Einsetzung zunächst durch die Bonner Konferenz 2001, danach durch eine ,,Außerordentliche Loya Jirga" 2002 - regiert hatte, sowie schließlich die Parlamentswahl am 18.10.2005. 134 Insbesondere die Verfassungsgebende Loya Jirga wurde als wesentlicher Teilschritt des Wiederaufbaus der staatlichen Strukturen und als Erfolg gewertet. 135 Allerdings kann in ihr nur bedingt ein Schritt auf dem Weg zur Demokratie gesehen werden, da - wie SchetterlMielke kritisch anmerken - "eine Entscheidungsfindung 132
133
134 135
Als ,,Bonn-Prozess" - anfangs als ,,Petersberg-Prozess" bezeichnet (vgl. z.B. Bundesregierung 2003, S. 2) - wird das auf der Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg im Dezember 2001 verabredete Vorgehen verstanden (vgl. z.B. Bundesregierung 2006, S. 5). Loya Jirga = Große Rats- bzw. Stammesversammlung. Diese Institution ist ein traditionelles Instrument der politischen Legitimierung und ist tief in der Tradition der Völker des Hindukusch verwurzelt (vgl. Samimy 2005, S. 147). Alle Daten gern. tabellarischer Auflistung bei Chiari 2009, S. 242 ff. Vgl. z.B. die Rede des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der UN für Afghanistan, Lakhdar Brahimi auf der 2. Mghanistankonferenz in Bonn am 31.03.2004. http://www.un.org/appslsg/ sgstats.asp?nid=854 (Zugriff: 23.07.2009).
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
und deren Akzeptanz nur über die Konsultation und Einbeziehung der Macht habenden Elite erfolgte" (SchetterlMielke 2008, S. 21). Oder - um Samimy zu zitieren - die folgende kritische Wertung: ,,Bei der Verabschiedung der Verfassung hat sich das alte Rezept, das schon im Dezember 2001 auf dem Petersberg zur Anwendung gekommen war, abermals bewährt: Druck von Seiten der internationalen Gemeinschaft und umfassende Überzeuguogsarbeit hinter den Kulissen." (Samimy 2005, S. 149)
Das ,'produkt" der "Verfassungsgebenden Loya Jirga", also die Verfassung selbst, wird als ,,Minimalkonsens" gewertet, der die ungelösten Konflikte widerspiegelt (vgl. Samimy 2005, S. 156). In gleichem Sinne stellen Gomm/GÜDther fest: "Wenn es die Funktion von Verfassung ist, den unter den Mitgliedern des Gemeinwesens bestehenden Konsens über die Grundstruktur der staatlichen Organisation und das prinzipielle Verhältnis zwischen Staat und Bürger zu kodifizieren, dann kann man von der afghanischen Verfassung gegenwärtig (2005, UvK) eine detailliierte Regelung des Verhältnisses zwischen der Zentralregieruog und den Regionen kaum erwarten, da es an diesem gewachsenen Konsens hinsichtlich genau dieser Frage fehlt." (GommIGünther 2005, S. 18)
Aber nicht nur die Frage der föderalen Struktur blieb in der Verfassung ungelöst, auch in anderen Punkten ist sie zum Teil widersprüchlich und ambivalent formuliert. So scheint selbst die politische Grundsatzfrage, ob das Land "demokratisch" oder "theokratisch" regiert werden soll, nicht eindeutig geregelt zu sein. 136
136
Trotz ausdrücklicher Erwähnung der Demokratie in der Präambel und in Art. 6 der Verfassung wird im Art. 3 explizit darauf hingewiesen, dass kein Gesetz gegen die Vorschriften des Islam verstoßen dürfe (vgl. Samimy 2005, S. 156). Dass dieses durchaus keine akademische Frage ist, belegen zwei Beispiele, die 2006 und 2008 in Deutschland in heftigen Debatten erörtert wurden: Im März 2006 wurde der zum Christentum konvertierte Afghane Abdul Rahman, der lange in Deutschland gelebt hatte und 2005 nach Afghanistan zurückkehrt war, festgenommen. Er forderte das Sorgerecht flir seine Töchter, die bei den Großeltern lebten. Im Streit darum zeigte die Familie ihn wegen seines Glaubenswechsels an. Ihm drohte nach den Regeln des Islam die Todesstrafe. Die afghanische Verfassung sagt aber in Art. 7, dass der Staat die Charta der UN achtet. Die Debatte in Deutschland - auch in den Medien - fllhrte u.a. zu einem persönlichen Engagement von Bundeskanzlerin Merkei und sogar des Papstes, die sich bei Präsident Karsai flir eine Freilassung von Rabman einsetzten. Dieser steckte in dem Dilemma, ob er die Gewaltenteilung achten oder dem Druck aus dem Westen nachgeben sollte. Schließlich kam Rahman frei, ohne dass ihm der Prozess gemacht wurde, angeblich aufAnordnung des Präsidenten (vgl. die detaillierte Darstellung dieses Vorgangs bei Merey 2008, S. 28 fI.). Anfang April 2009 unterzeichnete Präsident Karsai ein Gesetz, durch das die Rechte der Frauen in der Ehe massiv beeinträchtigt wurden. (Vgl. Spiegel Dnline vom 02.04.2009 "Gesetz regelt Sexualverkehr mit Ehemännern"). Nach heftigen Protesten in vielen westlichen Staaten, u.a. von Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy, wurde das Gesetz "auf Eis gelegt". (Vgl. ,,Afghanistan stoppt drastisches Ehegesetz flir Frauen" in: Spiegel Online vom 04.04.2009; Zugriff: 07.04.2009).
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
99
Der Verlauf der Präsidentenwahl2004 und der Parlamentswahl 2005 wurden als weitere erfolgreiche Schritte des staatlichen Wiederaufbaus bewertet. 137 Aber auch dieses muss differenziert betrachtet werden. Die Institutionalisierung demokratischer Elemente, wie Verfassung und Wahlen, rangierte weit oben aufder Agenda der Internationalen Organisationen, da man erwartete, dass aus formalen demokratischen Strukturen auch eine politische demokratische Struktur entstehe. Als dann bei der Einschreibung in die Wahlregister im Frühjahr 2004 die erwünschten Erfolge ausblieben, setzte die Wahlkommission grundlegende Kontrollmechanismen außer Kraft, was zu erheblichen Unstimmigkeiten führte. 138 Nach SchetterlMielke wären bei Anlegung von OECD-Maßstäben bei den beiden Wahlen 90% der Stimmen ungültig gewesen. Sie resümieren: ,,Demokratische Prinzipien - von der internationalen Gemeinschaft auf die formalen Abläufe reduziert - verloren damit in den Augen der Bevölkerung ihre Glaubwürdigkeit." (Scherter/ Mielke 2008, S. 21 f.)
Noch verheerender war die übereinstimmende Bewertung der 2. Präsidentschaftswahlen 2009, bei der es offenkundig in großem Stil zu Wahlfälschungen gekommen war (vgl. Ruttig 2009 a). Auch die Entwicklung der Autorität der Zentralregierung in den Provinzen verlief- gemessen an den Erwartungen der internationalen Gemeinschaft - unbefriedigend. Zwar gelangen - wie Schetter darstellt - Präsident Karsai zwischenzeitlich Achtungserfolge, als er Provinzgouvemeure von Verwaltungsbezirk zu Verwaltungsbezirk rotieren ließ, um eine Verfestigung der Macht von Warlords zu verhindern. 2004 setzte er sogar den Gouverneur von Herat, Ismail Khan, der durch Kämpfe mit konkurrierenden Warlords geschwächt war, ab und beorderte ihn als Minister für Energie in die Hauptstadt Kabul. Aber - so Schetter - seit 2007 ist zu beobachten, dass Karsai seinen Willen immer seltener durchsetzen kann. Daher wird er spöttisch auch als ,,Bürgermeister von Kabul" bezeichnet (Schetter 2009 b, S. 80 ff.). Und durch den Ablauf der Präsidentschaftswahl2009 ist seine Position alles andere als gestärkt worden.
137
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So heißt es im Afghanistan Compact 2006: "Noting the fuH implementation ofthe Bonn Agreement through the adoption of a new constitution in January 2004, and the holding ofpresidential elections in October 2004 and National Assembly and Provincial Council elections in September 2005, which have enabledAJghanistan to regain its rightjUlplace in the international community ..." (Afghanistan Compact 2006, S. 1, Hervorhebung UvK) Beispiele dazu bei SchetterlMielke 2008, S. 21 f. und bei Merey 2008, S. 37 f.
100
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
5.1.1.4 Bfugerkriegsökonomie Afghanistan wird zu den ärmsten Ländern der Welt gerechnet. 139 Es ist agrarisch geprägt. 65-80% der Bevölkerung erwirtschaften knapp 40% des Bruttoinlandprodukts in der Landwirtschaft - die Drogenökonomie nicht mitgerechnet. Durch den Zusammenbruch der Staatlichkeit haben bereits seit den 1980er Jahren Formen von Bfugerkriegsökonomie an Bedeutung gewonnen, die vom Fehlen staatlicher Kontrollen profitieren (z.B. Abholzung von Wäldern, Schmuggel, Drogenanbau). Diese wurden nicht "importiert", sondern waren in der Tradition des Landes verankert (vgl. Schetter 2005, S. 107). So dominierte die Drogenwirtschaft seit Beginn der 1990er Jahre die ökonomischen Aktivitäten des Landes (vgl. Mielke 2009, S. 231 fI.).140 Mielke zeigt, dass es außer den Taliban, die im Jahr 2001 kurzfristig ein Opiumverbot weitgehend durchsetzen konnten, keiner Regierung gelungen ist, den Opiumanbau in Afghanistan wirksam einzudämmen. 141 Seit 2002 kam es trotz der proklamierten Zielsetzung, den Drogenanbau zu bekämpfen, zu einer Verdoppelung der Anbauflächen bei gleichzeitiger Produktivitätssteigerung (vgl. ebenda, S. 233). Diese Produktionssteigerung "kompensierte" die geringen Erfolge von Regierung und internationaler Gemeinschaft bei der Einschränkung der Flächen ab 2006 (vgl. ebenda, S. 238 fI.). Häufig wird ein Zusammenhang zwischen fehlender Sicherheit und Drogenanbau behauptet. Mielke hält das nicht für stichhaltig und verweist auf empirische Belege, die dagegen sprächen. Sie geht vielmehr von einem komplexen Zusammenwirken mehrerer Faktoren aus, zu denen neben der fehlenden Ordnungsrnacht des Staates - besonders in abgelegenen Regionen - die verbreitete Armut, das Vorhandensein von funktionierenden Absatzmärkten, Klima und Naturkatastrophen zählen. Diese bilden in ihrer Summe den Nährboden für die Drogenökonomie (vgl. Mielke 2009, S. 237 f.). Aus der Erosion der staatlichen Ordnung am Ende des Krieges und ihrer nur bedingt erfolgreichen Wiederherstellung ist die Schlussfolgerung abzuleiten, dass 139 140 141
Nach Rubin (2007, S. 5) ist Afghanistan das ärmste Land der Welt außerhalb der Sub-Saharazone. Das Volumen der Drogenökonomie wird auf mehr aLs 50% des offiziellen BIP geschätzt (vgl. SchetterlMielke 2008, S. 24). Sie schreibt alierdings:"Wie dies möglich war, bleibt angesichts all der bislang erfolglosen Bekämpfungsversuche der Internationalen Gemeinschaft und der unzähligen Kampagnen der afghanischen Regierung wie auch einzelner einflussreicher Akteure in jüngerer Zeit eine ungeklärte Frage." (Mielke 2009, S. 239) Im Gegensatz dazu schreibt Peters in einer Darstellung der Drogenproblematik: "And although insurgents have expanded and diversified their activities to expand their profits from the narcotics trade since 200 I, they still do not control it" und kommt zu dem Ergebnis: "The fact is c1ear: Taliban insurgents are earning astonishingly large profits offthe opium trade." (peters 2009, S. 8, S. 19)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
101
in Afghanistan nach 2001 in den Kembereichen staatlicher Aufgaben ,,Kriegsfürsten", ,,Klientelnetzwerke" und "Gewaltökonomien" dominierten (vgl. Schetter/ Mielke 2008, S. 20). Besonders Kriegsfürstentum und Bürgerkriegsökonomie bilden dabei eine enge Verzahnung politischer und sozioökonomischer Strukturen, die ihre Transformation in ein modemes Staatswesen mit einer legalen Volkswirtschaft erschwerte (vgl. Schetter 2005, S. 103). 5.1.1.5 Informationslage nach 2001 Dieser Zustand von Staat und Gesellschaft hätte bei den Erstentscheidungen zu Einsätzen in Afghanistan und bei der Formulierung von Zielvorstellungen eigentlich berücksichtigt werden müssen. Voraussetzung dafür wäre allerdings gewesen, dass die skizzierten Fakten, die in dieser Studie weitestgehend auf der Auswertung von Publikationen des Zeitraums 2005-2009 basieren, schon bei den ersten Entscheidungen in Deutschland ab 2001 bekannt waren. Im Folgenden soll geprüft werden, ob das der Fall war, oder ob die Feststellung einer Afghanistanexpertin aus dem Jahr 2007 zutrifft: ,,zweitens traf der Bundestag die Entscheidung über einen Einsatz der Bundeswehr zu einem Zeitpunkt, als noch keine ausreichenden Infonnationen über die zukünftigen Bedingungen im Einsatzgebiet vorlagen." (Maaß 2007 a, S. 80)
Auch wenn die Zahl der Publikationen über Afghanistan vor allem in der Zeit nach 2001 deutlich anstieg,142 so findet man durchaus auch frühere Veröffentlichungen, die 2001 und den Folgejahren prinzipiell verfügbar gewesen wären und aus denen die aufgezeigten Fakten zur staatlichen und gesellschaftlichen Situation in Afghanistan hätten entnommen werden können. So beschreibt Schetter bereits 1998 die ethnische Fragmentierung der afghanisehen Gesellschaft, die Verzahnung der Ethnien mit Nachbarstaaten sowie die Konfliktlinie Stadt-Land (Schetter 1998) und weist auf deren Instrumentalisierung als ,,Ressource der Kriegführung" hin (Schetter 1999). Aus dem gleichen Jahr stammt eine Analyse von Maaß. Sie beschreibt die Merkmale des Afghanistankonflikts, den sie als ,,hochgradig externalisierten Bürgerkrieg" in einem "Vielvölkerstaat mit grenzüberschreitender ethnischer Vernetzung" und einer in zahlreiche Bevölkerungsgruppen aufgesplitterten Gesellschaft kennzeichnet. (Maass143 1999, 142
143
So wurden am 22.07.2009 in der Digitalen Bibliothek des NRW-Bibliotheksverbundes 1.000 Buchtitel zu Mghanistan angezeigt, von denen 225 nach dem Jahr 2000 erschienen waren (200 I: 15; 2002: 33; 2003: 38; 2004: 38; 2005: 21; 2006: 22; 2007: 26; 2008: 25 und 2009: 7. Quelle: eigene Auswertung). Die Schreibweise des Namens wechselt zwischen ,,Maaß" und ,,Maass". Im Text wird durchgängig ,,Maaß" verwendet, in den Literaturnachweisen die jeweils gebrauchte Schreibweise.
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
S. 153 f.). Und 2001 - noch vor der ISAF-Entscheidung im Deutschen Bundestag - weisen die Homepages der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES)l44 vier und die der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS)14S drei Artikel über Afghanistan aus. Unmittelbar in die Wochen der ersten Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen fiel eine umfassende Veröffentlichung, die eine detaillierte Darstellung der Situation im Lande und eine Abschätzung der Chancen einer UN-geführten Mission zum Wiederaufbau der staatlichen Strukturen beinhaltet (Pradetto 2001). Die Studie benannte konkret wesentliche Risikobereiche, die dem Aufbau eines demokratischen Staatswesens nach westlicher Vorstellung entgegenstehen: Multiethnizität, Clan- und Stammesgesellschaft, ,,religiöse Determination" des öffentlichen Lebens, ökonomische Verarmung, agrarische Gesellschaft mit hohem Analphabetismus, Opiumproduktion sowie das Fehlen funktionierender Regierungsinstitutionen (vgl. Pradetto 2001, S. 30 ff.). In einem Vergleich der Afghanistanmission mit dem Wiederaufbau des Kosovo folgerte Pradetto: ,,Eine analoge, realiter noch viel kompliziertere und weitreichendere Aufgabe ist in einem asiatischen islamischen Land von der fast zweifachen Größe der Bundesrepublik Deutschland um ein Vielfaches schwieriger zu bewältigen. Die ethnischen Gegebenheiten sind ungleich heterogener, die klimatischen, kulturellen und infrastrukturellen Voraussetzungen ungleich problematischer. Die militärischen Bedingungen sind auf nicht absehbare Zeit mit ungleich höheren Risiken belastet." (Pradetto 2001, S. 30)
Auch in der deutschen Presse wurde auf die Risiken eines Einsatzes in Afghanistan deutlich hingewiesen. l46 In das Jahr 2002/2003 datieren erste Bewertungen der internationalen Einsätze in Afghanistan, die schwerpunktmäßig die kritische Sicherheitslage und daraus zu ziehende Folgerungen diskutierten (vgl. Z.B. Sedra 2002, Sedra 2003, Sedra 2003 a). In das Jahr 2003 fällt ebenfalls das erste Afghanistankonzept der Bundesregie-
144 145 146
http://www.fes.de/international/asienlinhalt/publ_afghanistan.php (Zugriff: 30.01.2010). http://www.kas.de/wf/de/71.4874/starUine.l ,lines---'per---'page. 1O,sessiondata.suche/ (Zugriff: 30.01.2010). In dem Beitrag der Berliner Zeitung aus dem Dezember 2001 heißt es: "Scharpings eigentliches Motiv (für Skepsis hinsichtlich einer deutschen Beteiligung an ISAF, UvK) aber ist eher die Gefahr, die dieser Einsatz mit sich bringt. Der Minister hat registriert, dass die Konfliktparteien bei den Verhandlungen auf dem Petersberg die Friedenstruppe nur widerwillig akzeptierten und dass General Dostum, der große Teile des Nordens kontrolliert, der Übergangsregierung zunächst sehr skeptisch gegenüber stand. Die Schutztruppe könnte schnell zwischen die inneren Fronten geraten ... Afghanistan ist schlicht zu groß und unübersichtlich, um es ganz kontrollieren zu können; überall lauern Banden, lokale Warlords und versprengte Taliban-Einheiten." ("Solidarität mit eingeschränkter Kraft" in: Berlin-Online vom 11.12.2001; Zugriff: 11.11.2009)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
103
rung, in dem die Probleme auch deutlich angesprochen werden l47 (Bundesregierung 2003). 2004 erschien eine kritische Fallstudie eines afghanischen Wissenschaftlers, die eine ernüchternde Zwischenbilanz der ersten zwei Jahre des Engagements der internationalen Gemeinschaft beinhaltete (vgl. Spanta 2004). 2005 setzte sich eine Konferenz an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik umfassend und unter Einbindung einer großen Zahl von Experten mit der Situation im Lande auseinander (vgl. Gomm-Ernsting/Günther 2005). Im gleichen Jahr erschien auch ein erstes Buch einer Joumalistin über den deutschen Afghanistaneinsatz, das durch "teilnehmende Beobachtung" entstanden war (vgl. Petersen 2005). Und 2006 wurde unter Mitarbeit von Experten, die bereits in den Jahren davor zu Afghanistan publiziert hatten, die erste Auflage eines Sammelbandes des Militärgeschichtlichen Forschungsamts der Bundeswehr über Geschichte, Land und Leute in Afghanistan herausgegeben (vgl. Chiari 2006).148 Und auch die Friedrich-EbertStiftung und die Konrad-Adenauer-Stiftung lieferten eine Fülle weiterer Berichte und Analysen über das Land (s. auch Kap. 6.3.3).149 Dieser stichwortartige Überblick zeigt, dass es für die Akteure, die an den Entscheidungsprozessen zu Afghanistan beteiligt waren, möglich war oder gewesen wäre, mit zunehmender Präzision Informationen aus offenen Quellen über die Rahmenbedingungen der Einsätze zu gewinnen. Wenn der Erkenntnisstand in Wissenschaft bzw. Publizistik bereits so aussagekräftig war, so kann man als sicher davon ausgehen, dass die Regierung noch mehr und detailliertere Informationen hatte, stehen ihr doch vielfältige zusätzliche Informationsquellen, u.a. Nachrichtendienste, zur Verfügung. ISO Dieses lässt 147
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So heißt es: "Außerdem gef1ihrden die ungenügende Sicherheitslage und die fehlenden administrativen Strukturen den Verfassungsprozess und die Wahlen 2004. Damit ist auch das Erreichen des eigentlichen Ziels auch des deutschen Engagements in Afghanistan in Frage gestellt: Afghanistan, insbesondere das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet, könnte wieder Rückzugsgebiet fllr den internationalen Terrorismus werden." (Bundesregierung 2003, S. 3) Diese Faktensammlung wurde inzwischen zweimal aktualisiert, zuletzt 2009 (vgl. Chiari 2009). http://www.fes.de/international/asien/inhalt/publ_afghanistan.php (Zugriff: 19.01.2010) und http://www.kas.de/wf/de/71.4874/start_line.l1 ,lines---'per---'page. I O,sessiondata.suche/(Zugriff: 19.01.2010). So beinhaltet z.B. der fllr den internen Gebrauch in der Bundeswehr verfasste "Leitfaden fllr Bundeswehrkontingente in AFGHANISTAN", Stand 12/2001 (Zentrum fllr Nachrichtenwesen der Bundeswehr 200 I), in den der Autor Einblick nehmen konnte, eine allgemeine Darstellung des Risiko- und Konfliktpotentials. Folgende Risikoelemente werden beschrieben: noch nicht besiegte Taliban oder Al Qaida-Kämpfer, mit denen ggf. auch in Kabul zu rechnen sei; die archaische, am Stammesrecht und der Religion orientierte Gesellschaftsstruktur; das alltägliche Vorhandensein von Waffen; die ,,Feldkommandeure" (Warlords); Kriminalität; Blutrache; Drogenkriminalität. Der Leitfaden enthält eine Fülle von Detaildarstellungen zu Geografie, ethnischen Strukturen, aber auch zur Sicherheitslage und zu den Kräften, die den Warlords zur Verfügung standen. In der Ausgabe von 2002 wird die Lagedarstellung fortgeschrieben. Dabei wird insbesondere festgestellt,
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
den Schluss zu, dass die Regierung schon bei den ersten Afghanistanentscheidungen - zumindest bei den ersten Entscheidungen zur ISAF - relativ detaillierte Informationen über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die staatlichen Strukturen und über Risikopotentiale hatte oder hätte haben können, die zur Formulierung einer realistischen politischen Zielsetzung als Grundlage für militärische Einsätze erforderlich waren. Für das Parlament lässt sich folgern: da insbesondere die detaillierte und umfassende Untersuchung Pradettos "parlamentsnah" - nämlich als Beilage zur Wochenzeitschrift ,,Das Parlament" - veröffentlicht wurde, hätten die Abgeordneten ab Dezember 2001 zusätzlich zu den Begründungen, die die Regierung mit ihren Anträgen lieferte, Informationen verfügbar gehabt, die Hinweise aufRahmenbedingungen und Risiken des ISAF-Einsatzes liefern konnten. Und die Informationsmöglichkeiten verbesserten sich stetig in den Folgejahren, als die Entscheidungen zur Fortsetzung bzw. Ausweitung der Einsätze auf der Agenda standen. Auf der Basis solcher Informationen hätte das Parlament die Lageeinschätzung der Bundesregierung hinterfragen können. Zur Überprüfung dieses hypothetischen Vermutung wurde in der Befragung der Vorsitzenden und Obleute von Auswärtigem Ausschuss und Verteidigungsausschuss nach der Informationslage bei den Erstentscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen gefragt (Anlage 3 a, Frage 2). Das Ergebnis ist nicht ganz eindeutig, allerdings überwiegen die Meinungen, man habe ausreichende Informationen gehabt oder hätte sich informieren können. 151
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dass das Land nach Vertreibung der Taliban in verschiedene Einfiusszonen der MuddschahedinMilizen zerfallen ist (Zentrum fiir Nachrichtenwesen der Bundeswehr 2002). Als Beleg einige Antworten aus der Befragung: Nach Einschätzung der ehemaligen Vorsitzenden des Verteidigungsausschuss, Ulrike Merten (SPD) waren die Infonnationsgrundlagen "eher dürftig gewesen" (Interview arn 20.10.2009). Ähnlich äußerte sich der Abgeordnete Rainer Amold (SPD), der ausführte: ,,Die Infonnationslage bei OEF war eher schlecht. Und der damalige Minister hat das auch, sage ich mal, mit einem sehr stark vertraulichen und Geheimschild umgeben, die ganze Zeit über. Das war ein Problem. Danach ist es dann besser geworden. Danach, damit meine ich etwa so ein halbes Jahr nach dem Start von OEF. leh würde - soweit ich das noch in Erinnerung habe - mal sagen, so ab Mai/Juni ist es deutlich besser geworden, und als dann Struck das Amt überno=en hatte, gab es auch strukturiertere Detailinfonnationen gegenüber dem Verteidigungsausschuss und gegenüber den Obleuten."(Telefoninterview arn 05.11.2009) Demgegenüber stellte der ehemalige Abgeordneten Ulrich Irmer (FDP) fest, er hätte hinreichend Informationen gehabt, um entscheiden zu können, allerdings durch eigenes Bemühen. Die Infonnationen durch die Bundesregierung im Ausschuss hätten "überwiegend aus Geschwätz" bestanden (tel. Antwort arn 09.10.2009). Diesen Eindruck bestätigte auch der ehemalige Abgeordnete Helmut Lippelt (Bündnis 90/Die Grünen), wenn er darauf verwies, dass die tägliche Lektüre der NY Times oder der Washington Post zur Pflichtlektüre eines Außenpolitikers gehört, dass aber die Berichterstattung der Bun-
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
105
In Anbetracht dieser ,,Literatur-" bzw. ,,Dokumentenfunde" ist die oben zitierte Aussage von Maaß, dem Bundestag hätten noch keine ausreichenden Informationen zu den Einsatzbedingungen vorgelegen, zu relativieren. Vielmehr deutet der empirische Befund - entgegen ihrer These - daraufhin, dass schon 200112002 durchaus Informationen über die zukünftigen Bedingungen verfügbar waren. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Entscheidungen unter erheblichem Zeitdruck getroffen werden mussten. Zwischen den AnscWägen auf das World Trade Center am 11.09.2001 - im folgenden als 9/11 bezeichnet - und der OEF-Entscheidung vom 16.11.2001 lagen gut zwei Monate. Und zwischen dem Ende der Petersberg-Konferenz am 05.12.2001 und der Verabschiedung des ersten ISAF-Mandats nur gut drei Wochen. Somit waren die Erstentscheidungen i.S. der Klassifikation von Haftendom ,,Krisenentscheidungen", die eine hinreichendeAufnahmeundVerarbeitung derverfügbaren Informationen ggf. nicht zuließen. Im Laufe der Jahre stiegen Informationsqualität und -dichte an. Da sich die Entscheidungsprozesse gleichzeitig mehr und mehr in Richtung von ,,Routineentscheidungen" entwickelten, hätte eigentlich ausreichend Zeit für Informationsaufuahme und -verarbeitung verfügbar gewesen sein müssen.
desregierung im Verteidigungsausschuss nur "von begrenztem Wert" sein könne (schriftliche Antwort vom 12.10.2009). 1m gleichen Sinne äußerte sich auch der ehemalige Abgeordnete und spätere Parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Dr. Friedbert Pflüger: ,,Ja (wir hatten eine hinreichenden Vorstellung, UvK), und wer sie nicht hatte, hatte selbst Schuld, die Möglichkeiten der Information bestanden." (schriftliche Antwort vom 24.08.2009) Auch der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke (Die Linke) antwortete positiv: "Ja, ich und meine Fraktion, wir haben uns weitgehend kundig gemacht und gerade aufgrund der Bedingungen in Mghanistan eine kriegerische, militärische Lösung ausgeschlossen." (schriftliche Antwort vom 27.10.2010) Am positivsten schildert der ehemalige Abgeordnete Manfred Opel (SPD) die persönliche Inforrnationslage. Er war vor seiner Abgeordnetentätigkeit Brigadegeneral in der Bundeswehr und Ende der 70er Jahre als Oberst im Internationalen Militärstab (lMS) der NATO gewesen. Er stellte fest: ,,Da ich ab dem Jahr 1978 ,Branch Chief Strategic Planning' im lMS der NATO in Brüssel war und den Einmarsch der Sowjets in Afghanistan ab dem 27.12.1979 zusammen mit meiner Branch (Referat) zu beurteilen hatte, waren mir die örtlichen Verhältnisse und die strategischen Bedingungen sehr wohl bekannt ... Da mein NATO-Referat bereits Ende 1979 prognostiziert hatte (was damals von den Briten und den Amerikanern aus ideologischen KalteKriegs-Gründen vehement bekämpft wurde), dass die Sowjets nur etwa für 10 Jahre inMghanistan bleiben könnten, was sich anschließend als zutreffend erwies, konnte ich meiner Fraktion und vor allem der Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen der SPD vortragen, dass ein militärisches und zudem eine kulturfernes Engagement in Afghanistan zum Misserfolg verurteilt sein wird. Da man aber sehr von sich selbst und von den Fähigkeiten der Bundeswehr eingenommen war, wurde meine Argumentation mit dem Hinweis, man sei in Afghanistan nicht so unwillkommen, wie die ,Sowjets als Besatzer' das waren, vom Tisch gefegt." (schriftliche Antwort vom 12.09.2009)
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5.1.2 Besondere Bedingungen deutscher Außenpolitik nach dem 11. September 2001 (9/11) Nach dieser Skizze der Situation in Afghanistan nach 2001 erfolgt eine kurze Darstellung von Besonderheiten der deutschen Außenpolitik nach 9/11. 5.1.2.1
Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat
Im Kontext der oben angesprochenen Veränderungstendenzen der deutschen Außenpolitik in den 1990er Jahren erscheint ein weiterer Aspekt für die Entscheidungsprozesse zu den Afghanistaneinsätzen relevant, das Streben der deutschen Regierungen nach mehr "Verantwortung"152 in den VN, die ihren sichtbaren Ausdruck in einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat finden sollte. 153 Die erste Formulierung dieses "Anspruchs" datiert aus einer Rede von Außenminister Kinkel 1992 vor der Generalversammlung der VN.154 Auch nach dem Regierungswechsel 1998 blieb der ständige Sitz ein Ziel der deutschen Regierungen. Es fand Eingang in die Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen155 und wurde auch in der zweiten rot-grünen Regierung ,,finster entschlossen" weiterverfolgt (vgl. Hellmann/Wolf 2004, S. 73).156 Zu diesem Ziel passte jedoch in keiner Weise, dass Deutschland die Ressourcen für die Sicherheitspolitik, insbesondere für die Bundeswehr, im Zuge des Abschöpfens einer ,,Friedendividende"157 kontinuierlich absenkte. Varwick wies auf den Zusammenhang zwischen internationalen Verpflichtungen und der Finanzierung von Streitkräften hin und bewertete, dass die Bundeswehr in Anbetracht der
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Von Bredow formuliert: ,,Der Ausdruck ,Verantwortung' hat im außenpolitischen Diskurs gemeinhin einen freundlich-seriösen Unterton Ein Akteur zeigt Verantwortung, er übernimmt Verantwortung, er handelt verantwortlich - dann möchte man ihm gleich ermutigend auf die Schulter klopfen." (von Bredow 2008, S. 203 f.) Vgl. flir eine umfassende Darstellung und Kritik dieses Vorhabens Hellmann/Roos 2007. Er führte aus:"Eine Diskussion über eine Reform (des Sicherheitsrates, UvK) ist in Gang gekommen. Wir Deutschen ergreifen hier keine Initiative. Wenn aber eine Änderung der jetzigen Zusammensetzung des Rats konkret ins Auge gefaßt wird, werden auch wir unseren Wunsch nach einem ständigen Sitz vorbringen." (zit. nach von Bredow 2008, S. 206) Es heißt dort: ,,Deutschland wird die Möglichkeit nutzen, ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zu werden, wenn die Reform des Sicherheitsrates unter dem Gesichtspunkt größerer reginnaler Ausgewogenheit abgeschlossen ist und bis dahin der grundsätzlich bevorzugte europäische Sitz im Sicherheitsrat nicht erreicht werden kann." (Koalitionsvertrag 1998, S. 47) Hellmann/Wolfverweisen aufdie Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder vom 25.März 2004, BT PIPr 15/100, S. 8912A, sowie einen Beitrag von Eckhart Lohse, "Finster entschlossen". Berlin will ständigen Sicherheitsratssitz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.5.2004 (HeUmann/Wolf2004, FN 2, S. 80). Vgl. zu einer Diskussion des Begriffs von Bredow 2008, S. 201 f.
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immer neuen Aufgabenzuweisungen als "chronisch unterfinanziert" gilt (vgl. Varwick 2007, S.253).158 Eine analoge Folgerung zog von Bredow: ,,Deutschland hat nach 1990 seine Aktivität auf der UNO-Ebene ausgeweitet, wenn auch mehr auf der Anspruchs- als auf der Leistungsebene. Viele Beobachter konstatieren eine Lücke zwischen dem Anspruch aufprominente Mitgestaltung einer multilateral organisierten Weltordnung einerseits und den dazu bereitgehaltenen Mitteln andererseits, und zwar sowohl auf der zivilen als auch auf der militärischen Ebene." (von Bredow 2008, S. 236)
Diese Diskrepanz hatte insbesondere im Verhältnis zu den USA Bedeutung. Haftendom stellte in einer Bewertung der Situation nach 9/11 fest: "Mit Sorge beobachtet die amerikanische Regierung den dramatischen Rückgang der europäischen Verteidigungsausgahen und die Diskrepanz zwischen den militärischen Fähigkeiten der USA und denjenigen der Europäer. Gerade mit Blick aufDeutschland kritisieren die Amerikaner das Auseinanderfallen von Mitspracheanspruch und militärischen Leistungen." (Haftendom 2003, S. 219)
Die Entscheidungsprozesse zu den Afghanistaneinsätzen sind (auch) vor dem Hintergrund einer solchen Einschätzung seitens der USA zu bewerten. 5.1.2.2 Uneingeschränkte Solidarität und Bündnisfall Unmittelbar nach dem Terroranschlag von 9/11, als in ganz Europa und auch in Deutschland Beileidskundgebungen für die Opfer stattfanden, erklärte Bundeskanzler Schröder im Deutschen Bundestag: ,,Meine Damen und Herren, ich habe dem amerikanischen Präsidenten das tiefempfundene Beileid des gesamten deutschen Volkes ausgesprochen. Ich habe ihm auch die uneingeschränkte ich betone: die uneingeschränkte - Solidarität Deutschlands zugesichert.... Selbstverständlich bieten wir den Bürgern und Behörden der Vereinigten Staaten von Amerika jede gewünschte Hilfe an, natürlich auch bei der Ermittlung und Verfolgung der Urheber und Drahtzieher dieser niederträchtigen Attentate. "159
Alle Fraktionen unterstützten diese Erklärung ohne Einschränkungen, wobei der Fraktionsvorsitzende der SPD, Dr. Peter Struck, die Formulierung des Bundeskanzlers aufgriff, es handele sich um eine "Kriegserklärung an die Werte der de158
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Dies sei exemplarisch fllr den Analysezeitraum Anfang der 2000er Jahre anband des Finanzplans des Bundes illustriert: Die Finanzplanung 1999-2003 war vom Ziel einer strukturellen Konsolidierung der Staatsfinanzen gekennzeichnet. Das Einsparvolumen sollte von 2000-2003 nach Beschluss der Bundesregierung ISO Mrd. DM betragen (vgl. BT Drs. 14/1401, S. 6). Auf den Verteidigungshaushalt sollte davon eine Reduzierung von rund 18 Mrd. DM (gegenüber dem vorherigen Finanzplan) entfallen (vgl. Debatte im Deutschen Bundestag, BT PIPr 14/72 v. 24.11.1999, S. 6611). BT PIPr 14/186 vom 12.09.2001, S. 18293.
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mokratischen und zivilisierten Welt". 160 Der Fraktionsvorsitzende der PDS, Roland Claus, sprach von einem "kriegerisch-terroristischen Anschlag" bzw. einem "kriegerischen Akt einer anonymen Macht". Für den Fraktionsvorsitzenden der CDU/ CSU-Fraktion, Friedrich Merz, hatte "das Böse schlechthin, Menschenverachtung und Barbarei ... uns gestern angegriffen". Es handele sich um einen "Angriff auf die Zivilisation, auf die Freiheit und auf die Offenheit unserer Gesellschaften, ... auf die Grundwerte, die das friedliche Zusammenleben der Völker und der Menschen überhaupt erst möglich und das Leben der Menschen wertvoll mache." Die Vorsitzenden der Fraktionen von Bündnis 90IDie Grünen, Rezzo Schlauch, und der FDP, Dr. Wolfgang Gerhardt, nannten das Geschehen einen "Terroranschlag" bzw. einen "Anschlag aufunsere Zivilisation". Und der Erste Stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Michael Glos; sprach von einer "Tat aus der Hölle".161 Diese Erklärungen waren hoch emotional- angesichts der Terminierung einen Tag nach dem Anschlag in New York verständlich - und hatten zweifelsohne primär deklaratorischen Charakter. Aber durch das Angebot ,jeder gewünschten Hilfe" entstand über die Deklaration hinaus auch ein gewisses Maß an moralischer Verpflichtung und damit von Handlungsdruck in der Zukunft. Es ist allerdings zu vermuten, dass sich die Akteure an diesem Tag über die mögliche Tragweite ihrer Erklärungen nicht im Klaren waren, sowohl was das Hilfeversprechen betraf, als auch hinsichtlich der Qualifizierung des Ereignisses als kriegerischen Akt bzw. als Angriff. Allerdings bekräftigte der Deutsche Bundestag nur sieben Tage später - am 19.09.2001 - seine Solidaritätsbekundung durch eine Entschließung, in der er die Bereitschaft der Bundesregierung unterstützte, ,,konkrete Maßnahmen des Beistandes folgen zu lassen. Dazu zählen politische und wirtschaftliche Unterstützung sowie die Bereitstellung geeigneter militärischer Fähigkeiten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus. "162
Diese Formulierung war so etwas wie ein ,,Blankoscheck". Eine auch nur oberflächliche Analyse der Bedingungen, unter denen evtl. militärische Maßnahmen zu erfolgen hätten, fand offensichtlich nicht statt. Insofern ist die folgende kritische Kommentierung durchaus plausibel, die auf die multilateralen Zwänge solcher Erklärungen hinweist: ,,Die Bündnissolidarität Deutschlands wird seit Jahrzehnten zur ,Staatsräson' deklariert - ein altes Wort, das gelegentlich durch den jüngeren Terminus der ,nationalen Interessen' ersetzt wird. Beiden Begriffen ist gemein, daß über ihren Inhalt weder in der Vergangenheit noch in der Ge160 161 162
BT PIPr S. 18294. Bundeskanzler Schröder hatte von einer ,,Kriegserklärung an die zivilisierte Völkergemeinschaft" bzw. "an die freie Welt" gesprochen (S. 18293 f.). Alle Zitate BT PlPr14/861 v. 12.09.2001, S. 18294 ff. BT Drs 14/6920 v. 19.09.2001, S. 2.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
109
genwart je öffentlich demokratisch entschieden worden ist. Als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach den Anschlägen vom 11. September 200 1 ,uneingeschränkte Solidarität' mit den USA versprach, war dies eine Entscheidung der politischen Elite, die darauf bedacht war, den transatlantischen Beziehungen stets Priorität einzuräwnen - ungeachtet völker- und verfussungsrechtlicher Beschränkungen oder friedenspolitischer Erfordernisse." (Neu 2008, keine Seitenzahl da Onlineressource)
Was für die deutsche Versicherung der uneingeschränkten Solidarität gilt, trifft auch auf die Erklärung des Bündnisfalles nach Art. 5 des NATO-Vertrages durch den NATO-Rat am 12.11.2001 zu. Dieser Beschluss erfolgte nicht auf Antrag der USA, sondern auf Initiative des NATO-Generalsekretärs Robertson, und "blieb militärisch weitgehen folgenlos, er war vor allem eine Geste der Solidarität" (Haftendorn 2003, S. 218).163 Aber hierdurch entstand weiteres Potential, in der Zukunft BÜlldnisdruck zu entwickeln, wenn die NATO in die Verantwortung für Afghanistan gehen würde wie 2003 tatsächlich realisiert. 5.1.2.3 Zerwürfnis mit den USA über den Irak-Krieg und Versuch der Wiederherstellung des transatlantischen Verhältnisses Eine Phase, in der die Rahmenbedingungen für die späteren Afghanistanentscheidungen mit geprägt wurden, war das Zerwürfnis mit den USA über den IrakKrieg. Während des Wahlkampfes 2002 instrumentalisierte die Bundesregierung die drohende militärische Intervention im Irak als Wahlkampfthema und lehnte in einer Vielzahl von Äußerungen und Stellungnahmen eine deutsche Teilnahme ab. Insbesondere Bundeskanzler Schröder benutzte dabei z.T. drastische Formulierungen. So kritisierte er in einem Interview mit der New York Times die amerikanische Regierung und sprach von einem "Irakabenteuer", dem man sich nicht anschließen werde. 164 Dieses stand - zumindest verbal- in einem Widerspruch zur Deklaration "uneingeschränkter Solidarität" elf Monate zuvor. 163
Die amerikanische Regierung ließ auf ein Angebot von Robertson hin, den amerikanischen Afghanistaneinsatz oder die hwnanitären Maßnahmen militärisch abzusichern, wissen: "Wenden Sie sich nicht an uns, wir wenden uns an Sie, wenn wir sie brauchen". So ersuchten die USA die Partner lediglich, Geheirndienstinformationen zur Verfügung zu stellen sowie überflug- und Stützpunktrecht zu gewähren. Weitergehende militärische Unterstützung wurde nicht erbeten, weil - wie Haftendom erläutert - die US-Regierung nach den Erfahrungen auf dem Balkan gegenüber den Strukturen der Allianz Vorbehalte hatte und keinen erneuten "war by committee" führen wollte. Darüber hinaus war die NATO auf einen Einsatz gegen terroristische Gruppen fernab des Bündnisgebiets schlecht vorbereitet (vgl. Haftendorn 2003, S. 218 ff.). 164 Vgl. den Beitrag von Uwe Schmitt in der Welt "Wutanfall unter Freunden", in dem über den Protest des US-Botschafters Dan Coats gegen entsprechende Bemerkungen von Bundeskanzlers Schröder in dem New York Tirnes Interview berichtet wird (Welt-Online vom 19.08.2002; Zugriff: 30.07.2009):
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Auch nach der Bundestagswahl setzte der Bundeskanzler seine öffentlich geäußerte Ablehnung fort. Den Höhepunkt bildete eine Rede, die er am 22.01.2003 im Rahmen eines Auftritts im Landtagswahlkampfin Goslar hielt. In dieser erklärte er, Deutschland - zu der Zeit Mitglied im Sicherheitsrat - werde einer Resolution, die einen Krieg gegen den Irak legitimiere, nicht zustimmen. Und er fügte hinzu: "Wer immer was entscheidet, der Folgen wegen und der Bedingungen wegen wird sich Deutschland unter meiner Führung an einer militärischen Intervention nicht beteiligen."1.'
Es war nicht allein der Inhalt seiner Aussage, sondern auch ihr Stil, der zu einer massiven Verstimmung zwischen der deutschen und der amerikanischen Regierung führte. Livingston beschrieb die Situation im Sommer 2003 mit folgenden Worten: ,,Mit seinem Auftreten gegen einen Irak-Krieg seit dem Sommer 2002 erntete Deutschland in Washington blanke Verachtung und heute wird es so gut es geht ignoriert." (Livingston 2003, S. 35)166
Er ergänzte diese Zustandsbeschreibung um die These, dass vor allem das Fortdauern des konfrontativen Kurses nach der Bundestagswahl den amerikanischen Präsidenten "sehr, sehr verstimmt" habe. 167 In der Literatur wird jedoch auch die Meinung vertreten, dass die kritische Haltung der Regierung Schröder gegenüber einem militärischen Einsatz an sich dem "roten Faden" ihrer Politik des Einfordems einer ,,Normalisierung" der deutschen Außenpolitik entsprach, zu der auch gehörte - wie Egon Bahr es formuliert
165 166
167
"Schröder schließt Ja zur Kriegsresolution aus" in: FAZ.NET vom 22.01.2003 (Zugriff: 30.07.2009). Auch deutsche Kommentatoren waren sich darin einig, dass der Stil des Bundeskanzlers Schaden angerichtet hatte. So kommentierte Ansgar Graw in der Welt unter der Überschrift "Taktik und Gesinnung": "In Goslar hat der Kanzler ein deutsches Ja zu einem Krieg gegen den Irak ausgeschlossen. Es gibt Argumente, auch gute, gegen diesen Krieg. Aber wer möchte sie einem Politiker abnehmen, der seine Festlegung nicht vor dem Parlament verkündet und nicht in internationalen Gremien, sondern beim Versuch, letzte Reserven flir seine Partei zu mobilisieren? Der die Sicherheitspolitik und das Bündnis dem Wahlkampf unterordnet?" (Welt-Online vom 23.01.2003; Zugriff: 30.07.2009) Und unter dem Titel "Gerd Goslar" schrieb Bemd Ziesemer im Handelsblatt: ,,Es geht um eine glaubwürdige Strategie ..., um unser gutes Verhältnis zu den USA ... Und in Berlin verschwindet im Bermudadreieck zwischen Auswärtigem Amt, Kanzleramt und Bundespresseamt der letzte Rest an internationaler Berechenbarkeit, staatspolitischer Weitsicht und diplomatischer Kunst." (Handelsblatt- Online vom 11.02.2003; Zugriff: 30.07.2009) Livingston zitiert dabei einen "erfahrenen Senatoren", der ihm berichtet habe, der Präsident sei ",sehr, sehr verstimmt' gewesen sei, weil er glaube, dass Schröder im Oval Office gesessen und ,einfach nicht die Wahrheit gesagt habe'. Anscheinend war Bush der Überzeugung, Schröder habe ihm zugesichert, die Antikriegsrhetorik beiseite zu legen, sobald der Wahlkampf vorbei sei." (Livingston 2003, S. 36)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
111
hatte - dass das vereinte Deutschland "wieder machtgewohnt werden" müsse (zit. nach HedtstücklHellmann, S. 231). Allerdings - so HedtstücklHellmann ,,kann das neue ,Selbstbewusstsein' in zweierlei Form vorgetragen werden - nach der ,Methode Schröder' oder nach der ,Methode Fischer'. Das erste Modell könnte man auch auf die Formel ,Hü-Hort-Basta' bringen...
Unabhängig davon, ob man nun das Hü oder das Hort vorzieht, besteht der entscheidende Nachteil dieser Methode darin, dass sie ein hohes Gut deutscher Nachkriegsaußenpolitik auf Spiel setzt, nämlich Berechenbarkeit und, daraufgründend, das Vertrauen der Partner in die Deutschen. Genau dies versucht die ,Methode Fischer' zu bewahren. Sie unterscheidet sich von der ,Methode Schröder' weniger in der Substanz der jeweils vertretenen Politik als in dem Bemühen, eine Erfindung der Bonner Republik, die dieser immensen Erfolg eingetragen hat, in die Berliner Republik herüber zu retten und den neuen Bedingungen deutscher Außenpolitik anzupassen." (HedtstücklHellmann 2003, S. 230)168
Nachdem also das deutsch-amerikanische Verhältnis durch die "Methode Schröder" erheblich belastet war, ist davon auszugehen, dass die nachfolgenden außenpolitischen Schritte - unter ihnen die Afghanistanentscheidungen - neben ihrer jeweilig "Kernzielsetzung" auch der Schadensbegrenzung bzw. der Wiederherstellung eines guten transatlantischen Verhältnisses dienen sollten. Dieses wird mit bei der Analyse der Entscheidungsprozesse im Auge zu behalten sein.
5.1.3 Interessen und Zielvorstellungen bei Partnern und Internationalen Organisationen Will man die im nächsten Kapitel zu erarbeitenden deutschen Interessen und Zielvorstellungen für das Engagement in Afghanistan an den multilateralen Zielen, also denen von Internationalen Organisationen bzw. Partnern spiegeln, so stößt dieses auf die Schwierigkeit, dass ,,(D)die Zielsetzung der internationalen Intervention in Afghanistan ... von Beginn an unklar (war). Die diversen Akteure verfolgten vielmehr mehrere unterschiedliche Ziele." (Schetterl Mielke 2008, S. 25).
Nachdem die USA zunächst ihr Kriegsziel, das Talibanregime gemeinsam mit der Nordallianz zu beseitigen, scheinbar erreicht hatten, entwickelte sich in der Folgezeit - vor allem aufgrund der Einbeziehung einer Vielzahl zusätzlicher Akteure - eine Doppelstrategie, die einerseits als militärische Komponente Stabilisierung 168
Die Autoren weisen daraufhin, dass die sachlichen Zweifel der Regierung Schröder im Kern von vielen europäischen Nachbarn geteilt wurden, dass "der wesentliche Unterschied zur Stilisierung dieser Frage im deutschen Wahlkampfallerdings darin bestand, dass sich die europäischen Partner als kluge Praktiker der ,Methode Fischer' zeigten" (HedtstücklHellmann 2003, S. 232).
112
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
und andererseits als nicht-militärisches Element Wiederaufbau und Modernisierung beinhaltete (vgl. BrzoskalErhart 2009, S. 60 f.). Allerdings waren die Taliban nur scheinbar besiegt. Denn seit 2003 entstand eine sich schrittweise verstärkende Aufstandsbewegung, die als "Neo-Taliban Insurgency" bezeichnet wird (vgl. Giustozzi 2007, S. 1 ff.). Andere thematisierten eine Entwicklung "vom fragilen Frieden zur Rückkehr des Krieges" (vgl. Brzoska/ Erhart 2009, S. 62). Dadurch wurden die militärischen Instrumente zur Erreichung von zwei unterschiedlichen Zielsetzungen eingesetzt, einerseits zur Stabilisierung, andererseits im Rahmen von "Counter-Insurgency"169, also gezielter Aufstandsbekämpfung. Dadurch wurde aus der Doppelstrategie faktisch eine "Triple-Strategie" (vgl. BrzoskalEhrhart 2009, S. 64), deren Elemente - wie zu zeigen sein wird - z.T. gegenläufig wirkten. Es wird deutlich werden, dass die Elemente dieser Mehrfachzielsetzung darüber hinaus von den Akteuren zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gewichtet wurden. Insofern ist eine differenzierte Analyse geboten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Anschläge des 11. September in den USA der eigentliche Auslöser waren, sollen als erstes die Zielvorstellungen der US-Regierung beleuchtet werden. Danach folgen die der Vereinten Nationen, der NATO und der EU. 5.1.3.1
USA
9/11 veränderte die außenpolitische Situation der USA und die Wahrnehmung der amerikanischen Gesellschaft nachhaltig. Das Land war nach diesem Ereignis eine "Weltmacht vor neuer Bedrohung" (KremplWilzewski 2003).170 169
170
Dettke unterscheidet die Begriffe "counterterrorism" und "counterinsurgency", die in dieser Analyse allerdings synonym verwendet werden sollen (vgl. Dettke 2009, S. 42). Als Operationen zur "Stabilisierung" werden für diese Analyse solche militärischen Einsätze definiert, bei denen es primäres Ziel der Stationierung militärische Kräfte ist, allein schon durch deren Vorhandensein für Sicherheit und Ordnung zu sorgen, um einen sicheren Rahmen für zivile Maßnahmen zu schaffen. Militärische Kräfte arbeiten auf der Basis von kultureller und sozialer Kompetenz mit den Behörden und der Bevölkerung des Einsatzlandes zusammen (vgl. auch Rohrschneider 2008, S. 153 f.). Ihre primäre Aufgabe ist somit nicht zu kämpfen, sondern quasi Wirkung "im Schatten militärischer Gewaltanwendung" zu erzielen. Demgegenüber steht bei Counter-Insurgency das Aufspüren und Bekämpfen von Aufständischen im Vordergrund. Diese Begriffsbestimmung entspricht nur z. T. der Terminologie der Bundeswehr, die zwischen "friedensstabilisierenden" und ,,friedenserzwingenden Einsätzen" unterscheidet. Erstere sind Einsätze von niedriger und mittlerer Intensität und umfassen auch die Bekämpfung von Aufständischen, letztere solche, die den Einsatz von Waffengewalt hoher Kampfintensität erfordern (vgl. Weißbuch 2006, S. 90 f. und S. 110 f.). Ulrich Beck beschrieb die Stimmung in der amerikanischen Gesellschaft nach 9/11 wie folgt: "What has horrified peop1e since 11 September 2001 has been a diffuse political terrorism that is aimed at the foundations of society and statehood, symbolized by the USA and the former cathedral ofthe global economy, the World Trade Center." (Beck 2005, S. 11)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
113
Schon wenige Tage nach den Anschlägen formulierte Präsident Bush eine außenpolitische Zielsetzung, die in den folgenden Jahren dominant sein sollte. In einer ,,Address 10 a joint session of Congress and the nation" erklärte er am 20.09.2001, dass sich die USA in einem Krieg gegen den Terror(ismus) ("war on terror") befänden. 171 Ulrich Beck diskutierte den Begriffdes "war against terror", entwickelte daraus den Begriff"war against political terrorism"172 mit der Steigerung "war against global terrorism" und arbeitete Unterschiede in der Perzeption der USA und der Europäer heraus (vgl. Beck 2005, S. 11 ff.). Mit Blick auf das Eskalationspotential von terroristischen Angriffen, das gegeben wäre, wenn Terroristen Massenvemichtungswaffen in ihre Verfiigungsgewalt bekämen, stellte er die unterschiedlichen Auffassungen über die Legitimation von Gewalt zur Bekämpfung von Terrorismus jenseits und diesseits des Atlantik dar und folgerte: "It is the new danger to humanity posed by nuclear terrorism that, in the eyes ofAmericans, fundamentally changed the security situation before and after 11 September 2001, while the Europeans rather consider this new human danger to be the result of US hysteria .... Where Americans see the horror ofterror, Europeans see the horror ofwar." (Beck 2005, S. 20)
Gleichwohl unterstützten - wie oben skizziert - die europäischen Staaten, sowohl unilateral als auch kollektiv in der NATO, zunächst die von Präsident Bush formuliert Zielsetzung des Kriegs gegen den Terrorismus. Nun weisen kritische Beobachter daraufhin, dass die Zielsetzung der amerikanischen Außenpolitik sich mitnichten erst durch 9/11 verändert habe. Vielmehr sei bereits mit Amtsantritt der Bush-Administration eine Veränderung eingetreten. 173 Und einige sehen die Wurzeln des Veränderungsprozesses sogar bis in der 171
172 173
Der Präsident flihrte vor dem Kongress aus: "On September the 11th, enemies of freedom committed an act ofwar against our country ... OUT war on terror begins with AI Qaeda, but it does not end there. lt will not end until every terrorist group of global reach has been found, stopped and defeated ... Americans are asking, 'How will we fight and win this warT We will direct every resource at our command - every means of diplomacy, every tool of intelligence, every instrument oflaw enforcement, every financial influence, and every necessary weapon ofwar - to the destruction and to the defeat ofthe global terror network." (zit. nach Washington Post vom 20.09.2001 ; Zugriff: 02.08.2009). Nach seinem Konzept unterscheidet sich "terrorism" von "terror" dadurch, dass dem Begriff "terrorism" der Bezug zu Staatlichkeit oder Territorialität fehlen (vgI. Beck 2005, S. 10 f.). Diese These vertrat z.B. Czempiel, der formulierte: "Sie (die Koalition, auf die sich die Wahl von Bush stützte, UvK) war vielmehr eine Sa=lungsbewegung von republikanischen Gruppierungen im Süden und Westen der USA, die sich - zehn Jahre nach dem Ende des Ost-WestKonfliktes - die einzigartige Machtposition der USA zunutze machen und die Welt neu ordnen wollte. Das konservative Progranun eines militärisch starken Amerikas, einer ,Festung', mischte sich in dieser Sammlungsbewegung mit dem liberalen Progranun einer Strukturveränderung der Herrschaftssysteme zugunsten des weltpolitischen Fortschritts." (CzempieI2004, S. 16)
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Zeit der Clinton-Präsidentschaft zurückreichen, in der eine Strategie des "democratic enlargement" entwickelt worden war. 174 Wie lange auch immer die Wurzeln zurückreichen, für unsere Analyse bleibt festzuhalten: 200112002 hatten die USA in Afghanistan die Zielsetzung, den Terrorismus durch Vernichtung von Al Qaida zu bekämpfen und eine pro-westliche Regierung ohne Beteiligung der Taliban zu etablieren (vgl. BrzoskalEhrhart 2009, S. 60). In dieser Motivation kann man mittelbar durchaus Elemente der von Müller beschriebenen Antinomie "Gewaltsamer Demokratieexport" sehen (s. Kap. 2.2.5.1), sollte doch die Vernichtung von Al Qaida über einen Regimewechsel in Afghanistan erfolgen. Priorität lag bei ihnen durchgängig beim Kampf gegen den Terrorismus (vgl. SchetterlMielke 2008, S. 26). Folgerichtig kann man in den ersten Jahren nach 2001 bei den USA eine ausgeprägte Aversion gegen Vorstellungen von einem "State"- oder ,,Nation Building" feststellen. 175 Spanta konstatierte Anfang 2004: ,,Die US-amerikanische Politik der Staatsbildung in Afghanistan wird augenscheinlich den Erfordernissen der Militäraktion gegen AI-Qaida und die Rest-Taliban" untergeordnet." (Spanta 2004, S. 115)
174
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In gleichem Sinne argumentierte Michael Mann, der in der Umsteuerung der amerikanischen Außenpolitik eine zielgerichtete Strategie der ,,Neocons" sah, was nach Auffassung von Mann zu einem neuen amerikanischen Militarismus und Imperialismus geflihrt hat (vgl. Mann 2003, S. 14 ff.). SpangerlWolff formulierten: "Schon Präsident Clintons Strategie des democratic enlargement beruhte auf vergleichbaren Prämissen. (Vergleichbar bezieht sich auf eine Rede von Präsident Bush, in der dieser formulierte: "Dur strategy to protect America is based on a clear premise: the security of our nation depends on the advance of liberty in other nations", UvK). Es ging und geht bei der Förderung demokratischer Ordnungen, so das verbreitete Urteil auch über die USA hinaus, folglich nicht allein um die globale Verbreitung der eigenen Werte, sondern auch um die Durchsetzung der eigenen Interessen." (SpangerlWolff2007, S. 263 f.) Der Begriff"State-Building" beschreibt den Aufbau eines institutionellen gesamtstaatlichen Reglements. Dazu gehören folgende Sachbereiche: "primary responsibility for policing", "primary responsibility for referendum", "primary responsibility for election", "executive power", ,judicial power" und "treatymaking power". Der Begriff,,Nation-Building" geht darüber hinaus und umfasst zusätzlich "gesellschaftlich-politische Identitätsaspekte in der Bevölkerung eines Staates, die das Eigenverständnis als Nation bedingen" (vgl. Pradetto 2001, S. 25, FN 5 und S. 28 FN 25). Ähnliche Begriffe, die in der Literatur diskutiert werden, sind z.B. "lnstitution-Building" ,,Post Conflict PeaceBuilding", "Capacity-Building" (vgl. fiir eine Diskussion dieser Begriffe Schmunk 2005, S. 7, FN 2). HippIer merkt zu dem Konzept Nation-Building kritisch an: "Nation-Building hat politisch, ökonomisch und sozial Gewinner und Verlierer - und deshalb kann es auch als Mittel eingesetzt werden, um der eigenen politischen oder sozialen Gruppe Vorteile zu verschaffen ... Wie derzeit verwendet, kann Nation-Building ein Euphemismus fiir imperiale Kontrolle, eine leere Beschwörungsformel zur Verdeckung eigener Hilflosigkeit oder ein Schlüsselkonzept der Entwicklungspolitik und Krisenprävention sein." (Hippier 2004 a, S. 29)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
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Auch spätere Analysen stimmen in dieser Einschätzung überein. 176 Im Laufe der Zeit haben sich die von den USA artikulierten Ziele jedoch z.T. verschoben bzw. erweitert. Zum einen entwickelten sie - zumindest verbal- eine Zielsetzung, die sich dem annähert, was andere Akteure als "Comprehensive Approach" bezeichnen (auf diesen wird in den folgenden Kapiteln näher eingegangen). Zum anderen gewann in der amerikanischen Wahrnehmung zunehmend die über Afghanistan hinausreichende regionale Bedeutung des Konflikts an Bedeutung, was Präsident Obama zu einer Änderung der Priorisierung der amerikanischen Sicherheitspolitik veranlasste. Die Region AfghanistanlPakistan (AFPAK) rückte in der Priorität vor den Irak. Diese Veränderung verkündete Präsident Obama am 27.03.2009 in einer "Strategy for Afghanistan and Pakistan". Als Kemzielsetzung formulierte er, "to disrupt, dismantle, and defeat al Qaeda in Pakistan and Afghanistan, and to prevent their return to either country in the future."
Diese Zielsetzung sollte in einem umfassenden Ansatz erreicht werden, der einerseits eine deutliche Verstärkung der militärischen Kräfte und Mittel, andererseits aber auch einen "dramatic increase of our civilian effort" umfasste. 177 In der Literatur findet sich für diesen Ansatz der Begriff der "Irakisierung der Afghanistanstrategie" (vgl. BrzoskalEhrhart 2009, S. 66). Hieraus wurde hinsichtlich der künftigen amerikanischen Zielsetzung gefolgert: ,,Die USA verfolgen in diesem Krieg zwei grundlegende Interessen: Erstens darf Mghanistan nie wieder ein sicherer Hafen flir Terroristen werden, die gegen die USA kämpfen, und zweitens wollen sie verhindern, dass die chaotische Situation in Afghanistan die Stabilität der Nachbarstaaten, insbesondere Pakistans, beeinträchtigt." (Biddle 2009, S. 91)
Im Sinne der Zielsetzung des Präsidenten wurde ein neuer Oberbefehlshaber für die amerikanischen Streitkräfte in Afghanistan und für ISAF ernannt. Mit General Stanley McChrystal wurde das ein ausgewiesener Experte für Counter-Insurgency-Kriegführung. Dieser legte dem Pentagon kurz nach Amtsantritt seine Beurteilung der Situation vor, die in Empfehlungen zur Verstärkung seiner Truppen und zu Änderungen der Kriegführung im Lande mündete. 178 Letztere setzte er be176
177 178
So identifiziert Bergen bei der Bush-Regierung in den ersten Jahren der Afghanistaneinsätze "a variety ofideological idee fixes tbat included a dislike of'nation building'" (Bergen 2007, S. 23). Und Schoch zitiert die polemische Aussage von Condoleezza Rice: "We don't need to have the 82nd Airborne escorting kids to kindergarten." (Schoch 2007, S. 46) Vgl. Obama's Strategy for Mghanistan and Pakistan, March 2009, (Zugriff: 01.11.2009). Quelle: US Strategy Options in Afghanistan, Statement for tbe Record, submitted by General Barry R. McCaffrey (USA, ReL), http://armedservices.house.gov/pdfs/OIl02209/ McCaffrey_Testimony102209.pdf (Zugriff: 01.11.2009).
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reits wenige Wochen nach der Übernahme seines Kommandos (Mitte Juni) um. In einer teilweise veröffentlichen "Tactical Directive" vom 02.07.2009 wurden die ihm unterstellten Kommandeure angewiesen: "Our strategie goal is 10 defeat the insurgency threatening the stability ofAfghanistan. Like any insurgency, there is a struggle for the support and will ofthe population. Gaining and maintaining that support must be our overriding operational imperative - and the ultimate objective of every action we take." (Hervorhebung UVK)I19
In einer Reihe von Interviews und Medienbeiträgen informierte der neue Oberbefehlshaber auch die Öffentlichkeit über seine Absichten. So betonte er z.B. in einem Interview mit der "Welt", entscheidend sei der Schutz der BÜfger".180 In gleichem Sinne wurde er in der FAZ mit folgender Feststellung zitiert: ,,Die Verbindung zu den Menschen, der Austausch mit ihnen, das tiefe Verständnis fiir die Situation und der Schutz der Menschen ist oftmals sehr viel effektiver als den Feind anzugreifen."l8!
Und in einem detaillierten Zeitungsbericht über die Implementierung dieser neuen Vorgehensweise am Beispiel eines "Vorzeigeprojekts" im Pandschir-Tal wurde die Zielvorstellung des ISAF-Kommandeurs wie folgt beschrieben: ,,Denn so, wie der NATO-Oberbefehlshaber fiir Afghanistan, der US-General Stanley McChrystal, den Kampf definiert, ist die Entwicklung Afghanistans sein Ziel, und die Mittel dazu sind Sicherheit und Wohlstand. Statt al-Qaida kreuz und quer durch die öden Weiten des Landes zu jagen, sollen die Nato-Truppen lieber Ruhe und Ordnung in den besiedelten Gebieten durchsetzen, wirtschaftliche und politische Entwicklung fördern und fiir die Aushreitung des Fortschritts sorgen."!82
Der Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum, General Egon Ramms, wies allerdings darauf hin, dass bereits der Vor-Vorgänger von General McChrystal, General McNeill, eine entsprechende Weisung zum Schutz der Zivilbevölkerung herausgegeben habe. Unter McChrystal wurde dieser Gedanke nur öffentlich bekannt. 183 179 Vgl. http://www.nato.intJisaf/docu/official_textsffactical_Directive_090706.pdf (Zugriff: 01.11.2009). Diese Absicht war der Hintergrund der z.T. öffentlich ausgetragenen Kontroverse um den von einem deutschen Kommandeur in Kundus angeforderten Luftangriff auf zwei Tankiastwagen am 04.09.2009 (vgl. "Schwere Verstimmung zwischen Bundeswehr und USStreitkräften" in: Welt-Dnline vom 07.09.2009; Zugriff: 07.09.2009). 180 Vgl. ,,Alliierter Oberkommandeur will Zivilisten schützen" in: Welt-Online vom 28.07.2009 (Zugriff: 28.07.2009). 181 ,,Die Nervosität nimmt zu" in: FAZ.NET vom 18.08.2009 (Zugriff: 19.08.2009). 182 "Wo der Friede schon fast gewonnen ist" in: Welt-Dnline vom 25.1 0.2009 (Zugriff: 25.10.2009). 183 General Ranuns fiihrte aus: "Opfer unter der Zivilbevölkerung sind ein Problem gewesen, welches alle ISAF-Kommandeure in irgendeiner Fonn erfahren haben, mehr oder weniger. Derjenige ISAF-Kommandeur, der davon am stärksten betroffen war, war David McKiernan, der - sicherlich
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
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Ob General McChrystal bei der Umsetzung der Zielvorstellung mehr Erfolg haben wird als seine Vorgänger, bleibt abzuwarten. Can Merey schrieb Anfang 2010 dazu in einem Korrespondentenbericht: ,,Doch seit Beginn der Großoffensive in Südafghanistan - die als Testfall flir die ISAF-Schutztruppe gilt - erleidet die Schutztruppe im Kampfum die Unterstützung der Afghanen einen Rückschlag nach dem nächsten. Binnen acht Tagen töteten Soldaten fast 50 Zivilisten. Jeder Zivilist, den die Truppen töten, treibt Angehörige der Opfer in die Arme der Taliban." 184
Die Zweifel daran, ob die neue Vorgehensweise der amerikanischen Streitkräfte tatsächlich einen Strategiewechsel bedeuten, werden auch durch eine Analyse des langjährigen Präsidenten des Chicago Council on Foreign Relations, John E. Rielly, bestärkt. Dieser wies daraufhin, dass die Ablehnung von Nation-Building einen grundlegenden Wesenszug amerikanischer Außenpolitik darstelle. Denn die USA verfügten - anders als Z.B. die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien über keine dem britischen Colonial Service entsprechenden zivilen Ressourcen, um nach einer militärischen Lösung Aufbauarbeit zu leisten. Vielmehr müsste solche Aufgabe dem US-Militär übertragen werden, das dafür nicht ausgebildet sei. Daher seien Versuche des Nation-Building - mit Ausnahme von Deutschland, Japan und Korea - nicht erfolgreich gewesen, was im amerikanischen Denken zu einer grundlegenden Ablehnung einer solchen Zielsetzung geführt habe. 18s Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich vor dem Hintergrund der der von Rielly skizzierten ,,Kultur" der amerikanischen Außenpolitik Vorstellungen von NationBuilding gegenüber dem militärischen Ziel eines "Sieges" durchsetzen können. Dieses bleibt auch nach der Rede offen, mit der Präsident Obama am 02.12.2009 in Westpoint Entscheidungen zur Umsetzung seiner AFPAK-Strategie verkündete. Der Schwerpunkt seiner Ankündigungen lag im Bereich der Verstärkung von Militär und Sicherheitskräften, nicht-militärische Aspekte wurden deutlich weniger präzise angesprochen. 186 Diese Bewertung wurde auch im Deutschen Bundestag
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nicht durch eigenes Verschulden, sicherlich mit der gleichen Intention wie Stan McChrystal- in verschiedenen Fällen erhebliche zivile Verluste gehabt hat aufgrund von Angriffen - weit überwiegend Luftangriffen, z. T. auch Artillerie - die im Westen und im Süden durchgeführt worden sind und die dort eine erhebliche Rolle gespielt haben". (Interview am 17.11.2009) ,,Afghanen sind auch Menschen", Bonner Generalanzeiger vom 23.02.2010, S. 4. Diese Auffassung entwickelte Rielly in einem Vortrag "Obama's Approach to Foreign Policy. where is he moving? A critical Appraisal" vor dem Internationalen Club La Redoute, Bonn e. v., arn 10.09.2009. Präsident Obama führte in seiner Rede am 02.12.2009 in Westpoint aus: ,,And as co=ander-in-chief, I have determined that it is in our vital national interest to send an additional 30,000 U.S. troops to Afghanistan. After 18 months, our troops will begin to come horne. These are the resources that we need 10 seize the initiative, while building the Afghan capacity that can allow for a responsible transition of our forces out ofAfghanistan"...
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
anlässlich der Plenardebatte zur Verlängerung des ISAF-Mandats am 03.12.2009 formuliert, in der der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose (SPD) ausführte: ,,Es war, wie immer, eine eindrucksvolle Rede, über die ich, um ehrlich zu sein, gleichwohl nicht glücklich bin: zum einen, weil ich das Gefiihl habe, die Rede sei mehr der amerikanischen Innenpolitik geschuldet als der konkreten Lage in Afghanistan, zum anderen, weil die neue amerikanische Strategie immer noch zu sehr aufmilitärische Mittel, mehr Soldaten setzt, obwohl wir doch alle wissen, dass der Konflikt in Afghanistan mit militärischen Mitteln allein nicht zu lösen ist. Zugegeben, der Präsident hat auch über eine zivile Strategie gesprochen, und von Partnerschaft mit Pakistan in diesen Punkten ist die Rede, aber nach meinem Dafürhalten sehr allgemein und sehr knapp. Etwas genauer hätte ich es schon ganz gern gehört. "187
Unabhängig davon, ob es sich um eine neue politische Zwecksetzung oder "nur" um eine veränderte militärstrategische Zielsetzung handelt, ist davon auszugehen, dass die US-Zielsetzung - so oder so - Auswirkungen aufdie deutschen Entscheidungen hatte und hat. 5.1.3.2 Vereinte Nationen Die VN waren bereits längere Zeit vor 9/11 mit der Situation in Afghanistan befasst. Seit dem Genfer Afghanistanabkommen 1988, das zum Ende des Krieges der UdSSR gegen Afghanistan führte, beschäftigten sich Generalversammlung und Sicherheitsrat regelmäßig mit der Situation im Lande,188 seit 1998 mit zunehmendem Blick auf die sich verschlechternde humanitäre Situation. 189 1999 hatte der Sicherheitsrat das Talibanregime wegen Verletzung der Menschenrechte, Unterstützung von Drogenhandel und Terrorismus verurteilt und erstmals Sanktionen beschlossen, u.a. auch, um eine Auslieferung von Osama Bin Laden wegen dessen Verantwortung fiir die Bombenanschläge auf die US-Botschaften in Nairobi
187 188 189
Seeonl!, we will work with our partners, the Vnited Nations, and the Afghan peop1e to pursue a more effeetive civilian strategy so that the government can take advantage of improved seeurity... Third, we will act with the fuH recognition that our success in Afghanistan is inextricab1y linked to our partnership with Pakistan. We're in Afghanistan to prevent a cancer from once again spreading through that country. But this same cancer has also taken root in the border region of Pakistan. And that's why we need a strategy that works on both sides of the border." Zit. nach: Transcript ofPresident Obama's speech 02 Decernber 2009 at the V.S. Military Academy at West Point, NY., (http://www.whitehouse.gov,Zugriff: 03.12.2009). BT P1Pr 17/9 vom 03.12.2009, S. 669. Vgl. z.B. die Resolutionen der Generalversammlung 43/20 vom 03.11.1988, 46/23 vom 05.12.1991 oder 50/88 vom 12.02.1996 sowie die Resolutionen des Sicherheitsrates 1076 vom 22.10.1996. Vgl. die Berichte des Generalsekretärs A/53/455 S/1998/913 vom 02.10.1998 (http://daccessdds. un.org/ doc/ UNDOC/GEN/N98/289/97/PDF/N9828997.pdflOpenElement - Zugriff: 20.08.2009) oder A/54/378 S/1999/994 vom 21.09.1999 (http://daccessdds.un.org/docIUNDOC/GEN/ N99/271/71/ PDF/N9927171.pdflOpenElement, (Zugriff: 20.08.2009).
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
119
und Daressalam zu erzwingen. 190 Die Sanktionen verschärfte der Sicherheitsrat in weiteren Resolutionen Ende 2000 bzw. 2001. Diese waren u.a. mit der Forderung verbunden, die Ausbildungslager für Al Qaida zu schließen. 191 Bis dahin hatten sich die USA der Institution VN bedient, um ihre Interessen wahrzunehmen. Doch das änderte sich nach 9/11 teilweise. Der Sicherheitsrat verurteilte zwar die Anschläge aufs Schärfste und rief alle Staaten auf, bei der Strafverfolgung der Täter zusammenzuarbeiten und ihre Anstrengungen zu erhöhen, um Terrorismus zu verhindern bzw. einzudämmen. Gleichzeitig erklärte der Rat seine Bereitschaft, alle notwendigen Schritte zur Beantwortung der terroristischen Angriffe vom 11.09. einzuleiten und im Rahmen seiner Verantwortung gern. der VN-Charta alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen. 192 Ein weiteres Engagement der Weltorganisation wurde von den USA zunächst jedoch nicht gewollt. Nach der Schilderung von Pradetto hatte VN-Generalsekretär Kofi Annan im Zuge der Verabschiedung dieser Resolution den Vorschlag gemacht, die "legitime militärische Selbstverteidigung" gegen den Terrorismus von den VN führen zu lassen. Als die USA entgegen diesem Vorschlag Anfang Oktober gemeinsam mit der Nordallianz ihren Krieg gegen die Taliban begannen, forderte er sie "dringlich auf, die ,Legitimität' durch Beschlüsse des Sicherheitsrats herzustellen". Nachdem die die US-Regierung dieses ablehnte, drängte Annan in der Folgezeit "mehrfach und nachdrücklich auf eine Limitierung der militärischen Angriffe" (vgl. Pradetto 2001, S. 25, FN 9, Quellenangabe dort). Mit Beginn des Krieges gegen die Taliban wurde dann von verschiedenen Seiten, darunter von den Regierungen der USA und der Bundesrepublik Deutschland, auf die Organisation einer Post-Taliban-Ordnung durch die VN gedrängt193 (vgl. ebenda, S. 24). Pradetto beschreibt, dass jedoch sowohl Generalsekretär Annan als auch der VN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, aufgrund der Erfahrungen der VN mit "State-Building" in anderen Krisengebieten sehr zögerlich waren, eine Verantwortung der VN für diese schwer lösbare Aufgabe zu akzeptieren, weil sie das Risiko eines Scheiterns und damit die Gefahr eines Rückschlags für die VN als sehr hoch bewerteten. Annan hatte sich deutlich gegen ein "UN-Protektorat" und für eine "afghanische Lösung" ausgesprochen, 190 Resolution 1267 vom 15.10.1999. 191 Resolution 1333 vom 19.12.2000 sowie 1363 vom 30.07.2001. 192 Vgl. Resolution 1368 vom 12.09.2001. 193 Präsident Bush formulierte in seiner ..State of the Union-Ansprache" am 29.01.2002 in diesem Sinne: ..I believe that the United Nations would - could provide the ftamework necessary to help meet those conditions. lt would be a useful function for the United Nations to take over the so-called 'nation-building' - 1 would call it the stabilization of a future government - after OUf military mission is complete." (zit. nach Chesterman 2003, S. 9; Originalquelle: http://www. whitehouse.gov)
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
bei der Lösungen im Zusammenwirken mit afghanischen Kräften gefunden werden sollten. Im diesem Sinne versuchte Brahimi nach einer Sitzung des Sicherheitsrats am 24.1 0.2001 - wie Pradetto formuliert"einerseits Illusionen über Möglichkeiten externen Agierens in Afghanistan entgegenzuwirken und andererseits den Sicherheitsratsmitgliedem auszureden, die UNO vor unrealistische und nicht zu bewältigende Aufgaben zu stellen." (Pradetto 200 I, S. 26)
Für die militärische Komponente schlug er anstelle von VN-Friedenstruppen die Schaffung einer gemischten afghanischen Friedenstruppe mit Unterstützung der VN vor. Aber letztlich bestimmte der Konsens der fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat die Richtung, in der sich die VN zu engagieren hatten. Am Tag nach der Einnahme von Kabul durch die Truppen der Nordallianz verabschiedete der Sicherheitsrat eine Resolution, in der er eine Interimsregierung für Afghanistan vorschlug, die multi-ethnisch besetzt und repräsentativ für das gesamte afghanische Volk sein sollte (vgl. ebenda, S. 26). In dieser Resolution bekräftigte der Rat, "that the United Nations should playa central role in supporting the efforts of the Afghan peopie to establish urgently such a new and transitional administration leading to the formation of a new government and expresses its fuH support for the Secretary-General's Special Representative in the accomplishment ofhis mandate."]94
Damit waren die VN in der Situation, dass sie nach einem Krieg, den die USA unilateral begonnen hatten, als quasi ,,Reparaturbetrieb" die Folgen des Krieges u.a. ein drohendes Machtvakuum - auffangen sollten. Und das in einem Land, in dem noch kein Abkommen den Übergang in die "post conflict"-Phase eingeleitet hatte und in dem zur gleichen Zeit US-geführte Koalitionsstreitkräfte weiter einen Anti-Terror-Krieg führten (vgl. Maaß 2007, S. 12). Pradetto bewertete dieses als ,,Lehrbeispiel einer Dilemmasituation", in der es einerseits keine Alternative zur Bereitschaft gab, sich zu engagieren, andererseits eine Überforderung der VN absehbar war (vgl. Pradetto 2001, S. 24). Aus dieser Entstehung des Mandats ergab sich - im Gegensatz zu den skizzierten Interessen der USA - bei den VN von Anfang an die eindeutige Priorität beim State-Building. Konkret bedeutete das die Unterstützung der Interimsregierung bei der Implementierung des Bonn-Prozesses. Diese sollte zwei Leitlinien folgen: zum einen dem Belassen der primären Verantwortung für den Aufbauprozess bei den Afghanen (,,Afghan ownership"), zum anderen eine gering dimensionierte Präsenz ausländischer Berater und Sicherheitskräfte ("light fOOtprint"195). Diese 194 Resolution 1378/21001 vom 14.11.2001, Ziff. 3. 195 Maaß beschreibt, dass dieser Begriff auf ein Briefing von Brahimi vor dem Sicherheitsrat am 19.07.2002 zurückgeht, in dem Brahimi von einem "light expatriate footprint" gesprochen hatte
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
121
beiden Prinzipien blieben auch nach Abschluss des Bonn-Prozesses gültig und wurden im darauffolgenden konzeptionellen Dokument, dem "Afghanistan Compact" von 2006 fortgeschrieben bzw. sogar noch stärker betont (vgl. Maaß 2007, S. 7). Die Aufgaben des State-Building für Afghanistan beinhalteten in Stichworten: •
•
• • •
Aufbau von staatlichen Strukturen mit den Einzelschritten einer Bestätigung des Interimspräsidenten durch eine Emergency Loya Jirga, der Erarbeitung einer Verfassung durch eine Constitutional Loya Jirga sowie der Organisation von Präsidentschafts-, Parlaments- und Regionalwahlen; Reform des Sicherheitssektors mit den Einzelschritten des ,,DDR"-Programms l96 , des Aufbaus der Afghanischen Nationalarmee (ANA) sowie der Afghanischen Nationalpolizei; Aufbau eines Justizsektors; Bekämpfung der Drogenwirtschaft und Aufbau einer Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission.
Die militärische Komponente, die das State-Building flankieren soll, wurde und wird von den VN als wichtig für die Stabilisierung bewertet - allerdings nur mit Bezug zu ISAF, nicht zu OEF. I 97 Dabei nahm - wie in Kapitel 4.2.3. dargestellt werden wird - mit Verschlechterung der Sicherheitslage die Bedeutung der militärischen Mittel kontinuierlich zu. Damit wurde der ursprüngliche Ansatz eines "light footprint" zunehmend durch die Realität überholt. Die VN versuchten, diese gestiegene Bedeutung der militärischen Komponente in ihre Zielvorstellung integrieren. Das 2008 erarbeitete Konzept eines "Integrated Approach" sieht ein differenziertes Vorgehen in den unterschiedlichen Landesteilen vor, abhängig von der Sicherheitslage, der Relevanz der Drogenproblematik und dem erreichten Status beim Aufbau der ANA, der Polizeikräfte und der Justiz. 198
196 197
198
(vgl. Maaß 2007, S. 7, FN 4). DDR = Disarmament, Demobilization, Reintegration Vgl. Bericht des VN-Generalsekretärs AJ60/224-S/2005/525 "The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security" vom 12.08.2005 http://daccessdds.un.org! doc/ UNDOC/GEN/N05/453/57/PDF/N0545357.pdflOpenElement (Zugriff; 20.08.2009). Zur Rolle der ISAF heißt es in Ziff. 68: "It played a cmcial role in assisting the Bonn process by providing security." Der VN-Generalsekretär schreibt in einem Bericht aus dem Jahre 2009: "The approach is premised on the fact that the varying security and governance conditions across the country demand different assistance responses. In the relatively stahle north and west ofAfghanistan, increasingly poppy-free, but poor, the main focus must be on economic development. In the insecure south and east, where Govemment agencies have a tenuous presence, the challenge is 10 build the capacity ofAfghan security forces and link communities 10 the Govermnent. In between, there are areas where security has deteriorated, but concerted interventions in the areas ofpolicing,justice and govemance can reverse this decline. In a11 areas, the integrated approach is underpinned by the
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
5.1.3.3 NATO Wie bereits in Kapitel 4.2.1.2 angerissen reagierte die NATO auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 mit der erstmaligen Erklärung des Bündnisfalles nach Art. 5 NATO-Vertrag. Diese Erklärung erfolgte - wie Varwick darstellte - nach anfanglichem Zögern der USA und unter dem Vorbehalt, dass die Angriffe von außen gekommen waren. Am 12., 13. und 14.10.2001 folgten Resolutionen des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrates, des NATO-Russland-Rates sowie der NATO-Ukraine-Kommission mit Solidaritätsbekundungen. Nachdem die USA den Nachweis eines Angriffs von außen geführt hatten, wurde am 02.10.2001 die Ausrufung des Bündnisfalls bekräftigt. Allerdings beschlossen die NATO-Mitglieder zur Konkretisierung dieses Beschlusses am 04.10.2001 nur Maßnahmen"für mehr oder weniger sekundäre militärische Hilfeleistungen und symbolische Solidaritätsbekundungen". An konkreten militärischen Einsätzen beteiligte sich die NATO jedoch ausdrücklich nicht, da die USA dem Bündnis keine militärische Rolle zuweisen wollte. Vielmehr setzten diese zur Unterstützung von OEF aufAd hoc-Koalitionen. Die Kampfeinsätze im Rahmen von OEF wurden folgerichtig auch nicht von der NATO-Kommandostruktur, sondern vom US Central Command in Florida geführt (vgl. Varwick 2008, S. 155 f.). Mit seiner Initiative für die Erklärung des Bündnisfalls hatte der NATO-Generalsekretär, Lord Robertson, offenbar die Absicht verfolgt, "die Allianz nicht ins Abseits geraten zu lassen" (ebenda, S. 155). Varwick verweist auf eine Aussage des damaligen deutschen NATO-Botschafters, die NATO hätte auch keine stärkere Rolle reklamieren können, weil sie zu der Zeit dazu nicht in der Lage gewesen wäre. Daher habe man mit der Ausrufung des Bündnisfalls ein politisches Signal gesetzt, um "längerfristig die Relevanz der NATO auch bei neuen Bedrohungsformen zu erhalten" (vgl. ebenda, S. 158 f.). Folgerichtig spielte die NATO auch bei der Aufstellung und Entsendung von ISAF keine Rolle. 199 Erst im Spätherbst des Jahres 2002 trat sie am Rande in Erscheinung, als sie von Deutschland und den Niederlanden um Unterstützung bei following oo=on principles: there must be a genuine Afghan Government lead; there is no purely military solution to the country 50 instability; and civilian and military resources need to be commilled where they can have the greatest impact. Where military resources are used for humanitarian assistance, they must be governed by humanitarian principles and agreed guidelines." (Bericht des VN-Generalsekretärs N63/751-S/2009/135 vom 10.03.2009, Ziff. 17, Hervorhebung UvK) 199 Der damalige Deutsche Militärische Vertreter im NATO-Rat, Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen, bestätigte in seiner Beantwortung von Fragen (Anlage 3 d): ,,Damals gab es im Bündnis keine Einigkeit, diesen ISAF Einsatz als NATO geführte Operation durchzuflihren." (schriftliche Antwort vom 13.01.2010)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
123
deren Vorbereitung der Übernahme der ISAF-Führung ab 2003 gebeten wurde und dieser Bitte mit der Organisation einer Truppenstellerkonferenz (,,Force Generation Conference") beim Hauptquartier SHAPE in Mons nachkam. zoo Diese marginale Rolle des Bündnisses änderte sich erst 2003. Am 16.03.2003 beschloss der NATO-Rat einstimmig und aufdeutschen Wunsch, ab Sommer 2003 die militärische Führung der ISAF-Operation von Deutschland und den Niederlanden zu übernehmen (vgl. Varwick 2007 a, S. 774). Im Nachhinein ist dieses als eine bahnbrechende Entscheidung zu bewerten. Denn das Bündnis durchliefbereits seit Ende des Ost-West-Konflikts eine tiefgreifende Veränderung. Bis 1989 hatte sich - zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung - ihr Aufgabenspektrum auf kollektive Verteidigung des Bündnisgebietes beschränkt. 201 Danach kam es im Bündnis zu einem länger andauernden Diskussionsprozess mit zum Teil heftigen Auseinandersetzungen, in denen die "out of area-Problematik" eine zentrale Rolle spielte. 202 Dieser Prozess kam mit der Entscheidung vom 16.03.2003 zur Übernahme des Oberbefehls über die ISAF zu einem gewissen Abschluss (vgl. Varwick 2009, S. 5). Rühle arbeitete heraus, dass dadurch im Bündnis ein ,,Paradigmenwandel" von einem "passiven Sicherheitsansatz" bzw. einem "geographischen Sicherheitsbegriff' hin zu einem "funktionalen Ansatz" vollzogen wurde und resümierte: "Im Kontext von ,9/11' gelang den transatlantischen Partnern somit in der Praxis, was ihnen in der Theorie nie gelungen war: die NATO als Organisationsrahmen fiir militärisches Handeln auch außerhalb Europas zu etablieren." (Rühle 2006, S. 6)
Nun ist ZU bezweifeln, ob Deutschland durch seine Bitte an das Bündnis zur Übernahme der Führungsfunktion für ISAF diese weitreichenden Konsequenzen für das Bündnis beabsichtigt hatte. Für eine solche Annahme konnten keine Belege gefunden werden. Sehr viel wahrscheinlicher handelte es sich bei der deutschen Bitte um einen pragmatischen Vorgang mit kurzfristigeren Zielen.
200 20 I
202
Quelle: ISAF-Chronology http://www.nato.int/isaf/topics/chronology/index.html (Zugriff: 17.10.2009) Varwick weist aber daraufhin, dass dieses im Bündnis bereits 1967 differenziert gesehen wurde. Denn schon im Harmel-Bericht vom 14.12.1967 hieß es: "Das Gebiet des Nordatlantikvertrags kann nicht getrennt von der übrigen Welt behandelt werden. Krisen und Konflikte, die außerhalb des Vertragsgebiets entstehen, können seine Sicherheit entweder mittelbar oder durch Änderung des globalen Kräftegleichgewichts beeinträchtigen." (vgl. Varwick 2009, S. 5 f., dort auch Quellennachweis) Schon 1993 harte der US-Senator Richard Lugar eingängig formuliert: "IfNATO does not go out of area, it will go out ofbusiness." (zit. nach Varwick 2008, S. 140)
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Einerseits ist der deutsche Vorstoß im Kontext der "Glättung" des Zerwürfnisses über den Irak-Krieg zu sehen. 203 Zum anderen ergab sich für jede Nation, die temporär die Führung von ISAF übernommen hatte, das Problem, einen Nachfolger zu finden. Wenn dieses nicht zeitgerecht gelang, konnte man sich nicht einfach zurückziehen, sondern musste in der Verantwortung bleiben, bis eine Ablösung vor Ort war. 204 Auch Deutschland und die Niederlande suchten im Frühjahr 2003 jemanden, dem sie nach 6 Monaten die Führungsaufgabe übergeben konnten. 205 Für diese Aufgabe wurde ein Hauptquartier benötigt, das multinational arbeiten konnte und verlegefahig war. Und die NATO verfügte über mehrere derartige Hauptquartiere. Insofern löste die Annahme des deutschen Vorschlags im NATO-Rat dieses immer wiederkehrende Dilemma. 206 Und die NATO, der die USA Ende 2001 keine militärische Rolle zubilligen wollten, war damit doch noch "im Geschäft"- fast zwei Jahre nach 9/11. Ihre neue Rolle füllte die NATO in den folgenden Jahren zunehmend aus und wirkte aktiv an der Ausweitung von ISAF auf ganz Afghanistan mit. Dabei bestand das Problem, dass die unterschiedlichen Zielsetzungen ,,Aufstandsbekämpfung, "Stabilisierung" und "Wiederaufbau" - wie oben skizziert - im Konsens zusammengeführt werden mussten (vgl. NoetzeVScheipers 2007, S. 1). Formal und programmatisch erfolgte das auf dem Gipfel in Bukarest im April 2008. Dort 203
204
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Diese These findet sich bei z.B. bei Kornelius, der argumentierte, Außenminister Fischer hätte durch die Einbindung der NATO in den Afghanistan-Einsatz der US-Absicht zur Ausweitung von ISAF auf ganz Mghanistan entgegenkommen und Deutschland zugleich aus dem Engagement in Kabul herauslösen wollen (vgl. Komelius 2009, S. 40 f.). So hatte sich z.B. die britische Regierung bereiterklärt, ISAF ab Januar 2002 fiir 3 ca. Monate zu führen, jedoch nicht länger als bis zum 30.04.2002 (vgl. BT-Drs.14/7930, S.2). Tatsächlich konnte die Aufgabe erst am 20.06.2002 an die Türkei übergeben werden. Diese wiederum musste auch länger als sechs Monate bis zum 10.02.2003 warten, bis Deutschland und die Niederlande als Ablösung zur Verfiigung standen. Diese Vennutung basiert auch auf teilnehmender Beobachtung des Autors, der zu der Zeit eine Position in der Bundeswehr innehatte, die gewisse Einblicke in die Entscheidungsprozesse ermöglichte. So wurde im Frühjahr 2003 bundeswehrintem kurzfristig diskutiert, ob Deutschland die Führung notfalls alleine wahrnehmen könnte, da die Niederländer erklärt hatten, definitiv nach 6 Monaten abzuziehen. In der EigendarsteIlung der NATO liest sich das wie folgt: "On ll August 2003 NATO assumed leadership of the lSAF operation, tuming the six-month national rotations to an end. The Alliance becarne responsible for the command, coordination and planning of the force, including the provision of a force commander and headquarters on the ground in Afghanistan. This new leadership overcame the problem of a continual search to find new nations to lead the mission and the difficulties ofsetting up a new headquarters every six months in a complex environment. A continuing NATO headquarters also enables small countries, less likely to take over leadership responsibility, to playa strong role within a multinational headquarters." (Quelle: http://www. nato.int/cps/en/natolive/topics_8189.htm (Zugriff: 17.10.2009).
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
125
verabschiedete das Bündnis das insbesondere auch von Deutschland propagierte Konzept eines "Comprehensive Approach", 207 einer Verknüpfung der militärischen Aktivitäten mit nicht-militärischen Anstrengungen. 20S Inhaltlich entspricht das in etwa der deutschen Vorstellung einer ,,Yemetzten Sicherheit".209 Allerdings ist - wie der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General a.D. Harald Kujat anmerkte - "die NATO ... nicht in der Lage, sie (eine Comprehensive Strategy, UvK) umzusetzen. Sie verfügt weder über die notwendigen zivilen Kapazitäten, noch beabsichtigt sie, diese zu entwickelt" (Kujat 2008, S. 5). Daher kann das Bündnis sich nur um eine Koordination seiner militärischen Aktivitäten mit denen anderer Organisationen bemühen, was auch in der Eigensicht der NATO deutlich wird. 21o Die unterschiedlichen politischen Zielsetzungen sind jedoch nicht nur aufder strategischen Ebene relevant, sie haben auch Reibungsverluste in der Führung der ISAF-Operationen durch die NATO-Kommandeure vor Ort zur Folge. Denn die jeweilige nationale Politik drückt sich in rechtlichen Einsatzbeschränkungen für die nationalen Kontingente - sog. Caveats - aus. Varwick zitiert NATO-Angaben, nach denen es ca. 100 solcher Vorbehalte gibt, die sich entweder auf geografische oder operative Fragen beziehen (vgl. Varwick 2008, S. 161). Die Diskussion über 207
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Der relevante Kernsatz der Erklärung von Bukarest lautet: "This statement sets out a clear vision guided by four principles: a finn and shared long-tenn commitment; support for enhanced Mghan leadership and responsibility; a comprehensive approach by the international community, bringing together civilian and military efforts; and increased cooperation and engagement with Afghanistan's neighbours, especially Pakistan" (Quelle: Bucharest Summit Declaration v. 03.04.2008, Rervorhebung UvK, http://www.nato.int/cps/en/natolive/officiaUexts_8443. htm?selectedLocale=en (Zugriff: 18.10.2009). Der NATO-Glossar definiert Comprehensive Approach wie folgt: "Meeting today's security challenges requires a wide spectrum of civil and military instruments. This calls for regular coordination, consultation and interaction arnong all actors involved. NATO has developed a set of pragmatic proposals aimed at promoting such a Comprehensive Approach to crisis management by the International Community." (Quelle: http://www.nato.int/cps/en/natolive/topics_51633.htm (Zugriff: 18.10.2009) Das Weißbuch 2006 definiert den Begriffwie folgt: "Nicht in erster Linie militärische, sondern gesellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturellen Bedingungen, die nur in multinationalem Zusammenwirken beeinflusst werden können, bestimmen die künftige sicherheitspolitische Entwicklung. Sicherheit kann daher weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet werden." (Weißbuch 2006, S. 29) In dieser heißt es: "NATO is seeking to improve its military support to stabilization and reconstruction in all phases of a conflict. This will involve exploiting the full range of existing and planned Alliance capabilities relevant to this broad activity. lt will also require better coordination ofNATO's military efforts in this field with those ofits partners and other international and non-governmental organizations, which are the primary providers of essential civilian means to stabilization and reconstruction." (Quelle: http://www.nato.int/cps/en/natolive/topics_51633. htm; Zugriff: 18.10.2009)
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den Nicht-Einsatz u.a. deutscher Truppen für eine Operation im Süden - hier hatte der kanadische Kommandeur Verstärkung angefordert - ist ein plakatives Beispiel für diese Problematik (vgl. NoetzeVScheipers 2007, S. 1 f.). Daher hat das Bündnis allein aus Effizienzüberlegungen heraus auch ein Interesse an einer Harmonisierung der nationalen Zielvorstellungen und Einsatzregeln. Insgesamt ist festzustellen, dass der Afghanistaneinsatz im Bündnis mehr und mehr als "Schlüsselpriorität" betrachtet wurde (vgl. Varwick 2008, S. 161). Für KupferschmidtlKaim war die ISAF-Mission schon 2006 ein ,,Lackmustest" für innere Kohäsion und äußere Effizienz und Handlungsfähigkeit der Allianz, ,,(d)enn sie verkörpert in besonderer Weise den Anspruch der NATO, als globaler Anbieter von Sicherheit aufzutreten. Scheitert lSAF, darf bezweifelt werden, dass sich die Allianz in Zukunft zu vergleichbaren Einsätzen bereitfinden wird." (Kupferschmidt/K.aim 2006, S. 2)
Zwei Jahre später hatte sich an dieser Bewertung nichts geändert, als der gleiche Autor feststellte: ,,Der Einsatz am Hindukusch birgt noch immer die größten Risiken für Erfolg, Einheit und Handlungsfähigkeit des Bündnisses" (Kupferschmidt 2008, S. 2). Auch Risse unterstrich den herausragenden Stellenwert des Afghanistaneinsatzes, allerdings nicht nur für das NATO-Bündnis, sondern darüber hinaus, wenn er formulierte: ,,Es geht also in Afghanistan auch um Global Governance und um die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen sowie der internationalen Gemeinschaft insgesamt." (Risse 2007 a, S. 107)
Mithin ist das überstahlende Interesse der NATO für ISAF ein Erfolg der Mission,211 wobei sich die Erfolgskriterien nach dem Wiedererstarken der Taliban und der Ausdehnung von ISAF aufGesamt-Afghanistan immermehr weg vom Ziel einer Stabilisierung in Richtung von Aufstandsbekämpfung verschoben hat (vgl. NoetzeVScheipers 2007, S. 1). Konsequenterweise folgte das Bündnis Ende 2009 auch dem neuen militärstrategischen Ansatz der USA und beschloss auf dem Außenministertreffen am 04.12.2009 - unmittelbar nach Präsident Obamas Ankündigung einer amerikani211
Der Befehlshaber des Allied Joint Forees Command Brunssum, General Egon Ramms, wies in einem Interview mit dem Autor am 17.11.2009 (Fragen s. Anlage 3 b) jedoch daraufhin, dass es inzwischen auch gegenläufige Trends gibt. Er formulierte: ,,,Wir müssen Erfolg haben' war Gegenstand bei zwei Gipfeln, wo sich die Staats- und Regierungschefs unterhalten haben mit dem Tenor: ,diese Mission zeigt, dass die NATO lebenstlihig, auch für die Zukunft lebensfllhig ist' und dergleichen Dinge mehr. Mittlerweilen paddelt man dort ein bissehen zurück weil man - ich formuliere das mal so - gemerkt hat, dass man mit sich dieser sehr apodiktischen Forderungen möglicherweise selber einen Strick umgelegt hat, wenn es keinen Erfolg gäbe. Das heißt, damit würde man indirekt die Zukunft der NATO in Frage stellen und das will man offensichtlich auch nicht."
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
127
schen Truppenverstärkung um 30.000 Soldaten (vgl. das vorherige Kapitel) - eine Aufstockung der Truppenstärke von (zunächst) 7.000 Soldaten, die dann auf der Afghanistankonferenz im Januar 2010 auf 9.000 Soldaten erhöht wurde. 212 5.1.3.4 EU Die Reaktion der EU auf die Ereignisse des 11. September erfolgte nicht ganz so rasch, wie die der NATO. Aber immerhin kam es zunächst am 21.09.2001 - auf Initiative von Bundeskanzler Schröder2 13 - in Brüssel und danach am 19.10.2001 in Gent zu Sondertreffen des Europäischen Rats. Bei letzterem erklärten die Staatsund Regierungschef sowie der Kommissionspräsident in einer Abschlusserklärung, dass sie die Position der USA - einschließlich derer ergriffenen militärischen Maßnahmen - voll unterstützten. 214 Am Tag vor diesem Gipfeltreffen hatte Bundeskanzler Schröder in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag betont, dass die terroristische Bedrohung eine "Bewährungsprobe für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union" darstellte und dass "die diplomatischen Aktivitäten der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten ... sich zu einer schlüssigen außen und sicherheitspolitischen Gesarntstrategie zusammenfligen (müssten)."'!'
In einer Analyse der europäischen Politik in dieser Phase kam Frankenberger jedoch zum Ergebnis, dass entgegen solcher programmatischer Äußerungen und trotz der Beteuerungen, "im Angesicht des Terrors brauche es mehr ,Europa' , die Reaktionen von Gewicht nicht von Brüssel, sondern von den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten ausgingen, "wobei vor allem, und vermutlich in dieser Reihenfolge, London, Berlin und Paris die Akzente setzten". Seine Bewertung verdeutlichte er plakativ an folgender Beobachtung: ,,Es war mehr als ein Zufall, eher ein weithin wahrgeno=enes Symbol, dass sich vor dem Sondertreffen des Europäischen Rates in Gent der britische Premierminister, Tony Blair, der französische Präsident, Jacques Chirac, und der deutsche Bundeskanzler, Gerhard Schröder, im kleinen Kreis zur Vorbesprechung trafen - ohne den Ratsvorsitzenden, ohne den Ko=issionspräsidenten und ohne denjenigen, der der EU nach außen ein Gesicht geben soll." (Frankenberger 2002, S. 24)
212 213 214 215
Vgl. "NATO Secretary General welcomes results ofLondon Conference", http://www.nato.intJ cps/en/natolive/news_61 099.htrn (Zugriff: 16.02.2010). Vgl. seine Darstellung in der Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag am 19.09.2001, BT PIPr 14/187, S. 18202. Vgl. Bulletin EU 10-2001 http://europa.eu/bulletin/de/20011O/pl06084.htrn(Zugriff:01.11.2009). BT PIPr 14/195, S. 18892 f.
128
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Und als Erklärung für diese relative Bedeutungslosigkeit der EU vermutete er, es sei eine Illusion zu erwarten, "die Mitgliedstaaten der EU gäben ihre sicherheitspolitische Entscheidungsautonomie ausgerechnet in Zeiten an die BTÜsseler Institutionen ab, in denen es um Krieg und Frieden geht" (ebenda). Für diese Phase der Erstentscheidungen zu den deutschen Afghanistaneinsätzen bleibt somit festzustellen, dass die EU - wie auch die NATO - eine nur geringe Relevanz aufwies. Zwar hatte die Gemeinschaft im Rahmen eines im Februar 2001 vom Rat beschlossenen ,,Krisenreaktionsmechanismus" (der ein schnelles Eingreifen der Kommission bei der zivilen Krisenbewältigung ermöglichte) bereits im Dezember 2001 Hilfsgelder im Bereich einiger Millionen Euro bereitgestellt. 216 Dieses war aber mehr eine "technische Reaktion" der Kommission. Politisch fehlte der EU das erforderliche Maß an Geschlossenheit bzw. den europäischen Institutionen der Rückhalt aus den Hauptstädten, um als eigenständiger Akteur wahrgenommen zu werden. Ein Debattenbeitrag von Friedrich Merz in der parlamentarischen Beratung des Antrags der Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an ISAF am 22.12.2001 brachte diese Bewertung auf den Punkt. Merz führte aus: ,,Die Europäische Union hat erneut praktisch keine Rolle bei dieser für Afghanistan, aber auch für uns in Europa so wichtigen Aufgabe gespielt. leh weiß, es ist heute nicht der Tag, um über Europa zu sprechen. Aber ich möchte doch wenigstens unserer Sorge darüber Ausdruck verleihen, dass die Europäische Union von Anfang an, seit dem 11. September, bis heute auch nicht annähernd die Gemeinsamkeit aufgebracht hat, die ihrer Größe, ihrer Leistungsfiihigkeit und vor allem ihrem eigenen politischen Anspruch entspricht. "217
Gleichwohl war es - wie BrokiGresch betonen - weiterhin Zielsetzung der EU "sichtbar und nachdrücklich deutlich" zu machen, "dass sie bereit ist, auch globale Verantwortung zu übernehmen". Allerdings stellen die Autoren kritisch fest, "dass die EU bei der Bewältigung der Afghanistan-Krise militärisch keinerlei Rolle gespielt hat" (vgl. BrokiGresch 2004). Aufgrund der Defizite in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik stützte sich die EU-Kommission aufdie für sie verfügbaren Ressourcen, die vorrangig auf ökonomischem bzw. finanziellem Gebiet lagen. So stellten BrokiGresch 2004 fest, dass sich die EU durch ihr ökonomisches Engagement mit 25% der gesamten internationalen Hilfe für Afghanistan zum größten Geber entwickelt hatte, und sich darüber 216
217
Quelle: Pressemitteilung der EU vom 15.02.2002 "Die Kommission beschließt ein zweites Programm zur raschen Unterstützung der Übergangsverwaltung in Afghanistan" (dessen Umfang betrug 5,9 Mi!. €) http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/02/717&format =HTML&aged =O&language=DE&guiLanguage=en#file.tmp]oot_1 (Zugriff: 31.10.2009). BT PIPr 14/210, S. 20824.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
129
hinaus durch die Ernennung eines EU-Sonderbeauftragten auch an der Koordination der internationalen Hilfe für den Wiederaufbau Afghanistans engagierte (vgl. ebenda). 2009 bezifferte die Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner in einer Rede vor der Afghanistankonferenz in Den Haag am 31.03.2009 das Volumen der EU-Finanzierungsbeiträge seit 2002 für die Aufgabenbereiche "Governance", "Gesundheit", ,,Entwicklung der Landwirtschaft und Drogenbekämpfung" auf zusammen 1,6 Mrd. €.218 Derartige Zahlen wären jedoch dahingehend zu hinterfragen, welche Anteile davon aufdie Mitgliedsstaaten und welcher auf den Gemeinschaftshaushalt entfiel.2 19 Denn es gehört offensichtlich zur "Verkaufsstrategie" der EU, unilaterale Beiträge ihrer Mitglieder und Leistungen der Gemeinschaft in der Darstellung zu verknüpfen, um den Eindruck einer höheren Gemeinschaftsleistung zu erzeugen. 220 Neben dieser ökonomischen Fundierung des Ziels eines State- oder Nation-Building standen auch eigene, allerdings bescheidene, diplomatische Bemühungen der EU. Ein Beispiel dafür ist der Abschluss einer ,,EU-Afghanistan Joint Declaration committing to a new EU-Afghan Partnership", die am 16.11.2005 in Straßburg unterzeichnet wurde. Allerdings beinhaltete diese Erklärung keine EUspezifischen Ziele, sondern wiederholte und betonte die Zielvorstellungen anderer Internationaler Organisationen, nämlich die Unterstützung Afghanistans beim Aufbau "eines demokratischen politischen Systems, der Errichtung von verantwortlichen Regierungsinstitutionen, der Stärkung des Rechtsstaats und der Sicherung der Menschenrechte".221 Dass diese "diplomatische Initiative" praktische Konsequenzen hatte, ist nicht zu erkennen. Und dass die EU neun Monate später bei der Londoner Konferenz, die den Afghanistan Compact verabschiedete, ein Akteur unter 50 teilnehmenden
218 219
220
221
http://europa.eu/rapidipressReleasesAction.do?reference=SPEECHl09/16l&fonnat=HTML&a ged =0 &language=EN&guiLanguage=en (Zugriff: 01.11.2009). Für 2003 lag z.B. der Gesamtbetrag von Mitgliedstaaten und Gemeinschaftshaushalt bei 835 Mio. €, wobei 300 Mio. € aus dem Gemeinschaftshaushalt stammten (vgl. Brok/Gresch 2004, S.17). Ein weiteres Beispiel für diese PR-Strategie ist eine Rede des High Representative for the Comman Foreign and Security Policy, Janvier Solana, bei der Mghanistan Konferenz in Den Haag am 31.03.2009, in der er ausführte: "Solutions in Mghanistan will be political, not military. For that reason, the European Union's effort there is of a comprehensive nature: while EU Member States have some 27 000 soldiers on the ground in the framework ofISAF, the European Union will continue 10 focus its activities largely on governance and the rule of law. Building capacity for the Afghan Government and providing for Afghan ownership ofthe process at all levels will allow the government 10 deliver essential services to its citizens and will enable it 10 direct1y challenge immediate security threats." (http://www.consilium.europa.eu/uedocslcms_data/docs/ pressdata/EN/discours/l07019.pdf; Zugriff: 09.11.09) Quelle: http://register.consilium.europa.eu/pdf/en/05/st14/st14519.en05.pdf (eigene Übersetzung) (Zugriff: 01.11.2009).
130
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Staaten und 10 Organisationen war, unterstreicht ebenfalls ihre stark zu relativierende diplomatische Bedeutung. Ab 2007 kam ein weiteres besonderes Engagement der EU hinzu, die Unterstützung Afghanistans durch Aufstellung der europäischen Polizeimission EUPOL. Diese ist Teil der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Ziel der ESVP ist es - nach einer Darstellung des Auswärtigen Amtes222 - im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ,,Europas Handlungsfähigkeit im zivilen und militärischen Krisenmanagement zu gewährleisten. Um dieses Ziel zu realisieren, unterstützt EUPOL Afghanistan in Kooperation mit der internationalen Gemeinschaft die afghanische Regierung bei der Weiterentwicklung und Umsetzung einer kohärenten und umfassenden Strategie flir Polizeireform. "223
Mithin bleibt festzuhalten: das Interesse der EU im Zusammenhang mit Afghanistan war die Entwicklung von politischer und militärischer Handlungsfähigkeit als eigenständiger Akteur. Mangels nennenswerter Fähigkeiten im militärischen Bereich stützt sich die Zielerreichung ausschließlich auf nichtrnilitärische Instrumente. Die EU ist damit in gewisser Weise komplementär zur Zielerreichung der NATO aufgestellt, der gerade diese Ressourcen fehlen. Aus dieser Komplementarität ergeben sich ggf. Einflüsse auf die deutschen Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen, wobei die Relevanz der EU sich erst im Laufe der Jahre entwickelte - auch eine Parallelität zur NATO.
5.1.4 Deutsche Zielvorstellungen 5.1.4.1 Kriterien fürAuslandseinsätze Die Entscheidungsgrundlagen für eine deutsche Beteiligung an Auslandseinsätzen sind erst seit der Mitte des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert intensiver diskutiert worden. Bis 2001, dem Jahr der ersten Afghanistanentscheidungen, gab es in der Politik zwar eine Reihe von Negativaussagen, wo deutsche Soldaten "nie-
222 223
Quelle: Auswärtiges Amt http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/ RegionaleSchwerpunkte/MghanistanZentralasien/Polizeiaufbau-EUPOL.html (Zugriff: 01.11.2009). In der Gemeinsamen Aktion 2007/369/GASP des Rates vom 30.05.2007 heißt es: ,,EUPOLAFGHANISTAN trägt wesentlich dazu bei, dass unter afghanischer Eigenverantwortung tragfähige und effiziente Strukturen der Zivilpolizei geschaffen werden, die ein angemessenes Zusammenwirken mit dem weiter gefassten System der Strafrechtspflege im Einklang mit der Arbeit der Gemeinschaft, der Mitgliedstaaten und anderer internationaler Akteure auf dem Gebiet der politischen Beratung und des Institutionenaufbaus sicherstellen werden. Darüber hinaus wird die Mission den Reformprozess mit dem Ziel unterstützen, dass eine vertrauenswürdige und effiziente Polizei aufgebaut wird, die nach internationalen Standards im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit arbeitet und die Menschenrechte achtet." (Amtsblatt L 139/33 v. 31.05.2007)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
131
mals" hingehen sollten. 224 Positivaussagen, also der Versuch, solche Kriterien aus deutschen außenpolitischen Interessen abzuleiten, waren eher sporadisch und gingen kaum über die Betonung der internationalen Einbindung deutscher Streitkräfte bei allen Einsätzen hinaus. 225 Aber diese Maxime war nur ein sehr rudimentäres Kriterium für Einsätze von Streitkräften. Noch 2004 wies Gregor Schöllgen auf eine konzeptionelle Lücke hin: "Um so dringlicher sind überzeugende Antworten auf die eigentlich entscheidende Frage: Wann, mit welchen Mitteln und unter welchen Bedingungen, gegebenenfalls auch mit welchen Verbündeten will Europa in welchen Regionen einschreiten, um fiir seine eigene Hemisphäre Frieden, Freiheit und Wohlstand zu sichern?" (Schöllgen 2004, S. 16)
Rolf element drückte - ebenfalls 2004 - die fehlende konzeptionelle Fundierung der Auslandseinsätze in dem prägnanten Satz aus: 224
225
Kühne titelt in einem Kapitel eines Beitrags zu der Problematik "Wir gehen hin, wohin wir nicht gehen wollten" (Kühne 2007, S. 25). Als Belege fiir diese plakative Formulierung nennt er folgende Beispiele: Beteiligung an den UN- und EU- Missionen im Sudan, in Namibia und im Kongo, obwohl nach dem Somaliaeinsatz 1994 die Devise gegolten hatte "Nie wieder Afrika"; Beteiligung an den Einsätzen auf dem Balkan und in Georgien, obwohl Bundeskanzler Kohl die Doktrin formuliert hatte, ,,Deutschland schickt keine Soldaten in Gebiete, die während des Dritten Reichs von den Deutschen besetzt waren"; Beteiligung an der EU-Mission vor der Küste des Libanon, obwohl es als Maxime galt, "deutsche Soldaten haben in der Nähe Israels und damit im Nahen Osten nichts zu suchen" (vgl. Kühne 2007, S. 25 ff.). Kühne referiert unter Bezugnahme auf Gespräche mit Akteuren, dass 1994 zwar zwischen den Planungsstäben des Bundesverteidigungsministerium und des Auswärtigen Amts Überlegungen zur Formulierung von Leitlinien fiir "Einsätze der Bundeswehr außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung: politische und militärische Kriterien und Verfahren" angestellt und in einer Diskussionsrunde der DGAP kritisch erörtert worden waren, jedoch zu keinem offiziellen Ergebnis führten (Kühne 2007, S. 31). Im Weißbuch 1994 wurde unter der Überschrift "Werte und Interessen" postuliert, die Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands werde von fünf zentralen Interessen geleitet: (1) der Bewahrung von Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt der Bürger Deutschlands und der Unversehrtheit seines Staatsgebiets; (2) der Integration mit den europäischen Demokratien in der Europäischen Union; (3) dem dauerhaften, auf eine Wertegerneinschaft und gleichgerichtete Interessen gegründeten transatlantischen Bündnis mit den Vereinigten Staaten als Weltmacht; (4) einer auf Ausgleich und Partnerschaft bedachten Heranfiihrung unserer östlichen Nachbarn an westliche Strukturen und der Gestaltung einer neuen, alle Staaten Europas umfassenden kooperativen Sicherheitsordnung; (5) der weltweiten Achtung des Völkerrechts und der Menschenrechte und einer auf marktwirtschaftlichen Regeln basierenden gerechten Weltwirtschaftsordnung (Weißbuch 1994, S.42). Meyer nimmt an, dass "Vorlage" fiir diese Auflistung eine Formulierung von ,,nationalen Interessen" bei Hacke war (vgl. Meyer 2007, S. 8, der sich auf die Neuauflage von Hackes Buch "Weltmacht wider Willen" von 1993 bezieht). Und auch im Bericht der "Weizsäckerkornmission" von 2000, einem der umfassendsten konzeptionellen Dokumente zur Bundeswehr jener Zeit, findet man auf 179 Seiten kein Wort über Kriterien fiir Auslandseinsätze. Die Abhandlung deutscher Interessen erörtert vorrangig den Aspekt, dass alle denkbaren Einsätze nur gemeinsam mit Verbündeten im Rahmen von NATO, OSZE, EU oder VN stattfinden werden (Weizsäckerkornmission 2000, S. 26 ff.).
132
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
"Nicht alle Einsätze entsprachen der Interessenlage Deutschlands, und dort, wo die Einsätze von der Interessenlage her geboten erschienen, wurden sie abgelehnt." (element 2004, S. 44 f.)
Aus dieser Skizze des konzeptionellen Diskussionstandes um die Jahrtausendwende ist nur eine Schlussfolgerung möglich: für die empirische Analyse der ersten Afghanistanentscheidung fehlten hinreichend klare Kriterien, an denen man die Zielgerichtetheit des Akteurshandeln messen könnte. Nachdemjedoch in den Folgejahren die "Ernüchterung im Hinblick aufDauer, Wirksamkeit und Perspektiven von Auslandseinsätzen" wuchs (Nachtwei 2007, Vorspann), entwickelte sich zögerlich ein Diskurs, innerhalb dessen solche Kriterien - nicht auf den Einzelfall bezogen, sondern abstrakt - entwickelt wurden. 226 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden eine "Schnittmenge" verschiedener Kriterienkataloge skizziert werden, die in der Literatur bzw. politischen Diskussion zu finden sind. Dabei wird im Wesentlichen einer Gruppierungssystematik von Perthes gefolgt (Perthes 2007), der die PfÜffragen nach vier Bereichen ordnet: 1. 2. 3. 4.
Mandatierung und Legitimität eines Einsatzes, Erfolgsaussichten und Risiken eines Einsatzes, mögliche Dynamiken einer Krise sowie deutsche Interessen und Ziele deutscher Politik.
In diese Systematisierung sollen auch Kriterien aus anderen Kriterienkatalogen integriert werden. Mair betonte zu Recht, dass Kriterien aus nationalen Interessen abzuleiten wären und damit der schon diskutierten Definitionsproblematik unterliegen. Er schreibt: ,,Da sich der abstrakte Konsens über nationale Interessen nur schwer auf allgemeine Entscheidungsregeln herunterbrechen oder in Prioritätenlisten übersetzen lässt, können Interessen nur diskursiv bestimmt werden. Hans MauIl ist in seiner Einschätzung zuzustimmen, dass ,Diskurse um ... in der Regel Teil des politischen Ringens um Gestaltungsrnacht' sind. Z27 Das spricht allerdings nicht dagegen, dass solche Interessen in Bezug aufAuslandseinsätze klar definiert werden sollten, sondern eher dafür ... Problematisch ist der Verweis auf nationale Interessen nur dann, wenn diese erst in die Debatte eingebracht werden, nachdem die eigentliche Entscheidung schon gefallen ist." (Mair 2007 a, S. 18)
Die erste Gruppe von PfÜffragen bezieht sich auf die Mandatierung eines Einsatzes und damit vor allem auf seine Legitimität.228 Hier spielt u.a. die Problematik 226 227
228
Vgl. flir einen überblick der verschiedenen Kriterienkataloge Mair 2007, S. 11. Originalfußnote Nr. 12: "Hanns W. Maull: "Nationale Interessen! Aber was sind sie? Auf der Suche nach Orientierungsgrundlagen flir die deutsche Außenpolitik". In Internationale Politik, 61 (Oktober 2006) 10, S. 62-76 (76)". Mair erweitert den Begriff auf "Legalität und Legitimität" und weist damit auf die Kontroverse darüber hin, was die in der völkerrechtlichen Diskussion strittigen Begriffe "Bedrohung des
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
133
der Selbstmandatierung - wie im Kosovokrieg - eine Rolle. In diesen Kontext gehört für Perthes auch die Qualität des Mandats, ob es also den Notwendigkeiten des Einsatzes entspricht (vgl. Perthes 2007, S. 17 f.). Nachtwei formuliert in diesem Zusammenhang explizit das Kriterium, ob ein Einsatz den Multilateralismus stärkt (vgl. Nachtwei 2007, Kriterium 4). Die zweite Gruppe von Prüffragen bezieht sich auf die Erfolgsaussichten und Risiken eines Einsatzes (vgl. Perthes 2007, S. 18 f.). Hier geht es zunächst um das Verhältnis von Zielen und Mitteln. Gefragt wird, ob die erforderlichen personellen, materiellen und finanziellen Mittel bereitstehen und ob die Zielsetzung überhaupt realistisch ist. Letzteres beinhaltet auch die Frage, ob der Einsatz nicht aus sich selbst heraus eskalierend wirkt. 229 Schockenhoffnennt als ergänzendes Kriterium die Frage, ob die Einsatzregeln (Rules of Engagement - RoE) so gestaltet sind, dass das Mandat voll erfüllt wird (vgl. Schockenhoff2006, Kriterium 6). Ein detaillierterer Kriterienkatalog der Kommission "Europäische Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr" am Institut für Friedensforschung und Sicherheit Hamburg (IFSH) enthält die PfÜffrage, ob eine vollständige Ausschöpfung des nicht-militärischen Instrumentariums gegeben sei (vgl. Kommission Europäische Sicherheit 2007, S. 153). Auch wenn dieses Kriterium einer pazifistischen Grundposition entspricht, die der Autor dieser Studie in der Schärfe der Formulierung nicht teilt,230 so kann man das Kriterium in abgeschwächter Form in die PfÜffrage umwandeln, ob militärische und nicht-militärische Instrumente in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Diese Prüffrage ist so oder ähnlich in nahezu allen anderen Katalogen zu finden. Der Katalog des IFSH beinhaltet in diesem Zusammenhang auch die Fragen, ob von vornherein ein klarer Auftrag für einen Einsatz formuliert ist, der die Ziele eindeutig festlegt, und ob eine Exitstrategie bzw. - für den Fall eines Scheitems 229
230
internationalen Friedens" und "responsibility to protect" beinhalten (Mair 2007, S. 11 ff.). Perthes formuliert: "Ohne dies (die Übergabe der Aufgaben der Stabilisierung an lokale Sicherheitskräfte, UvK) nimmt nämlich die Gefahr zu, dass allein die Präsenz der ausländischen Truppen selbst immer wieder Gründe flir eine Verlängerung des Einsatzes schallt. Das liegt nicht nur daran, dass ausländische Soldaten gelegentlich auch dann als Besatzer betrachtet werden, wenn sie sich selbst nicht als solche verstehen und sich möglicherweise gewaltsamen Aufständen gegenübersehen, zu deren Bekämpfung dann noch mehr Soldaten angefordert werden." (perthes 2007, S. 18 f.) Die Kommission formuliert: ,,Der Einsatz militärischer Mittel ist als Maßnahme überhaupt erst dann in Erwägung zu ziehen, wenn sämtliche nichtmilitärischen Instrumente am Ende eines sorgfältigen, gewissenhaften Prüfungsprozesses sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene eindeutig als unzureichend angesehen werden müssen und der Einsatz militärischer Mittel mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist." (Kommission Europäische Sicherheit 2007, S. 153) Ähnlich formuliert auch Nachtwei in seinem Katalog, allerdings nicht so ausschließlich. Er fordert, ,,keinen Vorrang militärischer ,Lösungen', die eine Illusion sind" (vgl. Nachtwei 2007, Kriterium 7).
134
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
- eine Evakuierungsvorsorge vorliegen. 231 Nachtwei ergänzt das Kriterium der "Übereinstimmung von offiziellen Zielen und tatsächlichen Interessen" (Nachtwei 2007, Kriterium Nr. 6). Der dritte Fragenkomplex bei Perthes bezieht sich auf die möglichen Dynamiken einer Krise. Hier sieht er die Prüffrage, ob es sich um eine begrenzte Auseinandersetzung handelt, die durch eine lokale oder regionale Krisenintervention gelöst werden kann, oder ob eine Entgrenzung mit regionaler oder sogar globaler Ausweitung droht (vgl. Perthes 2007, S. 19 f.). Die vierte Gruppe von Prüffragen bezieht sich auf die deutschen Interessen und die Ziele deutscher Politik (vgl. ebenda, S. 20 f.) und führt damit zur zentralen Fragestellung, an welchen Einsätzen sich Deutschland beteiligen solle. Mair wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine maximalistische Antwort auf diese Frage lauten könnte: "Da internationaler Frieden und Sicherheit öffentliche Güter sind, die nur dann bereitgestellt werden können, wenn sich nicht alle Staaten im Falle der Bedrohung dieser Güter passiv verhalten, sollte sich Deutschland an allen UN-mandatierten Militäreinsätzen beteiligen." (Mair 2007 a, S. 12 f.)
Da dieses jedoch offenkundig unrealistisch ist, folgerte er, dass jeder Einsatz u.a. daraufhin überprüft werden müsse, welche Bedeutung er für die Partner Deutschlands in EU und NATO hat, was eine Nichtbeteiligung bedeute und welche deutschen Werte und Interessen berührt seien (ebenda, S. 13). Das IFSH spricht von der "sicherheitspolitischen Konsistenz" eines Einsatzes (Kommission Europäische Sicherheit 2007, S. 153). In Perthes Gruppierung nicht einzuordnen sind einige Prüffragen aus anderen Katalogen, die sich auf die innenpolitische Einordnung von Auslandseinsätzen beziehen. Das IFSH nennt explizit die innenpolitische Akzeptanz und die Gewährleistung der Parlamentsbeteiligung nach dem ,,Parlamentsheer-Postulat" (vgl. Kommission Europäische Sicherheit 2007, S. 154). Ein Katalog der CSULandesgruppe ergänzt als Leitlinie die fortlaufende Überprüfung jeden Einsatzes, aus der die Forderung nach einer regelmäßigen Berichterstattung der Bundesregierung und einer Aktualisierung des politischen Gesamtauftrags entsprechend der Entwicklung des militärischen Auftrags abgeleitet wird (CSU 2007, Leitlinie 9). Tabelle 2 listet alle Kriterien noch einmal im Überblick auf.
231
Die beiden letzten Fragen sind bei Perthes in der Gruppe 4 (deutsche Interessen und Ziele) eingeordnet.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
135
Tabelle 2: Gruppierte Kriterien für Auslandseinsätze Gruppe
Kriterien Liegt ein Mandat der VN vor? Mandatierung Liegt ein Mandat einer anderen Organisation vor (NATO, EU)? und Legitimität Stärkt der Einsatz den Multilateralismus? Entspricht das Mandat den Notwendigkeiten des Einsatzes? Ist die Zielsetzung des Einsatzes realistisch und klar formuliert? Sind die RoE so gestaltet, dass das Mandat voll erfllllt wird? Stehen die erforderlichen personellen, materiellen und finanziellen Mittel beErfolgsaussichten reit? und Risiken Stehen militärische und nichtmilitärische Instrumente in einem ausgewogenen Verhältnis? Sind eine Exitstrategie und - flir den Fall des Scheitems - eine Evaknierungsstrategie formuliert? Dynamiken des Kann der Konflikt durch lokale oder regionale Intervention gelöst werden oder Einsatzes droht die Gefahr einer regionalen/globalen Entgrenzung? Deutsche InterWelche Bedeutung hat der Einsatz flir die Partner Deutschlands in EU und essen und Ziele NATO? deutscher Welche Bedeutung hat eine deutsche Beteiligung (oder Nichtbeteiligung)? Politik Welche deutschen Werte und Interessen sind berührt? Ist eine innenpolitische Akzeptanz flir den Einsatz gegeben? Ist die Parlamentsbeteiligung nach dem ,,Parlamentsarmee-Postulat" gegeben? Sonstige Kriterien Gibt es eine regelmäßige Berichterstattung der Regierung gegenüber dem Parlament und ggf. ein "Nachjustieren" des politischen Gesamtauftrags entsprechend der Entwicklung des militärischen Auftrags? Quelle:
eigene Zusammenstellung (Schema in Anlehnung an Perthes 2007 unter Ergänzung von Kriterien bei Kommission Europäische Sicherheit 2007, Nachtwei 2007, Schockenhoff2006, CSU2007).
5.1.4.2 Vager politischer Zweck bei den Erstentscheidungen für OEF und ISAF 200112002 Der erste Afghanistaneinsatz - die Beteiligung an OEF - wurde am 16.11.2001 vom Deutschen Bundestag beschlossen. Der Antrag der Bundesregierung datierte vom 07.11.2001. Er umriss den politischen Zweck der deutschen Beteiligung an OEF als Beteiligung an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, dem "die Grundlagen für die Vorbereitung und Durchführung von terroristischen Handlungen ...entzogen werden (müssen)".232 Für den gesamten Einsatz, der nahezu "weltweit" ausgelegt war,233 war das eine plausible Zwecksetzung. Das OEF-Mandat bezog sich allerdings nur zum kleinsten Teil auf Afghanistan. Bei einem Gesamtumfang der deutschen Beteiligung von bis zu 3.900 Soldaten waren lediglich 100 Soldaten der Spezialkräfte
232 233
BT Drs 14/7296 vom 07.11.2009, S. 2. Im Antrag der Bundesregierung heißt es: "Einsatzgebiet ist das Gebiet gemäß Artikel 6 des Nordatlantikvertrags, die arabische Halbinsel, Mittel und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete." (BT Drs 14/7296 vom 07.11.2001, S. 4.)
136
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
für den Einsatz in Afghanistan vorgesehen. Inwiefern der formulierte Zweck dafür Sinn machte, ist diskussionswürdig. Die (militärische) Zielsetzung - im Mandat als "Auftrag" bezeichnet - war die Bekämpfung von Terroristen. Im Antrag der Bundesregierung vom 07.11.2001 heißt es dazu unmissverständlich: ,,Diese Operation hat zum Ziel, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten. "234
Allerdings wurde schon in der Plenardebatte zum Beschluss des Mandats im Deutschen Bundestag diese klare Aussage relativiert. Die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90IDie Grünen, Kerstin Müller, führte z.B. aus: "Wichtig ist jetzt die Sicherung der humanitären Hilfe und des Wiederaufbaus sowie die Aufrechterhaltung der Ordnung inAfghanistan. Darüber hinaus stehen verstärkte direkte Antiterrormaßnahmen gegen das terroristische Netzwerk Bin Ladens im Vordergrund. Genau darum wird es auch bei dem deutschen Beitrag gehen. Er dient überwiegend humanitären Zwecken. (Zwischenruf Wolfgang Gehrcke [PDS]: Das ist ja unglaublich!) Die Spezialk:räfte haben quasi polizeilich-militärische Aufgaben. "235
Es ist hier festzuhalten, dass bereits in diesem frühen Stadium der Beginn einer ,,Beschönigung" des Charakters des Einsatzes zu finden ist, für die das Zivilrnachtdenken als wesentlicher Bestandteil der deutschen Außenpolitiktradition ursächlich sein dürfte. Hieraufwird im Kapitel 4.3.2.3. näher eingegangen. Diese Zielsetzung ,,Bekämpfung" findet sich in allen nachfolgenden Mandaten wieder, wobei allerdings ab 2004 in den Anträgen der Bundesregierung zunehmend darauf abgehoben wird, dass "neben militärischen Mitteln vor allem auch politische, entwicklungspolitische und polizeiliche Instrumente" genutzt werden. 236 Eine weitergehende Präzisierung von Zielsetzung, Rahmenbedingungen, Einsatzdauer - dass die im Mandat enthaltenen (zunächst) 12 Monate ausreichend sein könnten, glaubte sicher niemand - und Exit-Bedingungen bzw. einer Exit-Strategie, wie es bei der Zugrundelegung von Kriterien, wie oben erläutert, eigentlich geboten gewesen wäre, enthielt das Mandat nicht. In der Debatte um das Mandat wurde dieses zwar von der PDS-Fraktion angemahnt, als deren Vorsitzender, Roland Claus, ausführte:
234 235 236
BT Drs 14/202 vom 16.11.2001 , S. 3. BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19868. BT Drs 15/4032 vom 27.10.2004, S. 2, in gleichem Sinne auch BT Drs 16/26 vom 03.11.2005, S. 2, 16/3150 vom 25.10.2006, S. 2,16/6936 vom 07.11.2007, S.2.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
137
,,Mit dem heutigen Beschluss sind wir aufdem Weg in ein unkalkuliertes militärisches Abenteuer. Sie können die einfachsten Fragen, die TImen die BÜfgerinnen und Bürger in diesem Lande stellen, nicht beantworten. Wohin sollen deutsche Soldaten gehen? Wie lange soll der Einsatz dauern? Was sind die konkreten Aufgaben? Was sind die Ziele des Kampfes? Wann sind sie erreicht? Wann ist der Einsatz abgeschlossen?"237
Die Debatte nahm diese Fragenjedoch nicht auf, sondern beschäftigte sich vielmehr weit überwiegend mit der Tatsache, dass der Bundeskanzler die Sachabstimmung über das Mandat mit der Vertrauensfrage verknüpft hatte. Der ehemalige Abgeordnete Manfred Opel (SPD) charakterisierte die Debatte wie folgt: ,,Es ging also bei dieser Frage durch die parlamentarischen Gegebenheiten (knappe Mehrheit in der Koalition) vor allem um ein billiges parlamentarisches Show-Down, das durch die Presse noch mächtig angeheizt wurde. Die Sachfragen traten darüber bedauerlicherweise in den Hintergrund."238
Welche Motivation lag dieser Bestimmung von Zweck und Ziel der deutschen Beteiligung an OEF zu Grunde? Der Antrag der Bundesregierung nahm explizit Bezug aufdie Beschlüsse des Deutschen Bundestages vom 19.09.2001, in dem dieser die uneingeschränkte Solidarität mit den USA bekräftigt und die Bereitstellung geeigneter militärischer Fähigkeiten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus in Aussicht gestellt hatte. 239 Der Bundeskanzler führte in der Debatte aus, dass die Bereitstellung deutscher Streitkräfte "nach einer Anforderung der Vereinigten Staaten" erfolge, und formulierte die dominierende Motivation der Bundesregierung zur Beteiligung an OEF: "Wir erflillen damit die an uns gerichteten Erwartungen unserer Partner und wir leisten das, was uns objektiv möglich ist und was politisch verantwortet werden kann. Aber mehr noch: Durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt nach. Wir müssen erkennen: Nach den epochalen Veränderungen seit dem Herbst 1989 hat Deutschland seine volle Souveränität zurückgewonnen. Es hat damit aber auch neue Pflichten übernommen, an die uns die Verbündeten erinnern. Wir haben kein Recht, darüber Klage zu fUhren. Wir sollten vielmehr damit zufrieden sein, dass wir seit den epochalen Veränderungen 1989 gleichberechtigte Partner in der Staatengemeinschaft sind."240
Wenn man den "Roten Faden" der Argumentation in der Plenardebatte zu Grunde legt, war das überstrahlende Motiv der deutschen Beteiligung an OEF Solidarität mit
BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19870. Schriftliche Antwort vom 12.09.2009 auf den Fragenkatalog für Vorsitzende und Obleute des AuswlirtigenAusschusses und des Verteidigungsausschusses (Anlage 3 a, Frage 1). 239 Vgl. Kap5.1.2.2. 240 BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19857. 237 238
138
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
den USA.241 Dieses wird auch in der Literatur so festgestellt (vgl. zR Naumann 2008, S. 8242). Die Beteiligung erfolgte im Rahmen einer Koalition, die sich aufArt. 51 der VN-Charta berief, auf den sowohl die Resolutionen 1368 vom 12.09.2001 und 1373 vom 28.09.2001 als auch der Antrag der Bundesregierung Bezug nahmen. 243 Damit handelte es sich formal um eine multilateralistisch geprägte Entscheidung, die allerdings unter dem starken Einfluss des Hegemons USA stand. Dieses spiegeln auch die meisten Antworten wider, die von Abgeordneten bzw. ehemaligen Abgeordneten auf den Fragenkatalog für Vorsitzende und Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses gegeben wurden (Anlage 3 a, Frage 1).244 241
242 243 244
Die Abgeordnete Andrea Nah1es (SPD) brachte es in einer durchaus kritischen Rede auf den Punkt, als sie formulierte: ,,Auf die Frage des Einsatzes von Militär habe ich in diesen Tagen keine bessere Antwort gefunden als die von Erhard Epp1er: ,Militär ist gefragt, wo die Polizei überfordert ist.' Ich flige an: Militär ist gefragt, aber aufZeit und mit einem klar umrissenen Ziel. Militär hat eine dienende Funktion, eingebettet in eine politische Strategie. Deshalb sage ich Ja zur uneingeschränkten Solidarität mit dem amerikanischen Volk. Das ist aber nicht gleichbedeutend mit einer bedingungslosen Unterstützung der amerikanischen Militärstrategie." (plPr 14/202, S. 19884, Hervorhebung UvK). Naumann schrieb: ,,Die deutsche Beteiligung ... stand unter dem programmatischen Vorzeichen ,uneingeschränkter Solidarität'." BT Drs14/7296 vom 09.11.2001, S. 1 f. So formulierte z.B. ehemalige Abgeordnete Helmut Lippe1t (Bündnis 90IDie Grünen): "Auch die Rede von ,unseren Interessen, die wir am Hindukusch zu verteidigen hätten', hielt ich flir eine argumentative ,Hi1fsk:rücke'. Worum es ging, war, die tiefe Verletzung des amerikanischen Selbstbewußtseins zu verstehen ... und dann zu reagieren darauf: dass die amerikanische Regierung den Verteidigungsfall erklärte und die NATO um Hilfe im Rahmen des Bündnisses ansprach." (schriftliche Antwort vom 12.10.2009) Der Vorsitzende der Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Fraktion, Bernd Siebert, antwortete: ,,zum einen war ersttnals in der Geschichte der NATO der Bündnisfall nach Artikel V des NATO-Vertrages festgestellt worden. Insofern waren alle Bündnispartner angehalten, Unterstützung zu leisten. Dies galt auch flir Deutschland. Zum anderen haben wir uns natürlich solidarisch mit den USA geflihlt." (schriftliche Antwort vom 30.09.2009) Der ehernalige Abgeordnete Winfried Nachtwei (Bündnis 90IDie Grünen) äußerte: "Für die Bundesregierung war ausschlaggebend/zwingend die Solidarität mit den USA; unsere grüne Fraktion sah das Solidaritätsgebot auch, aber keineswegs,uneingeschränkt' ." (schriftliche Antwort vom 16.11.2009) Und der ehemalige Abgeordnete Manfred Ope1 (SPD) stellte fest: ,,Lediglich indirekte Interessen (Bündnis-Solidarität und vor allem Solidarität mit Amerika) galten als hinreichende Begründung flir den Einsatz deutscher Streitkräfte. . .. Man wollte mit der Entscheidung vor allem den U.S.A. signalisieren, dass man ein trener Bündnis-Partner ist, der willens ist, ein Stück der in der Vergangenheit und vor allem während des deutschen Einigungs-Prozesses erwiesenen treuen und nachdrücklichen Unterstützung zurückzugeben. Das war eindentig das dominante Argument. Eine Exit-Über1egung oder gar eine Exit-Diskussion fand nicht statt; geschweige denn gab (und gibt) es eine Exit-Strategie. Ein ,Ausstiegs-Szenario' wurde noch nicht einmal angeregt." (schriftliche Antwort vom 12.09.2009)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
139
In der Debatte um die OEF-Beteiligung - bzw. um die Vertrauensfragespielte allerdings die Frage der Legitimation durch die VN nur eine untergeordnete Rolle. So stimmte die Abgeordnete Andrea Nahles (SPD) der Einschätzung der Bundesregierung zu und stellte fest, dass der "UNO-Sicherheitsrat ... jetzt, im Gegensatz zum Kosovo-Einsatz, den USA einstimmig das Recht auf Selbstverteidigung zugebilligt (hat). "24'
Demgegenüber bemängelte die Abgeordnete Sylvia Voß (Bündnis 90IDie Grünen): ,,Meiner - und nicht nur meiner Ansicht nach - sind die Kriegshandlungen der USA trotz der UN-Resolutionen vom 12. und vom 28. September 2001, die sich speziell auf die Terrorismusbekämpfung beziehen, nicht von Art. 51 der UN-Charta gedeckt. Insofern kann das Völkerrecht in diesem Fall nicht zur Legitimation herangezogen werden. "246
Einen weiteren Diskurs über diese eigentlich zentrale Frage gab es nicht. Auch in den Debatten um die Mandatsverlängerungen der Folgejahre war die Frage der Legitimation immer nur ein Randthema. 247 Sie schien von allen akzeptiert zu sein, selbst die Fraktion der PDS bzw. der Linken argumentierte nicht mit prinzipiell fehlender Legitimation von OEF. Dieser Befund einer Dominanz der multilateralistischen Einflüsse bei der OEF-Entscheidung gilt auch für die knapp fünf Wochen später erfolgte Erstentscheidung für die Beteiligung an ISAF. Ihr lag ein Antrag der Bundesregierung vom 21.12.2001 zu Grunde. Am 22.12.2001 wurde dieser im Deutschen Bundes-
245 246 247
Der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose, der den Fragebogen nicht beantwortet hatte, erklärte anlässlich der Plenardebatte zur Mandatsverlängerung 2009: "Wir müssen uns jedes Mal der Gründe vergewissern, warum wir in Afghanistan sind und bleiben wollen. Ich wiederhole sie: einmal, weil seinerzeit ein deutscher Bundeskanzler nach den Anschlägen von 9/11 den Amerikanern uneingeschränkte Solidaritätversprochen hat - ich gebe zu, ich habe damals bei dem Adjektiv ,uneingeschränkt' etwas gezuckt, aber ich habe nicht widersprochen -, zum anderen, weil die deutsche Bundesregierung auf der von ihr organisierten Petersberg-Konferenz dem afghanisehen Volk Hilfe bei der Stabilisierung und beim Wiederaufbau des Landes versprochen hat." (BT PlPr 17/9 vom 03.12.2009, S. 669) BT PIPr 14/202 vom 16.12.2001, S. 19848. BT PIPr 14/202 vom 16.12.2001, S. 19911. So wurde in der Debatte 2005 (BT PIPr 16/02 vom 08.11.2005) die Legitimation durch die Sicherheitsratsresolutionen noch einmal von mehreren Rednern unterstrichen - so z.B. von den Abgeordneten Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen, S. 49 f.) und Christian Schmidt (CDU/ CSU, S. 52), nachdem der Abgeordnete Oskar Lafontaine (Die Linke) erklärt hatte: "Spätestens seit der flächendeckenden Bombardierung afghaniseher Städte und Dörfer durch die Vereinigten Staaten, bei der viele Tausende unschuldiger Menschen ums Leben kamen, ist die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe ebenso völkerrechtswidrig wie die Beteiligung Deutschlands am Jugoslawienkrieg und am Irakkrieg." (PlPr 16/02 vom 08.11.2005, S. 48)
140
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
tag debattiert und gebilligt. Allerdings kam bei dieser Entscheidung mutmaßlich ein weiteres - eher kurzfristiges - Motiv der Bundesregierung hinzu: Deutschland hatte - aufBitten der VN - die Afghanistan-Konferenz vom 27.11.05.12.2001 aufdem Petersberg bei Bonn ausgerichtet. Sie stand unter Leitung des VN-Sonderbeauftragten Brahimi und erreichte mit dem Abschluss eines Abkommens einen Erfolg. 248 Dieser wurde international gebührend anerkannt, und die Bundesregierung - obwohl nur Gastgeber der Konferenz249 - war bemüht, an dem Erfolg zu partizipieren und ihn auszuweiten. Tatsächlich verbuchte sie auch einen internationalen Prestigegewinn. Für Christian Hacke markierte die Unterzeichnung des Petersberg-Abkommens sogar "einen Höhepunkt außenpolitischen Ansehens der Regierung SchröderlFischer" (Hacke 2005, S. 9). So kam es zu einer frühzeitigen Festlegung des Bundeskanzlers, dass Deutschland sich an der geplanten Internationalen Schutztruppe beteiligen würde25° - eine Absichtserklärung, die eine nahezu einhellige positive Kommentierung in Politik und Öffentlichkeit fand (vgl. Freuding 2007, S. 72). Auf die innenpolitische Komponente der Petersberg Konferenz verwies eine Kommentierung von Nikolaus BIome in der "Welt" am 05.12.2001, in der es hieß: "Und Deutschland wird nicht abseits stehen können, sondern Truppen fiir die UND aufbieten müssen - erst recht, nachdem die Lorbeeren fiir eine halbwegs geglückte Konferenz innenpolitisch hoch willkommen waren und sogleich verwertet wurden."2Sl 248 249
250
251
"Vereinbarung über provisorische Vorkehrungen in Afghanistan bis zur Wiedererrichtung dauerhafter Regierungsinstitutionen" vom 05.12.2001. Freuding wertete dieses anders, wenn er schrieb, dass der deutsche Beitrag zum Petersberg Abkommen "deutlich über die Wahrnehmung der Gastgeberfunktion hinausging". Dabei nahm er Bezug aufdie Rolle Deutschlands in den VN, die er "als einer der Hauptakteure der AfghanistanPolitik der Weltorganisation" qualifizierte. So war Deutschland u.a. Mitglied in der Friends of Afghanistan Group, die die Resolutionen des Sicherheitsrates vorbereitete, und fIihrte den Vorsitz in der Afghanistan Support Group (vgl. Freuding 2007, S. 71 f.). Gerhard Schröder betonte in seinen Memoiren ebenfalls die deutsche Rolle bei der PetersbergKonferenz und schrieb: "Wir hatten gemeinsam mit den Bündnispartnern den Weg zu einem politischen Neuanfang des vom Bürgerkrieg zerstörten Afghanistan militärisch, aber auch politisch abzusichern. Für diesen politischen Neubeginn hatten wir mit der Einladung der UN-Konferenz über die Zukunft Afghanistans auf dem Petersberg bei Bonn selbst die Weichen gestellt. Wir waren dazu prädestiniert, weil die Afghanen gegenüber Deutschland ein besonderes Vertrauen zeigten ... Erneut will ich dabei die Rolle von Joschka Fischer hervorheben, der hinter den Kulissen einen großen Beitrag geleistet hat, zu diesem Ergebnis zu gelangen." (Schröder 2006, S. 181/184) Die "Welt" schrieb am 06.12.2001: "Schröder lobte die ,historische Vereinbarung zur politischen Neugestaltung', die den Menschen in Afghanistan konkrete Perspektiven fiir Frieden und eine bessere wirtschaftliche Zukunft eröffile. Und erließ keinen Zweifel daran, dass Deutschland sich daran ,mit unseren europäischen Partnern und der internationalen Staatengemeinschaft' beteiligen werde." ("Wiedersehen in Kabul- ,Inschallab, so Gott will'" in: Welt-Dnline vom 06.12.2001; Zugriff: 09.11.2009) "Schröder haftet mit" in: Welt-Dnline vom 05.12.2001 (Zugriff: 09.11.2009).
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
141
Auf diesen Aspekt nahmen auch Redner der Opposition in der Plenardebatte zur Verabschiedung des Mandats Bezug.252 Wenn wir oben für die deutsche Beteiligung an OEF als Gesamtoperation eine hinreichend plausible politische Zwecksetzung identifizieren konnten, so ist diese bei der ISAF-Beteiligung durchaus diskussionsbedürftig. Die Bundesregierung formulierte in ihrem Antrag als politischen Zweck, einen "wesentlichen Beitrag Deutschlands zur Implementierung des auf dem Petersberg in Gang gesetzten nationalen Versöhnungsprozesses in Afghanistan" zu leisten, in dem mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft Sicherheit und Ordnung, insbesondere in der Hauptstadt, gewährleistet würde. 253 Im Gegensatz zum OEF-Mandat, das als militärische Zielsetzung die Bekämpfung des Terrorismus vorgegeben hatte, bestimmte das ISAF-Mandat als eindeutiges Ziel "Stabilisierung" - allerdings beschränkt auf die Region Kabul. 254 Der damalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, interpretierte das so: "Wir unterstützen die Interimsadministration in Afghanistan, um das Land wieder zu stabilisieren und um den Wiederaufbau und eine demokratische Entwicklung zu ermöglichen. Dieses ist im Gegensatz zur Krisenbewältigung der Operation Enduring Freedom Teil einer präventiven Sicherheitspolitik." (Kujat 2002, S. 14)
Zwei unterschiedliche Mandate für militärische Operationen mit unterschiedlichen Zielsetzungen waren eine Konstruktion, in der sich der Einfluss der beiden Traditionslinien deutscher Außenpolitik nach 1945 widerspiegelte, einerseits das tief in der Gesellschaft verwurzelte Zivilmachtdenken, andererseits der ausgeprägte Multilateralismus. Klaus Naumann formulierte: ,,Die deutsche Beteiligung ... signalisierte aber mit der Spaltung der Mandate, dass man zweierlei Maß anlegte und mit zweierlei Maß gemessen werden wollte. Hier der ,gute' UN-manda-
252
253 254
So formulierte Volker Rübe (CDU): "Was die Petersberger Beschlüsse anbelangt, muss man sagen, dass das - so ähnlich, wie sich die Engländer militärisch an einem Schönheitswettbewerb beteiligt haben - politisch sehr national aufgezogen worden ist." (BT PIPr 121210 vom 22.12.200 I, S.20833) Im gleichen Sinn erklärte Paul Breuer (CDU): "Es war nicht gut - das ist schon von einigen Kollegen angesprochen worden - , dass der Konferenz aufdem Petersberg eine nationale Grundlage gegeben wurde, obwohl es sich um eine UNO-Konferenz gehandelt hat. Es wäre besser gewesen, eine europäische Flankierung anzustreben" (ebenda, S. 20843, Hervorhebung im Original). BT Drs 14/7930 vom 21.12.2001, S. I f. Die Bundesregierung formulierte den Auftrag wie folgt: "Der Einsatz der für sechs Monate aufgestellten Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe hat das Ziel, wie in Anhang 2 der Bonner Vereinbarung vorgesehen, die vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung so zu unterstützen, dass sowohl die vorläufige afghanische Regierung, als auch Personal der Vereinten Nationen in einem sicheren Umfeld arbeiten können." (BT Drs 14/7930 vom 21.12.2001, S. 3)
142
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung tierte ISAF-Einsatz, dort die Grauzone des ungeliebten OEF-Einsatzes, dem die Ausrufung des NATO-Bündnisfalles das Plazet erteilt hatte." (Naumann 2008, S. 8)
In Kapitel 4.2.2.2 wird dieses Nebeneinander der beiden Operationen näher daraufhin untersucht werden, welche eskalatorischen Tendenzen daraus resultieren. Mitwirkung am nationalen Versöhnungsprozess als politischer Zweck und Beschränkung der militärischen Zielsetzung auf die Hauptstadt Kabul bedeutet einen Widerspruch in sich selbst. Aber nur durch diese räumliche Begrenzung wurde es möglich, den militärischen Auftrag und die damals verftigbaren Mitteln in Einklang zu bringen. 255 In diesem Gegensatz - Ausrichtung des politischen Zwecks auf die nationale Dimension und enge geographische Begrenzung des militärischen Ziels - lag eine weitere Quelle für spätere Eskalation. Diese Fragwürdigkeit der politischen Zwecksetzung wurde aufgrund eines sehr breiten Konsenses im Parlament in der Plenardebatte vom 22.12.2001 nur vereinzelt thematisiert. So erklärte der Abgeordnete Roland Claus (PDS): ,,Es handelt sich um ein sehr unklares und diffuses Mandat. Die Differenzen zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien einerseits sowie Deutschland und Frankreich andererseits sind nicht wirklich ausgeräumt. Sie haben doch gar keine Klarheit über die Dauer und den Umfang des Einsatzes oder über die Legitimation. Insofern werfen wir Ihnen vor, dass Sie hier etwas tun, was auch an anderen Stellen getan worden ist: Sie bestimmen eine Einstiegsoption, ohne eine Ausstiegsoption zu haben. Das kennzeichnet den ganzen Antrag. "2'6
Und der Abgeordnete Helmut Rauber (CDU), Reserveoffizier und zu der Zeit Präsident des Verbandes der Reservisten der Bundeswehr, formulierte in einer persönlichen Erklärung zur Begründung seines von der Fraktionslinie abweichenden Abstimmungsverhaltens: ,,Afghanistan ist zweimal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, besitzt aber mit 25 Millionen Einwohnern gerade mal ein Drittel unserer Größe. Zu glauben, mit circa 5.000 Soldaten Sicherheit in diesem Land zu schaffen und das in einem Zeitraum von 6 Monaten, ist schlicht eine Illusion... Jeder Automatismus bei der Entsendung deutscher Truppen ins Ausland ist abzulehnen. Was aber eingefordert werden muss, sind Mindestbedingungen, die sich an den vitalen Interessen Deutschlands ebenso zu orientieren haben wie an einer klaren politischen Konzeption einschließlich ei255
Generalleutnant a.D. Norbert van Heyst, erster deutsche ISAF-Befehlshaber von ISAF III (10.02.-11.08. 2003), stellte fest: "Vor dem Hintergrund der Begrenzung des Auftrages gern. UN Resolution,to assist the Afghan Interim Authorities ... in Kabul and its surrounding areas' ... und den gegenseitigen Unterstützungsmöglichkeiten mit der US geführten OEF waren die Ressourcen aus meiner Sicht grundsätzlich ausreichend." (schriftliche Antwort auf Fragen gern. Anlage 3 c vom 14.11.2009, Hervorhebung im Original). 256 BT PIPr 14/210 vom 22.12.2001, S. 20830.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
143
ner Exit-Strategie mit einem zeitlichen und finanziellen Rahmen. Wer sich aus Gründen einer Friedensschaffung und Friedenssicherung in Afghanistan engagiert, der muss schon schlüssig die Frage beantworten, warum dann nicht im Nahen Osten, in Kaschmir, in Indonesien, in Angola, in Ruanda, im Sudan, im Kongo, in Sri Lanka USW."2'7
Diese aufgeworfenen Fragen wurden im Zuge der parlamentarischen Beratung des ersten ISAF-Mandats jedoch nicht weiter diskutiert oder gar beantwortet, noch nicht einmal in Ansätzen. Das änderte sich graduell erst ein Jahr später, als mit dem Mandat vom 20.12.2002 in einem ersten Eskalationsschritt die Truppenobergrenze von 1.200 auf 2.500 Soldaten aufgestockt wurde. Anlass dafür war die vor allem die Übernahme der Führungsfunktion durch das deutsch-niederländische Korps im dritten ISAF-Kontingent, für die 1.000 der 1.300 zusätzlichen Soldaten vorgesehen waren. Die politische Zwecksetzung im Antrag der Bundesregierung nahm lediglich Bezug auf das erste Mandat vom 22.12.2001 und blieb damit unverändert. 258 Neue Formulierungen und Nuancen ergaben sich allerdings in der Debatte anlässlieh der Verabschiedung des Mandats. So führte der neue Bundesverteidigungsminister Dr. Peter Struck aus: "Um zu verdeutlichen, worum es wirklich geht, habe ich davon gesprochen, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird. Deutschland ist sicherer, wenn wir zusammen mit Verbündeten und Partnern den internationalen Terrorismus dort bekämpfen, wo er zu Hause ist, auch mit militärischen Mitteln. Unsere Sicherheit wird größer, wenn sich die Bundeswehr mit Erfolg am Wiederaufbau unter demokratischen Vorzeichen auf dem Balkan und in Afghanistan beteiligt, indem sie hilft, dort das dringend benötigte sichere Umfeld zu schaffen. "259
Damit wurde die Linie weiterentwickelt, dass der Einsatz in Afghanistan auch deutschen Sicherheitsinteressen diente. Dieser Aspekt wird in Kap. 6.2.2.3 weiter vertieft. Der Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger (CDU/SCU) verstärkte diese Sicht und formulierte: "Wir alle wissen doch - das wird von BKA, Bundesnachrichtendienst und Verfassungsschutz immer wieder unterstrichen -: Deutschland ist inzwischen nicht nur Ruhe- und Vorbereitungsraum, sondern auch ein möglicher Zielort für den Terrorismus geworden. Deshalb ist es wahr: Wenn es in Mghanistan keine Sicherheit gibt, wenn es dort keinen Wiederaufbau gibt, wenn wir uns dort zurückziehen, dann leidet auch die Sicherheit in unserem Land."260
Im Anschluss daran stellte er jedoch fest, die Bundesregierung habe bei der "Entwicklung eines politischen Gesamtkonzepts ... bisher nicht genug gemacht" und 257 258 259 260
BT PIPr 14/210 vom 22.12.2001, S. 20858. BT Drs 15/128 vom 03.12.2001. BT PIPr 15/17 vom 20.12.2002, S. 1314. BT PIPr 15/17 vom 20.12.2002, S. 1315.
144
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
forderte Aussagen zur Stabilisierung des Landes außerhalb Kabuls, zur Einbindung der Paschtunen in den Prozess, zur Bekämpfung des Drogenhandels und zum ökonomischen Wiederaufbau ,,mit der Perspektive, Afghanistan zu stabilisieren und unseren Soldaten eine Möglichkeit zu geben, dieses Land in absehbarer Zukunft wieder zu verlassen"261. Letztlich forderte er damit die Definition eines Endzustandes, also von Exit-Kriterien. Der Abgeordnete Winfried Nachtwei (Bündnis 90IDie Grünen) richtete den Blick auf die zukünftige Entwicklung und thematisierte die Diskrepanz zwischen dem umfassenden politischen Zweck und den sehr begrenzten militärischen Mittel, in dem er schlussfolgerte: ,,Die Schlüsselfrage des Friedensprozesses ist, wie die fragile Sicherheit in Kabul stabilisiert und auch landesweit gefdrdert werden kann. Eine lSAF-Ausdehnung würde ein Vielfaches der bisherigen Truppenstärken erfordern und die Anforderungen an Führung, Logistik usw. potenzieren. Dazu sind die Mitglieder der Staatengemeinschaft eindeutig nicht bereit. Umso wichtiger ist deshalb die Förderung von afghanischen Sicherheitsstrukturen, das heißt die Hilfe beim Aufbau einer afghanischen Armee und einer afghanischen Polizei. "262
Neben diesen auf Interpretation des unveränderten politischen Zwecks gerichteten Debattenbeiträgen spielte die Ausweitung des Einsatzes durch Erhöhung des deutschen Kontingents von 1.200 auf 2.500 Soldaten kaum eine Rolle. Lediglich die fraktionslose Abgeordnete der PDS, Petra Pau, verwies auf diesen Aspekt, in dem sie feststellte: ,,Das Afghanistanmandat soll verlängert werden, das deutsche Kontingent soll verdoppelt werden und die Bundeswehr soll eine Führungsrolle übernehmen. Das ist keine Routine. Das ist eine neue Qualität. "263
Nicht in der Plenardebatte, aber in der Retrospektive kritisierte auch der ehemalige Abgeordnete Manfred Opel (SPD): ,,Konkrete strategische, militärische und internationale Ziele wurden zu Begino (der Afghanistaneinsätze, UvK) nicht definiert. Zusammenfassend muss man sagen, dass die Bundeswehr in dieses Engagement mehr gestolpert ist, als einer klaren Zielsetzung und strategischen Vorgabe zu folgen. "264
Somit bleibt festzuhalten: bei den ersten Entscheidungen fiir eine Beteiligung an OEF und ISAF - einschließlich der ersten Eskalationsstufe Ende 2002 - spielten 261 262 263 264
BT PIPr 15/17 vom 20.12.2002, S. 1315 f. BT PIPr 15/17 vom 20.12.2002, S. 1318 (Hervorhebung UvK). BT PIPr 15/17 vom 20.12.2002, S. 1326. Schriftliche Antwort auf den Fragebogen für Vorsitzende und Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses (Anlage 3 a, Frage 1) vom 13.09.2009.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
145
Kriterien zur rationalen Abwägung von Auslandseinsätzen (s. Kapitel 5.1.4.1 ) keine Rolle, obwohl solche in den Debatten vereinzelt angemahnt wurden. Denn in diesen Entscheidungsprozessen dominierte die Motivation, die uneingeschränkte Solidarität gegenüber den USA und die Bereitschaft zur Unterstützung der VN - also Loyalität - unter Beweis zu stellen. Daneben wurde gelegentlich auch auf eine Kongruenz der eigenen Ziele und der der Bündnisse hingewiesen. Die Formulierung eines politischen Zwecks für OEF als Ganzes war plausibel. Bei ISAF bezog sich die politische Zwecksetzung auf die Unterstützung des "nationalen Versöhnungsprozesses", sie wurde im Laufe des ersten Jahres von ISAF allerdings argumentativ "angereichert", in dem auf die Auswirkung terroristischer Bedrohung für Deutschland verwiesen wurde. Die militärische Zielsetzung beschränkte den Einsatzraum von ISAF auf Kabul und Umgebung, was die Wurzel für spätere Eskalation in sich barg. Hierauf wurde in den Debatten auch schon hingewiesen. Während das OEF-Mandat ein eindeutiges ,,Bekämpfungsziel" formulierte, war die militärische Zielsetzung für ISAF "Stabilisierung". In diesen Mandatsunterschieden kann man die beiden Traditionslinien der deutschen Außenpolitik erkennen, Multilateralismus und Zivilmachtdenken.
5.1.4.3 Nachträgliches Ausformulieren zu ambitionierter ziviler und militärischer Zielvorstellungen Dass die Erstentscheidungen für die deutschen Beiträge zu den Afghanistaneinsätzen auf relativ groben Vorstellungen beruhten, ist u.a. dadurch zu erklären, dass die Zeit von gut drei Monaten zwischen dem auslösenden Ereignis 9/11 und den Mandatsentscheidungen für das Ausformulieren ausgefeilter politischer und rnilitärstrategischer Zweck- und Zielvorstellungen und Konzepte zu knapp war. Allerdings hat die vorstehende Analyse gezeigt, dass auch Ende 2002 noch keine fundierte konzeptionelle Basis für deutsche Afghanistaneinsätze gelegt worden war. Zu der Situation trug auch bei, dass die Zweck- und Zielvorstellungen der USA und der VN teilweise divergierten. Darüber hinaus musste die Bundesregierung auf die Grundstimmung in der Gesellschaft Rücksicht nehmen,265 die vor allem bei den Regierungsparteien ausgeprägt war. Somit befand sie sich in einem ,,Mehrebenendilemma", in dem einerseits die Notwendigkeit einer gesellschaftlich tolerierten Formulierung von Zweck und Ziel der Einsätze bestand, das an265
In einer Formulierung vonAnna Geis liest sich das wie folgt: ,,Den Nachkriegsdeutschen wurde häufig eine pazifistische Gesinnung attestiert, auch in der Elite herrschte ein ,anti-militaristischer Konsens'." (Geis 2005, S. 2)
146
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
dererseits aber die Möglichkeit bot, im uneinigen multilateralen Umfeld eigene Vorstellungen einzubringen. Dieses erfolgte schrittweise in den Folgejahren, als die Bundesregierung 2003,2006,2007,2008 sog. "Afghanistankonzepte" herausgab bzw. fortschrieb und darüber hinaus im Jahre 2004 - zwischen den ersten beiden Konzepten - einen ,,Aktionsplan ,Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung'" veröffentlichte. In diesen konzeptionellen Dokumenten wurden politischer Zweck und militärische Ziele, die den ersten Entscheidungen von 200 I und 2002 zu Grunde gelegen hatten, nachträglich konzeptionell untermauert, präzisiert und ausgefeilt. Dabei ist anzumerken, dass die deutsche Beteiligung an OEF und der darin enthaltene Auftrag der Bekämpfung des Terrorismus in den Konzepten nur am Rande angesprochen wurden. 266 Als politischer Zweck im ersten ISAF-Mandat war - wie dargestellt - formuliert worden, einen "wesentlichen Beitrag Deutschlands zur Implementierung des auf dem Petersberg in Gang gesetzten nationalen Versöhnungsprozesses in Afghanistan" zu leisten. Diese Zwecksetzung formulierte das erste Afghanistankonzept von 2003 detailliert aus und "reicherte es an". Danach sollte Afghanistan in seiner Anstrengung unterstützt werden, "wieder zu einem funktionierenden Staat zu werden, der für Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum und das Wohl seiner Bürger sorgen kann. Das bedeutet konkret, dass erstens politisch administrative Strukturen hergestellt werden müssen, die einen demokratischen Ausgleich und eine friedliche Balance zwischen den verschiedenen Ethnien und lokalen Machthabern ermöglichen. Dazu gehört auch die Unterstützung der Zivilgesellschaft sowie die Unterstützung des vorpolitischen Raums. Eine zweite Aufgabe ist die Verbesserung der Sicherheitslage durch eine Reform des Sicherheitssektors. Die Zentralregierung soll in die Lage versetzt werden, das staatliche Gewaltmonopol in der Fläche durchzusetzen. Dazu müssen die Milizen und andere bewaffnete Kräfte entwaffnet, demobilisiert und in zivile Arbeit integriert oder in die neu entstehende nationale afghanische Armee aufgenommen werden. Außerdem wird eine nationale afghanische Polizei (unter deutscher Koordination) aufgebaut, der Drogenanbau bekämpft und das Justizsystem reformiert. Eine dritte Aufgabe ist der Wiederaufbau der wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur, die Wiederbelebung der Wirtschaftstätigkeit und die Stärkung der Rolle der Frauen und die Verwirklichung ihrer Rechte." (Bundesregierung 2003, S. 1)267 266
267
Im ersten Afghanistankonzept von 2003 wird lediglich der Wortlaut des Mandats für die OEFTeilnahme zitiert, um dann zu begründen, warum die geplante Ausdehnung nach Kundus unter dem ISAF-Mandat erfolgen soll (vgl. Bundesregierung 2003, S. 8 f.). Insbesondere der letzte Aspekt spielte eine nicht unbedeutende Rolle. So äußerte sich die frühere SPD-Abgeordnete und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Ulrike Merten, durchaus kritisch: "Und darüber hinaus - das möchte ich noch einmal ausdrücklich sagen - waren die grüne Komponente in der Bundesregierung und die rote Komponente - also auch Teile meiner eigenen Fraktion - geradezu begeistert von der Vorstellung, man könnte mit diesem zivilen Ansatz, der vonAnfang an eine große Rolle gespielt hat, Geschichte schreiben und Geschichte wirklich auch
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
147
Abgesehen davon, dass in den Formulierungen Z.T. Zweck und Aufgaben vermischt wurden, die einen unterschiedlichen Konkretisierungsgrad aufwiesen, spiegelten diese konzeptionellen Vorstellungen ein zentrales Problem der Afghanistanpolitik der internationalen Gemeinschaft wider: beinhalteten sie doch implizit eine Übertragung unserer (westlichen) Vorstellungen von Gesellschaft, Staatlichkeit und Demokratie aufAfghanistan, ohne hinreichend zu reflektieren, inwieweit das unter den dort gegebenen Verhältnissen überhaupt realisierbar wäre. Es ist folgender Anfang 2010 formulierter Bewertung zuzustimmen: "The West has failed in Afghanistan because it underestimated cultural factors and set the unrealistic goals of democracy and human rights - instead ofjust establishing a functional state." (Theisen 20 I 0, S. 19)
Die Formulierung ,,Demokratisierung und Veränderung der afghanischen Gesellschaft" als politischer Zweck kann aus der Theorie des Demokratischen Friedens abgeleitet werden, und als eine ,,ideologische Unterfütterung" der eigenen Ziele zur Rechtfertigung eines Militäreinsatzes dienen. Richard Herzinger formulierte diese Argumentation in einem Zeitungskommentar wie folgt: "Gäbe der Westen diese Zielsetzung auf, würden seine militärischen Interventionen ihre völkerrechtliche und moralische Legitimation verlieren. Streitkräfte, die in ein fremdes Land geschickt würden, die Interessen des Westens zu sichern, wären Invasionstruppen im alten imperialistischen Sinne und könnten sich flir ihre Mission auf keine universalistische Autorität berufen. "268
Der Tenor der Grundaussagen von 2003 wurde - mit einigen Variationen - auch in den nachfolgenden Afghanistankonzepten wiederholt. Hervorzuheben ist, dass die Konzepte weitgehend multilateralistisch ausgerichtet sind und an vielen Stellen die Zielvorstellungen, aber auch die Handlungseinheit der "internationalen Gemeinschaft" hervorheben (vgl. Bundesregierung 2003,2006,2007,2008). Zusätzlich klangen - vor allem im Afghanistankonzept 2008 - ,,nationale Interessen" als Legitimationsargument an. Und die Auswertung der parlamentarischen Debatten zeigt, dass erneut Loyalität - in der Gestalt von ,,Bündnissolidarität" als Motivation des deutschen Engagements einen hohen Stellenwert besaß (Einzelheiten s. Kapitel 6.2.2.1).
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beeinflussen. Das war aufrichtig und ehrlich gemeint, die Vorstellung von Frau Wieczorek-Zeul und anderen, man könne die Frauen in Afghanistan vom Burkha-Tragen befreien. Das fanden die wunderbar, das fanden die ganz großartig." (Interview im Rahmen der Befragung von Vorsitzenden und Obleuten des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses, Anlage 3 a, Frage 2, vom 20.10.2009) "Warum der Westen Demokratie exportieren muss" in: Welt-Online vom 22. I 1.2009 (Zugriff: 02.12.2009).
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
In der Entwicklung der Afghanistankonzepte fällt auf, dass der Aspekt ,,Demokratisierung", der 2003 noch explizit ausformuliert worden war, zunehmend "verhalten" und später nur noch implizit angesprochen wird269 - vielleicht ein Zeichen von wachsender Einsicht in die Andersartigkeit von Staat und Gesellschaft in Afghanistan. Die oben (Kap. 5.1.1) entwickelte Skizze der Rahmenbedingungen in Afghanistan begründet jedenfalls erhebliche Zweifel an der ambitionierten Zielvorstellung der ersten Jahre, was in Analysen und Meinungsäußerungen inzwischen auch mehr und mehr zum Ausdruck gebracht wird. So weisen BrzoskalEhrhart auf die Fragwürdigkeit der Annahme hin, die Mehrheit der Bevölkerung Afghanistans wolle eine westlich bestimmte Modernisierungsstrategie. Sie bezweifeln insbesondere die Aussage, die auch noch im jüngsten Afghanistankonzept von 2008 enthalten ist, dass die internationale Gebergemeinschaft dazu beitrage, "das umzusetzen, was die große Mehrheit der afghanischen Bevölkerung selbst für ihr Land will" (Bundesregierung 2008, S. 14). Vielmehr folgern die Autoren: "Insgesamt deutet das Scheitern der Doppelstrategie auf eine unzureichende Lageanalyse hin. Die Zerklüftung der afghanischen Gesellschaft - regional, ethnisch, ideologisch, normativ, StadtLand - ihre Organisation und historische Entwicklung wurden als Ausdruck mangelnder Modernisierung interpretiert. Es gibt keine moderne afghanische Gesellschaft, sondern allenfalls kleine Inseln von Modernität in einigen Städten. Für die meisten Menschen dürften Familie, Stamm, Clan und lokale Gemeinschaften auch in der nächsten Zukunft die zuverlässigsten Strukturen bleiben." (Brzoska/Ehrhart 2009, S. 63)
Ähnlich kritisch wird die Konfliktlinie zwischen der ländlichen Bevölkerung und den im Ausland ausgebildeten städtischen Eliten in einer 2007 erschienenen Analyse der ,,Neo-Taliban Insurgency" bewertet. Darin heißt es: "The foreign-educated elites that made up part of the Afghan cabinet and much of the top ministerial staffwere not well equipped to communicate with the remote countryside, or to under269
2006 heißt es:,,Am Ende sollte ein Afghanistan stehen, das sich selbst gegen innere und äußere Feinde verteidigen kann und die Voraussetzungen für die eigenständige politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung des Landes gelegt hat. Nach Auffassung der Bundesregierung geschieht dies am besten durch verlässliche rechtliche und institutionelle Rahmenbedingungen, die individuelle Freiheiten schützen, die Mitwirkung an politischen Entscheidungen garantieren und den Menschen selbstbestimmte wirtschaftliche und soziale Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen." (Bundesregierung 2006, S. 4) Und 2008 wird als politischer Zweck formuliert: ,,Am Ende dieses Aufbauprozesses soll eine staatliche Ordnung stehen, die die fundamentalen Voraussetzungen politischer Legitimität erfüllt, sich also auf die große Mehrheit der afghanischen Bevölkerung stützen kann. Sie muss über effektive Sicherheits-und Justizorgane verfügen, um sich selbst gegen die verbleibenden Gefahren des Terrorismus und der organisierten Kriminalität zur Wehr setzen zu können." (Bundesregierung 2008, S. 9)
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
149
stand the processes going on there. The reverse is also true, as the rural population bad 1ittle understanding of the processes going on in Kabu1 and of the rationale and technicalities offoreign intervention." (Giustozzi 2007, S. 230)
Noch drastischere Fonnulierungen finden sich in einem Brief, mit dem 2009 ein hochrangiger amerikanischer Diplomat seinen Dienst in Afghanistan quittiert. Er schrieb: "Spätestens seit Ende des Regimes von König Zahir Schah wurde diese Gesellschaft in einem erbitterten Kampf gespalten: auf der einen Seite stehen die städtischen, weltlich gebildeten und modemen Afghanen, auf der anderen Seite steht die religiöse, des Schreibens und Lesens unkundige, traditionsverhaftete Landbevölkerung. Aus der letzteren Gruppe rekrutieren sich die paschtunischen Aufständischen. "270
Nun kann man gegen solche Bewertungen einwenden, dass sie erst aus der jüngsten Zeit stammen, wohingegen die Entscheidungen vor Jahren getroffen werden mussten. Eine Analyse der Plenardebatten zu den Mandaten, die eine Ausweitung des deutschen Engagements über Kabul hinaus genehmigten, zeigt jedoch, dass die Frage eines schlüssigen Gesamtkonzepts durchaus schon damals im Raum gestanden hatte. Sie spielte zwar unmittelbar in der Debatte keine Rolle, es wurde aber sehr wohl das Fehlen eines solchen Gesamtkonzepts in ca. 40 persönlichen Erklärungen bemängelt, die Oppositionsabgeordnete gern. § 31, Abs. 1 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GO BT) zu Protokoll gaben. 271 Offenbar war das auf den 01.09.2003 datierte erste Afghanistankonzept der Regierung noch nicht breit rezipiert worden. Es soll hier keine Wertung vorgenommen werden, was man damals hätte wissen können oder müssen. Es bleibt lediglich dreierlei festzuhalten; •
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Erstens erfolgte die Ausfonnulierung einer differenzierten politischen Zwecksetzung fiir die deutschen Afghanistaneinsätze im Nachhinein, also erst, nachdem die Grundentscheidung fiir eine Beteiligung an den militärischen Maßnahmen gefallen war. Zweitens beinhaltete die politische Zwecksetzung Visionen von NationBuilding bzw. einer Demokratisierung Afghanistans, die vor dem HinterBriefdes Diplomaten Matthew P. How an Botschafterin Nancy J. Powell, Generaldirektorin des Diplomatischen Dienstes und Personaldirektorin im US-Außenministerium, abgedruckt unter dem Titel "Ich sehe keinen Sinn mehr" in ,,zeit Online" vom 15.11.2209 (Zugriff: 24.11.2009). So heißt es in einer Erklärung von 33 Abgeordneten der CDU/CSU: "Ein abgestimmtes Gesamtkonzept der Bundesregierung zur Stabilisierung und zum Wiederaufbau in Afghanistan zusammen mit ON, NATO und EU fehlt." (pIPr 15/70 vom 24.10.2003, Anl. 2). Ähnlich acht weitere Abgeordneten der CDU/CSU- sowie der FDP-Fraktion in Einzelerklärungen (pIPr 15/70 vom 24.10.2003, Anl. 3)
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
grund der Verhältnisse im Lande und in der Region äußerst ambitioniert waren und sich zunehmend als unrealistisch erwiesen haben. Dieses stellt die "Wertrationalität" (i.S. von Herberg-Rothe272) des politischen Zwecks in Frage, der den Afghanistanentscheidungen zu Grunde gelegt wurde. Drittens ist hervorzuheben, dass die konzeptionellen Vorstellungen deutlich und schlüssig herausarbeiten, dass der politische Zweck nur durch eine Verknüpftmg von militärischen und nicht-militärischen Instrumenten und nur durch ein Zusammenwirken der internationalen Gemeinschaft erreicht werden kann273 - wofür, wie bereits angesprochen - der Begriff der "Vernetzten Sicherheit" entwickelt worden war (vgl. Weißbuch 2006, S. 29).
Inzwischen (2010) hat sich die deutsche Politik schrittweise allmählich von einer umfassenden und ambitionierten Zielvorstellung "verabschiedet". Seit der Kanzlerkandidat der SPD, Frank-Walter Steinmeier, am 22.08.2009 im Wahlkampf das Thema eines ,,Fahrplans" für den Abzug aus Afghanistan "entdeckt" hatte - allerdings ohne zunächst konkrete Daten zu nennen274 - entwickelte sich die Formulierung des politischen Zwecks der Einsätze in Richtung eines deutlich reduzierten Anspruchs. Bundeskanzlerin Merkel benutzte - wohl als Reaktion auf Steinmeiers Vorstoß - in einem Fernsehinterview am 24.08.2009 die Formulierung: "Wir haben ein Ziel, das heißt selbstragende Sicherheit in Afghanistan." Dieses Ziel, fuhr sie fort, sei mit Zahlen zu untermauern: "Wie viele Soldaten brauchen wir, wie viele Polizisten müssen wir ausbilden?"275
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Vgl. Kap. 2.2.4.2. So stellt der Aktionsplan ,,zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" Afghanistan als ,,Beispiel für die Absicherung ziviler Bemühungen zur Stabilisierung und nachhaltigen Beseitigung von Konfliktursachen durch begleitende militärische Maßnahmen (ISAF)" heraus (Bundesregierung 2004, S. 34). Und an verschiedenen Stellen der konzeptionellen Dokumente wird die Bedeutung der internationalen Gemeinschaft für eine Bewältigung der Herausforderungen betont (z.B. Bundesregierung 2003, S. 1,2004, S. 39, 2006, S. 3, 2008, S. 51), wobei durchaus auch auf das Spannungsverhältnis zwischen internationaler Hilfe und ,,Afghan Ownership" hingewiesen wird. Dieses wird besonders deutlich 2006 fonnuliert (z.B. Bundesregierung 2006, S. 18), also dem Jahr, in dem mit dem ,,Afghanistan Compact" ein ,,Pflichtenkatalog" für die afghanische Regierung vereinbart worden war, der sich auf die Bereiche ..Security", ..Governance, Rule ofLaw and Human Rights", ..Economic and Social Development" und ..Counter-Narcotics" bezog (vgl. Afghanistan Compact 2006, S. 3 ff.). Vgl. ..Bei Wahlsieg will SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier Afghanistan-Abzug aushandeln" in: Spiegel-Online vom 22.08.2009 (Zugriff: 22.08.2009). Vgl. auch: ,,Afghanistan: Steinmeier lässt Datum für Abzug offen" in: Welt-Dnline vom 24.08.2009 (Zugriff24.08.2009). Vgl. auch ..Steinmeier legt Abzugs-Plan vor" in: Süddeutsche-Doline vom 13.09.2009 (Zugriff: 13.09.2009). Zit. nach ..Steinmeiers Kabul-Finte" in: Welt-Dnline vom 24.08.2009 (Zugriff: 24.08.2009).
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
151
Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP 2009 findet man die Formel "Strategie der Übergabe in Verantwortung", deren Ausformulierung eine neue Nuancierung erkennen lässt. Es heißt dort: "In Abstimmung mit unseren Partnern werden wir die Verantwortung an die Autoritäten des Landes schrittweise übergeben. Wir halten dabei am Konzept der Vernetzten Sicherheit fest: Ohne Sicherheit gibt es keinen Aufbau, ohne Aufbau keine Sicherheit. Zentrale Bedeutung hat der zivile Aufbau und die zielgerichtete Fortsetzung der entwicklungspolitischen Maßnahmen. Je früher die afghanische Regierung im Land selbst Sicherheit gewährleisten kann, desto früher können wir in Abstimmung mit unseren Partnern den schrittweisen Abzug beginnen. Wir werden unsere Strategie der Übergabe in Verantwortung entschieden voran bringen und deshalb unsere Anstrengungen unter anderem bei der Europäischen Polizeimission EUPOL, beim nachhaltigen Aufbau und bei der Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte deutlich verstärken." (Koalitionsvertrag 2009, S. 122)
Außenminister Guido Westerwelle (FDP) erklärte dazu in der Plenardebatte zur Mandatsverlängerung für ISAF am 03.12.2009: ,,Das ist ein Einsatz, der ein Ziel hat, nämlich das Ziel der selbsttragenden Sicherheit in Afghanistan. Es ist kein Einsatz als Selbstzweck. Wir wollen, dass eine Abzugsperspektive erarbeitet wird, weil niemand in diesem Hause diesen Einsatz flir die Ewigkeit möchte."276
Die Reduzierung des politischen Zwecks - weg vom umfassenden Aufbau eines modernen demokratischen Staates in Afghanistan hin zu einer Exit-Perspektive - gewann durch die oben angesprochene Ankündigung von Präsident Obama am 02.12.2009 zur Truppenaufstockung um 30.000 Soldaten und zur Einleitung des Rückzugs ab 2011 auch in der Öffentlichkeit an Dynamik. 277 Am deutlichsten formulierte Verteidigungsminister zu Guttenberg in einem Zeitungsinterview das Abrücken von der früheren Zielsetzung. Auf die Frage des Interviewers, ob wir von der Idee einer nach westlichen Vorbildern gestalteten Gesellschaft und Politik als Einsatzziel Abschied nehmen müssten, antwortete er: "Ich bin schon länger zu der Überzeugung gelangt, dass Afghanistan gerade wegen seiner Geschichte und seiner Prägung sich nicht als Vorzeige-Demokratie nach unseren Maßstäben eignet."
276 277
BT PIPr 17/9 vom 03.12.2009, S. 668. In einer Femsehdiskussion am 06.12.2009 über die Konsequenzen dieser Entscheidungen des US-Präsidenten brachte es der freie Journalist Andreas Zumach auf den Punkt, in dem er formulierte: ,,Die Strategie ist ganz klar, nur noch möglichst geordnet und unter Wahrung des eigenen Gesichtes rauszukommen. Das ist dann auch die Strategie der NATO, die Strategie der Bundeswehr. Mit den ursprünglich mal verkündeten Zielen dieser Mission - Frieden, Freiheit, Menschenrechte, Frauenrechte, Stabilisierung, Wirtschaftsautbau - hat das alles nichts mehr zu tun." ,,Presseclub" zum Thema ,,Krieg und Frieden - Obarna zwischen Nobelpreis und Afghanistan", ARD , Phoenix und WDR 5 am 06.12.2009 (eigene Transkription).
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Und auf die nächste Frage nach Obamas Abzugsüberlegungen ab 2011 ergänzte er: "Ich halte es flir richtig, wenn wir gegenüber den Bürgern jetzt kIarmachen, wann der Abzug beginnen soll, welche Ziele wir verfolgen und welche Zwischenschritte daflir notwendig sind. Da sollten wir konkreter werden als bisher. Ich halte aber nichts davon, jetzt schon ein End-Datum zu benennen."278
Ihren vorläufigen Schlusspunkt fand die Umorientierung der politischen Zwecksetzung in Deutschland mit der Afghanistan-Konferenz vom 28.01.2010 in London. Hier beschloss die internationale Gemeinschaft einen "Strategiewechsel", der die Übergabe der Verantwortung für Wiederaufbau und Sicherheit an die afghanischen Behörden in einem Zeitkorridor von 2010 bis 2014 vorsah. Ein konzeptionelles Papier mit dem Titel "Auf dem Weg zur Übergabe in Verantwortung: Das deutsche Afghanistan-Engagement nach der Londoner Konferenz" (Bundesregierung 2010) übersetzte den geänderten politischen Zweck des deutschen Afghanistanengagements in Handlungsziele. Danach will Deutschland sein Engagement durch Verdoppelung der zivilen Mittel für den Wiederaufbau, Verstärkung der Polizeiausbildung, Intensivierung der Ausbildung der afghanischen Armee sowie Beteiligung an einem Fond zur Reintegration von ehemaligen Kämpfern und Mitläufern in die afghanische Gesellschaft verstärken (vgl. ebenda, S. 7 tf.). Nur am Rande ging die deutsche Zielsetzung auf die regionale Bedeutung des Afghanistaneinsatzes ein, obwohl diese in einer realistischen ZielfofDlulierung inzwischen einen prominenten Stellenwert einnehmen müsste. In der Literatur werden die Begriffe "Afghanisierung" und "Pakistanisierung" verwendet (vgl. Theisen 2010, S. 24).279 278
279
Interview "Selbstverständlich werde ich meine Aussage unter auch unter Eid machen", (Interviewer: Michael Backhaus) in Bild am Sonntag vom 27.12.2009; vorab publiziert am 26.12. von den Online-Ausgaben einer Vielzahl anderer Blätter (z.B. Welt-Online, Focus-Online, SpiegelOnline, Stern-0nline). Am 10.12.2009 hatte zu Guttenberg diese Position bereits in einer Fernsehdiskussion formuliert. Er erklärte damals: ,,Meine Zielsetzung ist nicht die, dort einen Krieg zu gewinnen, sondern meine Zielsetzung ist, dass wir ein Afghanistan wieder schaffen, wo die Menschen ihre eigene Verantwortung übernehmen können und wo sie auch ohne fremde Truppen - ihrer Kultur wohlgemerkt entsprechend - (leben können, Ergänzung UvK) ...das war einer der großen Trugschlüsse auch der letzten Jahre, dass man glaubte, ein Oktroi, ein westliches Kulturgut, eben mal importieren zu könne....Ich glaube, dass man da von einer Westminster-Demokratie zu träumen in Afghanistan, das man da zwingend an seine Grenzen stößt ... Meine Zielsetzung ist die ... wir sind jetzt gefordert, einen Weg zu finden, wie wir vernünftig, unter welchen Voraussetzungen, wir aus Afghanistan wieder heraus können." (ZDF-Sendung Maybrit Illner, "Nobelpreis flir Obama. Lasst uns mit seinem Krieg in Frieden?" am 10.12.2009, eigene Transkription) Theisen formulierte: ,,An exit strategy requires the Afghanization and Pakistanization of the war. This requires promoting and demanding Afghan and Pakistani responsibility of their own security."
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
153
Soweit die Skizze der Entwicklung des - in der deutschen Sichtweise - politischen Zwecks der Afghanistaneinsätze im Zeitablauf. Es muss dabei betont werden, dass an keiner Stelle erkennbar wurde, inwieweit sich die Akteure explizit oder implizit an Kriterien orientierten, wie sie im Laufe der Zeit von verschiedenen Seiten formuliert wurden (s. Kap. 5.1.4.1). In der Diskursanalyse soll die Frage noch einmal aufgegriffen werden, inwieweit die Kriterienkataloge in der öffentlichen Diskussion über "nationale Interessen" relevant wurden. Welche Konsequenzen hatte die zunächst sehr ambitionierte, ggf. sogar unrealistische politische Zwecksetzung für die militärische Zielsetzung? Die ursprüngliche militärische Zielsetzung für ISAF war Stabilisierung im Großraum Kabul gewesen. Diese wurde mit dem Mandat vom 24.10.2003 aufKundus280 und mit dem vom 30.09.2004 aufFeyzabad281 in Nord- bzw. Nordostafghanistan ausgeweitet. Diese Schritte erfolgten aufgrund der umfassenden politischen Zwecksetzung. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass bei der deutschen Regierung daneben auch das Interesse bestand, das durch den Irak-Krieg beschädigte deutsch-amerikanische Verhältnis zu verbessern. Der damalige Deutsche Militärische Vertreter im NATO-Militärausschuss, Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen, berichtete über eine entsprechende Überlegung der deutschen Politik, bei der auch innenpolitische Überlegungen eine Rolle spielten.282
280 281 282
In einer TV-Diskussion über den Strategiewechsel formulierte der ARD-Korrespondent in Mghanistan, illi Gack, auf die Frage, warum Deutschland in Afghanistan sei, diesen Aspekt wie folgt: "Warum sind wir in Mghanistan? Das ist glaube ich relativ einfach zu beantworten: Afghanistan ist ein Stellvertreterkrieg, der dort stattfindet. Es geht eigentlich gar nicht so sehr urnAfghanistan, der Dominostein Mghanistan ist längst gefallen. Es geht glaube ich aus meiner Sicht und was ich so höre von Afghanen und aus deutschen Diplomatenkreisen, es geht darum, Pakistan nicht fallen zu lassen. Wenn Afghanistan fällt und Talibanland wird und Rückzugsgebiet von AI Qaida, muss man auch davon ausgehen, dass der Kunststaat Pakistan irgendwann fällt. Pakistan gehört eigentlich zur Hälfte traditionell zu Afghanistan. Wenn man jetzt Afghanistan wieder herstellen wollte in den ursprünglichen Grenzen - und das wollen die Afghanen - dann endet Mghanistan am Indus. Das ist die Hälfte von Pakistan. Wenn Pakistan fällt, muss man davon ausgehen, dass die Terroristen dort die Oberhand und Einfluss gewinnen und möglicherweise auf das riesige Waffenarsenal von Pakistan zugreifen können, möglicherweise auch auf die Atomwaffen. Und das ist letztlich die realistische Bedrohung letztendlich für den Westen und auch für uns." (ZDF-Sendung Maybrit Illner "Wie kommen wir raus aus Afghanistan?" am 28.01.2010, eigene Transkription). Vgl. BT Drs 15/1700 vom 15.10.2003, gebilligt am 24.10.2003 (BT PlPr 15/70, S. 6009). Vgl. BT Drs 15/3719 vom 22.09.2004, gebilligt am 29.09.2004 (BT PlPr 15/129, S. 11759). In einer Antwort auf den Fragebogen (Anlage 3 d, Frage 1) formulierte er: ,,Nicht nur, aber auch die Bundesregierung hatte ein Interesse an der Ausweitung der NATO-Verantwortung, weil man nach der politischen Aktivität gegen die USA in der Irak Politik einen Weg suchte, das deutschamerikanische Verhältnis wieder zu verbessern. Eine Möglichkeit schien das Angebot zu sein, ein PRT zu übernehmen, von denen es unter OEF bereits ca. 16 gab. Nach längeren Absprachen wurde das PRT in Kundus dafür ausgewählt. Da die Regierung Schröder aber keine Chance sah,
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Das Mandat vom 28.09.2005 schließlich beinhaltete die Ausweitung auf die gesamte Nordregion, wobei zeitlich und im Umfang begrenzte Unterstützungsmaßnahmen auch in anderen Regionen zugelassen wurden. 283 Die in den Konzepten betonte enge Verzahnung von militärischen und nichtmilitärischen Maßnahmen bedeutete ein Einbeziehen der ,,Logik der kleinen Kriege" (Kap. 2.2.4.3) in die Zieldefinition. Dieser Logik folgend wurde das militärische Ziel "Stabilisierung" im Konzept der sog. Provincial Reconstruction Teams (PRT) in einen zivil-militärischen Rahmen eingebettet. Deutschland löste die US-Streitkräfte im PRT in Kundus nicht nur organisatorisch ab, sondern übernahm damit auch das zugrunde liegende Konzept. Dieses wird in der Literatur auf Ressourcenüberlegungen zurückgeführt. Wenn nicht genügend Personal für eine flächendeckende militärische Stabilisierung zur Verfügung steht, werden "Soldaten zusammen mit Diplomaten und zivilen Experten an ausgewählten Orten so disloziert, daß ein einheitliches Netz der Stabilität entstehen kann".284 Damit trägt das Konzept dazu bei, "vor allem zwei Probleme beim Nation-Building in den Griffzu bekommen: den Mangel an personellen und finanziellen Ressourcen und das Erfordernis, auf die interdependente Sicherheitsund Wiederaufbaubedürfuisse der Post-Konflikt-Gesellschaft mit einem Integrierten zivil-militärischen Vorgehen reagieren zu können." (Schmunk 2005, S. 8)
Allerdings entwickelte Deutschland das PRT-Konzept weiter. Während die amerikanischen PRT im Rahmen von OEF mit dem Ziel der Terrorismusbekämpfung operierten (vgl. Hofmann 2007, S. 61, FN 2),285 gilt es inzwischen als spezifisches Kennzeichen der "deutschen" PRT, dass die zivilen und militärischen Mitarbeiter integriert und gleichrangig eine ,'philosophie" verfolgen, sich in einer Struktur organisieren und einen Auftrag erfüllen (vgl. Schmunk 2005, S. 9). Im Laufe der Zeit ergab sich als Folge der ständigen Verschlechterung der Sicherheitslage (s. dazu Kap. 5.3) eine qualitative Veränderung bzw. eine Ausweitung der militärischen Zielsetzung von ISAF, weil neben Stabilisierung schritt-
283 284
285
die Zustimmung der Koalitionsfraktionen für dieses PRT unter dem OEF Mandat zu erhalten, musste man drängen, dass dieses PRT unter die NATO-geflihrte ISAF-Operation wechselte. Damit wurde Anfang 2004 die erste praktische Ausweitung des NATO Einsatzes erreicht. Aber noch 2003 wurde auch der Oplan 10302 für die weitere Ausweitung des NATO Einsatzes vorgelegt." (Schriftliche Antwort vom 12.01.2010) Vgl. BTDrs 15/5996 vom 21.09.2005, S. 3, gebilligt am 28.09.2005 (BTPIPr 15/187, S. 17585). In der Plenardebatte über das Mandat zur Ausweitung des deutschen Einsatzes auf das PRT Kundus wurde von Bundesverteidigungsminister Dr. Struck der Begriffder "ISAF-Insel" in die Diskussion eingeführt (vgL BT PlPr 15/70 vom 24.10.2003, S. 5989). Hofmann bezieht sich auf Weinberger, Naomi 2002: "Civil-military Co-ordination in Peacebuilding: The Challenge in Afghanistan," in: Journal ofInternationalAffairs, 55 (2): 245-274.
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
155
weise die Einbeziehung der Bekämpfung von Aufständischen, also von Counter Insurgency-Operationen, erforderlich wurde. 2006 wurde ISAF die Verantwortung für ganz Afghanistan übertragen, auch für die Süd- und Ostregion. Damit - so formulierte es das Afghanistan-Konzept der Bundesregierung 2006 - übernahm ISAF "die dort bislang von der Operation Enduring Freedom (OEF) wahrgenommenen Stabilisierungs- und Aufbauarbeiten und weitet diese noch aus. Anti-Terroreinsätze werden aber auch zukünftig ausschließlich von OEF durchgefiihrt, in enger Abstimmung mit lSAF." (Bundesregierung 2006, S. 10)
Da der Süden und der Osten Talibanhochburgen waren (vgl. z.B. Giustozzi 2007, S. 3 f.), ergab sich zwangsläufig, dass ISAF zur Erfüllung seines Auftrags auch Counter-Insurgency-Operationen durchführen musste - in enger Abstimmung mit den Anti-Terroreinsätzen von OEF - wie immer auch diese beiden Typen von Operationen unterschieden werden können. Hierzu wurden 13.000 der damals in Afghanistan operierenden 25.000 US-Soldaten ISAF unterstellt (vgl. Hodes/Sedra 2007, S. 45). Damit kam es - um eine Formulierung von Maaß zu verwenden - zu einer zunehmenden "OEFisierung" von ISAF (vgl. Maaß 2007 a, S. 81). Bei evtl. Unterstützungseinsätzen von Bundeswehrsoldaten in den anderen Regionen (gem. dem Mandat vom 28.09.2005) musste sich diese Auftragserweiterung von ISAF somit auch auf die deutsche Soldaten auswirken. Noch deutlicher tangierte der erweiterte Auftrag von ISAF die deutsche Absicht, sich auf den Norden zu beschränken, als 2007 sechs Aufklärungsflugzeugen vom Typ Tornado nach Afghanistan verlegt und ISAF unterstellt wurden. 286 Denn nach dem Mandat bzw. der Mandatsbegründung sollten sie ausdrücklich "im gesamten ISAF-Verantwortungsbereich eingesetzt werden" können und "der Steigerung der Effizienz der ISAF-Stabilisierungs- und Sicherheitsoperationen" dienen. 28? Dieses war in der Plenardebatte zum "Tornado-Mandat" auch ein Grund für eine relativ große Zahl von Abgeordneten der Opposition, aber auch der Koalitionsfraktionen, das Mandat abzulehnen. 288 286
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Im Mandat wird keine zahl genannt, sondern es wird von ,,Fähigkeiten zur Aufklärung und Überwachung aus der Luft" mit Aufklärungsflugzeugen vom Typ TORNADO RECCE gesprochen (vgl. Antrag der Bundesregierung, Drs 16/4298, S. I f.). Die Zahl "sechs" wird jedoch in der Mandatsdebatte mehrfach genannt (vgl. PIPr 16/86, vom 09.03.2009, S. 8699 ff.). Vgl. BT Drs 16/4298 vom 08.02.2007, S. 2 f. (Hervorhebung durch UvK). So äußerten 27 SPD-Abgeordnete in einer Erklärung gern. § 31 GO BT: "Gegenwärtig drohen die Kommandeure der Taliban damit, das Land zu irakisieren, mit funkgesteuerten Kleinstbomben zu agieren, die Selbstrnordattentate zu erhöhen. Das Ganze könnte nicht trotz, sondern sogar wegen der Tornados geschehen. Dass dann der Rufnach deutschen Bodentruppen im Osten und Süden Mghanistans noch stärker als bislang ertönen dürfte, ist fIlr uns die militärisch logische und wahrscheinliche Konsequenz." (BT PlPr 16/86 vom 09.03.2009, S. 8762) Und acht Abgeordnete
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Darüber hinaus gibt es die plausible Annahme, dass Regierung und Parlament durch die Bereitstellung der Tornado-Flugzeuge u.a. auch einem zunehmenden Druck der Verbündeten begegnen wollten, deutsche Bodentruppen nicht nur in Ausnahmefallen im umkämpften Süden und Osten von Afghanistan einzusetzen. So formulierte der Abgeordnete Rainer Amold (SPD) in einem Interview mit dem Autor auf die Frage nach den Beweggründen fiir die Billigung des Tornado-Mandats: "Es war aber sicherlich ein Beweggrund, auch in der politischen Debatte, lasst uns lieber Aufklärung mit Tornados liefern als andere Fragen zu kriegen, z.B. die OMLTs 289 im Osten zu begleiten. "290
Mit fortschreitendem Vordringen von Aufständischen in den Verantwortungsbereich der Bundeswehr in der Nordregion wurden auch hier zusätzlich zu Stabilisierungsoperationen solche im Rahmen von Counter-Insurgency erforderlich. Dieses wurde am Beispiel der Eingreifreserve (Quick Reaction Force - QRF), die dem deutschen Kommandeur der Nordregion zur Verfügung steht, besonders deutlich. Die QRF war bis zum 30.6.2008 von Norwegen gestellt worden. Durch Entscheidung der Bundesregierung und ohne Änderung des Mandats (s. Kap. 3.2.1) übernahm Deutschland ab dem 01.07.2008 diese Aufgabe mit einer speziell dafiir ausgebildeten militärischen Einheit, so dass sich die erweiterte militärische Zielsetzung jetzt auch in der Truppenstruktur abbildete. 291 Von daher war es plausibel, dass eine Analyse der deutschen ISAF-Beteiligung aus 2008 mit dem Titel ,,Aufstandsbekämpfung als Auftrag", zum Ergebnis kam: ,,ISAF ist eine Mission mit dem Schwerpunkt Aufstandsbekämpfung." (NoetzellZapfe 2008, S. 28) Diese graduelle Veränderung der militärischen Zielsetzung fiir die deutschen Truppen hin zur Bekämpfung von Aufständischen wird in den deutschen konzeptionellen Dokumenten bzw. den Mandaten nicht explizit angesprochen. Lediglich in den Einsatzregeln, den RoE, die vom Bundesministerium der Verteidigung er-
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von Bündnis 9O/Die Grünen argumentierten in ihrer Erklärung wie folgt: "Die Aufklärungstornados können nicht nur Aufklärungsmaterial zur Absicherung der Stabilisierungsoperationen von ISAF liefern. Sie tragen vor allem auch zur Kampfunterstützung in den umkämpften Provinzen im Süden bei." (BT PIPr 16/86 vom 09.03.2009, S. 8764) OMLT = Operational Mentor and Liasion Team (deutsche Begleitkommandos bei afghanischen Truppenteilen zur Ausbildung der Führer, Überwachung der Ausbildung und Begleitung bei Einsätzen). Telefoninterview am 02.11.2009 zur Beantwortung des Fragenkatalogs fiir Vorsitzende und Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses (Anlage 3 a, Frage 5). Als eine seiner ersten Entscheidungen ordnete der neue Verteidigungsminister zu Guttenberg nach einem Besuch in Afghanistan an, die in Kundus verfllgbaren 450 Soldaten der Eingreifkräfte durch zusätzliche 120 Soldaten zu verstärken, was im Rahmen der Obergrenze des bestehenden Mandats möglich war. Vgl. "Guttenberg schickt Verstärkung" in: FAZ.NET vom 13.11.2009 (Zugriff: 27.11.2009).
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
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lassen werden, und die fiir die deutschen Soldaten in Form einer "Taschenkarte" zusammengefasst sind, wurden im Sommer 2009 als Reaktion auf die veränderte Einsatzrealität angepasst. 292 Die oben skizzierte Veränderung des politischen Zwecks des deutschen Afghanistanengagements in Vorbereitung auf die Afghanistan-Konferenz von London 2010 wirkte sich auch auf die militärische Zielsetzung aus. So sah das neue konzeptionelle Papier der Bundesregierung vor, bei den Operationen von ISAF noch mehr den Schutz der Bevölkerung in den Mittelpunkt zu stellen und die Ausbildung der afghanisehen Armee zu intensivieren. Hierzu sollte - neben einer leichten Verstärkung des deutschen Kontingents - auch eine Umstrukturierung der deutschen Kräfte erfolgen (u.a. die Auflösung der QRF). (vgl. Bundesregierung 2010, S. 9). Die Umsetzung dieser Vorstellungen erscheint bei der kritischen Sicherheitslage im deutschen Verantwortungsbereich fraglich und dürfte - wenn überhaupt - nur realisierbar sein, weil die USA angekündigt haben, zusätzliche 2.500 Soldaten und darüber hinaus acht Kampthubschrauber in den Norden zu verlegen, um bei Angriffen der Taliban Luftunterstützung zur Verfügung zu haben. 293 Die mit diesem Aufwuchs verbundene Ausweitung der Führungsverantwortung des deutschen Regionalkommandos Nord wurde von der Bundesregierung mit als eine Begründung der neuen Mandatsobergrenze angeführt. 294 Damit bleibt festzuhalten, dass bezüglich des Stabilisierungsziels auf der Ebene der militärischen (und auch der nicht-militärischen) Ziele zunächst konzeptionell "Verfahrensrationalität" i.S. von Herberg-Rothe gegeben war. Mit der zunehmenden Notwendigkeit, auch im Rahmen von ISAF mehr Operationen zur Bekämpfung von Aufständischen durchzuführen, ging diese Verfahrensrationalität allmählich verloren, weil die in den Mandaten der Bundeswehrkontingente sowie in den Einsatzregeln (RoE) formulierte militärische Zielsetzung immer weniger
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Die Taschenkarte ist als Yerschlusssache eingestuft. Aufgrund der Diskussion in den Medien im Sommer 2009 wurden die inhaltlichen Änderungen jedoch auch öffentlich erörtert. Eine Darstellung des verteidigungspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Bernd Siebert, wurde in der Presse wie folgt zitiert: "Mit der von Jung nun gebilligten sogenannten Taschenkarte dürfe die Bundeswehr gegen feindliche Personen auch dann mit Waffengewalt vorgehen, wenn diese sich zurückziehen, teilte der CDU-Verteidigungsexperte im Bundestag, Bernd Siebert mit. Bislang durften deutsche Soldaten nicht aufFlüchtende schießen - auch dann nicht, wenn von ihnen nach einem Angriff weitere Attacken zu erwarten waren. Siebert betonte, dennoch dürfe auch weiterhin von der Schusswaffe nur nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und nur im äußersten Fall Gebrauch gemacht werden." In: "Soldaten dürfen auf flüchtende Feinde schießen" in: Welt-Online vom 27.07.2009 (Zugriff: 31.07.2009). 293 Vgl. "Gemeinsam Leben und Sterben" in: Der Spiegel Nr. 4/2010, S. 20; und ,,Kampfhubschrauber gegen Taliban" in: Sächsische Zeitung-0nline vom 01.02.2010 (Zugriff: 18.02.2010). 294 BT Drs 17/654 vom 09.02.2010, S. 8.
158
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
der Realität entsprachen (bei letzteren erfolgte 2009 immerhin eine Anpassung, wenn auch spät und zögerlich). Dieses wurde Parlament und Öffentlichkeit Anfang September 2009 in drastischer Weise vor Augen geführt, als in der Nacht vom 03. auf den 04.09. aufAnforderung des deutschen Kommandeurs des PRT Kundus zwei durch Aufständische entführte Tanklastwagen durch einen Luftangriffzerstört wurden. Bei diesem Angriff gab es eine ex post nicht präzise zu bestimmende Zahl von Opfern - sowoW Taliban als auch unbeteiligte Zivilpersonen, (wie immer diese zu unterscheiden sind). Die Zahlenangaben schwankten nach Angaben eines NATO-Untersuchungsberichts zwischen 17 und 142.295 In der Folge dieses Angriffs und der damit verknüpften Informationspolitik der Bundesregierung kam es zu personellen Konsequenzen und zur Einsetzung des Verteidigungsausschusses als Untersuchungsausschuss. Insbesondere der im Dezember 2009 von den Medien geäußerte Verdacht, dass der Angriff nicht aus Notwehr erfolgt sei, sondern unter der Zielsetzung, Taliban-Führer und Sympathisanten gezielt zu töten,296 wäre - wenn dieses durch die Ermittlungen des Untersuchungsausschusses bestätigt würde - zum einen juristisch höchst umstritten,297 zum anderen möglicherweise nicht im Einklang mit dem ISAF-Mandat,298 sondern dann drohte - wie es in einem Pressekommentar formuliert wurde ,,(D)die Detonation der Bomben von Kundus ...das Grundverständnis der Bundesrepublik über den demokratisch legitimierten Einsatz einer Verteidigungsarmee aufs Schwerste zu erschüttern. "299
295 296
297
298
299
Quelle: "Luftangriff bei Kundus. US-Piloten zögerten mit Bombardierung" in: Focus-Online vom 06.11.2009 (Zugriff: 06.11.2009). Vgl. ,,Er hat die Menschen als Ziel, nicht die Fahrzeuge" in: Süddeutsche Zeitung-Online vom 11.12.2009 (Zugriff: 12.12.2009) und "Oberst wollte Taliban töten" in: Frankfurter RundschauOnline vom 11.12.2009 (Zugriff: 12.12.2009). So wird z.B. der damalige Bundesinnenminister Schäuble in der ,,zeit" mit der Aussage zitiert, die rechtlichen Probleme der Bekämpfung des internationalen Terrorismus reichten "bis hin zu Extrernfllllen, wie dem sogenannten Targeted Killing (gezielte Tötung)." "Gezielt töten?" in: Zeit-Online vom 09.07.2009 (Zugriff: 12.12.2009). Auf die vielfliltigen Rechtsprobleme, die sich bei Auslandseinsätzen ergeben können, weist Mackenroth in dem Gastbeitrag ,,Lockere Bindung" in der FAZ.NET vom 06.07.2009 hin (Zugriff: 08.07.2009). Das OEF-Mandat hätte man - wenn man die grundlegenden Rechtsfragen beiseitelässt - so auslegen können, dass die deutschen Soldaten gezielte Tötungen hätten durchfiihren können (so. z.B. Chauvistre 2009, S. 36). Das Mandat war jedoch 2008 nicht erneuert worden, so dass Soldaten des KSK seitdem nur unter dem ISAF-Mandat eingesetzt werden können. So die Formulierung von Günther Lachmann am 13.12.2009 in einem Kommentar ,,Merke I darf zum Luftangriffnicht länger schweigen" in: Welt-Dnline vom 13.09.2009 (Zugriff: 13.12.2009).
5.1 Defizite deutscher Zielvorstellungen
159
Inwieweit die neue Zielvorstellung, nach der der Ausbildungsauftrag für die afghanischeArmee im Vordergrund stehen und die bisher fürAufstandsbekämpfung bereitgehaltenen Kräfte zu Gunsten dieser Schwerpunktverlagerung reduziert werden sollen, ein höheres Maß an Verfahrensrationalität bedeutet, bleibt abzuwarten.
5.1.5 Zwischenresümee Aus den vorstehenden Analysen kann man resümieren: Die Erstentscheidungen für die Afghanistaneinsätze erfolgten am Anfang unter erheblichem Zeitdruck. Zwischen der Petersberg-Konferenz und dem Bundestagsbeschluss des ersten ISAFMandats lagen z.B. nur gut drei Wochen. Von daher ist davon auszugehen, dass die Tragweite der Entscheidungen von den Akteuren nicht vollständig überblickt wurde - trotz eigentlich, auch in der Erinnerung von damals beteiligten Abgeordneten, verfügbarer Informationen über die von unserem Kulturkreis völlig abweichenden Verhältnisse in Afghanistan. Abstrakte Kriterien für Auslandseinsätze existierten zu der Zeit noch nicht. Eine schlüssige politische Zweckbestimmung der Einsätze war bei z.T. erheblichen Unterschieden zwischen den Zielvorstellungen der USA, der UN, der NATO sowie der EU und der Zivilmachtvorstellung in der Gesellschaft schwierig. Die Bundesregierung befand sich in einem Mehrebenendilemma. Die Formulierung des politischen Zwecks erfolgte anfangs relativ unpräzise. Als er im Nachhinein präzisiert wurde, erwies er sich als wenig realistisch. Er wurde bei den Erstentscheidungen 200112002 durch multilateralistische Motive bestimmt, also dem Bestreben, die VN zu unterstützen, allerdings war am Anfang die "uneingeschränkte Solidarität" gegenüber dem Hegemon USA vorrangig. Anschließend kam das Bestreben um "Schadensbegrenzung" im gestörten deutsch-amerikanischen Verhältnis aufgrund des Irak-Krieges hinzu. Dabei versuchten die nachträglich geschaffenen konzeptionellen Grundlagen, die Afghanistaneinsätze zunehmend auch mit deutschen Interessen - weitgehend gleichgesetzt mit Bündnisinteressen - zu verknüpfen. Dabei ist nicht erkennbar, inwieweit abstrakte Kriterien, wie sie im Laufe der Zeit verschiedenartig entwickelt worden waren, in die Erarbeitung dieser Zielvorstellungen einflossen. Nach und nach entwickelte die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik mit dem Konzept der "Vemetzten Sicherheit" einen spezifischen Ansatz, den sie zwar rein verbal in die konzeptionellen Vorstellungen zuerst der NATO, dann teilweise auch der VN und schließlich sogar ansatzweise der USA einbringen konnte. Gleichwohl richteten sich die Entscheidungen im multilateralen Umfeld primär auf die militärische Komponente (Ausweitung des ISAF-Verantwortungsbereichs, Zunahme der Bedeutung von Counter Insurgency auch für ISAF, Truppenverstärkun-
160
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
gen), so dass die deutschen Entscheidungen generell unter multilateralem Druck standen, aus dem Loyalitätsverpflichtungen abgeleitet wurden. Der auf der Londoner Konferenz vom Januar 2010 beschlossene "Strategiewechsel" reduzierte das Anspruchsniveau der Zielsetzung, indem unter dem Stichwort "Übergabe in Verantwortung" Exit-Überlegungen entwickelt wurden, als deren Voraussetzung eine stärkere Gewichtung der nicht-militärischen Komponenten des Engagements betont wurde. Allerdings kam es zunächst jedoch zu einer weiteren Ausweitung des Militäreinsatzes. Die für die Bundeswehr formulierte militärische Zielsetzung entsprach niemals exakt den jeweils zugrunde liegenden politischen Zwecken. 30o Am Anfang war sie - im Gegensatz zu den breit angelegten politischen Zielvorstellungen eng begrenzt. Als die Verantwortung von ISAF auf das ganze Land ausgeweitet wurde und sich der Charakter der Einsätze zunehmend von Stabilisierungsoperationen hin zur Bekämpfung von Aufständischen verschob, folgte die in den Mandaten festgelegte deutsche militärische Zielsetzung diesen Veränderungen nicht, lediglich die Einsatzregeln (RoE) wurden ansatzweise angepasst, allerdings relativ spät und zögerlich. Inwieweit die nach dem "Strategiewechsel" 2010 beabsichtigte deutsche Schwerpunktvertagerung weg von der Aufstandsbekämpfung hin zu mehr Ausbildungsaktivitäten in Anbetracht der verschärfen Sicherheitslage realistisch ist, bleibt abzuwarten. Tendenziell könnte dieses zur Folge haben, dass in der Aufgabenteilung die Differenzierung zwischen den NATO-Partnern weiter vertieft wird, indem die militärischen Kampfaufgaben im Norden zunehmend auf US-Truppen verlagert werden. Gemäß der Logik der Zweck-Ziel-Mittel-Relation ergab sich aus der wachsenden Diskrepanz zwischen Zweck und Ziel eine Tendenz zur Verselbständigung der militärischen Ziele, weil mehr und mehr nicht der politische Zweck, sondern militärische Notwendigkeiten die Entscheidungen bestimmten. Wenn man unterstellt, dass die deutschen Entscheidungen zur Ausweitung des Einsatzes auf die PRTs in Kundus, Feyzabad und die Übernahme der Führung in der Nordregion 2005 noch primär bewusste und politisch gewollte Eskalationsschritte waren, so deuten die empirischen Erkenntnisse darauf hin, dass alle weiteren Eskalationsschritte nach 2005 einer Eigendynamik unterlagen, die überwiegend militärisch bestimmte waren.
300 Thomas Rid wies zu Recht daraufhin, dass "eine stabile Regierung kein militärisch erreichbares Kriegsziel" sei. "Wenn Generäle Politik machen" in: Zeit-Online vom 10.04.2008 (Zugriff: 18.02.2010).
5.2 Dominanz militärischer Aspekte
161
5.2 Dominanz militärischer Aspekte 5.2.1 Diskrepanz zwischen zivilen und militärischen Komponenten in der Realisierung der Zielvorstellungen Bei der Analyse der Afghanistan-Konzepte der Bundesregierung war hervorgehoben worden, dass auf der Zielebene - der Logik kleiner Kriege folgend - militärische und nicht-militärische Ziele ausgewogen formuliert wurden, was sich u.a. im Konzept der Vemetzten Sicherheit widerspiegelt. Dieser Gedanke findet sich auch - zumindest als Forderung - in nahezu allen Doktunenten und Reden. 301
301
Beispiele dafllr sind folgende Formulierungen: ,,Durch unser verstärktes ziviles und militärisches Engagement über Kabul und Umgebung hinaus wollen wir helfen, den Teufelskreis aus mangelnder Sicherheit und fehlendem Aufbaufortschritt zu durchbrechen." (Bundesregierung 2003, S. 4) "Die Bundesregierung treibt auf der Grundlage ihres Anfang Oktober 2003 beschlossenen Mghanistan-Konzepts den Prozess einer dauerhaften Stabilisierung des Landes im Sinne eines umfassenden Sicherheitskonzepts voran, dessen Schwerpunkt und Kern ziviler Natur ist, das zur Schaffung des erforderlichen Klimas der Sicherheit aber auch militärische Komponenten enthält" (Bundesregierung 2004, S. 34); ,,Dabei muss der weit verbreiteten, aber falschen Wahrnehmung entgegengetreten werden, dass die internationale Gemeinschaft in Afghanistan hauptsächlich militärisch engagiert ist. Eine solch verengte Wahrnehmung ist es, die sowohl in der afghanischen als auch in der internationalen Öffentlichkeit zu Fehlurteilen fllhrt." (Bundesregierung 2006, S.4f.) ,,Auf dem Bukarester NATO-Gipfel haben sich die 26 Staats- und Regierungschefs der NATO zur Fortsetzung und Intensivierung der Anstrengungen fllr Sicherheit, Stabilität und Wiederaufbau des Landes bekannt und hierzu eine umfassende und ganzheitliche Strategie verabschiedet, die politische, militärische und unterstützende Maßnahmen der Allianz kohärent zusammenfasst und in den Rahmen der internationalen Initiativen einbettet." (Bundesregierung 2008, S. 10) "Derzivile Wiederaufbau istVoraussetzung fllr denErfolgAfghanistans. Die lSAF ist die Voraussetzung fllr den Erfolg des Wiederaufbaus und fllr die politische Stabilisierung." (Rede derBundesministeTin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) bei der Mandatsdebatte 2008, BT PIPr 16/183 vom 16.10.2008, S. 16499) "In Mghanistan ist kein Erfolg allein mit militärischen Mitteln zu erzielen. Das sagen wir in fast jeder Rede zu diesem Thema. Zu oft wird dabei aber vergessen: In Afghanistan ist auch kein Erfolg ohne militärische Mittel zu erzielen." (Rede des Abgeordneten Andreas Schockenhoff (CDU) bei derMandatsdebatte 2009, BT PIPr 17/9 vom 03.12.2009, S. 670) "Deshalb haben wir auch diesen ,comprehensive approach' ... Wir haben immer darauf hingewiesen, dass dieses Unternehmen allein militärisch nicht erfolgreich sein wird. Es gibt die drei Zielsetzungen ,security', ,good governance' und ,economic development'. Diese drei Ziele gehören fest zusammen." (Erläuterung des Regierungssprechers Dr. Raabe in der Regierungspressekonferenz vom 01.07.2009, http://www.bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/ MitschriftlPressekonferenzen /2009/07/2009-07-01-regpk.htrnl, (Zugriff: 13.12.2009); "Die Task Force Afghanistan der SPD-Bundestagsfraktion hat die Bundesregierung 2007 aufgefordert, das Verhältnis von militärischen und entwicklungspolitischen Beiträgen in Afghanistan ausgewogener zu gestalten. Die Mittel fllr den zivilen Aufbau sollten überprüft und gegebenenfalls den veränderten Anforderungen angepasst werden." (SPD-Bundestagsfraktion 2009, S. 40)
162
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Es wurde oben auch auf einen Quantifizierungsansatz hingewiesen, nachdem der militärische Anteil der Afghanistanmission nur bei ca. 20% liegen solle, wohingegen 80% durch nicht-militärische Maßnahmen zu erbringen wären. 302 Wie stellt sich dieses Verhältnis jedoch in der Realität dar? In den summarischen Bewertungen herrscht in der Literatur eine breite Übereinstimmung, dass in der Umsetzung der konzeptionellen Vorstellungen die nichtmilitärischen Maßnahmen deutlich zu kurz kommen. 303 Gleiches ergibt sich auch aus einer Vielzahl von politischen Reden und Erklärungen, und zwar nicht so sehr in den ersten, sondern insbesondere in den jüngsten Jahren des Einsatzes. 304 Es handelt sich also offensichtlich nicht um ,,Anlaufprobleme" bei den Einsätzen, sondern wohl um eine systematische "Schieflage". 5.2.1.1 Quantitative Betrachtung Will man diese summarischen Bewertungen quantitativ überprüfen, so bietet sich der Vergleich der eingesetzten Ressourcen an. Diese sind Finanzmittel und Personal. Da Gegenstand der Analyse die deutschen Entscheidungen sind, soll zunächst der finanzielle Aufwand Deutschlands für militärische und nicht-militärische Maßnahmen gegenübergestellt werden. Dabei wird nur auf die staatlichen Ausgaben abgehoben. Die finanziellen Aufwendungen der Nichtregierungsorganisationen (NRO) - soweit nicht vom BMZ finanziert - sind zum einen nicht Bestandteil politischer Entscheidungen, zum anderen würde deren Ermittlung auf große Schwierigkeiten stoßen. In einer Antwort auf eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag bezifferte die Bundesregierung Mitte 2007 die Aus302 303
304
Vgl. das Interview mit General Egon Ramms "Die afghanische Bevölkerung in den Mittelpunkt stellen" in: Focus Dnline vom 20.03.2008 (Zugriff: 22.07.2009). Als Beispiel möge die folgende Aussage dienen: "Der Mangel an zivilen Kräften und Mitteln zur Unterstützung von Konzeptionen vernetzter Sicherheit ist eine grundlegende Schwäche des gesamten Mghanistan-Einsatzes. Die Frage der Verfügbarkeit ziviler Kräfte in den Einsatzgebieten ist fiir alle ISAF-Truppensteller ein fortwährendes Problem." (NoetzeI2008, S. 27) So erklärte beispielsweise die Abgeordnete Ute Koczy (BOndnis 9O/Die Grünen) in der Mandatsdiskussion 2009: ,,Für mich als Entwicklungspolitikerin steht der zivile Aufbau im Vordergrund. Aus diesem Blickwinkel heraus sage ich Ihnen: Auch dieses Mal ist es der Bundesregierung leider nicht gelungen, den zivilen Aufbau in den Mittelpunkt zu rücken. Es bleibt weiterhin bei einer Schräglage. Wir haben es hier mit einer Militärfixiertheit zu tun, die immer wieder dazu beiträgt, die eigentlichen Probleme zu übersehen. Wann sehen Sie ein, dass es fiir Mghanistan wirklich nur ein Motto geben kann: ,Zivil vor Militär'?" (BT PlPr 17/9 vom 03.12.2009, S. 682) In der gleichen Sitzung formulierte der Abgeordnete Emst-Reinhard Beck (CDU/CSU): ,,Der zivile Aufbau Afghanistans muss erheblich intensiviert werden. Die Gnmdbedürfnisse der Menschen, wie zum Beispiel die Versorgung mit Wasser und Energie, Gesundheitsvorsorge, also die Basic Elements, müssen dabei im Mittelpunkt stehen. Die Menschen müssen spüren und erleben, dass sich ihre Lage tatsächlich verbessert." (BT PIPr 17/9, S. 683)
5.2 Dominanz militärischer Aspekte
163
gaben für die militärische Beteiligung an ISAF mit 1,9 Mrd. €.305 Dagegen standen Ausgaben für den zivilen Wiederaufbau in Höhe von 550 Mio. €. Dieses bedeutete ein prozentuales Verhältnis von 78 : 22 - also diametral zu dem o.a. genannten ,,idealtypischen" Verhältnis von 20 : 80 (s. Tabelle 3, Zeile 1).
Tabelle 3: Verhältnis des militärischen und zivilen finanziellen Aufwandes Summen (Zeitraum)
militärisch (Mrd.€)
zivil (Mrd.€)
Verhältnis (%)
2002 - Mitte 2007
1,9
0,55
78: 22
2002 - 2010 nationale Ausgaben (Schätzwerte ab 2009)
4,0
1,1
78: 22
2002 - 2010 nationale Ausgaben zzgl. deutscher Anteile an EU-INATO-Ausgaben (Schätzwerte ab 2009, Stand Ende 2009)
4,4
1,4
76: 24
2002 - 2010 (unter Berücksich-tigung der Absichtserklärungen von London Februar 2010)
4,6
1,5
75: 25
Nur 2010 (unter Berücksichtigung der Absichtserklärungen von London Februar 2010)
1,0
0,43
70: 30
Bemerkenswert ist allerdings die Art der Darstellung in der Antwort der Bundesregierung. Die zivilen Aufwendungen stehen am Anfang der Drucksache (S. 2), die militärischen sehr viel weiter hinten (S. 10). Und ihnen werden nicht die vorne genannten ,,zivilen" Ist-Ausgaben von 550 Mio. € gegenübergestellt, sondern es heißt dort: "Einschließlich Humanitärer Hilfe, entwicklungsorientierter Not- und Übergangshilfe und Sondennitteln des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV) wird die Bundesregierung bis zum Jahr 2010 voraussichtlich über 900 Mio. Euro für den zivilen Wiederaufbau Mghanistans zur Verfügung gestellt haben. "306
Offenkundig sollte damit ein "aufgebessertes" prozentuales Verhältnis zwischen militärischen und zivilen Ausgaben suggeriert werden, (das sich bei diesen Zahlen auf 68 : 32 "verbessern" würde). Wenn man dem Ansatz der Bundesregierung folgt und die geplanten Aufwendungen bis einschließlich 2010 als Basis für einen Vergleich nimmt, dann man muss konsequenter Weise auch die militärischen Ausgaben bis 2010 extrapolieren.
305 306
BT Drs 16/6312 vom 06.09.2007, S. 10. Die Ausgaben für OEF werden hier aufgrund des äußerst geringen Anteils (bis zu 100 Soldaten) nicht ermittelt. BT Drs 16/6312 vom 06.09.2007, S. 10.
164
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
In der Regierungspressekonferenz am 01.07.2009 bezifferte der Regierungssprecher diese Ausgaben bis einschl. 2008 mit ca. 2,9 Mrd. €.307 Vier Wochen später nannte die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Ulrike Merten (SPD), in der Presse die Zahl von 2,6 Mrd. €.308 Der niedrigere Wert soll den weiteren Schätzungen zugrunde gelegt werden. Dieser muss zur Ermittlung einer Vergleichszahl für 2010 um die geplanten Ausgaben für 2009 und 2010 ergänzt werden. Diese sollten gern. den Anträgen der Bundesregierung für die jeweilige Mandatsverlängerung 570,6 Mio. € für 2009 309 und 784,7 Mio. € für 2010 310 betragen, so dass sich bis 2010 ein voraussichtlicher Gesamtaufwand für die militärische Beteiligung an ISAF von knapp 4 Mrd. € ergibt. 311 Auch der Schätzwert der Bundesregierung für die zivilen Wiederaufbaumaßnahmen wurde von dieser inzwischen nach oben korrigiert. So heißt es auf ihrer Homepage ,,Deutschland wird bis 20 I 0 einschließlich humanitärer Hilfe, Not- und Übergangshilfe mehr als 1,1 Milliarden Euro fllr Afghanistan bereitgestellt haben".312
Aus dem Vergleich von 4 Mrd. zu 1,1 Mrd. ergibt sich eine prozentuale Relation von weiterhin 78 : 22 (Tabelle 3, Zeile 2). Zu diesen Summen der nationalen Ausgaben sind die von Deutschland getragenen Anteile der NATO- bzw. EU-Ausgaben für ISAF hinzuzurechnen. Die NATO-Ausgaben für ISAF betrugen - gern. einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von Abgeordneten der Fraktion ,,Die Linke" von 2003 bis 2007 656 Mio. €. Dabei ist eine über die Jahre deutliche Steigerung zu erkennen. 313 Extrapoliert man die Ausgaben bis 2010 (unter der Annahme, dass sie für 2008-2010 mindestens die Höhe von 2007 hatten), so kommt man auf eine Im Einzelnen nannte er folgende Zahlen: 2002: 106,2 Mio. €; 2003: 383,3 Mio. €; 2004: 337,5 Mio. €; 2005: 377,3 Mio. €; 2006: 500,8 Mio. €; 2007: 466,9 Mio. € und 2008: 536 Mio. €. Diese summieren sich allerdings nicht auf 2,9 Mrd. €, sondern nur auf ca. 2,7 Mrd. €. (http:// www.bundesregierung.de/nn_774/ContentlDElMitschrift/Pressekonferenzen/2009/07/2009-07Ol-regpk.html; Zugriff: 13.12.2009). 308 ,,Afghanistan-Einsatz schluckte 2,6 Milliarden Euro" in: Tagesspiegel-0nline vom 28.07.2009 (Zugriff: 14.12.2009). 309 BT Drs 16110473 vom 07.10.2008, S. 4. 310 BT Drs 17/39 vom 18.11.2009. 3I 1 Diese Ermittlung ist methodisch unsauber, weil die Zahlen bis einseh!. 2008 Ist-Ausgaben sind, die Zahlen fllr 2009 und 2010 hingegen Planungsgrößen. Aufgrund des Zwecks - der Gegenüberstellung mit Schätzwerten fllr die zivilen Maßnahmen - erscheint dieses Vorgehen jedoch vertretbar. 312 http://www.bundesregierung.de/ContentlDE/Artikel!MghanistanlFragenAntworten/2007-Q8-23faq-afghanistan.html#doc248568bodyText3 (Zugriff: 14.12.2009). 313 BT Drs 16/10692 vom 22.10.2008, S. 4 (2003: 26 Mio., 2004: 54 Mio.; 2005: 79 Mio.; 2006: 160 Mio.; 2007: 338 Mio., Summe: 657 Mio., Differenz zur Zahl im Text durch Rundung). 307
5.2 Dominanz militärischer Aspekte
165
Summe von ca. 2 - 2,5 Mrd. €, von denen auf Deutschland 16%, also etwa 400 Mio. €, entfallen. 314 Damit erhöht sich der deutsche militärische Gesamtaufwand bis 2010 auf ca. 4,4 Mrd. €. Bis Ende 2009 hatte die EU aus dem Gemeinschaftshaushalt in Afghanistan einen Betrag von 1,4 Mrd. € für den zivilen Wiederaufbau des Landes aufgebracht. 315 Dazu kommen noch die Ausgaben für 2010, für die mangels aktueller Zahlen die gleiche Größenordnung wie für 2009 angenommen wird (231 Mio. E316). Geht man davon aus, dass Deutschland einen Bruttobeitrag von ca. 20% für den EUHaushalt erbringt,317 dann kann man den oben dargestellten geschätzten deutschen Ausgaben für den zivilen Wiederaufbau von 1,1 Mrd. € ca. 320 Mio. € zurechnen. Damit beträgt die Relation von militärischen zu nicht-militärischen Aufwendungen 4,4 Mrd. : 1,4 Mrd., also 76% : 24% (Tabelle 3, Zeile 3). Nimmt man die Zahlen hinzu, die durch die Bundesregierung nach der Londoner Konferenz vom 28.01.2010 mit dem angekündigten "Strategiewechsel" in Aussicht gestellt worden sind, so sollen für die militärische Verstärkung ca. 271 Mio. € veranschlagt werden (davon 226 Mio. € in 2010 fällig),318 für den Aufwuchs der zivilen Hilfe ca. 210 Mio. € (Bundesregierung 2010, S. 7). Damit stünden 4,6 Mrd. für militärische Maßnahmen 1,5 Mrd. für nicht-militärische gegenüber, was einer prozentualen Verteilung von 75% : 25% entspräche (Tabelle 3, Zeile 4). Betrachtet man - unter dem Aspekt eines "Strategiewechsels" - die geplanten (nationalen) Aufwendungen nur für 2010, so sollen diese bei den militärischen Ausgaben rund 1 Mrd. € (784 Mio. ursprünglicher Ansatz zuzüglich 226 Mio. nach London), bei den zivilen Ausgaben 430 Mio. € betragen (Bundesregierung 2010, S. 7). Das ergibt eine Relation von 70% : 30% (Tabelle 3, Zeile 5). Man kann also feststellen: selbst unter Berücksichtigung der Absichtserklärungen auf der Konferenz von London 2010 sind die zivilen Anstrengungen Deutschlands - gemessen an den eingesetzten finanziellen Mitteln - trotz aller "Sonntagsreden" nach wie vor weit entfernt von einem ausgewogenen Verhältnis, bei dem die nicht-militärischen Mittel den größeren Anteil ausmachen.
314 315 316 317
318
Vgl. zum Prozentsatz des deutschen Anteils: "Kostenexplosion in Afghanistan" in: HandelsblattOnline vom 05.02.2010 (Zugriff: 27.03.2010). Quelle: http://ec.europa.eu/europeaid/where/asia/country-cooperation/afghanistanJafghanistan_en.htm, (Zugriff: 14.12.2009). Quelle: http://ec.europa.eu/budgetJbudget_detaiVlas(year_de.htm (Zugriff: 29.03.2010). Vgl. flir eine grundsätzliche Darstellung der Finanzbeziehungen Deutschlands zur EU: Deutsche Bundesbank 2005, flir den aktuellen Wert von ca. 20% den Beitrag "EU-Haushalt 2010 steigt auf 122,9 Milliarden Euro", http://www.euractiv.de/landwirtschaft-und-gap/artikel/eu-haushalt201 0-steigt-auf-1229-milliarden-euro-o02397 (Zugriff: 14.12.2009). BT Drs 17/654 vom 09.02.2010, S. 5.
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Dieses Missverhältnis ist allerdings kein spezifisch deutsches oder europäisches Problem. Auch für die USA - als dem Akteur mit dem größten Anteil an den Afghanistan-Operationen - gilt diese Feststellung. 319 Neben dieser etwas ausführlicheren Betrachtung der finanziellen Ressourcen, die für das deutsche Afghanistan-Engagement eingesetzt wurden, soll ein kurzer Blick auf die personellen Ressourcen geworfen werden. Hier stand Ende 2009 einer militärischen Zahl von 4.800 deutschen Soldaten (Mandatsobergrenzen bis 13.12.2009, einseh!. des AWACS-Mandats) eine Zahl von einigen Hundert nichtmilitärischem Personal gegenüber. Bei diesem handelte es sich - neben Z.B. Botschaftspersonal bzw. einigen Beamten des Auswärtigen Amtes und des BMZ in den PRTs - im Wesentlichen um Mitarbeiter der Organisationen, die Entwicklungshilfeprojekte betreuen, sowie um Polizeibeamte, die bis 2007 im Rahmen der deutschen Pilotverantwortung für die Polizeiausbildung, danach im Rahmen der EU-Mission EUPOL oder eines bilateralen Programms in Afghanistan Dienst leisten. Die Zahl der aus Deutschland entsandten Mitarbeiter der Entwicklungshilfeorganisationen dürfte bei einigen wenigen Hundert liegen. So hatte die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) Anfang 2010 ca. 150 Mitarbeiter in Afghanistan, die deutsche Welthungerhilfe Anfang 2009 gerade einmal 19.320 Die Zahlen der übrigen NGO wurde nicht ermittelt, es wird davon ausgegangen, dass sie in der Größenordnung der Welthungerhilfe liegen. Trotz der 2002 übernommenen Federführung für den Polizeiaufbau gelang es Deutschland nicht, eine nennenswerte Zahl an Polizeibeamten für die Ausbil319
320
So betrugen nach einer Studie des US Congressional Research Service die Militärausgaben der USA für Mghanistan bis zum Haushaltsjahr 2009 kumulativ 210 Mrd. $ (ca. 105 Mrd. €), die Ausgaben fIir zivilen Wiederaulbau 16 Mrd. $ (ca. 8 Mrd. €). (Quelle: Belasco 2009, S. 13, Tabelle 3, Militärausgaben gern. Zeile 1 {Department ofDefense1und ohne den Anteil fIir Foreign Aid and Diplomatie Ops. Zivile Ausgaben gern. Zeile 2 [Foreign Aid and Diplomatie Ops]). Das bedeutet eine prozentuale Relation von 93 : 7 zugunsten der Militärausgaben, ein Ergebnis, das aufgrund der oben herausgearbeiteten Unterschiede in den Zielvorstellungen zwischen den USA und Deutschland nicht überrascht. Allerdings sind die Verhältniszahlen der USA nicht direkt tnit den fIir Deutschland ermittelten vergleichbar, da in dem Anteil der Militärausgaben auch ein (kleiner) Teil an Wiederaulbauhilfe enthalten ist, z.B. in Form des "Commanders Ernergency Response Prograrn (CERP)". Mit diesen Haushaltsrnitteln können die militärischen Kommandeure kleine Projekte des Wiederaufbaus unmittelbar finanzieren (vgI. Belasco 2009, S. 45). Insofern soll hier nur festgestellt werden, dass der allgemeine Trend einer ausgeprägten Dominanz der militärischen Anteile an den Finanzmitteln gegenüber den zivilen auch fIir die USA gilt. Quellen: Zahlen fIir GTZ: Vortrag Dr. Hans-Joachim Preuß, Geschäftsführer GTZ, ,,ziviler Wiederaulbau unter Kriegsbedingungen - die GTZ in Mghanistan" vor dem Internationalen Club La Redoute, Bonn e.V., am 24.03.2010. Zahlen fIir Welthungerhilfe: E-Mail-Auskunft vom 25.03.2010.
5.2 Dominanz militärischer Aspekte
167
dungsunterstützung der afghanischen Polizei zu entsenden. Bis 2007 waren lediglich durchschnittlich 40 Beamte aus Bund und Ländern dauerhaft im Lande eingesetzt. Zusätzlich wurden jährlich etwa 25-30 Kurzzeitexperten für die Durchführung von Aus- und Fortbildungsveranstaltungen entsandt. 321 Dabei stellte sich die Beteiligung der einzelnen Bundesländer äußerst unterschiedlich dar,322 was deutlich macht, dass der deutsche Föderalismus einer stringenten nationalen Afghanistanpolitik nicht gerade förderlich ist. Mit dem Übergang der Verantwortung für den Polizeiaufbau auf die EU wurde für die Mission EUPOL ein Zielwert von zunächst rund 200 Polizeibeamten festgelegt, der 2008 auf 400 erhöht wurde. 323 Von diesen waren im März 2010 lediglich 290 im Einsatz, davon 48 deutsche Beamte. 324 Dazu kamen in einem binationalen Programm 140 weitere deutsche Polizeiausbilder. 325 Auch wenn die Bundesregierung immer wieder die ,,Erfolge" betonte - so nannte die Jahresbilanz 2008 des BMI die Zahl von 22.000 afghanischen Polizisten, die seit 2002 unter deutscher Leitung ausgebildet wurden -, so stellte Nachtwei dieses der zu leistenden Aufgabe gegenüber und kam zum Ergebnis, dass EUPOL weit hinter den Anforderungen zurückbleibt. 326 Auch andere Autoren sprachen von EUPOL als einer Mission "am Rande des Glaubwürdigkeitsverlustes" (Kempin/Steinicke 2009). Und die angekündigte Erhöhung der Zahl der Polizisten nach dem "Strategiewechsel" Anfang 2010 um 321
322
323 324 325
326
Quelle: Homepage des BMI http://www.bmi.bund.de/cln_183/DErrhemenlSicherheitJPolizei 1 Mghanistan/Afghanistan_node.html#docI59394bodyText2 (Zugriff: 18.12.2009). Vgl. dazu auch den kritischen Beitrag "EU und Deutschland ,haben erbärmlich versagt" in: Welt-Online vom 18.10.2007, in dem der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Bernhard Gertz, zu der Zahl von 40 deutschen Polizeiausbildern wie folgt zitiert wird: "Das ist erbärmlich wenig im Vergleich zu der Zahl von 3500 Soldaten, die wir dort einsetzen." So zeigt z.B. eine Statistik in der Antwort der Bundesregierung aufeine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen von Anfang 2008, dass die Länder Bayern, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommem, Niedersachsen und das Saarland überhaupt keinen einzigen der zu der Zeit in Mghanistan im Dienst befindlichen 27 Beamten stellten, aus den anderen Ländern kamen 19, acht Beamte waren von der Bundespolizei (vgl. BT Drs 16/8452 vom 07.03.2008). Quelle: Homepage des AA http://www.bmi.bund.de/cln_183/DE/ThemenlSicherheitJPolizei 1 Mghanistan/Mghanistan_node.html#doc I 59394bodyText2 (Zugriff: 18.12.2009). Vgl. "Es fehlt an fast allem" in: Bonner Generalanzeiger vom 29.03.2010, S. 4. Quelle: BMI: Jahresbilanz 2008 zum deutschen Engagement beim Polizeiaufhau Afghanistan, http://www.reservistenverband.de/download/HE/030 I_Jahresbilanz]olizeiaufbau, S. 4. (Zugriff: 18.12.2009). Zahlen flir März 20 I 0 aus ,,Afghanistans Polizisten mangelt es an fast allem" in: Welt-Online vom 29.ß3.2010 (Zugriff: 29.03.2010). Nachtwei formulierte im September 2009: ,,zzt. sind 96.800 Polizisten genehmigt, eine Aufstokkung auf 160.000 ist ins Auge gefasst. Angesichts eines jährlichen,Schwunds' von mindestens 25% der Polizisten müssten pro Jahr 40.000 Polizisten ausgebildet werden, um die 160.000 in absehbarer Zeit zu erreichen. Hinter diesen Herausforderungen bleibt EUPOL weit zurück." (Nachtwei 2009 a)
168
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
knapp 100 Polizeibeamte (vgl. Bundesregierung 2010, S. 10 f.) wirkt angesichts der häufig wiederholten Erklärungen nicht überzeugend, wie auch der Asien- und Südostasienkorrespondenten Willi Germund in einem sehr kritischen Kommentar anmerkte: "Nun will die Regierung in Berlin 260 Polizisten als Ausbilder nach Afghanistan schicken und vergisst zu erwähnen, das die Deutschen seit 2001 noch nicht ein einziges Mal ihre Sol1stärke erreicht haben. "327
Eine Folge dieses - wie Noetzel es bewertete - "dramatischen Mangels an Ausbildern" ist, "dass beispielsweise im gesamten Norden Afghanistans die Polizeiausbildung faktisch durch das 30 Mann starke Feldjägerausbildungskommando der Bundeswehr stattfindet" (Noetzel 2008, S. 28). Als Fazit bleibt festzuhalten: nicht nur hinsichtlich der finanziellen, sondern auch der personellen Ressourcen bestand und besteht ein krasses Missverhältnis zwischen den militärischen und den nicht-militärischen Anteilen beim Wiederaufbau Afghanistans. 5.2.1.2 Qualitative Betrachtung Der Vergleich von Zahlen für Finanzmittel und Personal ist jedoch nur eine Dimension der Betrachtung, die der Komplexität des Wiederaufbaus Afghanistans nicht gerecht wird. Hierauf deuten nicht nur Bewertungen in der Literatur, wie beispielhaft am Anfang dieses Kapitels aufgezeigt, sondern auch zahlreiche Aussagen von Akteuren hin. So problematisierte der Bundestagsabgeordnete und Obmann seiner Fraktion im Verteidigungsausschuss, Rainer Amold (SPD), in einem Interview die Aussagekraft der Messgröße "finanzieller Aufwand" für Afghanistan. Er wies darauf hin, dass es neben dem rein quantitativen Vergleich auch noch andere Faktoren gebe. Amold formulierte: ,,Das Übergewicht des Militärischen, das würde ich nur sehen, wenn man rein auf die materielle Ausstattung schaut. Wenn man auf die Prozesse schaut, dann kann ich das so nicht sehen. Das Land selbst verfllgt nicht über eine Verwaltungsstruktur, dass man beliebig viel Geld im Entwicklungsbereich vernünftig platzieren kann. Also das muss schon auch aufnahrnebereit sein.... Man könnte sicher ein bisschen mehr, aber nicht so unglaublich viel mehr, denn das muss auch aufgenommen, verarbeitet, administriert werden können in Afghanistan. Ohne dass es eine verlässliche Verwaltung und Infrastruktur gibt, findet das sehr schnell Grenzen."32'
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Kommentar "Friede ist nicht käuflich", Bonner Generalanzeiger vom 01.02.2010, S. 2. Telefoninterview am 02.11.2009 zur Beantwortung des Fragenkatalogs filr Vorsitzende und Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses (Anlage 3 a, Frage 4).
5.2 Dominanz militärischer Aspekte
169
Hinter dieser Defizitbeschreibung steht, dass die internationale Gemeinschaft 2002 im Rahmen der G 8 zwar die sogenannten Sicherheitsaufgaben jeweils einer Nation als "lead-nation" zugewiesen hatte,329 keine Nation jedoch die Entwicklung einer leistungsflihigen Verwaltung federfiihrend vorantrieb. 330 Neben dem daraus resultierenden Mangel an einer administrativen Infrastruktur in Afghanistan werden vor allem auch das hohe Ausmaß an Korruption33 ! sowie Koordinationsmängel zwischen den vielfältigen Akteuren beklagt. Für die nationale Ebene wurde dazu in einer ernüchternden Kommentierung des 2. Umsetzungsberichts der Bundesregierung zum Aktionsplan "Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung" festgestellt, dass "eine der Ursachen für die Negativbilanz in Afgbanistan - gemessen an den dort verfolgten Zielen - in den Koordinationsmängeln sowohl innerhalb der Bundesregierung als auch mit nichtstaatlichen Akteuren zu finden ist." (Stengel/Weller 2008, S. 2)
Im gleichen Sinne äußerte sich - bezogen auf die internationale Ebene - der ehemalige Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum, der deutsche General a.D. Gerhard Back. 332 In einer konstruktivistischen Analyse arbeitete Birgit Hofmann am Beispiel der deutschen PRTs unterschiedliche Identitäten der Akteure als wesentliche Ursache der "ungelösten Koordinationsprobleme entwicklungspolitisch-militärischer Zusammenarbeit" heraus, - obwohl- wie sie schreibt - "wir wissen, dass Koordination und Kooperation für den Erfolg friedenskonsolidierender Maßnahmen zentral sind".
Vgl. BT Drs 16/1809 vom 07.06.2006, S. 60, wo die Aufteilung wie folgt referiert wird: Großbritannien: Drogenbekämpfung; USA: Aufbau einer afgbanischen nationalen Armee; Italien: Aufbau eines rechtsstaatlichen Justizwesens; Japan: Entwaffnung, Entmilitarisierung und Reintegration von Milizen; Deutschland: Aufbau einer nationalen afgbanischen Polizei. 330 Auf diesen Sachverhalt wies auch der Befehlshaber des A1lied Joint Forces Command Brunssurn, General Egon Ramms, in dem Interview mit dem Autor am 17.11.2009 hin (Fragen s. Anlage 3 b). 331 Koelbl/Ihlau weisen darauf hin, dass das Land in einer Korruptions-Skala von Transparency International auf Platz 172 von 180 untersuchten Ländern steht (Koelbl/Ihlau 2009, S. 192). 332 Er flihrte aus, dass "es nirgendwo in Kabul eine zentrale Organisation gab, die den Wiederaufbau und die Gelder, die da rein geflossen sind, zentral steuerte und die Projekte zentral festlegte und dann koordinierte. Sondern da hat jede Nation und auch jede Hilfsorganisation - das ist ja auch ein Fehler von den NGOs, die sich da nicht reinreden lassen - den Brunnen gebohrt, wo er gerade lustig war. Hauptsache war, da kommt eine Plakette dran. Man hat es im Grunde genommen versäumt, den Willen, der am Anfang da war, zentral aufzunehmen und zu steuern ... Die UN hätte sich im Grunde genommen als zentrales Steuerungselernent für den Wiederaufbau auf der politischen Seite verstehen müssen, was sie nie getan hat." Interview mit dem Autor am 16.12.2009 zu den Fragen gern. Anlage 3 e. 329
170
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Das Fazit ihrer Untersuchung lautete: ,,Punktuelle pragmatische Zusammenarbeit vor Ort wird es immer geben, aber angesichts des Identitätskonfiikts kann nicht erwartet werden, dass die ungelösten Koordinationsprobleme entwicldungspolitisch-militärischer Zusammenarbeit deutscher Akteure durch die PRTs inAfghanistan einen positiven Schub erhalten. Vielmehr müssen die zentralen Herausforderungen auf administrativer Ebene angegangen und Berührungsängste abgebaut werden." (Hofinann 2007, S. 66)
Die unterschiedlichen ,,Kulturen" von Militär und Nicht-Militär betonte auch der Abgeordnete Paul Schäfer (Die Linke), Obmann seiner Fraktion im Verteidigungsausschuss. 333 Und Winfried Nachtwei (Bündnis 90IDie Grünen) analysierte diewie er es nannte - "bestehende Kluft zwischen militärischer und politischer KonfliktlösungIFriedenskonsolidierung" wie folgt: "Sie besteht strukturell wegen unterschiedlicher Funktionsweise und Wirkmacht (Verzicht auf ,große Gewalt' kann erzwungen werden, politische Konfiiktlösung nicht), wegen unterschiedlicher Verfiigbarkeiten, Zahl und Kooperationsbereitschaft von Akteuren. Die Diskrepanz zwischen militärischen und zivilen Kräften wird vertieft durch unterschiedliche Personal- und Ressourcenausstattung, separate und unterschiedliche Planungs- und Entscheidungsprozesse und das mangelnde Verständnis fiir notwendige Fähigkeiten + Kapazitäten auf der politisch-zivilen Seite. Das erschwert und verzögert den Übergang von Stabilisierungseinsätzen in selbsttragende Stabilisierungsprozesse. Größte Schwierigkeit macht immer wieder der Übergang zur local ownership." (Nachtwei 2008, S. 41)
Als ein Fazit dieser Beschreibungen und Wertungen kann man - unter Verwendung eines normativen Governance-Begriffs - konstatieren, dass die multinationale Afghanistanmission offensichtlich auch von einem "Governance-Versagen" geprägt ist, und zwar sowohl auf der internationalen als auch auf der nationalen Ebene.
5.2.2 Übergreifen der Eskalationstendenzen von OEF aufISAF Bei der obigen Darstellung der Entwicklung wurde deutlich, dass aus dem Ablauf der Ereignisse (9/11 - Krieg der USA und der Nordallianz gegen das Tali333
Schäfer formulierte im Interview am 05.11.2009 zur Beantwortung des Fragenkatalogs fiir Vorsitzende und Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses (AuIage 3 a, Frage 4). "Und da gibt es, glaube ich, eine Dominanz des Militärischen, ohne dass es unbedingt damit zu tun hätte, dass die sich darum gerissen hätten und sagen, nur wir können das. Es gibt natürlich auch so ein bisschen die Vorstellung bei den militärischen Führern - das merkt man schnn - dass sie denken, oh je, die zivilen NGOs, die kriegen ja sowieso nichts auf die Reihe. Da wird viel geschwätzt, während wir handeln. Einfach eine andere Kultur, ganz klar. Insofern gibt es eine Dominanz des Militärischen. Auch was die Aufbauarbeit betriffi, da man braucht manchmal lange Gespräche, man muss sich in die Hütten setzen und mit denen palavern. Das läuft manchmal dem zupackenden Wesen des Militärs zuwider... Meiner Wahrnehmung nach ist es auch so, dass es da ein Missverhältnis gab, dass die Prädominanz des Militärischen einfach konzeptionell angelegt war und auch in der Realität wiederzufinden ist."
5.2 Dominanz militärischer Aspekte
171
banregime - Petersberg-Konferenz - Bonn Prozess) zunächst zwei unterschiedliche militärische Einsätze entstanden, OEF und ISAF, wobei sich Deutschland an beiden mit militärischen Kräften beteiligte. In Kapitel 5.1.4.2 wurde herausgearbeitet, dass sich die Mandate für die deutschen Kontingente an den beiden Einsätzen deutlich unterschieden. Es wurde die These aufgestellt, dass hierin die beiden Traditionslinien deutscher Außenpolitik - Multilateralismus und Zivilmachtdenken - erkennbar wurden. Dabei basierte die amerikanisch bestimmte Kriegführung im Rahmen von OEF von Anfang an auf massiven Einsätzen von Luftstreitkräften, durch die es zu erheblichen Verlusten unter der Bevölkerung kam. Hierauf wurde schon sehr früh in Veröffentlichungen hingewiesen, entsprechende Berichte häuften sich in den Folgejahren. 334 Die Parallelität von zwei Einsätzen im gleichen Operationsgebiet ist militärisch äußerst problematisch. Der ehemalige Befehlshaber des Allied Joint Forces 334
Hierzu drei Beispiele: 2002 schrieb Sedra: "Ein weiteres Beispiel für die destabilisierende Wirkung der amerikanischen Militärstrategie aufdas Land bietet der Einsatz der Luftstreitkräfte. Am I. Juli 2002 wurden bei einem amerikanischen Luftschlag gegen vier Dörfer in Südafghanistan, in denen AI QaidaAgenten vermutet wurden, 54 Menschen getötet und mehr als 120 verwundet. Die Besatzung des amerikanischen Flugzeugs, das die Angriffe flog, gab an, sie sei von Luftabwehrgeschützen in der Nähe der Dörfer unter Beschuss genommen worden. Eine Untersuchung der UNO fand jedoch keine Beweise, die diese Behauptung stützten. Dabei handelte es sich nicht um einen Einzelfall. Am 21. Juli 2002 veröffentlichte die ,New York Times' einen detaillierten Bericht über elf Örtlichkeiten in Afghanistan, wo bei US-Luftschlägen bis zu 400 Menschen umkamen." (Sedra 2002, S. 1310) Am 13.06.2007 erklärte der Abgeordnete Jürgen Trittin (Bündnis 90IDie Grünen) im Deutschen Bundestag: ,,In der Provinz Shindand fand eine OEF-Qperation statt - ohne Wissen von ISAF. Sie verstrickte sich in einen Hinterhalt und konnte sich nicht wieder zurückziehen. Was tat sie? Sie bat um Hilfe - bei ISAF. ISAF gewährte die selbstverständlich, schickte einen italienischen Hubschrauber mit Wasser und Munition. Das halfnicht. Die Kämpfe gingen weiter. Ein weiterer Hilferuf der dort bedrohten OEF-Soldaten - und ein holländisches Kampfflugzeug, eine F 16, bombardierte von diesen Truppen markierte Häuser. Damit war der Kampf vorüber. 136 Tote, darunter allerdings 50 Frauen und Kinder, zum Teil ertrunken auf der Flucht vor den Bomben in einem Fluss, der leider in diesen Tagen Hochwasser führte. Meine Damen und Herren, dass wir uns nicht missverstehen: Dies ist nicht die Darstellung der afghanischen Seite oder der anderen Kriegsteilnehmer, sondern die Darstellung, die der Kollege Nachtwei, die Kollegin Künast und ich vom ISAF-Hauptquartier von diesem Vorfall bekommen haben." (BT PIPr 16/102 vom 13.06.2007, S. 10532) In der Regierungspressekonferenz am 14.07.2008 wurde der Regierungssprecher gefragt, ob der Regierung Erkenntnisse über die zweite Bombardierung einer Hochzeitsgesellschaft vorlägen. Er antwortete: ,,Entsprechende Medienberichte sind uns bekannt. Gemeinsam mit den Kollegen von ISAF und denen im Verteidigungsministerium gehen wir solchen Meldungen grundsätzlich sehr sorgfliltig nach. Es hat zu jenem Zeitpunkt meines Wissens keine ISAF-Operation in dem Gebiet gegeben. Ob es andere Operationen gegeben hat, wird geprüft." (Quelle: http://www. bundesregierung.de/nn_774 /ContentlDE/Archivl6/ Pressekonferenzen/2008/07/2008-o7-14regpk.html (Zugriff: 21.12.2009)
172
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
Command Brunssum, General a.D. Gerhard Back, formulierte, dass in der Anfangszeit von ISAF "wir billigend in Kaufnahmen, dass, um unsere Aufgaben zu machen, OEF für uns eingreifen musste".335 Mit der Ausdehnung der ISAF-Verantwortlichkeit wurde die Trennung der beiden Einsätze zunehmend noch problematischer. Denn "anders als fllr die OEF war zwar das Ziel des ISAF-Einsatzes nicht der militärische Sieg über die Gegner, sondern die Sicherung von Territorium. Aber dort, wo die Kampfhandlungen intensiver wurden, setzte man zunehmend offensive Aktionen fllr das defensive Ziel ein. Folglich nahm die Unterscheidbarkeit von ISAF und OEF ab." (Brzoska lEhrhart 2009, S. 65)336
Folgerichtig wurde der NATO-Operationsplan für ISAF (Op-Plan 10302) dahingehend überarbeitet, dass ISAF mit robusteren Einsatzregeln ausgestattet wurde (vgl. Noetzel 2008, S. 26). In der Folgezeit kam es auch bei ISAF-Operationen zu Vorfällen, bei denen bei der Bekämpfung von Taliban auch Unbeteiligte getroffen wurden. 337 Damit bedingte - wie SchetterlMielke konstatieren - der OEF-Einsatz in Südund Südostafghanistan, und als Folge der Ausweitung 2006 auch der von ISAF "eine Eskalation der Gewalt. Hier wurde während der OEF-Militäroperationen bewusst die Konfrontation mit den Taliban gesucht. Das hat bis heute negative Auswirkungen auf die Stabilisierung der Region, wie sie das ISAF-Mandat anstrebt. Die Bevölkerung ist kaum in der Lage, zwischen OEF und ISAF-Truppen und -Mandat zu unterscheiden, so dass die Interventionskräfte pauschal als Besatzer und Sicherheitsbedrohung wahrgenommen werden." (SchetterlMielke 2008, S. 22 f.)
Ein plakatives Beispiel dafür, wie eine Dominanz des Bekämpfungsziels eskalierend wirkt, waren die Kämpfe um den Ort Musa-Qala in der Provinz HeImand, 335
336 337
Interview mit dem Autor am 16.12.2009 zu den Fragen gern. Anlage 3 e: Und er fuhr fort "Die Parallelität OEF - ISAF war militärisch nicht sinnvoll. Wenn ein Kriegsgebiet da ist, können Sie nicht Kräfte nebeneinander her operieren lassen, die unter unterschiedlichem Kommando stehen, mit unterschiedlicher Zielsetzung, und die sich im selben Raum bewegen. Wobei manche Kräfte sowohl ISAF als auch OEF waren. Ich wusste z.T. - gerade bei den Amerikanern - nicht, ist das jetzt OEF oder ist das jetzt ISAF. Das geht nicht. Und daher war die Zusammenflihrung im Grunde genommen zwangsläufig:' In gleichem Sinne bewertete auch Dettke den Sachverhalt, in dem er schrieb: ,,Die Trennung der Mandate fllr ISAF und OEF war eine unglückliche Lösung. Zwei Mandate fllr ein die dieselbe Aufgabe und obendrein noch geographisch voneinander getrennt, widersprechen militärischer Logik und erschweren die Handlungsfähigkeit." (Dettke 2009, S. 44) Beispiele fllr die abnehmende Unterscheidbarkeit von OEF/ISAF auch bei Merey (2008, S. 222 f.). Der ehemalige Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum, General a.D. Back, berichtete von einem ersten Vorfall dieser Art nach Übernahme der ISAF-Verantwortung im Süden, bei dem es 20 Tote gegeben hatte, weil amerikanische ISAF-Truppen ein Gehöft zerstört hatten, in das sich 3 oder 4 Taliban geflüchtet hatten. Er habe damals als Befehlshaber erstmals die Frage der Verhältnismäßigkeit aufgeworfen. (Interview mit dem Autor am 16.12.2009 zu den Fragen gern. Anlage 3 e).
5.2 Dominanz militärischer Aspekte
173
die in der Literatur beschrieben werden (vgl. z.B. Merey 2008, S. 171 ff. 338). Hier versuchte ISAF - zu der Zeit unter dem britischen Kommandeur David Richards nach einer Phase heftiger Gefechte durch ein im September 2006 von Stammesältesten vermitteltes Abkommen mit den Taliban ein begrenztes Gebiet zu demilitarisieren und für den Wiederaufbau zu stabilisieren. Das entsprechende Abkommen konnte auch für ca. vier Monate ein vergleichsweise sicheres Umfeld gewährleisteten. Am 31.01. bzw. 04.02.2007 kam es jedoch zu zwei ISAF-Luftangriffen, bei denen strittig war, ob diese innerhalb oder außerhalb des befriedeten Gebietes stattgefunden hatten. Dabei wurde ein führender Taliban getötet. Als Folge davon entbrannte erneut ein intensiver Kampf um Musa-Qala, ehe ISAF- und afghanische Truppen nach zehn Monaten die Stadt erobern konnten. 339 Wenn SchetterlMielke 2008 ihre Feststellungen zur Eskalation durch Konfrontation nur auf den Süden bezogen und für den Norden ein positiveres Bild zeichneten, so verschlechterte sich 2009 die Lage auch im Norden, so dass die Eskalation auch nach hier übergriff (vgl. Nachtwei 2009 b). Die aufgezeigten eskalatorischen Tendenzen einer robusten Anti-Terror- bzw. Counter Insurgency-Kriegführung werden auch von anderen Analysten beschrieben, und zwar nicht nur für Afghanistan, sondern für die gesamte Region AFPAK.340 Für die Bundesregierung, die von Anfang an daran "laborierte ... beide Mandate in ein stimmiges Verhältnis zu bringen" (Naumann 2008, S. 9), blieb die von 338 339
340
Merey verwendet die Schreibweise "Musa Kala", wir folgen der Schreibweise bei Ruttig, "MusaQala" (Ruttig 2007 a). Die Luftangriffe, die das Ende des Arrangements flir eine friedliche Konfliktlösung zur Folge hatten, fanden zeitlich im engen Zusammenhang mit der Übernahme des ISAF-Kommandos durch den amerikanischen General McNeill am 04.02.2007 statt. Aufgrund der zuvor offen zu Tage getretenen britisch-amerikanischen Meinungsverschiedenheiten über das Musa-QalaProtokoll wirft Ruttig die Frage auf, ob das Vorgehen seitens der US-Streitkräfte gezielt erfolgt sei, um das von den Amerikanern zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossene ,,robuste Vorgehen" in Helmand vorzubereiten. Er schreibt: ,,Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei den beiden Luftangriffen vom 31. Januar um eine gezielte Provokation handelte, die das Musa-Qala-Protokoll aushebeIn und in der Drogenhochburg Nord-Helmand ,freies Schussfeld' schaffen sollte. Die Annahme liegt umso näher, als die USA im Oktober 2006 mit ähnlicher Taktik ein Abkommen zwischen den pakistanischen Taliban und der dortigen Regierung in der Bajur Agency verhinderten. Am Tag vor der Unterzeichnung griffen sie eine Koranschule an, wobei 82 Menschen ums Leben kamen." (Ruttig 2007 a, S. 3) Als Beispiel die folgende Darstellung: "Ultimately, the United States is caught in a vicious circle. In the face of a threatening al Qaeda hosted by the Taliban, the United States deepens its involvement in Afghanistan and Pakistan. Al Qaeda and the Taliban respond to the U.S. presence with destabilizing violence and insurgent activity. Tbe United States, in turn, responds by applying more intense pressure, increasing civilian casualties and general instability - and thus weakening the governments in Kabul and Islamabad, which benefits al Qaeda and the Taliban. This will prove especially true in Pakistan ifthe government cannot cope with the hundreds of thousands ofPakistanis displaced by the military campaign in Swat." (Simon 2009, S. 4)
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
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den meisten anderen Nationen als künstlich betrachtete Mandatstrennung jedoch ein wesentliches Element. 341 Auf eine Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90IDie Grünen antwortete sie im Sommer 2007: "OEF und ISAF ergänzen sich. lSAF besitzt kein eigenständiges Mandat zur Bekämpfung von Terroristen in Afghanistan, das vom Auftrag zur Sicherheitsunterstützung der afghanischen Regierung losgelöst wäre - abgesehen vom Recht aufSelbstverteidigung und Nothilfe. OEF-Kräfte leisten im Zuge ihrer Mandatserfiillung auch Stabilisierungs- und Aufbauhilfe. "342
Und noch Ende 2009 ließ der Generalinspekteur der Bundeswehr dem Autor antworten: ,,Die Bekämpfung terroristischer Kräfte ist Hauptauftrag der Operation Enduring Freedom (OEF). Allerdings haben die seit 200 I erzielten Stabilisierungserfolge inAFG sowie die Ausdehnung des ISAF-Operationsgebietes auf ganz AFG dazu gefiihrt, dass die originäre Terrorismusbekämpfung bei OEF eine zunehmend geringere Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund hat sich OEF zunehmend auf den Aufbau afghanischer Sicherheitskräfte fokussiert und beabsichtigt, die daflir vorgesehenen Kräfte mit Aufstellung der NATO-Ausbildungsmission für Afghanistan ISAF zu unterstellen. ISAF und OEF bilden inAFG eine sich ergänzende, notwendige Gemeinschaft, deren enge Zusammenarbeit ausdrücklich durch die VN eingefordert wird. "343
Im Kapitel 4.3.2.2 wird diese Positionierung der Bundesregierung daraufhin zu untersuchen sein, inwieweit sie als Instrument im innenpolitischen Diskurs diente.
5.2.3 Zwischenresümee Damit bleibt als ZwischenresÜIDee festzuhalten: Das in den konzeptionellen Dokumenten national wie auch zunehmend multilateral formulierte Ziel der Ausgewogenheit zwischen militärischen und nicht-militärischen Instrumenten findet sich in der Umsetzung des Wiederaufbaus in Afghanistan nicht wieder. Dazu tragen nicht nur ein krasses Missverhältnis in der Ressourcenallokation bei, sondern auch erhebliche Koordinations- und Kooperationsmängel der vielfältigen Akteure, die z.T. in deren unterschiedlichen "Kulturen" begründet sind, sowie das Fehlen einer funktionierenden afghanischen Verwaltung mit einem hohen Ausmaß an Korruption.
341
342 343
Merey fonnuliert: "Der Unterschied zwischen OEF und lSAF wird fast nur noch in europäischen Hauptstädten wie Berlin gemacht." Und er zitiert einen amerikanischen Offizier, der ironisch anmerkte, in der Realität sei der Unterschied ,,klar wie Schla=" (Merey 2008, S. 222.f.). BT Drs 16/6312 vom 08.09.2007, S. 15. Antwort auf den Fragenkatalalog (gern. Anlage 3 f, Frage 4) durch den Stabsabteilungsleiter für Militärpolitik und Rüstungskontrolle, Generalmajor Karl Müllner, vom 19.11.2009. Die Frage Lautete: "Inwieweit tragen aus Ihrer Sicht die unterschiedlichen Ziele und das Nebeneinander von OEF und ISAF zu einer Eskalation unserer militärischen Einsätze bei?"
5.3 Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan
175
Die Folge des Zurückbleibens des zivilen Wiederaufbaus hinter dem eigentlich Gebotenen hatte einen maßgeblichen Anteil an der Eskalation des militärischen Konflikts. Der profunde Kenner der afghanischen Verhältnisse, Thomas Ruttig, stellte hierzu fest: ,,Die Hauptursache für die Konjunktur der Aufstandbewegung ist die bisherige Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft und der Karzai-Regierung, die Lebenssituation relevanter Teile der afgbanischen Bevölkerung signifikant zu verbessern und gute Regierungsflihrung durchzusetzen. Will man hier Abhilfe schaffen, sind schnelle, zusätzliche, territorial ausgewogenere und besser koordinierte Investitionen in den physischen wie institutionellen Wiederaufbau unumgänglich. Vor allem ist es notwendig, im multilateralen Rahmen die Vorrangstellung militärischer Gewaltmittel bei der Aufstandsbekämpfung zu beenden." (Ruttig 2007, S. 8)
Das Fehlen nachhaltiger Erfolge im Wiederaufbau führte zu einem "Teufelskreis": je mehr Enttäuschung bei der Bevölkerung über das Ausbleiben der sogenannten Friedensdividende entsteht, desto mehr Unterstützung erhalten die Taliban, was zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage führt, in deren Folge wiederum mehr Helfer abziehen (vgl. Merey 2008, S. 50). Die Diskussion der qualitativen Faktoren hat dabei gezeigt, dass eine Bereitstellung von mehr Ressourcen (Personal und Finanzmittel) allein nicht ausreichend wäre, um mehr Ausgewogenheit zwischen militärischen und zivilen Instrumenten zu erreichen. Gleichzeitig müssen die Korruption bekämpft, die Koordination verbessert und die "kulturelle Kluft" zwischen den Akteuren überbrückt werden. Der"Teufelskreis" wurde dadurch weiter verstärkt, dass sich die Unterschiede zwischen den beiden Einsätze OEF und ISAF zunehmend verwischten. Damit übertrugen sich die eskalatorischen Tendenzen von OEF fasst zwangsläufig auch auf ISAF.
5.3 Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan 5.3.1 Analyse Mit dem Fall von Kandahar am 07.12.2001 344 galten die Taliban als besiegt.345 Aus der Darstellung der Entwicklung der ,,New-Taliban" bei Giustozzi kann man je344
345
Eine eindrucksvolle Schilderung der Tage vor dem 07.12.2001 findet sich bei Chayes (2006, S. 43 fI.). Sie zeigt, dass in dem Unvermögen, beim Rückzug der Taliban einen geordneten Übergang der Macht zu organisieren, der Kern für die späteren Instabilitäten lagen, weil die rivalisierenden Warlords in dem Chaos ihre Machtpositionen für später beziehen konnten. Giustozzi belegte anband von diversen Zitaten von Verantwortlichen der USA, aber auch der afgbanischen Regierung, dass noch bis 2006 die Position verbreitet wurde, die Taliban seien keine nennenswerte Größe mehr (vgL Giustozzi 2007, S. I).
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
doch erkennen, dass schon im Jahre 2002 immer wieder Gewalt aufflammte. Diese wurden damals den Resten von Taliban-Kämpfern in den Bergen zugeschrieben, die nicht nach Pakistan fliehen konnten oder wollten. Giustozzi bewertete diese Vermutung wie folgt: "In most cases this might have been the correct interpretation - although some re-infiltrations also seem to have occurred - however, aspate of terrorist attacks in Kabul and an increase in the pace of guerilla attacks during the late summer highlighted how something new had started." (Giustozzi 2007, S. 2)
In der Folge entwickelte sich diese "neue" Aufstandsbewegung vorrangig im Grenz-
gebiet zu Pakistan346 und griffbis 2005 auch auf Provinzen über, die keine Grenze mit Pakistan haben347 (s. Pfeilmarkierungen in Abb. 1). Dabei ist die Bezeichnung "Taliban" inzwischen ein Sammelbegriff für ein diffuses Konglomerat verschiedener Gruppierungen mit durchaus auch unterschiedlichen Zielvorstellungen. 348 Der Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum, General Egon Ramms, quantifizierte 2010 den Anteil von "hard core taliban", also von fanatischen und ideologisierten Kämpfern, auf 10-15% und den Anteil von ,,Mitläufern" auf ca. 85%.349
346 347 348
349
Und auch der Befehlshaber des Joint Forces Command Brunssum, General Egon Ramms, erinnerte sich in einem TV-Statement: "Wir sind am Anfang dort gewesen, weil wir überzeugt waren, dass die Taliban 200 I besiegt worden seien und haben mehr auf Stabilisierung, mehr auf Wiederaufbau geachtet. Wir haben dann feststellen müssen, dass die Talibanbewegung sich in Mghanistan wieder gefestigt hat, mehr Kämpfer gewonnen hat." (ZDF, Frontal-Dokumentation "Sterben fiir Afghanistan" am 16.03.2010, eigene Transkription) Es handelt sich im Wesentlichen um die südöstlichen Provinzen Paktia, Paktika, Zabul, Kandahar und Helmand. z.B. Oruzgan, Ghowrund Farah. Ein Sanunelband von Giustozzi vermittelt diese Komplexität durch Darstellung von Besonderheiten der Taliban in verschiedenen Kontexten und in unterschiedlichen Provinzen (vgl. Giustozzi 2009). In einem Beitrag der Neuen Zürcher Zeitung wird eine von ISAF erläuterte Differenzierung der verschiedenen Gruppierungen der Aufständischen zitiert: danach gibt es drei Hauptgruppen: die Taliban (ca. 20.000 bis 30.000 Kämpfer), das Haqqani-Netzwerk, das schon im Widerstand gegen die Sowjets "Berühmtheit erlangt hatte" und die Gulbuddin Hekmatyars Fraktion des Hezb-e Islam. Neben diesen einheimischen Gruppierungen sind auch einige hundert ausländische Jihad-Kämpfer aktiv. Der ,,harte terroristische Kern" der AI Qaida wird in einer Größenordnung von einigen Dutzend dargestellt (Vgl. "Gründe fiir den Neuaufang der NATO in Mghanistan" in: NZZ Online vom 05.12.2009; Zugriff; 05.12.2009). Er nannte diese Zahlen in einem Vortrag ,,ISAF - aktuelle Entwicklung und Perspektiven" bei den ,,6. Petersberger Gesprächen zur Sicherheit" am 06.03.2010 in Königswinter.
5.3 Verschl.eclrtenmg der Sicberheitslage in Afghanistan
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Abbildung 1: Provinzen in Afghanistan
(pfeilmarkienmgen ZW' Erläutemng der Fußnoten 346 u. 347)
ENISTAN
QtJeIle:
(ohne PDillmarkierung): Koe1b1IIhlIll200Sl. hintere Umschlagk1appe. gestaltet von Peter Palm. Berlin. Mit freundlieher Genehmigung vom Wolf Jobst Siedler Verlag. M.Onchen, in cis" Vtldagsgruppe RIIIIdom HOUlIIl GmbH
Wllhrend ZU Beginn des Jahres 2003 die Aufirtändischen nur in kleinen Gruppen bis zu 50 Kämpfern auftraten, kam es im. Sommer des Jahres bereits zu Angriffen, bei denen 150-200Aufständische festgestellt wurden. 2004 verlor die afghanische Regierung in den ersten Provinzen (Sabul und Paktika) schrittweise die Kontrolle. Bis 2006 war der größte Teil von Helmand zum Einfiussgebiet der Taliban geworden, wobei Konzentrationen von 300-400 Kämpfern nicht selten waren. Bei dem Gefecht um die Stadt Pashmul in der Provinz KandabaT schlitzte die NATO die Zahl von beteiligten Aufständischen auf 1.500.
178
5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung
2006 vervierfachte sich nach NATO-Schätzungen das Gebiet, in dem die Aufständischen aktiv waren, das Bündnis verzeichnete eine Versechsfachung von Selbstmordanschlägen, eine Verdreifachung von direkten Angriffen mit Infanteriewaffen und eine Verdopplung von Anschlägen mit IED350 - jeweils in Relation zu 2005 (vgl. zu der Darstellung und zu den Zahlenangaben Giustozzi 2007, S. 4 ff.). Diese Ausbreitung der Aufstandsbewegung griffauch aufKabul über und betraf damit schon sehr früh die Bundeswehr. So kam es am 30.03.2003 zu einem Raketenangriff auf das Hauptquartier der ISAF, das zu dieser Zeit vom deutschniederländischen Korps gestellt wurde. 351 Der Autor hatte eine Woche nach diesem Vorfall bei einem Besuch in dem Hauptquartier Gelegenheit, die Einschlagstelle zu besichtigen, und notierte damals: ,,Auf dem Weg dorthin besichtigen wir den Ort des Einschlags einer Rakete am 30.03., mitten im HQ. Sie hatten unglaubliches Glück. Die Rakete ging knapp über Containern hinweg, in denen viele Soldaten waren, darunter auch der Kommandeur. Viele hatten die Fensterscheiben in den Containern. Dann schlug sie gegen einen Baum, der den Zünder auslöste. Die Splitter beschädigten 2 Autos schwer, durchschlugen Haus- und Containerwände. Die Masse ging in ein Internetcafe, das an diesem Tage renoviert wurde, so dass keine Menschen darin waren, sowie in ein Sanitätszelt, in dem wenige Minuten vorher noch Behandlung stattfand. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt. "3>2
Dieses "Wunder" hielt jedoch nicht an. Am 07.06.2003 wurde auf einen Bus der Bundeswehr in Kabul ein Selbstmordanschlag verübt, durch den es zu den ersten Todesopfern durch direkte Kampfhandlungen der Aufständischen kam. 353 Die Verschärfung der Sicherheitslage kam auch in den regelmäßigen Berichten des VN-Generalsekretärs an den Weltsicherheitsrat zum Ausdruck. Ein Bericht aus 2006 zeigte im Vergleich zu 2005 eine drei- bis vierfache Zunahme von Todesfallen durch Aktivitäten der Aufständischen, einen Anstieg der Sicherheitsvorfalle von weniger als 300 auf bis zu 500 pro Monat und eine deutliche Zunah-
350 351 352
353
IED = Improvised Explosive Devices (provisorische Sprengmittel, Sprengfallen). Vgl. "Anschlag" in: BZ-Berlin-Online vom 31.03.2003 (Zugriff. 23.12.2009). Quelle: eigenes Tagebuch des Autors, Eintrag vom 06.04.2003. Dabei war dieser Raketenangriff nur deshalb so außergewöhnlich, weil er direkt in das Hauptquartier traf. Im deutschen Camp Warehouse, in dem der Autor am 08.04.2003 Zeuge eines Raketeneinschlags in der Nähe des Camps wurde, war das zu der Zeit der 12. Raketenbeschuss seit Kontingentbeginn im Februar 2003 (Quelle: eigenes Tagebuch des Autors, Eintrag vom 08.04.2003). Den ersten Raketenangriff auf das deutsche Lager hatte bereits Verteidigungsminister Struck miteriebt, als er am 10.02.200I anlässlich der Übernahme des Ko=andos durch Deutschland und die Niederlande in Kabul weilte; vgl. "Struck vor Raketen in den Bunker geflüchtet" in: Spiegel-Online vom 10.02.2003. (Zugriff: 25.12.2009). Quelle: ,,Die größten ZwischenflilIe in Mghanistan" in: Welt-0nline vom 20.07.2007 (Zugriff: 23.12.2009).
5.3 Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan
179
me von Selbstmordanschlägen auf. 354 2007 setzte sich der Trend fort. Die Zahl der Selbstmordanschläge nahm weiter zu, dadurch auch die Zahl der zivilen Opfer. Der Generalsekretär berichtete, dass 2007 von den 8.000 Todesopfern im Zusammenhang mit dem Konflikt 1.500 Zivilisten waren. 355 Weiss referierte aus NATO-Quellen ähnliche Kennzahlen der Sicherheitslage: ,,Nach Angaben der NATO stieg die Gesamtzahl der Sprengstoffanschläge in Afghanistan von 50 in 2003 auf 185 in 2004,384 in 2005,883 in 2006 und 1256 in 2007. Die Zahl der Selbstmordattentate, Straßenbomben und direkten Angriffe auf die Interventionstruppen stieg zwischen 2005 und 2006 von 2400 auf 6400 Vorflille. 2007 haben sie sich nach Schätzungen von Militär, UN-Mitarbeitern und Nichtregierungsorganisationen nochmals verdoppelt." (Weiss 2008, S. 8, dort auch Quellenangaben)
Im gleichen Jahr umriss die Fraktion Bündnis 90IDie Grünen in einer Großen Anfrage zur Situation in Afghanistan die Lage wie folgt: ,,Das Jahr 2006 brachte einen dramatischen Anstieg der Gewalt vor allem im Süden und Osten des Landes. Ca. 4 000 Menschen kamen bei Anschlägen und schweren Kämpfen zwischen Aufständischen und den internationalen Truppen der NATO-Mission ISAF und der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF) ums Leben, darunter Kombattanten, aber auch viele Zivilisten. "356
Auch wenn der Schwerpunkt der Aktivitäten der Aufständischen bis 2006 eindeutig im Süden und Südosten von Afghanistan lag, so kam es auch im Verantwortungsbereich der deutschen Bundeswehr, im Norden, zu immer mehr sicherheitskritischen Ereignissen. 357 Diese Ausdehnung der Instabilität war - nach Darstellung des Publizisten und ehemaligen CDD-Politikers Jürgen Todenhöfer, der seit 30 Jahren Afghanistan auch von innen kennt - alles andere als überraschend. 358 Cordesman wies daraufhin, dass die von den meisten Statistiken verwendeten Messgrößen, wie Anzahl der Anschläge oder Opferzahlen, allerdings nur die taktische Dimension beschreiben. Denn das strategische Ziel der Taliban sei ein anderes, als lediglich einzelne Verluste zuzufügen. Dieses Ziel beschrieb er wie folgt:
354 355 356 357
358
Bericht vom 11.09.2006, Ziff. 2, http://daccessdds.un.org/docIUNDOC/GEN/N06/492/46/PDF/ N0649246.pdflOpenElement (Zugriff: 07.05.2009). Bericht vom 06.03.2008, Ziff. 17, http://daccessdds.un.org/docIUNDOC/GEN/N08/255 180/ PDF/N0825580.pdflOpenElement (Zugriff: 07.05.2009). BT Drs 16/4242 vom 31.01.2007, S. 1. Der Stern nennt - unter Berufung auf das Verteidigungsministerium - ,,87 sicherheitsrelevante Vorfalle" zwischen April und September 2009 im Verantwortungsbereich der Bundeswehr. ,,Die Akte Kundus" in: Stern Nr. 52 vom 17.12.2009, S. 35. In einer Fernsehsendung erklärte er, dass die Taliban im Jahre 2006 in einer öffentlichen Pressekonferenz in Kabul die Ausdehnung ihrer Kampfmaßnahrnen auf das ganze Land angekündigt hatten. Dieses sei von der deutschen Politik nicht ernst genommen worden. In: ,,Hart aber Fair", ARD 09.09.2009, Thema: ,,Abgrund Afghanistan - sollen unsere Soldaten nach Hause kommen".
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5. Eigendynamische Komponenten der Einsatzausweitung "The Taliban and other insurgent forces are fighting a war ofpolitical attrition. They do no have to defeat the Afghan government, the US, NATOIISAF forces, or the Pakistani government. They only have to force a long war on their opponents, and steadily expand their control and influence over the countryside and population until their opponents can no longer sustain the conflict." (Cordesman 2008, S. 14)
Und für das Ausmaß an Erfolg oder Misserfolg dieser Zielsetzung seien andere Indikatoren wesentlich aussagekräftiger. Cordesman nennt zum einen den Anteil des Landes, in dem es den Aufständischen gelingt, Unterstützungsnetzwerke zu installieren, ländliche Gebiete zu besetzen oder Gewaltakte zu verüben, zum anderen ist für ihn die Auswirkung der Aktivitäten der Aufständischen auf die Perzeption der Bevölkerung ein Indikator (vgl Cordesman 2008, S. 14 f.). Legt an diese Messgrößen zu Grunde, so gibt der Bericht des VN-Generalsekretärs vom März 2009 eine Antwort zum ersten Kriterium. Er weist auf eine fortschreitende Instabilität in einem immer größer werdenden Teil des Landes hin. So war Ende 2008 in mehr als 40% der Distrikte die Bewegungsfreiheit von unbewaffneten Regierungsmitarbeitem eingeschränkt bzw. problematisch. 359 Ende 2009 lag dieser Anteil nach einer Aussage von Markus Kaim (SWP) bereits bei "fast 50%".360 Dass dieser Trend auch den Norden betraf, machte der Beitrag des Abgeordnete Hans-Christian Ströbele (Bündnis 90IDie Grünen) in der Plenardebatte zur Mandatsverlängerung 2009 deutlich. Er charakterisierte den Zustand im Raum Kundus wie folgt: "Sie übersehen, dass der zivile Aufbau, der uns allen am Herzen liegt, in weiten Gegenden, beispielsweise rund um Kunduz, so gut wie gar nicht mehr stattfinden kann, weil in Mghanistan Krieg herrscht. "361
Zur zweiten Messgröße, den Auswirkungen der Aktivitäten der Taliban auf die Bevölkerung, findet man in den Berichten keine präzisen Aussagen. Dass hier jedoch zunehmende Probleme gesehen wurden, ergibt sich aus der oben dargestellten Änderung der Zielsetzung der internationalen Streitkräfte, dem Gewinnen von "hearts and minds" der Bevölkerung eine größere Bedeutung beizumessen. 359
360 361
Es heißt io dem Bericht vom 10.03.2009: "Throughout the reportiog period, freedom ofmovement of unarmed civil servants was reduced by the intensified fighting and the increased campaign of intimidation and assassination. As of December 2008, 231 of the country's approximately 400 districts continued to report near-total accessibility, while 10 were considered completely beyond the Government's control and access to 165 remained difficult or problematic. While the number ofdistricts that are nearly or completely inaccessible to civil servants did not change significantly since 2007, about 30 districts are io danger oflosing accessibility." http://daccessdds.un.org/docl UNDOC/GENIN09/256 /04/PDFIN0925604.pdf7OpenElement (Zugriff: 07.05.2009) Aussage io der ZDF-Sendung "Berlin Direkt" vom 24.01.2010. BT PIPr 17/09 vom 03.12.2009, S. 677.
5.3 Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan
181
Der Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum, General Egon Ramms, führte dazu in einem Interview mit dem Autor aus: "Und man muss ehrlich sagen, dass die verheerendste Situation flir uns immer dann entstanden ist, wenn wir mit Kräften in einem bestimmten Raum gewesen sind und uns aus diesem Raum wieder zurückzieben mussten. Weil dann zwei Dinge passieren: erstens: die Taliban sickern wieder ein und zweitens: sie bestrafen alle, wo sie Erkenntnisse haben, dass sie mit uns zusammengearbeitet haben. Das siebt der andere Teil der Bevölkerung. D.h., wenn wir in diesen Raum wieder hineingehen, ein Jahr später, anderthalb Jahre später, weil wir mehr Kräfte haben, bekommen wir die Unterstützung der afghanischen Bevölkerung nicht mehr. Die Frage, die die Afghanen stellen - das passiert Z.B. Z.Z. in Helmand und Kandahar - ist die: ,bleibt ihr?' Wenn wir diese Frage nicht mit einem eindeutigen ,Ja' beantworten und dann auch nicht bleiben und mit der Bevölkerung zusammenleben, diese Frage auch so beantworten, dass die afghanische Bevölkerung Vertrauen fasst, wenn uns das nicht gelingt, hrauchen wir gar nicht wieder hinzugeben. "362
5.3.2 Zwischenresümee Als Resümee dieser Skizze der Erosion der Sicherheitslage in Afghanistan lässt sich festhalten; ob mit"vordergründigen", taktisch orientierten Kriterien - wie der Zahl von Anschlägen oder Opfern - oder mit solchen der strategischen Zielsetzung der Aufständischen gemessen; man muss einen kontinuierlichen, auch nach Norden fortschreitenden Verlust an Stabilität in Afghanistan konstatieren. Dieser beeinträchtigt zunehmend auch die Möglichkeiten zum Wiederaufbau. Der Hinweis von General Ramms macht deutlich: reicht die Zahl der Sicherheitskräfte nicht aus, um Gebiete dauerhaft durch deren Anwesenheit zu stabilisieren, können die Aufständischen die Strategie verfolgen, die Bevölkerung durch Drohung mit Vergeltung von einer Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften abzuhalten. Damit kommt es zu einer Verschärfung des oben zitierten"Teufelskreises", dass bei einer Verschlechterung der Sicherheitslage die Wiederaufbaubemühungen zurückgehen, was zu einem Anstieg der Unterstützung der Taliban durch die Bevölkerung führt. Hierdurch kommt es zu noch mehr Destabilisierung und damit zu einer weiteren Verschlechterung der Sicherheitslage.
362
Interview mit dem Autor am 17.11.2009 (Fragen s. Anlage 3 b, Frage 3).
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Das folgende Kapitel beleuchtet die Akteure daraufhin, ob sie eskalierend oder deeskalierend gewirkt haben. Im Rahmen der Fragestellung wird auch der innergesellschaftliche Diskurs über den Charakter der Einsätze in die Betrachtung mit einbezogen.
6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren Die institutionellen Regelungen, die den Parlamentsvorbehalt des Deutschen Bundestages bei Entscheidungen über Auslandseinsätze regeln, wurden in der theoretischen Betrachtung auf die monadische Theorie des Demokratischen Friedens bezogen. Danach haben sie die Funktion, eine Machtbalance zwischen Exekutive und Parlament zu institutionalisieren, damit Entscheidungen zur Anwendung des Militärs als Mittel der Außenpolitik nicht allein der Bundesregierung überlassen sind. Dieser steht zwar das alleinige Initiativrecht für Auslandseinsätze bzw. deren Ausgestaltung zu, die diesbezüglichen Kabinettsbeschlüsse bedürfen jedoch der konstitutiven Zustimmung des Deutschen Bundestages. Dessen Befugnis ist formal auf reine "Ja"-/,,Nein"-Beschlüsse reduziert, es haben sich jedoch in der parlamentarischen Praxis verschiedene informelle Einflussmöglichkeiten des Parlaments auf die Formulierung der Anträge der Bundesregierung entwickelt. Der Bundestag kann die Bundesregierung u.a. dazu "drängen", durch Protokollnotizen und Erklärungen Veränderungen an den Mandatsinhalten vorzunehmen, was nach der formalen Rechtslage eigentlich nicht vorgesehen ist. Wie stellte sich diese Machtbalance in der Verfassungswirklichkeit der Afghanistanentscheidungen dar? Konnte der Deutsche Bundestag das Prä, das die Bundesregierung durch Agendasetting besitzt, ausgleichen? Hatte er dafür die notwendigen Informationen? Konnte er seine vom Verfassungsgericht zugedachte Rolle als Kontrolleur der Regierung - und damit die in den Theorien des Demokratischen Friedens postulierte bremsende Wirkung - effektiv ausüben? Auf diese Aspekte richtete sich ein wesentlicher Teil der Befragung der Vorsitzenden und Obleute der beiden relevanten Ausschüsse. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse wurden mit der Literatur abgeglichen. Das Ergebnis ist deutlich, wenn auch nicht eindeutig. U. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
184
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
6.1.1 Agendasetting durch die Bundesregierung Bei den 22 Mandatsbeschlüssen, die die Bundesregierungen vom Deutschen Bundestag erbat - 8 für OEF und 14 für ISAF (vgl. Kap. 3.2.1.) - waren zwei, bei denen die Macht der Exekutive durch das Agendasetting besonders deutlich sichtbar wurde. Das war zum einen die Erstentscheidung für OEF am 16.11.2001, bei der Bundeskanzler Schröder die Sachfrage der Beteiligung an dem Einsatz mit der Vertrauensfrage verband, zum anderen die Mandatserweiterung und -verlängerung von ISAF am 16.10.2008, bei der zwischen dem Antrag der Bundesregierung und der ersten Beratung im Parlament eine Zeitspanne von nur 3 Stunden lag. In beiden Fällen setzte die Exekutive das Parlament also unter Druck, 2001 unter sachlichen, 2008 unter zeitlichen. Die Kopplung der Abstimmung über die OEF-Beteiligung mit der Vertrauensfrage wird inzwischen von den beteiligten Abgeordneten der damaligen Koalitionsfraktionen SPD und Bündnis 90IDie Grünen nahezu einhellig als das Ausüben von (unzulässigem) Druck auf die Abgeordneten gewertet. So äußerte die Abgeordnete Monika Knoche (bis Ende Oktober 2009 Abgeordnete der Fraktion Die Linke, bei der OEF-Abstimmung jedoch Mitglied der Fraktion Bündnis 90/ Die Grünen) in einem Zeitungsinterview: "Die rot-grüne Regierung gab die Maxime der ,bedingungslosen Solidarität' mit den USA aus und hat gegen die Kritikerinnen und Kritiker die Vertrauensfrage als erpresserisches Zwangsmittel genutzt: Wer dagegen war, gefiihrdete Rot-Grfin. "363
Diese Qualifizierung als "erheblicher Druck" bzw. als ,,Erpressung" wurde in der Beantwortung des Fragenkatalogs für Vorsitzende und Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses durchweg bestätigt, wobei z.T. auch die demokratische Legitimität dieser Vorgehensweise angezweifelt wurde. 364
363 364
,,Der Westen löst keine Probleme" - taz-Streitgespräch in: Die Tageszeitung vom 12.01.2009, S.9. Dazu die folgenden Statements: Rainer Arnold (SPD): ,,Die erste Entscheidung von Schröder, die ist natürlich unter ganz massivem Druck zu Stande gekommen." (Telefoninterview vom 02.11.2009) Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grfinen): "Einen erheblichen, ja politisch-existentiellen Druck gab es bei der ersten OEF-Entscheidung im November 2001." (schriftliche Antwort vom 16.11.2009) Angelika Beer (Bündnis 90/Die Grünen): ,,Die Vertrauensfrage, die der ehemalige Bundeskanzler SchröderandieAbstimmungimParlamentzuEinsatzgestellthat,wardemokratischnichtlegitimierbar" (E-Mail-Antwort vom 18.08.2009). Diese Wertung verband Frau Beer mit Hinweis auf ihre persönliche Erklärung gern. § 31, Abs. 1 GO BT, in der sie das Junktim von Vertrauensfrage und der Sachentscheidung kritisierte, "für die gerade in der Frage des Einsatzes militärischer Mittel die grundgesetzlich manifestierte Gewissensentscheidung als Voraussetzung für eine sachgerechte
6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren
185
Anders wurde der zeitliche Druck bewertet, den die Bundesregierung bei der Beratung der Mandatsverlängerung 2008 aufgemacht hatte. Dieses wurde von den meisten Abgeordneten der Koalitionsfraktionen nach ihren Antworten in der Befragung als eine reine Formalie betrachtet, da sie durch die inoffiziellen Abstimmprozesse schon vorher eingebunden waren,365 allerdings nicht seitens der Oppositionspolitiker, die in diese Abstimmung nicht einbezogen wurden. 366
6.1.2 lnjormationsvorsprung der Bundesregierung Im Kapitel 5.1.1.5 war die Informationslage 200lanalysiert worden. Dabei wurden die hypothetischen Befunde aus der Literatur mit der Bewertung der befragten Abgeordneten verglichen, um festzustellen, wie sie selbst die ihnen verfügbaren Informationen bei den Erstentscheidungen 2001 retrospektiv einschätzten. Das Ergebnis war, dass sie überwiegend glaubten, über hinreichende Informationen verfugt zu haben.
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Entscheidung des einzelnen Abgeordneten von wesentlicher Bedeutung ist." (BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19907) Manfred Opel (SPD): ,,Die ,Nutzung' der Vertrauensfrage wurde auch von mir als klare Erpressung empfunden, da ich aus meiner Erfahrung heraus im Grunde gegen den AfghanistanEinsatz der Bundeswehr war und auch noch bin." (schriftliche Antwort vom 12.09.2009) Ulrike Merten (SPD): "Was dabei nicht deutlich wird ist, was das Parlament darüber weiß. Meistens lief diese Debatte schon parallel, es wurde entweder von der Opposition oder auch von den Regierungsfraktionen angestoßen, dass das Ministerium, der Minister oder auch der Staatsekretllr, auf diese Spekulationen angesprochen worden ist. Und daraus hat sich dann ein häufig wochenlanger Prozess ergeben, der immer wieder im Vg-Ausschuss - im Auswärtigen Ausschuss war das sicherlich auch so - aufgenommen wurde." (Interview vom 20.10.2009) Rainer Amold (SPD): "Nach dem Verfassungsgerichtsurteil dürfen wir nur ja oder nein sagen. Die Praxis ist aber eine andere. Wir haben immer auf frühzeitige Einbeziehung gedrungen." (Telefoninterview vom 02.11.2009) Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen): "Wenn im Oktober 2008 nur 3 Stunden zwischen Kabinettsbeschluss und erster Lesung lagen, war das durch den Vorlaufrelativiert." (schriftliche Antwort vom 16.11.2009) Bernd Siebert (CDU/CSU): "Grundsätzlich muss das Parlament immer um seinen Einfluss kämpfen. Das liegt daran, dass die Bundesregierung bestrebt ist, seine Gestaltungs- und Entscheidungshoheit beständig zu erweitern. Dies könnte mitunter den Eindruck befördern, als werde das Parlament nur formal beteiligt. In der Realität trifft dies aber nicht zu, da in vielfältigen Kontakten Informationen ausgetauscht werden." (schriftliche Antwort vom 30.09.2009) AufNachfrage UvK, ob die Fraktion der Linken in die Vorabstimmung vor der Mandatsformulierung einbezogen sind, antwortete der Abgeordneten Paul Schäfer (Die Linke): ,,Nein, in die Mandatsformulierung nicht, wir kriegen als Opposition dann irgendwann das Mandat zugeleitet, das ist manchmal etwas kurzfristig, aber in aller Regel gibt's ja oe 1.,2.,3. Lesung dazu." (Interview vom 05.11.2009) Gleiches bestätigte der Abgeordnete Dr. Werner Hoyer (FDP) im Interview am 05.12.2009.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Eine positive Sicht der Informationslage auch bei den folgenden Entscheidungen vermittelte der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose (SPD) in einem Zeitschriftenaufsatz: ,,Bisher sind alle Anträge der Bundesregierung im Parlament unterstützt worden, alle mit breiter Mehrheit. Die Unterstützung wurde gesichert durch rechtzeitige Information des Parlaments, der Fraktionsspitzen, der zuständigen Ausschussvorsitzenden und Obleute, die dann ihrerseits in den Arbeitsgruppen der Fraktionen vortragen und das Anliegen der Bundesregierung bewerten." (Klose 2007, S. 25)
Dass die Information durch die Bundesregierung aber für Koalitions- und Oppositionsfraktionen ungleich sein könnte, hatte Klose schon 2004 in einem Gespräch eingeräumt (vgl. Biermann 2004, S. 618 t). Dieser Aspekt wurde in der Befragung der Ausschussvorsitzenden und Obleute (Anlage 3 a) vertieft. 367 Bei der Beantwortung der Frage, inwieweit die Abgeordneten bei den Folgeentscheidungen über hinreichende Informationen verfügten (oder zu verfügen glaubten), ergab sich ein gespaltenes Bild. Zum einen differierten die Antworten zwischen Angehörigen von Koalitions- und Oppositionsfraktionen. 368 Zum anderen ergab sich eine unterschiedliche Perzeption und Darstellung hinsichtlich OEF und ISAF. Zunächst zur unterschiedlichen Sicht von Koalitions- und Oppositionsfraktionen. Die übergreifenden Aussagen reichen von sehr positiven Wertungen, die über-
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Leider nahm Hans-Ulrich Klose (SPD), der als Vorsitzender/ stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses mit angeschrieben war, aus Zeitgründen an der Beantwortung der Fragen nicht teil. Allerdings ist die Zuordnung bei der Länge des Betrachtungszeitraum - mit Ausnahme bei den Abgeordneten der PDS bzw. Der Linken - schwierig. Denn die Fragen wurden Ende der 16. Legislaturperiode übermittelt, einige Antworten erfolgten jedoch erst zu Beginn der 17. Wahlperiode, also schon nach dem ,,Rollentausch" von SPD- und FDP-Fraktion.
6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren
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wiegend von Koalitionsabgeordneten (der Großen Koalition der 16. Legislaturperiode) kamen,369 bis hin zu sehr kritischen Äußerungen von Oppositionspolitikern.370 369
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Rainer Amold (SPD): "Ich glaube auch, dass die Informationsbasis, über die ich als Obmann verfllge und die ich auch meinen Leuten in der Arbeitsgruppe zugänglich gemacht habe, eine seriöse ist. Man kann nicht davon ausgehen, dass alle Abgeordneten überhaupt Interesse an dieser Tiefe der Informationen haben. Positiv habe ich in den letzten Jahren zur Kenntnis genommen, dass die Regierung schon im Vorfeld von Mandatierungen immer wieder versucht hat - das haben wir auch eingefordert, das hat zwei Seiten gehabt - zu klären, was ist machbar. Und dort hatten wir durchaus Informationen." (Telefoninterview vom 02.11.2009) Bernd Siebert (CDU/CSU): "Die Parlamentarier konnten sich nie über zu wenig Information beklagen. Der Informationsfluss in den Deutschen Bundestag war stets gewährleistet. Jede Entscheidung fußte damit auf einer sorgfältigen Abwägung und Lagebenrteilung. Naturgemäß muss eine Opposition dies anders bewerten und daher eine nicht hinreichende Informationspolitik beklagen. Ich kann das nicht erkennen." (schriftliche Antwort vom 30.09.2009) Christian Schmidt (CDU/CSU, Parlamentarischer Staatsekretär im Bundesrninisterium der Verteidigung): "Der Deutsche Bundestag wird fortlaufend und umfassend durch das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) bzw. das Auswärtige Amt (AA) über die Einsätze der Bundeswehr informiert. Hierzu gehört die wöchentliche Unterrichtung des Parlaments durch das BMVg, ergänzt durch entsprechende anlassbezogene Unterrichtung des AA. Darüber hinaus werden sowohl die Obleute des Auswärtigen Ausschusses als auch des Verteidigungsausschusses regelmäßig und umfassend über die aktuelle Lage in den Einsatzgebieten der Bundeswehr in Kenntnis gesetzt." (schriftliche Antwort vom I l.l 1.2009) Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen): ,,Nur auf Basis der offiziellen - auch geheimenUnterrichtungen und Informationen hätte ich nicht nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden - und vorher meine Fraktion unterrichten - können. Seit Jahren sind meine eigenen Ermittlungen durch Besuche vor Ort, Kontakte mit Polizisten, Zivilexperten, Soldaten und Mghanistanexperten, Studien (u.a. SWP) und Internet-Recherchen unverziehtbar. Da die Bundesregierung trotz häufiger Forderungen bis heute weder eine zusanunenfassende Sicherheitslage noch eine ZwischenbiIanz vorlegte (sie begnügt sich mit regelmäßigen Berichten zu Sicherheitsvorfällen und input-Berichten zum Aufbau), stelle ich selbst seit mehr als zwei Jahren Materialien zur Sicherheitslage Afghanistans und Pakistans zusammen und aktualisiere diese ständig. Insofern verweigert die Bundesregierung seit Jahren wesentliche Voraussetzungen für verantwortliche Einsatzentscheidungen. Dies hat die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen mehrfach in Bundestagsanträgen kritisiert und angemahnt. Die Ablehnung dieser selbstverständlichen Forderungen geht zu meinen großen politischen ,Ernüchterungen'." (schriftliche Antwort vom 16.11.2009) Wolfgang Gehrcke (Die Linke): "Die deutsche Armee ist nachwievor eine Parlamentsarmee und das ist gut so und soll auch so bleiben, aber das Parlament wird völlig unzureichend informiert, Sachvorgänge werden beschönigt oder unterdrückt, weil wesentliche und entscheidende Sachverhalte mit Geheimhaltung belegt sind. Insbesondere die Linke erhält unzureichende Informationen, weil auch informelle Kanäle unzugänglich sind." (schriftliche Antwort vom 27.01.2010) Paul Schäfer (Die Linke): ,,Also, ich beklage mich zwar auch manchmal, dass Informationen vorenthalten werden, dass sie nur scheibchenweise geliefert werden, aber ich glaube, wir sind noch relativ dicht dran. Als Ausschuss im Allgemeinen und die Obleute in Besonderheit ohnehin. Auch, weil wir diese speziellen Unterrichtungen haben, die allerdings mehr oder weniger ergiebig sind. Manchmal ist es das, was in der Presse schon zu lesen war, manchmal ist da mehr Background dabei. Wir sind noch relativ gut informiert. Aber auf das gesamte Hohe Haus bezogen, es gibt da diese Unterrichtungen der Fraktionsvorsitzenden, die sollen die dann rurnschicken, aber das ist doch eher propagandistisch." (Interview am 05.11.2009)
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Ein hohes Maß an Einigkeit in den Aussagen findet sich in der Bewertung der Informationspolitik der Regierung bei konkreten Ereignissen. Dieses sei am Beispiel der Tanklastwagenbombardierung bei Kundus am 04.09.2009 gezeigt. Nachdem das Ereignis ein Wochenende lang Hauptthema in allen Medien war, äußerten sich im 08.09.2009 im ,,zDF-Morgenmagazin" die Obleute im Verteidigungsausschuss zu fehlender Information durch den Bundesverteidigungsminister. Dabei erklärte die Abgeordnete Birgit Homburger (FDP): ,,Es ist in der Tat so, dass - wie immer - der Verteidigungsausschuss nicht rechtzeitig und nicht gut genug informiert war. Wir haben vieles - gerade übers Wochenende - nur aus der Presse erfahren, und das ist etwas, das wir nicht akzeptieren. Das ist kein Umgang mit dem Parlament. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee und deshalb ist die Bundesregierung dem Verteidigungsausschuss, dem Auswärtigen Ausschuss, dem Deutschen Bundestag insgesamt, rechenschafts- und auskunftsschuldig darüber, was in Afghanistan los ist." 371
Die Obleute der SPD-Fraktion, Rainer Arnold, und der Fraktion Bündnis 90IDie Grünen, Winfried Nachtwei, äußerten sich in der Sendung im gleichen Sinne äußerst kritisch. 372 Und die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses Ulrike Merten (SPD), die in der Sendung nicht interviewt worden war, nahm einige Wochen später im Gespräch mit dem Autor, der sie auf die Kritik der drei Obleute in der Sendung ansprach, zu der Informationsproblematik im Allgemeinen und in diesem Sonderfall wie folgt Stellung:
371 372
Werner Hoyer (FDP, seit November 2009 Staatsminister im Auswärtigen Amt):"Das Parlamentsbeteiligungsgesetz und die Verfahren, die im Parlament gelebt werden, die sind schon sehr fragwürdig. Ich habe als Abgeordneter der Oppositionsfraktion nie akzeptiert, dass das der richtige Weg ist, weil wir pseudo-einbezogen werden."(Interview am 10.12.2009) Eigene Transkription. Rainer Amold (SPD): "Die Informationspolitik gegenüber uns Abgeordneten war nicht in Ordnung, seit Wochen nicht. Wir sind eine Parlamentsarmee und haben Anspruch darauf, über die einzeInen Details auch Informationen zu erhalten. Und es ist natürlich sehr unglücklich, in der Öffentlichkeit - wie der Minister informiert hat - zivile Opfer zu verneinen, wenn gleichzeitig der Chefder lSAF in Afghanistan zu anderen Erkenntnissen kommt. Hier drängt sich dann immer der Eindruck auf, es wird etwas kleingeredet und das macht unsere öffentliche Kommunikation natürlich nicht einfacher. Das gilt sowohl in Afghanistan als auch in der deutschen Politik." Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen): (auf die Frage der Moderatorin, ob er sich nach sechs Tagen gut informiert fühle): "Ganz und gar nicht. Ich hab Verständnis daflir, wie schwierig es ist, da klare und eindeutige Informationen bei solchen Vorfällen zu kriegen. Aber das Entscheidende ist dabei, dass die Bundeswehr, dass der Minister von Anfang an so offen wie möglich, so schnell wie möglich, so vertrauenswürdig wie möglich unterrichtet. Und dann ggf. der Öffentlichkeit, den Abgeordneten sagt, an der Stelle wissen wir nicht, da haben wir Fragen, da gibt's widersprüchliche Aussagen. Aber das, was an Informationspolitik gelaufen ist, war verheerend." (eigene Transkription)
6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren
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,,Eine generell schlechte Informationspolitik hat es nicht gegeben. Wir haben uns verständigt auf ein bestimmtes Verfahren, das auch ganz gut funktioniert hat. Wir sind immer informiert worden nach Anschlägen, ganz egal wie die dann aussahen, wie die ausgegangen sind, ob mit Verletzten oder ohne Verletzte. Immer sind die Obleute schriftlich informiert worden. Wir hatten immer schriftlich etwas in der Hand.... (Frage UvK.: "War das mehr, als in den Medien stand?") ... ,,Nein, und hier setzt die Kritik bei der Tanklastwagengeschichte an. Da hatten wir einmal einen Zwölfzeiler und einmal einen Fünfzehnzeiler bekommen. Und das fand ich dann ärgerlich, ich hab das dann auch an mehreren Stellen gesagt. Wenn man in der Zeitung sehr viele Details liest - ob das jetzt wichtig oder nicht wichtig ist, sei dahingestellt - oder vielleicht sogar im Fernsehen Details hört, die in dieser Unterrichtung des Parlaments nicht enthalten sind, dann kann man sich schon fragen, wo kommen die Details her, wieso gelangen die an die Öffentlichkeit, wieso gelangen die an die Journalisten und warum haben wir die nicht. .... Ich habe dann ja darauf gedrungen, dass es eine Unterrichtung der Obleute in diesem Lagezentrum in Berlin gibt die Banner waren teilweise zugeschaltet - wo man dann wirklich auch über Details reden konnte. Und ich hätte es für gut befunden, wenn das sofort der Fall gewesen wäre, nicht dass ich erst darum bitten musste oder den Minister auffordern."373
Diese positive Wertung der Unterrichtung der Obleute im Lagezentrum des Bundesministeriums der Verteidigung durch Frau Merten wurde von einem anderen Teilnehmer an der Runde nicht geteilt. Der Abgeordnete Dr. Wemer Hoyer (FDP, Staatsminister im Auswärtigen Amt, im September 2009 noch Oppositionspolitiker), formulierte kritisch: ,,Nebenbei bemerkt, die Unterrichtung Anfang September über den Vorfall in Kundus: es wird der Form Genüge getan. Da sitzt man eben im Lagezentrum oder ist per Videoschaltung mit dem Lagenzentrum verbunden. Dadurch wird man immer sagen können, wir seien eingebunden gewesen, aber die Fakten kommen nicht auf den Tisch."374
Einen anderen Aspekt beleuchtete der Abgeordneten Paul Schäfer (Die Linke), der auf die Problematik der Filterung von Informationen bzw. unterschiedlichen Perzeptionen hinwies. 375 373 374 375
Interview am 20.10.2009. Interview am 10.12.2009. Er führte aus: "Schon, man müsste mehr wissen über die Lage vor Ort, sozusagen den Einblick in die wirklichen afghanischen Zustände haben. Aber da fängt das Problem an, dass einem da Dinge vorenthalten werden, vorgegaukelt werden, dass diese Berichte alle immer nur einen gewissen Ausschnitt der Realität enthalten. Also, wenn ich mit den Obleuten da hinfahre, nach Kundus oder nach Feyzabad oder so - wir haben halt den Anspruch, wir wollen uns das vor Ort angucken und Gespräche mit Akteuren vor Ort flihren. Das BMVg räumt den Abgeordneten ein, fahrt da mit - das machen auch viele, es fahren ja viele nach Mghanistan, da war ja so ein richtiger Tourismus - dann fahren die nach Kabul, nach Kundus, sprechen mit der Botschaft. Davon wird rege Gebrauch gemacht. Aber dann kriegt man ja nur einen ganz schmalen Ausschnitt der Realität mit. Das ist, glaube ich, mehr das Problem. Es ist weniger die Filterung der Information vom Verteidiger zum gesamten Parlament. Auch die Abgeordneten, die die Entscheidungen in der Fraktion vorbereiten, kriegen nur einen gewissen Ausschnitt der Realität mit ... Aber da gibt es
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
In die gleiche Richtung zielt eine Kritik Chauvistres, der in Auswertung einer Informationsreise von Mitgliedern des Verteidigungsausschusses nach Afghanistan und unter Berufung auf einen Bericht des Abgeordneten Winfried Nachtwei (Bündnis 90IDie Grünen) feststellte, diese hätten zwar eine ganze Reihe von Offiziellen der verschiedensten Organisationen getroffen, darunter seien allerdings keine Afghanen gewesen. 376 Schließlich divergierten die Einschätzungen der verfügbaren Informationen auch zwischen OEF und ISAF. Während Ulrike Merten (SPD) die Frage bejahte, ob die Information über die Aktivitäten des KSK entsprechend der Zusage der Bundesregierung vom 08.12.2006 (vgl. Kapitel 4.2) zufriedenstellend gelaufen sei,377 äußerte Winfried Nachtwei (Bündnis 90IDie Grünen) hierzu harsche Kritik. Er formulierte: ,,Das krasseste Beispiel fiir ungenügende Unterrichtung des Parlaments war die Operation Enduring Freedom in Mghanistan: Hierzu erhielten nur die Obleute des Verteidigungsausschusses in gewissen Abständen Geheimunterrichtungen über den KSK-Einsatz, nie aber über die Gesamtoperation in AFG, geschweige ihre Wirksamkeit. Dass die Einschätzung der Wirksamkeit von OEF Voraussetzung einer verantwortbaren Entscheidung über die deutsche OEF-Beteiligung war, war den KollegInnen von Union, SPD und FDP nicht klarzumachen. Hier erlebte die Par1amentsbeteiligung bei Mandatsentscheidungen einen selbstverschuldeten Tiefpunkt!"378
Nun hat das Parlament über das Institut eines Untersuchungsausschusses - ggf. kann sich der Verteidigungsausschuss gern. Art. 45a, Abs. 2 GG selbst zu einem solchen konstituieren - die Möglichkeit, zusätzliche, auch in die Tiefe gehende Informationen zu erhalten. Dieses ist in der Praxis zweimal erfolgt: das erste Mal konstituierte sich der Ausschuss als Untersuchungsausschuss am 25.10.2006 zur Aufklärung von Vorwürfen gegen das KSK, an Misshandlungen des ehemaligen Guantanamo-Häftlings Murat Kurnaz beteiligt gewesen zu sein, und legte sein Ergebnis am 15.10.2008 vor. 379 Das zweite Mal erfolgte die Konstituierung als Untersuchungsausschuss am 18.12.2009 mit dem Auftrag
376
377 378 379
eine Verdrängung. Es ist nicht so, dass die Information nicht da wäre oder dass sie systematisch vorenthalten würde, sondern ich glaube, es ist eine Verdrängungsleistung, dass man bestimmte Dinge nicht wahrhaben will." (Interview am 05.11.2009) Chauvistre schrieb mit beißender Kritik: "Nur afghanische Gesprächspartner standen nicht auf der Liste. Dwnmerweise fiel der Termin der Reise ausgerechnet mit dem dreitägigen Fest des Fastenbrechens zusammen. Den mit den Verhälmissen in Afghanistan ach so vertrauten Mandatsträgern muss das Ende des Ramadan wohl entgangen sein." (Chauvistre 2009, S. 51) Interview am 20.10.2009. Schriftliche Antwort vom 16.11.2009. BT Drs 16/10650 vom 15.10.2008.
6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren
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"den durch den militärischen Leiter des Provinz-Wiederaufbauteams (pRT) in Kundus/Afghanistan veranlassten Luftangriff auf zwei Tanklastwagen am 3./4. September 2009, die diesbezügliche Aufklärungs- und Informationspraxis der Bundesregierung sowie die Vereinbarkeit der gewählten Vorgehensweisen mit nationalen und multinationalen politischen, rechtlichen und militärischen Vorgaben für den Einsatz in Mghanistan zu untersuchen. "380
In Anbetracht des Zeitraums, den der Murat-Kumaz-Untersuchungsausschuss für seine Arbeit benötigte (knapp zwei Jahre), und des Umfangs seines Abschlussberichts (248 Seiten) sowie der erwarteten Dauer der Untersuchung des KundusAusschusses von mindestens einem Jahr erscheint ein Untersuchungsausschuss - obwohl formal ein "scharfes Schwert" - kein geeignetes Instrument, um die Informationslage des Parlaments bei Entscheidungen über Auslandseinsätze nachhaltig zu verbessern. 381 Fasst man diese vielflUtigen, z.T. divergierenden Überlegungen und Meinungsäußerungen zusammen, so lässt sich schlussfolgern: die Bundesregierung hat bei Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr ein weitgehendes Informationsmonopol- das jedoch teilweise durch investigativen Journalismus und Initiativen einzelner Abgeordneter aufgeweicht wird - indem sie über die einsatzrelevanten Fakten verfügt, über Geheimhaltungsvorschriften den Empfangerkreis von Informationen begrenzt oder ausweitet und Vor-Ort-Besuche der Abgeordneten organisiert, bei denen sie über die Programmgestaltung auch das Informationsangebot steuern kann. Es ist davon auszugehen, dass zum einen durch Informationsselektion, zum anderen durch Rollen- und Perzeptionsunterschiede der Abgeordneten - sowohl bei Exekutive und Parlament als Ganzem als auch bei den verschiedenen Teilen des Parlaments - unterschiedliche Wahrnehmungen und Bilder der Einsätze bzw. ihrer Begründungszusammenhänge entstehen. Dieses trägt - neben Rollen- und Positionsunterschieden - zur Erklärung der z. T. diametral gegensätzlichen Positionen bei bestimmten Fragen bei.
380 381
Antrag aller Fraktionen vom 18.12.2009. Quelle: http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuessel7/ a12/a12_ua_kundus/antrag_untersuchungsausschuss_kundus.pdf (Zugriff: 28.12.2009). Darüber hinaus weisen NoetzeVSchreer daraufhin, dass Untersuchungsausschüsse eigentlich die Ultima Ratio des Parlaments sind, dass ihre häufige Einsetzung zu Abnutzungserscheinungen führt, dass ihr Aufwand das parlamentarische Tagesgeschäft lähmt und erhebliche Kräfte von Exekutive und Legislative bindet, so dass die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfllhigkeit der Bundesrepublik beeinträchtigt wird. Dieses sei in Relation zu einem möglichen Fehlverhalten zu setzen (NoetzeVSchreer 2007, S. 4).
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
6.1.3 Schwächen der parlamentarischen Kontrolle Der Parlamentsvorbehalt, den das Streitkräfteurteil des BVerfG von 1994 präzisierte, dient neben der Erhöhung der Transparenz von Einsatzentscheidungen vor allem der Kontrolle des Regierungshandelns durch die gesetzgebende Gewalt, ohne allerdings das "operative Übergewicht der Bundesregierung beim Auslandseinsatz der Streitkräfte" zu beseitigen Es soll also der Bundestag keineswegs "zum Feldherrn" gemacht werden (vgl. zu dieser Diskussion: Wiefelspütz 2005, S. 194 ff.). Inwieweit ist der Deutsche Bundestag aufgrund er ihm verfügbaren Informationen zur Wahrnehmung dieser Mitverantwortung bei den Afghanistanentscheidungen in der Lage, und wird er dem Anspruch gerecht, den das BVerfG mit dem Parlamentsvorbehalt begründet hat? Der im letzten Abschnitt herausgearbeitete Befund zur Informationsbasis für die ISAF-Entscheidungen war überwiegend positiv, d.h., in den Augen der Parlamentarier hatten sie hinreichende Informationen für eine sachgerechte Kontrolle des RegierungshandeIns. Gleichwohl gibt es kritische Stimmen zur Wahrnehmung dieser Kontrollverantwortung, die auf unterschiedliche Ursachen zielen. 6.1.3.1
Strukturproblem der parlamentarischen Demokratie
Die erste Ursache liegt in einer immanenten Schwäche der Grundkonstruktion einer parlamentarischen Demokratie, dass Parlamentsmehrheit und Regierung eine enge Verbindung aufweisen, und "die Fraktionen der Parlamentsmehrheit ... in der Regel Sorge für die Stabilität und das politische Überleben der Regierung (tragen)" (Schmidt 2001, S. 230). Diese "spezifische Form der Gewaltenteilung im Parlamentarismus - der ,neue Dualismus'" (Schüttemeyer 2010, S. 16) hat Konsequenzen für die Handlungslogik des Parlaments. Insbesondere in Zeiten einer Großen Koalition schränkt dieses naturgemäß den ,,Kontrolleifer" eines Teils des Parlaments ein. Diesen zentralen Kritikpunkt formulierte der Abgeordneten Paul Schäfer (Die Linke) äußerst pointiert wie folgt: ,,Die Mehrheit des Parlaments versteht sich zu sehr als Ausschüsse, als Stütze der Regierung, man kann schon sagen, als Anhängsel der Exekutive und weniger als Kontrollinstanz gegenüber der Regierung, was auch unbequem ist. Es gibt natürlich äußerst kritische Köpfe auch in der Union, die dann zumindest im Ausschuss nicht nur der Regierung Dank sagen und ,toll gemacht', sondern die auch nachbohren und kritische Fragen stellen. Aber es sind entschieden zu wenig. Die Mehrheit empfindet: das ist unsere Machtstütze, und wir müssen unsere eigene Existenz als Abgeordnete sichern. Das hieße, uns loyal erweisen, statt an der Stelle also einmal inne zu halten und zu fragen, was machen wir da eigentlich und müssen wir da nicht eine andere Richtung einschlagen?"382 382
Interview am 05.11.2009.
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6.1.3.2 ,,Rally 'Round the Flag"-Effekt und pfadabhängigkeit Zu diesem strukturellen Merkmal kommt als zweite Ursache ein gewisser "Rally 'Round the Flag"-Effekt,383 aufgrund dessen bis zur ISAF-Mandatsverlängerung 2006 die Zustimmungsraten zu den Mandatsbeschlüssen durchweg bei über 500 Ja-Stimmen lagen - mit Ausnahme der Erstentscheidung für OEF, die mit der Vertrauensfrage verbunden war (vgl. Anlage 4). Und auch bei dieser hätte die CDU/ CSU-Fraktion ohne Vertrauensfrage zugestimmt, wie ihr Vorsitzender Friedrich Merz - unter Hinweis auf die Abstimmungen in den Ausschüssen - in der Plenardebatte erklärte. 384 Ein weiteres Element, das sich "bremsend" auf die kritische Kontrolle des Parlaments ausgewirkt haben dürfte, ist die Pfadabhängigkeit der Entscheidungen. Fraktionen, die in früherer Regierungsverantwortung Entsendebeschlüsse mitgetragen hatten, wechseln ihre Position nicht sofort, wenn sie sich nach einem Regierungswechsel in der Opposition wiederfinden. So hatte z.B. Bundesaußenminister Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) in der Zeit der Rot-Grünen Koalition die Afghanistaneinsätze maßgeblich mit initiiert und ausgestaltet. Nachdem die Partei 2005 in die Opposition gehen musste, stimmte bei der ISAF-Mandatsverlängerung 2006 die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen dennoch mit großer Mehrheit für die Fortsetzung des Einsatzes. 385 Gleichermaßen stimmte die SPD-Fraktion Ende 2009 auch aus der Opposition heraus für den Antrag der Regierung, was ihr Sprecher, Hans-Ulrich Klose, mit Kontinuität in der Verantwortung begründete. 386 Im Februar 2010 begründete der Vorsitzende der SPD-Fraktion, Frank-Walter Steinmeier, das zustimmende Votum der Fraktion damit, dass die Regierung die wesentlichen Forderungen nach Schaffung einer Abzugsperspektive in ihren Mandatsentwurf übernommen hätte,
383
384 385 386
So begründete der Abgeordnete Dr. Friedbert Pflüger in der Debatte zur Verlängerung des ISAFMandats 2005 die regelmäßige Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion auch aus der Opposition heraus: "Wir haben in allen Fällen zugestimmt, weil wir letztlich von der sicherheitspolitischen Bedeutung überzeugt waren, wir haben aber vor allen Dingen zugestimmt, weil wir es unseren Soldaten schuldig sind, dass Konflikte und Interessenunterschiede hier im Deutschen Bundestag nicht auf ihrem Rücken ausgetragen werden." (BT PIPr 15/187 vom 28.9.2005, S. 17575) BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19860. BT PIPr 16/54 vom 28.09.2006, S. 5228 f. Er erklärte in der Plenardebatte: ,,zwei der drei heutigen Oppositionsfraktionen haben in den vergangenen sieben bzw. elf Jahren aufseiten der Regierung über wichtige Mghanistan betreffende Fragen mit entschieden. Die SPD-Fraktion steht zu der Verantwortung, die sie dadurch übernommen hat, auch in der Opposition." (BT PIPr 17/09 vom 03.12.2009, S. 670)
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure "weil wir nach acht Jahren des Aufenthalts deutscher Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan die Weichen für die Beendigung dieses Einsatzes stellen müssen. "381
Der Kommentator des Bonner Generalanzeigers wertete das Abstimmungsverhalten als ,,konsequent und in der Logik bisherigeren Regierungshandelns."388 Demgegenüber war die Zustimmung in der Fraktion Bündnis 90IDie Grünen deutlich abgesunken war. Die Mehrheit der Fraktion enthielt sich oder stimmte mit "Nein"389 - ein Indiz daftir, dass die Pfadabhängigkeit nach vier Jahren in der Opposition abgenommen hatte.
6.1.3.3 Fehlende strategische Kontrolle An den letzten Satz des Statements von Paul Schäfer, die Abgeordneten sollten "einmal inne (zu) halten und (zu) fragen, was machen wir da eigentlich und müssen wir da nicht eine andere Richtung einschlagen?" knüpft eine dritte Kritiklinie an. Diese stellt vorrangig den Inhalt der parlamentarischen Beratungen in den Mittelpunkt und bemängelt das Fehlen einer strategischen Debatte. Hierzu schrieb Naumann (nachdem er fehlende Weitsicht sowie mangelhafte Kooperation und Koordinierung auf Seiten der Exekutive konstatiert hatte): ,,Die parlamentarische Begleitung derAuslandseinsätze ist nicht dazu angetan, hier gegenzusteuern. Die jährliche Verlängerung der Mandate hat sich zu einer Abstimmungsroutine entwickelt, die jenseits des vorhersehbaren Schlagabtausches keinen Beitrag zu einer grundsätzlichen Verständigung über die Ziele, den Mittelinstanz und die absehbaren Fristen des Einsatzes leistet ... .Der Parlarnentsvorbehalt, der dem Bundestag das konstitutive Beschlussrecht über die Einsätze einräumt, hat nicht dazu gefiihrt, dass das Parlament über den Tellerrand des aktuellen Mandats hinausblickt. Weder Regierung, noch Ministerien, noch Parlament scheinen in der Lage, in größeren Fristen zu denken oder zu handeln als in Wahlterminen und Legislaturperioden - obwohl die politischen Entscheidungen weit über diesen Zeitraum hinausreichen" (Naumann 2008, S. 12 f.).
Diese Feststellung Naumanns wird durch die obige Auswertung der Plenardebatten zum politischen Zweck der Einsätze gestützt. Es wurde aufgezeigt (Kapitel 5.1.4), dass es zwar vereinzelte Beiträge der jeweiligen Oppositionsfraktionen gab - regelmäßig seitens der PDS bzw. Der Linken, bei der Debatte um die Ausweitung des Mandats auf Kundus und aufFeyzabad auch der FDP - dass diese aber nie zu einer umfassenden Grundsatzdebatte über Ziele und Alternativen geführt hatten. Konkret auf den Ansatz der "Vernetzten Sicherheit" in Afghanistan bezogen bemängelte Naumann weiter: 387 388 389
BT PIPr 17/25 vom 26.02.2010, S. 2183. Kommentar von Holger Möhle "Die nächsten zwölfMonate".ln: Bonner Generalanzeiger vom 27.02.2010, S. 2. BT PIPr 17/09 vom 03.12.2009, S. 691 f. und PIPr 17/25 vom 26.01.2010, S. 2283.
6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren
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,,Die Erfordernisse, vernetzter Sicherheit', die sich auf Regierungsebene immerhin in Absichtserklärungen, Strategiepapieren, regelmäßigen Einsatzberichte und Koordinierungstreffen niederschlagen, werden auf Ebene des Bundestages wenig wirksam.... Der Afghanistan-Plan der Bundesregierung ist niemals Gegenstand einer gleichrangigen Parlamentsdebatte oder Abstimmung gewesen wie die mit ihm engverknüpften Bundeswehr-Missionen." (Nawnann 2008, S. 35)
Mit dieser Kritik verbindet Naumann den Vorschlag, auf Parlamentsebene die Einsatzmandate über den militärischen Horizont hinaus auszuweiten (Naumann 2008, S. 36 f.). Damit steht er nicht allein. Auch einige "Verteidigungspolitiker" haben dafür plädiert, die zivilen Maßnahmen zum Wiederaufbau integrativ über das Mandat mit den militärischen Einsätzen zu verknüpfen, so zum Beispiel die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Ulrike Merten (SPD), die dieses in einer Diskussion über den Afghanistaneinsatz dezidiert vorschlug. 390 Auch Winfried Nachtwei (Bündnis 90IDie Grünen) äußerte sich mehrfach in diesem Sinne. So schrieb er im August 2009 in einem Zeitungsbeitrag: "Das nächste lSAF-Mandat im Dezember sollte deshalb wnfassend angelegt sein und über den militärischen Beitrag hinaus auch die zentralen Beiträge zum zivilen und Polizeiaufbau festlegen. "391
Diese Position hatte er bereits im Deutschen Bundestag im Rahmen eines Antrags zur Förderung der zivilen Krisenprävention eingebracht. Der Antrag wurde jedoch mit den Stimmen der Großen Koalition abgelehnt. 392 Diese kritischen Stimmen machen deutlich, dass es sich bei den Vorschlägen für "zivile Mandate" offenbar um Einzelmeinungen handelt, was auch die Befra390
391 392
Sie formulierte: ,,Deshalb ist es sehr sinnvoll, dass auch die anderen Bundesressorts, insbesondere das Bundesministerium des Inneren und das für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, regelmäßig der Öffentlichkeit eine Bilanz ihrer Arbeit vorlegen. Daher sollten alle Elemente, die Bestandteil der Konflikt1ösung sind, wie z. B. auch der Polizei- und Justizaufbau, Entwicklungshilfeprojekte, Einsatz der Hilfsorganisationen, der NGO und des 1HW auch Gegenstand eines umfassenden Par1arnentsmandats sein. Daraus würde folgen, dass im Rahmen der jährlichen Mandatsverlängerungen auch die anderen Ministerien im Parlament einen Bericht über den Erfolg oder Misserfolg der von ihnen zu verantwortenden Maßnahmen vortragen müssen." Diskussionsimpuls anIässlich des Sicherheitspolitischen Forums NRW bei der FES ,,Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan - Erfahrungen, Ziele und Perspektiven", Friedrich-Ebert -Stiftung in Bonn am 3.2.2009 (Redemanuskript im Besitz des Autors). "Bundeswehr nach der Wahl". Gastbeitrag in der Zeitschrift ,,Die Bundeswehr", Nr. 8/2009, S.IO. So heißt es in dem von Nachtwei initiierten Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ,,zivile Krisenprävention und Friedensförderung brauchen einen neuen Schub" unter ZifI.ll: (Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf) "den Anspruch auf eine vernetzte Sicherheitspolitik und die Mitverantwortung des Deutschen Bundestages auch dadurch zu untermauern, dass bei künftigen Anträgen der Bundesregierung über Auslandseinsätze der Bundeswehr dem Parlament auch die zentralen zivilen und polizeilichen Aufgaben, Maßnahmen und Mittelansätze zur Beschlussfassung vorgelegt werden". (BT Drs 16/13392 vom 17.06.2009, S. 7, Abstimmungsergebnis: BT PIPr 16/227 vom 18.06.2009, S. 25188)
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
gung der Vorsitzenden und Obleute der beiden relevanten Ausschüsse ergab. Die überwiegende Mehrzahl der befragten Abgeordneten äußerte sich zu dem Vorschlag ablehnend. Hauptgründe für die Ablehnung waren zum einen die unterschiedliche Qualität des konstitutiven Parlamentsvorbehalts,393 zum anderen pragmatische Überlegungen über die unterschiedlichen Verfahren beim Zustandekommen von Entscheidungen. 394 Gegen eine verstärkte Diskussion der nicht-militärischen Elemente im Kontext der Mandatsdebatten gab es bei den befragten Abgeordneten allerdings keinen Widerspruch. So könnte man die mehrheitlich geäußerte Meinung auf die Formel bringen: "Intensive Diskussion der zivilen Elemente im Zusammenhang mit der Mandatierung militärischer Einsätze - "Ja", aber ziviles Mandat - "Nein". Wenn diese Einsicht bei den Abgeordneten zu erkennen ist, bleibt allerdings die Frage, warum das Parlament in acht Jahren eine solche Vorgehensweise, die eine Effektivierung der parlamentarischen Kontrolle bedeutet hätte, nur in Ansätzen realisiert hat. Im Gegensatz zur Meinung des Abgeordneten Bemd Siebert (CDU/ CSU), dass die Auseinandersetzung um die Auslandseinsätze im Deutschen Bundestag ausreichend gewesen sei,395 gibt es auch andere, äußerst kritische Stimmen. Ein Beispiel ist eine Kommentierung von Christoph Weller zur parlamentarischen Behandlung des Ersten Umsetzungsberichts der Bundesregierung zum ,,Aktionsplan Zivile Krisenprävention".396 393
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Als Beispiel fiir diese Argumentation die Meinung von Paul Schäfer (Die Linke): "Wir dürfen diese qualitative Differenz nicht einebnen zwischen der Entsendung von Soldaten und der Beauftragung oder der Förderung - das ist ja etwas Anderes - von entwicklungspolitisch engagierten Einrichtungen, die ja bei uns aus gutem Grund zivilgesellschaftlich organisiert sind." (Interview vom 05.11.2009) Als Beispiel fiir eine solche Argumentation eine Äußerung von Dr. Wemer Hoyer (FDP, Staatsminister im Auswärtigen Amt): "Ich halte da viel von. Nur letztendlich sagt dann natürlich der Entwicklungspolitiker, fiir das, was ich jetzt hier machen will, was ich verstärkt machen will, brauche ich natürlich kein Bundestagsmandat, dazu brauche ich eine Haushaltsermächtigung." (Interview am 10.12.2009) Er hatte zum zivilen Mandat ausgeführt: "Ich halte es nicht fiir hilfreich, ein zusätzliches ziviles Mandat zu erteilen. Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich in Debatten und Ausschüssen in ausreichender Tiefe mit den Auslandseinsätzen. Jetzt einen weiteren Abstimmungs- und Gesetzesmarathon zu inszenieren, würde nichts bringen". (schriftliche Antwort vom 30.09.2009) ,,zwar hat der Deutsche Bundestag den Ersten Umsetzungsbericht keineswegs lediglich entgegengenommen und dann archiviert, sondern zum Tagesordnungspunkt einer Plenarsitzung gemacht und in mehrere Ausschüsse verwiesen. Doch wenn die Terminierung der Debatte und die Anwesenheit von Regierung und Abgeordneten - ein Parlamentarischer Staatssekretär und weniger als 30 ParlamentarierInnen beim vorletzten Tagesordnungspunkt im letzten Drittel der letzten Sitzung am Freitag vor der Weihnachtspause (15.12.2006) - nicht völlig belanglos fiir den politischen Stellenwert sind, der einem Thema gegeben wird, dann befindet sich die zivile Krisenprävention auf dem Weg von der projektierten Querschnittsaufgabe zum irrelevanten Nischenprojekt deutscher Außenpolitik." (Weller 2007, S. 6 f.)
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Die Ergebnis der eigenen Auswertung der Plenardebatten für ISAF von 2001 bis 2009 deckt sich mit der Feststellung von Klaus Naumann, dass "alle Aufmerksamkeit dem Mandat und seiner alljährlich flilligen Erneuerung (gilt). Die gesamtpolitische Einbettung des Einsatzes, das Konzept der Krisenprävention oder der ,Afghanistanplan' der Bundesregierung finden hingegen sehr viel weniger Beachtung - auch im Parlament." (Naumann 2008, S. 34)
Denn die Durchsicht der Debatten zeigt, dass bis 2006 die Verzahnung von militärischen Maßnahmen und zivilem Wiederaufbau so gut wie gar nicht bzw. nur im Kontext der PRT - was einen schmalen Teilaspekt beinhaltet - debattiert wurde. Ab 2007 wurden die Defizite im zivilen Bereich dann zunehmend thematisiert und ab und zu auch die Notwendigkeit eines ,,zusammenspiels von zivilem Aufbau und militärischer Befriedung" kritisch beleuchtet. 397 Erst die Mandatsdebatte 2009 brachte eine deutliche Änderung. In ihr wurden nicht nur die Defizite im zivilen Wiederaufbau, sondern auch die Notwendigkeit einer Verzahnung von militärischen und nicht-militärischen Maßnahmen mit sehr viel mehr Deutlichkeit betont als in den Jahren zuvor. 398 Es bleibt abzuwarten, ob diese Aussagen Lippenbekenntnisse darstellen oder - nach Wiederherstellung eines ausgewogenen Kräfteverhältnisses zwischen Regierung und Opposition durch Beendigung der Großen Koalition - eine Trendwende in der Haltung des Parlaments zu effektiverer strategischer Kontrolle der Exekutive erfolgt. 6.1.3.4 Parlamentarische Kontrolle vs. militärische Geheimhaltung Ein vierter Problembereich, der die Effektivität parlamentarischer Kontrolle beeinträchtigt, ist das Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Debatte und militärischer Geheimhaltung. Dieses wird besonders am deutschen Beitrag zu OEF 397 398
So z.B. durch den Abgeordneten Karl-Theodor zu Guttenberg (CDU/CSU) in der ersten Beratung des Tomado-Mandats (BT PlPr 16/81 vom 28.02.2007, S. 8143). BT PIPr 17/09 vom 03.12.2009. Folgende Redeausschnitte mögen diese Schlussfolgerung beispielhaft belegen: Außenminister Westerwelle (FDP) betonte: "Wir sind bereit - das sagen wir auch unseren Verbündeten - mehr beim zivilen Aufbau zu tun." (S. 668) Hans-Ulrich Klose (SPD) verlangte - unter Hinweis aufden Entschließungsantrag der SPD-Fraktion, der die Formulierung einer Perspektive flir Mghanistan einfordert (BT Drs 17/127 vom 01.12.2009) - das Einbringen der gleichwertigen zivilen und militärischen Perspektiven in die geplante Afghanistan-Konferenz in London (S. 670). Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) forderte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen militärischer Sicherheit und Entwicklung unter dem "Primat des Zivilen" sowie ein ,,konkretes zivil-militärisches Mandat" von der Bundesregierung (S. 674). Und der Abgeordnete Emst-Reinhard Beck (CDU/CSU) betonte: "Wenn wir über die Erfordernisse des zivilen Aufbaus Einigkeit erzielt haben, aber erst dann, sollten wir uns gemeinsam auf zusätzliche militärische Fähigkeiten verständigen." (S. 683)
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
deutlich, der - wie oben dargestellt - ausschließlich aus einem Kontingent von Spezialkräften des KSK bestand. Operationen von Spezialkräften unterliegen erhöhten Geheimhaltungsbestimmungen. Daher werden sie in der Bundeswehr in einem separaten Führungsstrang durch das ,,Kommando Führung von Operationen von Spezialkräfte" (Kdo FOSK) geführt. 399 Dieses ist durchaus nicht unumstritten - auch nicht in militärischen Fachkreisen. 40o Aufgrund der erhöhten Geheimhaltung sind Operationen der Spezialkräfte wie NoetzeVSchreer feststellen - "der Öffentlichkeit und teilweise auch der politischen Kontrolle entzogen" (NoetzeVSchreer 2006, S. 3). Zwar wurden die Vorsitzenden und Obleute der Fraktionen in den Ausschüssen - gern. dem oben zitierten Brief der beiden Minister Fischer und Struck von 2006 (s. Kapitel 4.2.) - tatsächlich informiert. 401 Der Wert dieser Information wird jedoch einerseits unterschiedlich bewertet, zum anderen weisen NoetzeVSchreer auf den geringen Formalisierungsgrad des Informationsverfahrens hin, der der Exekutive einen "sehr weiten Ermessensspielraum" gibt. (NoetzeVSchreer 2006, S. 3). In der Tat bestimmt die Exekutive selbst, wann und wie sie kontrolliert werden will (oder auch nicht). Aus der Tatsache, dass "im Zeitalter asymmetrischer Bedrohungen Spezialkräfte an politischer und militärischer Bedeutung gewinnen und mit einer Zunahme ihrer Einsätze zu rechnen ist" folgern die Autoren, "die Frage nach einem kri399
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Diesen Sachverhalt beschreibt die Homepage der Bundeswehr wie folgt: "Wegen der Besonderheit des Auftrags, der Aufgabenerflillung, des Zeitdrucks und der Bedeutung der Ziele werden Einsätze der Spezialkräfte nach anderen Grundsätzen und Verfahren durchgeflihrt als Einsätze herkömmlicher Kräfte. Dabei muss den hohen Anforderungen im Hinblick aufdie Geheimhaltung der Einsätze und des Schutzes solcher Operationen (Operations Security, OPSEC) in besonderer Weise Rechnung getragen werden, um den Erfolg der meist sensitiven und risikoreichen Operationen nicht zu get1lhrden, der stets wesentlich vom Überraschungsmoment abhängig ist. Spezialkräfte als Mittel der strategischen Führung, sowie deren Operationen unterliegen einer engen Kontrolle durch die politische Leitung und die höchste militärische Führung." (Quelle: http://www. streitkraeftebasis.de/portaVa/streitkraeftebasis/kcxmV04_Sj9SPykssy OxPLMnMzOvMOY_Qjz KLNwyON3YOCQRJQjmGBvqRCPGgIFR9X4_83FR9b_OA_YLciHJHROVFAIjx7I8!/delta/ base64xm11L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZtMVNtMOFCNA!!?yw_contentURL=%2FOl DBO 4000000000 I%2FW27KDIDWO12INFODE%2Fcontent.jsp#par7, (Zugriff: 31.12.2009) So kritisierte der Bericht einer Untersuchungsgruppe von sieben pensionierten Generalen der Bundeswehr: "Ein von der allgemeinen Operationsfiihrung im Einsatzland völlig getrennter, paralleler operativer Führungsstrang des Kommando FOSK in das Einsatzgebiet hinein und die unter großer Geheimhaltung in der Regel mit den Einsatzkontingenten nicht abgestimmten Maßnahmen der Spezialkräfte können ( ... ) Gefahren fllr die Gesamtoperation, die Kontingente sowie das Ansehen und den Erfolg der Missionen vor Ort selbst erzeugen." (zit. nach ,,Die Bundeswehr - eine Generalsabrechnung" von Jochen Bittner in: Zeit-OnIine vom 16.01.2008 (Zugriff: 31.12.2009) Hieraufweisen nicht nur NoetzeVSchreer hin (2006, S. 3), sondern auch die befragten Abgeordneten.
6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren
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senfesten Verfahren zur parlamentarischen Kontrolle dieser Einsätze (wird) noch bedeutsamer". (NoetzeVSchreer 2007, S. 3). In der Lösung dieser Frage sehen sie eine "strukturelle Herausforderung an die deutsche Sicherheitspolitik" (NoetzeV Schreer 2006, S. 2). Als eine Abhilfemöglichkeit für die Kontrolldefizite regen sie ein Gremium an, "das aus den Vorsitzenden und Obleuten der Ausschüsse für Auswärtiges, Verteidigung und Haushalt bestehen und den Einsatz der Spezialkräfte parlamentarisch begleiten könnte" (ebenda, S. 4). Diese Idee ist nicht neu. Die FDP-Fraktion hatte bereits im parlamentarischen Prozess zur Schaffung des ParlBG einen ,,Ausschuss für besondere Auslandseinsätze" vorgeschlagen,402 ihn aber nicht durchsetzen können. Ein Grund dafür war u.a. die Befürchtung, dass sich - wie Klose 2007 es formulierte "Tendenzen von Verbrüderung und Abgehobenheit entwickeln, die im Ergebnis eher zu einem Minus an parlamentarischer Kontrolle flihren und jedenfalls zur Entmachtung des Parlaments insgesamt." (Klose 2007, S. 27)
Mit der gleichen Begründung lehnte auch Nachtwei eine solche Lösung ab. 403 Andere Vorschläge, wie man dieses Spannungsverhältnis zwischen der militärischen Notwendigkeit von Geheimhaltung und parlamentarischer Kontrolle auflösen kann, sind nicht bekannt. Nach Meinung des Autors ist das Dilemma auch nicht stringent aufzulösen. 6.1.3.5 Ausweichen auf Detailkontrolle der Durchführungsebene Aus den Schwächen einer strategischen Kontrolle der Exekutive durch das Parlament entsteht die Gefahr des ,,Abgleitens" der Kontrollbernühungen des Parlaments auf die Durchführungsebene. Nach der Zweck-Ziel-Mittel-Relation von Clausewitz sollten der politische Zweck und die Rahmenbedingungen im Mandat festgelegt werden. Innerhalb dieser Vorgaben hätte dann der "Feldherr" - in unserem Sprachgebrauch also der Verteidigungsminister als "Inhaber der Befehls- und Kommandogewalt" (gern. Art. 65a GG) sowie die oberste militärische Führung (i.d.R. die NATO-Kommandostruktur) - die operative und taktische Führung eigenständig und nach militärischen Notwendigkeiten wahrzunehmen. Ihnen wäre nach diesem Modell also Handlungsfreiheit in der Durchführung zu belassen. In der Pra-
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BT Drs 15/1985 vom 12.11.2003. Er formulierte: "Das aber würde - die Erfahrungen anderer Länder zeigen das - die Tür zur Teilnahme an Geheimkriegen eröffnen und den Parlamentsvorbehalt an einem entscheidenden Punkt aushebeln." (Nachtwei 2007, Thesen, ZifI. (6»
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
xis kann man jedoch beim Parlament, aber auch im Verteidigungsministerium,4Q4 einen gewissen Hang zur Regelung auch von Einzelheiten der Durchführung beobachten. Naumann beklagte in diesem Sinne, dass die Details der Militäreinsätze "breit und verbissen verhandelt werden", während die zivile Aufbauhilfe - wie oben erläutert - "im Halbschatten" bleibe (Naumann 2008, S. 36). In gleiche Richtung zielte die Kritik von Klose, der den Fraktionsvorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion Peter Struck zitiert, man müsse "in den Bundestagsmandaten für Auslandseinsätze mehr ,Spielraum' lassen, es müsse nicht ,jedes Detail' darin aufgeführt werden". Er verwies dann auf eine Meinungsäußerung des Abgeordneten Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU). Dieser hatte - mit Bezug zur Tornado-Entscheidung - in einem Beitrag in der Presse festgestellt, das Parlament solle auf den guten Rat hören, der Neigung zu widerstehen der Neigung, ,,im Rahmen der Parlamentsbeteiligung Teil des Regierungshandelns zu werden, anstatt zu kontrollieren", Insbesondere könne die Regierung nationale Vorbehalte (Caveats) bei der Mandatsausübung nur selbst festlegen und verantworten. Sie dürfe sich insoweit nicht durch das Parlament binden lassen (vgl. Klose 2007, S. 26). Beim diesem Antrag für das Tornado-Mandat - datiert am 06.02.2007 - ging es u.a. um Details der Weitergabe von Aufklärungsergebnissen der unter ISAF operierenden Tornados, die unter Gesichtspunkten der Praktikabilität äußerst fragwürdig sind. 40s Aus der Guttenberg-Bemerkung - veröffentlicht in der Presse am 02.02.2007, also vor der Beschlussfassung der Bundesregierung über den Antrag - kann man folgern, dass die wenig praxisnahe Formulierung in der Mandatsbegründung aufBetreiben von Parlamentariern aufgenommen wurde, was jedoch aus öffentlich zugänglichen Quellen nicht nachvollzogen werden kann. Aber auch in anderen Mandatsdebatten findet man Hinweise darauf, dass die Parlamentarier den "guten Rat" von zu Guttenberg nicht immer vor Augen hatten und versuchten, Detailregelungen zu beeinflussen oder zu erreichen. 406 404
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Vgl. dazu z.B. der Bericht einer Untersuchungsgruppe von sieben pensionierten Generalen der Bundeswehr ,,Die Bundeswehr - eine Generalsabrechnung" von Jochen Bittner in: Zeit-0nline vom 16.01.2008 (Zugriff: 31.12.2009). Vgl. Begründung des Antrags der Bundesregierung (BT Drs 16/4298 vom 06.02.2007), in dem es auf S. 3 heißt: "Der ISAF-Operationsplan (dem der deutsche Vertreter im Nordatlantikrat zugestimmt hatte, UvK) sieht eine restriktive Übermittlung von Aufklärungsergebnissen an OEF vor. Die Übermittlung erfolgt nur, wenn dies zur erfolgreichen Durchführung der ISAF-Operation oder fiir die Sicherheit von lSAF-Kräften erforderlich ist." Diese Passage ist aufgrund der engen Verzahnung der ISAF- und OEF-Führungsstrukturen in Afghanistan - u.a. werden die beiden Operationen in Personalunion von einem amerikanischen Befehlshaber geführt - in der Praxis kaum durchzusetzen. Gleichwohl wurde sie in der Mandatsdebatte häufig thematisiert (vgl. BT PlPr 16/86, z.B. S. 8692 f., 8762, 8766 ff.). Ein Beispiel dafiir ist die im Rahmen der Beratung des Kundus-Mandats von der Opposition durchgesetzte Protokollnotiz (BT Drs 15/1806, S. 4) zur Einschränkung der im Mandat entha1-
6.1 Übergewicht der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren
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Dass nicht nur das Parlament diesen Hang zum Abgleiten in die Durchführungsdetails hat, sondern auch die Regierung, kann man beispielhaft an der Tatsache ablesen, dass sie nach einem Pressebericht die Änderung der Einsatzregeln (RoE) von 2009 - dokumentiert in der "Taschenkarte" und eindeutig eine Zuständigkeit der Exekutive - von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90IDie Grünen im Deutschen Bundestag billigen ließ.407 Auch die von der neuen Bundesregierung Anfang 2010 beschlossene Änderung der Struktur des deutschen Kontingents (Auflösung der QRF, um mehr Ausbildungspersonal für die afghanische Armee zu gewinnen) ist in diesen Kontext einzuordnen. Sie erfolgte nicht zuletzt aufDrängen der SPD, die sich strikt gegen die Entsendung "zusätzlicher Kampftruppen" ausgesprochen hatte408 und ihre Position über die informellen Abstimmmechanismen zwischen Fraktion und Bundesregierung in die Mandatsformulierung einbringen konnte. Die Auflösung der QRF steht nach Einschätzung des Befehlshabers des Allied Joint Forces Command Brunssum, General Egon Ramms, aber im Widerspruch zum gültigen Operationsplan von ISAF.409 Durch eine solche Einmischung der Politik - und zwar von Regierung und Parlament - in die Durchführung militärischer Operationen auf der taktischen Ebene wird ein Grundprinzip der Zweck-Ziel-Mittel-Relation verletzt.
6.1.4 Zwischenresümee Als Zwischenresürnee bleibt festzuhalten: Aufgrund des Instituts des Parlamentsvorbehalts wäre eigentlich eine ausgewogene Balance zwischen der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag bei Entscheidungen über Auslandseinsätze zu erwarten - ohne Initiative der Regierung keine Auslandseinsätze, aber ohne Zustimmung des Parlaments auch nicht. Die Auswertung der Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen zeigt zwar eine gewisse "transparenzfördernde Wirkung" der
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tenen Befugnis, Soldaten "zur mobilen Unterstützung von zeitlich und im Umfang begrenzten Maßnahmen im Zusammenhang mit der Absicherung der Wahlen einzusetzen" - und damit ggf. auch außerhalb von Kundus und Kabul. Dass diese Protokollnotiz durch die Opposition durchgesetzt wurde, ergibt sich aus der Plenardebatte zur ersten Beratung des Mandats (BT PlPr 15/, S. 6051 f.). Vgl. "Capture or Kill" in: FAZ.NET vom 15.12.2009 (Zugriff: 15.12.2009). So äußerte sich der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel in einem von der Medien1andschaft breit rezipierten "Bild"-Interview im Rahmen eines Berichts "So gefllhrlich ist die neue AfghanistanStrategie": "Wir wollen auf gar keinen Fall zusätzliche Kampftruppen hinhaben, wir wollen die Ausbildung verstärken." (in: Bild-Dnline vom 22.01.2010; Zugriff: 01.03.2010) General Ramms erläuterte in einem Vortrag bei den 6. Petersberger Gesprächen zur Sicherheit ,,ISAF - aktuelle Entwicklung und Perspektiven", am 06.03.2010 in Königswinter, dass der seit Mitte 2009 gültige Operationsplan des Befehlshabers ISAF die Weisung enthält, in allen ISAFBefehlsbereichen eine QRF vorzuhalten.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Parlamentsbeteiligung, da die Regierung in den Mandatsdebatten ihre Entscheidungen begründen musste. Insgesamt ist jedoch ein deutliches Übergewicht der Exekutive zu erkennen, auch im parlamentarischen Verfahren, so dass berechtigte Zweifel bestehen, dass das Parlament seinen in den Theorien des Demokratischen Friedens postulierten kontrollierenden bzw. bremsenden Einfluss wirksam ausübte. Diese für die Afghanistaneinsätze spezifische Feststellung korrespondiert mit einer Wertung in der Literatur: "Schließlich ist flir die Frage nach dem ,monadischen Frieden' eine Beobachtung hochbrisant: Obwohl die Bundesrepublik Deutschland ein Parlament mit starken war powers hat und die Führungsspielräume der Regierung bei der Truppenentsendung vergleichsweise eingeschränkt sind, hat es keine Fälle gegeben, in denen das Parlarnent einer Regierungsvorlage seine Zustimmung verweigert hat. Vielmehr haben die war powern in den vergangenen über 15 Jahren nicht verhindern können, dass sich die Bundeswehr an einer Vielzahl von Einsätzen beteiligt hat." (Dietrich/Hummel/MarschalI2007, S. 21)
Die Gründe dafür sind im hier untersuchten Einzelfall Afghanistan vielfältig. Sie reichen von den Machtressourcen des ,,Agendasetting", ggf. in Verbindung mit der stärksten Ressource des Bundeskanzlers (Vertrauensfrage), über einen Informationsvorsprung der Regierung bis zu den strukturellen Besonderheiten der parlamentarischen Demokratie, in der sich nicht Exekutive und Legislative gegenüberstehen, sondern die Regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen im Parlament auf der einen und die Oppositionsfraktionen auf der anderen Seite. Dieses führt - besonders in der Konstellation einer Großen Koalition - zu verringerten Kontrollanstrengungen bzw. geringerer Wirksamkeit von Kontrolle des Parlaments. Hinzu kommen Sondereinflüsse, wie eine Solidarisierung mit den in den Einsatz geschickten Soldaten, aber auch bei langer Einsatzdauer die Pfadabhängigkeit von Entscheidungen: Einsätze, die eine Partei in früheren Zeiten der Regierungsverantwortung mitgetragen hatte, werden - zumindest für eine tTbergangszeit auch aus der Oppositionsrolle heraus weiter mit unterstützt. Schließlich wurde als eine wesentliche Ursache ein gering ausgeprägtes strategisches Denken des Parlaments herausgearbeitet. Die wenig präzise bzw. unrealistische politische Zwecksetzung der Regierung wurde parlamentarisch nicht wirkungsvoll hinterfragt bzw. verändert. Ein mögliches Instrument dazu - eine Debatte um ein umfassendes zivil-militärisches Mandat - gab es nicht. Stattdessen war ein gewisser Hang des Parlaments zur Detailkontrolle in Durchführungsfragen zu beobachten, womit es sich in Übereinstimmung mit der Regierung befand.
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze 6.2.1 Methodische Vorbemerkung ,,Diskurs ist ein seit den 70er Jahren z.T. inflationär gebrauchter Begriff, um fach-, thernen- oder subsystemspezifische Sprachspiele zu bezeichnen." (Brand 1994, S. 85)
Dabei geht es um das Deuten von sprachlichen Interaktionen, ihrer Begriffe, von Kategoriensystemen und Bildern, die das Verständnis von Wirklichkeit und damit auch das Handeln konstituieren, also eine durch und durch konstruktivistische Perspektive. Für unsere Thematik ist dabei insbesondere die Notwendigkeit der Rechtfertigungs- und Zustimmungsbedürftigkeit staatlichen Handelns relevant, die einen "sprachlich ausgetragenen, symbolisch inszenierten Kampf um politischkulturelle Deutungsmacht" darstellt (vgl. ebenda, S. 86). Auch wenn diese Begriffsbestimmung vergleichsweise einfach und mehr als 25 Jahre alt ist, soll mit ihr - anstelle von neueren, komplexeren Konzepten, die vorrangig aus der Philosophie oder den Sprachwissenschaften kommen41o - im Rahmen dieser Analyse gearbeitet werden, da sie für den hier beabsichtigten Anwendungszweck ausreichend erscheint. Damit wird Brand in der Auffassung gefolgt, dass "die Analyse des politischen Diskurses seit jeher, wenn auch nicht unter dem Stichwort der Diskursanalyse, zum Kernbestand politik- und sozialwissenschaftlicher Forschung (gehört)" (ebenda). Im Rahmen der komplexeren Ansätze wurden - insbesondere am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung - pragmatisch ausgerichtete analytische Kategorien und methodische Ablaufschemata entwickelt (vgl. Jäger 1997, S. 1 ff., vgl. auch Jäger/Jäger 2007, S. 25 ff.). Deren stringente methodische Anwendung in detaillierten Diskursanalysen führt zu einer ,,riesigen Materialfülle" (Jäger 1997, S. 3), die im begrenzten Rahmen dieser Untersuchung nicht zu bewältigen wäre. Daher muss sich diese auf eine nur grobe Analyse von wenigen ausgewählten Diskurselementen beschränken, für die allerdings die von Jäger entwickelten Kategorien ebenfalls gut brauchbar sind. Nach der Jägersehen Kategorisierung identifiziert man im gesamtgesellschaftlichen Diskurs einen oder auch mehrere Diskursstränge, die ggf. ineinander verschränkt sein können. Diskursstränge sind thematisch einheitliche Diskursverläufe und bestehen aus Diskursfragmenten. In unserer Analyse sollen zwei Diskurssträn410
So bezeichnet Jäger - orientiert an Foucault - Diskurs als "Fluß von ,sozialen Wissensvorräten' durch die Zeit" (Jäger 1997, S. 1). Und Jäger/Jäger zitieren Link mit der ,,knappsten Definition von Diskurs": ,,Diskurs heißt ,eine institutionell verfestigte redeweise, insofern eine solche redeweise schon handeln bestimmt und verfestigt und also auch schon macht ausübt und verfestigt." (Jäger/Jäger 2007, S. 19)
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
ge näher betrachtet werden, wobei die Auswahl von unserer zentralen Forschungsfrage bestimmt wird, wie die Eskalation in den deutschen Afghanistaneinsätzen zu erklären ist. Der erste Diskursstrang ist die politische Legitimation der Afghanistaneinsätze mit drei Diskursfragmenten, die durch den Begriff der ,,Bündnissolidarität", durch das Bild der "Verteidigung auch am Hindukusch" und den diffusen Begriff des "nationalen Interesses" charakterisiert werden. Der zweite Diskursstrang ist die Kategorisierung der Einsätze als ,,Krieg" oder "Nicht-Krieg". Während die Diskursfragmente des ersten Diskursstrangs nur summarisch angesprochen werden, soll der zweite näher analysiert werden. Die Diskursstränge bzw. -fragmente sind aufunterschiedlichen Diskursebenen angesiedelt. Für uns relevant sind die Diskursebenen ,,Politik", ,,Medien" und "Öffentlichkeit". Die Diskursebenen beeinflussen einander und vermischen sich ggf. Inhaltlich homogene Aussagen konstituieren eine Diskursgemeinschaft. Der ideologische Ort, von dem aus diese an einem Diskurs teilnehmen, ist die Diskursposition. Öffentlich stark beachtete Ereignisse, die die Diskussion verändern, werden als diskursive Ereignisse bezeichnet. Im Rahmen der Grobanalyse des Diskursstranges ,,Krieg" oder ,,Nichtkrieg" sind dieses vor allem Vorfälle in den Einsätzen, bei denen es zu Todesopfern kam, weil hierdurch jeweils ein starkes öffentliches Interesse zu Tage trat.
6.2.2 Skizze ausgewählter Diskursstränge zur Legitimation 6.2.2.1
Bündnissolidarität
Das Diskursfragment der Bündnissolidarität wurde - wie die Darstellung im KapiteI5.1.2.2 gezeigt hatte - unmittelbar nach 9/11 auf der Dislrursebene der Politik begründet. Eine breit aufgestellte Diskursgemeinschaft, die aus der Bundesregierung und allen Fraktionen des Deutschen Bundestages - einschließlich der PDS - bestand, formulierte den herrschenden Diskurs der (uneingeschränkten) Solidarität mit den USA. Dieser Aspekt war gegenüber der Einbindung in das Normengeflecht der VN zur politischen Legitimation der Einsätze dominierend. Die vom Bundeskanzler in der Plenardebatte am 12.09.2001 411 benutzte Formulierung der "uneingeschränkten Solidarität" wurde jedoch nur vom Sprecher der CSU-Landesgruppe der CDU/CSU-Fraktion, Michael Glos, so übernommen. Alle anderen Fraktionen ließen am 12.09.2001 den Zusatz "uneingeschränkt" weg. 412 411 412
Vgl. BT PlPr 14/186 vom 12.09.2001. Einige Abgeordnete äußerten auch - wie oben dargestellt - in den Antworten auf die Befragung der Vorsitzenden und Obleute der beiden relevanten Ausschüsse, dass sie mit dem Terminus "uneingeschränkte Solidarität" nicht einverstanden waren. So z.B. der Abgeordnete Winfried
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
205
Schon zwei Tage später zeigten sich die ersten Risse in dieser Diskursgemeinschaft:. Nach der Zustimmung der Bundesregierung zur Erklärung des Bündnisfalls durch den NATG-Rat sprach sich der PDS-Fraktionschef Roland Claus in einem Zeitungsinterview gegen diese Entscheidung aus, allerdings erklärte er, "dass unsere Solidarität mit dem amerikanischen Volk durch die Kritik am NATO-Beschluss nicht geringer wird. Denn die Solidarität schließt ausdrücklich auch politische Besonnenheit ein.''''''
In der Plenarsitzung zum OEF-Mandat näherte sich eine Reihe von SPD-Abgeordneten der Wortwahl des Bundeskanzlers an. Andrea Nahles übernahm die Formulierung der "uneingeschränkten Solidarität" direkt, 49 weitere SPD-Abgeordnete versicherten in einer persönlichen Erklärung gern. § 31 GO BT "volle Solidarität", forderten allerdings deutsche Mitwirkung an Entscheidungen in der Allianz ein, wohingegen zwei Abgeordnete von Bündnis 90IDie Grünen in einer solchen Erklärung nur ,,kritische Solidarität" bekundeten. 414 Diese Formulierung wurde durch einen Beschluss der Führungsgremien der Partei am 05.11.2001 die offizielle Parteilinie.415 2003 scherte die PDS endgültig aus dieser Diskursgemeinschaft aus. Deren Sprecherin Dr. Gesine Lötzsch stellte in der ISAF-Mandatsdebatte fest, "dass die Zusicherung der uneingeschränkten Solidarität ein schwerer Fehler war; denn die Bundesrepublik wurde von der Bush-Regierung in einen lang andauernden Krieg gegen den Terror eingebunden.''''l.
Im Zuge der Auseinandersetzung mit den USA über den Irak-Krieg wurde das Solidaritätsargument im Deutschen Bundestag über Jahre hinweg nicht mehr verwendet:. Erst 2007 tauchte es in den Tornado-Debatten wieder auf, allerdings mit deutlich geringerer Intensität. Und nun wurde nicht mehr von der Solidarität mit den USA gesprochen, sondern von ,,Bündnissolidarität".417 Erst in der Begründung
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Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen), der formulierte: "Unsere grüne Fraktion sah das Solidaritätsgebot auch, aber keineswegs ,uneingeschränkt'." (schriftliche Antwort auf Frage 1, Anlage 3 a vom 16.11.2009). Und Hans-Ulrich Klose (SPD) hatte -nach seinen eigenen Worten - bei dem Begriff uneingeschränkt "etwas gezuckt" (BT PIPr 17/9 vom 03.12.2009, S. 669). Zit. nach Berlin-Online: "Das ist der falsche Weg" vom 14.09.2001 (Zugriff; 05.01.2010). BT PIPr 14/202, S. 19884, (Nahles), S. 18898 (SPD-Abgeordnete), S. 19900 (Bündnis 90/Die Grünen). Vgl. "Grüne üben ,kritische Solidarität" in: Berlin-Online vom 06.11.2001 (Zugriff: 06.01.1010). BT PIPr 15/070 vom 24.10.2003, S. 6003. So z.B. in der ersten Beratung des Tornado-Mandat (BT PIPr 16/81) vom 18.02.2007, Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), S. 8128, die Abgeordneten Andreas Schockenhoff (CDU/CSU), S. 8136, Andreas Dembritzki (SPD), S. 8141. Und in der zweiten Beratung der Abgeordnete Bemd Siebert (CDU/CSU), BT PIPr 16/86, S. 8703.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
der ISAF-Mandatsverlängerung 2009 betonte die Bunderegierung das Argument der Bündnissolidarität wieder stärker, als sie ausführte: ,,Für die Bundesregierung ist es eine Frage der Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit als Bündnispartner und Mitglied der internationalen Gemeinschaft, einen der politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Deutschlands entsprechenden Beitrag zur Stabilisierung des Landes zu leisten. Dies entspricht den Grundprinzipien der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, die einem effektiven Multilateralismus verpflichtet ist. '''ll8
Damit trat das Loyalitätsargument von Bündnissolidarität in den Vordergrund. Die Diskursgemeinschaft bestand jetzt allerdings nur noch aus der Regierung und den Fraktionen der Großen Koalition. Aufden anderen Diskursebenen, in den Medien - sowohl Print- als auch BildMedien419 - und in der Öffentlichkeit, wurde der Solidaritäts-Diskurs der Politik nach 9/11 intensiv aufgegriffen und überwiegend positiv reflektiert. So kam es am 13. und 14.09.2001 überall in Deutschland zu Gedenkminuten und Solidaritätskundgebungen, über die z.B. die Berliner Zeitung schrieb: ,,Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben am Freitag der Opfer der Terroranschläge in den USA gedacht. In Berlin versammelten sich 200 000 Menschen zur zentralen Solidaritätskundgebung in Deutschland. An der Trauerfeier nahmen Bundeskanzler Gerhard Schröder und die Vorsitzenden der im Bundestag vertretenen Parteien teil. Bundespräsident Johannes Rau sagte vor dem mit einem schwarzen Band verhängten Brandenburger Tor: ,Amerika steht nicht allein. Uns verbindet Freundschaft, uns verbinden gleiche Werte, uns verbindet die Liebe zur Freiheit. Wir stehen hier vereint in Solidarität. Wir stehen zusammen gegen Hass und Gewalt' .'<420
Nach Meinungsumfragen stand die Bevölkerung in dieser Zeit weitgehend geschlossen hinter den Solidaritätsbekundungen und ihrer Umsetzung in konkrete Maßnahmen. 421 Ob es sich dabei um ein kurzfristiges, der Emotionalisierung durch 9/11 geschuldetes Phänomen handelte, oder ob es innerhalb des Trends lag, den Hellmann als "machtpolitische Resozialisierung" bezeichnet hatte, sei dahin-
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BTDrs 17/39 vom 18.11.2009, S. 2. Neben intensiver Berichterstattung in den NachrichtenfomJaten auch teilweise in Talkshows, z.B. bei "Sabine Christiansen" am 16.09.2001 (QueUe: eigenes Tagebuch vom 16.09.2001). ,,Deutschland gedenkt der Opfer" in: Berlin Online vom 14.09.2001 (Zugriff: 05.01.2010). Der Spiegel meldete unter dem Titel "Solide solidarisch": "Fast drei Viertel (71 Prozent) der Deutschen beflirworten eine Politik der ,uneingeschränkten Solidarität' mit den USA. Nur 23 Prozent sind nach einer aktuellen SPIEGEL-Umfrage von Infratest dagegen." (in: Spiegel-Online vom 08.10.2001; Zugriff: 05.01.2010) Und die Berliner Zeitung zitiert Meinungsumfragen, nach denen von 1.000 Befragten auf die Frage "Soll Deutschland Militäraktionen der USA gegen Terroristen unterstützen?" 69% mit ,,Ja" und 27% mit ,,Nein" antworteten. Zit. nach "Neue Allianzen in Berlin" in: Berlin-Online vom 18.09.2001 (Zugriff: 05.10.2010).
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gestellt. 422 Diese Haltung der öffentlichen Meinung hat sich seitdem jedoch nachhaltig verändert - ein Aspekt, auf den in den nachfolgenden Kapiteln noch näher eingegangen wird. Als die Politik ab 2007 erneut das Bild der ,,Bündnissolidarität" in die Debatte einbrachte - etwas verhaltener als 2001 - verstärkten Medien und Publizistik die Diskussion, und zwar mit einem zunehmend kritischen Unterton. Einige wenige Beispiele dafiir mögen als Beleg genügen. 423 Fragt man, warum die Bedeutung des Arguments ,,Bündnissolidarität" aufder Diskursebene der Politik im Laufe der Zeit zurückgegangen ist, so spricht vieles dafiir, dass mit zunehmender Sichtbarkeit des Gewaltpotentials der militärischen Einsätze aufgrund des tiefin der deutschen Gesellschaft verwurzelten Zivilmachtdenkens die Überzeugungskraft des Multilateralismus zurückging. Für diese These spricht auch der Wechsel im Diskursstrang ,,Legitimation" ab Ende 2002, durch den eine andere Argumentationslinie in den Vordergrund gerückt wurde.
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Hellmann beschrieb diesen Trend wie folgt:,,Die Bereitwilligkeit der Dentschen, sich dem machtpolitischen Sozialisierungsdruck schnell zu ergeben, ist allerdings nicht nur ein Elitenphänomen der Berliner Republik:. Viel mehr lässt sich anband zahlreicher Umfragen belegen, dass politische Führung und öffentliche Meinung bereits seit längerem in dieselbe Richtung marschieren." (Hellmann 2004, S. 83) So titelte z.B. die Neue Zürcher Zeitung die Mandatsverlängerung 2007 "Prekäre deutsche Bündnissolidarität" in: NZZ-Online vom 13.10.2007 (Zugriff: 05.01.2010). In einer Analyse des Transatlantic Network von 2008 wird formuliert: "Die Mandatsemeuerung vom Bundestag im Herbst ist bereits Gegenstand der NATO Diskussion. Es ist nun an der Zeit, öffentlich über ein neues Mandat zu diskutieren, und zwar ein Mandat, das wirklich zum Erfolg in Mghanistan beiträgt. Zugleich muss dieses Mandat die Bündnissolidarität wieder auf eine tragfllhige Basis bringen. Eine zukunftsfllhige NATO braucht verstärkte Solidarität, denn die wachsenden Gefahren am Hindukusch sind nicht die einzigen Sorgen des Nordatlantischen Bündnisses." (Wyrwich/Denison 2008, S. 6 f.) In einer Pressediskussion setzte sich Frieder Wagner mit einer These von Christian Hacke auseinander, Deutschland dürfe aus Bündnissolidarität mit den USA in Mghanistan nicht abseits stehen. Hacke hatte postuliert, die Pflicht, sich - auch wider besseres militärisches Wissen - an der Seite Washingtons stärker und couragierter als bisher zu engagieren, gelte für alle Europäer, "aber für niemanden so sehr wie für Deutschland". Wagner setzte dagegen: "Ich sage: Das ist unfassbar! Der Kampf gegen den Terrorismus wird weder am Hindukusch noch in Bagdad entschieden. Die Entscheidung fallt in den Herzen der 1,4 Milliarden Muslime in Kairo, Bagdad, Kabul, Djakarta - überall dort, wo die Menschen die Politik des Westens beobachten." ("Verhandeln, nicht bomben" in: Kölner Stadtanzeiger-0nline vom 26.03.2009; Zugriff: 05.01.2010) Wagner zitierte damit - ohne auf die Quelle hinzuweisen - JOrgen Todenhöfer. Der hatte allerdings geschrieben "Der Kampf gegen den Terrorismus wird weder am Hindukusch noch in Bagdad militärisch entschieden. Die Entscheidungfli/lt in den Herzen der 1,4 Mrd. Menschen, die in... Djakarta, aber auch in Hamburg, London, Paris und New York die Politik des Westens genau beobachten." (Todenhöfer 2008, S. 198, Hervorhebung im Original)
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6.2.2.2 Verteidigung am Hindukusch Ausgangspunkt dieses neuen Diskursfragments war die Formel, die Verteidigungsminister Dr. Peter Struck (SPD) am 20.12.2002 im Deutschen Bundestag prägte, Deutschlands Sicherheit werde "auch am Hindukusch verteidigt".424 In einer Debatte zur Weiterentwicklung der Bundeswehr 2004 präzisierte er diesen Satz und formulierte: "Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt, wenn sich dort Bedrohungen filr unser Land wie im Fall international organisierter Terroristen formieren.'<42S
Diese einfache und griffige Formulierung rief vereinzelt Bedenken und Interpretationsversuche hervor. So erklärte der Abgeordnete Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen) in der gleichen Debatte: "In Mghanistan geht es nicht um unmittelbare Interessen der Bundesrepublik, nicht um eine Art erweiterte Landesverteidigung, nicht um ökonomische Interessen. Weil Mghanistan aber der zentrale Ausbildungs- und Rückzugsraum filr internationale Terrorismusstrukturen war, ist die Stabilisierung Afghanistans von zentraler Bedeutung filr die Bekämpfung des internationalen Terrorismus und damit filr die internationale Sicherheit. Insofern hat die Bundesrepublik ein hohes mittelbares Interesse an dem Friedensprozess in Afghanistan.'<426
Nach dieser Interpretation der Metapher von Minister Struck wurde der Satz allerdings im Parlament nur noch äußerst selten aufgegriffen. 427 Er entfaltete in der Folgezeit jedoch eine breite Wirkung auf den anderen Diskursebenen. Denn in Medien und in der Publizistik kam es zu einer intensiven, bis zum Ende des Un424 425
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BT PIPr 15/17 vom 20.12.2002, S. 1314. BT PJPr 15/97 vom 11.03.2004, S. 8601. Der Abgeordnete Christian Schrnidt (CDU/CSU) hatte die Aussage in der Plenardebatte am 20.12.2002 filr eine innenpolitische Diskussion mit dem Wortspiel umgedreht: ,,Hindukusch ist das eine, Hindelang und Hinterzarten sind das andere," woraufhin Struck erwiderte: "Im übrigen wird unsere Sicherheit - um aufden Kollegen Schrnidt einzugehen - natürlich auch in Hindelang verteidigt. Ich kann allerdings gegenwärtig dort beim besten Willen keine aktuelle Bedrohung erkennen." (BT PIPr 15/97, S. 860 I) BT PIPr 15/17 vom 20.12.2002, S. 1318. So lieferte der Abgeordnete Hans-Ulrich Klose in der Mandats-Debatte 2006 die folgende Interpretation des Satzes: ",Die Bundesrepublik wird auch am Hindukusch verteidigt' , das war die knappe Formel des früheren Verteidigungsministers Peter Struck. Sie ist richtig, überzeugt aber nur, wenn die Hindukuschmetapher richtig verstanden wird. Sie steht filr eine sehr grundsätzliche, wenn man so will, globale Herausforderung des Westens, westlicher Lebensweise und westlicher Werte durch religiös motivierte Gotteskrieger, denen es letztlich um die Vorherrschaft einer bestimmten Lesart des Islam und der Scharia geht - in Afghanistan und weit darüber hinaus." (BT PJPr 16/54 vom 28.09.2006, S. 5216) Und in der Tornado-Debatte 2007 äußerte der Abgeordnete von Klaeden (CDU/CSU): "Es handelt sich deshalb bei Mghanistan eben nicht um irgendein Entwicklungsland am Hindukusch, sondern unser Erfolg dort ist von geopolitischer Bedeutung. Deswegen hat Peter Struck auch völlig recht, wenn er davon spricht, dass Deutschland am Hindukusch verteidigt wird." (BT PIPr 16/98 vom 09.03.2007, S. 8692)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
209
tersuchungszeitraums andauernden Diskussion,428 vorrangig in den Printmedien, aber auch punktuell in TV-Sendungen. 429 Dabei scheinen die kritischen Kommentare deutlich zu überwiegen (diese Vermutung erfolgt allerdings ohne Detailauszählung, die aufgrund der Datenfülle ausschied). In der Literatur wurde über das Motiv der Diskursposition der Bundesregierung und der sie tragenden Teile des Parlaments diskutiert. Dabei gehen die Positionen weit auseinander. So formulierte Volker StanzeI: "Was tut Deutschland in Afghanistan? ... Die Strucksche Antwort auf diese Frage wird oft mit Skepsis zitiert: Deutschland werde auch am Hindulrusch verteidigt. Doch enthält diese Sequenz weit mehr als auf den ersten Blick scheint: die Begründung eines einzigartigen Experiments in der Außenpolitik der Bundesrepublik. Es ist ein Experiment flir eine neue Form von staatlichem Wiederaufbau - heute vulgo ,nation-building'." (Stanze12005, S. 27)
Diese Interpretation ist sicher sehr weit (wenn nicht sogar hergeholt). Auf der anderen Seite steht die These, dass die Wortwahl von Minister Struck rein zweckorientiert gewählt worden sei, denn - wie Naumann es formulierte ,,man bemühte einen alten und vergleichsweise eindeutigen Terminus (=Verteidigung), um eine neue Sache zu legitimieren, nämlich die politisch-militärische Projektion von ,Sicherheit' weit in das Vorfeld jeder unmittelbaren Bedrohung." (Naumann 2008, S. 25)
In der Tat ist in der konstruktivistischen Sicht das Anknüpfen an vertraute Bilderhier an den Auftrag der Bundeswehr zur Landesverteidigung - argumentativ leichter zu vermitteln, als differenzierte Interpretationen, wie z.B. die von Hans-Ulrich Klose in der Plenardebatte 2006 (s. den vorhergehender Abschnitt) oder die Argumentation, mit der das BVerfD die Klage der Linkspartei gegen den TornadoEinsatz abgelehnt hatte. 430 428 429 430
So flihrte eine Abfrage mit dem Suchbegriff,,Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt" in der Google-Suchmaschine am 06.01.2010 zu 53.200 Fundstellen. TV-Sendung im WDR-Femsehen am 24.11.2008: "Die Story: Leben und Sterben flir Kabul Wie Deutschland am Hindulrusch die Freiheit verteidigt" Ein Auszug aus der Entscheidung lautet: ,,zudem folgt aus der Idee einer gemeinsamen Verteidigung gegen einenAngriffvon außen auch, dass der Angreifende mit seinem Territorium einen insoweit maßgeblichen Bezug zum Bündnisgebiet herstellt. Mit dem Zweck der NATO als System mehrerer Staaten zur gemeinsamen Abwehr militärischer Angriffe von außen waren abwehrende militärische Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets, nämlich auch auf dem Territorium eines angreifenden Staates, von vornherein impliziert. Bei einem Angriffmuss die Verteidigung nicht an der Bündnisgrenze enden, sondern kann aufdem Territorium des Angreifers stattfinden, wobei auch dessen langfristige und stabile Pazifizierung der Sicherung eines dauerhaften Friedens des Bündnisses dient. Insofem entspricht neben der militärischen Verteidigung gegen einen Angriff auch ein damit sachlich und zeitlich in Verbindung stehender komplementärer Krisenreaktionseinsatz aufdem Gebiet des angreifenden Staates noch der regionalen Begrenzung des NATO-Vertrags." (BVerfG - 2 BVE 2/07 - vom 03.07.2007, Rn 54)
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Auch wenn die Strucksche Metapher also interpretationsbedürftig war, die Diskursgemeinschaft der Politik verwendete sie in ihrer stark vereinfachten Version bis in den Spätherbst 2009 zur Begründung der deutschen Einsätze. 6.2.2.3 Nationale Interessen ,,Die Bundesregierung wird daher auch künftig in jedem Einzelfall prüfen, welche Werte und Interessen Deutschlands den Einsatz der Bundeswehr erfordern" (Weißbuch 2006, S. 29, Hervorhebung UvK).
Aus dieser Formulierung aus dem Jahr 2006 könnte man schließen, dass solche Einzelfallprüfungen auch schon früher erfolgten. Die Überlegungen in Kapitel 2.2.2 haben gezeigt, dass beim ,,Aufspüren" von spezifischen deutschen Interessen die zu Grunde liegenden Diskurse betrachtet werden müssen, und zwar sowohl die innerhalb der Diskursgemeinschaft Politik, als auch vor allem die zwischen Politik auf der einen und Wissenschaft und Medien auf der anderen Seite. Diese Suche nach ,,nationalen Interessen" im politischen Diskurs um die Afghanistaneinsätze führt jedoch nur zu sporadischen ,,Funden". Bei den Entscheidungen zur Beteiligung an OEF wurden auf der Diskursebene der Politik "deutsche Interessen" als Begründung - neben dem multilateralen Interesse (unter Einfluss des Hegemons USA) - insgesamt nur marginal thematisiert. So enthielt der erste Antrag der Bundesregierung von 2001 überhaupt keinen entsprechenden Bezug. 431 In ihren Anträgen zur Verlängerung des Einsatzes in den Folgejahren nahm die Bundesregierung dann die weltweit durchgeführten Terroranschläge - insbesondere den auf Djerba am 11.04.2002, bei dem auch 14 deutsche Staatsbürger unter den Opfern waren, aber auch den fehlgeschlagenen "Kofferbomber-Anschlag" in Köln im Sommer 2006 - als Begründung dafür, dass auch Deutschland von der Bedrohung durch den internationalen Terror unmittelbar betroffen sei. 432 In der Plenardebatte zum OEF-Mandat 2001 wurden deutsche Interessen vereinzelt thematisiert, so vom Fraktionsvorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Friedrich Merz, der vom "eigenen, nationalen Interesse unseres Landes" als Begründung für den Einsatz der Bundeswehr sprach,433 sowie vom Vorsitzenden der SPD-Frak-
431 BT Drs 14/7296 vom 07.11.2001. 432 BT Drs 15/37 vom 06.11.2002, S. 2, und BT Drs 16/3150 vom 25.10.2006, S. 2. 433 Er fonnulierte: ,,Die Solidarität mitAmerika und das eigene, nationale Interesse unseres Landes gebieten auch zu unserer eigenen Sicherheit den Einsatz der Streitkräfte." (BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19859)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
211
tion, Dr. Peter Struck, der erklärte, es sei "originäres Eigeninteresse, den Terrorismus in einer internationalen Koalition zu bekämpfen".434 Mit solchen Äußerungen wurde schon zu Beginn der Einsätze der Grundstein dafür gelegt, dass in Äußerungen von Bundesregierung und Parlamentariern bis zum Ende des Jahrzehnts häufig eine weitgehende Gleichsetzung von multilateralen und deutschen Interessen erfolgte. 435 Dieses wird auch in einer Reihe von Antworten auf den Fragenkatalog für Vorsitzende und Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses deutlich (Anlage 3 a, Frage 1).436 Bei der Begründung der Beteiligung an ISAF hob die Bundesregierung in ihren Anträgen lange Zeit überhaupt nicht aufnationale Interessen ab. Erst im Antrag auf Verlängerung des Mandats 2009 formulierte sie prominent - als ersten Satz ihrer Begründung - : ,,Ein stabiles Afghanistan liegt im vitalen deutschen Interesse."437 In den ISAF-Mandatsdebatten wurden die "deutschen Sicherheitsinteressen" nur gelegentlich angesprochen, sie waren in der Argumentationslinie zur Begründung der Einsätze aber nur von marginaler Bedeutung. 438
434 435
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BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19863. So beinhaltet auch der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP "Wachstum, Bildung, Zusammenhalt" von 2009 eine Passage in diesem Sinne. Es heißt darin: "Wir verstehen unser Engagement in Afghanistan als eine Aufgabe von besonderem nationalen Interesse: Es dient der Sicherheit der Menschen in unserem Land. Es ist Ausdruck unserer Solidarität mit den leidgeprüften Menschen in Mghanistan. Und es bekräftigt unsere Verlässlichkeit als gestaltendes Mitglied in der Nordatlantischen Allianz und den Vereinten Nationen." (Koalitionsvertrag 2009, S. 122) So formulierte z.B. der ehemalige CDU-Abgeordnete und spätere Parlamentarische Staatssekretär im BMVg, Dr. Friedbert Pflüger "Natürlich sind es deutsche Interessen, die uns leiten! (Terrorcamps, Bedrohung für den Westen). Was sonst? Daß zu diesen Interessen auch Solidarität im Bündnis gehört, ist doch klar." (schriftliche Antwort vom 24.08.2009, Unterstreichung im Original) Der ehemalige Abgeordnete von Bündnis 9O/Die Grünen, Winfried Nachtwei, äußerte sich wie folgt: "Um ,deutsche Interessen' ging es dabei nur indirekt, als das transatlantische Verhälmis und die kollektive Abwehr einer terroristischen Bedrohung bisher unbekannten Ausmaßes als auch in deutschem Interesse angesehen wurde... Absolut keine Rolle spielten im parlamentarischen Raum oder dem von mir einsehbaren Teilen der Exekutive eigenständige deutsche ,Einflussinteressen' ." (schriftliche Antwort vom 16.11.2009) Und der ehemalige Abgeordnete Manfred Opel (SPD) stellte fest: "Eigenständige deutsche Interessen wurden zwar in den Bundestags-Erklärungen der Koalitions-Vertreter formuliert. Diese waren aber immer sehr allgemein gehalten und wenig konkret. Reale und zwingend abgeleitete direkte deutsche Interessen wurden zu keinem Zeitpunkt geäußert oder gar klar definiert." (schriftliche Antwort vom 13.09.2009) BT Drs 17/39 vom 18.11.2009. S. 2. So in einem Beitrag des Abgeordneten Volker Rübe (CDU) in der Mandatsdebatte 2002. Er zitierte Auß=inister Fischer, der im Auswärtigen Ausschuss gesagt hatte, "wir hätten keine Interessen in der Region und würden deswegen keine Führungsfunktionen am Hindukusch übernehmen" (BT PIPr 14/210 vom 22.12.2001, S. 20834.). Und in der Mandatsdebatte 2002 formulierte Bundesverteidigungsminister Dr. Peter Struck (SPD): "InAfghanistan tun wir das, was
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Es gab allerdings auch Aussagen von Abgeordneten, die die Verknüpfung der Einsätze mit spezifischen deutschen Interessen kritisch sahen. So antwortete der Abgeordnete Rainer Amold (SPD) in der Befragung der Vorsitzenden und Obleute der beiden relevanten Ausschüsse: ,,Also zunächst einmal sehe ich nicht, dass es eigenständig partikulare deutsche Interessen gibt, sondern es gibt gemeinsame europäische Interessen, es gibt bündnisgerneinsame Interessen, es gibt weltweite gemeinsame Interessen. "439
Damit wirft Amold die schon eingangs (Kap. 2.2.2) formulierte Frage auf, was nationale Interessen in einer interdependenten Welt überhaupt bedeuten, in der sich eine Interessenverflechtung miteinander kompatibler Interessen mehrere Länder vollzogen hat. Im notwendigen Diskurs über nationale Interessen wäre diese Verflechtung eigentlich zu "entflechten". Dieser Aspekt wurde jedoch weder in der Politik noch in der Literatur weitergehend diskutiert. Ob bzw. inwieweit die vorbehaltlose Entscheidung der Bundesregierung zur deutschen Beteiligung an OEF und ISAF - neben den sporadisch artikulierten Interessen - auch durch das deutsche Interesse an einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der VN (mit) motiviert worden war, wie Hellmann behauptete,440 lässt sich aus Dokumenten nicht belegen. Dieser Aspekt spielte auch in den Plenardebatten im Parlament keine Rolle. Insofern ist Hellmanns Schlussfolgerung zwar plausibel, bleibt aber ohne Einblick in die internen Entscheidungsabläufe spekulativ. Neben den "offiziellen", in den Regierungskonzepten dokumentierten Interessen ist davon auszugehen, dass die Entscheidungen im Jahr 2003 zur Ausweitung des ISAF-Engagements über Kabul hinaus von einem weiteren deutschen Interesse mit bestimmt wurden: dem Bemühen der Bundesregierung, nach der Brüskierung der amerikanischen Regierung durch die Ablehnung einer Beteiligung am Irak-Einsatz das deutsche Verhältnis zu den USA zu normalisieren (siehe den dafür gefundenen Hinweis in Kap. 5.1.4.2). Hellmann schrieb dazu: ,,Dass George Bush in der nächsten Anti-Terror-Etappe die ,Konsultations'-Erwartung Schröders im Falle des Irak nicht ganz so ernst nahm, stieß in Berlinjedoch übel auf. Unter den neuen
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der Verantwortung Deutschlands, was unseren Möglichkeiten und unseren Sicherheitsinteressen entspricht." (BT PIPr 15/17 vom 20.12.2002, S. 1315) Telefoninterviewam 05.11.2009. Er schreibt: ,,Im Falle Mghanistans bot sich der Bundesregierung die einmalige Chance, nicht nur unter der Fahne der Zivi1macht die Rechte der Frauen am Hindulrusch zu verteidigen und gleichzeitig die deutsche Resistenz gegenüber Sonderwegen unter Beweis zu stellen, sondern auch gegenüber der Vormacht USA das Mitspracherecht der Deutschen in den großen weltpolitischen Fragen einzuklagen und Punkte flir einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu sammeln. Daflir riskierte der Bundeskanzler mit der Vertrauensfrage sogar sein politisches Schicksal." (HeUmann 2004, S. 81., Hervorhebung im Original)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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Bedingungen wurde daher Afghanistan zum Hebel, um neben dem Schutz afghanischer Frauen nun die deutsche Abstinenz im Irak zu rechtfertigen." (Hellrnann 2004, S. 81)
Eine ähnliche Argumentation findet sich bei Kühne, der die Aussage trifft: ,,Das starke deutsche Engagement bei den Provincial Reconstruction Teams (PRT) war nicht in erster Linie durch Interessen in Afghanistan motiviert, sondern beruhte maßgeblich auf einem ,deal' des damaligen Kanzlers Schröder mit US-Präsident Bush, der den Zweck hatte, den amerikanischen Druck im Hinblick auf eine deutsche Beteiligung im Irak zu neutralisieren." (Kühne 2007, S. 26)
Die These, dass die Nichtbeteiligung am Irak-Krieg Einfluss auf die Entscheidung zur Ausweitung des ISAF-Engagements hatte, wird auch durch einige Äußerungen von Oppositionspolitikern in der Plenardebatte zum "Kundus-Mandat" vom 24.10.2003 gestützt. So erklärte die fraktionslose PDS-Abgeordnete Dr. Gesine Lötzsch: ,,Es ist ein offenes Geheimnis: Die Erweiterung und Verlängerung des Mghanistanmandats haben nicht nur etwas mit Afghanistan zu tun - vielleicht sogar eher weniger -, sondern das ist vor allem ein Kuhhandel mit den Amerikanern.''441
Und in einer persönlichen Erklärung gem. § 31 GO BT formulierte der Abgeordnete Koppelin (FDP) in ähnlichem Sinne: ,,Die überlegungen der Bundesregierung zur Fortsetzung und besonders die Erweiterung des Mandates in Afghanistan sind der Versuch, mit gesteigertem Engagement in Afghanistan das Wohlwollen der USA zu erreichen und gleichzeitig an dem vor Beginn des Irakkrieges eingeschlagenen ,deutschen Weg' festzuhalten.''442
Während nationale Interessen also in den Regierungsbegründungen der Mandate für OEF und ISAF sowie in den parlamentarischen Debatten nur eine nachrangige Rolle spielten, ergibt die Auswertung der konzeptionellen Grundlagendokumente, dass dort sehr wohl eine Verknüpfung der Begründung der Einsätze mit eigenen Interessen erfolgte - und zwar mit zunehmender Intensität. Zwar ging das Konzept von 2003 noch mit keinem Wort auf deutsche Interessen ein, in den folgenden Dokumenten findet man jedoch entsprechende Passagen. So heißt es im Konzept 2006, noch relativ "verhalten": ,,Ein erneuter Zusammenbruch staatlicher Strukturen und ein erneutes Vordringen der Taliban in Mghanistan hätte verheerende Auswirkungen auf die regionale Stabilität in diesem Raum. Dies gilt insbesondere für die Entwicklung in Pakistan, dessen Stabilisierung ebenfalls im nachhaltigen westlichen Interesse liegt. Wir können Afghanistan deshalb nicht allein lassen. Unser In441 442
BT PIPr 15/70 vom 24.10.2003, S. 6003. BT PlPr 15/70 vom 24.10.2003, S. 6054.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
teresse an regionaler Stabilität und unsere unmittelbaren Sicherheitsinteressen in der Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus verbieten das." (Bundesregierung 2006, S. 2)
In den beiden nachfolgenden Konzepten wird diese Verknüpfung mit deutschen Interessen pointierter formuliert. Als Beispiel die Formulierungen von 2008: "Wir beteiligen uns an den Anstrengungen der internationalen Staatengemeinschaft, regionale Stabilität und Sicherheit in einem schwierigen Umfeld zu gewährleisten; und wir verteidigen unsere eigenen Sicherheitsinteressen, indem wir zur Eindämmung des weltweiten Terrorismus beitragen. Afghanistan darf nicht emeut zum Rückzugsraum des internationalen Terrorismus werden! ... Insofern dient unser Afghanistan-Engagement unmittelbar deutschen Interessen." (Bundesregierung 2008, S. 5, S. 9)
In der Schlussbemerkung des Afghanistankonzepts von 2008 wird sogar der Begriff der "vitalen Interessen" verwendet (ebenda, S. 51), eine Formulierung, die wie oben gezeigt - danach auch in die Begründung des Antrags der Bunderegierung zur Verlängerung des Mandats ab Dezember 2009 Eingang fand. 443 Aus dem "vitalen Interesse" wurde in der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin einen Tag vor der Londoner Afghanistan-Konferenz vom 28.01.2010 dann ein "dringendes Interesse",444 wobei die Kanzlerin dieses vorrangig aus der "alten" afghanistanbezogenen Interessendefinition, und nur marginal aus der regionalen Sicherheitsanalyse ableitete. 445 Eine zu starke Betonung auch in der öffentlichen Debatte, Afghanistan dürfe nicht erneut zum Rückzugsraum des internationalen Terrorismus werden,446 barg jedoch die Gefahr, in der öffentlichen Wahrnehmung die regionale Bedeutung des internationalen Engagements zu verkürzen. 443
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Es heißt dort: "Ein stabiles Afghanistan liegt im vitalen deutschen Interesse. Diese Grundüberzeugung, aufder das deutsche Engagement seit 200 I fußt, behält weiterhin Gültigkeit." (BT Drs 17/39 vom 18.11.2009, S. 2) Sie führte aus: "Wir dürfen nie die Umstände vergessen, die alle Bundesregierungen seit Ende 2001 bis heute zum Afghanistan-Einsatz bewogen haben: dass das von Taliban und al-Qaida beherrschte Afghanistan die Brutstätte des Terrors vom 11. September 200 I war. Ihm folgten weitere Anschläge. Deshalb galt damals und gilt heute: Der Einsatz der Bundeswehr im Rahmen des internationalen NATO-Einsatzes war und ist in dringendem Interesse der Sicherheit unseres Landes." (BT PlPr 17/18 vom 27.01.2010, S. 1524) Diesem Aspekt war nur ein kleiner Absatz gewidmet, vgl. BT PlPr 17/18 vom 27.01.2010, S. 1523. Beispiele dafür sind Äußerungen aus dem Jahr 2008 von Bundesverteidigungsminister FranzJosef Jung (CDU): "Wir haben heute die Bedrohungslage durch den internationalen Terrorismus. Die Anschläge des 11. September sind in New York und in Washington von Afghanistan ausgegangen. Afghanistan war das Ausbildungscamp für den Terrorismus. Wir leben hier nicht auf einer Insel der Glückseligen. Auch wir sind dadurch bedroht und deshalb denke ich, es ist richtig, wenn wir die Gefahren an der Quelle beseitigen, bevor sie in wesentlich schlimmerer Dimension das eigene Land und unsere Bürgerinnen und Bürger erreichen." (Dokumentation Sendung "Todesfalle Hindukusch" , ZDF, 24.09.2010, eigene Transkription) sowie von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) "Wir müssen uns anstrengen, gemeinsam mit anderen
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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Diese regionale Komponente betonte allerdings Verteidigungsminister zu Guttenberg sehr deutlich in einem Zeitungsinterview: ,,zum deutschen Interesse gehört auch regionale Stabilität. Ein dauerhaft instabiles und implosionsträchtiges Afghanistan - das gleichzeitig über Grenzen hinweg ansteckende Elemente hat - muss uns beunruhigen. Es handelt sich in der Gesamtregion um ein Kemgebiet, bei dem deutsche Sicherheits-, aber auch Wirtschaftsinteressen berührt sind, Stichwort Energie".447
Wie stellte sich nun der Diskurs auf den anderen Diskursebenen - Wissenschaft und Medien - dar? Wurden hier die Formulierungen der Politik zu nationalen Interessen in den Afghanistaneinsätzen hinterfragt, bestärkt oder verworfen? Einen Impuls für die innergesellschaftliche Debatte um nationale Interessen gab das Weißbuch 2006, in dem - wie oben skizziert - Ansätze zur Formulierung solcher Interessen enthalten waren. Als eine Reaktion darauf erschien ein wissenschaftlicher Diskussionsbeitrag mit dem durchaus zutreffenden Titel ,,Nationale Interessen! Aber was sind die?" (MaulI 2006 a). Er setzte sich u.a. kritisch mit der Definition deutscher Interessen im Weißbuch 2006 auseinander, die nach seiner Meinung "deutlich hinter die recht klaren und präzisen, wenngleich notwendig allgemeinen Aussagen aus dem Weißbuch 1994 zurück (fallen)" (ebenda, S. 69). Stattdessen schlug er Formulierungen für außenpolitische deutsche Interessen vor, die sich eng an die des Weißbuchs 1994 anlehnen. 448 Bei einigem guten Willen könnte man die bis Ende 2009 identifizierbaren rudimentären Formulierungen auf der Diskursebene der Politik mit einigen der von Maull vorgeschlagenen deutschen Interessen in Übereinstimmung bringen, was allerdings weder durch Maull erfolgte noch durch die Politik, so dass es zu keiner diskursiven Präzisierung kam. Auch die in KapiteI5.1A.l skizzierten ,,Kriterienkataloge" für Auslandseinsätze nahmen die von Maull angestoßene Diskussion z.T. auf und hätten so zu Ansätzen einer Operationalisierung einiger nationaler Interessen werden können. Dieser Diskursstrang wurde von der Politik auch teilweise aufgenommen (vgl. Nachtwei 2007, Schockenhoff 2006, CSU 2007), ohne allerdings in den parla-
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in Afghanistan dafür zu sorgen, dass diese Land nicht länger Brutstätte des Terrorismus ist. Darum sind wir da." (Interview in der Sendung Heute-Joumal, ZDF 16.10.2008, eigene Transkription) ,,Das ist noch mal eine echte Chance" in: Zeit-Online vom 28.01.2010 (Zugriff: 31.01.2010). Sie lassen sich in folgenden sechs Punkten zusammenfassen: (1) Bewahrung von Freiheit, Sicherheit und Wohlfahrt Deutschlands, (2) Europäische Integration, (3) offene Weltwirtschaft, (4) universelle Achtung von Völkerrecht und Menschenrechten, (5) Stärkung der internationalen Ordnung, insbesondere Vorbeugung, Eindämmung und Beendigung von Krisen und Konflikten, die die Unversehrtheit und Stabilität Deutschlands beeinträchtigen könnten sowie (6) gleichberechtigte partnerschaftliche Zusammenarbeit, insbesondere mit den USA und anderen globalen Mächten und Staaten.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
mentarischen Diskussionen relevant zu werden. In dieser blieb es bei den schlagwortartigen Formulierungen der Politik, denen daher bis heute eine breite gesellschaftliche Unterstützung fehlt. Die Verknüpfung der Zielsetzung der Afghanistaneinsätze mit eigenen Interessen - unter weitgehender Gleichsetzung von multilateralen und deutschen Interessen - wurde auch vom BVertD in seiner Entscheidung vom 03.07.2007 zum Tornado-Mandat vom 09.03.2007 aufgegriffen, in der es heißt: ,,DieserAuftrag der Internationalen Sicherheitsbeistandstruppe hat nicht nur einen isolierten Bezug zur Sicherheit des afghanischen Staates. Das internationale Engagement in Afghanistan ist wesentlich darauf ZUTÜckzuflihren, dass die handelnden Staaten in Übereinstimmung mit den handelnden internationalen Organisationen durch die Lage in Mghanistan ihre eigenen Sicherheitsinteressen als betroffen ansehen. "449
Meyer weist darauf hin, dass diese Aussage des BVertD durchaus diskussionswürdig sei. Denn man könne das auch so lesen, dass es bei ISAF primär "um den Schutz der euro-atlantischen Region vor terroristischen Anschlägen und - zugespitzt - eigentlich nur am Rande um den Wiederaufbau Afghanistans" gehe (Meyer 2007, S. 25). Der These von Maull folgend, dass Diskurse um nationale Interessen Teil des politischen Ringens sind, kann man die Argumentation des BVertD aber auch anders interpretieren, nämlich, dass das Verfassungsgericht - seiner langjährigen Linie folgend - der Politik einen breiten Ermessensspielraum zumaß. Meyer formulierte, das Gericht spiele "diesen Ball in das Feld der Politiker zurück" (Meyer 2007, S. 3). Als Ergebnis bleibt festzuhalten: Ansätze zu einer Begründung der Afghanistaneinsätze mit (rudimentär formulierten) spezifischen deutschen Interessen finden sich im parlamentarischen Diskurs über die Mandate nur sporadisch, wohl aber in den konzeptionellen Grundlagenpapieren der Bundesregierung, die allerdings erst nachträglich geschaffen worden waren. Diese setzten - ohne tiefer gehende Diskussion - nationale Interessen weitgehend mit Bündnisinteressen gleich. Hinzu kamnach dem Irak-Krieg - das temporäre spezifische deutsche Interesse an einer Verbesserung des gestörten Verhältnisses zu den USA. Die argumentative Verkürzung auf Al Qaida und die Ausbildungslager für Terroristen barg die Gefahr, die regionale Bedeutung der Afghanistaneinsätze im Diskurs zu kurz kommen zu lassen. Einen nennenswerten Diskurs der Politik mit den anderen Diskursebenen, insbesondere mit der Wissenschaft, vermisst man. Zwar gab es nach der Herausgabe des Weißbuchs 2006 einige Impulse, die jedoch zu keinem systematischen Hin449
Entscheidung BVerfG - 2 BVE 2/07 - vom 03.07.2007, Rn 61.
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terfragen der Positionen der Politik durch die Wissenschaft führten, ebenso nicht zu einem Aufgreifen der Vorschläge der Wissenschaft durch die Politik, obwohl sich Schnittmengen hätten finden lassen. Insgesamt gilt für die Definitionsansätze deutscher Interessen die bereits oben zitierte Feststellung von Mair, dass ein Verweis aufnationale Interessen problematisch ist, wenn diese erst in die Debatte eingebracht werden, nachdem die eigentliche Entscheidung schon gefallen ist.
6.2.3 Grobanalyse zum Diskursstrang "Krieg" oder "Nicht-Krieg" Bei der Auswertung der Legitimationsdebatten auf der Diskursebene der Politik wurde an vielen Stellen deutlich, dass die Regierung, aber auch viele Parlamentarier, sich bemühten, bei der Beschreibung der Afghanistaneinsätze der Bundeswehr nicht in die Nähe eines ,,Kriegsbegriffs" zu geraten. 4SO Auf diese Weise verschränkte sich der Diskursstrang der Legitimation mit der Debatte zwischen den Ebenen Politik sowie Medien und Gesellschaft, ob die Einsätze "Krieg" oder "Nicht-Krieg" seien. Ein Femsehkommentar vom Jahresende 2009 skizzierte diesen Diskursstrang in pointierter Weise wie folgt: "Was dieses Land aber auch dringend benötigt, ist der Abschied von einer politischen Lebenslüge. Die Bundeswehr ist nicht die freundlich zurückhaltende Armee in Afghanistan - nein, sie befindet sich schon länger in einem kriegsähnlichen Zustand, sie kämpft, und sie darf auch töten. Diese Wahrheit haben alle Regierungen der letzten Jahre nicht aussprechen wollen. Dieses Land braucht jetzt eine offene Diskussion über Versäumnisse, Art, Umfang und Dauer des Bundeswehreinsatzes. '<451
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Der Abgeordnete Guido Westerwelle (FDP) formulierte z.B. in einer TV-SendungAnfang 2009: ,,Deswegen ist es auch richtig zu sagen: das Ziel ist nicht die Eroberung eines Landes im Sinne eines Kampfeinsatzes, sondern das Ziel ist es, Menschlichkeit wiederherzustellen und unsere eigene Sicherheit in Europa." (ARD-Sendung "Beckmann" vom 26.01.2009, eigene Transkription) Die Vorsitzende des Verteidigungsausschuss, Ulrike Merten (SPD) flihrte in einer TV-Sendung 2009 aus, Ziel des Einsatzes sei ,,mitzuwirken, dass Afghanistan nicht wieder Rückzugsort und Rückzugshort für Terroristen wird, dieses Land den Taliban nicht wieder in die Hände flillt, was auch unmittelbar mit der Sicherheit der Menschen in diesem Land zu tun hat." (,,Phoenix-.Runde" am 08.09.2009, eigene Transkription) Und Verteidigungsminister Jung (CDU) äußerte sich in einem TV-Interview auf die Frage, ob man Soldaten in so geflihrliche Einsätze schicken müsse: "Nun ich denke, das ist ein ganz wichtiger Punkt, weil das etwas zu tun hat mit der Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Wir haben einfach heute eine Veränderung der Bedrohungslage. Wir haben zum Glück den Kalten Krieg überwunden." (Interview zur Sendung "Wenn deutsche Soldaten fallen", ZDF vom 24.09.2009, eigene Transkription) Kommentar Ulrich Deppendorf in den "Tagesthemen" (ARD am 15.12.2009), eigene Transkription.
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Der Grund für diese seit Jahren kontroverse Debatte liegt im Spannungsverhältnis zwischen den primär multilateralistisch bestimmten Entscheidungen der Politik und dem Zivilmachtdenken der deutschen Gesellschaft. Neitzel bringt dieses auf den Punkt, wenn er feststellt: ,,Der Einsatz ,out of area' ist freilich gesellschaftlich umstritten. Neueste Studien zeigen, dass nur dann mit einer breiten Unterstützung durch die Bevölkerung gerechnet werden kann, wenn die Operationen einen helfenden und unterstützenden Charakter haben und wenn sie friedlich verlaufen. Die Bundeswehr wird von der Gesellschaft vor allem als ein zum Eigenschutz beflihigtes Technisches Hilfswerk wahrgenommen und (nur) also solches akzeptiert. K.ampfeinsätze werden teilweise mit großen Mehrheiten abgelehnt." (NeitzeI2008, S. 373)
Dieser Diskursstrang ,,Krieg" oder "Nicht-Krieg" soll im folgenden Kapitel einer weitergehenden - wenn auch aus Sicht der Methode der Diskursanalyse immer noch groben - Analyse unterzogen werden. 6.2.3.1 Diskurspositionen der Politik bis 2007 Auf der Diskursebene der Politik kristallisierten sich schon frühzeitig zwei Diskursgemeinschaften mit diametral gegensätzlichen Positionen heraus. Die eine umfasste die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen im Deutschen Bundestag, bei diesen allerdings nicht einhellig. Die andere umfasste die Fraktion der PDS bzw. der Linken. In Kapitel 5.1.4.2 war bereits gezeigt worden, dass schon bei der Schlussberatung des Antrags der Bundesregierung aufBeteiligung an OEF mit der ,,Beschönigung" des Charakters der Einsätze begonnen worden war, als die Abgeordnete Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grünen) behauptete, der Einsatz diene vorrangig humanitären Zwecken. 4S2 Und sogar schon vorher - in der 1. Beratung - hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) den Aspekt einer "humanitären Katastrophe" in Afghanistan als Hintergrund für die Entscheidung zur Beteiligung betont. Der Bundeskanzler formulierte: ,,Es geht jetzt in erster Linie um humanitäre Anstrengungen, mit denen das Leid von Millionen von Afghanen gelindert werden kann. Viele scheinen das Ausmaß der humanitären Katastrophe noch gar nicht richtig erfasst zu haben. 4S3
Damit knüpfte er an die Linie an, die die Rot-Grüne Regierung schon bei der Begründung der Teilnahme Deutschlands an den Balkaneinsätzen eingeschlagen hat452 453
BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19868. BT PIPr 14/198 vom 08.11.2001, S. 19285 (Hervorhebung im Original).
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te. 454 Auch Außenminister Joseph Fischer (Bündnis 90IDie Grünen) stellte in der Debatte einen direkten Bezug zur Entscheidung über den Kosovo-Einsatz her. 455 Der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Friedrich Merz nahm den Gedanken der humanitären Katastrophe auf und betonte explizit: "Wir führen keinen Krieg gegen Afghanistan, sondern wir bekämpfen Terroristen und ein unmenschliches, menschenverachtendes Regime, das sie deckt".45.
Die Diskursgemeinschaft der PDS formulierte hingegen den von ihr seit dieser Zeit vertretenen Standpunkt, mit der Entscheidung zur Teilnahme an OEF beteilige sich Deutschland an einem Krieg. Ihr Fraktionsvorsitzender, Roland Claus, führte dazu aus: "Wir wissen, dass Krieg das falsche Mittel im Kampfgegen den Terrorismus ist. Krieg vermehrt die terroristische Gefahr, er schränkt sie nicht ein. Der Kampf gegen den Terrorismus ist zu gewinnen, ein Krieg aber nie.'''''
Auch wenn durch die Kopplung mit der Vertrauensfrage die Frage ,,Krieg" oder "Nicht-Krieg" in dieser Plenardebatte nicht zentral war, kam es doch zu einer Reihe von Aussagen, die erkennen lassen, dass viele Abgeordnete und sogar Bundeskanzler Schröder selbst durchaus Elemente eines Kriegseinsatzes sahen. So sprach der Bundeskanzler von der ,,Kriegserklärung durch den Terrorismus" die dazu zwänge, Bundeswehreinheiten für einen Kampfeinsatz außerhalb des NATO-Vertragsgebietes bereitzustellen. Auch in der Argumentation der Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe, Heidemarie WieczorekZeul (SPD), waren Elemente zu erkennen, die auf den Kriegscharakter hindeuteten. 458 Demgegenüber erklärte der SPD-Fraktionsvorsitzende Dr. Peter Struck: 454
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Schöllgen beschreibt diese Linie wie folgt: ,,Es ist daher kein Zufall, dass die beiden (Bundeskanzler Schröder und Außenminister Fischer, UvK) den ersten Kampfeinsatz in der Geschichte der Bundeswehr nicht mit den Handlungszwängen der internationalen Politik begründeten, sondern an die pazifistischen und humanitären Wurzeln ihrer Parteien appellierten. ,Nie wieder Auschwitz' heißt heute, Wehret den Anfllngen' begründete Außenminister Fischer im Frühjahr 1999 seine Zustimmung zum Militärschlag gegen Serbien." (Schöllgen 2005, S. 3) Er führte aus: "Es ist eine Entscheidung, die auf die Frage gründet: Krieg oder Frieden? Es ist die zentrale Entscheidung. Deutschland tut sich vor dem Hintergrund unserer eigenen Geschichte besonders schwer. Nicht umsonst ist die Menschenwürde in Art. I des Grundgesetzes als unantastbar gesetzt worden: aufgrund der Erfahrungen mit Kriegen und furchtbarer, blutiger Diktatur. Diese Erfahrung sitzt, quer durch alle Generationen und quer durch alle politischen Lager, sehr tief; wir haben das im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg alle gespürt und erlebt." (BT PIPr 14/198 vom 08.11.2001, S. 19293, Hervorhebung im Original) BT PIPr 14/198 vom 08.11.2001, S. 19289. BT PIPr 14/198 vom 08.11.2001, S. 19296. Sie führte aus: "Ich sage denjenigen, die gegen eine Beteiligung der Bundeswehr sind, weil es um die Beteiligung an einem Krieg geht: ... Ein Vorgehen zur Zerschlagung terroristischer
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure ,,Bleibt als letzte und fiinfte Maßnahme die Bereitstellung von 100 Spezialkräften, die mit polizeiähnlichen ZugriflSmöglichkeiten besonders geeignet sind, identifizierte Terroristen oder Talibanverbrecher in Mghanistan dingfest zu machen. "4'9
Dieses etwas diffuse Bild in den Äußerungen von führenden Politikern der Koalition, ob es nun Krieg sei oder nicht, spiegelte sich auch in den Reihen der Abgeordneten wider. So erklärte Steffi Lemke (Bündnis 90/ Die Grünen): "Wir lehnen diesen Krieg und die Beteiligung der Bundeswehr nicht allein deshalb ab, weil das aus unserer Sicht falsch ist, sondern auch, weil dies einen weiteren entscheidenden Schritt zur Enttabuisierung militärischer Mittel darstellt. "460
Eine solche Position nahmen in persönlichen Erklärungen eine Reihe weiterer Abgeordneter ein. 461 Die Gegenposition formulierte der Abgeordnete Winfried Nachtwei (Bündnis 90IDie Grünen) in einer persönlichen Erklärung gern. § 31 GO BT wie folgt: "Wo in Afghanistan der Krieg zurückgeht, wo jetzt humanitäre Hilfe, Sicherheit, Entminung, Aufbau, politische Einigung und Terroristenverfolgung im Mittelpunkt stehen, bedeutet der unterstützende deutsche Militäreinsatz ersichtlich nicht die Teilnahme am Afghanistan-Krieg oder einen Kriegseinsatz. "462
Und naturgemäß blieb die PDS bei ihrer Haltung aus der 1. Lesung. 463 Damit kann festgehalten werden: die Diskursgerneinschaft der Politik war in der OEF-Entscheidung uneinig, ob der Einsatz der Bundeswehr Teil eines Kriegseinsatzes war.
459 460 461
462 463
Netzwerke ist kein Angriffskrieg-, sondern der Versuch, diese Netzwerke zu zerschlagen und dazu beizutragen, dass solche unvorstellbaren terroristischen Aktionen wie der Angriff auf das World Trade Center niemals mehr passieren können, und zwar nirgends auf der Welt." (BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19872) BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19857 (Bundeskanzler Schröder); SS. 19863 (Abgeordneter Dr. Struck). BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19888. Der Abgeordnete Rüdiger Veit (SPD) betonte, auch im Namen von 15 Kollegen, dass ihre Zustimmung zur Vertrauensfrage unbeschadet der Tatsache erfolgen werde, "dass wir den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan oder wo immer auch sonst im Rahmen des hier begehrten Mandats nicht für richtig halten; denn Krieg ist unserer Überzeugung nach kein geeignetes Mittel im Kampf gegen den Terrorismus" (BT PlPr 14/202 vom 16.11.200I, S. 19891). In gleichem Sinne z.B. die Abgeordneten Dr. Edelbert Richter (SPD), S. 19903, Winfried Hermann (Bündnis 90/ Die Grünen), S. 19903 f. BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19903. Fraktionsvorsitzender Roland Claus: "Wir bleiben dabei: Die PDS-Fraktion sagt Nein zu diesem Krieg, Nein zur deutschen Beteiligung und auch Nein zur Vertrauensfrage." (BT PIPr 14/202 vom 16.11.2001, S. 19870)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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Das sollte sich bei der ISAF-Entscheidung ändern - zumindest für einige Jahre. Zwar machte der Bundeskanzler in der Plenardebatte zur Billigung der deutschen Beteiligung an ISAF klar, dass in Afghanistan auch weiterhin Kriegshandlungen erfolgten, aber er entwickelte dann die These der Abtrennung von ISAF von den Kriegshandlungen: ,,Kann man die Aufgaben und die Führung der Friedenstruppe von den gebotenen weitergehenden Kriegshandlungen in Afghanistan trennen? Es gibt zwei Kommandostränge: einen, der nach wie vor die vorwiegend amerikanischen Einsätze organisiert und befehligt - also Centcom - und einen anderen, davon unabhängigen, der sich auf die Friedenstruppe und ihre Aufgaben bezieht. Es gibt eine klare Trennung zwischen beiden, was in diesem Haus quer durch alle Parteien immer wieder gefordert worden ist. ''464
Der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Friedrich Merz nahm diesen Aspekt nicht explizit auf, sondern sprach von einem ,,Einsatz mit erheblichen Risiken". Für die FDP ging ihr Sprecher Wolfgang Gerhardt auf den Punkt ,,Krieg" oder ,,NichtKrieg" gar nicht ein. Nur der Vorsitzende der PDS-Fraktion, Roland Claus, zweifelte die Trennung der Einsätze an, sprach von einer lediglich "formellen Trennung" und folgerte daraus, dass auch ISAF "der Kriegslogik" folge. 465 In der Folgezeit wurde über die Trennung der Einsätze OEF und ISAF nur noch in der Mandatsdebatte 2002 kontrovers diskutiert. Unbeschadet dessen blieb die Fraktion der PDS bzw. der Linken bei ihrer Qualifizierung der Mission als Kriegseinsatz. Erst 2005 berührte Verteidigungsminister Dr. Peter Struck (SPD) die Fragestellung noch einmal und betonte in der Debatte zur Mandatsverlängerung: "Wir führen keinen Kriegseinsatz, sondern eine Friedensrnission durch."466 Nach der Ausweitung der NATO-Verantwortung auf ganz Afghanistan, der damit verbundenen Änderung des Operationsplans in Richtung eines robusteren Mandats und der aufgezeigten Entwicklung (Kap. 5.2.2) war die Position von Regierung und Koalitionsfraktionen immer schwieriger durchzuhalten. Die Linke verstärkte ihre Kritik an der Darstellung von ISAF als Nicht-Krieg. Ihr Sprecher Dr. Norman Paech führte in der ISAF-Mandatsdebatte aus. ,,Die NATO will also nun einen Krieg fortsetzen, den die US-amerikanischen Streitkräfte seit fünf Jahren im Rahmen der Operation Enduring Freedom erfolglos flihren. Es ist vollkommen irreflihrend, zu behaupten, die Trennung von ISAF und der Antiterrortruppe OEF bestehe weiterhin. Die Einsätze sind vielmehr eng verzahnt. Die Infrastruktur wird geteilt. Die Kommandeure sind teilweise identisch.''467 464 465 466 467
BT PIPr 14/210 vom 22.12.2001, S. 20823. BT PIPr 14/210 vom 22.12.2001, S. 20825 (Abgeordneter Merz), S. 20828 ff. (Abgeordneter Gerhardt), S. 20830 (Abgeordneter Claus). BT PIPr 15/187 vom 28.09.2005, S. 17574. BT PIPr 16/54 vom 28.09.2006, S. 5214.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass in die Diskursposition auch der Koalitionsfraktionen Bewegung kam. So bestätigten in der gleichen Debatte sowohl der Abgeordnete Ernst-Reinhardt Beck (CDU/CSU) als auch der Abgeordnete Rainer Amold (SPD), dass ISAF im Süden von Afghanistan in einen Krieg verwickelt war (Beck: "im Süden herrscht regelrecht Krieg"; Amold "im Süden des Landes herrscht eigentlich Krieg zwischen ISAF und den militärisch organisierten Aufständischen").468 Im Norden jedoch - und darauf beharrte z.B. der Abgeordnete Jürgen Trittin (Bündnis 90IDie Grünen) noch zwei Jahre später - mache die Bundeswehr "einen exzellenten Job ... Sie führen dort keinen Krieg, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei, sondern sie sichern dort den Aufbau ab.'''''
Überhaupt sträubten sich die Sprecher der Fraktion Bündnis 90IDie Grünen am längsten gegen die Formulierung ,,Krieg".470 Dabei hatten sich die Sprecher der Koalitionsfraktionen von der These einer Trennung von OEF und ISAF bereits in der Plenardebatte zum Tornado-Mandat entfernt und damit das "geradezu kultisch anmutende Beharren auf einer Trennung" (Chauvistre 2009, S. 33) beendet. Der Abgeordnete von Klaeden (CDU/ CSU) sprach dieses so klar aus, wie vor ihm noch kein Koalitionsabgeordneter: ,,zur Herstellung der Stabilität im Süden und im Osten des Landes muss ISAF - nicht im völkerrechtlichen, aber im militärischen Sinne - Krieg führen. Es geht um asymmetrische KriegsjUhrung. Dazu werden die Tornados einen erforderlichen Beitrag leisten. Es ist eine lllusion, zu glauben, man könne die Operationen ISAF und OEF strikt voneinander trennen. Beide Operationen werden immer weiter miteinander verschränkt. Es gelten dieselben Einsatzregeln. Deutschland hat - auch bereits unter Rot-Grün - beide Operationen mandatiert. Die Erfolge von OEF und ISAF sind eng miteinander verknüpft. "471
Diese Realität hatte bereits das Afghanistankonzept von 2006 anerkannt.472 468 469 470
471 472
BTPIPr 16/54 vom 28.09.2006, S. 5223 (Abgeordneter Beck); S. 5424 (Abgeordneter Amold). BT PIPr 16/183 vom 16.10.2009, S. 19498. So erklärte ihr Sprecher Jürgen Trittin in einer Debatte über die Entwicklung in Afghanistan (die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Mandatsverlängerung erfolgte): "Es ist ein Grundirrtum, zu denken, dass in Mghanistan Krieg herrsche, weil auf der Basis eines Mandats der Vereinten Nationen der Versuch gemacht wird, dieses Land, das durch Verantwortungslosigkeit, durch Intervention anderer Mächte und durch eigene Unzulänglichkeit in einen Krieg geraten ist, wiederaufzubauen." (BT PIPr 16/171 vom 25.06.2008, S. 18148) BT PIPr 16/86 vom 09.03.2007, S. 8692 (Hervorhebung im Original). Dort heißt es:"Die Insurgenz in Afghanistan weist eine vielfilltige Zusammensetzung auf, wie sie sich auch in der vorbezeichneten Vielfalt der Tatmotive widerspiegelt. Daraus folgt gleichzeitig, dass ein Vorgehen dagegen sich ebenso vielfältiger Strategien bedienen muss: Die BekiJmpjimg von Ta/iban und al Qaida wird vor allem militärisch erfolgen müssen, ein Vorgehen gegen kriminelle Netzwerke erfordert in erster Linie polizeiliches Vorgehen, durch finanzielle Anreize
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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Nachdem also schon hinsichtlich des OEF-Mandats aufder Diskursebene der Politik kein Konsens zur Frage ,,Krieg" oder "Nicht-Krieg" bestanden hatte, tat sich die Politik nach dem Hineinziehen des ISAF-Einsatz in die Aufstandsbekämpfung besonders schwer, sich für diesen vom Bild des "humanitären" Einsatzes zu lösen. 6.2.3.2 Diskurspositionen der öffentlichen Meinung bis 2007 Wenn Ulrich Deppendorf in seinem oben zitierten Kommentar formulierte, die Bundeswehr sei nicht die freundlich zurückhaltende Armee in Afghanistan, sondern befindet sich schon länger in einem kriegsähnlichen Zustand, sie kämpfe, und sie dürfe auch töten, so muss festgestellt werden, dass dieses auf der Diskursebene der öffentlichen Meinung lange Zeit nicht so gesehen geschweige denn formuliert wurde. Bei den ersten in Afghanistan durch einen Selbstmordanschlag getöteten Bundeswehrsoldaten am 07.06.2003 blieb die Berichterstattung in den Medien neutral. Man sprach allgemein von einem ,,Anschlag" oder "Terroranschlag", 473 der Begriff "Krieg" als Qualifizierung des Einsatzes kam - außer in den Medien linksgerichteter Gruppierungen474 - nicht vor. Daran ändert sich auch in den Folgejahren wenig. 475 Ab 2006 kam es dann zunehmend zu kritischeren Kommentaren und Formulierungen. So titelte die Berliner Zeitung 2006 "Mutation eines Peacekeeping-Einsatzes" und prognostizierte: ,,(Es) ist abzusehen, dass auch die Nato-geführte Isafund damit Bundeswehreinheiten über kurz oder lang zu einem aktiven Bestandteil des Krieges in Afghanistan werden. "476
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lokal rekrutierte Kämpfer und durch schlechte Regierungsfiihrung enttäuschte Stämme müssen politisch und durch wirtschaftliche Maßnahmen eingebunden werden" (Bundesregierung 2006, S. 9, Hervorhebung UvK). Vgl. z.B. "Es gab schon viele Warnungen" in: FAZ.NET vom 07.06.2003, ,,Blutbad auf dem Weg in die Heimat" in: Rheinzeitung-Dnline vom 07.06.2003, "Vier Bundeswehrsoldaten getötet" in: Sächsische Zeitung-Online vom 09.06.2003 (Zugriffjeweils: 20.01.2010). Vgl. z.B. World Socialist Webside WSWS.Drg vom 14.06.2003, auf der es hieß: ,,Es ist das erstemai seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor knapp sechzig Jahren, dass deutsche Soldaten bei einem Auslandseinsatz in Folge von Kriegshandlungen getötet wurden." (Zugriff: 20.01.2010) So kommentierte z.B. die Süddeutsche Zeitung nach einem Selbstmordanschlag am 14.11.2005: ,,18 deutsche Soldaten sind in Afghanistan bisher umgekommen. Der letzte starb am Montag bei einem Selbstmordanschlag in der Hauptstadt Kabul; zwei weitere wurden verletzt. Dort galt die Lage als vergleichsweise ruhig, wenn auch instabil. Wie instabil, hat sich jetzt wieder gezeigt. Es ist vielen Deutschen nicht klar oder sogar gleichgültig, wie gefllhrlich die Auslandsmissionen ihrer Armee wirklich sind." ("Tod in Kabul" in: Süddeutsche-Dnline vom 14.11.2005; Zugriff; 20.10.2010) "Mutation eines Peacekeeping-Einsatzes" in: Berlin-Dnline vom 31.05.2006 (Zugriff: 20.01.2010).
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Anlässlieh der Verabschiedung des Tornado-Mandats druckte der Spiegel einen Kommentar mit dem Titel "Wer Krieg führt, soll auch Krieg sagen", in dem es hieß: ,,Die Regierung hat heute den Einsatz von Tornados in Afghanistan beschlossen. ,Sind wir jetzt im Krieg?' titelt vorsorglich die ,Bild'-Zeitung. Angela Merke! sollte so ehrlich sein, diese Frage mit einem klaren Ja und einem wichtigen Zusatz zu beantworten: seit einem halben Jalnzehnt. ''477
Und die "Zeit" wählte als Überschrift einer Darstellung der innenpolitischen Entscheidungssituation im Hinblick auf die Mandatsverlängerungen Ende 2007 den Titel ,,In der Falle des Krieges", ohne dass der Bericht allerdings auf die Problematik des sich wandelnden Charakters der Einsätze einging. 478 Am 19.05.2007 wurden aufdem Marktplatz in Kundus drei deutsche Soldaten und fünf afghanisehe Zivilisten bei einem Selbstmordanschlag getötet. Dieses Ereignis wurde von der Öffentlichkeit besonders intensiv wahrgenommen, weil eine afghanisehe Fernsehstation Bilder von den blutüberströmten verletzten Soldaten verbreitet hatte, die auch von deutschen Medien übernommen worden waren. 479 Aber auch nach solchen Vorfallen blieben die Einsätze trotz der immer deutlicher werdenden Geflihrdungen fiir die Soldaten und zivilen Helfer in der Perzeption der Öffentlichkeit zunächst noch ,,Anschläge", die jeweils nur punktuell im Fokus standen. Ein Grund dafiir dürfte darin liegen, dass - wie Bundespräsident Köhler es mehrfach ausgedrückt hatte - die Deutschen an der Bundeswehr ein "freundliches Desinteresse" haben. 480 Berthold Meyer interpretierte Umfrageergebnisse des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr 2006 und 2007 und kam zum Ergebnis, dass diese "das ,freundliche Desinteresse', von dem Bundespräsident Köhler sprach, als wohlwollende Ignoranz enttarnen" (Meyer 2007, S. 27).
477 478 479 480
Spiegel-Online vom 07.02.2007 (Zugriff: 20.01.2010). Zeit-Online vom 31.07.2007 (Zugriff; 06.09.2008). Vgl. die Darstellung der Berichterstattung über diesen Vorfall unter dem Titel ,,Da ist viel kaputt gemacht worden" in: Süddeutsche-Dnline vom 22.05.2007 (Zugriff: 20.01. 2010). Er gebrauchte diese Formulierung erstmals bei einer Rede vor der Kommandeurtagung der Bundeswehr am 10.10.2005, bei der er das Schlagwort wie folgt erläuterte: "Gewiss, die Bundeswehr ist gesellschaftlich anerkannt; aber was heißt das eigentlich genau? Die Deutschen vertrauen der Bundeswehr, mit Recht, aber ein wirkliches Interesse an ihr oder gar Stolz auf sie sind eher selten. Noch seltener sind anscheinend der Wunsch und das Bemühen, den außenund sicherheitspolitischen Wandel zu verstehen und zu bewerten, der da auf die Bundeswehr einwirkt." (Quelle: http://www.bundespraesident.de/Reden-und-Interviews-.11 057.626864/ Rede-von-Bundespraesident-Hors.htm?global.back=/-%2CII057%2CO/ Reden -und-Interviews. htm%3Flink%3Dbpr_liste; Zugriff: 20.01.2010). Danach wurde das "freundliche Desinteresse" zu einer "Standardformulierung", die er bei verschiedenen Anlässen wiederholte.
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Und Ekkehard Kohrs wandelte 2008 in einem Kommentar mit dem Titel ,,Die geduldete Armee" das freundliche Desinteresse zum "merkwürdigen Desinteresse" um und schrieb: ,,Der Bundespräsident genehmigt einen Orden flir besondere Tapferkeit. Eine kleine Meldung in der Presse, aus und Ende. Die Menschen, zu deren Schutz die Bundeswehr unverändert da ist, interessiert das nicht weiter. Sie interessieren sich erst, wenn in der Oder das Wasser steigt. Und am Hindukusch, so lassen sich die Leute erzählen, treten die deutschen Soldaten als eine Art uniformierter Entwicklungsdienst auf. Und wenn es konkreter wird, dann ist von asymmetrischer Kriegfiihrung die Rede, was 000 Normalmilitär kaum versteht. Es ist ein Krieg von Soldaten gegen zivile Terroristen.'''''''
Außer diesen vereinzelten Hinweisen auf einen stattfindenden Krieg in Afghanistan waren in dieser Zeit nur wenige andere Diskursbeiträge mit diesem Tenor zu vemehmen482 - wiederum mit Ausnahme des linken Lagers. 6.2.3.3 Diskursbeiträge in der Populärliteratur In den folgenden Jahren wurde die argumentative "Lücke" auf der Diskursebene der Öffentlichkeit schrittweise gefüllt. Ein erster Einstieg erfolgte dabei über den "Büchermarkt", wo Afghanistan in der Populärliteratur mehr und mehr zum Thema wurde. Dabei handelte es sich vorwiegend um Romane und journalistische Berichte. Bis 2007 hatte nur ein Buch über Afghanistan in nennenswertem Umfang Interesse gefunden. Unter dem Titel "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen" schilderte die iranische Autorin und Filmemacherin Siba Shakib am Beispiel des Schicksals einer jungen Afghanin die Wirren des von Krieg und Talibanherrschaft geschüttelten Landes (Shakib 2001).483 Auch wenn die darin erzählte Geschichte keinen direkten Bezug zum Einsatz der Bundeswehr hat, so dürfte die Verbreitung des Buches dazu beigetragen haben, das Interesse in Deutschland an
481 482
Bonner Generalanzeiger vom 01.12.2008. Eine weitere Ausnahme findet sich bei Schetter, der 2007 in einem Beitrag flir "Aus Politik und Zeitgeschichte" zumindest flir den Süden des Landes die Entwicklung skizziert, dass "der ,Krieg gegen den Terrorismus' und der ,Krieg gegen die Drogen' immer stärker zu einem Krieg zwischen externer Einflussnahme und lokalen AutonomieanspfÜchen mutiert" (Schetter 2007,
483
Das Buch ist inzwischen in der 7. Auflage sowie in einigen Lizenzausgaben erschienen.
S.IO).
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Afghanistan zu fördem. 484 Hierzu trug auch bei, dass Frau Shakib mehrere Male Teilnehmerin an Fernsehdiskussionen und Talkshows war. 485 2007 erschien das Buch eines Journalisten aus der ZDF-Heute-Redaktion, der als Reservist zweieinhalb Monate in Kabu! Dienst geleistet hatte und sein Tagebuch unter dem Titel ,,Kabul, ich komme wieder" veröffentlichte (Barschow 2007). Die Darstellung vermittelte einen Einblick vom Wandel der Perspektive des "wohlwollenden Desinteresses" zu der eines am Einsatz Beteiligten.486 Dabei zeichnete das Buch - der 2007 herrschenden Meinung entsprechend - insgesamt die Darstellung eines Stabilisierungs- und nicht eines Kriegseinsatzes, wobei allerdings die Risiken für die betroffenen Soldaten deutlich herausgestellt wurden. 2008 nahm das Angebot an Afghanistanliteratur weiter zu. Einerseits erschien unter dem Titel "Endstation Kabu!" ein sogenannter ,,Insiderbericht" eines ehemaligen Soldaten, der 2002 als Fallschirmjäger einen Einsatz in Afghanistan absolviert hatte (Wohlgethan 2008). Seine Schilderung beinhaltete z.T. erhebliche Kritik an den materiellen Einsatzvoraussetzungen der Bundeswehr und deutete darüber hinaus an, dass die Einsätze, die er teilweise mit einer niederländischen Spezialeinheit absolviert hatte, ggf. nicht nur "Stabilisierungscharakter" hatten. 487 484
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Gleiches gilt für den amerikanischen Roman "Drachenläufer" von Khaled Hosseini aus dem Jahre 2001 (deutsche Übersetzung Berlin Verlag 2003, Verfilmung 2007), in dem ebenfalls am Beispiel des Schicksals zweier Jungen die Verhältnisse in Mghanistan von 1979 - 2001 geschildert werden. Z.B. bei Reinhold Beckmann am 26.01.2009 , im ARD-Presseclub am 26.07.2009 und bei Anne Will am 23.08.2009. Außerdem beriet Frau Shakib in den ersten Jahren die Bundeswehrflihrung in Afghanistan, eine Aufgabe, die sie nach der Verlegung der Tornados 2007 beendete. Dieses sei am Beispiel eines Zitats illustriert, in dem der Autor seine Perzeption der Medienberichterstattung in Deutschland über den Selbstmordanschlag in Kundus am 19.05.2007 schilderte. Barschow war zu dieser Zeit nach seinem Einsatz wieder zurück in Deutschland und kommentierte: "Vielleicht gerade mal eine Woche beherrscht der Tod der drei Reservisten die Schlagzeilen in den Medien, dann wird die Debatte von den Doping-Outings ehemaliger Team-Telekom Radfahrer abgelöst. Offensichtlich gibt es nichts wichtigeres mehr als die bevorstehende Tour de France. Da ist sie wieder, diese Ignoranz. Als TV-Journalist weiß ich selber, wie sehr wir von unseren Einschaltquoten abhängig sind. Das erklärt vieles.... Wenn ich aber eines gelernt habe, dann ist es, besser bewerten zu können. Nämlich die Gewichtung bestimmter Themen, denen wir als Journalisten gesellschaftspolitisch verpflichtet sind. Und der Bürger hat ein Recht darauf zu erfahren, was unsere Regierung ihren Wählern zumutet - auch den Menschen, die als Soldat ihr Leben riskieren." (Barschow 2007, S. 284) So schilderte er einen Einsatz am 07.02.2002: "In höchster Alarmbereitschaft fuhren wir langsam weiter...Nach einer kurzen Weile konnten wir in einer Entfernung Schüsse hören...Wir waren erst ein paar Schritte gelaufen, da waren am Berg Bewegungen zu erkennen. Kleine schwarze Punkte wuselten den Abhang hinunter direkt aufuns zu. Das musste der Rest der Afghanen auf der Flucht sein...Plötzlich rutschte und kullerten die Männer zu Boden und verschwanden aus unserem Blickfeld." (Wohlgethan 2008, S. 177) Das ARD-Magazin ,,Monitor" hatte aufgrund von Recherchen den Verdacht geäußert, dass Wohlgethan und sein niederländisches Team Zeuge einer Erschießung gewesen seien. (Sendung "Wegschauen und vertuschen? Die Geschichte einer Exekution in Afghanistan" am 05.11.2009).
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Zum anderen kam mit dem Buch ,,Die afghanisehe Misere" (Merey 2008) eine faktenreiche Darstellung und Analyse eines weiteren Journalisten (Südostasienkorrespondent der Deutschen Presseagentur) auf den Markt. Die Publikation enthielt eine Fülle von Berichten mit Details, die aufKrieg oder kriegsähnliche Zustände schließen lassen. In seinem Resümee formulierte der Autor mit Bezug zu dem hier relevanten Diskurs über ,,Krieg" oder ,,Nicht-Krieg": ,,Die Politik: ist gefordert, das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild der Auslandseinsätze der Realität anzupassen. Zwar leistet die Bundeswehr in Afghanistan auch Wiederautbauarbeit, doch ist sie eben kein Technisches Hilfswerk in Uniform. Den Bundesbfirgem muss die unangenehme Wahrheit vermittelt werden, dass es zum Berufdes Soldaten gehört, sein Leben zu riskieren und zur Not im Kampfzu töten." (Merey 2008, S. 277)
Im gleichen Jahr wurde auch eine Diplomarbeit unter dem Titel "Verteidigung am Hindukusch?" veröffentlicht (Löffelmann 2008), deren Hauptfragestellung die Analyse der "Verträglichkeit" von Zivilmachtkultur und Auslandseinsätzen war. In diesem Rahmen setzte sich der Autor der Arbeit auch mit der Frage auseinander, ob Deutschland durch die Entsendung der Tornados und durch die Operationen des KSK im Krieg sei. Er kam zu dem Schluss, dass die militärische Realität dieser Missionen von der Politik ,,nach Möglichkeit verschleiert" werde (ebenda, S. 37). Zu den Publikationen, die den Diskurs in der Öffentlichkeit mit beinflussten, kann man auch ein Buch mit dem Titel "Warum tötest Du, Zaid" (Todenhöfer 2008) zählen, das zwar primär den Krieg im Irak behandelte, aber auch das militärische Vorgehen des Westens in Afghanistan als eine (Mit-)Ursache für die Ausdehnung des islamischen Terrorismus darstellt. Todenhöfer bewertete die militärischen Aktionen des Westens - auch in Afghanistan - wie folgt: ,,Mit jedem durch westliche Bomben getöteten muslimischen Kind wächst der Terrorismus. Wir versinken jeden Tag tiefer im Sumpf unserer eigenen Politik" (ebenda, S. 198)
2009 veröffentlichten zwei Redakteure des "Spiegel" ein Buch unter dem für unseren Diskurs relevanten Titel ,,Krieg am Hindukusch" (KoelbVIhlau 2009)488. Die Fragestellung des Klappentextes lautet: "Ist der Krieg in Afghanistan überhaupt noch zu gewinnen?". Das Buch beinhaltete u.a. Informationen über die Einsätze des KSK, insbesondere auch zu sogenannten "Capture or Kill-Operationen".489 Die Autoren berichteten, dass die Bundesregierung schon früh bei der NATO einen 488 489
Es handelte sich um die fortgeschriebene und aktualisierte Wiederauflage des 2007 erschienenen Titels "Geliebtes, dunkles Land. Menschen und Mächte in Afghanistan" der gleichen Autoren. Danach sollen Terroristen ausgeschaltet werden, "die von den Geheimdiensten als militante Gegner der afghanischen Regierung und der westlichen Truppen eingestuft werden" (KoelbV Ihlau 2008, S. 162).
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geheimen Vermerk hinterlegt habe, der offensive Zugriffe mit Tötungsabsichten für deutsche Solden quasi ausschloss. 490 Diese Einschränkungen seien Ende April 2009 klammheimlich aufgehoben worden. Ebenfalls 2009 erschien ein Beitrag zu unserem Diskurs mit dem Titel "Wir Gutkrieger" (Chauvistre 2009), geschrieben von einem weiteren Journalisten (und Politikwissenschaftler). Er setzte sich kritisch mit den Auslandseinsätzen Deutschlands auseinander und postulierte, wir müssten uns "von den TIlusionen und Unehrlichkeiten, welche die deutsche Militärpolitik der letzten zehn Jahre geprägt" habe, verabschieden (ebenda, S. 171). Mit Bezug zu dem hier analysierten Diskursfragment gebrauchte der Autor sehr deutliche Formulierungen. Hierfür ein Beispiel: "Soll dann noch eine Debatte über die Auslandseinsätze der Bundeswehr in Gang kommen, sind noch einige weitere grundlegende Einsichten vonnöten. Es gilt, erstens, anzuerkennen, dass sich Deutschland im Krieg befindet. Diese Feststellung bezieht sich nicht auf alle Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sie giltjedoch zweifellosfilr Afghanistan. Spätestens seit der 2005 begonnenen Ausweitung des NATO-Einsatzes auf das ganze Land war Deutschland hier ebenso Kriegspartei wie während des Luftkriegs gegen Restjugoslawien" (Chauvistre 2009, S. 164, Hervorhebung UvK).
Und ein weiterer Journalist brachte 2009 ein Buch unter dem Titel ,,Der unerklärte Krieg: Deutschlands Selbstbetrug in Afghanistan" heraus (Komelius 2009), in dem er harsche Kritik am Umgang der deutschen Politik mit dem Afghanistaneinsatz übte. Der Begriff"unerklärter Krieg" im Titel wurde vom Autor doppeldeutig verwendet, wenn er formulierte: ,,Den ,Krieg erklären', erläutern, ihn in Worte fassen ... ist eine öffentliche Aufgabe ... Sie kann nicht in Umschläge gepackt und versiegelt werden. Das ist die Pflicht der demokratischen und offenen Staaten." (Komelius 2009, S. 8)
Im Kontext unseres Diskurses spricht auch dieses Buch eine klare Sprache, was folgendes Statement belegt: "Deutschland flihrt Krieg, aber vom Krieg darf man nicht sprechen. Die Rede ist von einem Stabilisierongseinsatz, von einer Mission zur Unterstützung des Staatsaufbaus.... Der Streit um die richtige Terminologie istnor eine von vielen Unehrlichkeiten, die den Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch begleiten. Aber es ist symptomatisch flir einen großen politischen Selbstbetrog, dem das Land erliegt. Vieles an diesem Afghanistan-Einsatz ist unausgesprochen, halbgar, unwahr oder heuchlerisch." (ebenda, S. 9 f.)
Schließlich erschien Anfang 2010 ein weiteres Buch von einem ehemaligen Nachrichtenoffizier der Bundeswehr mit persönlichen Erfahrungen aus zwei Einsätzen in Afghanistan. Der Titel lautete "Unter Beschuss - Warum Deutschland in Af490
Sie zitieren ihn mit der Formulierung: ,,Die Anwendung von tödlicher Gewalt ist verboten, solange nicht ein Angriff stattfindet oder unmittelbar bevorsteht." (Koelbl/Ihlau 2008, S. 163)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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ghanistan scheitert" (Lindemann 2010). Auch wenn der Autor im Klappentext als Politologe angekündigt wird, ist das Buch alles andere als eine wissenschaftliche Arbeit, vielmehr eine plakative, manchmal polemische, z.T. "reißerisch" formulierte und an vielen Stellen von der eigenen Position des Autors in jeder Hinsicht überzeugte Darstellung. 491 Dem Diskurs ,,Krieg" oder "Nicht-Krieg" widmete Lindemann in seinem Buch ein ganzes Kapitel mit der Überschrift: ,,Es ist Krieg", in dem er zum Ergebnis kam: "Was die Bundeswehr in Afghanistan macht, ist selbstverständlich die Führung eines Krieges. Und unter Berücksichtigung der Ziele ist es sogar nur ein Teil eines Krieges, den die Bundesrepublik Deutschland und ihre NATO-Partner fiihren." (ebenda, S, 141, dabei hebt er auf den weltweiten OEF-Einsatz ab, UvK)
Somit ist festzuhalten: der Diskurs um die Frage ,,Krieg" oder ,,Nicht-Krieg" weitete sich auf der Ebene der Öffentlichkeit seit 2007/2008 über das Segment der Populärliteratur aus. So wurde die vorher "desinteressierte" Öffentlichkeit z.T. in Romanform, mehrheitlich jedoch durch Beiträge von Journalisten, aber auch von ehemaligen Soldaten (als ,,Insidern"), für die Entwicklung in Afghanistan interessiert. Die Gesellschaft erhielt so mehr und mehr Informationen zum Land und zu den militärischen Einsätzen, in denen die Diskursposition der Politik kritisch hinterfragt wurde. Es kann davon ausgegangen werden, dass nicht zuletzt aufgrund auch dieser Ausweitung des Diskurses die im Folgekapitel aufgezeigten Veränderungen möglich wurden. 6.2.3.4 Veränderungen 2008/2009 Während - wie dargestellt - der Anschlag in Kundus vom Mai 2007 noch keinen durchgreifenden Einfluss auf den Diskurs um die Frage "Krieg" oder "NichtKrieg" hatte, verschärfte sich im Zuge der Diskussion um die Übernahme der 491
Als Beispiel flir die Art der Fonnulierungen, die Lindernann häufig benutzt, sei die Auseinandersetzung mit der Terminologie des Humanitären Kriegsvölkerrechts in den vier Genfer Abkommen zitiert, bei denen es um den Begriff des "Gegners" geht. Dazu schreibt er: "Wie bereits erwähnt, hat das Verteidigungsministerium das Wort ,Feind' durch ,Gegner' ersetzt, klingt das doch humaner und weicher. Den Patrouillenfiihrer interessiert die Vorgabe des BMVg allerdings auch hier nicht. Sie sprechen sehr wohl vom Feind, wenn sie ihre Männer vor der Fahrt ins Risiko einweisen, denn all die hässlichen Attribute, die einem Feind gemeinhin zugeschrieben werden, treffen auf die Aufständischen in Mghanistan zu ... Für mich - und übrigens auch flir die Verfasser der Genfer Konventionen - ist es dabei unerheblich, ob derGegnerdieseje unterschrieben hat. Denn in ihrsind nur Grundsätze fonnuliert, die den Menschen erst zum Menschen werden lassen ... Wer diese Mindeststandards an Anstand und zivilisatorischen Regeln nicht einhalten kann, verdient in meinen Augen auch die ehrbare Bezeichnung ,Gegner' nicht." (Lindemann 2010, S. 127)
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
QRF-Aufgaben durch deutsche Soldaten (ab dem 01.07.2008) der Tonfall der öffentlichen Debatte in den Medien. Die Begriffe ,,Kampf' und ,,Krieg" wurden jetzt häufiger benutzt. Im Februar 2007 titelte die Berliner Zeitung: ,,zum Kampfeinsatz nach Afghanistan".492 Im Juli des gleichen Jahres kommentierte Herbert Kremp im Kontext der Debatte um ein Feierliches Gelöbnis vor dem Reichstag in Berlin: ,,Die Köpenickiade um den Gelöbnisaufmarsch der Parlamentsarmee auf dem Rasen vor dem Parlament ... gab wieder einmal Anlass, nach der Beliebtheit der Bundeswehr zu fragen. Ihr Ansehen ist hoch, sofern es sich um Aufgaben im geografisch nahen, überschaubaren Bereich handelt. Niedrig hinsichtlich der Bündnis-Kampfeinsätze in Kosovo/Serbien, vor allem aber in Afghanistan. Wo die Luft bleihaltig wird, antwortet der Nein-Reflex ... Dass den Deutschen Kriegshandlungen suspekt sind, bedarf keiner näheren Erklärung. Diese raue Form von ,Musikalität' (Habermas abwandelnd) wurde per Erfahrung gelöscht.•...93
Über die Anfrage der NATO nach AWACS-Autklärungsflugzeugen berichtete die ,,zeit" unter dem Titel "Wieder etwas mehr Krieg".494 Und Theo Sommer wählte für eine Analyse der Afghanistaneinsätze die Überschrift ,,Nicht noch mehr Krieg" (allerdings ohne näher auf die Frage einzugehen, inwieweit die deutschen Soldaten in einen Krieg verwickelt wären).495 Der Schwenk in der Terminologie der Presse fand zunächst keine sichtbare Entsprechung in den Bild-Medien, wo die Debatte zunächst noch nicht aufgegriffen wurde. Dieses wurde auch in der Literatur angemerkt. 496 Das änderte sichjedochdurch die diskursivenEreignisse2008/2009, die eine erhebliche Dynamik der öffentlichen Diskussion- unterzunehmenderEinbeziehung auch der Bild-Medien - auslösten. Dabei handelte es sich um Vorfalle, bei denen deutschen Soldaten getötet oder verletzt, aber auch Afghanen durch deutsche Soldaten getötet wurden (s. die Auflistung in Tabelle 4).
492 493 494 495 496
Berlin-Online vom 07.02.2008 (Zugriff 04.09.2008). Kommentar "Eine verleugnete Front": Welt-Online vom 15.07.2008, (Zugriff: 17.07.2008). Zeit-Online vom 29.07.2008 (Zugriff: 12.10.2008). Zeit-Online vom 01.08.2008 (Zugriff: 12.10.2008). So merkte Geis 2007 an: "Das verbreitete Bild von deutschen Soldatinnen und Soldaten im Auslandseinsatz (ist) das der ,zivilen Aufbauhelfer' und ,Friedenssicherer' . Berichten Bildmedien überhaupt über die Bundeswehr im Einsatz, dann vermitteln sie in der Regel genau dieses ,freundliche Gesicht' des Militärs." (Geis 2007, S. 101)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
231
Tabelle 4: Diskursive Ereignisse 2008/2009 01.07.2008
Die Bundeswehr übernimmt die Aufgabe der QRF in der Nordregion.
06.08.2008
Bei einem Selbstmordanschlag nahe Kundus werden 3 Soldaten verletzt, 2 davon schwer. Einer von ihnen stirbt Anfang Oktober 2009 an den Spätfolgen.
27.08.2009
Eine Patrouille gerät in der Nähe von Kundus in eine Sprengfalle. I Soldat stirbt, 3 werden schwer verletzt.
28.08.2009
An einer Straßensperre bei Kundus werden I afghanische Frau und 2 Kinder von deutschen Soldaten erschossen.
20.10.2008
2 Soldaten sterben bei einem Selbstmordanschlag bei Char Dara in der Nähe von Kundus.
29.04.2009
In der Nähe von Kundus gerät eine Patrouille in einen Hinterhalt. I Soldat stirbt, 4 werden schwer verletzt. Wenige Stunden vorher waren bei einem Attentat in der Nähe des Feldlagers Kundus 5 Soldaten leicht verletzt worden.
23.06.2009
Nach einem Feuergefecht in der Region Kundus sterben 3 Soldaten, als ihr Transportpanzer umgekippt und in einem Graben liegen geblieben war.
06.08.2009
Nach einem Selbstrnordanschlag mit einem Motorrad bei Kundus stirbt I Soldat Anfang Oktober an den Spätfolgen seiner dabei erlittenen Verletzungen.
03.104.09.2009
Beim Bombardement zweier von Aufständischen entführten Tanklastwagen bei Kundus sterben 17 - 142 Menschen.
Quelle: Chronologie Hamburger Abendblatt vom 05.10.2009 und eigene Medienauswertung
Diese gravierenden diskursiven Ereignisse führten zu deutlichen Veränderungen des Diskurses. So produzierte das ZDF nach den gehäuften Vorfällen im August 2008 eine Reportage mit dem Titel "Todesfalle Hindukusch" (Ausstrahlung am 24.09.2008), in dem die Situation der Soldaten im Einsatz dargestellt, führende Politiker und Militärs interviewt und überlebende Anschlagopfer befragt wurden. Nach dem Anschlag vom 20.10.2008 mit zwei Todesopfern wurde die Thematik am gleichen Tag - auch unter dem Aspekt "Krieg" oder "Nicht-Krieg" - sowohl in den Print- als auch den Bild-Medien prominent erörtert. Einen Tag später, am 21.10.2008, kam es in der ARD-Sendung ,,Menschen bei Maischberger" zu einer Diskussion unter dem Titel "Deutschland im Krieg - verdrängen wir die Gefahr?" Die Behandlung des Diskursstrangs in den Bild-Medien setzte sich Anfang 2009 fort, z.B. mit einer weiteren Diskussionsrunde am 26.01.2009 in der ARDSendung "Beckmann", aber auch mit einem Fernsehfilm unter dem Titel "Willkommen zu Hause" am 02.02.2009. Mit diesem Beitrag im Format eines Spielfilms kamen Kriegsbilder aus Afghanistan bis in die deutschen Wohnstuben. 497 497
In dem Film wurde realistisch dargestellt, dass Soldaten im Afghanistaneinsatz körperlichen, aber auch seelischen Verletzungen ausgesetzt waren. Insbesondere die Thematisierung von posttraumatischen Belastungsstörungen sollte seelische Verletzung aus einer gesellschaftlichen Grauzone herausholen, was offensichtlich gelang - auch nach Einschätzung der Bundeswehr-
232
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Das nächste diskursive Ereignis, der Tod von drei deutschen Soldaten am 23.06.2009, entwickelte eine bis dahin fiir solche Ereignisse nicht gekannte Medienpräsenz. Der Vorfall bei Kundus war an diesem Tag ein Hauptthema in den zentralen Nachrichtensendungen aller TV-Sender. Die Berichterstattung war durchgängig mit dem Diskurs ,,Krieg" oder "Nicht-Krieg" verknüpft. Am Folgetag, dem 24.06.2008, brachten die meisten Zeitungen das Ereignis auf der ersten Seite. So titelte z.B. die Bild-Zeitung mit übergroßen Lettern: ,,Drei deutsche Soldaten fallen im Kampf-Bundeswehr im Krieg! - Verletzte, schwere Gefechte - wie blutig wird Afghanistan noch?"
Und am gleichen Tag überschrieb der Bonner Generalanzeiger (der natürlich auch auf Seite 1 berichtet hatte) seinen Leitartikel (aufS. 2) mit der These ,,Das ist Krieg!" Allerdings verdrängte am 26.06.2009 der Tod von Michael Jackson die toten Soldaten von den Titelseiten und aus den Schlagzeilen. Aber die Debatte setzte sich in den TV-Sendern auch in der darauf folgenden Woche fort, und zwar mehr und mehr in den kommentierenden Formaten. 498 Die Auseinandersetzung in den Medien wurde noch dadurch verstärkt, dass sich die QRF ab dem 19.07.2009 unter Einsatz von Schützenpanzern an einer Offensive gegen die Taliban im Raum Kundus beteiligten, über die vor allem in den Printmedien intensiv berichtet wurde. 499 Der Diskurs wurde auch von Intellektuellen aufgegriffen. So löste ein offener Brief von Martin Walser an die Bundeskanzlerin eine zusätzliche Diskussi-
498
499
fiihrung. So erklärte Verteidigungsminister Jung (CDU/CSU) im Deutschen Bundestag: ,,Die seelischen Verwundungen sind aus meiner Sicht genauso ernst zu nehmen wie körperliche Verwundungen. Deshalb ist es, wie ich finde, gut gewesen, dass beispielsweise die ARD mit dem Film,Willkommen zu Hause' dieses Thema ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gerückt hat. Ich bin dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen dankbar, dass dadurch die Problematik, die sich für unsere Soldatinnen und Soldaten ergibt, verstärkt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt." (BT PIPr 16/205 vom 12.02.2009, S. 22164) So stellte sich Außemninister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am 25.06.2009 den Fragen von Maybrit Illner, am 29.06.2009 sendete die Deutsche Welle-TV einen Beitrag unter dem Titel ,,Einsatz am Hindukusch: der verdrängte Krieg?" und am 02.07.2009 waren der Vorfall und die Debatte sogar während des ganzen Tages Thema in den TV-Medien (z.B. in der ZDF-Sendungen ,,Am Mittag" und ,,zDF-Reporter" sowie in den ARD-Tagesthemen). Darüber hinaus wurde in einemARD-Kamingespräch am 19.07.2009 Außenminister a.D. Joschka Fischer von Jörg Schönenborn zu der Problematik befragt. Am gleichen Tag hatte sich die ARD in einem Porträt des Generalinspekteurs der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, unter dem Titel ,,Der General, der Tod und das Leben" auch mit dem Afghanistaneinsatz auseinandergesetzt. Schließlich erörterte der ARD-Presseclub am 26.07.2009 das Thema ,,Der Krieg, der keiner sein darf - deutsche Soldaten in Mghanistan". Und am 23.08.2009 diskutierte in der ARD eine Runde bei Anne Will über das Thema "Deutschland im Krieg". Z.B.: "Mit dem ,Marder' in die Offensive". FAZ.Net vom 20.07.2009 (Zugriff: 22.07.2009); ,,Bundeswehr im Kampfeinsatz", Bonner Generalanzeiger vom 23.07.2009, S. I.
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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on aus, der am 09.07.2009 in der "Zeit" veröffentlicht wurde. Walser hatte Frau Merkel geschrieben: ,,Jetzt wird aber von der Regierung, der Sie vorstehen, der Krieg in Afghanistan gebilligt. leh könnte auch sagen: gefUhrt. Und wir, die Bevölkerung, sollen das begreifen. Wir sollen den Krieg in Afghanistan verstehen, billigen, ertragen. Immer wieder einmal 300 Mann mehr...Die aktuellen Rechtfertigungen flir einen Krieg sind immer grotesk. "'' '0
Das enorme Echo in der öffentlichen Diskussion nach dem 23.06.2009 wurde dann nur noch durch die Berichterstattung und Kommentierung des Luftangriffs aufdie zwei entführten Tanklastwagen am 04.09.2009 übertroffen. Die Bevölkerung wurde - wie Stefan Kornelius es prophezeit hatte - "von einer Eskalation, von mehr Gewalt ... überrascht". Allerdings reagierte sie nicht (wie von ihm befürchtet) "irrational" (vgl. Kornelius 2009, S. 92), sondern die Ereignisse gaben einen Schub in Richtung eines realistischeren Afghanistan-Bildes. Ab dem 04.09.2009 wurde die Frage ,,Krieg" oder ,,Nicht-Krieg" in allen Medien prominent dargestellt, kommentiert und in meinungsmachenden Talk-Runden vertieft. 501 Dabei wurde es immer wieder durch weitere Ereignisse zurück auf die Tagesordnung geholt. 502
500
SOl
502
Zeit-Online vom 12.07.2009, (Zugriff: 24.08.2009). Walsers Kritik wurde ihrerseits in der nächsten Ausgabe der ,,zeit" kritisiert, zum einen vom Herausgeber JosefJoffe, der"Walsers Irrtum" attackierte (Zeit-Online vom 20.07.2009; Zugriff; 24.01.2010), zum anderen vom CDU-Abgeordneten Eckart von Klaeden, der dagegenhielt: ,,Entgegen Walsers Postulat fUhrt die Bundesrepublik Deutschland zusammen mit 36 weiteren Nationen, darunter islamische, und mit eindeutig völkerrechtskonformen Mandaten des UNSicherheitsrates und des Deutschen Bundestages keinen Krieg in Afghanistan." (Zeit-Online vom 17.07.2009; Zugriff: 24.01.2010) Walser wiederum antwortete auf die Kritik in einem Artikel im "Cicero" und formulierte seine "Utopie": "Da wir inzwischen einen Minister haben, dessen Intelligenz und Sensibilität es nicht zulassen, einen Krieg mit dürftigster Behördenmetaphorik wegzuschummeln, wage ich zu hoffen, dass allein der tägliche Umgang mit dem Wort Krieg handlungsbestimmend wird." (Cicero Nr. 1212009, S. 10 ff.) So z.B. in der Phoenix-Runde zum Thema ,,Raus aus Afghanistan? Zerreißprobe flir die NATO" am 08.09. 2009; in der ARD-Sendung ,,Hart aber Fair" mit dem Titel ,,Abgrund Afghanistan - sollen unsere SoLdaten nach Hause kommen?" am 09.09.2009; im ARD-Presseclub ,,Krieg und Frieden - Obama zwischen Nobelpreis und Afghanistan" am 06.12.2009; bei Arme Will (ARD) unter dem Thema "Obama ruft! Mehr Soldaten, mehr Krieg?" am 06.12.2009 und bei Maybrit Hier unter dem Titel "Nobelpreis flir Obama: Lasst und mit seinem Krieg in Frieden?" am 10.12.2009. Z.B. die teilweise Veröffentlichung des NATO-Untersuchungsberichts über das Bombardement in der Bild-Zeitung vom 26.11.2009, in dessen Folge der ehemalige Verteidigungsminister Franz-Josef Jung von seinem Amt als Arbeits- und Sozialminister zurücktrat, die Obama-Rede vom 02.12.2009 mit der Ankündigung einer Truppenverstärkung, sowie die Verlängerung des ISAF-Mandats am 03.12.2009.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
In dieser kontinuierlich anschwellenden öffentlichen Debatte kristallisierte sich als deutliche Position der Medien,503 aber auch mehr und mehr von prominenten Ex-Politikern und Militärs heraus, dass sich die Bundeswehr im Krieg befinde. So plädierten ehemalige Verteidigungs- und Außenminister, die nicht mehr in die Kabinettsdisziplin eingebunden waren, für eine Benennung des Afghanistaneinsatzes als ,,Krieg".504 Schon 2008 hatte der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und (danach) Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, General a.D. Harald Kujat, in einem Zeitungsinterview auf die Frage geantwortet, ob deutsche Soldaten als "bewaffuete Entwicklungshelfer" tätig seien: ,,Das ist sicher eine Zuspitzung. Aber Wiederaufbau und Stabilisierung - beides ist wichtig werden bislang zu stark in den Vordergrund gestellt. Militärische Einsätze, auch Kampfeinsätze, sollen offenkundig aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit herausgehalten werden.''''''
Noch deutlicher betonte Kujat den Kriegscharakter in einem Interview in einer TV-Dokumentation am 24.09.2008. 506 Dem widersprach Verteidigungsminister Jung in der gleichen Sendung und vertrat die Position, Deutschland befinde sich nicht im Krieg. Als Begründung be503
504
505 506
So titelte die "Welt" einen Leitartikel zwei Tage nach dem Kundus-Vorfall: ,,Krieg ist für Wähler Krieg, da helfen keine Floskeln" (Welt-0nline vom 06.09.2009; Zugriff: 07.09.2009); Der "Stern" fonnulierte unter der Überschrift "Es herrscht Krieg" folgenden Kommentar: "Es ist schlicht feige und zynisch, das Wort ,Krieg' im Bezug auf Afghanistan zu umschiffen. Bundeskanzlerin Merkei hat es am Dienstag mal wieder getan. In ihrer Regierungserklärung nannte sie die Aktivitäten der Bundeswehr einen ,Kampfeinsatz' ." (Stem-Onine vom 08.09.2009; Zugriff: 09.09.2009) Und am 10.09.2009 brachte das Magazin einen 11-seitigen Bildbericht unter der ,,Maxi"-Überschrift "Unser Krieg" (Stern Nr. 38/2009, S. 28 -38). Die Welt titelte ,,Ex-Verteidigungsminister sehen Soldaten im Krieg", und belegte das mit Statements von Ex-Minister Volker Rübe (CDU) und Rudolf Scharping (SPD), (Welt-Online vom 23.10.2008; Zugriff: 23.10.2008). Und Ex-Außenminister Joschka Fischer antwortete auf die Frage von Jörg Schönenborn, ob er zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan ,,Krieg" sage: "Ja, man kann schwerlich was anderes sagen, auch wenn ich mir über die völkerrechtliche und die rechtliche Bedeutung klar bin, warum sich die Regierung mehr zurückhalten muss. Aber dort wird geschossen, dort wird gekämpft, dort wird getötet und gestorben. Das geschieht im politischen, im staatlichen Auftrag, es ist Militär, das dort eingesetzt wird. Und insofern - ja da hat sich ein Krieg entwickelt und das etwa ab 2006." (,,Kamingespräch", Phoenix vom 19.07.2009, eigene Transkription) Interview "Wie Fische im Wasser" in: Bonner Generalanzeiger vom 04.09.2008, S. 3. ,,Die Einsätze, die wir dort sehen, sind für die NATO Krieg. Das steht für mich völlig außer Frage. Nun gibt es da natürlich Abstufungen, es ist auch eine Gemengelage.. .. Es ist eine Gemengelage, aber insgesamt muss man natürlich auch davon sprechen, dass es sich hierbei um einen Krieg handelt. Kriege werden ja nicht mehr erklärt heute, sie werden nicht mit einer Note, die übergeben wird im Außenministerium, eröffnet, sondern Kriege beginnen schleichend, so wie hier auch, und sie haben die Tendenz, sich zu verselbständigen, sich zu verstärken." (Interview in der Dokumentation "Todesfalle Hindukusch" ZDF, 24.09.2008, eigene Transkription)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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nutzte er ein häufig verwendetes Argument, den Vergleich mit dem Kriegsbild des Zweiten Weltkriegs: "Ich glaube, dass das eine Diskussion ist, die es eher schwieriger macht, weil noch sehr viele unserer Bürgerinnen und Bürger im Bewusstsein haben, was Krieg fiir sie bedeutet hat. Sie haben den 2. Weltkrieg erlebt. Sie haben die zerbombten Städte von Dresden usw. erlebt. Sie haben das Grausame erlebt dieses Krieges, und das ist eine andere Dimension als es beispielsweise jetzt ein Kampf gegen den Terrorismus in Afghanistan ausmacht. Deshalb halte ich von dieser Diskussion überhaupt nichts, sie erschwert eher die öffentliche Auseinandersetzung. "507
Allerdings veränderte der Minister seine Argumentationslinie kurze Zeit später, wenn auch nur geringfügig. Denn nach dem Anschlag vom 20.10.2008 sprach er vier Tage später bei der Trauerfeier für die zwei getöteten Soldaten von "Gefallenen" (was von allen Medien prominent berichtet und kommentiert wurde508), blieb aber bei im Übrigen bei der Ablehnung des Begriffs ,,Krieg". Neben dem Vergleich mit dem Erscheinungsbild des Zweiten Weltkriegs war ein zweites häufig benutztes Argument in der Ablehnung des Kriegsbegriffs das Abheben auf die Definition des klassischen Völkerrechts, nach der ,,Krieg" ein Zustand zwischen Staaten ist. In einer TV-Dokumentation vom 24.08.2008 benutzte es z.B. der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Reinhold Robbe, in seiner Antwort auf die Frage, ob die Bundeswehr am Hindukusch im Krieg sei: ,,Formalrechtlich selbstverständlich nicht, völkerrechtlich nicht. Die Bundeswehr ist zur Unterstützung der afghanischen Regierung da, zur Stabilisierung der Sicherheitskräfte, Armee, Polizei et cetera pp. Hier ist es ein Kampf um Begriffiichkeiten bei uns in Deutschland. Es ist ein semantisches Problem. Der Soldat unterscheidet nach meiner Wahrnehmung zwischen zwei Einsätzen: es gibt Kampfeinsätze und humanitäre Einsätze." 509
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Interview in der Dokumentation "Todesfalle Hindukusch" (ZDF, 24.09.2008, eigene Transkription). Im gleichen Sinne antwortete er auch in einem Interview im Heute-Journal am 20.10.2009 auf das Statement von Marietta Siomka, es sei doch Krieg was dort stattfindet: "Nein das ist es nicht. Das ist etwas völlig anderes. Und da muss ich auch sagen, das empfindet auch unsere Bevölkerung als etwas völlig anderes. Und deshalb finde ich, dass gerade an einem solchen Tag (zwei Soldaten starben an diesem Tag durch einen Selbstmordanschlag, UvK) und bei einem solchen Ereignis wir eine solche Diskussion nicht führen sollten. Es lenkt nämlich auch ab von dem, was unser Auftrag dort vor Ort ist. Unser Auftrag ist, Sicherheit herzustellen, aber auch Entwicklung und Wiederaufbau voranzutreiben, eben nicht nur das Militärische zu sehen. Und hier, denke ich, geht es darum, die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen. Das ist das ganz Entscheidende in Afghanistan." (ZDF am 20.10.2008, eigene Transkription) Z.B. ARD-Tageschau (http://www.tagesschau.de/inland/bundeswehrI56.html; Zugriff: 24.01.2010); "Der Krieg, der nicht Krieg heißen darf' in: Spiegel-online vom 27.1 0.2008; Zugriff; 22.01.2010). Interview in der Dokumentation "Todesfalle Hindukusch" (ZDF, 24.09.2008, eigene Transkription).
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Diese Argumentationslinie wurde von Mitgliedern der Bundesregierung bis in den Spätherbst 2009 hinein verwendet. So antwortete Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) am 25.06.2009 in einem Interview bei Maybrit Illner: ,,Die Frage, ob das Krieg oder nicht Krieg ist, ist nicht so sehr entscheidend. Unter Krieg versteht man herkömmlicher Weise das, was Krieg zwischen Staaten ist. Hier kämpfen wir gemeinsam mit dem Staat Afghanistan gegen Terrorismus. Deshalb ist das ein Auslandseinsatz, ein K.ampfeinsatz im Ausland, aber es ist nach den herkömmlichen Begriffiichkeiten nicht Krieg.""·
Und sein Staatsminister feilte diese Argumentationslinie in einer anderen TV-Diskussionsrunde noch weiter aus und begründete sie mit Defiziten des Völkerrechts. 511 Die völkerrechtliche Diskussion war allerdings schon viel weiter als die führenden Politiker des Auswärtigen Amtes die Bevölkerung glauben machen wollten. Denn die veränderte Realität der gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Welt hatte zu einer Weiterentwicklung des Völkerrechts geführt. In diesem spricht man heute nicht mehr vorrangig vom ,,Krieg", sondern von "bewaffneten Konflikten". Wenn diese zwischen Staaten ausgetragen werden (also in etwa dem klassischen Kriegsbegriff entsprechen), handelt es sich um "internationale bewaffnete Konflikte", wenn einer der Kontrahenten ein nicht-staatlicher Akteur ist, um "nichtinternationale bewaffnete Konflikte" (vgl. Ipsen 2004, S. 1213 ff.).512 Nachdem die Fakten um das Bombardement der beiden Tanklastwagen bei Kundus scheibchenweise durch die Presse aufgedeckt worden waren - Höhepunkt waren neben dem ,,Bild"-Bericht vom 26.11.2009, der den Rücktritt von Minister Jung zur Folge hatte, die Veröffentlichung von Teilen eines ISAF-Geheimberichts durch die Süddeutsche Zeitung am 11.12.2009 -, wurde der Tonfall der Medienkommentierung noch schärfer. So schrieb der "Stern" unter der Überschrift ,,Die Lügen des Krieges":
510 511
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Maybrit Illner, ZDF am 25.06.2009 (eigene Transkription). Staatsminister Gemot Erler (SPD) erklärte: ,,Ich glaube, wir haben hier ein Problem von Anfang an. Es geht um den 12. September 2001. An diesem Tag haben sich die VN mit diesem völlig neuen, unerklärbaren Phänomen eines anonymen Angriffs aufWashington und New York beschäftigt und sie haben in ihrer Ratlosigkeit gesagt, dieser Angriff ist gleichzusetzen mit einem Angriffskrieg und damit wird legitimiert, dass sich das Land Amerika, das angegriffen worden ist, eben verteidigt. Das war die Einordnung eines neuen Phänomens in Dinge, die wir aus dem 19. Jahrhundert kennen, in einen klassischen Krieg ... Das Problem ist, dass wir eigentlich noch nicht weit genug sind mit der Sprache, das zu erfassen, was eigentlich das Neue daran ist. Das ist das Problem bei diesen ganzen Fragen, die keine semantischen sind, sondern es geht darum, das wir eigentlich ein neues Phänomen noch nicht richtig eingeordnet haben." (ARD "Hart aber Fair" am 09.09.2009, eigene Transkription) Ipsen weist daraufhin, dass nicht abschließend geklärt sei, ob der Begriffdes "bewaffneten Konflikts" den ,,Kriegsbegrift" vollständig ersetzt habe. (S. 1214). Das ist aber für unsere Diskussion unerheblich.
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
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,,Die große Lüge dieses Krieges ist mit der letzten dreisten Lüge der Politik zerplatzt. ,Er hat die Menschen als Ziel, nicht die Fahrzeuge', zitierte die ,Süddeutsche Zeitung' aus dem Geheimbericht des Mghanistan-Kommandeurs Stan1ey McChrystai über die Bombardierung zweier geraubter Tanklastzüge arn 4. September bei Kundus."Sl3
Es stellt sich die Frage, warum die Bundesregierung bei dieser Entwicklung der öffentlichen Meinung so lange auf ihrer zunehmend unhaltbar werdenden Klassifikation des Einsatzes als "Nicht-Krieg" beharrte, zumal sich daraus für die im Einsatz befindlichen Soldaten erhebliche Risiken und Nachteile ergaben. Denn zum einen führte diese Position dazu, dass die Ausrüstung der Soldaten nicht auftragsgerecht war. Hieraufwies zum Beispiel der ehemalige Generalinspekteur und Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, General a.D. Harald Kujat, in einer TV-Dokumentation hin, wobei er die politische Führung hart kritisierte. 514 (Dieser Aspekt wird in Kap. 6.3.5.3 weiter vertieft). Zum anderen ergab sich aus der Klassifikation der Einsätze als "Nicht-Krieg" für die Soldaten eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Denn handelt es sich nicht um einen bewaffneten Konflikt i.S. des Völkerrechts, dann erfolgt nach jedem Schusswaffengebrauch mit Todesfällen - auch im Afghanistaneinsatz - aufgrund des innerstaatlichen Rechts eine staatsanwaltschaftliche Untersuchung zur Aufklärung eines möglicherweise vorliegenden Tötungsdelikts. In einem bewaffneten Konflikt gilt hingegen das Völkerstrafrecht. 515 513 514
515
Kommentar von Hans-Ulrich Jörges im Stern Nr. 52 vom 17.12.2009, S. 42. Der Moderator der Dokumentation merkte zu Bildern von einem Raketenangriff auf das Lager Kundus an: "Die Truppe hatte Bunker, um sich zu verschanzen, aber keine weitreichenden Waffen, um sofort auf die Angriffe zu reagieren." Statement General a.D. Harald Kujat: "Wir haben beispielsweise den Niederländern deutsche Artilleriegeschütze zur Verfiigung gestellt, die sie mit großem Erfolg dort einsetzen. Wir selbst setzen sie nicht ein, weil ein solches Geschütz offensichtlich den Eindruck erweckt, es handelt sich um Krieg. Mörsersysteme genauso. Wir müssen natürlich solche Systeme den Soldaten zur Verfiigung zu stellen, damit sie den Gegner auf Distanz halten können, damit sie ihn auf Distanz bekämpfen können und so einen Beitrag auch zu ihrer eigenen Sicherheit leisten. Aber das hätte offensichtlich in der Bevölkerung den Eindruck erweckt: unsere Soldaten führen da ja Krieg. Und das hätte die politische Legitimation beeinflusst. Dieses halte ich - um es ganz klar zu sagen - nicht nur für unzulässig, sondern ich halte es für skrupellos." Moderator: ,,Der schwerste Vorwurf, den ein Offizier seiner politischen Führung machen kann." (ZDF, FrontalDokumentation "Sterben für Mghanistan" am 16.03.2010, eigene Transkription) Vgl. "Die Schüsse von Kundus" in: FAZ.NET vom 12.12.2008 (Zugriff: 19.01.2009). Komelius schilderte drastisch die Auswirkungen von staatsanwaltlichen Untersuchungen nach tödlichen Schüssen deutscher Soldaten als Folge der Rechtsauffassung der Bundesregierung, dass es sich nicht um "Krieg" handele, auf die Stimmung in der Truppe (vgl. Kornelius 2009, S. 66 ff.). Bei der Prüfung des Kundus-Bombardements vom 04.09.2009, das der Bundesanwaltschaft vom Generalstaatsanwalt Dresden vorgelegt worden war, weil dieser Zweifel über die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts hatte (vgl. ,,Karlsruhe prüft Kriegsverbrechen" in: TAZ-On1ine vom 07.11.2009; Zugriff: 17.03.10 I 0), gelangte die Bundesanwaltschaft zum Ergebnis, die Si-
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Die von Verteidigungsminister Jung genannte Begründung, man wolle eine Aufwertung der Taliban vermeiden, um diese nicht zu legalen Kombattanten zu machen,516 ist nicht schlüssig. 517 Denn wenn die Taliban illegal kämpfen - wovon auszugehen ist - kommen ihnen auch in einem "bewaffueten Konflikt" keine Rechte aus einem evtl. Kombattantenstatus zu. Sie sind ,,illegale" bzw. "nichtprivilegierte Kombattanten" (vgl. Ipsen 2004, S. 1249). Auch sind die Hinweise darauf, dass die in Afghanistan eingesetzten Soldaten aufgrund der ,,Kriegsklausel" in Lebensversicherungsverträgen ggf. ihren Versicherungsschutz verlieren würden, wenn sie in einem Kriegseinsatz stünden, als Motiv für die Haltung der Bundesregierung nicht überzeugend. 518 Denn erstens heben Versicherungen nicht aufdie formelle Bezeichnung eines Einsatzes ab, sondern allein auf die objektiv gegebenen Verhältnisse, insbesondere, ob ein zu Schaden gekommener Soldat einem "aktiven" oder einem "passiven" Kriegsrisiko ausgesetzt war. 519 Und zweitens ist im Einsatzversorgungsgesetz520 geregelt, dass bei Nichtzahlung einer Lebensversicherung aufgrund der ,,Kriegsklausel" der Bund einspringt, so dass die Hinterbliebenen nicht leer ausgehen.
516
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518
519 520
tuation in Afghanistan sei als nicht-internationaler Konflikt zu werten (vgL ,,Bundesanwaltschaft zieht Kundus-Fall an sich" in: Financial Times Deutschland-Online vom 15.03.2010; Zugriff: 17.03.2010). So z.B. in einem Interview in der Sendung ,,zDF am Mittag" am 02.07.2009, in der er erklärte: "Wir führen dort einen Stabilisierungseinsatz, aber es ist wahr, wir sind dort in Kampfsituationen. Insofern ist das dort auch ein Kampfeinsatz. Aber was wollen die Taliban? Die wollen genau, dass wir von Krieg sprechen. Dann sind die nämlich Kombattanten und können auch berechtigter Weise aufuns schießen. Aber sie sind Verbrecher, sie sind Terroristen. Und es ist kein Krieg." (eigene Transkription) Auch der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr und Vorsitzende des Militärausschusses der NATO, General a.D. Klaus Naumann, vertrat in einem Pressekommentar die irrige Meinung, die Taliban würden zu Kombattanten nach dem Kriegsvölkerrecht und ,,könnten als Konfliktpartei beanspruchen, auf einer Stufe mit der Regierung Afghanistans zu stehen" ("Krieg? Das hätten die Taliban gern", Sz-online vom 02.08.2009; Zugriff: 16.02.2010). Zu dieser Frage äußerte sich auch in der Befragung der Vorsitzenden und Obleute des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses (Anlage 3 a) Ulrike Merten (SPD): "Ja, aber noch abenteuerlicher habe ich die Begründung gefunden, die auch immer mal wieder gebracht wird, die der Minister auch bringt, man wolle diesen Kriegsbegriff nicht benutzen, weil man damit die Soldaten um ihre Versicherungsleistungen brächte, die ihnen zustünden. Also das ist nun wirklich geradezu absurd zu glauben, dass sozusagen eine Versicherung aufeiner Formulierung, die irgendjernand gebraucht oder nicht gebraucht, Leistungen zahlt oder nicht zahlt. Da halte ich nun wirklich für derart abwegig. Außerdem haben wir doch dafür das Einsatzversorgungsgesetz gemacht." (Interview am 20.10.2009) Vgl. "Dossier Versicherer lassen Soldaten im Stich", Welt-Online vom 02.07.2009 (Zugriff: 10.07.2009). Gesetz zur Regelung der Versorgung bei besonderen Auslandsverwendungen (EinsVG) vom 21.12.2004, § 2, Ziff. 9.
239
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
Damit bietet sich vorrangig die folgende Erklärung für das Bestreben der Bundesregierung zur Vermeidung des Begriffs ,,Krieg" an: sie hatten die Perzeption, dass die deutsche Bevölkerung aufgrund des Zivilmachtdenkens noch weniger bereit wäre, die Afghanistanpolitik zu unterstützen, wenn der Charakter als bewaffneter Konflikt (als ,,Krieg") zu deutlich hervortäte. Damit bestünde die Gefahr - wie Chauvistre es formulierte, dass ,,(d)as mühsam und scheibchenweise aufgebaute Konstrukt der Bundeswehr im robusten Friedenskampf ... in sich zusammen(bräche)" (Chauvistre 2009, S. 49).521 Dieser Erklärungsansatz lässt sich durch die Ergebnisse von Meinungsumfragen stützen. So zeigte Kümmel anband von Zahlen des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr von 2005, dass mit zunehmendem Gewaltcharakter die Zustimmung der Gesellschaft zu Einsätzen der Bundeswehr abbröckelte (Kümmel 2007, S. 119 f.). Im ARD-Deutschlandtrend äußerte sich seit 2007 eine breite Mehrheit der Bevölkerung - z. T. sogar eine Zweidrittelmehrheit - für einen schnellen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan (s. Tabelle 5).
Tabelle 5: Voten für einen schnellen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan Monat Quote (in%)
6/2007
8/2007
9/2007
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4/2009
7/2009
9/2009
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Quelle: ARD-Deutschlandtrend von Januar
2010 522
Bei der Auswertung solcher Statistiken ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Zustimmung oder Ablehnung davon abhängt, wie die Fragestellung formuliert ist, ob sie also mehr aufWiederaufbau oder auf Bekämpfung abhebt. So hatten sich z.B. im April 2007 - also drei Monate vor der Befürwortung eines schnellen Rückzugs 521
Die von Chauvistre unter Berufung auf einen ..Spiege1"-Artikel in diesem Kontext behaupteten Rechtsfolgen, dass - angelehnt an die grundgesetzlichen Bestimmungen zum Verteidigungsfall - ..der Bundestag zunächst nicht mehr neu gewählt werden (dürfte) und die Befehlsgewalt ... vom Verteidigungsminister auf den Kanzler oder die Kanz1erin über(ginge)" (Chauvistre 2009, S. 49), sind eine propagandistische übertreibung eines Gedankens, der im ..Spiegel" sehr viel vorsichtiger formuliert worden war. Dort heißt es nämlich. Es ,,könnte jemand auf die Idee kommen, prüfen zu lassen..." (Spiegel-Online vom 27.10.2008; Zugriff: 22.01.2010). 522 Die Frage lautete: ..Die Bundeswehr ist seit einigen Jahren im Rahmen eines NATO-Einsatzes in Afghanistan stationiert. Sollte die Bundeswehr Ihrer Meinung nach weiterhin in Mghanistan stationiert bleiben oder sollte sie sich möglichst schnell aus Afghanistan zurückziehen?" (Quelle: http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2010/ januar/; Zugriff: 25.01.2010)
240
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
durch 54% der Befragten - eine Mehrheit von 52% für die Beteiligung der Bundeswehr am Afghanistaneinsatz geäußert, weil die Fragestellung aufWiederaufbau abhob. 523 In der gleichen Befragung sprachen sich hingegen 63% gegen die Unterstützung von ISAF durch Tornados aus, weil die entsprechende Frage einen Bezug zu Kampfaufwies. 524 Man kann aus Tabelle 5 aber noch etwas anderes heraus interpretieren. Der im September 2009 erkennbare signifikante Rückgang um 12 Prozentpunkte gegenüber Juli 2009 der Befragten, die einen schnellen Abzug aus Afghanistan befürworteten, wurde eine Woche nach der Bombardierung der Tanklastwagen bei Kundus ermittelt. In dieser einen Woche gab es - wie dargestellt - die bis dato intensivste Medienberichterstattung und erhebliche Anstrengungen der Politik, Zweck und Ziel des Afghanistaneinsatzes zu erklären. Dieses lässt den Schluss zu, dass eine aktive und offene Informationspolitik auch schon vorher durchaus eine Chance gehabt hätte, die gleichbleibend hohe Ablehnung der Einsätze in der Bevölkerung zu reduzieren. Dass die Ablehnungswerte Ende 2009 wieder deutlich anstiegen und Anfang 2010 den bis dahin höchsten Wert erreichten, signalisiert nach Auffassung des Autors einen anderen Wirkungszusammenhang, nämlich einen erheblichen Vertrauensverlust bei der Bevölkerung in die Informationspolitik der Bundesregierung, nachdem Informationen über den Kundus-Vorfall nur scheibchenweise an die Öffentlichkeit gelangten. Dieses belegen die Antworten auf eine weitere Frage im Deutschlandtrend für Dezember 2009, in der 77% der Befragten äußerten, dass sie kein Vertrauen in die Informationspolitik der Bundesregierung hätten. 525 Als eine weitere Erklärung für das Festhalten der Regierung an ihrer Diskursposition wurden z. T. auch Wahlüberlegungen angeführt. So formulierte Kornelius523
524
525
Die Frage lautete: "Die Bundeswehr ist seit fiinf Jahren in Afghanistan engagiert. Dort leistet sie vor allem Wiederaubauhilfe im Norden des Landes. Finden Sie es generell richtig, dass sich die Bundeswehr am NATO-Einsatz in Afghanistan beteiligt oder finden Sie das nicht?" (http:// www.infratest-dimap.de/de/umfragen-analysen/bundesweitJard-deutschlandtrend/2007/apriV; Zugriff: 25.01.2010) Die Fragestellung lautete jetzt: ",Tornado'-Flugzeuge: Sie sollen Aufklärungsbilder fIlr die NATOTruppen liefern und so den Kampf gegen die radikal-islamischen Taliban unterstützen. Welcher Meinung dazu stimmen Sie zu?" Die Mehrheit stimmte der Antwort zu: "Die Bundeswehr soll sich von solchen Aufgaben fernhalten und sich nur um Wiederaufbauhilfe kümmern." (http:// www.infratest-dimap.de/de/umfragen-analysen/bundesweitJard-deutschlandtrend/2007/apriV (Zugriff: 25.01.2010). Die entsprechende Frage lautete: ,,Minister Franz Josef Jung hat in seiner Zeit als Verteidigungsminister die Öffentlichkeit nicht korrekt über einen Luftangriff in Afghanistan informiert. Glauben Sie, dass dieses ein Einzelfall war und die Bundesregierung sonst umfassend und ehrlich über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan informiert oder glauben Sie das nicht?" (http:// www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweitJard-deutschlandtrend/2009/dezember/; Zugriff: 25.01.2010)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
241
unter Bezugnahme auf den Wahlerfolg von Gerhard Schröder mit seiner Ablehnung des Irak-Krieges 2002 - als Erklärung für das "Schönen" des Bildes vom Einsatz: ,,Die Mitglieder des Parlaments sehen die Entsendepolitik durch ein simples Prisma: Was bedeute die Entscheidung fiir meine Wählbarkeit? Außenpolitik als wahlentscheidendes Kriterium ist eine neue, aber besonders wirksame Größe im politischen Kalkül des Landes." (Kornelius 20 I0, S. 59)
Aber diese These ist wackelig. Zwar könnte man den Vorstoß des Kanzlerkandidaten der SPD, Frank-Walter Steinmeier, im Sinne dieser These deuten, der am 22.08.2009 im Wahlkampf das Thema eines ,,Fahrplans für den Abzug aus Afghanistan" entdeckte,526 obwohl-wie GießmannlWagner glauben, beobachtet zu haben, "die Großkoalitionäre im stillen Einvernehmen mit FDP und GrUnen vereinbart hatten, Afghanistan und die Bundeswehr aus den Wahlkämpfen herauszuhalten." (Gießmann/Wagner 2009, S. 7)
Aber es gibt auch gewichtige Argumente gegen die These. Erstens wird in der Literatur die gegenteilige Auffassung vertreten, wie z.B. in folgender Feststellung: ,,Die Bundestags Opposition und gesellschaftliche Kräfte können den Kurs in diesem Politikfeld (der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, UvK) nicht nachhaltig beeinflussen, mit regierungskritischen Positionen in außenpolitischen Fragen können Wahlen nicht gewonnen werden. Dies bedeutet aber nicht, dass eine bis heute mehrheitlich gegenüber Militäreinsätzen überaus skeptische Öffentlichkeit ohne Wirkung bliebe." (Wagner, Schlotter 2006, S. 462)
Zweitens waren es gerade Parlamentarier, die sich - im Gegensatz zur Bundesregierung - in Parlamentsdebatten lange vor der Regierung argumentativ weg vom Stabilisierungs- und hin zum Kampfeinsatz bewegten (s.o.). Auch betonten die Fachpolitiker in den Interviews im Rahmen der Befragung der Ausschussvorsitzenden und Obleute von Auswärtigem Ausschuss und Verteidigungsausschuss, dass sie sich - wo immer möglich - mit den Menschen in ihren Wahlkreisen intensiv über die Thematik auseinandergesetzt hatten. 527 526 527
Vgl. ,,Bei Wahlsieg will SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier Afghanistan-Abzug aushandeln", Spiegel-Online vom 22.08.2009 (Zugriff: 22.08.2009). So erläuterte der Abgeordnete Rainer Arnold (SPD): "Ich bin eindeutig der Meinung, man muss über das Thema breit diskutieren und braucht natürlich - das ist nicht ganz einfach - auch Medien, die dann eben nicht nur bei Toten usw. was in der Zeitung schreiben. Es ist auch im Kleinen meine Beobachtung, wenn ich zu Afghanistan Zeit habe, ich sage mal zwei Stunden einen Abend mache, gibt es am Ende immer eine relativ breite Akzeptanz. Bei überzeugten Pazifisten, die unsere Gesellschaft hat und die sie auch gut verträgt, entsteht dann zumindest Unsicherheit." (Telefoninterview am 02.11.2009) Im gleichen Sinne äußerte die ehemalige Vorsitzende des Verteidigungsausschuss Ulrike Merten (SPD) "Ich habe es selber noch einmal in diesem Wahlkampf gespürt, aber auch in den Jahren davor, wenn ich außerhalb dieser sehr überschaubaren Community, die sich immer mit diesem Thema befasst, vorgetragen habe oder mit Bürgern ins Gespräch darüber gekommen bin. Dann habe ich natürlich die Skepsis bis hin zur offenen Ablehnung gespürt. Und das ist natürlich
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Und drittens sprechen die Meinungsumfragen gegen die Richtigkeit der These. So war selbst nach dem Bombardement von Kundus der Afghanistaneinsatz in den Augen der Bevölkerung nicht wahlentscheidend. 528 Insgesamt ist damit der Erklärungsansatz eines von der Regierung perzipierten ausgeprägten Zivilrnachtdenkens für das Beharren auf ihrer Ablehnung des Kriegsbegriffs für die Afghanistaneinsätze der plausibelste. Erst als die Unhaltbarkeit dieser Diskursposition der Bundesregierung durch die Bombardierung der Tanklastwagen bei Kundus am 04.09.2009 offenkundig geworden war, kam Bewegung in ihre Argumentationslinie. So sprach Verteidigungsminister zu Guttenberg in der ISAF-Mandatsdebatte 2009 von ,,kriegsähnlichen Zuständen um Kunduz."529 Schon 4 Wochen vorher hatte er sich in einem Zeitungsinterview dieser Terminologie angenähert. 530 Wenig später übernahm auch Bundeskanzlerin Merkel diese Wortwahl. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung führte sie auf die entsprechende Frage aus: "Ich teile die Meinung von Verteidigungsminister zu Guttenberg, dass aus Sicht unserer Soldaten kriegsähnIiche Zustände in Teilen Afghanistans herrschen, auch wenn der Begriff ,Krieg' aus dem klassischen Völkerrecht auf die jetzige Situation nicht zutriffi."_m
Und zwei Wochen nach der Bundestagserklärung von Minister zu Guttenberg wurde der "Schwenk" in der Position der Bundesregierung komplettiert, als das Ver-
528
529 530
531
zunehmend zu einer Bürde geworden, die immer stärker wurde, je mehr wir dieses Engagement ausgeweitet haben und je mehr Tote wir auch hatten. Das muss man ganz klar sagen." (Interview am 20.10.2009) Und der Abgeordnete Pani Schäfer führte aus: "Denn wir werden immer gefragt bei den Mitgliederversammlungen unserer Partei, bei den Wahlkämpfen, bei den Bfugerversammlungen, was macht Ihr da, was ist das für ein Unsinn." (Interview am 05.11.2009) Im Deutschlandtrend vom September 2009 nannten 58% der Befragten es als ,,nicht wahlentscheidend", für 38% war das Thema "wichtig" und nur 4% bezeichneten es als "entscheidend" (http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2009/ september-extra!; Zugriff: 25.01.2010). BT PlPr 17/09 vom 03.12.2009, S. 682. Auf die Frage der Bild-Zeitung "Werden Sie - wie Ihre Soldaten - ,Krieg' nennen, was sich in Afghanistan abspielt?" hatte er geantwortet: ,,Ich will ganz offen sein: In Teilen Afghanistans gibt es fraglos kriegsähnliche Zustände. Zwar ist das Völkerrecht eindeutig und sagt: Nein, ein Krieg kann nur zwischen Staaten stattfinden. Aber glauben Sie, auch nur ein Soldat hat Verständnis für notwendige juristische, akademische oder semantische Feinsinnigkeiten? .. .Ich selbst verstehe jeden Soldaten, der sagt: ,In Afghanistan ist Krieg, egal, ob ich nun von ausländischen Streitkräften oder von Taliban-Terroristen verwundet oder getötet werde'. Der Einsatz in Afghanistan ist seit Jahren auch ein Kampfeinsatz. Wenigstens in der Empfindung nicht nur unserer Soldaten führen die Taliban einen Krieg gegen die Soldaten der internationalen Gemeinschaft." (Bild-Zeitung vom 03.11.2009, S. 2) ,,Das Land muss die Dimension der Krise begreifen" in: FAZ.NET vom 14.11.2009 (Zugriff: 15.11.2009).
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
243
teidigungsministerium auf eine Anfrage des ,,Focus" bestätigte, dass für die deutschen Soldaten das Völkerrecht gelte. Der Focus kommentierte dieses wie folgt: ,,Die neue Ehrlichkeit des Verteidigungsministeriums sieht die Bundeswehr am Hindukuschjetzt im ,nicht internationalen bewaffneten Konflikt' also im inneren Krieg Afghanistans an der Seite der anerkannten Regierung. Damit gilt das Völkerstrafgesetz, das zivile Todesopfer nicht prinzipiell verbietet. Aber es lädt Befehlshabern schwere Verantwortung auf Verboten bleibt, sehenden Auges oder mit Absicht in Kauf zu nehmen, dass das Ausmaß der Zivilopfer ,außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht' .''''32
Allerdings setzte sich die neue Position noch nicht sofort und vollständig durch. Verteidigungsminister zu Guttenberg relativierte z.B. seine Wortwahl in einem Zeitungsinterview Anfang 2010. Auf die Frage, warum er "kriegsähnliche Zustände" und nicht ,,Krieg" gesagt hätte, antwortete er unter Verweis auf die (alte) völkerrechtliche Definition: ,,(D)eshalb ist Krieg eine aus juristischer Sicht unrichtige Bezeichnung der Vorgänge in Afghanistan. Über diese juristischen Tatsachen kann ich mich als Verteidigungsminister nicht hinwegsetzen. Ich habe aber immer gesagt, dass ich für jeden Verständnis hätte, der umgangssprachlich das Wort ,Krieg' verwendet. Umgangssprachlich habe ich übrigens auch kein Problem damit, die Situation in Afghanistan als Krieg zu bezeichnen. Mit ,kriegsähnlich' sind wir aufjeden Fall einen großen Schritt hin zu einer realistischen Bezeichnung gegangen. Völkerrechtliche Klarheit könnte mit dem Begriffdes nicht internationalen bewaffneten Konflikts erreicht werden."'"
Und noch weiter zurück zu der alten Position ging der Vorsitzende der SPD, Sigmar Gabriel, der in einem Zeitungsbericht wie folgt zitiert wurde: ",Die UN flihren keinen Krieg'. Folglich seien,unsere Soldaten auch keine Krieger'. Wer vom Krieg rede, werde an Zustimmung für den Afghanistan-Einsatz verlieren, sagt Gabriel voraus."'"
Demgegenüber wies Helmut Schmidt in einem Diskussionsbeitrag für die Afghanistan-Konferenz der SPD am 25.01.2010 daraufhin, dass es sich in Afghanistan um einen Krieg der USA und der NATO handele, der bereits länger dauere als die beiden Weltkriege. Und er qualifizierte diesen Krieg wie folgt: ,,Es handelt sich nicht um einen ,normalen Krieg' gegen einen fremden Staat. Vielmehr ist es einerseits ein Guerillakrieg gegen terroristische Partisanen, zum Teil aus dritten Ländern stammend, wie etwa al-Qaida, zum Teil aus Afghanistan stammend. Anderseits findet ein BÜTger-
532 533 534
,,Kriegsrecht für deutsche Soldaten" in: Focus-0nline vom 18.12.2009 (Zugriff: 10.01.2010). Interview ,,Afghanische Sicherheitskräfte in der Fläche ausbilden" in: FAZ.Net vom 25.01.2010 (Zugriff: 26.01.2010). Bericht ,,Attacke gegen den Krieg in Afghanistan", Bonner Generalanzeiger vom 28.01.2010,
S.4.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
krieg statt, den die Taliban gegen die eigene Regierung in Kabul flihren, gegen lokale und regionale Machthaber und gegen Teile der eigenen Bevölkerung.",),
Erst beim Einbringen des Antrags der Bundesregierung für ein erweitertes ISAFMandat im Februar 2010 vollzog Außenminister Guido Westerwelle (FDP) den Wechsel der Sprachregelung auch offiziell, in dem er in einer Regierungserklärung ausführte: ,,Die Bundesregierung hat sehr sorgfältig die Frage geprüft, wie die Lage im Norden Afghanistans zu bewerten ist. Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren militärischer Organisation flihrt uns zu der Bewertung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Norden Afghanistans als bewaffneten Konflikt im Sinne des humanitären Vö1kerrechts zu qualifizieren. Ob uns das politisch gefällt oder nicht, so ist die Lage. "')6
In den Monaten danach räumten vereinzelt hochrangige Politiker dann auch entsprechende Versäumnisse bei der Vermittlung des Bildes der Einsätze in der Gesellschaft ein. So erklärte der neue Bundesverteidigungsminister zu Guttenberg (CSU) in einer TV-Sendung unter dem Titel ,,Die Afghanistan-Lüge": ,,Es wurde teilweise etwas ein Zerrbild dargestellt, das aber nicht allein an früheren Bundesregierungen festzumachen ist, sondern da haben sich auch Parlamentarier mitbeteiligt, da hat sich auch eine Medienlandschaft daran mitbeteiligt - das darf man auch nicht vergessen - dass man das Bild des Soldaten, der im Wesentlichen winkt und Brunnen buddelt, gezeichnet hat, aber der damals schon auch natürlich in einem Kampfeinsatz war. "')1
6.2.4 Zwischenresümee Die Inhalte der beiden Diskursstränge "Legitimation"bzw. "Krieg" oder "Nicht-Krieg" wurden lange Zeit weitgehend von der Diskursposition der Politik - d.h. der Bundesregierung und großer Teile des Parlaments - dominiert, die der Gesellschaft das Bild eines "Stabilisierungseinsatzes" von "Entwicklungshelfern in Uniform" vermittelte. Als Legitimation für die Einsätze wurde zunächst auf Bündnissolidarität abgehoben. Diese verlor - nicht zuletzt wegen des Zerwürfnisses mit den USA über 535 536 537
Interview "Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen" in: Zeit-Online vom 28.01.2010 (Zugriff: 29.01.2010). BT PIPr 17/22 vom 10.02.2010, S. 1896 f. Im ähnlichem Sinne äußerte sich in der gleichen Sendung der ehemalige Verteidigungsminister und Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, Dr. Peter Struck:"Das liegt daran, dass wir am Anfang den Eindruck erweckt haben, als wir begonnen haben 2001, uns in Mghanistan zu engagieren, den Einsatz eher als einen Einsatz vom THW oder von Rot-Kreuz in Bundeswehruniform dargestellt haben. Dass es ein wirklicher militärischer Kampfeinsatz ist, haben wir am Anfang nicht gesagt." (,,Die Afghanistan-Lüge", ZDF, 08.04.2010, eigene Transkription)
6.2 Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über die Einsätze
245
den Irak-Krieg - an Überzeugungskraft. Daher wurden die Einsätze anschließend mit der Metapher der "Verteidigung der Sicherheit Deutschlands auch am Hindukusch" legitimiert. Die von der Politik zunächst gelegentlich, dann aber über die Jahre zunehmend durchgeführte Berufung auf (rudimentär definierte) ,,(vitale) nationale Interessen" wurde von Wissenschaft und Öffentlichkeit kaum hinterfragt. Auch die aufgrund der multilateralen Einbindung enge Verflechtung zwischen nationalen und Bündnisinteressen wurde nicht diskursiv daraufhin überprüft, inwieweit eine vollständige oder teilweise Kongruenz zwischen spezifischen deutschen Interessen und Bündnisinteressen gegeben war, sondern es erfolgte unkritisch eine weitgehende Gleichsetzung. Die Bundesregierung vertrat kontinuierlich die Position, es handele sich bei den Afghanistaneinsätzen der Bundeswehr nicht um einen Kriegseinsatz. Sie nahm damit für die betroffenen Soldaten nachteilige Konsequenzen in Kauf. Dieses war - so der plausibelste Befund - dem Zivilmachtdenken der deutschen Gesellschaft geschuldet, der man die Realität militärischer Gewaltanwendung, die mit Töten und Sterben verbunden ist, nicht glaubte zumuten zu können. Meinungsumfragen stützen diese Vermutung. Die Öffentlichkeit nahm die Vermittlung des geschönten Bildes der Einsätze mehrere Jahre hin - vermutlich aus "wohlwollendem Desinteresse" an der Bundeswehr. Auch seitens des Parlaments wurde diese Darstellung gestützt bzw. toleriert, sogar noch als einzelne Parlamentarier den Kriegscharakter von ISAF bereits einräumten. Erst als sich Anschläge und Todesopfer - sowohl auf deutscher Seite als auch bei den Afghanen - häuften, verlor die Bunderegierung nach und nach ihre Dominanz in diesem Diskurs. Zunächst kam vereinzelt Widerspruch durch kritische Beiträge in Printmedien, ohne dass es jedoch schon gelang, die Streitfrage prominent in die Diskussion einzubringen. Ab 2008 forcierten die Medien ihre Bemühungen, die Frage ,,Krieg" oder ,,Nicht-Krieg" auch gegen den Widerstand der Politik auf die politische Agenda zu bringen, wobei entscheidend gewesen sein dürfte, dass zunehmend auch die Bild-Medien mitwirkten. Und auch die Populärliteratur hatte ihren Anteil daran, die Gesellschaft für Afghanistan und den Bundeswehreinsatz in dem Lande zu interessieren. Aufgrund dieser kontinuierlichen Diskursbeiträge der Medien tendierte die öffentliche Meinung mehr und mehr zu der Auffassung, die Bundeswehr stehe in einem Kriegseinsatz. Allerdings waren Bundesregierung und die Mehrheit der Parlamentarier zunächst noch bemüht, ihre Diskursposition weiter durchzuhalten, womit sie - trotz des Bundestagswahlkampfs - bis in die zweite Jahreshälfte 2009 Erfolg hatten. Erst
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
nach der Bombarclierung der Tanklastwagen bei Kundus im September 2009 und dem scheibchenweisen Bekanntwerden von Fakten, die deutlich machten, dass die Soldaten der Bundeswehr kämpften, starben, aber auch töteten, wurde der Druck von Medien und Öffentlichkeit so stark, dass die Bundesregierung ihre Position veränderte. Man könnte auch formulieren: sie wurde ab diesem Zeitpunkt in diesem Diskurs von der Öffentlichkeit "getrieben". Somit ist GießmannlWagner hinsichtlich ihrer Feststellung zuzustimmen, dass es ,,(n)icht der Bundestagswahl ... geschuldet (war), dass das Thema Afghanistan in den vergangenen Monaten zunehmend in die Schlagzeilen geriet. Im Gegenteil ist es bemerkenswert, dass sich diese Debatte verbreitet hat, obwohl die Großkoaiitionäfe im stillen Einvernehmen mit FDP und Grünen vereinbart hatten, Afghanistan und die Bundeswehr aus den Wahlkämpfen herauszuhalten. Der Widerspruch zwischen Rhetorik und Realität ist zu groß geworden, als dass er sich durch Stillschweigen oder Sonntagsreden zudecken ließe." (Gießmann/Wagner 2009, S. 7)
Spätestens die Bomben von Kundus haben somit die Dominanz der Bundesregierung im Diskurs über den Charakter der Afghanistaneinsätze aufgebrochen. Verteidigungsminister zu Guttenberg brachte es in einem TV-Statement aus dem April2010 mit folgender Formulierung auf den Punkt: "So grauenvoll die Wirkungen des 4. Septembers auch waren, so wichtig ist dieser 4. September mit Blick darauf, welche Defizite wir in dem Afghanistaneinsatz zu erkennen haben und welche möglicherweise lange auch unter Verschluss gehalten wurden ... über alle Parteigrenzen hinweg. "S38
Erst ab diesem Zeitpunkt ist von einem kontrollierenden bzw. bremsenden Einfluss der öffentlichen Meinung auszugehen. Durch die Verschränkung der Diskursstränge wird die Politik damit auch gefordert sein, in Zukunft die Legitimationsfrage der Einsätze neu zu beantworten.
6.3 Relevanz sonstiger Akteure Nach der umfassenden Darstellung der Machtverteilung zwischen den Akteuren Bundesregierung und Parlament - mit einem Blick auch aufDiskursteilnehmer auf der Ebene der Öffentlichkeit - soll im Folgenden analysiert werden, welche anderen Akteure Relevanz bei den Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen hatten.
538
,,Die Afghanistan-Lüge", ZDF, 08.04.2010, eigene Transkription.
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
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6.3.1 Parteien Die Skizze potentieller Akteure (Kap. 4.1) hatte den Hinweis geliefert, dass in diesem Zusammenhang nicht nur die Fraktionen im Deutschen Bundestag, sondern ggf. auch die Parteien zu betrachten sind, wenn Entscheidungen ein hohes Maß an Öffentlichkeitswirksamkeit entwickeln, besonders im Vorfeld von Wahlen. Im Kontext der Afghanistanentscheidungen traten zwei Parteien (SPD und Bündnis 90/ Die Grünen) viermal prominent - in Form von Parteitagen - in Erscheinung. Bei CDU und FDP erfolgte keine Beschäftigung mit den Afghanistaneinsätzen auf Parteitagen. 539 Erstmals befasste sich die Basis der beiden Partei im Zuge der Erstentscheidungen mit den Afghanistaneinsätzen. So kam es auf dem Parteitag der SPD vom 19. - 22.11.2001 in Nümberg zu einer Auseinandersetzung der Parteiführung mit der Parteibasis zur Frage der deutschen Beteiligung an OEF, die der Deutsche Bundestag am 16.11.2001 gebilligt hatte. Ungeachtet von einigen Protesten von Antikriegsdemonstranten, die mit Trillerpfeifen und Plakaten störten,540 erhielt die Parteiführung letztlich eine 90%ige Zustimmung zu einem Antrag, in dem die Bereitstellung deutscher Soldaten für den Kampf gegen die internationalen Terrorismus ausdrücklich gebilligt wurde. 54l Spannender verlief die ,,Bundesdelegiertenkonferenz" von Bündnis 90IDie Grünen am 24./25.11.2001. Schon im Vorfeld war es zu heftigen Auseinandersetzung um die Beteiligung an OEF gekommen. 542 In der mit der Vertrauensfrage gekoppelten Abstimmung des Deutschen Bundestages vom 16.11.2001 hatten sich aus einer Gruppe von Kritikern vier Abgeordnete von Bündnis 90IDie Grünen enthalten, vier hatten zugestimmt. Die Zustimmung führte zu erheblicher Kritik sei539
540 541
542
Mit Ausnahme der Parteitage zur Billigung des Koalitionsvertrages, der auch Passagen zum Afghanistaneinsatz enthält (FDP arn 25.10.2009 in Berlin, CDU und CSU jeweils arn 26.10.2009 in Berlin bzw. München). VgL "SPD gegen Konjunkturprogramme" in: Berlin-ünline vom 22.11.2001 (Zugriff: 20.02.2010). Es hieß in dem entsprechenden Beschluss, der auf die Solidaritätsbeschlüsse des Deutschen Bundestages vom 19.09.2009 (BT Drs 14/6920 v. 19.09.2001, S. 2) sowie die Entscheidung zur Beteiligung an OEF Bezug nimmt: ,,Die SPD unterstützt die genannten Beschlüsse von Bundestag und Bundesregierung. Sie dienen der notwendigen internationalen Zusammenarbeit beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus und für mehr Sicherheit in der Welt." (Quelle: Beschlussbuch Bundesparteitag 2001, S. 30, http://www.spd.de/de/pdf/pt-beschluessse/BeschlussbuchBPT2001. pdf; Zugriff: 28.01.2010) Die Berliner Zeitung schrieb dazu: ,,Der spannende Parteitag in Rostock: Es geht um die Frage, stimmt die Basis der Entsendung der Bundeswehr nach Afghanistan zu - oder nicht? Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und der grüne Parteivorstand hatten davon die weitere Existenz der rot-grünen Koalition abhängig gemacht. Und noch ein Problem beutelt die Friedenspartei: Mitgliederschwund: Mehr als 500 Mitglieder haben nach Informationen der BZ ihre Landesverbände seit den Terror-Anschlägen vom 11. September verlassen." ("Vor dem Rostocker Parteitag" in: BZ-Online vom 24.11.2001; Zugriff: 28.01.2010).
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
tens der Parteibasis und zu Parteiaustritten. 543 Es gelang der Parteiführungjedoch, die Mehrheit der Delegierten für einen Antrag zu bekommen, in dem das Abstimmungsverhalten der Fraktion gebilligt wurde. 544 Damit war der Fortbestand der Rot-Grünen Regierung gesichert. Denn im Falle eines Scheiterns der Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder hätte es vermutlich Neuwahlen gegeben. Die Situation kommentierte Erieh Böhme in der Berliner Zeitung wie folgt: "Schröder hätte es gleichgültig sein können, wie die Abstimmung ausgegangen ist. Hätte er sein Spielchen verloren und Neuwahlen gewonnen, wäre ein Wablsieg der SPD gewiss gewesen, ein Abschneiden der Grünen aber höchst ungewiss."""
Damit ist für die Phase der Erstentscheidungen festzustellen, dass die Parteien, die die Regierung SchröderlFischer trugen, hinter den Entscheidungen der Bundestagsfraktionen standen, bei den Grünen allerdings weniger um der Sachentscheidung willen, sondern vorrangig, um das rot-grüne ,,Projekt" nicht zu gefährden, also zum Machterhalt. Auf den nächsten SPD-Parteitagen war Afghanistan sporadisch und nur am Rande thematisiert worden. 2007 - nach Eintritt in die Große Koalition, in der die SPD mit dem Außenminister, dem Verteidigungsminister und der Ministerin für Wirtschaftliche Zusammenarbeit in der Bundesregierung "afghanistanrelevante" Ressorts besetzte - warb die Parteiführung - wie z.B. auf dem Parteitag vom 26.28.10.2007 in Hamburg - um breite Unterstützung für ihre Afghanistanpolitik. Anband eines umfassenden Initiativantrages wurden die von der Bundesregierung entwickelten und von der Fraktion in einer "Task Force Afghanistan" diskutierten konzeptionellen Vorstellungen, die im wesentlichen dem Afghanistan-Konzepts 2006 entsprachen, erörtert und von den Delegierten angenommen. 546 Die SPD als Partei war also im Kontext der Afghanistanentscheidungen als Akteur durchaus wahrnehmbar. Auch wenn Parteiführung bzw. Bundesregierung 543 544
545 546
Vgl. z.B. "Weiter Austritte wegen Afghanistan. Konflikt bei den Grünen" in: Berlin-Online vom 23.11.2001 (Zugriff: 28.01.2010). Es hieß in dem Antrag: "Wir akzeptieren, daß unsere Abgeordneten mehrheitlich der Bereitstellung von Einheiten der Bundeswehr zur Bekäropfung des internationalen Terrorismus zugestimmt haben. Wir halten es fIir richtig, daß die vorhandene Kritik an dem Einsatz, die in unserer Partei ihren Platz hat, in der Abstimmung zum Ausdruck gebracht wurde. Wir begrüßen, daß von der Bundestagsfraktion gemeinsam zivile Prioritäten im Kampf gegen den internationalen Terrorismus voran gebracht wurden." (Beschluss des 17. Parteitages von BÜDdnis 90/Die Grünen in Rostock zum Einsatz bewaffueter Streitkräfte der Bundeswehr im Kampf gegen den internationalen Terrorismus vom 24.125. November 2001, http://www.documentarchiv.de/brd/200l! beschluss-lIlUene-parteitag_1l25.html (Zugriff: 28.01.2010). Kommentar "Die Situation ist da" in: Berlin-0nline vom 17.11.2001 (Zugriff: 28.01.2010). Beschlussbuch Bundesparteitag 26.-28.10.2007, Initiativantrag 1 "Afghanistan: Eigenverantwortung stärken - internationale Verpflichtungen einhalten - Strategie anpassen", http://www. spd.de/de/pdf/pt-beschluessse/Beschlussbuch2007.pdf (Zugriff: 28.01.20 I0).
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
249
und Bundestagsfraktion letztlich ihren Kurs auf den Parteitagen bestätigt bekamen, so mussten sie sich der Diskussion mit der Parteibasis und damit demokratischer Kontrolle stellen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die neue SPD-Führung nach Eintritt der Bundestagsfraktion in die Opposition 2009 zunächst mit dem Gedanken spielte, die Haltung der Partei zum Afghanistaneinsatz in einer Mitgliederbefragung festzustellen. 54? Stattdessen wurde dann jedoch der Vorstandsentwurf eines Positionspapiers für eine ,,Afghanistanstrategie" nach Erörterung auf einer ,,Afghanistankonferenz" der Partei am 22.01.2010 an die Gliederungen der Partei zur Stellungnahme verschickt. 548 Auf diese Weise wurde erneut der Akteurscharakter der Partei deutlich. Wenige Wochen vor dem Hamburger Parteitag der SPD von 2007 hatte die Parteibasis von Bündnis 90IDie Grünen eine Sonderdelegiertenkonferenz zum Thema Afghanistan erzwungen, die der Parteiführung am 15.09.2007 die Gefolgschaft verweigerte und deren Antrag zum weiteren Vorgehen in Afghanistan ablehnte. 549 Stattdessen verabschiedeten die Delegierten einen Beschluss, in dem die Partei den Tornadoeinsatz in Afghanistan ablehnte und die Zustimmung großer Teile der Bundestagsfraktion zum Mandat für "falsch" erklärte. Eine Verlängerung des Tornado-Mandat oder dessen Integration in ISAF sollte die Fraktion ablehnen, ebenso die des Mandats von OEF. Einer Verlängerung von ISAF sollte sie nur zustimmen, wenn ein "Ausstieg aus der Gewaltspirale und eine Ablehnung der Aufstockung des deutschen Truppenkontingentes in Afghanistan" erfolge. 550 Bei der Abstimmung über das ISAF-Mandat am 12.1 0.2007 folgte die Mehrheit der Fraktion dieser Forderung, 28 Abgeordnete stimmten gegen das Mandat, nur 15 dafür. 551 Damit hatte die Partei Relevanz für die Afghanistanentscheidungen bewiesen. Die Bundestagsfraktion verließ die Linie der Zustimmung zu den 547
So schreibt ,,Die Zeit": "Die SPD kokettiert mit einer Mitgliederbefragung - offenbar, um sich politisch aus Afghanistan zurückzuziehen." ("So lange wie nötig" Zeit-Online vom 18.01.2010; Zugriff: 30.01.2010) 548 Das Papier erläutert Ziele und bisherigen Verlauf des Einsatzes, betont die Glaubwürdigkeit Deutschlands im Hinblick auf die weitere Beteiligung am internationalen Engagement, fordert jedoch einen Strategiewechsel hin zu mehr zivilen Anstrengungen, zum verstärkten Aufbau der afghanischen Sicherheitskräfte und zu einer Abzugsperspektive, wobei ein ,,Abzugskorridor" von 2013-2015 formuliert wird. (Quelle: http://www.spd.de/de/pdf/100 125_Afghanistanpapier. pdf; Zugriff: 30.01.2010). 549 Vgl. "Der Grlinen-GAU von Göttingen" in: Spiegel-Online vom 15.07.2007 (Zugriff: 05.05.2008), vgl. auch: ,,Debakel für Trittin & Co.", Berlin-Online vom 17.09.2007 (Zugriff: 29.01.2010). 550 Beschluss ,,Militärische Eskalation ist keine Lösung - Mit politischen Mitteln und zivilem Aufbau den Frieden in Afghanistan gewinnen!", Außerordentliche Bundesdelegiertenkonferenz 15. September 2007, Lokhal1e in Göttingen, http://www.grüne.de/cms/default/dokbin/197/197532. militaerische_eskalation_ ist_keine_Ioesu.pdf (Zugriff: 29.01.2010). 551 BT PlPr 15/119 vom 12.10.2007, S. 12375.
250
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Einsätzen, die in ihrer Regierungszeit und unter tatkräftiger Mitwirkung ihres damaligen Vorsitzenden, Außenminister Fischer, initiiert worden war. In den Augen der anderen Parteien hatte Bündnis 90IDie Grünen als möglicher künftiger Koalitionspartner damit allerdings an außenpolitischer Verlässlichkeit verloren. Die Berliner Zeitung kommentierte dieses unter dem Titel "Von grünen Siegen und Niederlagen" wie folgt: ,,Manchmal gibt es Siege, die im Moment ihres Triumphes schon das Scheitern in sich tragen. Der Sieg der grünen Basis über ihre Parteispitze auf dem Afghanistan-Parteitag ist dafür ein gutes Beispiel. Zwar ehrt es die Basis, wie entschlossen und respektlos sie ihre Haltung im Zweifel auch gegen die eigene Führung durchboxt. So viel Basisdemokratie gibt es in kaum einer anderen Partei. Und doch wurde einigen Delegierten schon kurz nach ihrem Triumph flau im Magen .... Der kiinftigen Regierungsflihigkeit der Grlinenjedenfalls hat die Rolle rückwärts in derAußenpolitik
enorm geschadet. Sie ist ein Signal des Rückzugs in die vermeintlich bequemere Opposition. "552
Im Kontext unserer Fragestellung ist dem Kommentator zuzustimmen, dass die Partei Bündnis 90IDie Grünen ein Akteur mit deutlich erkennbarem Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der Bundestagsfraktion war - allerdings erst, als diese in der Opposition war, wodurch die Effektivität der parteiinternen Kritik relativiert wurde.
6.3.2 Medien Die Diskursanalyse (Kap. 6.2) hat gezeigt, dass die Medien im Zuge der Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen erhebliche Relevanz besaßen. Während sie in den ersten Jahren der Einsätze "nur" überwiegend in der Rolle von Infonnationsverrnittlern waren, wirkten sie - beginnend ab 2006 und mit zunehmender Intensität ab 2008 - beim Agendasetting mit. Sie erreichten, dass die Frage "Krieg" oder "Nicht-Krieg" ab 2008 in der gesellschaftlichen Debatte einen zunehmend prominenten Platz einnahm. Maßgeblich hierfür dürfte das Aufgreifen der Thematik auch durch die Bild-Medien gewesen sein. Sie forderten in immer drängenderen Diskursbeiträgen die Positionen der Politik hinsichtlich der Legitimation und des Charakters der Einsätze heraus und erzeugten schließlich einen so starken öffentlichen Druck, dass die Regierung ihre Dominanz in dem Diskursstrang verlor und ihre Diskurspositionen schließlich veränderte. Darüber hinaus war es der investigative Journalismus, der nach der Bombardierung der TankIastwagen bei Kundus mehr und mehr Fakten an die Öffentlichkeit brachte, was u.a. zum Rücktritt von Bundesminister Jung führte.
552
"Von grünen Siegen und Niederlagen" in: Berlin-Dnline vom 17.09.2007 (Zugriff: 29.01.2010).
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
251
Damit unterstreichen die Entscheidungsprozesse zu den Afghanistaneinsätzen die in der Literatur beschriebene mögliche Relevanz der Medien für das Zustandekommen von politischen Entscheidungen. Letztlich waren sie der einzige Akteur, der - wenn auch spät - die Afghanistaneinsätze auf die politische Agenda befördern konnten - gegen den Konsens zwischen der Bundesregierung und einer "Ganz Großen Koalition" im Deutschen Bundestag, bestehend aus allen Fraktionen außer der Linken.
6.3.3 Wissenschaft und" Think Tanks" Die theoretischen Überlegungen zu den "nationalen Interessen" haben gezeigt, dass für deren Formulierung der Diskurs zwischen Politik und Wissenschaft essentiell ist. Von daher müsste die Wissenschaft eigentlich ein relevanter Akteur bei den Entscheidungsprozessen zu den Afghanistaneinsätzen gewesen sein. Die Skizze des Diskurses zum nationalen Interesse (Kap. 6.2.2.3) hat jedoch gezeigt, dass dieses hinsichtlich des Kernbereichs der Wissenschaft - Universitäten und Forschungsinstitute - nur in Ansätzen der Fall war. Allerdings gab es eine wesentlich stärkere Beschäftigung mit den Afghanistaneinsätzen auf Seiten der Politikberatungsinstitutionen, also der grundfinanzierten Einrichtungen, wie der SWP oder der parteinahen Stiftungen, hier vor allem der KAS und der FES. Zunächst ein kurzer Blick auf die SWP. Diese hat seit 2001 in ihren beiden Publikationsreihen "SWP-Studien" und "SWP-Aktuell" zusammen 24 Beiträge mit Bezug zu Afghanistan veröffentlicht (6 SWP-Studien, 18 SWP-Aktuell).S53 Die Themen beinhalteten z.T. reine Informationsvermittlung, in der Mehrzahl jedoch Analysen zu Einzelfragen aus dem Bereich der politischen, aber auch der militärischen Aspekte der Afghanistaneinsätze, die in der Regel mit Empfehlungen abschlossen. Bei der Darstellung der Informationslage 2001 (Kap. 5.1.1.5) war schon gezeigt worden, dass insbesondere die KAS und die FES schon bis 2001 einige Beiträge und Berichte über Afghanistan veröffentlicht hatten, da sie über Auslandsbüros in Kabul verfügten. Diese Informationsarbeit nahm in den folgenden Jahren mit wachsender Intensität zu. So weist die Homepage der FES 13 Publikationen in den Jahren 2002 - 2005 und weitere 26 von 2006-2009 aus. 554 • Bei der KAS fin-
553
554
Quelle: eigene Auswertung der Homepage http://www.swp-ber1in.org/ (Stand: 27.12.2009). Aus der Auflistung ist nicht ersichtlich, wie viele davon aus der Grundlagenforschung und wie viele aus Aufträgen der Politikberatung resultieren. Eigene Auswertung der Homepage http://www.fes.de/internationaVasien/inha1t/publ_afghanistan. php (Zugriff: 20.01.2010).
252
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
den sich 16 Veröffentlichungen bis 2005 und weitere 56 von 2006-2009. 555 Diese rein numerischen Aufzählungen enthalten die unterschiedlichste Art von Beiträgen, von Literaturhinweisen über Kurzberichte bis hin zu detaillierteren Analysen. Es ist methodisch nicht möglich, die Wirkung dieser Informations- und Forschungsarbeit auf die Entscheidungsprozesse zu ermitteln. Es bleibt nur der spekulative Rückschluss, dass es bei allen im Rahmen dieser Studie durchgeführten Analysen von schriftlichen oder mündlichen Äußerungen der Akteure, insbesondere auch in Interviews, keine Hinweise darauf gab, dass die Akteure Empfehlungen der "Think Tanks" direkt aufgegriffen, umsetzten oder durch diese erkennbar beeinflusst wurden. Dieses sei am Beispiel einiger SPW-Vorschläge illustriert: Schon sehr früh wurde der Vorschlag gemacht, dass die VN einen "hochrangigen politischen Mechanismus" zur Koordination der diversen Aktivitäten der Akteure in Afghanistan entwickeln müsse (vgl. Kühne 2001). Entsprechende Initiativen der Bundesregierung sind nicht bekannt. Der Vorschlag zur Modifizierung der parlamentarischen Kontrolle, insbesondere der Spezialkräfte (vgl. NoetzeVSchreer 2006 und 2007), wurde seitens der Parlamentarier unisono abgelehnt. Der dringende Rat an die Bundesregierung, dem Eskalationsdruck seitens der USA nicht nachzugeben (vgl. Maaß 2007 556), wurde - wie die Empirie zeigt - nicht befolgt. Und die Vorschläge zur Anpassung der Strategie in Richtung einer Übergabe der Verantwortung, einer Exit-Strategie und der Einbeziehung der Taliban in den politischen Prozess (vgl. Maaß 2007, dieselbe 2008, Ruttig 2007) flossen erst teileweise in die deutsche Politik ein, nachdem Präsident Obama am 02.12.2009 entsprechende Veränderungen der US-Strategie ankündigt hatte. Die Abschätzung der Wirkung der SWP aufgrund der Korrelation ihrer Vorschläge und der realen Entwicklungen kann jedoch nur eine Näherungslösung sein. Darüber hinaus wirkt die Stiftung auch nicht-öffentlich auf die politischen Entscheidungsprozesse ein. So antwortete der Leiter der Forschungsgruppe "Sicher555 556
Eigene Auswertung der Homepage http://www.kas.deIwf/deI71.4874/startJine.l.lines--.per--.page.10. sessiondata.suche/ (Zugriff: 30.01.2010). So kam Citha Maaß Anfang 2007 zu der eindentigen Empfehlung: ,,Aufgruod der positiven Erfahrungen der deutschen ISAF-Truppen mit ihren bisherigen bürgernahen Vorgehensweise sollte die deutsche Führung - in Abstimmung mit den anderen ISAF-Partnern - dem amerikanischen Druck widerstehen, das lSAF-Mandat zusehends robust auszuüben. Die Voraussetzungen für eine partnerschaftliche afghanische Eigenverantwortuog in dieser Region sind derzeit relativ gut. Um hier anzuknüpfen, könnte die Bundesregieruog ressortübergreifend im Frühsommer 2007 eine Regionalkonferenz in Mazar-i-Sharif oder Kunduz ausrichten, um gemeinsam mit Provinzvertretem der Kabuler ZentraIregieruog und Repräsentanten der lokalen Zivilbevölkerung eine Zwischenbilanz zu ziehen und längerfristige Entwicklungsstrategien für die neun nördlichen Provinzen zu erarbeiten." (Maaß 2007, S. 29)
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
253
heitspolitik" der Stiftung, Markus Kaim, auf die Frage des Autors, wie die Stiftung ihre Einflusschancen selbst beurteilt: "Wenn Sie unsere Empfehlungen neben die politischen Entscheidungen legen und diese dann vergleichen, ergibt sich tatsächlich ein disparates Bild, aber zum einen müssen Sie die zeitliche Dimension berücksichtigen: Unser Job ist es, eine Vielzahl von Optionen zu durchdenken und anzubieten. Es kann dann passieren, dass eine dieser Optionen erst sehr viel später aufgegriffen wird. Zum anderen ist Ihre Vermutung richtig, dass wir mit einer Vielzahl von nicht-öffentlichen Papieren und Beratungsgesprächen die Agenda mehr beeinflussen als Sie erkennen können. "SS7
Darüber hinaus ist von einem breit wirkenden indirekten Einfluss der Arbeit der Think Tanks auszugehen, nämlich über ihre Wirkung im gesellschaftlichen Diskurs. So wirken die politischen Stiftungen über eine Vielzahl von Veranstaltungen zur politischen Bildung in die Gesellschaft hinein. Und insbesondere die Arbeiten der SWP wurden und werden in Aufsätzen und Publikationen relativ häufig rezipiert. Ihre Mitarbeiter traten im Laufe der Zeit auch mehrfach als Experten in Interviews der TV-Nachrichtensendungen aufbzw. waren zu Gast in Talkshows, wodurch sie eine wesentlich intensivere Breitenwirkung in der öffentlichen Debatte erzielen konnten. 558 Markus Kaim wies auf eine zusätzliche Wirkung solcher Medienauftritte hin: "Wer in den öffentlich-rechtlichen Programmen die O-Töne liefert, genießt ein anderes Standing in Berlin, wird in andere Gremien eingeladen und dementsprechend auch mehr gehört. Das ist letztlich ein Spiel über Bande. "559
Diese mittelbaren Wirkungen der Think Tanks lassen sich allerdings noch weniger erfassen als die direkte Auswirkung auf die Akteure.
557
558
559
Schriftliche Antwort vom 26.02.2010. Die Fragen des Autors lauteten: "Wie bewerten Sie selbst Ihre Einfiusschancen auf die deutsche Politik? Ist mein Eindruck richtig, dass die Akteure ziemlich wenig auf die SWP ,hören' oder gibt es noch andere für den Außenstehenden nicht zu erkennende Einfiusswege (z.B. unmittelbare Beratung von Ministerien, Abgeordneten bzw. deren Mitarbeiter, Teilnahme an Hearings etc.)?" Kairn nannte auch konkrete Beispiele der Beratung von Akteuren vor der Londoner Afghanistankonferenz im Januar 2010, die jedoch aufgrund der "institutionell geforderten Vertraulichkeit" hier nicht zitiert werden können. So z.B. Markus Kaim in denARD-Tagesthemen am 07.09.2009 (zu den Folgen des Luftangriffs auf den Tanklastwagen bei Kundus), am 14.12.2009 (zum Charakter des deutschen Einsatzes) oder Citha D. Maaß in der Phoenix-Runde am 07.10.2008 (zur Mandatserweiterung für ISAF) sowie in denARD-Tagesthemen vom 24.01.20 I0 (zum Vorschlag eines ,,Aussteigerprogramms" für "gemäßigte Taliban"). Schriftliche Antwort vom 26.02.2010.
254
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
6.3.4 Verbände Bei der Übersicht über potentielle Akteure (Kap. 4.1) war skizziert worden, dass die Prüfung auf Relevanz weiterer Akteure vor allem auf zwei Bereiche konzentriert werden sollte: zum einen auf den Deutsche Bundeswehrverband (DBwV), der als Berufsverband ca. 210.000 Soldaten, Reservisten, Ehemalige und Hinterbliebene der Bundeswehr vertritt,560 zum anderen aufNichtregierungsorganisationen (NRO), dabei schwerpunktmäßig auf den "Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.Y." (VENRO) als Interessenvertretung von 120 deutschen NRO.561 6.3.4.1 Deutscher Bundeswehrverband (DBwV) Der DBwV ist nach seinem eigenen Selbstverständnis keine Gewerkschaft, sondern eine "Spitzenorganisation aus eigenem Recht". Nach seiner Satzung hat er die Aufgabe, "die allgemeinen, ideellen, sozialen und beruflichen Interessen seiner Mitglieder sowie ihrer Familienangehörigen und Hinterbliebenen" zu vertreten. 562 Aus dieser Umschreibung ergibt sich implizit, dass Einsatzbelange nicht in seinen Wirkungsbereich fallen. Allerdings betont der Verband, dass er sich wegen der unmittelbaren Folgen von sicherheits- und verteidigungspolitischen Entscheidungen für die Bundeswehrangehörigen berufen fühlt, sich an der sicherheits- und verteidigungspolitischen Debatte in Deutschland und Europa zu beteiligen. 563 Demzufolge gab es während der gesamten Zeit der Afghanistaneinsätze eine Vielzahl von Meinungsäußerungen und Initiativen des Verbandes bzw. seiner Repräsentanten. Diese deckten das gesamte Spektrum ab, von der "Kemzuständig560 561 562 563
Vgl. Flyer DBwV http://www.dbwv.delCI25747AOOIFF94B/vwContentByKey/W27KDFQJl64DBWNDE/ $FILE/DBwV]lyerOl09.pdf (Zugriff: 01.02.2010). Vgl. Homepage von VENRO, http://www.venro.org/venroO.html(Zugriff: 01.02.2010). Quelle: http://www.dbwv.de/CI25747AOOl FF94B/vwContentByKey/ W27JHJZ4383DBWNDE/ $FILE/satzung_2005.pdf (Zugriff: 02.02.20 I0). Auf der Homepage heißt es zum Selbstverständnis vollständig: ,,Der Deutsche BundeswehrVerband ist die unabhängige Einheits- und Spitzenorganisation zur Vertretung der allgemeinen, ideellen, sozialen und beruflichen Interessen aller aktiven und ehemaligen Angehörigen deutscher Streitkräfte, der Zivilbeschäftigten der Bundeswehr, der Wehrübenden und Dienstleistenden sowie ihrer Familienangehörigen und Hinterbliebenen gegenüber Parlament, Regierung, Gesellschaft und Öffentlichkeit. ... Sicherheits- und verteidigungspolitische Entscheidungen haben unmittelbare Folgen für die Menschen in der Bundeswehr. Der Deutsche BundeswehrVerband beteiligt sich aus diesem Grund an der sicherheits- und verteidigungspolitischen Debatte in Deutschland und Europa und wird damit seinem Selbstverständnis als ,institutionalisierter Staatsbürger in Uniform' gerecht." (http://www.dbwv.de/CI2574E8003E04C8/vwContentByKey/W27KPHPV784DBWNDE; Zugriff: 02.02.2010).
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
255
keit" fiir allgemeine, ideelle, soziale und berufliche Interessen über Meinungsäußerungen zu den grundsätzlichen sicherheitspolitischen Aspekten der Einsätze bis hin zu konkreten Vorschlägen zu Größe und Ausstattung der Bundeswehrkontingente in Afghanistan. Die Einflussmöglichkeiten des Verbandes sind in seinem ,,Kernbereich" institutionell dadurch gesichert, dass er bei relevanten Gesetzgebungsvorhaben als eine der Spitzenorganisationen von der Bundesregierung angehört wird - nicht hingegen bei Entscheidungen zu den Auslandseinsätzen. Darüber hinaus betreibt er Lobbying wie alle Interessengruppen. Seine Verankerung über Mitgliedschaften in dem fiir Afghanistan relevanten parlamentarischen Bereich ist jedoch sehr begrenzt. So gaben von den Mitgliedern des Verteidigungsausschuss in der 14. Legislaturperiode nur drei Abgeordnete an, Mitglied im DBwV zu sein, in der 15.17. Wahlperiode war es sogar nur jeweils einer. Und im Auswärtigen Ausschuss gab von der 14.-16. Legislaturperiode kein einziger Abgeordneter an, Mitglied im Verband zu sein, in der 17. Wahlperiode war es nur einer. 564 Von daher wirkt der Verband - neben dem fiir Lobbying üblichen Bereitstellen von Informationen sowie Gesprächen mit Abgeordneten und Ministerialbeamten - über Presseerklärungen und vor allem Äußerungen seiner Vorstandsmitglieder auf den politischen und gesellschaftlichen Diskurs ein. Dabei traten vorrangig der langjährige Verbandsvorsitzende, Oberst Bernhard Gertz, mit sehr pointierten, kritischen und z. T. auch polemischen Aussagen,565 sowie sein Stellvertreter, Oberstleutnant Ulrich Kirsch, in der Öffentlichkeit hervor. (Ulrich Kirsch wurde ab Ende 2008 Nachfolger und wenig später ebenfalls zum Oberst befördert). Beispiele fiir die Aktivitäten im Kernbereich des Verbandsauftrags sind ein massives Engagement fiir die Anpassung der Rechtsgrundlagen an die Besonderheiten von Auslandseinsätzen. Dabei ging es zunächst um die Versorgung von Soldaten, die in Auslandseinsätzen zu Schaden kommen. Der Verband war hier äußerst erfolgreich beim Durchsetzen des Einsatzversorgungsgesetzes566 und des 564 565 566
Quelle: eigene Auswertung der Homepage www.bundestag.de (Stand: 02.02.2010). Vgl. z.B. "Chef des Bundeswehr-Verbands nennt Scharping ,Witzfigur''', (Welt-Online vom 16.02.2002; Zugriff: 02.02.2010). Gesetz zur Regelung der Versorgung bei besonderen Auslandsverwendungen (EinsVG) vom 21.12.2004, § 2, ZifI. 9. Mit diesem Gesetz wurde rückwirkend die Verwaltungspraxis beendet, dass bei Unfällen in Auslandseinsätzen - die ja nach damaliger Auffassung der Bundesregierungen kein Krieg waren - geprüft wurde, ob der Unfall kausal auf ,,Einsatz" zurückzufiihren war, wodurch erhöhte Entschädigungsansprüche entstanden, oder ob ein solcher Unfall nicht auch in Deutschland hätte passieren können, wodurch dann die Entschädigungsleistungen wie bei einem Inlandsunfall - also niedriger - ausfielen. Es gelang dem Verband, die politische Leitung des Bundesverteidigungsministeriums gegen den Widerstand der Ministerialbürokratie zu überzeugen. Der Verbandsvorsitzende, Oberst Gertz, schilderte auf einem Kolloquium der "ClausewitzGesellschaft" in Berlin am 21.02.2004 - in Anwesenheit des zuständigen Abteilungsleiters des
256
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Einsatzweiterverwendungsgesetzes567 • Und nach dem Kundus-Vorfall forderte er eine "rechtliche KlarsteIlung" für die im Einsatz in Afghanistan befindlichen Soldaten. In der Verbandszeitschrift formulierte deren Herausgeber: "Wer nach Afghanistan entsandt wird, darf nicht den Staatsanwalt im Rucksack haben. Bundesregierung und Bundestag, die es jahrelang versäumt haben, den Sinn des Afghanistan-Einsatzes verständlich zu machen, die die Augen verschlossen haben vor kriegsähnlichen Zuständen im Raum Kundus, müssen die Einsatzregeln - und damit die Rechte der Soldaten - an die Realität anpassen.'''·'
Diese Forderung reihte sich damit ein in die Bemühungen des Verbandes der letzten Jahre zur Anpassung der Rechtsgrundlagen an die Besonderheiten von Auslandseinsätzen. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Forderung in dieser Form erst nach der Veränderung in der Diskursposition der Bundesregierung in Folge des Kundus-Vorfalls erhoben wurde. Noch im Oktober richtete sich die Forderung "nur" darauf, "die deutsche Justiz ,einsatzfest'" zu machen, wie der Verbandsvorsitzende lTIrich Kirsch, in seinem Leitartikel in der Verbandszeitschrift formulierte. 569 Neben diesen Aktivitäten des DBwV in seinem ,,Kernbereich" beteiligte der Verband sich mit einer Fülle von Meinungsäußerungen an der sicherheitspolitischen Debatte und äußerte sich auch häufig sehr konkret zu Einzelfragen der Ausstattung und Ausrüstung der Soldaten in Afghanistan. Allerdings ist dabei über die Jahre hinweg keine klare Linie zu erkennen. Einerseits argumentierte der Verband im Sinne einer Deeskalation durch Abbruch des Einsatzes oder Ablehnung von Truppenaufstockungen, andererseits wirkte er eskalierend mit Vorschlägen zur Verstärkung der Einsatzkontingente durch mehr Soldaten und/oder schwerere Bewaffnung. So sprach sich der Verbandsvorsitzende nach dem Anschlag auf den Bus in Kabul am 07.06.2003 für einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan aus. 570
567
568 569
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Verteidigungsministeriums, der die Darstellung bestätigte - seine diesbezüglichen erfolgreichen Bemühungen bei Verteidigungsminister Struck (Quelle: eigenes Tagebuch vom 21.02.2004). Gesetz zur Regelung der Weiterverwendung nach Einsatzunfällen (Einsatz-Weiterverwendungsgesetz - EinsatzWVG) vom 12.12.2007. Mit diesem Gesetz wurde eine Weiterbeschäftigungsmöglichkeit für Soldatinnen und Soldaten geregelt, die einen Einsatzunfall erlitten haben. Vor Inkrafttreten des Gesetzes mussten sie bei bleibenden gesundheitlichen Schäden wegen Dienstunfahigkeit entlassen werden. ,,Die Bundeswehr" - Magazin des Deutschen Bundeswehrverbandes, Nr. 112010, S. 5. Dieses präzisierte der Verband durch einen entsprechende Beschluss wie folgt: ,,zur Verfolgung von Straftaten deutscher Soldaten im Ausland müssen die Ermittlungen in der Hand einer spezialisierten Staatsanwaltschaft konzentriert werden. Zudem sollte ein besonderes Strafgericht des Bundes ... eingerichtet werden. Dazu muss ein Ausführungsgesetz zu Artikel 96 GG Abs. 2 erlassen werden." (,,Die Bundeswehr" - Magazin des Deutschen Bundeswehrverbandes, Nr. 12/2009, S. 23) "Wenn sich die Anschläge aufunsere Soldaten häufen, müssen wir ernsthaft in Erwägung ziehen, unser Engagement in Afghanistan zu beenden." (Beitrag in der Verbandszeitschrift, zit. nach
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
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Und in der Diskussion um einen evtl. Einsatz deutscher Soldaten auch im Süden des Landes verlangte der stellvertretende Verbandsvorsitzende Ulrich Kirsch, in einem Zeitungsinterview, man müsse "auch mal über einen Einstieg in den Ausstieg nachdenken."S71 Auch lehnte der Verband die Tornado-Entsendung ab. Der Pressesprecher Wilfried Stolze wurde nach einem Hörfunkinterview mit den Worten zitiert: "Wir wollen nicht in die falsche Strategie der Briten und Amerikaner hineingezogen werden. "572 Demgegenüber forderte der Bundesvorsitzende im April 2008 eine Aufstockung des deutschen Afghanistankontingents aufmindestens 4.000 Soldaten. "Alles andere sei militärisch nicht zu verantworten", wird er in der Presse zitiert. 573 Ende 2009 schließlich lehnte Ulrich Kirsch die diskutierte weitere Truppenaufstockung ab, solange nicht bilanziert worden sei, "wo wir in Afghanistan stehen - und zwar ohne Schönfärberei". Das gelte insbesondere auch für den zivilen Einsatz. 574 Die Thematik des Missverhältnisses zwischen militärischen und zivilen Anstrengungen hatte Kirsch bereits ein Jahr zuvor aufgegriffen, als er auf die Verknüpfung des militärischen Einsatzes und der Defizite im zivilen Aufbau sowie in der Polizeiausbildung hinwies. 575 Besonders die letzteren kommentierte Bern"Bundeswehr-Verband fordert Rückzug aus Afghanistan" in: Welt-Online vom 27.06.2003; Zugriff: 20.01.2010) 571 Die Berliner Zeitung zitierte ihn weiter: ,,zudem müssten die deutschen Interessen so definiert werden, dass jeder in der Bundesrepublik wisse, welches die Rahmenbedingungen und die Aufgaben der Bundeswehr seien. Insgesamt sei eine Diskussion der sicherheitspolitischen Interessen überflillig." ("Berlin wehrt sich gegen Einsatz in Süd-Afghanistan" in: Berlin-Online vom 29.08.2006; Zugriff: 17.07.2008) 572 http://de.news,yaboo.com/21122006/3/bundeswehr-tornados-afghanistan.htrnl vom 21.06.2006 (Zugriff: 21.12.2006). 573 ,,Bundeswehrverband fordert mehr Soldaten fIlr Afghanistan" in: Welt-Online vom 23.04.2008 (Zugriff: 26.06.2008). Und zwei Monate später wird Oberst Bernhard Gertz mit der Aussage zitiert, "die AfghanistanPolitik der Bundesregierung sei zu zögerlich...Eine Entscheidung zur Truppenaufstockung im Oktober komme zu spät ... ,Wir bräuchten es jetzt' betonte er und verwies darauf, dass die Bundeswehr bereits im Juli das Kommando der Schnellen Eingreiftruppe übernehmen sollte." ("Grüne und Bundeswehrverband üben Kritik" in: Welt-Online vom 25.06.2008; Zugriff: 26.06.2008) 574 Der "Spiegel" berichtet über einige Presseinterviews des inzwischen zum Deuen Vorsitzenden gewählten Oberst Ulrich Kirsch: "Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes Ulrich Kirsch hat sich deutlich gegen die Entsendung von mehr deutschen Soldaten nach Afghanistan ausgesprochen; ,Für die Anhebung der Mandatsobergrenze sehe ich im Moment keine Notwendigkeit' sagte er dem ,Kölner Stadtanzeiger' . Das richtige Vorgehen sei, einmal wirklich zu bilanzieren, ,wo wir in Afghanistan stehen - und zwar ohne Schönflirberei'. Auf Grundlage dieser Erkenntnis müssten die Schlussfolgerungen gezogen werden. Das gelte nicht nur fIlr den militärischen, sondern insbesondere fIlr den zivilen Einsatz". ("Bundeswehrverband lehnt Truppenaufstockung ab" in: Spiegel-Online vom 04.11.2009; Zugriff: 04.11.2009). 575 Vgl. ,,Bundeswehr-Verband fordert ziviles Mandat" in: Stern-Online vom 07.10.2008 (Zugriff 09.1 0.2008).
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
hard Gertz mit der Formulierung, die EU und Deutschland hätten in Afghanistan "erbärmlich versagt".576 Nach dem Anschlag bei Char Dara am 22.10.2008, bei dem zwei Soldaten getötet worden waren, kam es zu einer Kontroverse zwischen dem Verband und der Bundesregierung. Ulrich Kirsch, zu der Zeit noch stellvertretender Vorsitzender, hatte in einem Zeitungsinterview erklärt: ,,Die Bundesregierung trägt eine Mitverantwortung. Die heutige Situation hätte durch mehr ziviles Engagement verhindert werden können. "511
In der Berichterstattung in einigen Medien wurde daraus der Vorwurf der ,,Mitschuld",578 was die Bundesregierung zu einer scharfen Reaktion veranlasste. 579 Der Verband stellte daraufhin in einer Interpretation der Aussage von Oberstleutnant Kirsch fest, "damit sei eine Mitverantwortung für die Gesamtsituation gemeint gewesen, nicht für den Anschlag".580 Auch in Fragen von Ausrüstung und Bewaffnung waren vom Verband kritische Worte zu hören. So kritisierte Ulrich Kirsch Mängel in der Ausrüstung der Soldaten,58l ein Aspekt, der auch in den Ende 2009 formulierten Forderungen des Verbandes explizit angesprochen wurde. 582 Kirsch ging jedoch noch weiter und forderte sogar konkrete Ausrüstung, so die Zuführung schwerer Bewaffnung. 583 576 577 578
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582 583
"Bundeswehr-Verband fordert ziviles Mandat" in: Welt-Dnline vom 18.10.2007 (Zugriff: 21.11.2009). ,,Die Regierung trägt eine Mitverantwortung" in: Süddeutsche- Online vom 22.10.2008 (Zugriff 24.10.2008). So z.B. im Bericht der Süddeutschen Zeitung ,,Die Regierung trägt eine Mitverantwortung", in dem es heißt: ,,Der Bundeswehrverband hat der Bundesregierung eine Mitschuld ... gegeben." (in: Süddeutsche-Dnline vom 22.10.2008; Zugriff 24. 10.2008). Gleichlautend auch im Bericht ,,Bundeswehrverband gibt Regierung Mitschuld am Tod zweier Soldaten" in: MV Regio vom 22.1 0.2008 (Zugriff: 02.02.2010). Der Spiegel berichtete: ,,Regierung und Bundeswehrverband haben sich ein heftiges Wortgefecht geliefert: Das Kabinett wehrt sich gegen Vorwürfe, für das Attentat auf deutsche Soldaten in Mghanistan mitverantwortlich zu sein - nichts als ,geschmackloses Gerede' stecke dahinter. Nun bemüht sich der Verband um Mäßigung." (,,Regierung weist Vorwurf der Mitschuld scharf zurück" in: Spiegel-Online vom 22.10.2008; Zugriff: 02.02.2010). http://www.dbvw.de/dbwv/interd.nsfldIHP_dpal (Zugriff: 22.10.2008). "Mit Blick auf den Mittwoch in Mghanistan getöteten BundeswehrSoldaten beklagte Verbands-Vize Kirsch: ,Es gibt Defizite bei der Ausrüstung, weil das Gerät nie für einen Einsatz in Mghanistan gedacht war. Aber es ist eine Menge für eine bessere Ausrüstung getan worden. Das darf nicht nachlassen'." ("Bundeswehrverband fordert ziviles Mandat" in: Spiegel-Dnline vom 29.08.2008; Zugriff, 21.1 0.2008) ,,Die Bundeswehr" - Magazin des Deutschen Bundeswehrverbandes, Nr. 1212009, S. 23. Er erläuterte in einem Interview bei der Deutschen Welle-TV: "Und insofern kommt es jetzt darauf an - und ich habe das gerade in diesen Tagen gefordert - dass man natürlich über Waffen nachdenkt, mit denen man diejenigen unterstützen kann, die dort unterwegs sind im Rahmen von Aufklärungsaufträgen oder Patrouillen, wie es heißt. Und das wäre z.B. auch ein Artillerie-
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
259
Inwieweit solche Initiativen mit dem satzungsgemäßen Auftrag des Verbandes noch im Einklang stehen, ist sicher diskussionsbedürftig. Schließlich beteiligte sich der Verband auch am Diskurs über ,,Krieg" oder ,,Nicht-Krieg". Auch in diesen Äußerungen ist keine klare Linie zu erkennen. Zunächst stimmte der Verband in den Chor der Kritiker an der Diskursposition der Regierung ein. 584 Nach der Klarstellung vom 03.11.2009 durch Verteidigungsminister zu Guttenberg, es handele sich um ,,kriegsähnliche Zustände", lobte Ulrich Kirsch: "Wir sind dem Minister sehr dankbar, dass er die Dinge beim Namen nennt. Dadurch wird der Ernst der Lage deutlich. Unsere Frauen und Männer, die täglich dort im Kampf stehen, sagen, das ist Krieg. "585
Andererseits beteiligte er sich danach selbst auch noch an semantischen Spitzfindigkeiten, als er in einem Zeitungsinterview Ende 2009 eine klare Aussage zum Einsatzcharakter vermissen ließ.586 Fragt man, welche Wirkung die Fülle dieser Meinungsäußerungen und Initiativen, die nicht immer eine klare Linie aufwiesen, auf die Entscheidungsprozesse für die Afghanistaneinsätze hatten, so kann man feststellen: im Gegensatz zu den Aktivitäten im ,,Kembereich" des Auftrags des Verbandes, wo er sehr erfolgreich war, scheinen die Beiträge zum sicherheitspolitischen und gesellschaftlichen Diskurs wenig Durchschlagskraft entwickelt zu haben. Wo der Verband für Abzug oder Nicht-Aufstockung der Truppen plädierte, wurde aufgestockt. Wo er sich für eine schnellere Aufstockung aussprach, behielt die Bundesregierung ihren ursprünglichen Zeitplan bei. Die Forderungen nach einem zivilen Mandat bzw. nach Verstärkung des zivilen Engagements waren einige unter vielen und genau-
584
585 586
geschütz, das man ins Lager hineinstellt. Dazu bietet sich die Panzerhaubitze 2000 an, um dann eben die Bewegungen außerhalb des Lagers mit Feuer zu überwachen, wie wir Soldaten sagen, und dann halt eben auch den Gegner, der dort Hinterhalte legt, entsprechend wirksam bekämpfen zu können." (Sendung "Einsatz am Hindukusch: der verdrängte Krieg?", Interviewer: Christoph R. Hörstel, DW-TV vom 29.06.2009; eigene Transkription) So schreibt die Welt anlässlich der Verabschiedung von Oberst Bernhard Gertz aus dem Amt des Verbandsvorsitzenden: "Er attackierte Jung heftig, wenn dieser Begriffe wie ,Krieg' und ,Gefallene' im Zusammenhang mit Mghanistan ablehnte. Da werde ,verschleiert, da wird die Wahrheit verschwiegen' ließ Gertz die Öffentlichkeit wissen." (,,Der Oberst, der sich in der Politik wenig Freunde machte" in: Welt-Online vom 03.08.2008; Zugriff: 04.12.2008) Interview mit der Mitteldeutschen Zeitung, zit. nach ,,Bundeswehrverband preist Guttenbergs Einlenken" in: Welt-Online vom 03.11.2009 (Zugriff: 04.11.2009). Er führte aus: ,,Ich halte nichts von einem Krieg um Worte. Aber: Soldaten, auch deutsche, sind in Afghanistan eingesetzt, weil sie mit Waffen Dinge erzwingen können, die andere nicht erzwingen können, sonst hätte auch das Technische Hilfswerk genügt. .. Aus unserer Sicht ist die Situation auch im Norden Afghanistans über einen langen Zeitraum schöngeflirbt worden." Und nach längeren weiteren Ausführungen findet man auch bei ihm keine klare Bezeichnung des Einsatzes als "Krieg" (Interview "Gemäßigte Taliban mit ins Boot holen", Bonner GeneralAnzeiger vom 19.12.2009, S. 3.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
so ergebnislos wie die anderen. Und im Diskurs um die Legitimation der Einsätze bzw. deren Charakter argumentierte der Verband im Rahmen der jeweiligen Diskurspositionen der Medien, ohne eigene deutliche Impulse zu setzen oder gar die Meinungsführerschaft zu erobern. 6.3.4.2 Nichtregierungsorganisationen (NRO) Wie oben angesprochen ist die Zahl der in Afghanistan tätigen NRO so groß, dass eine Einzelbetrachtung von evtl. Einflussmöglichkeiten auf die Afghanistanentscheidungen in Deutschland ausscheidet. Daher sollen die Möglichkeiten und Aktivitäten des "Verbandes Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen" (VENRO) in den Mittelpunkt der folgenden Analyse gestellt werden. Aktivitäten einzelner (großer) Organisationen werden ergänzend am Rande erwähnt. VENRO hatte sich schon in den Anfangsjahren der Afghanistaneinsätze der Bundeswehr zu Fragen der Zusammenarbeit zwischen Militär und Entwicklungshilfeorganisationen zu Wort gemeldet. Bereits die ersten Äußerungen machten deutlich, dass die militärischen Aktivitäten, die unter dem Stichwort "Civil Military Cooperation" (CIMIC) laufen, von den NRO mit großem Misstrauen betrachtet wurden. So wurde in einem Positionspapier aus dem Jahre 2003 daraufhingewiesen, dass CIMIC nach dem Verständnis der NATO eine einsatzbegleitende zivile Unterstützungsmaßnahme für militärische Operationen mit dem Hauptzweck des Schutzes der eigenen Truppen ("force protection") ist (vgl. VENRO 2003, S. 8). Diese Sicht von VENRO trifft im Wesentlichen ZU. 58? Daher wertete VENRO das PRTKonzept, in das die Bundeswehr ab 2004 mit einstieg, als "neuen Präzedenzfall für die unzulässige Vermischung militärischer Zielsetzungen mit humanitärer Hilfe" (ebenda, S. 13). Die Folgerungen für die Zusammenarbeit wurden in diesem Positionspapier jedoch noch "verhalten" formuliert. Denn es hieß darin: ,,Die deutschen Hilfsorganisationen schließen die Zusammenarbeit mit Streitkräften im Kontext der humanitären Hilfe nicht grundsätzlich aus." (ebenda, S. 18)
Allerdings wurden Bedingungen formuliert, die den zivilen Organisationen die Definitionsmacht über den Begriff der "humanitäre Hilfe" und weitestgehende Unabhängigkeit sichern sollten. Und für den Fall, dass diese nicht erfüllt wären, hieß es pointiert:
587
So heißt es in dem entsprechenden NATO-Dokument MC 411/1: "The long-term purpose of CIMIC is to help create and sustain conditions that will support the achievement of Alliance objectives in operations." (zit. nach Rehse 2004, S. 30)
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
261
,,Hilfsorganisationen müssen auf eine Zusammenarbeit mit den Streitkräften verzichten, wenn dabei ihre Arbeit und ihr Selbstverständnis durch politische oder militärische Zielsetzungen geflihrdet und damit ihre Unabhängigkeit und Neutralität infragegestellt wird." (ebenda, S. 18 f.)
In einem Arbeitspapier zu Kriterien für humanitäre Hilfe betonte der Verband 2005 in gleichem Sinne, dass andere Akteure, wie z.B. das Militär "aufgrund ihrer jeweiligen Mandate, Ziele oder Arbeitsmethoden eine fundamental divergierende Arbeits- und Vorgehensweise (haben) und ... damit das Prinzip der Unparteilichkeit (wie auch der Unabhängigkeit) nicht gewährleisten bzw. erfüllen (können)." (VENRO 2005, S. 6)
In einem Positionspapier von 2007 qualifizierte der Verband "das Vermischen von ziviler und militärischer Hilfe, wie es sich beispielsweise im PRT-Konzept zeigt", als "einen zentralen Problemkreis"588 und forderte: ,,Die ISAF-Verbände sollen sich zukünftig ausschließlich auf ihre Kernaufgabe, die militärische Friedenssicherung konzentrieren und den Wiederaufbau zivilen Akteuren überlassen." (VENRO 2007, S. 2 f.)
Diese prägnante Kritik am PRT-Konzept wurde in einem Positionspapier von 2009 wiederholt, in dem die zunehmende Gefährdung von NRO wegen der nicht eindeutigen Unterscheidbarkeit von militärischen und humanitären Akteuren herausgestellt wurde. Und es wurde daraufhingewiesen, dass einige NRO ihre Hilfe in Afghanistan unter anderem mit dem Hinweise eingestellt hätten, "das aufgrund der Instrumentalisierung des humanitären Mandats durch das Militär eine unabhängige Hilfe nicht mehr leistbar" sei. Daher unterstrich der Verband nachdrücklich, dass seitens der Hilfsorganisationen "die institutionalisierte zivil-militärische Zusammenarbeit in Form der PRT abgelehnt" werde (VENRO 2009, S. 6). Noch weitergehende Folgerungen zog die Welthungerhilfe. In einem "Standpunkt" formulierte sie 2008 für das Zusammenwirken mit der Bundeswehr dezidierte Trennungsforderungen: klare äußerliche Unterscheidbarkeit, Betreten von NRO-Gelände durch Bundeswehrpersonal nur nach Anmeldung und ohne Waffen, Informationsaustausch nur außerhalb von NRO-Gelände, keine Bezeichnung von NRO als Partner der Bundeswehr, keine Durchführung von humanitären Aktivitäten durch die Bundeswehr (vgl. Welthungerhilfe 2008, S. 10). Diese Positionierung der Hilfsorganisationen ist der Hintergrund für die Klagen seitens des Militärs über unzureichende Koordination und Zusammenarbeit.
588
Daneben werden noch sechs weitere ,,zentrale Problemkreise" genannt: (1) Verschlechterung der Sicherheitslage; (2 )schlechte Koordination der Akteure; (3) Versagen der afghanischen Regierung; (4) Kultur der Gewalt; (5) Flüchtlingsprobleme, Drogenökonomie, Korruption; (6)Armut.
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
Die NRO argumentierten jedoch nicht nur im Hinblick aufihre reklamierte Eigenständigkeit gegenüber der Bundeswehr. Sie äußerten sich auch dezidiert zu den grundsätzlichen Fragen der Afghanistaneinsätze und nahmen damit am gesellschaftlichen Diskurs teil. So kritisierte die Welthungerhilfe in ihrem Jahresbericht 2004: "VomAnti-Terror-Programm der Bundesregierung mit 1,53 Milliarden Euro ging rund die Hälfte an die Bundeswehr, an das Entwicklungshilfe-Ministerium gerade einmal 102 Millionen." (Welthungerhilfe 2004, S. 14)
In der Debatte um die Tornado-Entsendung argumentierten mehrere Hilfsorganisationen auf einer Pressekonferenz gegen die Pläne der Bundesregierung. Die Berliner Zeitung titelte "Gefahr durch deutsche Tornados - Hilfsorganisationen in Afghanistan warnen vor Einsatz der Aufklärungsmaschinen der Bundeswehr" und zitierte in dem Artikel Sprecher von Medico International, Misereor und Help.589 Noch allgemeiner kritisierte VENRO im gleichen Jahr anlässlich der Diskussionen um die Verlängerung der Mandate für ISAF und OEF das Missverhältnis zwischen militärischen und nicht-militärischen Anstrengungen und forderte die Beendigung der Beteiligung an OEF.590 Zur gleichen Thematik hielten die Hilfsorganisationen eine Pressekonferenz ab, auf der Vertreter von VENRO, der Welthungerhilfe und von Medico International ihre Kritikpunkte aus den diversen Positionspapieren einer breiteren Öffentlichkeit präsentierten. 591
6.3.5 Militärische Führung In der Skizze der Akteure (Kap. 4.1) war herausgearbeitet worden, dass im Rahmen der Untersuchung national die Ebene des Generalinspekteur bzw. der Inspekteure der Teilstreitkräfte der Bundeswehr als potentiell relevant betrachtet werden sollen, und multinational die militärstrategische Ebene der NATO - repräsentiert durch das "Allied Command Operations" in Mons, Belgien, die operative Ebene - hier das ,,Allied Joint Forces Command (JFC)" in Brunssum, Niederlande - sowie der Befehlshaber von ISAF in Kabul. 589 590
591
"Gefahr durch deutsche Tornados" in: Berlin-0nline vom 07.02.2007 (Zugriff: 17.07.2008). Es heißt in dem Positionspapier: ,,Aus Sicht der deutschen NRO sollte die ,Operation Enduring Freedom' so schnell wie möglich eingestellt werden, weil sie sich politisch als kontraproduktiv herausgestellt hat. Da Versöhnung und Friedenskonsolidierung nicht von außen, sondern nur von innen gelingen können, ist politischen und polizeilichen Maßnahmen Vorrang einzuräumen, denen die lSAF unterstützend zur Seite stehen sollte. Der Wiederaufbau von unabhängigen afghanischen Militär- und Polizeiverbänden muss daher entschlossen und mit Rücksicht auf die ethnische Heterogenität des Landes vorangetrieben werden." (VENRO 2007, S. 1) Der Spiegel berichtete über die Veranstaltung unter dem Titel "NGO halten Bundeswehrkonzept fiir verfehlt". Spiegel-Online vom 08.10.2007 (Zugriff: 06.05.2009).
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
263
Da die Erstentscheidungen nicht im Bündnis erfolgten, sondern rein national, ist 2001 allein der Einfluss der nationalen Führung zu betrachten. Ab 2003 erfolgte die Einsatzführung von ISAF dann durch die NATO-Kommandostruktur. Der Bundeswehrführung oblag damit lediglich die Wahrnehmung verbleibender nationaler Führungsaufgaben. Daher sind nach 2003 potentielle Impulse zunächst auf der NATO- und erst danach auf der nationalen Ebene zu beleuchten. 6.3.5.1 Nationale Führung und Erstentscheidungen In der kritischen Literatur von Seiten der Linken wird die These vertreten, dass die Bundeswehrführung - d.h. ..die militärische Führung und Teile der politischen Führung eine eigene Marschroute verfolgen. Sie ist offensichtlich die ausschlaggebende auch für das Kabinett und den Bundestag beziehungsweise die Koalitionsparteien im Bundestag." (Wolf 2002, S. 51)
Winfried Wolf (zu der Zeit Abgeordneter der PDS im Deutschen Bundestag) berief sich bei dieser Behauptung auf einen Bericht der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über eine - ihm gegenüber von Minister Scharping bestätigte ..Konferenz der militärischen Spitze, zu der (der Bundeswehr-Generalinspekteur) Kujat alle Zwei- und Dreisterne-Generale sowie alle Admirale zusammengebracht hatte." (ebenda, S. 40)
Wolf trifft dann die Aussage: ..Tatsächlich gab es am 09. Oktober 2001 in Berlin ein wohl entscheidendes geheimes Treffen der kompletten Bundeswehrführung, auf dem der konkrete Bundeswehreinsatz zum ,Kampf gegen den internationalen Terrorismus' im Detail besprochen wurde." (Wolf2002, S. 39 f.)
Diese Behauptung Wolfs, aus der er die Unterstellung ableitete, die Bundeswehrführung habe auf diesen Einsatz gedrängt, trifft nicht zu. Der Autor gehörte zum Teilnehmerkreis dieser Besprechung. Auf dieser wurden in der Tat Schlussfolgerungen aus den amerikanischen Überlegungen eines "war against terrorism" diskutiert, allerdings nicht auf einen konkreten Einsatz bezogen, sondern perspektivisch im Hinblick auf eine mittelfristige Umsteuerung der Bundeswehrplanung, um ggf. künftig an derartigen Einsätzen teilnehmen zu können. 592 Denn es war der militärischen Führung zu diesem Zeitpunkt völlig klar, dass die Bundeswehr
592
Quelle: eigenes Tagebuch vom 09.10.2001.
264
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
aufgrund der gerade angelaufenen ,,Erneuerung von Grund auf'593 zu keinen nennenswerten Einsätzen - zusätzlich zu denen auf dem Balkan - in der Lage war. 594 Dass sich die Bundeswehrfiihrung der Begrenztheit der Möglichkeiten bewusst war, wurde anlässlieh des Entscheidungsgangs zur Teilnahme an ISAF erneut deutlich. Der Autor war am 12.12.2001 wiederum Teilnehmer einer Besprechung in Potsdam. Dieses Mal trafen sich routinemäßig die BefeWshaber der Führungskommandos der Teilstreitkräfte/Organisationsbereiche der Bundeswehr. An dieser Besprechung nahm auch - außerhalb der geplanten Tagesordnung - der Generalinspekteur, General Harald Kujat, teil und erläuterte, dass die geplante Teilnahme an ISAF einen ausscWießlich politischen Charakter haben werde. Aufgrund der von den Besprechungsteilnehmern betonten äußerst begrenzten Möglichkeiten der Kräfte und Mittel in ihren Verantwortungsbereichen - verschärft durch die laufende Umstrukturierung - erklärte der Generalinspekteur, dass die Beteiligung der Bundeswehr von der Politik verlangt werde. Man werde seitens der militärischen Führung versuchen, die übrigen Engagements zu verringern, und nach Möglichkeit am Ende des Mandatszeitraums von sechs Monaten bis auf ein symbolisches Kontingent wieder aus Afghanistan abziehen. 595 Aus diesen unmittelbaren Einblicken in die Entscheidungsabläufe folgert der Autor, dass von einem eskalatorischen Einfluss der Bundeswehrfiihrung bei den Erstentscheidungen zu denAfghanistaneinsätzen bzw. von einer-wie Wolfes formulierte - "eigenen Marschroute" keine Rede sein kann. Wie die Entwicklung zeigt, wurde allerdings die vom Generalinspekteur geäußerte Absicht, nach kurzer Zeit das Bundeswehrengagement in Afghanistan zu verringern, nicht realisiert. Das deutsche Engagement wurde vielmehr kontinuierlich ausweitet. Inwieweit die militärische Führung hier zu bremsen versucht hat, konnte in dieser Analyse nicht geklärt werden.596 593 594
595
596
So der Titel des Kabinettsbeschlusses vom 14.06.2000 (vgI. Bundesministerium der Verteidigung 2000). Das für OEF beschlossene Kräftedispositiv von insgesamt 3.900 Soldaten umfasste daher im Wesentlichen Kräfte, die in den Balkaneinsätzen gar nicht (Marine, ABC-Abwehrkräfte, Spezialkräfte) oder weniger gefordert waren. Allerdings bedeutete der neue Einsatz insbesondere für die Unterstützungskräfte eine erhebliche zusätzliche Belastung. Quelle: eigenes Tagebuch vom 12.12.2001. Ein Interviewpartner, der nicht genannt werden möchte, wies daraufhin, dass General Kujat die angestrebte baldige Verkleinerung des dentschen Kontingents noch viel plakativer formuliert habe: ,,Er hat in der Zeit, als er Generalinspekteur war, mit Blick auf den Afghanistaneinsatz gesagt, dass er das ähnlich machen möchte, wie die Briten: ,wenn die Kameras angehen, möchte ich mit auflaufen, und wenn die Kameras ausgeschaltet werden, gehen wir wieder' , auch in der Erwartung, dass wir nach der Niederlage der Taliban, die sich ja damals bereits zum Teil abgezeichnet hat, relativ schnell wieder aus Mghanistan draußen sind." Leider war General a.D. Kujat nicht bereit, an einer Befragung durch den Autor teilzunehmen (tel. Antwort vom 16.11.2009).
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
265
6.3.5.2 NATO-Führung und Folgeentscheidungen Nach Übernahme der Verantwortung der Führung von ISAF durch die NATO erfolgte die Umsetzung der politischen Zwecksetzung in militärstrategische Ziele und in einen Operationsplan nach den NATO-Standardverfahren. Nach diesen liegt die Zuständigkeit beim ,,Allied Command Operations" in Mons, Belgien. Ein Operationsplan bedarfvor der Inkraftsetzung jedoch der Billigung durch die politischen Vertreter aller der Nationen im NATO-Rat (NorthAtlantic Council- NAC). Im Zusammenwirken des Allied Command Operations mit dem Allied Joint Forces Command Brunssum werden die für eine Zielerreichung benötigten militärischen Mittel bestimmt und in einem "Combined Joint Status ofRequirement" (CJSTOR) dokumentiert. Das CJSTOR bildet dann die Grundlage für Verhandlungen des Stellvertreters des Oberbefehlshabers des Allied Command Operations (DSACEUR) mit den Nationen über die Bereitstellung von Truppen und militärischen Systemen zur Erfüllung der Anforderungen. Der 2009 noch gültige Operationsplan wurde 2005/2006 geschrieben und 2006 in Kraft gesetzt. Eine Anpassung an die seit dieser Zeit veränderte Situation (Zunahme der Counter-InsurgencyOperationen) erfolgte nicht. 597 In einem Interview, das der Autor mit dem Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum führen konnte, erläuterte dieser zwei Gründe für regelmäßig wiederkehrende Forderungen der NATO-Generale nach mehr Truppen: Zum einen waren die Forderungen des CJSTOR niemals vollständig erfüllt, weil die Nationen von Anfang an nicht bereit gewesen waren, Truppen und Systeme entsprechend zur Verfügung zu stellen. 598 Zum zweiten ging die anfängliche Be597
598
Der Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum, General Egon Ramms, führte dazu aus: ,,Dieser Operationsplan des SACEUR ist eigentlich überholt durch die Ereignisse. Er ist mehrere Jahre alt - konkret er stammt aus dem Jahre 2006 - er hat nur eine Überarbeitung erfahren. Wir haben seit 2006 mit der Ausdehnung auf ganz Mghanistan, mit der Entwicklung, auch mit der vermeintlich neuen Strategie der Amerikaner, einen völlig anderen Ansatz, als im Operationsplan niedergelegt. Der SACEUR traut sich nicht, ins NAC (North Atlantic Council = NATO-Rat, UvK) zurückzugehen und den Operationsplan flir eine weitere Überarbeitung zu öffnen, weil er sonst die Sorge hat, dass er bei der Teilnehmerschaft von 28 Nationen nicht wieder geschlossen wird. Ich bringe einmal ein Beispiel daflir: Wir propagieren Counter Insurgency, die Strategie, die wir in Mghanistan anwenden wollen, sowohl auf Initiative von David McKieman als auch jetzt von Stan McChrystal. Das ist im Prinzip abgesegnet bis auf die Ebene Verteidigungsminister in Bratislawa. Die NATO verfügt aber über keine Counter InsurgencyDoktrin, d.h., wenn man dieses Fass aufinachen will mit CI, besteht die Möglichkeit, dass dort Botschafter oder andere Fachleute hineingrätschen, und wir den Operationsplan nie wieder geschlossen bekommen. Das heißt, der Operationsplan und die Vorgaben vom NAC sind bisher ausgesprochen grob und sind leider auch durch die Zeit überholt worden." (Interview mit dem Autor am 17.11.2009) General Egon Ramms formulierte: ,,Dazu muss die Bemerkung erlaubt sein, dass dieses CJSOR nie komplett befiillt worden ist. Also das, was die Soldaten gefordert haben, nachdem das CJSOR
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6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
darfsberechnung der NATO von einem leichten Stabilisierungseinsatz aus, dessen Charakter sich durch die Zunahme der Aufstandsbewegungjedoch veränderte. 599 Diese beiden Faktoren erklären die regelmäßig wiederkehrenden Forderungen der militärisch Verantwortlichen in der NATO-Kommandostruktur nach mehr Kräften und Mitteln, und zwar von allen Ebenen, der militärstrategischen, der operativen und auch der taktischen, also dem ISAF-Hauptquartier in Kabul. 600 Die Forderungen richteten sich jeweils an alle BündnispartDer und damit auch an Deutschland. In diesem mehr technischen Zusammenhang liegt also die Begründung für die hypothetisch formulierte eskalatorische Tendenz des Auseinanderklaffens von politischem Zweck, militärischer Zielsetzung und Mittelbereitstellung. Etwas anders ist ggf. die Anfrage nach den deutschen Tornados von Ende 2006 zu bewerten. Formal liegt hier auch eine Forderung des damaligen Befehlshabers des Allied Joint Forces Command Brunssum vor, was dieser auch in einem Interview bestätigte. 601
599
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bearbeitet worden ist- jetzt in der 13. oder 14. Version dieses Papiers - da muss man eindeutig feststellen, dass wir das, was dort gestanden hat, nie bekommen haben. Und damit vielleicht auch aufgrund dieser Tatsache ein bissehen mit zum Wegrutschen beigetragen haben. Das CJSOR wird definiert als ,Minimum Military Requirement' . Konsequenz daraus, dass das Minimum Military Requirement nie beflUlt gewesen ist: normalerweise müsste ein Kommandeur sagen, ich kann meinen Auftrag nicht ausflihren." (Interview mit dem Autor am 17.11.2009) General Egon Ramms formulierte: "Als die NATO mit ihrem Auftrag in Afghanistan angefangen hat, immerhin schon 2003, als der jetzige Op-Plan des SACEUR geschrieben worden ist im Jahre 2005/2006 - Herausgabe im Jahr 2006 - ging man zur damaligen Zeit noch von einem relativ leichten Einsatz aus, der sich durch das vermehrte Auftreten der Insurgents, also Taliban und auch Zugehörige zu anderen Gruppen, die als Aufständische tätig sind, deutlich erweitert hat. Von daher: Kräfterahmen zum damaligen Zeitpunkt zu niedrig. Wobei man wissen sollte, und da muss man fair sein, dass wir von der militärischen Seite in regelmäßigen Halbjahresabständen im CJSTOR immer wieder ausdehnen. Man könnte jetzt sagen, die Generale fordern immer mehr Truppen, wobei das vielleicht ein bissehen eine kleine Schieflage ist. Mit dem Strategiewechsel auf eine CI-Strategie brauchen wir das in Afghanistan." (Interview mit dem Autor vom 17.11.2009) VgI. dazu z.B. folgende Pressemeldungen: "NATO-General beklagt fehlende Truppen" (gemeint ist General Ramms), Welt-OnIine vom 24.06.2008 (Zugriff: 26.06.2008); "Das wird gefilhrlich - Generalmajor Domröse sieht eine neue Taktik bei den Taliban und fordert spätestens im kommenden Jahr 1000 zusätzliche Soldaten" (Generalmajor Domröse war zu dieser Zeit Chef des Stabes im Hauptquartier lSAF in Kabul),Welt-Online vom 30.06.2008, (Zugriff: 17.07.2008); "US-General: Mehr Truppen für Afghanistan" (gemeint ist General McChrystal, der Kommandeur von ISAF, der nach einem zitierten Bericht der New York Times bis zu 45.000 Soldaten fordern könnte), Berlin-Online vom 22.09.2009 (Zugriff: 17.02.2010); "Deutscher NATO-General fordert mehr Truppen" (gemeint ist der Chef des Stabes des NATO-Kommandos SHAPE in Mons, Belgien, General Karl-Heinz Lather), Handelsblatt-Online-Ausgabe vom 14.12.2010 (Zugriff: 16.02.1010). Im Interview führte General a.D. Gerhard Back dazu aus: ,,Also die Tornados hatte ich schon viel länger gefordert. Die Tornados waren von Anfang an im meinem Dispositiv drin, weil ich Aufklärungsmittel hrauchte. Ich wollte NATO-eigene Aufklärung. Denn die einzigen Aufklärungsfähigkeiten, die ich hatte, die waren von den Amerikanern. Uns wurde immer nur ausgewähltes Bildmaterial zur Verfügung gestellt, wenn überhaupt. Und wir wissen ja genau, dass man mit
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Andererseits gibt es auch kritische Interpretationen dieser Entscheidung. So weist Kornelius nicht ganz zu Unrecht daraufhin, dass die Aufklärungsergebnisse der Tornados (Luftbilder in Nassfilrntechnik, die nach dem Flug ausgewertet werden müssen) hinsichtlich ihres militärischen Nutzens deutlich hinter den Echtzeitbildern von Drohnen oder von Flugzeugen der USA zurückbleiben und spricht polemisch von "operativer Bedeutungslosigkeit" der Tornado-Aufklärungsergebnisse (Kornelius 2009, S. 68 fV 02 Diese Bewertung war Anfang 2009 wahrscheinlich zutreffend, allerdings wurden die Möglichkeiten der Tornados ab September 2009 durch eine neue Aufklärungstechnik deutlich verbessert. 603 Für die Zeit der Anforderung der Tornados durch den NATO-BefeWshaber (2006) erscheint das von General a.D. Back genannte Argurnent des Nutzens einer unabhängigen ISAFAufklärungskomponente nachvollziehbar. Dennoch ist die Folgerung von Kornelius nicht unplausibel, die TornadoEntsendung habe auch dem Zweck gedient, auf Druck der Bündnispartner mehr deutsches Engagement - auch in ganz Afghanistan - zu zeigen, ohne in den Bodenkrieg im Süden hineingezogen zu werden (vgl. Kornelius 2009, S. 70). Diese Sichtweise war - wie oben gezeigt - tendenziell auch von einzelnen Politikern bestätigt worden (Kap. 5.1.4.2). Mithin ist festzustellen: die militärische Führung der NATO hatte für die Entscheidungen zu den deutschen Afghanistaneinsätzen insoweit mittelbare Relevanz, als ihre kontinuierlichen Forderungen nach mehr militärischen Ressourcen den multilateralen Handlungsdruck auf die deutsche Politik aufrechterhielten bzw. vergrößerten. Insbesondere in den Fällen, wo die militärischen Forderungen von der Hegemonialmacht USA auch politisch aufgegriffen wurden - so waren z.B. die Empfehlungen von General McChrystal vom September 2009 wesentliche Grundlage für Präsident Obamas Entscheidung zur Aufstockung der US-Truppen um 30.000 Soldaten - war sogar eine unmittelbare Relevanz der NATO-Kommandostruktur für deutsche Entscheidungen gegeben.
Aufklärungsergebnissen hervorragend manipulieren kann. Also war von Anfang an mein Bestreben gewesen, sie zu stationieren." (Interview mit dernAutor am 16.12.2009, Fragenkatalog gern. AnI. 3 c) 602 Symptomatisch dafür ist auch, dass der deutsche PRT-Kommandeur, der den TanklastwagenLuftangriff am 03.09.2009 bei Kundus angefordert hatte, seine Zielaufklärung nicht durch Tornado-Bilder, sondern durch Videoaufnahmen von Drohnen und US-Flugzeugen durchführte. 603 Mit der Einführung eines nenen Aufklärungsbehälters im September 2009 wurde eine nahezu Echtzeit-Übermittlung der Ergebnisse möglich. Vgl. "RecceLite ist im Einsatz angekommen", Homepage der Deutschen Luftwaffe, http://www.Iuftwaffe.de/portaVa/luftwaffe/aktu/nach/ archiv/2009/okt? yw_contentURL=/O IDB06000000000 1/W27WNEHK054INFODE/content. jspL2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfMjBfMzgwNQ! !?yw_contentURL=%2FO IDB060000000 001 %2FW27W48LK542INFODE%2Fcontent.jsp (Zugriff: 17.02.1010).
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6.3.5.3 Nationale Führung und Folgeentscheidungen Wie agierte nun die nationale militärische Führung in diesem Entscheidungsumfeld? Verstärkten sie gegenüber den politischen Entscheidungsträgern den Druck, der aus der militärischen Lagebeurteilung und daraus abgeleiteten Forderungen der Einsatzführung entstand, oder wirkte sie "bremsend" auf militärische Forderungen, wenn diese den politischen Absichten nach "Schönen" der Einsätze widersprachen?604 Diese Fragen detailliert zu beantworten, würde eine Analyse der internen Entscheidungsabläufe innerhalb des Verteidigungsministeriums bzw. zwischen diesem und dem Auswärtigen Amt erfordern, was aufgrund der Quellenlage nicht möglich ist. Insofern bleibt nur, in veröffentlichten Informationen nach Indizien zu suchen, die Rückschlüsse zulassen. Als erstes ist festzustellen, dass es eine Reihe von Vorschlägen und Forderungen nach Aufstockung der deutschen Beiträge zu den Afghanistaneinsätzen hinsichtlich Zahl und/oder der Zuführung von schwereren Waffen gab, auf die z.T. schon in den vorherigen Kapiteln eingegangen worden war. Diese wurden jedoch von der militärischen Führung nicht erkennbar unterstützt. So reagierte das Verteidigungsministerium nach dem Tod von drei deutschen Soldaten in einem Feuergefecht bei Kundus am 23.06.2009 aufdie Vorschläge des Deutschen Bundeswehrverbandes zur die Nutzung schwerer Waffen (Schützenpanzer Marder oder Panzerhaubitze 2000) ablehnend. 6Os Nach Beginn einer Offensive der deutschen QRF im Juli 2009, bei der dann doch die Schützenpanzer mit ihren Bordkanonen eingesetzt wurden, wurde in der Presse folgende Aussage des Generalinspekteurs wiedergegeben: ,,Forderungen, noch schwerere Waffen einzusetzen, lehnte Generalinspekteur Schneiderhan ab, da die internationalen Truppen waffenmäßig überlegen seien. Es nütze nichts, bei dieser asymmetrischen Bedrohung mit ,Begrifflichkeiten aus dem alten Kriegsbuch' zu reagieren. ,Die Schemata des klassischen symmetrischen Krieges helfen nicht mehr weiter' ."606
604
605 606
Für Naumann ist dieses Spannungsverhältnis typisch flir die Bundeswehrelite. Er leitete aus dem Konzept des "Staatsbürgers in Uniform" ab, dass staatsbürgerliche Integration und eine besondere politische Kontrolle des militärischen Gewaltapparates zu einem "Balanceakt der Staats- und Regierungskunst" führe, "das eine zu tun ohne das andere zu lassen". Seine Schlussfolgerung: ,,Ein System einander widersprechender Aufforderungen säumte den politischen Weg des Militärs in die und durch die Bundesrepublik: Seid Staatsbürger, aber gehorsam! Denkt politisch, aber nur im Horizont der Regierungspolitik! Liefert Expertise, aber nur dann, wenn sie willkommen ist." (Naumann 2008, S. 63 f.) Vgl. ,,Bundesregierung verzichtet auf schwere Waffen in Afghanistan" in: Zeit-Online vom 24.06.2009 (Zugriff: 16.02.2010). ,,Jung sieht ,kritische Lage' flir die Bundeswehr" in: Welt-Online vom 22. 07.2009, (Zugriff: 16.02.2010).
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
269
In einer Analyse der "Zeit" kurz nach dem Kundus-Vorfall wurden Ausstattungsmängel der deutschen Truppen - Lücken im Bereich von Aufklärung, zu wenige gepanzerte Fahrzeuge, nicht verfügbare Schützenpanzer - als möglicherweise mit ursächlich für die Entscheidung zum Luftangriff dargestellt. 607 Diese Sicht der Dinge bestätigte auch der ehemalige Generalinspekteur HaraId Kujat in einer TV-Dokumentation. Er erläuterte am Beispiel des KundusBombardements: ,,Der Fall Kundus zeigt - sozusagen wie unter einem Brennglas - die Defizite in der Ausrüstung und in der Stärke des deutschen Kontingents dort vor Ort. Was nicht vorhanden war, war eine eigenständige strategische Aufldärungskapazität, die Tag und Nacht ein realistisches Bild geliefert hätte, die es auch ermöglicht hätte, ein Maximum an Informatinnen über die Personen zu erhalten, die sich dort vor Ort aufgehalten haben. "608
Nun gibt es schon früh Hinweise darauf, dass aus militärischer Sicht andere Waffensysteme von Vorteil gewesen wären. So hatte der erste deutsche Kommandeur von ISAF, Generalleutnant a.D. Norbert van Heyst, hinsichtlich des (damals noch unstreitigen) Stabilisierungseinsatzes im Großraum Kabul erklärt: "In einem Punkt habe ich allerdings dringliche Verstärkung erhoffi, nämlich durch Kampfhubschrauber, um den lästigen Raketenüberflillen besser begegnen zu können. Durch unsere Radaraufklärung hatten wir innerhalb weniger Minuten die Abschussstellen in den Bergen um Kabul (Entfernung 20 - 30 Km) aufgeklärt, wenn unsere mobilen Patrouillen dann vor Ort waren, hatten sich die Angreifer im Nichts aufgelöst."·o.
Das Thema ,,Kampfhubschrauber" zur Aufstandsbekämpfung wurde im Sommer 2009 auch von der Politik aufgegriffen. 610 Der Obmann der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Amold, äußerte in einem Interview mit der FAZ:
607
608 609 610
Der Bericht resümierte: ,,Lange Zeit hatte das Verteidigungsministerium aufschweres Kriegsgerät verzichtet. Die Bundeswehr fllhre keinen Krieg, beteuert Verteidigungsminister Franz JosefJung immer wieder. Sein Amtsvorgänger und Parteifreund Volker Rübe kritisierte, dass das Ministerium in Afghanistan auf schwere Waffen verzichtet, weil diese zu kriegerisch aussehen. ,Wir sollten über bessere Ausrüstung nachdenken' , sagte Rübe dem SpiegeL" ("Kaum einsatzbereit" in: Zeit-Online vom 16.09.2009; Zugriff: 18.02.2010) ZDF, Frontal-Dokumentation "Sterben fiir Afghanistan" am 16.03.2010, eigene Transkription). Schriftliche Antwort Generalleutnant a.D. Norbert van Heyst (Anlage 3 c, Frage 2) vom 13.11.2009. In diesem Kontext ist anzumerken, dass die Bundeswehr derzeit über keine Kampfhubschrauber verfllgt, die nach Afghanistan verlegt werden könnten. Der fiir diesen Zweck in Beschaffung befindliche Kampfhubschrauber "Tiger" ist gem. einem vom Spiegel zitierten internen Vermerk des Verteidigungsministeriums erst nach der Ausstattung mit leistungsgesteigerten Triebwerken fiir einen Einsatz in "klimatisch heißeren und geografisch höher gelegenen Regionen" einsetzbar (vgl. "Tiger eignet sich nicht für Afghanistan" in: Spiegel-Online vom 16.08.2009 (Zugriff: 18.02.2010).
270
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure ,,Man kann es eigentlich nicht mehr verantworten, die Soldaten in ihre gefilhrlichen Missionen zu schicken, ohne ihnen den Schutz zu geben, der durch die überlegene westliche Technikmöglich wäre."
Er ergänzte, dass zwar notfalls Luftnahunterstützung durch Kampffiugzeuge der Verbündeten angefordert werden könne; indes wären "das eigentliche Mittel der Wahl vor allem Kampfuubschrauber".611 In einer anschließenden Bundespressekonferenz erklärte der Sprecher des Verteidigungsministeriums zu Amolds Vorschlägen: ,,Aus dem parlamentarischen Raum gibt es Forderungen nach dem Einsatz von Karnpfhubschraubern- und schwerem Gerät. Wir sind der Auffassung, dass es die Entscheidung des taktischen Führers vor Ort sein muss, mit welchen Mitteln er die Gegner bekämpft. Es gibt immer unterschiedliche Argumente, die abzuwägen sind, aber ich glaube, das sollten die militärischen Führer tun, die vor Ort im Einsatz sind, nicht wir hier in Berlin. Das, was wir zur Verfügung steilen können, wird geliefert. Wenn es seitens der Truppe neue Forderungen gäbe, würde darüber nachgedacht werden, ob wir das nachliefern.... Mir ist vonseiten der militärischen Führung nicht bekannt. dass im Moment darüber nachgedacht würde, Kampfhubschrauber einzusetzen. ''"612
Auch andere militärische Fachleute kamen zu dem Urteil, dass die Ausstattung der deutschen Soldaten aufgrund des von der Politik "verordneten" Charakters eines Stabilisierungseinsatzes nicht optimal sei. So hatte General a.D. Harald Kujat schon früher seine kritische Position öffentlich vertreten, als er Z.B. in einer TVDiskussion erklärte: ,,Das hat auch eine weitere Konsequenz, nämlich die, dass wir bei der Ausrüstung der Soldaten eben diesen Zweck ,Stabilisierung' und ,Wir verteidigen uns' in den Vordergrund stellen. Und bestimmte Waffensysteme gar nicht nach Mghanistan bringen, weil sie den Eindruck vermitteln, es handele sich um einen kriegerischen Einsatz. "613
Wenig später berichteten verschiedene Medien über einen Erfahrungsbericht des deutschen Kommandeurs des Regionalkommandos Nord, Brigadegeneral Jörg Vollmer, in der dieser auf- aus seiner Sicht - gravierende Ausrüstungsmängel des deutschen Kontingents hinwies. 614 Die Bild-Zeitung zitierte aus dem Bericht wie folgt:
611 612 613 614
Vgl. "Tausche Nassfilmfotos gegen Kampfhubschrauber" in: FAZ-NET vom 22.06.2009 (Zugriff: 18.02.2010). Quelle: http://www.bundesregierung.de/nn_915804/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/ 2009/06/2009-06-22-regpk.html, Hervorhebung UvK, (Zugriff: 18.02.2010). Sendung "Hart aber Fair" unter dem Titel ,,Abgrund Afghanistan - sollen unsere Soldaten nach Hause kommen?", ARD arn 09.09.2009 (eigene Transkription). Z.B. ein Bericht der Tagesschau ,,Mängel gefährden offenbar Mghanistan-Mission" vom 19.09.2009, http://www.tagesschau.de/inland/bundeswehrafghanistanI26.html (Zugriff: 18.02.20 I0).
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
271
,,Hubschrauber, vor allem Kampfhubschrauber, entwickeln (..) einen hohen Einsatzwert. Die derzeitig verfügbaren Hubschrauber sind aufgrund der Leistungsparameter (...) nur bedingt geeignet, Kampfhubschrauber feWen und führen dadurch zu einer erheblichen Fähigkeitslücke. '<61'
Dass der Bericht von Brigadegeneral Vollmer die erste Forderung dieser Art war, erscheint äußerst unwahrscheinlich, da sie - wie die Bemerkung des ehemaligen ISAF-Kommandeurs zeigt - schon sehr frühzeitig aus der militärischen Lagebeurteilung folgte. Allerdings ist von außen nicht nachvollziehbar, ab wann derartige Forderungen der in Afghanistan eingesetzten Truppe im Verteidigungsministerium vorgelegt worden sind. Folgt man der Aussage des Regierungssprechers vom 22.06.2009, so wurden solche Forderungen nicht von der militärischen Führung an die Politik herangetragen. Für diese Annahme sprach auch die beißende Kritik an Generalinspekteur Schneiderhan eines pensionierten Heeresgenerals, der bis zu seiner vorzeitigen Zurruhesetzung als Stellvertreter des Heeres-Inspekteurs Verantwortung getragen hatte. Er schrieb auf seiner privaten Homepage: "Wer hat es unterlassen, Politik und Öffentlichkeit k1arzwnachen, dass der Afghanistaneinsatz kein Spaziergang ist, sondern mit Verlusten an Menschenleben verbunden sein würde? Wer hat sich jahrelang dagegen ausgesprochen, schwere Waffen in Mghanistan einzusetzen, weil dies das Bild eines doch ganz friedlichen Stabilisierungseinsatzes trüben könnte?"616
Einen deutlichen Hinweis aufdie bremsende Wirkung der nationalen militärischen Führung ergab auch die Befragung des ehemaligen Befehlshabers des Allied Joint Forces Command Brunssum, General a.D. Gerhard Back, der die zögerliche deutsche Haltung auf seine Bitte um Tornados allerdings auf ein Kostenargument zurückführte. 617 Ein neueres Indiz dafür, dass die militärische Spitze Planungen bremste, die eine Eskalation der deutschen Einsätze bedeutet hätten, ist auch ein Medienbe615
"General: Bundeswehr leidet unter Materia1-Mängeln" in: Bild-0nline vom 21.09.2009 (Zugriff: 18.02.2010). 616 Homepage von Generalleutnant a.D. Jürgen Ruwe, http://www.juergenruwe.de/klartext/ bundeswehrschelte.html (Zugriff: 17.02.2010). Generalleutnant Ruwe war im Januar 2006 in den Einstweiligen Ruhestand versetzt worden und wirft auf seiner Homepage dem Verteidigungsminister vor, der wahre Grund dafür sei, dass er dem Generalinspekteur mit seiner Kritik zu unbequem geworden sei. Anlass für seine zitierten kritischen Äußerungen waren Pressemeldungen, nach denen der Generalinspekteur im Juni 2009 formuliert hatte, viele Soldaten ,jammerten aufhohem Niveau" (vgl. "Schneiderhan: Soldaten jammern auf hohem Niveau" in: Tagesspiegel-ünline vom 17.06.2009; Zugriff: 17.02.2010). 617 General a.D. Gerhard Back erklärte aufdie Frage nach der Entsendung der Tornado: "Aber es gilt das, was ich vorhin gesagt hatte: dass die Nationen Aufklärungsmittel im Dispositiv hatten, aber nicht bereitstellten. DeutscWand hat sich - in Person des Generalinspekteurs - massiv dagegen gewehrt, die Aufklärungskräfte zur Verfügung zu stellen - wegen der Kosten." (Interview am 16.12.2009)
272
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
richt, nachdem der Führungsstab der Streitkräfte (der Stab des Generalinspekteurs) Mitte 2009 beauftragt gewesen sei, die Voraussetzungen für einen Strategiewechsel in Afghanistan zu prüfen. Das Ergebnis sei ein Vorschlag zur Erhöhung der Truppenstärke um 2.200 Soldaten, zur Verlegung der ,,Panzerhaubitze 2000" an den Hindukusch sowie zur Verdopplung der Zahl der Schützenpanzer Marder von derzeit fünf auf zehn gewesen. Diese Planungen - mit Ausnahme der Erhöhung der Zahl der Schützenpanzer - fanden jedoch keinen Eingang in das neue Mandat vom Februar 2010. 618 Und in einem Bericht von Jochen Bittner in der "Zeit" heißt es: "In der Tat, bestätigt ein ranghoher Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums, ... sei ein ,militärischer Ratschlag, schweres Gerät wie die Panzerhaubitze einzusetzen, bisher nicht erfolgt' . Und räumt weiter ein: ,Es war von Anfang an ein Webfehler, die Zahl der eingesetzten Soldaten in den einzelnen Regionen entlang parteipolitischer Schmerzgrenzen festgelegt zu haben statt entlang militärischer Erfordernisse'." 61.
Nun sind solche Äußerungen keine "harten" Belege für die internen Abläufe im Verteidigungsministerium, sondern nur Mosaiksteine. Es fallt auf, dass in keiner der gefundenen Berichte die Inspekteure der Teilstreitkräfte bzw. der Militärischen Organisationsbereiche erwähnt werden, sondern immer nur der Generalinspekteur. Daraus ist der vorsichtige Schluss zu ziehen, dass die Ebene der Inspekteure - anders als in Kap. 4.1 vermutet - für die politischen Entscheidungen unmittelbar wenig Relevanz gehabt haben dürften. Allerdings wirken sie mittelbar über ihre Teilnahme am ,,Militärischen Führungsrat" an der Willensbildung des Generalinspekteurs mit, 620 was ohne Einblick in die internen Abläufe hinsichtlich der Wirksamkeit nicht bewertet werden kann. Zieht man ein Resümee, so liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die nationale militärische Führung - anders als die NATO-Kommandostruktur - auf die Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen nicht eskalierend einwirkte. Sie bremste im Gegenteil Forderungen aus dem Bündnis, aus der Truppe, aber auch von anderen Fachleuten in Politik und Publizistik, nach militärischen Mitteln- für eine effektivere Bekämpfung von Aufständischen. Die Begründung lag - soweit dieses aus den veröffentlichten Äußerungen hervorgeht - überwiegend darin, dass mit 618
619 620
Vgl. ,,Bericht: Verteidigungsministerium plante mehr Soldaten und schwere Waffen in Afghanistan" vom 15.12.2009, http://www.news-adhoc.com/bericht-verteidigungsrninisterium-plante-mehrsoldaten-und-schwere-waffen-in-afghanistan-idna20091215711641 (Zugriff: 18.02.2010). Vgl. "Haubitzen statt Bambis" in: Die Zeit Nr. 10 vom 04.03.2010, S. 2 f. Dieser ist gern. dem Berliner Erlass das Gremium fllr "eine streitkräftegemeinsame Willensbildung als Grundlage fllr Entscheidungen des Generalinspekteurs der Bundeswehr", in dem die Inspekteure den Generalinspekteur unterstützen. (http://www.bundeswehr.de/fileserving/PortalFiles/ C1256EF40036B05B/W2696KN7093INFODE/BeriinerErlass.pdf; Zugriff: 11.07.2009).
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
273
wirksameren Waffensystemen die Absicht der Politik konterkariert worden wäre, die Einsätze nicht als ,,Krieg" erscheinen zu lassen. Damit stellt sich die Frage, ob eine solche Haltung Ausdruck einer - wie Naumann gefordert hatte - ,,Erweiterung des herkömmlichen Berufs- und Eliteverständnisses" des Militärs war, die zu einer Weiterentwicklung vom Primat der Politik zum ,,Primat des Politischen" fiihren soll (Naumann 2008, S. 86 f.). Dann stände hinter dem Bremsen von Forderungen nach intensiveren militärischen Mitteln und Maßnahmen die Einsicht, dass damit die politischen Ziele konterkariert würden. Oder ob im bremsenden Einfluss der militärischen Führung die - wie Naumann kritisch formulierte"anhaltende Praxis der Generalität beobachtet werden (kann), aus Gründen der politischen 0pportunität mit dem notwendigen Widerspruch hinter dem Berg zu halten, insbesondere dann, wenn es um die unübersehbaren Diskrepanzen zwischen politischen Aufträgen und militärischen Mitteln, politischen Zielsetzungen und militärischen Fähigkeiten oder politischen Konsensmanövern und militärorganisatorischen Erfordernissen ging." (ebenda, S. 64)
Es wäre sicher eine reizvolle Aufgabe, dieses weiter zu untersuchen, um an dem Beispiel die These von Naumann zu überprüfen dass ,,(D)die Balance zwischen Politik, Militär und BÜTgergesellschaft (wird) neu justiert werden müsse(n)" (ebenda, S. 54). Eine solche Fragestellung liegt jedoch außerhalb unserer zentralen Forschungsfrage. Und für ihre Beantwortung wäre eine detaillierte Studie der Interaktionen zwischen Politik und militärischer Führung erforderlich, die nicht ohne Einblick in die internen Entscheidungsabläufe möglich ist. Inwieweit die militärische Führung eskalatorischen Impulsen aus dem multilateralen Umfeld auf Ebene der Politik, die z.T. zu den unrealistischen Vorgaben fiihrten, durch ihren militärischen Ratschlag entgegentrat, kann aufgrund des ausgewerteten Materials ebenfalls nicht beantwortet werden.
6.3.6 Zwischenresümee Als Zwischenresürnee der Analyse sonstiger Akteure lässt sich festhalten: Von den Parteien entwickelten nur die SPD und Bündnis 90IDie Grünen einige Relevanz, in dem sich Parteifiihrung und Bundestagsfraktionjeweils auf einigen Parteitagen einer kritischen Debatte mit der Basis stellen mussten. In diesen Fällen war also formal innerparteiliche demokratische Kontrolle gegeben. Insbesondere bei Bündnis 90IDie Grünen ging die Relevanz so weit, dass die Basis 2008 den Abstimmungskurs der Fraktion im Deutschen Bundestages sichtbar
274
6. Eskalierende oder bremsende Einflüsse der Akteure
verändern konnte, allerdings erst, nachdem diese keine Regierungsverantwortung mehr zu tragen hatte. Aus der Darstellung und Grobanalyse der Diskurse wurde erkennbar, dass die Medien im Laufe der Jahre erhebliche Relevanz für die Entscheidungsprozesse entwickelten. Letztlich waren sie der entscheidende Akteur, der gegen einen stillschweigenden Konsens zwischen der Bundesregierung und allen Fraktionen im Deutschen Bundestag - außer der Linken - die Afghanistaneinsätze auf die Agenda der öffentlichen Diskussion befördern und die Dominanz der Politik im gesellschaftlichen Diskurs aufweichen konnte. Die Bedeutung von Wissenschaft und Think Tanks blieb deutlich hinter dem zurück, was erforderlich wäre, um ,,nationale Interessen" diskursiv zu entwickeln und zu präzisieren. Allerdings entwickelten die Think Tanks durch ihre Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs ggf. mittelbaren Einfluss, dessen Wirksamkeit allerdings im Rahmen dieser Analyse nicht ermittelt werden konnte. Hinsichtlich der Bedeutung der Verbände als potentielle Akteure ist zu resümieren, dass die Relevanz des Akteurs Bundeswehrverband für die eigentlichen Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen gering war. Diese Wertung stellt allerdings die effektive Mitwirkung des Verbandes bei der Ausgestaltung der Rahmenbedingungen von Auslandseinsätzen nicht in Frage. Zu den NRO konnte festgestellt werden, dass sie - soweit sie sich in der humanitären Hilfe in Afghanistan engagieren - vom Beginn der Bundeswehreinsätze an eine Abgrenzung von der militärischen Mission anstrebten und auf die Beendigung der militärischen CIMIC-Operationen sowie des PRT-Konzepts drängten - dieses allerdings ohne Erfolg. Ihre Teilnahme an der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte um die Einsätze war z.T. pointiert, inwieweit sie erfolgreich war, ist allerdings fraglich. 621 Denn - wie oben gezeigt - waren es andere Faktoren, die die Bundesregierung - allerdings erst später - zu einer Änderung ihrer Positionen bewegte. Aus der Betrachtung des Akteurs ,,militärische Führung" lässt sich resümieren: Die in der kritischen Literatur behauptete eigenständige Rolle der (nationalen) militärischen Führung mit Einfluss auf die Erstentscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen war nicht gegeben. Im Gegenteil war sich die militärische Führung der äußerst begrenzten Ressourcen der Bundeswehr in der Phase einer "Emeue621
Die Argumente wurden auch in der parlamentarischen Debatte kaum aufgenommen. Ein Beispiel, wo das einmal der Fall war, ist die ISAF-Mandatsdebatte 2007, bei der die Abgeordnete Elke Ferner (SPD) in einer persönlichen Erklärung nach § 31 GOBT ausfilhrte: " Ich sehe die Gefahr, dass der Tornado-Einsatz die Lage in Afghanistan eher destabilisiert als stabilisiert und damit die gute Arbeit deutscher Hilfsorganisationen gefährdet." (BT PIPr 16/119 vom 12.10.2007, S. 12420)
6.3 Relevanz sonstiger Akteure
275
rung von Grund auf' bewusst und strebte zunächst eine enge Begrenzung des Engagements in Afghanistan an. Bei den Folgeentscheidungen ist nach Übernahme der Führung von ISAF durch die NATO eine zumindest mittelbare Relevanz des Akteurs "multinationale militärische Führung" (also der NATO-Kommandostruktur) feststellbar. Deren militärisch begründeten wiederholten Forderungen nach Aufstockung der verfügbaren Kräfte und Mittel hielten den multilateralen Druck auf die deutschen Entscheidungsträger aufrecht bzw. verstärkten ihn. In bestimmten Konstellationen wurden die militärischen Forderungen nach Eskalation sogar unmittelbar wirksam, was am Beispiel der weitgehenden Übernahme der Empfehlungen von General McChrystal durch Präsident Obama Ende 2009 und deren Einfluss auf die deutsche Haltung deutlich wurde. Die nationale militärische Führung wirkte bei Forderungen zur Eskalation bremsend, insbesondere hinsichtlich der zur Verfügung stehenden militärischen Mittel, da sie die Position der Politik - zumindest soweit von außen erkennbar mittrug, bei den Afghanistaneinsätzen handele es nicht um ,,Krieg". Insoweit ist die Relevanz des Akteurs "militärische Führung" differenziert zu bewerten.
Dritter Teil
Folgerungen
7. Ergebnis
Nach der empirischen Analyse soll im Folgenden das Ergebnis der Untersuchung wie folgt aufbereitet werden: In einem ersten Unterkapitel wird festgestellt, inwieweit die einzelnen Hypothesen der Empirie standhalten. In einem zweiten werden die einzelnen Schritte des Eskalationsprozesses ,,Afghanistanentscheidungen in Deutschland" unter der übergreifenden Forschungsfrage bewertet, welche Erklärungen es - vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich starken Stellung des Deutschen Bundestages (,,Parlamentsarmee") - für die Eskalationsdynamik der deutschen Einsätze gibt. Schließlich werden in einem dritten Unterkapitel Folgerungen aus dem Untersuchungsergebnis für die Theoriebildung in der Außenpolitikforschung gezogen.
7.1 Ergebnis der Überprüfung der Hypothesen aufPlausibilität 7.1.1 Multilateralismus und Zivilmachtdenken als relevante Einflussfaktoren, nicht hingegen" nationale Interessen" Die erste Hypothese lautete: Ausgeprägte Pfadabhängigkeit von den außenpolitischen Traditionen der Zivi/macht und des Multilateralismus sind wesentliche Einflussfaktoren der Entscheidungen zu den Ajghanistaneinsätzen der Bundeswehr, nicht hingegen. nationale Interessen '.
Die Analyse hat bestätigt, dass die beiden Traditionen der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 in der Tat auf die Entscheidungen wesentlichen Einfluss ausgeübt haben. So waren es vorrangig multilateristische Gründe - zunächst (uneingeschränkte) Solidarität mit den USA, danach Unterstützung der VN - die die Erstentscheidungen bestimmten. Dabei hatte die Einbindung in die VN vor allem einen Legitimationseffekt für den Einsatz von Streitkräften, was jedoch uneingeschränkt nur für ISAF zutraf, da OEF keine direkte Legitimierung durch den VN-Sicherheitsrat erhielt. Allerdings berief man sich bei OEF - auch seitens der BundesreU. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
280
7. Ergebnis
gierung - auf Resolutionen des Sicherheitsrates, so auf die Resolution 1368 vom 12.09.2001, in der das legitime Recht auf Selbstverteidigung gegen den Terrorismus festgestellt worden war. Im Laufe der Zeit wurde aus der Solidarität mit den USA verbal zunehmend Bündnissolidarität mit der NATO, wobei die USA allerdings als Hegemon den Kurs der Allianz maßgeblich mitbestimmten. Dabei trat die Legitimationsfunktion einer Einbindung in ein System kollektiver Sicherheit zurück und "Treuepflichten" in einem Verteidigungsbündnis gewannen an Bedeutung. Die Unterstützung der EU war daneben - wenn überhaupt - nur ein nachrangiges Argument. Die Zivilmachttradition wirkte nach dem Analyseergebnis nicht unmittelbar auf die Exekutive, sondern mittelbar über die Perzeption der Bundesregierungen und der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die Gesellschaft würde militärische Einsätze nur akzeptieren, wenn sie den tradierten Zivilrnachtmerkmalen, wie "Verteidigung", "Schützen" und ,,Helfen" entsprachen. Folge dieser Perzeption waren u.a. das Festhalten an einer Trennung der Mandate von OEF und ISAF, auch dann noch, als diese von der Wirklichkeit weitgehend überholt war, sowie das "Schönen" der Einsätze, um die Realität von Kämpfen, Sterben und Töten im öffentlichen Bewusstsein nicht deutlich werden zu lassen. Ein Einfluss von "nationalen Interessen" aufdie Entscheidungen war nur diffus zu erkennen. Zum einen war der Prozess ihrer Formulierung defizitär. In der Wissenschaft hat sich die Position durchgesetzt, dass nationale Interessen in einem Diskurs zwischen Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit formuliert und präzisiert werden müssten. Ein solcher Diskurs war jedoch äußerst gering ausgeprägt. Das trifft auch auf die Formulierung abstrakter Kriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr als mögliche Operationalisierung von nationalen Interessen zu. Die empirische Untersuchung hat deutlich gemacht, dass bei den Erstentscheidungen solche Kriterien noch nicht existierten. Die sporadischen Ansätze zur Formulierung "deutscher Interessen" in den militärstrategischen Diskussion der 1990er Jahren waren als Referenz für die Afghanistanentscheidungen nicht tauglich. Und das Entscheidungsumfeld der Erstentscheidungen (Emotionalisierung durch 9/11, Zeitdruck, drohender Koalitionsbruch) ließ Reflexionen in Richtung abstrakter Kriterien realistischerweise gar nicht zu. Die ab 2006 in Wissenschaft und Politik festzustellenden Ansätzen zur Formulierung solcher Kriterien hätten als theoretischer Bezugsrahmen für eine notwendige Diskussion über geplante Einsätze dienen können. Ein anband umfassender Kriterienkataloge strukturierter parlamentarischer Diskurs fand jedoch nicht statt, auch wenn es in den parlamentarischen Debatten um die Afghanistaneinsätze hin
7.1 Ergebnis der Überprüfung der Hypothesen auf P1ausibilität
281
und wieder Beiträge gab, die inhaltlich auf solche Kriterien abhoben - z.B. Forderung nach Exit-Bedingungen oder (vereinzelt) nach Stimmigkeit von Zielen und Mitteln. Und die empirische Analyse ergab auch keine Hinweise auf eine wahrnehmbare Wirkung solcher Kriterien auf das Entscheidungsverhalten von Regierung oder Parlament. Letztlich trifft damit auch für diese Entscheidungsprozesse die kritische Formulierung von Kratochwil zu: "The national interest is what the nation, i.e., the decision-maker decides it is" (Kratochwi1 1982, S. 2).
Darüber hinaus bestand aufgrund der multilateralen Einbindung der deutschen Entscheidungen eine enge Verflechtung zwischen nationalen und Bündnisinteressen. In der Argumentation wurden deutsche Interessen und Bündnisinteressen von den Akteuren weitgehend gleichgesetzt. Ob diese Kongruenz tatsächlich gegeben war oder ob es auch spezifische deutsche Interessen gab, die ggf. in Konkurrenz zu Bündnisinteressen standen, hätte ebenfalls diskursiv durch ,,Entflechtung" von nationalen und Bündnisinteressen erfolgen müssen, was jedoch weitgehend unterblieb. Die empirische Analyse hat die Hypothese somit ohne Einschränkungen bestätigt.
7.1.2 Eskalatorische Wirkung des Multilateralismus Die zweite Hypothese lautete: Dominanz des Multilateralismus wirkt aufgrund der Forderungen/Erwartungen des internationalen Umfelds eskalierend.
Die Empirie hat bestätigt, dass bei den Afghanistanentscheidungen in Deutschland - nicht zuletzt aufgrund der defizitär formulierten nationalen Interessen, die weitgehend kritiklos mit Bündnisinteressen gleichgesetzt wurden - multilateral getroffene Entscheidungen dominant waren. Aufgrund der ,,Programmatik", es entspreche "den Grundprinzipien der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, ... einem effektiven Multilateralismus verpflichtet (zu sein)" - so z.B. die Formulierung in der Mandatsbegründung 2009622 - mussten eskalatorische Tendenzen im multilateralen Umfeld zwangsläufig auch auf den Eskalationsprozess der deutschen Einsätze ausstrahlen. Und solche eskalatorischen Tendenzen in den Bündnissen bzw. bei einzelnen Partnern wurden in der Analyse festgestellt. Damit ist die Hypothese in der Untersuchung bestätigt worden. 622
BT Drs 17/39 vom 18.11.2009, S. 2.
282
7. Ergebnis
7.1.3 Spannungen zwischen Multilateralismus und Zivilmachttradition Die dritte Hypothese lautete: Andauernde Eskalation jUhrt zu einem Spannungsverhältnis zwischen einer multilateral handelnden Exekutive und Zivilmachtperzeptionen in der Gesellschaft.
Die Analyse hat bestätigt, dass die aus Bündnisentscheidungen resultierende Ausweitung der Afghanistaneinsätze (regional sowie vom Umfang und von der militärischen Intensität her) zu einer wachsenden Ablehnung in der Gesellschaft geführt haben. Die Ergebnisse von Meinungsumfragen sprechen hier eine deutliche Sprache. Da das von der Regierung vermittelte Bild eines "Stabilisierungseinsatzes" zum "Wiederaufbau" des Landes mehr und mehr nicht mit dem Bild übereinstimmte, das sich aus Medienberichten und zunehmend auch aus den Schilderungen von Soldaten als Teilnehmern an den Afghanistaneinsätzen ergab, kam es zu einer wachsenden Spannung zwischen der öffentlichen Meinung und den Positionen der Politik. Damit hat die Untersuchung die auch diese Hypothese voll bestätigt.
7.1.4 Schwächung des Primats der Politik durch einen unpräzisen! unrealistischen politischen Zweck Die vierte Hypothese lautete: Unpräzise und unrealistische politische Zielvorgaben (Befriedung, Demokratisierung nach westlichem Verständnis, Trennung von OEF und lSAF) schwächen den Primat der Politik und bieten RaumjUr eine Eskalationsdynamik.
Das Nachzeichnen der sich verändernden Formulierungen des politischen Zwecks der Afghanistaneinsätze hat deutlich gezeigt, dass dieser bei den Erstentscheidungen sowohl multilateral als auch von der Bundesregierung nur vage beschrieben worden war. Hierzu trug u.a. bei, dass zwischen den Zielvorstellungen der verschiedenen Akteure - USA, VN, NATO - erhebliche Unterschiede zu erkennen waren. Darüber hinaus sah sich die Bundesregierung im Inneren von einer kritischen Koalition getragen, bei der traditionell militärkritische und z.T. sogar pazifistische Strömungen ausgeprägt waren, was den Bundeskanzler dazu brachte, bei der Erstentscheidung zur OEF-Beteiligung mit der Vertrauensfrage sogar eines seiner stärksten Instrumente einzusetzen. In diesem Mehrebenendilemma ergab sich für die deutsche Politik die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit einer eigenständigen Formulierung des politischen Zwecks der Einsätze.
7.1 Ergebnis der Überprüfung der Hypothesen auf Plausibilität
283
So kam es - allerdings erst im Nachhinein - durch eine Vielzahl konzeptioneller Dokumente der Bundesregierung zu einer theoretisch scWüssigen Ausformulierung eines politischen Zwecks der Afghanistaneinsätze. Dieser beinhaltete allerdings eine Reihe von äußerst ambitionierten, vor dem Hintergrund der historischen, gesellschaftlichen und politischen Situation in Afghanistan sogar unrealistischen Elemente. Zu diesen zählten z.B. das Ziel einer starken Zentralregierung, die Idee einer Demokratisierung nach westlichen Vorstellungen - wobei die Tatsache der Abhaltung von Wahlen bereits als Erfolg gesehen wurde - sowie Vorstellungen von einer Modernisierung der afghanisehen Gesellschaft mit ihren ausgeprägten ethnischen und regionalen Konfliktlinien, u.a. die ,,Befreiung" der afghanisehen Frauen. Eine nicht erreichbare politische Zwecksetzung kann - und das zeigt die Analyse des Afghanistanbeispiels sehr deutlich - die notwendige steuernde und begrenzende Wirkung der Politik auf die militärischen Ziele und den Einsatz der militärischen Mittel nicht leisten, was einer Schwächung des Primats der Politik gleichkommt. Und aus einer solchen Schwächung entsteht Raum für eine Eskalationsdynamik. Von daher war die Reduzierung des Anspruchsniveaus des politischen Zwecks Ende 2009/Anfang 2010 aufdie Schaffung einer wahrscheinlich eher erreichbaren Exit-Option - verbrämt mit dem Titel "Übergabe in Verantwortung" - ein Schritt zur Stärkung des Primats der Politik. Dass hierdurch zunächst ein weiterer militärischer Eskalationsschritt ausgelöst wurde, ist wohl mehr Folge des bis dahin bestehenden Missverhältnisses zwischen (vorheriger) Zielsetzung und dem multilateralen Mitteleinsatz als eine eigenständige Eskalationswirkung der neuen Zielsetzung. Somit hat die empirische Analyse die Hypothese insoweit bestätigt, als bis in das Jahr 2009 hinein die defizitäre Definition des politischen Zwecks eine notwendige Bedingung für eine Eskalationsdynamik war. Ende 2009/Anfang 2010 wurde durch eine realistischere Formulierung des Zwecks der Einsätze versucht, den Primat der Politik wieder herzustellen. 623 Sollte diese Stärkung dauerhaft gelingen, wäre das eine weitere Bekräftigung der Hypothese.
623
So ist Holger Möhle zuzustimmen, der nach der Entscheidung des Bundestages zur Aufstockung der Truppenstärke von ISAF auf 5.350 Soldaten schrieb: ,,Die militärische Führung hätte fiir dieses neue Mandat gerne noch mehr Soldaten an die Hand bekommen, weil sie ohnehin weiß, wie schnell sich die Lage im Krisen- und Kriegsland Afghanistan ändern kann. Doch die Politik hat das Primat." (Kommentar "Die nächsten zwölf Monate" in: Bonner Generalanzeiger vom 28.02.2010, S. 2)
7. Ergebnis
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7.1.5 Durch Diskrepanz zwischen zivilen und militärischen Mitteln steigendes Gewicht militärischer Aspekte Die fünfte Hypothese lautete: Aufgrund der z. T. krassen Diskrepanz zwischen politischem Zweck und der Zielsetzung für die Einsätze sowie zwischen Zielen und eingesetzten Mitteln - zivil wie militärisch - gewinnen militärische Aspekte bei den Entscheidungen zunehmend an Gewicht, was insbesondere bei fortschreitender Verschlechterung der Sicherheitslage eskalierend wirkt.
Für die Umsetzung des politischen Zwecks war mit dem Leitbild der "Vernetzten Sicherheit" in der deutschen politisch-militärischen Zieldefinition eine theoretisch scWüssige Konzeption formuliert worden, die das Charakteristikum von "neuen Kriegen" berücksichtigte. 624 Es gelang der deutschen Politik sogar, ihr Leitbild auch in die konzeptionellen Vorstellungen der Bündnisse einzubringen. Für deren Realisierung hätte allerdings der Schwerpunkt der deutschen wie der internationalen Anstrengungen auf nicht-militärische Mittel gelegt werden müssen. Die empirische Analyse hat jedoch ein erhebliches Auseinanderklaffen von Konzeption und Realisierung aufgedeckt, nicht nur, aber auch in DeutscWand. Die für die Bundeswehr zu bestimmten Zeitpunkten formulierte militärische Zielsetzung entsprach niemals exakt den jeweils formulierten politischen Zwecken. Und zwischen zivilem Mitteleinsatz und militärischen Instrumenten bestand ein krasses Missverhältnis, sowoW was den Einsatz finanzieller Mittel als auch von Personal - insbesondere von Polizeibeamten - betriffi. 625 Diese Diskrepanzen wurden trotz ständiger verbaler Betonung des Vorrangs von zivilen Maßnahmen nicht effektiv abgebaut.
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Hippier definierte die begrenzte Rolle militärischer Maßnahmen in solchen Konflikten wie folgt: ..Innergesellschaftliche Kriege werden also insgesamt durch eine Reintegration fragmentierter gesellschaftlicher Strukturen zu beenden sein, die bestimmte Formen von staatlicher oder substaatlicher politischer Verregelung und Institutionenbildung voraussetzt. Erst auf dieser Basis gewinnt die Anwendung militärischer Gewalt in Kontexten von Aufstandskriegen oder failed states eine mögliche Relevanz fIir Kriegsbeendigung, sonst wird sie den Krieg eher in die Länge ziehen und die Opferzahl erhöhen. Deshalb sollte nicht vergessen werden, dass sowohl militärisch gestützte ,Sicherheit' als auch Entwicklungspolitik das Ziel einer Kriegsbeendigung oder Befriedung nicht aus sich selbst erreichen können, sondern nur, wenn diese beiden Politikfelder in den Dienst der Schaffung eines Systems legitimer und wirksame Governance-Strukturen gestellt werden." (Hippler 2009, S. 47, Hervorhebung im Original) Für Deutschland dürften hinsichtlich der Entsendung von Polizeibeamten nach Afghanistan die föderalen Strukturen ein wesentlicher Grund fIir die Defizite im personellen Bereich sein.
7.1 Ergebnis der Überprüfung der Hypothesen auf Plausibilität
285
Inwieweit sich das nach der Absichtserlclärung der Innenministerkonferenz aus dem Sommer 2009 626 bzw. den Ankündigungen der Bundesregierung im Kontext der Londoner Konferenz 2010 ändern wird, bleibt abzuwarten. Hinzu kamen Defizite in der Koordinierung und in der Kooperation der vielfaltigen Akteure, die man als Governance-Versagen qualifizieren kann. Aufgrund des geschwächten Primats der Politik gewannen - vor dem Hintergrund der unzureichenden und nur sehr begrenzt wirksamen zivilen Mittel sowie erheblicher Koordinationsprobleme - militärische Aspekte mit Eskalationsdynamik in den Entscheidungen an Gewicht. Einerseits wurde der aus einer breit angelegten politischen Zielvorgabe durch die NATO-Führung ermittelte militärische Bedarf zu keiner Zeit von den Bündnispartnern in voller Höhe bereitgestellt, so dass jede Fortschreibung der militärischen Forderungen per se Eskalationspotential beinhaltete. Andererseits griffen die eskalatorischen Tendenzen der Kriegfiihrung im Rahmen von OEF auch aufISAF über, nachdem die Zuständigkeit von ISAF auf ganz Afghanistan ausgedehnt wurde. Die sich ständig verschlechternde Sicherheitslage seit 2003 - zunächst im Süden des Landes, ab 2007 auch im "deutschen" Norden - aufgrund derer nicht-militärische Akteure ihre Arbeit zunehmend reduzieren oder sogar einstellen mussten, verstärkte darüber hinaus das Übergewicht militärischer Aspekte in den Entscheidungsprozessen. Damit ist diese Hypothese durch die Untersuchung weitgehend bestätigt worden.
7.1.6 Trotz "Parlamentsarmee" Dominanz der Exekutive in den Entscheidungsprozessen Die sechste Hypothese lautete: Trotz der veifassungsrechtlich starken Position des Parlaments dominiert die Exekutive in der Veifassungswirklichkeit die Entscheidungsprozesse.
626
So heißt es in einem Beschluss der Innenministerkonferenz vom 05.06.2009: ,,1. Die IMK ist der Auffassung, dass der Polizeiaufbau in Afghanistan eine der vordringlichsten Aufgaben zur Stabilisierung des Landes ist. 2. Die Innenminister und -senatoren von Bund und Ländern unterstützen daher einen verstärkten personellen Beitrag zum Polizeiaufbau in Mghanistan. 3. Die IMK nimmt den gemeinsamen Bericht des Bundesministers des Innern und des Vorsitzenden der Innenministerkonferenz als Grundlage zur Stärkung des deutschen Engagements inAfghanistan (nicht freigegeben) zur Kenntnis." (Quelle: Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 188. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 11.06.2009, http://www.im.nrw.de/inn/doks/090605 _ imk_beschluesse.pdf; Zugriff: 26.02.2010)
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7. Ergebnis
Die Analyse hat herausgearbeitet, dass sich aus dem Konstrukt des BVerfG der ,,Parlamentsarmee" verfassungsrechtlich eine ausgewogene Position des Parlaments gegenüber der Bundesregierung ergibt. Deren Prärogativ für Außenpolitik wird durch die Notwendigkeit des konstitutiven Parlamentsvorbehalts ausbalanciert. Das Initiativrecht der Exekutive ist zwar formal uneingeschränkt, empirisch lassen sich in der Verfassungswirklichkeit aber durchaus Mitwirkungsmöglichkeiten des Parlaments im Entstehungsgang eines Mandats nachweisen. Diese sind allerdings nicht formalisiert und weisen Asymmetrien zwischen Koalitionsfraktionen und Oppositionsfraktionen auf. Die empirische Analyse hat dennoch eine deutliche Dominanz der Bundesregierung auch im parlamentarischen Verfahren zur Billigung von Auslandseinsätzen aufgedeckt. Die Gründe dafür waren vielfältig. Sie reichten von den Möglichkeiten des Agendasetting - sogar unter Nutzung der Vertrauensfrage - über einen Informationsvorsprung der Regierung bis hin zu Schwächen der parlamentarischen Kontrolle. Letztere waren zum einen durch den Informationsvorsprung der Bundesregierung begründet, zum zweiten liegt es im Charakteristikum der parlamentarischen Demokratie, dass Anstrengungen von Koalitionsfraktionen zur Kontrolle "ihrer" Regierung im Allgemeinen nicht besonders stark sind - was sich besonders in Zeiten von Großen Koalitionen auswirkt. Zum Dritten war eine gewisse pfadabhängigkeit des Entscheidungsverhaltens von Parteien bzw. Fraktionen zu beobachten. Im Laufe der langen Dauer der Einsätze (inzwischen mehr als neun Jahre) hatten alle - bis auf die Fraktion ,,Die Linke" - schon mindestens einmal Einsatzentscheidungen mitgetragen. Die Analyse hat gezeigt, dass es den Fraktionen unter diesen Bedingungen auch in der Opposition schwer fiel, Beschlüsse zur Fortsetzung der Einsätze nicht mehr mitzutragen, auch wenn diese mit Eskalation verbunden waren. Ein vierter Grund für Einschränkungen der Kontrolltätigkeit des Bundestages lag in dem Spannungsverhältnis zwischen militärischer Geheimhaltung und parlamentarischer - und damit öffentlicher - Kontrolle der Bundesregierung. Schließlich litt die Kontrolleffektivität an einer gering ausgeprägten strategischen Perspektive des Parlaments, das sich tendenziell mehr mit Detail- bzw. sogar Durchführungsaspekten als mit der Zielsetzung der Einsätze beschäftigte. Aufgrund dieses empirischen Befundes muss man konstatieren, dass der Deutsche Bundestag die Rolle des ,,Bremsers" der Exekutive beim Gebrauch des Militärs als Mittel der Politik, wie es nach der Theorie des Demokratischen Friedens zu erwarten wäre, und wie es im Konstrukt der Parlamentsarmee institutionalisiert ist, nicht effektiv ausgefüllt hat.
7.1 Ergebnis der Überprüfung der Hypothesen auf P1ausibilität
287
Damit hat die Analyse diese Hypothese weitgehend bestätigt. Ob die Dominanz der Bundesregierung in der neuen Konstellation der 17. Legislaturperiode, wo einer ,,Kleinen Koalition" eine deutlich stärkere Opposition gegenübersteht, abgeschwächt wird, müsste in einer Folgeuntersuchung geklärt werden. Perspektivisch ist davon auszugehen. Und die informelle Einflussnahme der SPD (sowohl der Partei als auch der Fraktion) auf die Formulierung des Mandats von Februar 2010 deutet in dieser Richtung.
7.1.7 Wegen Dominanz der Exekutive im gesellschaftlichen Diskurs kaum Relevanz anderer Akteure Die siebte Hypothese lautete: Im gesellschaftlichen Diskurs dominiert die Bundesregierung. Sie ist bestrebt, das Spannungsverhältnis zwischen Eskalation des Konflikts und Zivilmachtdenken durch Verschleierung des militärischen Charakters der Einsatze abzumildern. Dadurch waren bisher weder das Parlament noch die Öffentlichkeit noch andere Akteure in der Lage, die Eskalationsdynamik nachhaltig zu bremsen.
Es konnte in der empirischen Analyse gezeigt werden - vorrangig in einer Darstellung und z.T. Grobanalyse der Diskurse in den Strängen "Legitimation" und "Charakter der Einsätze als ,Krieg' oder ,Nicht-Krieg' - dass die Bundesregierung den Charakter der Einsätze systematisch geschönt hat und der Gesellschaft das Bild eines "Stabilisierungs- bzw. Hilfseinsatzes" vermittelte. Als plausibelste Begründung für dieses Vorgehen erscheint, dass sie auf diese Weise das Spannungsverhältnis zwischen der Eskalation des Konflikts in Richtung der Kategorien ,,Kämpfen", "Töten" und "Sterben" und dem tief in der Gesellschaft verwurzelten Zivilmachtdenken abzumildern bemüht war, weil sie sich durch letzteres unter erheblichem Legitimationsdruck fühlte. Sie nahm dafür erhebliche Nachteile für die eingesetzten Soldaten in Kauf. Ergebnis der Diskursanalyse war, dass die Regierung mit diesem Bestreben mehr als sechs Jahre Erfolg hatte. Thre Diskursposition war in der gesellschaftlichen Diskussion dominant. Danach ging ihre Dominanz in Folge gravierender diskursiver Ereignisse verloren. Spätestens nach der Tanklastwagenbombardierung bei Kundus wurde sie von der öffentlichen Meinung zu einer Änderung ihrer Diskursposition "getrieben". Während der Zeit ihrer Diskursdorninanz konnten - wie die Analyse potentiell relevanter Akteure gezeigt hat - andere Akteure die aus multilateralistischen Forderungen und militärischen "Notwendigkeiten" resultierende Eskalationsdynarnik nicht nachhaltig bremsen. So gab es seitens der Parteien - als Mittler zwi-
288
7. Ergebnis
schen Wählern und dem Parlament - nur wenige Ansätze, über ihre Bundestagsfraktionen Einfluss auf die Regierungslinie zu nehmen. Bei den Verbänden waren die in Afghanistan tätigen NRO gegenüber den Militäreinsätzen sehr kritisch eingestellt, konnten mit ihrer Ablehnung aber keine durchschlagende Wirkung erzielen. Erst als die diskursiven Ereignisse hinreichende Wirkung auf die öffentliche Meinung entwickelt hatten, hinterfragten die Medien und Think Tanks mit zunehmendem Erfolg die Positionen der Politik und konnten so allmähliche Änderungen in der Formulierung der Ziele bewirken. Damit lässt sich die Hypothese einer Dominanz der Bundesregerung in den gesellschaftlichen Diskursen nur für einen Teil des Untersuchungszeitraums bestätigen. Als diese Dominanz verloren ging, entwickelten andere Akteure mehr und mehr mittelbare Bremswirkung auf die Eskalationsdynamik, die allerdings bis Anfang 2010 den Eskalationsprozess nur verlangsamten, ihn aber nicht zum Stillstand brachten.
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik Nach dieser Erörterung, inwieweit sich die Hypothesen in der empirische Analyse "behaupten" konnten, soll im Folgenden eine Bewertung der Eskalationsdynamik erfolgen. Bevor für die einzelnen Eskalationsschritte dominante Einflussfaktoren erörtert werden, ist - sozusagen "vor der Klammer" - festzustellen, dass einige Hypothesen in nahezu allen Eskalationsschritten mit etwa gleichbleibender Intensität bestätigt wurden. Dieses sind vor allem die Spannungen zwischen Multilateralismus und Zivilmachtdenken, die Dominanz der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren und der geringe Einfluss anderer Akteure aufgrund der Dominanz der Politik im öffentlichen Diskurs. Auf diese Faktoren soll in der folgenden Bewertung der Einzelentscheidungen daher nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr sollen spezifische, für den jeweiligen Eskalationsschritt besonders charakteristische Einflussfaktoren noch einmal hervorgehoben werden. Dabei wird der Eskalationsbegriffzunächst deskriptiv verwendet, d.h., es werden die einzelnen Eskalationsschritte daraufhin beleuchtet, inwieweit sie durch die identifizierten Eskalationsursachen "bewusste politische Eskalationsabsicht", "unpräzise oder unrealistische politische Zwecksetzung", "multilateralistische Forde-
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
289
rungenlErwartungen" oder ,,Dominanz militärischer Aspekte" einzeln oder in einer Kombination bestimmt wurden (bzw. ob es noch weitere Eskalationsursachen gab). Dabei wird lediglich auf die Ursachen, nicht auf den Bezug zum politischen Zweck und auch nicht auf die Frage der Zweckmäßigkeit von Eskalationsentscheidungen abgehoben. 627 Bei dieser Bewertung wird im Wesentlichen auf die empirische Untersuchung in den vorhergehenden Kapiteln abgehoben. Bei einzelnen Eskalationsschritten, bei denen die Analyse für eine Detailbewertung nicht tief genug gewesen war, wird ggf. noch zusätzlich empirisches Material ausgewertet. Abschließend soll die zentrale Forschungsfrage ganzheitlich beantwortet werden, wobei die deskriptive Sicht durch eine normative Perspektive ergänzt wird.
7.2.1 Bewertung der einzelnen Eskalationsschritte 7.2.1.1 Erstentscheidungen OEF und ISAF und Übernahme der ISAF-Führung Die empirische Analyse hat deutlich gezeigt, dass bei den Erstentscheidungen - sowohl von OEF als auch von ISAF - multilateralistische Erwartungen an Deutschland die entscheidenden Faktoren waren. Bei OEF dominierte die "uneingeschränkte Solidarität mit den USA", die von Bundesregierung und Parlament in der hochemotionalisierten Phase nach 9/11 erklärt worden war. Bei ISAF kam die Überzeugung der Entscheidungsträger hinzu, die VN unterstützen zu müssen. Letztere dürfte auch ausschlaggebend für die deutsche Bereitschaft gewesen sein, ein Jahr später für sechs Monate gemeinsam mit den Niederlanden die Führung von ISAF zu übernehmen. Eine zusätzliche Rolle bei der Entscheidung zur Beteiligung an ISAF dürfte auch das mittelfristige Streben der deutschen Außenpolitik nach einer größeren Bedeutung in den VN - bis hin zu einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat gespielt haben. Und schließlich wollte die deutsche Politik als kurzfristiges Interesse neben dem Aspekt der Bündnissolidarität gegenüber der Weltorganisation wohl auch zusätzlich den Prestigegewinn - besonders für Außenminister Fischer - aus der erfolgreichen Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg ausbauen, für die sie die Ausrichtung übernommen hatte.
627
So kann es ggf. zweckmäßig sein, frühzeitig zu eskalieren, um entweder einen Konflikt rechtzeitig einzudämmen - dieses hätte ggf. 2006 erfolgen müssen, um die kontinuierliche Verschlechterung der Sicherheitslage in Afghanistan zu verhindern - und/oder um die Voraussetzungen für eine spätere Deeskalation zu schaffen - was ein erklärtes Ziel der USA für die massive Aufstockung der Truppen 2010 war. Solche Betrachtungen liegen jedoch außerhalb der hier behandelten zentralen Forschungsfrage.
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7. Ergebnis
7.2.1.2 Ausweitung des ISAF-Engagements über Kabul hinaus (Kundus, Feyzabad) Bei den Entscheidungen zur Ausweitung des deutschen ISAF-Engagements über Kabul hinaus, also der Übernahme der beiden PRT in Kundus (ab 2004) bzw. Feyzabad (ab 2005), die auch mit einer Erhöhung der Truppenstärke verbunden war, ist von mehreren Ursachen auszugehen. Zum einen war die deutsche Politik "Gefangene" des sehr weit gefassten politischen Zwecks beim Einstieg in die ISAF-Mission, den die Bundesregierung als "wesentlichen Beitrag Deutschlands zur Implementierung des auf dem Petersberg in Gang gesetzten nationalen Versöhnungsprozesses in Afghanistan" definiert hatte. 628 Die in der ursprünglichen militärischen Zielsetzung enthaltene Begrenzung des Einsatzraums auf Kabul und Umgebung erwies sich als nicht vereinbar mit einer derart weitgefassten politischen Zwecksetzung, so dass hierin von Anfang an eine Eskalationsursache lag. Insofern sind diese beiden Eskalationsschritte als bewusste politische Folgeentscheidungen zu werten. Die beiden Einsatzorte wurden dabei so ausgewählt, dass deutsche Soldaten möglichst nicht in kriegsähnliche Handlungen verwickelt würden. 629 Hier wird die Perzeption der Entscheidungsträger deutlich, dass die deutsche Gesellschaft aufgrund des Zivilmachtdenkens Einsätze mit Kampfcharakter wohl nur schwer tolerieren würde. Darüber hinaus gab es in der empirischen Analyse auch Hinweise darauf, dass ein weiterer Grund für die Kundus-Entscheidung im deutschen Bestreben zur Verbesserung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses lag, das durch die Auffassungsunterschiede zum Irak-Krieg erheblich beschädigt worden war. In Verbindung mit innenpolitischen Überlegungen (keine Übernahme eines PRT von den USA, das unter dem Kommando von OEF stand) kam es zu der auch von den USA gewünschten Ausweitung der Verantwortung der ISAF-Mission. So konnte die deutsche Regierung Bündnissolidarität unter Beweis stellen, ohne sich im Irak engagieren zu müssen. Mithin wirkten also auch hier multilateralistische Ursachen mit. 7.2.1.3 Übernahme der Verantwortung für den Norden Die Ausweitung der deutschen Verantwortung für den gesamten Norden, die mit einer Aufstockung der Truppenstärke auf 3.000 Soldaten verbunden war, erfolg628 629
BT Drs 14/7930 vom 21.12.2001, S. 2. Schmunk formulierte diesen Gedanken wie folgt: ,,Ähnlich den verschiedenen Engagements im westlichen Balkan sollte die Bundeswehr an der Schaffung und Erhaltung eines ,sicheren Umfelds' für den politisch-institutionellen und physisch-wirtschaftlichen Wiederaufbau mitwirken, nicht jedoch an Kampfhandlungen, und auch keine Präsenz zeigen, die an militärische Besatzung erinnern würde." (Schmunk 2005, S. 12)
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
291
te vom Grundsatz her aus Bündnissolidarität, hatte also multilateralistische Ursachen. Die Erhöhung der Truppenstärke folgte aber auch militärischen Notwendigkeiten. Denn ein signifikant vergrößerter Einsatzraum erforderte eben auch mehr militärische Mittel. Wie schon bei der Wahl von Kundus und Feyzabad hatten die deutschen Entscheidungsträger bei der Übernahme der Nordregion die Erwartung einer vergleichsweise "ruhigen" Einsatzregion. Allerdings enthielt das neue Mandat im ,,Kleingedruckten" die zeitlich und im Umfang begrenzte Möglichkeit zum Einsatz deutscher Soldaten auch in anderen Regionen, "sofern diese Unterstützungsmaßnahmen zur Erfüllung des ISAF-Gesamtauftrags unabweisbar sind."630 Diese Option war dem Drängen der Verbündeten geschuldet, dass Deutschland sich an den Kämpfen im Süden und Osten beteiligte. Von der Möglichkeit (die unter dem Zustimmungsvorbehalt des Verteidigungsministeriums stand) wurde allerdings nur sehr restriktiv Gebrauch gemacht. 631 7.2.1.4 Tomadoentsendung Die Tornado-Entsendung im Frühjahr 2007 war ein Eskalationsschritt, der politisch besonders intensiv und kontrovers debattiert wurde. Auch für diesen Eskalationsschritt konnten in der Analyse mehrere Ursachen festgestellt werden. Die erste lag im militärischen Bedarf. Auch wenn andere Aufklärungsmittel, wie Drohnen oder Videobilder aus US-Kampfflugzeugen inzwischen besser geeignet sind als die 2007 verfügbare Nassfilmtechnik der deutschen Aufklärungsflugzeuge, so ist die Feststellung des ehemaligen Befehlshabers des für die Führung von ISAF zuständigen Allied Joint Forces Command in Brunssum überzeugend, er habe bereits frühzeitig den Bedarf an einer von den USA unabhängigen Aufklärungskomponente unter der Verfügungsgewalt von ISAF angemeldet. Dass der Entsendung nach mehrmonatiger intensiver Debatte zugestimmt wurde, hat jedoch auch multilateralistische Ursachen - Stichwort "Bündnissolidarität."632 630 631
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BT Drs 15/5996 vom 21.09.2005, S. 3. So berichtete die Süddeutsche Zeitung im Mai 2007 über einen Briefwechsel zwischen dem Staatssekretär im Verteidigungsministerium und den Obleuten der Fraktionen im Verteidigungsausschuss über die Entsendung von sechs Soldaten aus dem Bereich "Operative Information" in den Süden (VgI. "Jung schickt mehrere Soldaten in den Süden" in: Süddeutsche-Online vom 05.05.2007; Zugriff: 28.02.2010). Und 2008 debattierte der Deutsche Bundestag über einen Antrag der Fraktion ,,Die Linke", 38 Femmeldesoldaten zurückzuziehen, die nach Auffassung der Bundesregierung zeitlich begrenzt, nach Auffassung der Linken jedoch permanent auf dem Flugplatz Kandahar eingesetzt waren (Drs 16/9418 vom 04.06.2008, BT PIPr 16/166 vom 05.06.2008, S. 17603 ff.). So formulierte Außenminister Steinmeier (SPD) in der ersten Lesung zum Tornado-Mandat: ,,Die Entsendung der Tornados ist ein Zeichen unserer Unterstützung der ISAF und der NATO in
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7. Ergebnis
Es gab aber in der empirischen Analyse auch in diesem Zusammenhang deutliche Hinweise darauf, dass nicht nur Bündnissolidarität, sondern erneut das ,,Abwehren" von weiteren Forderungen der Verbündeten nach Entsendung von Bodentruppen in den Süden von Afghanistan mit als Motivation der Bundesregierung unterstellt werden kann. 7.2.1.5 Übernahme der QRF-Aufgabe Die Übernahme der QRF-Aufgabe für die Nordregion durch Deutschland ab dem 01.07.2008 war der einzige Eskalationsschritt, der nicht auf einem Parlamentsbeschluss beruhte, sondern allein durch die Bundesregierung entschieden worden war. Er wurde in Politik und Öffentlichkeit intensiv diskutiert. Erste Hinweise für die Öffentlichkeit ergaben sich aus einer Information des Abgeordneten Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen), der auf seiner Homepage über Unterrichtungen der Bundesregierung im Verteidigungsausschuss am 12.12.2007 und am 16.01.2008 berichtete. Danach wollte Norwegen die QRFAufgabe ab August 2008 aufgeben. Zwar gab es zu dem Zeitpunkt noch keine offizielle Anfrage aus dem Bündnis, aber es deutete einiges - so die Darstellung bei Nachtwei - daraufhin, "dass dieser Auftrag auf die Bundesrepublik als Leadnation und Haupttruppensteller im Norden zuläuft".633 Tatsächlich erfolgte dann am 28.01.2008 die offizielle Bitte der NATO an den Generalinspekteur zur Übernahme dieser Aufgabe.634 Auf dem NATO-Verteidigungsministertreffen in Vilnius am 08.02.2008 stimmte Deutschland dieser Bitte zu. Die Entscheidung stand unter dem erheblichen Druck seitens der Bündnispartner, dass auch Deutschland sich an den Kämpfen im Süden Afghanistans beteiligen sollte. Die Presse berichtete, ,,Kanada droht mit dem Abzug von 2300 Soldaten aus Süd-Afghanistan, wenn es nicht von anderen Nato-Staaten unterstützt wird. U635
Auch US-Verteidigungsminister Gates hatte mit einem Brief an Verteidigungsminister Jung - der von der Bild-Zeitung unter dem Titel "The Germans to the Front" veröffentlicht wurde - solchen Forderungen Nachdruck verliehen, in dem er schrieb:
633 634 635
Mghanistan in zweifellos schwieriger Zeit. Ich sage: Aus meiner Sicht sind wir diese Solidarität dem Bündnis schuldig." (BT PlPr 16/91 vom 28.02.2007, S. 8128) Vgl. Homepage von Winfried Nachtwei, http://www.nachtwei.de/index.php/articles/636 vom 17.01.2008 (Zugriff: 28.02.20 I0). Vgl. ,,Nato bittet Berlin um Eingreiftruppe" in: FAZ.NET vom 29.01.2008 (Zugriff: 28.02.2010). ,,Nein zur Bundeswehr im Süden" in: Tagesspiegel-Online vom 04.02.2008 (Zugriff: 28.02.2010).
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
293
,,Deshalb möchte ich DeutscWand bitten, die Anpassung seines ISAF-Mandates in Betracht zu ziehen, um im Herbst die US-Marineinfanteriesoldaten im Regional Command South durch Einsatzgruppen zu ersetzen.''636
Dabei ging es - wie die FAZ erfahren haben wollte - um den Einsatz deutscher Gebirgsjäger. 637 Auch im Deutschen Bundestag kam die Thematik aufgrund einer Kleinen Anfrage der Fraktion Bündnis 90IDie Grünen auf die Agenda,638 in der die Bundesregierung gefragt wurde, ob die Übernahme der QRF einen ,,Militärischen Kurswechsel in Afghanistan" und den Einstieg in eine Ausweitung des deutschen Einsatzraums aufandere Regionen bedeutete. Die Bundesregierung verneinte dieses in ihrer Antwort. 639 Damit kann man als Ursache für diesen Eskalationsschritt wiederum eine Kombination aus der militärischen Notwendigkeit - dem Rückzug Norwegens aus dieser Aufgabe - und multilateralen Zwängen in Form von massiven Forderungen der Bündnispartner, allen voran der USA, konstatieren. Dabei war die Bundesregierung erneut bemüht, durch einen "kleinen" Eskalationsschritt die dauerhafte Entsendung von Truppen in den Süden zu verhindern, um ihre Fiktion vom "Nicht-Krieg" für die deutsche ISAF-Beteiligung aufrechterhalten zu können. 640 Allerdings hatte die Diskursanalyse gezeigt, dass ihr das nicht gelang, denn die QRF-Beteiligung führte zu Schlagzeilen in der Presse wie "Bundeswehrkampfeinsatz in Afghanistan hat begonnen".641 7.2.1.6 Beendigung OEF-Beteiligung und signifikante Erhöhung 2008 Die Erwartung der Bundesregierung, durch die Tornado-Entsendung und die QRFÜbernahme sei das Drängen der Verbündeten auf mehr deutsches Engagement auch bei Kampfeinsätzen abgewehrt - nach dem Ministertretfen in Vilnius hatten Regierungsvertreter dieses erklärt642 - erfüllten sich jedoch nicht. Denn schon ei636 637 638 639 640
641 642
"Germans to the Front" in: Bild-Online vom 02.02.2008 (Zugriff: 28.02.2010). VgI. "Gates fordert deutsche Soldaten für den geflihrlichen Süden" in: FAZ-Net vom 01.02.2008 (Zugriff: 28.02.2010). BTDrs 16/8144 vom 15.02.2008. BT Drs 16/8432 vom 06.03.2008. Dieses hatte die FAZ schon in ihrem Bericht über die offizielle Bitte zur übernahme der QRF angedeutet, in dem es hieß: "Jung kann auf einem Treffen der Nato-Verteidigungsminister, das nächste Woche in Vilnius stattfindet, die QRF anbieten und so etwaige Forderungen nach Truppen für den Süden abwehren." (,,Nato bittet Berlin um Eingreiftruppe" in: FAZ.NET vom 29.01.2008; Zugriff: 28.02.2010) VgI. Welt-Online vom 01.07.2008 (Zugriff: 17.07.2008). So zitierte die Süddeutsche Zeitung Verteidigungsminister Franz-JosefJung (CDU), er betrachte die "Nato-interne Debatte über das Engagement DeutscWands in Mghanistan als abgescWossen". Und
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7. Ergebnis
nen Tage später, am 09.02.2008, kam es zu neuen öffentlichen Forderungen seitens der USA, als die amerikanische NATO-Botschafterin Victoria Nuland in der ,,Berliner Zeitung" ankündigte: "Wir werden alle unsere Verbündeten, darunter Deutschland, aufdem NATO-Gipfel in Bukarest (Rumänien) emeut dringend bitten, mit uns Soldat flir Soldat, Euro flir Dollar gleichzuziehen. "643
Und wieder einen Tag später setzte Verteidigungsminister Gates auf der Münchner Sicherheitskonferenz nach und erklärte in äußerst scharfen Worten: ,,At the same time, in NATO, some allies ought not to have the luxury of opting only for stability and civilian operations, thus forcing other Allies to bear a disproportionate share ofthe fighting and the dying."'"
Dieses Drängen der Verbündeten war offensichtlich erfolgreich, denn schon am 10.02.2008 berichteten verschiedene Medien, die Bundesregierung arbeite an einem Plan, die Obergrenze des deutschen Einsatzes in Afghanistan von 3.500 auf 4.500 Soldaten zu erhöhen. Andere sprachen sogar von 6.000 Soldaten. 645 Auch wenn das Kanzleramt umgehend dementierte, so waren die Journalisten bereits in diesem frühen Stadium ganz nah an der Realität. Ein Kommentar vom Juni 2008 machte dieses deutlich: "Dementis haben kurze Beine. Der Widerruf aus dem Verteidigungsministerium konnte gar nicht laut genug sein, als im Februar am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz verlautete, wie sehr doch just im selben Ministerium geplant würde. Alles Spekulation...Genau die damals kursierenden Zahlen hat Verteidigungsminister Franz-JosefJung j etzt offiziell bestätigt.''64·
Es war aber nicht nur der Druck seitens der Bündnispartner, der diesen Eskalationsschritt auslöste, sondern auch die Verschlechterung der Sicherheitslage im "deutschen"
643
644
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Staatsminister Gemot Erler (SPD) verwies auf "die schon eingesetzten 3200 Bundeswehrsoldaten, den Tornado-Einsatz und die nun neu übernommene Aufgabe einer Schnellen Eingreiftruppe." Vgl. ,,Polenz schließt Engagement im Süden nicht aus" in: Süddeutsche-Online vom 08.02.2008 (Zugriff: 28.02.20 I 0). Gastbeitrag ,,Die Nato, die in Mghanistan entsteht" in: Berlin-Online vom 09.02.2008 (Zugriff: 28.02.2010). Und in einem Welt-Interview "Iegte sie nach" und erläuterte die Forderung von Verteidigungsminister Gates nach Ablösung der US-Marines im Süden wie folgt: "Wir fordem uns also selbst sehr viel ab und verlangen weitere Opfer von unseren Soldaten, deshalb bitten wir alle unsere Verbündeten, sich ebenfalls viel abzuverlangen." Vgl. "US-Nato-Botschafterin lobt deutschen Mghanistan-Einsatz" in: Welt-Online vom 11.02.2008 (Zugriff: 28.02.2010). Rede US-Secretary ofDefense Robert M. Gates auf der 44. Münchner Konferenz flir Sicherheitspolitik am 10.02.2008, http://www.securityconference.deIarchive/konferenzen/rede.php?menu_2008 =&menu_konferenzen=&sprache=de&id=216& (Zugriff: 28.02.2010). Vgl. Bericht ,,Die Angst der Deutschen vor dem Neinsagen" in: Welt-Online vom 10.02.2008 (Zugriff: 28.02.2010). ,,1 000 Mann und ein Befehl" in: Bonner Generalanzeiger vom 25.06.2008, S. 2.
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
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Norden, der zu der militärisch begründeten Forderung nach mehr Truppen gefiihrt hatte. 647 Man kann also auch hier wieder das Ursachenbündel aus multilateralistisehern Druck und militärischer Notwendigkeit feststellen. Allerdings war die innenpolitische Durchsetzung des Eskalationsschritts problematischer als in der Vergangenheit. In der SPD-Fraktion wuchsen die Zweifel über die Notwendigkeit der Eskalation, die im Kontext mit der Forderung der NATO nach AWACS-Flugzeugen sowie mit der im November 2008 anstehenden OEF-Mandatsverlängerung gesehen wurde. Zu letzterer erklärte der Verteidigungspolitiker der SPD-Fraktion, Hans-Peter Bartels, gegenüber der "Welt": "In der SPD-Fraktion gibt es die breite Erwartung, die 100 KSK-Spezialkräfte aus dem OEFMandat herauszunehmen. "648
Von daher war es nachvollziehbar, dass Außenminister Frank-Walter Steinmeier mit einer Initiative"vorpreschte" und kurz vor der ISAF-Mandatsentscheidung forderte, die deutsche Beteiligung an OEF in Afghanistan aus dem Mandat herauszunehmen. Als Begründung fiihrte er an, die Spezialkräfte seien in den vergangenen drei Jahren kein einziges Mal im Rahmen von OEF eingesetzt worden. 649 Die Berline Zeitung kommentierte diese Forderung mit der Wertung: ,,Natürlich fordert Steinmeier dies vor allem, um die Zustimmung seiner SPD zu einer allgemeinen Verlängerung des Bundeswehr-Einsatzes in Mghanistan zu sichern. Das Verteidigungsministerium, das die Spezialtruppen nicht abziehen will, kann dennoch nur pauschal parieren, die Elitesoldaten hätten durchaus Waffenlager ausgehoben oder finstere Gestalten festgenommen. Statt derart ungenau zu bleiben, sollte die Bundeswehr endlich einmal ins Detail gehen. Nur so gelänge es, das Misstrauen zu zerstreuen, dass die KSK Dinge tut, die nicht nur aus militärstrategischen Überlegungen keiner wissen sollte".6'0
Die aus Steinmeiers Vorstoß entstehende Kontroverse innerhalb der Großen Koalition 651 ist einigermaßen erstaunlich und wohl schon dem kommenden Wahlkampf geschuldet - Steinmeier war gerade zum Kanzlerkandidaten der SPD gewählt worden - da schon im Februar 2008 Überlegungen bekannt geworden waren, die Bundesregierung prüfe einen Ausstieg aus dem OEF-Anteil in Afghanistan. 652 647 648 649
650 651 652
Vgl. z.B. das Interview mit dem Chefdes Stabes von ISAF, Generalmajor Lothar Domröse "Das wird gefilhrlich" in: Welt-Online vom 30.06.2008 (Zugriff: 17.07.2008). "SPD-Linke macht Steinmeier Ärger" in: Welt-Online vom 24.09.2008 (Zugriff: 07.10.2008). Vgl. "Steinmeierwill KSK-Kräfte abziehen" in: FAZ.NETvom 04.10.2008 (Zugriff: 05.10.2008) und "Die Geheimniskrämerei der Bundeswehr" in: Berlin-Online vom 06.10.2008 (Zugriff: 17.10.2008). "Die Geheimniskrämerei der Bundeswehr" in: Berlin-Online vom 06.10.2008 (Zugriff: 17.10.2008). Vgl. z.B. "Union verärgert über Steinmeiers KSK-Forderung" in: Welt-Online vom 05.10.2008 (Zugriff:07.IO.2008). Vgl. "OEF-Ausstieg erwogen" in: Welt-Online vom 16.02.2008 (Zugriff:01.07.2009).
296
7. Ergebnis
Und tatsächlich verzichtete die Bundesregierung dann auch in ihrem Antrag zur Mandatsverlängerung für OEF auf den Anteil in Afghanistan und begründete dieses mit der Schwerpunktverlagerung in Afghanistan von OEF hin zu ISAF.653 Damit ist festzustellen: die deutsche Entscheidung zur Beendigung des OEFAnteils in Afghanistan war nur formal ein Schritt zur Deeskalation. Denn zum einen waren die deutschen Spezialkräfte für die Operationen von OEF offensichtlich irrelevant geworden - die Kräfte wurden seit einiger Zeit im Rahmen von ISAF eingesetzt. 654 Zum anderen diente dieser Verzicht der "innenpolitischen Kompensation" für die innerhalb der SPD-Fraktion umstrittene Zustimmung zur Eskalation von ISAF. 7.2.1.7 AWACS-Entscheidungen 2009 Auch für die AWACS-Entscheidung vom 02.07.2009 ist davon auszugehen, dass die in den beiden vorigen Abschnitten herausgearbeiteten Gründe ebenso für diesen Eskalationsschritt galten. Ausgangspunkt war der militärische Bedarf, die Flugsicherheit im afghanisehen Luftraum mit einer stark gewachsenen Präsenz von Militär- und Zivilluftfahrt zu erhöhen. 655 Allerdings liegt es in der Einsatzcharakteristik der AWACS, dass sie natürlich auch Kampffiugzeuge leiten können. 656 Dieses fiihrte zu erheblichen Bedenken und zu kritischen Kommentaren bei führenden Abgeordneten des Verteidigungsausschusses. 657 653 654
655
656 657
BT Drs 16/10720 vom 29.10.2008, S. 4. So heißt es in einem Beitrag "Das KSK ohne Legende" auf der Homepage der Bundeswehr: ,,Aktuell sind die KSK-Spezialisten allerdings flir das deutsche ISAF-Kontingent im Einsatz: In der Region Kunduz in Nordafghanistan helfen sie bei der Festnahme von Terroristen, die flir den Anschlag auf drei Bundeswehrsoldaten im Mai 2007 verantwortlich gewesen sein sollen." (http://www.y-punkt.de/portal/a/ypunkt/ kcxml/04_Sj9SPykssyOxPLMnMzOvMOY_QjzKLNzKL9zUwBclB2Yb6kRiiPmGmSKJBKan63vq-Hvm5qfoB-gW50RHlj06KADmRGj8!/delta/ base64xm1/L2dJQSEvUUt3QS80SVVFLzZfMj ZfITEy?yw_contentURL=/OI DB BI 000000001/ W27JEF6H336INFODE/content.jsp.html; Zugriff: 28.02.20 I 0) Der Befehlshaber desAllied Joint Forces Command Brunssum, General Egon Ramms, bestätigte dieses ausdrücklich und flihrte aus: "AWACS war ein Diskussionsgegenstand bereits 2006 und wir haben ganz einfach aufgrund der Verdoppelung der Starts und Landungen in Kandahar und Kabul und der Beflillung des Luftraums eine tiefe Sorge, dass wir irgendwann einen Zusammenstoß haben werden zwischen einem zivilen und einen militärischen Luftfahrzeug. Weil der Luftraum in Afghanistan aufgrund der Geländestruktur (Hindukusch und Topografie) mit den vorhandenen Radargeräten nicht komplett zu überwachen ist." (Interview mit dem Autor am 17.11.2009) VgL ,,Bundeswehr soll auch Kampfjets geleiten" in Berlin-Online vom 25.09.2008 (Zugriff: 28.02.2010). Die Süddeutsche Zeitung zitierte erste Reaktionen nach Bekanntwerden der Anforderung durch den Oberbefehlshaber: "Skeptisch zeigte sich der SPD-Verteidigungsexperte Rainer Amold. In der Nato sei die Frage nicht ausreichend diskutiert worden, inwieweit man bei Luft-Boden-Kämpfen zivile Opfer billigend in Kauf nehme. Die FDP-Abgeordnete Birgit Homburger ist verärgert über die ,Salamitaktik' der Bundesregierung. Als die Regierung im Juni die Aufstockung des
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
297
Die zweite Komponente des Begründungsmusters, der multilateralistische Handlungsdruck, trat jedoch nicht so deutlich zu Tage, wie bei den beiden vorherigen Eskalationsschritten. So wurde weder im Antrag der Bundesregierung658 noch in den beiden Plenardebatten659 aufdiese Begründung abgehoben. Allerdings ergab er sich aus dem Gesamtzusammenhang. Denn nach Bekanntwerden der ins Haus stehenden Forderung aus dem Bündnis formierte sich eine breite Ablehnungsfront aus Regierung, Koalitionsfraktionen und Opposition. 660 Dennoch wurde das Mandat mit deutlicher Mehrheit beschlossen. Ein Kommentar in der Kölnischen Rundschau formuliert als plausible Begründung dafür: ,,Nachdem US-Präsident Obama nun alle Kraft auf die Beendigung des Antiterrorkriegs in Afghanistan lenkt, fiihlt sich Berlin mehr denn je in der Pflicht, einen Beitrag zur Stabilisierung zu leisten. Im Kern geht es um die Bitte Washingtons, die Radaraufklärung am Hindukusch zu übernehmen, um die Lasten des Krieges gegen die Taliban und des Wiederaufbaus Afghanistans gerechter zu verteilen. "661
Dass das AWACS-Mandat nach knapp sechs Monaten nicht weiter verlängert wurde, ist nicht als Deeskalationsschritt zu bewerten, denn es ging bei dieser Entscheidung nicht darum, das militärische Engagement zu verringern. Die Gründe lagen vielmehr darin, dass es nicht gelungen war, durch internationale Verhandlungen die Voraussetzungen für einen Einsatz der Flugzeuge zu schaffen (Überflugrech-
658 659 660
661
Afghanistan-Kontingents um 1000 auf4500 Mann angekiindigt habe, sei von einem Problem bei der Luftraumüberwachung nicht die Rede gewesen. ,Äußerst problematisch' nannte der GrünenExperte Winfried Nachtwei das Nato-Ansinnen, da der Einsatz noch stärker mit OEF verknüpft sein würde als die seit Frühjahr 2007 laufende Mission der deutschen Aufklärungs-Tornados. Der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Bemd Siebert, sieht keinen Zeitdruck. ,Wenn alle Fragen solide beantwortet sind, dann sehe ich keine Möglichkeit, Nein zu sagen', sagte Siebert." (in: "Bedenken gegen AWACS-Flüge" in: Süddeutsche-ünline vom 20.07.2008; Zugriff: 28.02.1010) BT Drs 16/13377 vom 17.06.2009. BT PIPr 16/226 vom 17.06.2009 und BT PIPr 16/230 vom 02.07.2009. So formulierte die TAZ: "Die Bundesregierung wird vermutlich versuchen, den Wunsch des lsaf-Kommandos in Afghanistan nach Awacs-Aufklärungsflugzeugen abzubiegen, bevor er die Ebene deutscher Politik erreicht" und zitierte den Abgeordneten Winfried Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen) mit dem Satz: ,,Man muss beflirchten, dass wir Schritt flir Schritt in eine Sache hineingeraten, deren Dimension wir nicht beurteilen können." Und den CDU-Abgeordnete Bernd Siebert mit der Aussage: "Ich rate zur Zurückhaltung und zum Abwarten." ("Bloß keine Flugzeugdebatte mehr" in: TAZ-Online vom 11.07.2008; Zugriff: 12.07.2008) Der Abgeordnete Rainer Amold (SPD) wurde in der FAZ wie folgt zitiert: "Ich glaube nicht, dass es dazu kommt" ("Awacs Flugzeuge flir Isaf angefordert" in: FAZ.NET vom 11.07.2008; Zugriff: 11.07.2008) Kommentar "Aufklärung dringend nötig" in: Kölnische Rundschau-Online vom 12.06.2009 (Zugriff: 28.02.2010).
298
7. Ergebnis
te, Stationierungsrechte), und dass nicht absehbar war, wann diese Voraussetzungen gegeben sein würden. 662 7.2.1.8 Aufstockung 2010 Die Ursachenfaktoren der Eskalation seit 2006 - militärische Forderungen und multilateralistischer Druck - waren auch beim letzten in dieser Analyse untersuchten Eskalationsschritt maßgeblich, der Aufstockung des deutschen Kontingents auf 5.350 Soldaten im Februar 2010. Dabei traten die militärischen Gesichtspunkte als Auslöser der Dynamik besonders deutlich hervor. So bildete die militärische Lagebeurteilung von General McChrystal- die dieser bezeichnenderweise an der militärischen Hierarchie vorbei direkt an das Weiße Haus lieferte - die wesentliche Grundlage für die Entscheidungen Präsident Obamas zur Änderung der amerikanischen politischen Zielvorstellung in Richtung eines Einstiegs in den Ausstieg. Und für dieses neue Ziel wurden mehr militärische Ressourcen benötigt. Es war ein deutliches Zeichen für die amerikanische Hegemonialstellung, dass Präsident Obama seinen "Strategiewechsel" und die massive Erhöhung der Truppenstärke nicht auf der im Dezember 2009 stattfindenden NATO-Außenministertagung zur Diskussion stellte, sondern sie zwei Tage vorher unilateral ankündigte und dabei deutliche Erwartungen an die Bündnispartner formulierte. So schrieb das Handelsblatt, die USA erwarteten von ihren Verbündeten eine Aufstockung der Truppen in Afghanistan um 5.000 bis 7.000 Soldaten. 663 Und die "Welt" titelte: "US-Präsident Obama setzt Deutschland unter Druck".664 Die Analyse hatte im Kapitel 5.1.4.3 herausgearbeitet, dass die deutsche Politik den "Strategiewechsel" vom Wiederaufbau Afghanistans hin zu einer ExitStrategie ("Übergabe in Verantwortung") bereits vor der Veröffentlichung der Forderungen von General McChrystal diskutiert hatte. 665 Allerdings beinhalteten die
662
663 664 665
Die Darstellung in den Medien (z.B. "AWACS-Mandat soll nicht verlängert werden" in: FAZNet vom 17.11.2009; Zugriff: 12.12.2009) wurde auch vom Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum, General Egon Ramms, bestätigt. Dieser erklärte: "Von der militärischen Seite ist alles gemacht worden, aber unser NATO HQ ist nicht in Verhandlungen eingetreten mit irgendwelchen Ländern wegen Überflugrechten oder Stationierungsrechten und dergleichen Dinge mehr." (Interview mit dem Autor am 17.11.2009) "Westerwelle torpediert Obamas Afghanistan-Forderungen" in: Handelsblatt-Online vom 02.12.2009 (Zugriff: 01.03.2010). Welt-Online vom 02.12.2009 (Zugriff: 02.12.2009). So hatte Außenminister Steinmeier als Kanzlerkandidat im August 2009 - wahrscheinlich wahlkamptbedingt - einen ,,Fahrplan für einen Abzug aus Afghanistan" gefordert, was zunächst durch die Bundeskanzlerin aufgenommen wurde und danach auch im Koalitionsvertrag der nenen Bundesregierung ihren Niederschlag fand (s. Kap..5.1.4.3).
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
299
deutschen Vorstellungen zu der Zeit noch keine Überlegungen zur Verstärkung des militärischen Engagements. Obamas Forderungen an die Bündnispartner wurden hinsichtlich Deutschlands - nach Darstellung des ,,Handelsblatt" - wie folgt präzisiert: ,,Die ,Leipziger Volkszeitung' berichtete unter Berufung auf Regierungsvertreter in Berlin, Obama habe im Rahmen seiner neuen Afghanistan-Strategie um die zusätzliche Entsendung von 2000 Bundeswehrsoldaten gebeten. Nach einem Bericht der ,Bild'-Zeitung hat sich Berlin auf Forderungen der USA nach bis zu 2500 zusätzlichen Bundeswehrsoldaten eingestellt."
Allerdings habe Bundesaußenminister Guido Westerwelle dazu erklärt, vor der Afghanistan-Konferenz und den strategischen Diskussionen aufdieser Konferenz sei "eine Debatte über Truppenstärken und deutsche Beteiligung aus unserer Sicht weder sinnvoll noch angebracht.''6··
Auch die Bundeskanzlerin äußerte sich zunächst zurückhaltend und erklärte, Deutschland werde sich erst nach der Afghanistan-Konferenz entscheiden, "ob und gegebenenfalls was wir an zusätzlichen Anstrengungen machen."667 Demonstrativ verlängerte der Deutsche Bundestag daher am 03.12.2009 für 12 Monate ein unverändertes Mandat für die deutsche ISAF-Beteiligung. Einen Tag später bescWossen die NATO-Außenminister auf ihrem Treffen am 04.12.2009 zwar eine Erhöhung der Truppenkontingente um 7.000 Soldaten, Deutschland hielt sich jedoch mit konkreten Zusagen zurück und geriet so im Bündnis in eine ,,Randlage". Außenminister Westerwelle blieb lange bei seiner ablehnenden Haltung - er hatte Ende im Dezember sogar gedroht, die Afghanistan-Konferenz zu boykottieren, wenn diese zu einer "reinen Truppenstellerkonferenz" werde668 - und blockierte die in Vorbereitung auf die Afghanistan-Konferenz vom Verteidigungsministerium erarbeiteten Planungen für einen Aufwuchs des deutschen ISAF-Kontingents. 669 666 667 668
669
Bericht "Westerwelle torpediert ObamasAfghanistan-Forderungen" in: Handelsblatt-Online vom 02.12.2009 (Zugriff: 01.03.2010). Vgl. "Merkel schickt keine neuen Truppen" in Berlin-ünline vom 02.12.2009 (Zugriff: 02.12.2009). Er sagte im Interview mit dem "Stern": "Wenn die Afghanistan-Konferenz in London eine reine Truppenstellerkonferenz wird, fahre ich nicht hin. Was wir brauchen ist ein breiter politischer Ansatz und eine Gesamtstrategie." (in: Stern-OnIine vom 28.12.2009; Zugriff: 01.30.2010) Vgl. "Westerwelle blockiert Guttenbergs Pläne" in: Zeit-Online vorn 12.01.2010 (Zugriff: 01.03.2010). Der Kölner Stadtanzeiger hatte bereits Ende Dezember 2009 die Information verbreitet, dass sich der Außenminister auf eine minimale Erhöhung festgelegt habe: ,,Mehr als 200 Soldaten zusätzlich zu den 4500, die das aktuelle Mandat der Bundeswehr erlaubt, seien auf keinen Fall drin, verlautet inoffiziell aus dem Außenministerium. Eine Aufstockung um 2000 Soldaten, für die es bereits unter dem Verteidigungsminister der großen Koalition, Franz JosefJung, Planspiele gegeben hat, sei völlig unvorstellbar." (in: Kölner Stadtanzeiger-Qnline vom 29.12.2009, Zugriff: 01.03.2010)
7. Ergebnis
300
Die Erwartungen der USA und aus der NATO beeinflussten dann aber letztlich doch die deutsche Position. Diese Situation hatte Holger Möhle nach der Verlängerung des unveränderten Mandats Anfang Dezember "prophetisch" zutreffend kommentiert: ,,Das Plenum wird 2010 in dieser Sache nachsitzen müssen. Wenn die NATO-Führungsmacht USA von Deutschland bis zu 2.500 Soldaten für die gemeinsame Mission nachfragt, kann die Antwort aus Berlin nicht Null lauten. Eine Sorge wäre Merkei dann endgültig los: Kampftruppen in den Süden müsste sie dann definitiv nicht mehr schicken."·7o
Daher kam es kurz vor der Afghanistan-Konferenz zu einem Kompromiss, bei dem nicht nur die weit auseinander liegenden Positionen des Auswärtigen Amtes und des Verteidigungsministeriums, sondern auch die der SPD zusammengeführt werden mussten. Diese hatte sich - wie oben dargestellt - gegen die Entsendung "zusätzlicher Kampftruppen" ausgesprochen und plädierte für die Definition eines "Abzugskorridors".671 Entsprechend sah das Mandat eine moderate Erhöhung und eine Verlagerung des Schwerpunkts hin zu mehr Ausbildung für die afghanisehe Armee vor. Es wird an diesem Eskalationsschritt deutlich, dass innenpolitische Gesichtspunkte in der neuen Konstellation der 17. Legislaturperiode ein stärkeres Gewicht bekamen. So wurden in der Mandatsdebatte Ende Februar 2010 in mehreren Debattenbeiträgen Fehler im bisherigen Vorgehen eingeräumt und eine verstärkte öffentliche Debatte gefordert. 672 Insgesamt waren öffentliche Meinung und kritische Positionen in Regierung und Parlament nicht wirkungslos, aber Erwartungsdruck der Bündnispartner und pfadabhängigkeit waren letztlich stärker.
7.2.2 Gewicht der Hypothesen im Eskalationsprozess Das vorstehende Resümee der Stärke der Hypothesen im Verlauf des Eskalationsprozesses soll in folgender Matrix schematisch im Überblick dargestellt wer670 671
672
,,Berliner Befreiungsschlag" in Bonner Generalanzeiger vom 04.12.2009, S. 2. Der Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier formulierte in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen: ,,Die SPD will, dass mit dem Abzug der Truppen im Jahr 2011 begonnen wird, so, wie es auch Präsident Obama vorgeschlagen hat. Und wir wollen, dass im Korridor zwischen 2013 und 2015 die Sicherheitsverantwortung ganz in afghanisehe Hände übergeht." (in: Hannoversche Allgemeine-Online vom 26.01.2010; Zugriff: 01.03.2010) So formulierte z.B. der Abgeordnete Lars Klingbeil (SPD):"Ich werde dem Mandat heute zustimmen. Ich tue das in der Überzeugung, dass wir in Afghanistan Verantwortung tragen. Ich tue das aber auch in dem Wissen, dass wir in unserem bisherigen Engagement Fehler gemacht haben. Vor allem tue ich das verbunden mit der Aufforderung an alle Fraktionen hier im Bundestag: Lassen Sie uns endlich anfangen, eine breite, öffentliche Debatte über unser Engagement in Afghanistan zu fiihren! Das ist unsere Aufgabe als Abgeordnete." (BT PIPr 17/25 vom 26.02.20 I0, S. 2195).
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
301
den. Dabei wird die Relevanz der entsprechenden Hypothese bei einem Eskalationsschritt zum einen durch die Zahl der ,,+"-Zeichen (aufsteigend), zum anderen durch die Tönung eines Feldes gekennzeichnet (je mehr Relevanz, desto dunkler).673
Tabelle 6: Überblick über die Relevanz der Hypothesen im Eskalationsprozess Hyp.l Erstentscheidung
++
KundusIFeyzabad
+
Hyp.2
Hyp.3
Hyp.4
Hyp.5
+
+
+
+
+
Hyp.6
Hyp.7
+++
+++
+
++
Nordregion
+
+
+
++
++
+
++
Tomado-Entsendung
++
++
+++
++
++
++
++
QRF-übemahme
+
++
+++
+++
+++
Erhöhung 2008
++
++
AWACS-Entsendung Erhöhung 2010
Hyp. I: Hyp. 2: Hyp.3: Hyp. 4: Hyp.5: Hyp. 6: Hyp.7:
++
+
+
++
+++
++
+++
++
++
+
++
+++
++
++
+++
++
++
+++
++
+
Multilateralismus/Zivilmachtdenken relevante Einflussfaktoren, nicht hingegen "nationale Interessen" Eskalatorische Wirkung des Multilateralismus Spannungen zwischen Multilateralismus und Zivilmachtdenken Schwächung des Primats der Politik durch unpräzisen/unrealistischen politischen Zweck steigendes Gewicht militärischer Aspekte durch Diskrepanz zwischen zivilen und militärischen Mitteln Trotz "Parlamentsarmee" Dominanz der Exekutive in den Entscheidungen Wegen Dominanz der Exekutive im gesellschaftlichen Diskurs kaum Relevanz anderer Akteure
7.2.3 Beantwortung der zentralen Forschungsfrage Nach der Bewertung der einzelnen Eskalationsschritte soll abschließend als Gesamtzusammenfassung die zentrale Forschungsfrage beantwortet werden. Diese lautete:
673
Der Autor dankt Herrn Prof. Dr. Helmut Breitmeier flir die Anregung zu dieser Darstellung.
302
7. Ergebnis "Welche Erklärungen gibt es - vor dem Hintergrund der verfilssungsrechtlich starken Stellung des Deutschen Bundestages ("Parlamentsarrnee") - für die Eskalationsdynamik der deutschen Einsätze?"
Aus den überprüften und weitgehend als plausibel erkannten Hypothesen sowie der Bewertung der einzelnen Eskalationsschritte kann man als Gesamtergebnis der Analyse feststellen: Deutschland ist 2001 de facto in die Afghanistaneinsätze ,,hineingeschliddert" und fand sich anschließend auf einer "großen schiefen Ebene" wieder. 674 Mit einer solchen Wertung wechselt die Betrachtung von einer rein deskriptiven Verwendung des Begriffs "Eskalation" hin zu einer normativen. Denn ein solches Bild impliziert, dass die Ausweitung der Einsätze entgegen den ursprünglichen Zweck- und Zielvorstellungen der Entscheidungsträger erfolgte. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende der SPD und Verteidigungsminister von 2002-2006, Dr. Peter Struck, räumte dieses in einer TV-Reportage ein, als er erklärte: ,,Dass wir in die Situation geraten können, wie die Sowjetunion dort oder die Briten als Besatzungsmacht, das hat niemand im Kopf gehabt, niemand. Wir haben auch gedacht, wir sind in zwei oder drei Jahren da draußen.'<6?>
Die Wurzeln dieser nicht beabsichtigten Eskalationsdynamik lagen bereits in den Erstentscheidungen. In der äußerst emotionalisierten Atmosphäre nach 9/11 hatten die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag den USA (uneingeschränkte) Solidarität versichert. Die Bevölkerung stand mehrheitlich hinter diesen Erklärungen. Als die USA im Rahmen ihres "war on terrorism" Bündnissolidarität einforderte, war die Bundesregierung bereit, diesem zu folgen und sich mit einem kleinen Kontingent von Spezialkräften an der Operation OEF - einem Kampfeinsatz - zu beteiligen, wobei der Bundeskanzler zur Durchsetzung seiner Absicht im Parlament sogar das Mittel der Vertrauensfrage einsetzte. Dadurch verhinderte er, dass die Kontrollaufgabe des Parlaments - das aufgrund des Konstrukts der ,,Parlamentsarmee" mit einer Vetoposition ausgestattet ist - vorrangig problembezogen wahrgenommen wurde. Koalitions- und Machterhalt der rot-grünen Regierung überlagerten die Sachentscheidung, was zu der überwiegenden Meinung der befragten Koalitionsabgeordneten führte, sie seien "erpresst" worden. Knapp drei Wochen später - die Taliban galten nach ihrer Vertreibung aus Kandahar als besiegt - setzten die USA im Sicherheitsrat durch, dass die VN mit der Aufgabe des Wiederaubaus, eines "state" bzw. "nation building", beauftragt 674 675
"Die große schiefe Ebene" titelte die FAZ nach der Bombardierung der Tanklastwagen bei Kundus Anfang September 2009 in: FAZ.NET vom 06.09.2009 (Zugriff: 07.09.2009). ZDF, Frontal-Dokumentation "Sterben für Afghanistan" am 16.03.2010, eigene Transkription.
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
303
wurden. Nach der Konferenz auf dem Petersberg Anfang Dezember 2001, auf der die Einsetzung einer afghanischen Interimsregierung beschlossen wurde, die durch internationales Militär (ISAF) unterstützt werden sollte, riefen die VN die Mitgliedstaaten auf, sich an der Mission zu beteiligen. Die Bundesregierung war aus Solidarität zu der Weltorganisation, aber wohl auch im Hinblick auf ihr mittelfristiges Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat und um eines kurzfristigen Prestigegewinns willen, bereit, sich an ISAF zu beteiligen bzw. 12 Monate später sogar mit die Führung zu übernehmen. Der Entscheidungsprozess in Deutschland zur Beteiligung an ISAF verlief unter extremem Zeitdruck. Zwischen dem Ende der Konferenz und dem ersten ISAF-Mandat lagen nur knapp drei Wochen. Auch wenn - wie die Analyse gezeigt und wie die Mehrzahl der befragten Akteure bestätigt hat - durchaus umfangreiche Informationen über die Verhältnisse im Einsatzland verfügbar gewesen wären, so ist davon auszugehen, dass diese in der kurzen Zeit nicht zu verarbeiten waren. Hierin liegt ein Grund dafür, dass Deutschland mit sehr unklaren Vorstellungen in die Einsätze ging. Auch dieses bestätigte der damalige Fraktionsvorsitzenden der SPD, Dr. Peter Struck, retrospektiv: "Wir sind da schon - das will ich gerne zugeben - etwas blauäugig oder auch etwas naiv an die Sache herangegangen, weil wir davon ausgingen, dass die Afghanen die ausländischen Truppen als Hilfe ansehen und uns flir den Wiederaufbau des Landes natürlich freudig begrüßen würden. ''676
Aufgrund des überstrahlenden Motivs der Bündnissolidarität mit den USA bzw. den VN wurde am Beginn der Einsätze deren politischer Zweck von deutscher Seite nur sehr vage formuliert. Kriterien für Entscheidungen über Auslandseinsätze oder operationalisierte deutsche Interessen gab es zu der Zeit noch nicht. Die Bundesregierung formulierte als Zweck, Deutschland wolle einen Beitrag "zur Implementierung des auf dem Petersberg in Gang gesetzten nationalen Versöhnungsprozesses in Afghanistan" leisten. Diesem weit gefassten politischen Zweck stand eine zunächst sehr begrenzte militärische Zielsetzung gegenüber, nämlich ausschließlich Operationen in der Region Kabul. Für mehr hätten die verfügbaren militärischen Kräfte und Mittel auch nicht gereicht. In dieser Diskrepanz zwischen politischem Zweck und militärischer Zielsetzung lag der erste Faktor, der die Eskalationsdynamik in Gang setzte. Denn im Laufe der Zeit wurde klar, dass der politische Zweck nur bei Ausfacherung des Einsatzes in das Land hinein erreichbar wäre. Hieraus resultierte entsprechender Mehrbedarf an militärischen Ressourcen.
676
ZDF, Frontal-Dokumentation "Sterben flir Afghanistan" arn 16.03.2010, eigene Transkription.
304
7. Ergebnis
In der Folgezeit wurde der politische Zweck der Einsätze nachträglich spezifiziert und detailliert ausformuliert. Dabei befand sich die Bundesregierung in einem Mehrebenendilemma zwischen multilateralistischen Erwartungen einerseits und ausgeprägtem Zivilrnachtdenken in der deutschen Gesellschaft, einschließlich in den sie tragenden Parteien, andererseits. So kam es zu Zielvorstellungen (z.B. starke Zentralregierung, Demokratisierung nach westlichen Vorstellungen, Modernisierung der Gesellschaft), die den Gegebenheiten Afghanistans - insbesondere nach Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg - nicht entsprachen (z.B. ausgeprägte ethnische und regionale Konfliktlinien, eine z.T. mittelalterlichen Gesellschaft auf dem Lande, völlig zusammengebrochene staatliche Strukturen). Da derart anspruchsvolle und umfassende Ziele militärisch nicht zu realisieren sind, wurde - konzeptionell scWüssig - mit dem Leitbild der ,,Yernetzten Sicherheit" die hohe Bedeutung nicht-militärischer Mittel und Instrumente betont. Es gelang der deutschen Politik sogar, die Grundideen dieses Konzepts auch in die Zielvorstellungen der Bündnisse einzubringen. In einem Quantifizierungsansatz wird - ohne dass dieses theoretisch oder empirisch zu untermauern wäre - von einem anzustrebenden Verhältnis von 80% zu 20% (nicht-militärisch zu militärisch) ausgegangen. In der Realisierung war das Verhältnis jedoch nahezu umgekehrt. Der nicht-militärische finanzielle Ressourceneinsatz lag und liegt - national wie international - nur bei ca. 25%. Bei den personellen Ressourcen ist das Verhältnis noch ungünstiger. Die unrealistische politische Zwecksetzung und das drastische Zurückbleiben der nicht-militärischen Missionsanteile führten zu einer Dominanz militärischer Elemente in den Entscheidungsprozessen. Diese wurde zu einem zweiten gewichtigen Faktor der Eskalationsdynamik. Zunehmend wurden die Forderungen der militärischen Führer nach mehr Kräften und Mitteln zur Beherrschung einer kontinuierlich erodierenden Sicherheitslage - zunächst im Süden und Osten, ab 2007 auch zunehmend im Einsatzgebiet der Bundeswehr im Norden - Auslöser weiterer Eskalationsschritte. Die Vorstellung einer strikten Trennung von OEF (als ,,Kampfeinsatz") und ISAF (als "Stabilisierungseinsatz") diente der deutschen Politik als Mittel, um in der Öffentlichkeit Rückhalt für die Einsätze zu behalten bzw. zu gewinnen. Diese Trennung erwies sich spätestens ab 2006 als künstlich. Die eskalatorischen Tendenzen der Kampfeinsätze im Rahmen von OEF griffen mehr und mehr auch auf ISAF über. Luftkriegsoperationen und Artillerieeinsatz forderte unter der nicht beteiligten Bevölkerung Opfer, was - in Kombination mit dem Ausbleiben von durchschlagenden Erfolgen im zivilen Wiederaufbau - die Akzeptanz von ISAF bei der Bevölkerung reduzierte und den Aufständischen immer mehr Zulauf ver-
7.2 Bewertung der Eskalationsdynamik
305
schaffte. Dieses verschlechterte die Sicherheitslage weiter, so dass die verfügbaren militärischen Kräfte und Mittel immer weniger ausreichten. Ein zu geringes Kräftedispositiv wiederum erlaubte es ISAF nicht, hinreichende militärische Präsenz im Lande zu zeigen. Es war insbesondere nicht möglich, nach "Säuberung" einer Region von Aufständischen dort weiter zu verbleiben. Nach der "Säuberung" zogen sich die ISAF-Kräfte daher häufig aus solchen Regionen wieder ZUlÜck, woraufhin die Taliban ZUlÜckkehrten und in der Bevölkerung alle bestraften, die mit dem Militär zusammengearbeitet hatten. Auch dieses führte zu einem schwindenden Rückhalt des ausländischen Militärs bei der afghanischen Bevölkerung. Unterschiedliche Zielvorstellungen zwischen den USA, den VN und der NATO - die allerdings weitgehend den Zielen des Hegemons USA folgte - konfrontierten die deutsche Politik regelmäßig mit Forderungen und Erwartungen, die den Vorstellungen in der deutschen Gesellschaft vom Gebrauch von Streitkräften als Mittel der Politik nur bedingt entsprachen. Die deutsche Politik begründete das Engagement in den Afghanistaneinsätzen zunehmend mit "deutschen Interessen", die allerdings weitgehend mit Bündnisinteressen gleichgesetzt wurden, ohne dass es zu einer nennenswerten Debatte zwischen Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit kam, in dem diese "nationalen Interessen" bzw. eine unkritisch unterstellte Kongruenz zwischen Bündnis- und deutschen Interessen diskursiv überprüft wurden. Während der deutschen Gesellschaft lange Zeit das Bild eines Hilfs- bzw. Stabilisierungseinsatzes vermittelt wurde, führten andere - die USA und die meisten Bündnispartner in der NATO - explizit Krieg. Forderungen der multilateralistischen militärischen Führung, deren Kräfte für die zu ambitionierten Ziele nicht ausreichten, wurden von den politischen Führungsinstitutionen der USA und der NATO aufgegriffen und als Forderungen an die Bündnispartner - auch an Deutschland - umgesetzt. Die nationale militärische Führung wirkte hingegen im Sinne der politischen Vorstellungen der Bundesregierung tendenziell bremsend. Die multilateralistischen Erwartungen - von der militärischen Führung initiiert und von der Politik aufgegriffen - waren somit eine dritte wesentliche Komponente der Eskalationsdynamik. Und da der gesellschaftliche Diskurs um nationale Interessen keine klare Unterscheidung von Bündnisinteressen und spezifisch deutschen Interessen hervorgebracht hatte, ist nicht auszuschließen, dass Deutschland - um das normative Bild von Kaim zu nutzen - hinsichtlich der Afghanistaneinsätze in einer ,,Multilateralismusfalle" steckte. Insgesamt deuten die multilateralistischen Entscheidungsprozesse, in die die deutschen eingebettet waren, auf ein Govemance-Versagen hin, das aufgrund der
306
7. Ergebnis
Zielsetzung dieser Untersuchung mit dem Fokus auf den deutschen Entscheidungen allerdings nur am Rande mit betrachtet werden konnte. Beim Einsatz von Militär als Mittel der Politik sollte - gemäß der Theorien des Demokratischen Friedens - die Exekutive "gebremst" werden, und zwar durch demokratische Institutionen (vorrangig das Parlament) und durch Rückbindung von Exekutive und Parlamentariern an die Wahlbevölkerung. Für letzteres sind die öffentliche Meinung sowie - als Mittler - Parteien und Medien von Bedeutung. Dass diese Mechanismen in Deutschland die Eskalationsdynamik bei den Afghanistaneinsätzen nicht wirksam verlangsamen konnten, hatte - wie die Analyse gezeigt hat - vielfältige Ursachen. Sie lagen zum einen in einer Dominanz der Bundesregierung auch im parlamentarischen Verfahren - Stichworte sind Agendasetting, Informationsvorsprung und Kontrollschwächen des Parlaments, insbesondere in Zeiten einer Großen Koalition, aber auch nach Regierungswechseln zum anderen in ihrer lange anhaltenden Dominanz im gesellschaftlichen Diskurs über die Einsätze. Ein solcher kam nennenswert sehr spät und erst unter dem Eindruck von schwerwiegenden diskursiven Ereignissen zu Stande. Vorher begegnete die Bundeswehr als solche und das, was sie in ihren Auslandseinsätzen zu leisten hatte, einem "freundlichen Desinteresse" in der Gesellschaft. Am Anfang dieses Resümees war formuliert worden war, Deutschland sei in die Afghanistaneinsätze hineingescWiddert. Die Analyse hat gezeigt, dass es sich danach auf einer ,,Rutschbahn" wiederfand. Zu weitreichende und unrealistische politische Zielvorgaben wirkten aus sich heraus eskalatorisch, schwächten den Primat der Politik und gaben so Raum für eine militärisch initiierte und multilateralistisch geförderte Eskalation, die sich aufgrund einer fortschreitenden VerscWechterung der Sicherheitslage beschleunigte. Und die theoretisch vorgesehenen ,,Bremsvorrichtungen" - Parlament und Öffentlichkeit, bzw. als Mittler zwischen Politik und Bevölkerung Parteien, Verbände und Medien - waren in den ersten neun Jahren der Einsätze nicht besonders wirksam. Erst nach schwerwiegenden Ereignissen und einem "Strategiewechsel" bei den Verbündeten kam es auch in DeutscWand - nicht zuletzt auf Druck von Medien und Öffentlichkeit - zu einer Reduzierung des Anspruchsniveaus des politischen Zwecks, weg von unrealistisch hohen Zielen, wie "state-" oder "nation building", Demokratisierung und Modernisierung der afghanischen Gesellschaft hin zum Eröffnen einer Exit-Option. Es bleibt abzuwarten, ob hierdurch der Primat der Politik wieder gestärkt wird und - nicht zuletzt aufgrund eines intensivierten gesellschaftlichen Diskurses - die Eskalationsdynamik der letzten Jahre abgebremst wird.
7.3 Folgerungen für die Theoriebildung
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7.3 Folgerungen für die Theoriebildung Die Analyse der Entscheidungsprozesse zu den Afghanistaneinsätzen in Deutschland war - in der Tradition der außenpolitischen Forschung seit Allison - von einem integrativen Ansatz gekennzeichnet, bei dem sowohl Einwirkungen aus der internationalen Umwelt als auch innerstaatliche und gesellschaftliche Einflussfaktoren erfasst werden sollten. Bei der Diskussion möglicher theoretischer Zugänge wurden neorealistische Ansätze aufgrund der Forschungsergebnisse zur deutschen Außenpolitik nach 1990 als wenig relevant bewertet und daher nicht weiter verfolgt. Die Analyse nutzte daher vorrangig institutionalistische Ansätze, sowohl was Einwirkungen von außen als auch von innen betraf, und ergänzte diese durch eine konstruktivistische Perspektive. Das Analyseproblem wurde formal als Multilevel Governance-Struktur betrachtet, bei der staatliche und nicht-staatliche Akteure auf den drei Ebenen "internationales Staatensystem", ,,nationalstaatliehe Ebene" und "substaatliche Ebene" in Interaktion stehen. Als Referenz für das empirische Vorgehen, also für die Auswahl und das Aufbereiten von Fakten und für die Analyse, wurden dabei folgende Theorieelemente genutzt: 1. 2. 3. 4. 5.
das Konzept des Multilateralismus, theoretische Überlegungen zur Entstehung von "nationalen Interessen", das Zivilrnachtkonzepts nach Maull, die Zweck-Ziel-Mittel-Relation von Clausewitz (adaptiert für die heutige Zeit) und das Konstrukt der Parlamentsarmee als Ausgestaltung institutioneller Kontrolle gemäß der monadischen Theorie des Demokratischen Friedens.
Wie ist nun die Brauchbarkeit dieser theoretischen Zugänge anhand der Ergebnisse der Analyse der Afghanistanentscheidungen in Deutschland zu bewerten? Insgesamt zeigen die Untersuchungsergebnisse die durchgehende Relevanz institutionalistischer Ansätze bei einem über der Zeitachse wechselndem Gewicht. Allerdings wurde durchgängig deutlich, dass außenpolitische Entscheidungsprozesse in DeutscWand nur umfassend zu verstehen sind, wenn die institutionalistischen Ansätze durch eine konstruktivistische Perspektive ergänzt und überlagert werden. Im Einzelnen: Zur Analyse der Einflussfaktoren aus der internationalen Umwelt hatte das Konzept des Multilateralismus hohe Relevanz. Es wurde durch eine Kombination neoliberaler Aspekte, also unter Einbeziehung von Interessen, mit solchen des
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7. Ergebnis
transnationalen Konstruktivismus, also unter Berücksichtigung von geteilten Normen und Werten, für die Analyse herangezogen. Dabei wurden die in der Theorie postulierten Unterschiede zwischen der Mitgliedschaft in einem System kollektiver Verteidigung und in einem System kollektiver Sicherheit sichtbar: •
•
im ersten Fall (der Mitgliedschaft in der NATO und ansatzweise der EU) waren aus institutionalistischer Sicht gemeinsame Interessen von Bedeutung (wobei allerdings der Diskurs in Deutschland zur Differenzierung zwischen gemeinsamen und eigenen Interessen in den Entscheidungsprozessen defizitär war), aus konstruktivistischer Sicht waren Erwartungen der Partner und damit perzipierte "Gefolgschafts-" und "Treuepflichten" handlungsleitend; im zweiten Fall (der Mitgliedschaft in den VN) kam die Legitimationsfunktion für die Anwendung von militärischer Gewalt hinzu.
Eine Besonderheit der Afghanistanentscheidungen bestand darin, dass diese sowohl in der NATO als auch in den VN sehr stark von den USA als Hegemon bestimmt wurden, so dass in bestimmten Phasen zwar formal multilateralistische Einflüsse gegeben waren, diese aber de facto bilateral geprägt bzw. überlagert wurden. Für die Erfassung und Untersuchung von Einflüssen auf die außenpolitischen Akteure durch innerstaatliche und gesellschaftliche Einflussfaktoren erwies sich die Clausewitzsche Zweck-Ziel-Mittel-Relation, die durch Abstraktion und Variation auch für militärische Einsätze in unserer Zeit gut zu adaptieren war, als nutzbares Analysetool. Über diese analytische Funktion hinaus wurde die Zweck-ZielMittel-Relation mit ihrem Postulat eines Primats der Politik auch als normatives Kriterium zur Bewertung der Entscheidungsschritte auf Rationalität verwendet. Für die Analyse der Beziehungen zwischen Exekutive und Parlament konnte das theoretische Konstrukt der ,,Parlamentsarmee" gewinnbringend angewendetwerden. Insbesondere bei den innerstaatlichen und gesellschaftlichen Wirkungszusammenhängen war die konstruktivistische Perspektive zwingend für das Verständnis der Handlungsmotivation der Akteure und damit für die Eskalationsdynamik. Dabei waren zwei konstruktivistische Aspekte zu unterscheiden: •
zum einen belegen die Forschungsergebnisse zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 eine tief in der Gesellschaft verwurzelte Kultur des Zivilmachtdenkens. Aus dieser haben sich Normen und gesellschaftliche Wertvorstellungen ergeben, nach denen militärische Einsätze nur dann als legitim angesehen werden, wenn sie vorrangig den Zielen "Verteidigen", "Schützen" und "Helfen" dienen;
7.3 Folgerungen für die Theoriebildung
•
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zum zweiten konnte herausgearbeitet werden, dass seitens der Politik offensichtlich perzipiert wurde, dass diese Grundhaltung nicht veränderbar sei. Daher unternahmen Bundesregierung und weitgehend auch die sie tragenden Parteien erhebliche Anstrengungen, im gesellschaftlichen Diskurs über Legitimation und Charakter der Einsätze auf die Zivilmachtvorstellungen in der Gesellschaft sehr stark Rücksicht zu nehmen. Dieses erfolgte auch dann noch, als die Realität sich von dem vermittelten Bild der Einsätze zunehmend entfernte. Diese Positionierung der Politik ließ außer Acht, dass - wie der sozietale Konstruktivismus unterstellt - eine "politische Kultur" zwar ein gewisses Maß an Stabilität aufweist, aber zwischen gesellschaftlichen Normen und den Akteuren eine Wechselwirkung besteht, so dass durch deren Handeln die Normen durchaus veränderbar sind. Einen deutlichen Hinweis auf die Gültigkeit dieser Grundannahme lieferte der Kundus-Vorfall vom 04.09.2009: nach nur einer Woche intensiver Diskussion zwischen Politik und Gesellschaft kam es in Meinungsumfragen zu einem signifikanten Absinken der Ablehnungsquote der Einsätze. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Regierung und Parlament möglicherweise die Chance gehabt hätten, durch eine andere, offenere und die Realitäten beim Namen nennende Informationspolitik die vom Zivilmachtdenken geprägte gesellschaftliche Ablehnung zu verändern. Zeit genug für einen Diskurs in dieser Richtung hätten die Akteure gehabt. Als Fazit für die Theoriebildung lässt sich daher aus dieser Einzelfallstudie schließen, dass zur Erklärung von außenpolitischen Entscheidungsprozessen in Deutschland institutionalistische Ansätze gut geeignet sind, sowohl der neoinstitutionalistische Zugang zur Erklärung der Interaktion mit der internationalen Staatenwelt, als auch der utilaristische Liberalismus zum Verständnis von Einflüssen innerhalb von Staat und Gesellschaft. Sie bedürfen jedoch zwingend der Kombination mit konstruktivistischen Perspektiven, weil gerade in Deutschland außenpolitische Akteure sich an Erwartungen, Normen und Werten aus Internationalen Organisationen orientieren, die zudem auch tief in der politischen Kultur der deutschen Gesellschaft verankert sind. Dabei spielt für Entscheidungen zu Militäreinsätzen insbesondere die Kultur des Zivilmachtdenkens eine große Rolle. Insofern unterstreicht diese Untersuchung auch die Notwendigkeit integrativer Forschungsansätze. Das Ausblenden von neorealistischenAnsätzen war bei unserer Fragestellung vertretbar, weil der Untersuchungsgegenstand das Handeln deutscher Entscheidungsträger war. Für Fragestellungen, die ein tiefer gehendes Verständnis des Handelns anderer Akteure auf internationaler Ebene - vorrangig des Hegemons USA
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7. Ergebnis
- erfordern, kann es jedoch geboten sein, Ansätze des "modifizierten" Neorealismus mit einzubeziehen, weil dieser innerhalb der neorealistischen Prämissen die Einbindung in und die Nutzung von Internationalen Organisationen ermöglicht.
8. Lehren aus der Causa Afghanistan ("Comparative Merit")
Abschließend sollen die dargestellten Ergebnisse der Untersuchung daraufhin bewertet werden, inwieweit aus ihnen über den Einzelfall hinaus gültige Erkenntnisse gewonnen werden. Es geht also darum, den "comparative merit" der Einzelfallstudie "Eskalationsprozess Afghanistanentscheidungen" festzustellen. Wenn die Analyse bisher vorrangig empirisch-analytisch erfolgt war, so steht das Herausarbeiten von Lehren aus der Einzelfallstudie unter einem anderen Blickwinkel Das Ergebnis, dass Deutschland in die Afghanistaneinsätze "hineingeschliddert" war und sich auf einer "Rutschbahn" wiederfand, wird mit der normativen Sicht der monadischen Theorie des Demokratischen Friedens verknüpft, nach der durch institutionelle Regelungen sowie durch Rückbindung der Regierenden an die Wahlbürger der Handlungsspielraum der Exekutive bei Entscheidungen über Krieg und Frieden beschränkt werden soll. Die Fragestellung lautet damit, welche Lehren aus dem Einzelfall zu ziehen sind, um in vergleichbaren Entscheidungssituationen Eskalationsprozesse mit eigendynamischen Faktoren weitestgehend zu kontrollieren und damit einen nicht intendierten ,,Rutschbahneffekt" zu vermeiden. Die folgenden Überlegungen sind also normativ.
8.1 Durch Pfadabhängigkeit herausragende Bedeutung der Erstentscheidung Der erste Komplex der Lehren aus der "CausaAfghanistan" knüpft an den Befund des "Rutschbahneffekts" an. Das Beispiel des Eskalationsprozesses der deutschen - wie auch der internationalen Einsätze insgesamt - zeigt ein hohes Maß an Pfadabhängigkeit der einzelnen Entscheidungsschritte. Ein ,,Aussteigen" aus einem militärischen Einsatz ist schwer zu realisieren, wenn man sich erst einmal engagiert hat. Dieses Phänomen kann man bei einer Vielzahl von Eskalationsbeispielen aus den vergangenen Jahren und Jahrzehnten beobachten, so bei den US-Interventionen in Vietnam und im Irak, bei der Intervention der Sowjetunion in Afghanistan, aber auch bei den NATO-Interventionen auf dem Balkan. Die Dauer solcher Einsätze überstieg immer die anfangs anvisierten bzw. erwarteten Zeiträume, sie
U. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8. Lehren aus der Causa Afghanistan ("Comparative Merit")
ging i.d.R. - wie Helmut Schmidt in einem "Zeit"-Interview betonte677 - über die Dauer des beiden Weltkriege hinaus. Dieses unterstreicht die herausragende Bedeutung der Erstentscheidung für einen Einsatz des Militärs als Mittel der Politik, bei der besondere Sorgfalt in der Entscheidungsvorbereitung geboten ist. Aus den Entscheidungsprozessen 200112002 erkennt man, dass starker Zeitdruck - in der Terminologie von Haftendom ein Merkmal von ,,Krisenentscheidungen", die definitionsgemäß durch unvollständige Information und Unsicherheit gekennzeichnet sind - dazu führen kann, dass eine nur rudimentäre Entscheidungsvorbereitung erfolgt. Da in der realen Politik Entscheidungen unter Zeitdruck in bestimmten Situationen nicht vermieden werden können, ist die Lehre aus dem Afghanistan-Fallbeispiel, dass gerade in solchen Situationen das Sammeln und Bewerten verfügbarer Informationen zwingend geboten ist und auch bei Druck durch Bündnispartner oder die öffentliche Meinung nicht unterbleiben darf. Dieses gebietet die Sorgfaltspflicht sowohl der Regierung als auch des Parlaments. Dieses trifft insbesondere bei Entscheidung über militärische Einsätze in fremden Kulturkreisen zu. Ein Kommentar von Torsten Krauel nach den Karfreitag-Angriffen 2010 bei Kundus, bei denen drei deutsche Soldaten getötet und acht weitere verletzt und in dessen Folge fünfafghanische Soldaten von den Deutschen irrtümlich erschossen wurden, unterstreicht diesen Gedanken nachdrücklich. Es heißt darin: ,,sie (die jungen deutschen Soldaten UvK) haben ihre Pflicht als Soldat getan, sie haben geahnt, was das bedeuten könnte, aber wirklich daraufvorbereitet waren sie nicht. Die deutsche und die
afghanische Lebenswirklichkeit sind zu verschieden daflir. Sie haben erlebt, was vor ihnen Tausende amerikanische Soldaten im Irak erlebt haben - der Einsatz im Orient ist ein Auftrag, den die Auftraggeber nur selten in seiner ganzen Tragweite verstehen." 678
Das Zustandekommen der Erstentscheidungen 2001 hat darüber hinaus deutlich gemacht, dass in einer Phase starker Emotionalisierung bei Regierung, Parlament und Bevölkerung dieses Risiko unzureichender Entscheidungsvorbereitung besonders ausgeprägt ist. In Kap. 2.2.5.1 war dieses unter dem Stichwort ,,Macht der Propaganda" als eine der ,,Antinomien des Demokratischen Friedens" skizziert worden. Münkler formulierte diese Gedanken wie folgt: ,,zu einer neuen Sicherheitsarchitektur gehört, dass man Einsätze sorgfil1tig und gründlich durchdenkt, bevor man sich dazu entschließt, dass man sich dabei unter keinen Umständen von Medienkampagnen mit Berichten über schwere Menschenrechtsverletzungen und Bildern des Grauens zu schnellen Entscheidungen verlocken lassen darf ..." (Münkler 2007, S. 14) 677 678
VgL: ,,Dieser Krieg ist nicht zu gewinnen" in: Zeit-Online vom 28.01.2010 (Zugriff: 29.01.2010). "Taliban Angriff zeigt strategische Schwäche der Isaf' in: Welt-0nline vom 03.04.2010 (Hervorhebung UvK; Zugriff: 04.04.2010).
8.1 Durch Pfadabhängigkeit herausragende Bedeutung der Erstentscheidung
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Eine weitere Lehre aus der Causa Afghanistan ist, dass vor einem Einsatz die Formulierung von ,,nationalen Interessen" und deren Relation zu Bündnis- bzw. Partnerinteressen eine conditio sine qua non ist, damit diese eine Funktion als ,,Richtschnur" für Entscheidungen erfüllen können. Die theoretische Diskussion des Begriffs der nationalen Interessen hatte die Wichtigkeit von Diskursen zwischen Politik und Gesellschaft, insbesondere auch unter Einbeziehung der Wissenschaft, betont, sollen "nationale Interessen" nicht - wie am Afghanistanbeispiel zu sehen - als bloße (nachträgliche) Rechtfertigung der Handlungen der Entscheidungsträger genutzt werden. Das Fallbeispiel hat weiterhin als eine der entscheidenden Lehren unterstrichen, dass die Formulierung eines umfassenden politischen Zwecks vor Beginn des Einsatzes zwingend erforderlich ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in "neuen" Kriegen - HippIer spricht von "Aufstandskriegen" oder "kriegerische Auseinandersetzungen im Kontext von failed states" (HippIer 2009, S. 38) - die militärischen Instrumente nur einen kleinen Teil zur Lösung eines Problems beitragen können. Bei der Formulierung des politischen Zwecks sind daher die militärisch und die nicht-militärisch zu erreichenden Ziele zu definieren. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob erstere überhaupt mit militärischen Mitteln erreichbar sind, ob also die "Wertrationalität des Zwecks" gegeben ist. Diese Prüfung sollte eine explizite Bewertung durch die militärische Führung beinhalten, die dokumentiert und Bestandteil des politischen Entscheidungsprozesses wird. Bei Einsätzen in Koalitionen muss diese Formulierung von Zweck und Ziel zunächst auf der multinationalen Ebene erfolgen und ist danach für die nationale Ebene umzusetzen. Die aktive nationale Beteiligung am multinationalen Prozess der Zweck- und Zielbestimmung ist unabdingbar, da die letzte Verantwortung bei den souveränen Nationen liegt. Wenn die multinationale Zweck-/Zielbestimmung defizitär ist, muss eine Präzisierung für den Einsatz der nationalen Kontingente ergänzend national erfolgen. Darüber hinaus sind die Mittel- sowohl die militärischen als auch die nichtmilitärischen - dem politischen Zweck entsprechend zu definieren und auch zur Verfiigung zu stellen. Somit sind "Verfahrensrationalität der Ziele" und ,,zweckrationalität der Mittel" sicherzustellen, und zwar für einen längeren Zeitraum. Mit anderen Worten ist - um noch einmal Münkler zu zitieren "bei jeder Entscheidung über Auslandseinsätze genau zu prüfen, ob sieb der politische Wille dazu auf die Bereitschaft zur Übernahme jahrelanger Verpflichtungen sowie zum Ertragen von Verlusten gründet. Wo dies nicht sicher ist, sollte man von dem Einsatz Abstand nehmen."
(Münkler 2007, S. 13)
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8. Lehren aus der Causa Afghanistan ("Comparative Merit")
Schließlich ist der politische Zweck mit operationalisierbaren Erfolgskriterien, Exit-Bedingungen sowie den militärischen und nicht-militärischen Anteilen einer Mission zu präzisieren, um eine fortlaufende Erfolgskontrolle zu ermöglichen. Aufgrund ihrer Prärogative im Bereich der Außenpolitik obliegen die Initiative und die Steuerung dieser Maßnahmen vorrangig der Exekutive, auch wenn andere Akteure mit beteiligt sind.
8.2 Stärkung der Rolle des Parlaments Nach der monadischen Theorie des Demokratischen Friedens kommen - wie in Kap. 2.2.5 ausgefiihrt - institutionellen Beschränkungen der Handlungsfreiheit der Exekutive begrenzende Wirkungen auf den Gebrauch von Militär als Mittel der Politik zu (vgl. ausführlich DietrichIHummellMarscha1l2007, S. 10). Die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Bundesregierung und Deutschem Bundestag durch das BVertD, die ihren Niederschlag in dem Konstrukt der Parlamentsarmee gefunden hat, ist die spezifisch deutsche Ausgestaltung dieser Theorie. 679 Gleichwohl wurde der Eskalationsprozess durch den Bundestag nicht nachhaltig gebremst. Die Analyse hatte eine Reihe von Gtiinden für die wenig effektive Kontrolltätigkeit des Parlaments herausgearbeitet. Aus diesen ist abzuleiten, wie die Rolle des Parlaments gestärkt werden kann, um der Zielvorstellung einer Begrenzung und Kontrolle von Entscheidungen zu Militäreinsätzen mehr Geltung zu verschafften. Als ein wesentlicher Grund für das Zurückbleiben der parlamentarischen Kontrolle hinter den theoretischen Erwartungen wurde das Strukturmerkmal der parlamentarischen Demokratie herausgearbeitet, dass Regierung und Koalitionsfraktionen eine weitgehende Handlungseinheit darstellen, so dass die Kontrolle überwiegend den Oppositionsfraktionen im Parlament obliegt - in den vier Jahren einer Großen Koalition wurde besonders deutlich, wie die parlamentarische Kontrolle in derartigen Konstellationen abnimmt. Um deren Einfluss zu stärken, sollte die konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages zu bewaffneten Einsätzen der Streitkräfte - zumindest bei Erst- und Eskalationsentscheidungen - an eine qualifizierte Mehrheit gebunden werden. Damit müsste die Regierung sich bei der Formulierung eines Mandats nicht nur mit den Koalitionsfraktionen abstimmen, sondern auch die Opposition in solche Prozesse mit einbeziehen, was - nach den Erkenntnissen der empirischen Analyse der Afghanistanentscheidungen - in der 679
Damit soll nicht gesagt werden, dass es nicht auch in anderen Staaten innerhalb von EU und NATO in der Verfassung festgeschriebene parlamentarische Mitspracherechte gibt, u. a. in Dänemark, Irland, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Österreich, Ungarn, der Türkei, Schweden, Estland, Lettland, Litauen, den Vereinigten Staaten (vgI. Böckenförde 2004). Ein detaillierter Vergleich der Regelungen kann jedoch hier nicht durchgeführt werden.
8.2 Stärkung der Rolle des Parlaments
315
derzeitigen parlamentarischen Praxis kaum oder gar nicht erfolgt. Dadurch würden die Rolle der Opposition aufgewertet und die Kontrollmacht des Parlaments insgesamt gestärkt. Für die Verlängerung bestehender Mandate ohne Veränderungen könnte es bei der derzeitigen Regelung der einfachen Mehrheit bleiben. Eine solche Änderung des erforderlichen Quorums entspräche zwar nicht dem Wortlaut der Entscheidung des BVerfG im Streitkräfteurteil von 1994, bei dessen Beratung - wie in Kapitel 5 dargestellt - die Frage eines höheren Quorums erörtert, aber nicht weiterverfolgt worden war, sie wäre von der Funktionslogik her aber analog der Regelung für die Feststellung des Verteidigungsfalls gern. Art. 115 a GG, für den eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Und man kann durchaus argumentieren, dass die Tragweite einer Entscheidung, die Bundeswehr in 5.000 km Entfernung von Deutschland einzusetzen, mindestens so gewichtig ist, wie die Entscheidung zur Verteidigung des eigenen Landes gegen einen gegenwärtigen oder unmittelbar drohenden Angriff, bei dem die Notwendigkeit eigentlich auf der Hand liegt. Ob die Institutionalisierung eines solchen höheren Quorums einer grundgesetzlichen Regelung bedürfte oder nachrangig im ParlBG kodifiziert werden könnte, soll hier nicht weiter untersucht werden. 6SO Ein solcher Schritt hätte jedoch auch ,,Nebenwirkungen". So ist es Zielsetzung der Verteidigungspolitik von NATO und EU, bündnisgemeinsame schnelle Eingreitkontingente einsatzbereit zu halten, um in Krisen rasch reagieren zu können (z.B. die NATO-Response Force6S1 oder die EU-Battlegroups682). Solche Projekte können jedoch nur erfolgreich sein, wenn die Mechanismen zur Freigabe der nationalen Anteile harmonisiert werden. Schon jetzt wird von den Bündnispartnern der konstitutive Parlamentsvorbehalt in Deutschland z.T. als kritisch für die Zeitvorgaben für solche bündnisgemeinsamenTruppenteilen bewertet (vgl. z.B. Mölling 2007, S. 12). Dieses Problem würde durch die Notwendigkeit eines höheren Quorums für die parlamentarische Zustimmung noch verschärft. Daher könnte aus einer solchen Regelung folgen, dass das Parlament sich dazu durchringen müsste, für bestimmte Einsatzoptionen Vorabermächtigungen zu erteilen. Diese könnten ggf. beschränkt werden, z.B. auf das jeweilige Vertragsgebiet bzw. den "eigenen Kulturkreis".
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Für eine Regelung im GG spricht die Entscheidung des BVerfG, in der formuliert wurde, es genüge die einfache Mehrheit nach Art. 42.2 GG, sofern das GO nichts anderes bestimme (vgl. Meyer 2006, S.59). Vgl. fiir einen Überblick http://www.nato.intfcps/en/natolive/topics_49755.htrn (zugriff: 22.03.2010). Vgl. für einen Überblick Mölling 2007.
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8. Lehren aus der Causa Afghanistan ("Comparative Merit")
Zusätzlich zu einer solchen institutionellen Stärkung des Parlaments können aus der Causa Afghanistan eine Reihe von verfahrensbezogenen Lehren gezogen werden, die auf eine Erhöhung der Effektivität parlamentarischer Kontrolle abzielen. So erscheint die Entwicklung von Instrumenten für eine strategische Gesamtbewertung von Einsätzen durch das Parlament geboten, um die auf Details ausgerichtete Kontrollpraxis zu überwinden. Hierzu wäre eine systematische Zusammenarbeit der relevanten Fachausschüsse erforderlich (Auswärtiger Ausschuss, Verteidigungs- und Innenausschuss, Ausschuss für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Es gibt vielfache Anregungen, dass auch die Regierung die Zusammenarbeit der betroffenen Ressorts besser koordinieren sollte. Ein Vorschlag dazu lautete, dieses im Bundessicherheitsrat zu institutionalisieren (vgl. dazu u.a. Naumann 2008, S. 44 f.). Ggf. könnte aber auch der von Bundeskanzlerin Merkel für die Vorbereitung der Londoner Konferenz ins Leben gerufene Kabinettsausschuss683 zu einer ständigen Einrichtung werden. In beiden Fällen wäre es für das Parlament angebracht, sich analog "aufzustellen" und ggf. einen übergreifenden Ausschuss für Auslandseinsätze einzurichten. In die Entscheidungsvorbereitung, aber auch in eine systematische Evaluation der Zielerreichung von Auslandseinsätzen, sollte mehr externer Sachverstand mit einbezogen werden. Was z.B. für den amerikanischen Kongress ein normales Verfahren ist - die Durchführung von Hearings zu den Auslandseinsätzen - hat im Deutschen Bundestag noch nie stattgefunden. 684 Darüber hinaus sollte eine intensivere Einbeziehung der Think Tanks in die konkrete Entscheidungsfindung und in die Evaluierung der Einsätze erfolgen. In der Plenardebatte zur Mandatserweiterung 2010 gab es Hinweise aus der Opposition, die in diese Richtung deuteten. So formulierte der Vorsitzende der SPDFraktion, Frank-Walter Steinmeier: ,,Deshalb ist mein Vorschlag, dass wir aus der Mitte des Parlaments den Auftrag erteilen, denAfghanistan-Einsatz einer systematischen und regelmäßigen Untersuchung zu unterziehen (etwa durch die SWP). Wir von der SPD-Fraktion werden Ihnen allen dazu einen Vorschlag unterbreiten.'''''
Und die Vorsitzende der Fraktion Bündnis 90IDie Grünen, Renate Künast, griff den Gedanken auf und unterstützte ihn. 686 683 684 685 686
Vgl. "Merkel macht Afghanistan-Strategie zur Chefsache" in: Welt-Dnline vom 07.01.2010 (Zugriff: 06.03.2010). Vgl. dazu z.B. die kritische Darstellung von Judy Dempsey in der New York Times. "Germany, Few Voices the W Word" in: New York Times-Online vom 10.08.2009 (Zugriff: 15.08.2010). BTPlPr 17/25 vom 26.02.2010, S. 2184. Der Einschub "etwa durch die SWP"wurde von Steinmeier in seiner Rede formuliert, er fehlt jedoch im amtlichen Protokoll. Sie erklärte: "Wir haben als grüne Fraktion hier wiederholt den Antrag gestellt, den bisherigen Einsatz zu evaluieren. Ich freue mich, dass der Fraktionsvorsitzende der SPD, Frank Steinmei-
8.2 Stärkung der Rolle des Parlaments
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Es erscheint auch geraten, in die Ausschussberatungen nicht nur die nationale militärische Führung, i.d.R. den Generalinspekteur, einzubeziehen, sondern mehr als bisher auch die Expertise deutscher Generale, die in NATO-Verwendungen Verantwortung für die Einsätze tragen. 687 Ein weiterer Punkt zur Stärkung einer ganzheitlichen strategischen Bewertung durch das Parlament wäre die konsequente Einbeziehung auch der nicht-militärischen Instrumente in die Mandatsdebatten, auch wenn über diese keine BescWüsse erfolgen können oder müssen. Um alle diese Maßnahmen zu institutionalisieren und der Zufalligkeit von Konstellationen und partikularen Interessen zu entziehen, wäre es denkbar, die Definition von Kriterien :für die Zielerreichung und von Exit-Bedingungen sowie die - zumindest informatorische - Miteinbeziehung nicht-militärischer Instrumente in das Gliederungsschema :für die Anträge der Bundesregierung auf Zustimmung zu einem Auslandseinsatz (§ 3, Abs. 2 des ParffiG) aufzunehmen. Die oben referierten diversen Kriterienkataloge aus Wissenschaft und Politik sollten Ausgangspunkt für ein diskursives Erarbeiten solcher ,'pflichttore" für die Regierung sein. Diese Punkte wären dann in der Debatte über die Mandate mit zu erörtern. Falls eine solche "gesetzliche" Lösung nicht konsensfahig wäre, sollte das Parlament darauf drängen, die in den Anträgen aufMandatsverlängerung von Ende 2009 und Anfang 2010 begonnene Praxis weiter auszubauen, dass diese Aspekte in der Begründung der Anträge der Bundesregierung detailliert angesprochen werden. 688 Schließlich sprechen die Ergebnisse der Analyse auch dafür, nach Wegen zu suchen, das Spannungsverhältnis zwischen militärischer Geheimhaltung und parlamentarischer Kontrolle zu reduzieren. Damit kommen u.a. die Vorschläge eines Entsendeausschuss (vgl. NoetzellSchreer 2007, S. 4) bzw. eines "Ausschusses für besondere Auslandseinsätze" - wie seinerzeit von der FDP angeregt - wieder in
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er, diesen Vorschlag hier jetzt auch gemacht hat. Ich glaube, dass man nach solchen Einsätzen eine Evaluierung, eine von Dritten gemachte Analyse braucht, die folgende Fragen beantwortet: Was hat funktioniert? Wo sind eigentlich Mängel? Vielleicht kommen wir jetzt dahin." (BT PJPr 17/25 vom 26.02.2010, S. 2187) Dieses ist bisher kaum vorgekommen. Es wurde in den Befragungen lediglich ein Fall genannt, bei dem ein deutscher NATO-General aus dem Bündnis in einer Arbeitsgruppe einer Fraktion angehört wurde. General Egon Ramms, Befehlshaber des Allied Joint Forces Command Brunssum, äußerte in diesem Zusammenhang in einem ,,zeit"-Interview: "Ich würde mir wünschen, dass man - gerade mit Blick auf meine Erfilhrung in ganz Afghanistan und mit den Menschen und ihrem Verhalten - das Ohr für meine Beiträge etwas weiter öffnen würde. Ich sehe meine Aufgabe auch darin, meinem Land sowie auch allen anderen beteiligten Nationen als Berater zur Seite zu stehen." ("Die Uhr läuft gegen uns" in: Die Zeit Nr. 10 vom 04.03.2010, S. 3) BT DRs 17/09 vom 03.12.2009 und 17/654 vom 09.02.2010.
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8. Lehren aus der Causa Afghanistan ("Cornparative Merit")
die Diskussion. Einem solchen Gremium gegenüber wäre eine zwingende Informationspflicht der Bundesregierung zu institutionalisieren. Die von einigen Parlamentariern vorgebrachten Bedenken einer Verselbständigung eines solchen Gremiums zu Lasten der Kontrollbefugnis des Plenums wären gegen die erheblichen Kontrollmängel abzuwägen, die in jüngster Zeit durch investigativen Journalismus aufgedeckt worden sind, z.B. nach dem Kundus-Vorfall vom 04.09.2009. 689 Es bleibt allerdings auch bei Einrichtung eines solchen Gremiums offen, wie wirksam es tatsächlich wäre. Denn Kontrolle kann letztlich nur dort ansetzen, wo Ansatzpunkte dafür erkannt werden. Der Abgeordnete Paul Schäfer (Die Linke) wird im Zusammenhang mit der Darstellung von KSK-Aktivitäten in einem "Stern"-Bericht wie folgt zitiert: ,,Es wird offensichtlich vertuscht, dass es etwas zu vertuschen gibt. "690 Und gegen bewusstes Vertuschen, dass es etwas zu vertuschen gibt, wäre letztlich kein Kraut gewachsen. Allerdings fordern journalistische Recherchen immer wieder Anhaltspunkte zu Tage, die Kontrollrnaßnahmen auslösen. Daher ist der Autor der Meinung, dass die Kombination von investigativem Journalismus und einem parlamentarischen Gremium, das nicht von vorne herein an Geheimhaltungsbestimmungen abprallt, eine bessere Chance für effektive Kontrolle bieten könnte als die derzeitigen Verfahren.
8.3 Stärkung gesellschaftlicher Diskurse Nach der monadischen Theorie des Demokratischen Friedens soll neben institutionellen Schranken auch die Aversion der Bürger gegen Kriege den Gebrauch des Militärs als Mittel der Politik bremsen. Dieses muss in einer diskursiven Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen politischen Auffassungen erfolgen. Eine notwendige Vorbedingung für einen solchen gesellschaftlichen Diskurs sind eine offene Information der Gesellschaft durch die Exekutive über Ziele und Charakter des Einsatzes und die Vermittlung durch die Medien. Eine Lehre aus der Causa Afghanistan ist, dass die Exekutive durch Variation von Inhalt und Intensität ihrer Informationsarbeit den gesellschaftlichen Diskurs erheblich beeinflussen kann und das auch nutzt. Das wird einerseits daran deut689
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So unterstützten nach Recherchen des "Stern" deutsche Soldaten bzw. Beamte US-"capture or kill"-0perationen. Es heißt in dem "Stem"-Bericht: "Bei dieser Jagd auf führende Taliban leistet der Bundesnachrichtendienst (BND) Schützenhilfe - BND, KSK und eine Sondertruppe des afghanischen Geheimdienstes NDS kooperieren eng. Verteidigungsausschuss, Bundestag und die Öffentlichkeit in Deutschland wissen kaum etwas von diesem geheimen Krieg. Und die wenigen Eingeweihten, die etwas wissen, vertuschen ihn. Denn er ist durch kein Mandat gedeckt." (Bericht "Geheimkrieg" in: Stern Nr. 7/2010 vom 11.02.2010, S. 28-36 (32» Bericht "Geheimkrieg" in: Stern Nr. 7/2010 vom 11.02.2010, S. 28-36 (36).
8.3 Stärkung gesellschaftlicher Diskurse
319
lich, dass die Bundesregierung über Jahre hinweg eine offene Debatte weitgehend kanalisieren und eingrenzen konnte, um ihre Sicht der Einsätze als ,,Nicht-Krieg" dominant zu vertreten, andererseits, dass nur eine Woche intensiver Information und Diskussion nach dem Kundus-Vorfall eine signifikante Veränderung der (in Umfragen manifestierten) öffentlichen Meinung zur Folge hatte. Die ,,Erfolge" der Medien - z.T. gestützt auf investigativen Journalismus-, das Informationsmonopol der Politik, vor allem der Bundesregierung, herauszufordern und letztlich zu "brechen", sollten für die Exekutive eine Lehre dahingehend sein, dass eine restriktive und die Realität beschönigende Informationspolitik sich nicht auszaWt und letztlich das Gegenteil bewirkt. Das erneute drastische Ansteigen der Ablehnung der Einsätze in den Meinungsumfragen Ende 2009 ist ein Beleg dafür. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Exekutive eine stärkere Beteiligung von aktiven Soldaten an der Debatte in den Medien zulassen bzw. fördern sollte, vor allem in Interviews und Talk Shows. Derzeit überlässt die Bundeswehrführung die Mikrofone fast ausnahmslos pensionierten, z.T. seit Jahren nicht mehr mit der Realität der Einsätze vertrauten Generalen, die die "militärische Sicht" der Ereignisse prägen. Im Kontext des gesellschaftlichen Diskurses erscheint ein VorscWag von Klaus Naumann scWüssig, eine breite politische Debatte über die Sicherheitspolitik - und damit auch über die Auslandseinsätze - verfahrensmäßig zu institutionalisieren. Er schlägt vor, dass die Regierung sich darauf festlegen sollte "nach amerikanischem Vorbild jährlich ein sicherheitspolitisches Leitlinien-Dokument vOIZUlegen und im Bundestag in Form einer Regierungserklärung vorzustellen. Damit würde sich die Regierung die Pflicht auferlegen, regelmäßig über die Lage, Perspektive und Ziele der Sicherheitspolitik Rechenschaft abzulegen. Die damit verbundene Bundestagsdebatte würde zumindest einen Anstoß geben, die Thematik in die politische Öffentlichkeit zu tragen." (Naumann 2008, S. 43)
Hierdurch hätten Parlament und Öffentlichkeit periodisch die Möglichkeit, aber auch die Pflicht, sich mit dem Zielerreichungsgrad in den Einsätzen auseinanderzusetzen, ,,Rutschbahneffekte" zu identifizieren und rechtzeitig Überlegungen in die Entscheidungsprozesse einzubringen, wie sie z.B. Helmut Schrnidt in einer Diskussion der ,,Atlantikbrücke" in Hamburg formulierte: ,,Ich glaube, es wird langsam Zeit, mit der Eventualität zu rechnen, dass trotz großer eigener Opfer wir diesen Krieg abbrechen werden. Nicht wir, die Deutschen, sondern der Westen insgesamt ... Jemand, der einen Krieg nicht gewinnen kann und weiß, dass er ihn nicht gewinnen kann, der muss dann irgendwann anfangen zu verhandeln. Hier ist die Frage mit wem. Und wer verhan-
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8. Lehren aus der Causa Afghanistan ("Comparative Merit") delt. Möglicherweise muss man den Verhandlungspartnem oder Verhandlungsgegner selber erst konstruieren. "691
Eine weitere Erkenntnis aus der Untersuchung unterstreicht die in der Literatur vorgefundenen Thesen zur Formulierung von "nationalen Interessen". Ihre Formulierung darf nicht allein den Entscheidungsträgem überlassen werden, sondern erfordert einen gesellschaftlichen Diskurs unter expliziter Einbeziehung von Wissenschaft und Think Tanks. Dieser sollte Symposien, Hearings etc. umfassen. Das Ergebnis einer solchen Debatte sollte eine weitgehend im Konsens gefundene Formulierung von nationalen Interessen sein, wobei das Ausmaß an Kongruenz mit BÜlldnisinteressen bzw. spezifische Elemente, die aus den Besonderheiten der eigenen Position resultieren, festzustellen wären. Nur dann können nationale Interessen die Funktion der Steuerung von "strategischen Zielen" als Ausganspunkt von Entscheidungen über Militäreinsätze erfüllen. Ein solcher Diskurs hätte - um es am Beispiel der Afghanistandebatte zu illustrieren - dazu beitragen können, eine argumentative Verkürzung, z.B. auf Schlagworte wie "Afghanistan als Brutstätte des Terrors vom 11. September 2001" oder "Verhinderung von Terrorcamps", zu verringern und die wachsende regionale oder sogar globale Bedeutung der Einsätze hervorzuheben. 692 Nach dem Grundgesetz haben die Parteien eine wesentliche Funktion bei der politischen Willensbildung. Aus der Untersuchung lässt sich erkennen, dass deren Einfluss bei den Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen nur nachrangig war. Um die Relevanz der politischen Parteien zu stärken, sollten sicherheitspolitische Themen und insbesondere Zielsetzung und Verlauf von Auslandseinsätzen nicht nur in sicherheitspolitischen Arbeitsgruppen und Zirkeln, sondern auch auf Parteitagen erörtert werden. Dieses würde nicht nur die politischen Mandatsund Funktionsträger an ihre Parteibasis rückbinden, sondern darüber hinaus auch die gesellschaftliche Debatte fördern und so einen Beitrag zur Vermittlung zwi691
692
Diskussion der ,,AtlantikbfÜcke" über Außen- und Sicherheitspolitik und die Bundeswehr am 12.03.2010 an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, "Phoenix Vor Ort" am 12.03.2010 (eigene Transkription). Helmut Schmidt wies daraufhin, dass von den rund 200 Staaten der Welt ca. 50 islamische Staaten sind. Unter den 40 Staaten, die sich an ISAF beteiligen, ist nur ein islamischer (die Türkei). Dieses sah er als einen Hinweis auf einen globalen Konflikt "des Westens" und der islamischen Welt. Daraus folgerte er fiir die Zielsetzung des Afghanistaneinsatzes: ,,Die Zielsetzung ... muss soweit gehen, dass sie den Westen verpflichtet, einen das ganze Jahrhundert überdeckenden Konflikt zwischen dem aufgeklärten Westen einerseits und dem islamischen Teil der Welt andererseits zu vermeiden. Ein isolierter Frieden in Afghanistan kommt mir sehr unwahrscheinlich vor." (Diskussion der ,,AtlantikbfÜcke" über Außen- und Sicherheitspolitik und die Bundeswehr am 12.03.2010 an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, ,,Phoenix Vor Ort" am 12.03.2010; eigene Transkription)
8.4 Folgerungen für die Forschungsagenda
321
schen den bisher exklusiv damit befassten außenpolitischen Eliten und der Bevölkerung leisten. 8.4 Folgerungen f"tir die Forschungsagenda Die aufgezeigten Lehren, die aus der Causa Afghanistan gezogen werden können, belegen, dass die Untersuchung der politischen Entscheidungen über die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr einen hinreichenden "comparative merit" ergeben haben, um die vorgenommene Einstufung der Analyse als "prototypische Einzelfallstudie" zu rechtfertigen. Daraus ergibt sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten, aus denen Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die künftige Forschungsagenda gezogen werden können. Zum einen sollte in Studien zu weiteren Einzelfällen überprüft werden, ob die am Fallbeispiel erkannten ursächlichen Faktoren für eine Eskalation - "bewusste politische Entscheidung zur Ausweitung", "unpräzise oder unrealistische politische Zwecksetzung", ,,multilateralistische ForderungenIErwartungen" sowie ,,Dominanz militärischer Aspekte" auch in anderen Fallkonstellationen so oder in anderen Kombinationen Gültigkeit haben. Von Interesse wäre insbesondere, ob die im Einzelfall beobachtete Gewichtung der Faktoren, aber auch die Einflusskonstellation der Akteure - gekennzeichnet durch eine lange andauernde Dominanz der Exekutive im parlamentarischen Verfahren sowie im gesellschaftlichen Diskurs - in Vergleichsfällen abweichen und worin ggf. die Ursachen für andere Konstellationen liegen. Für solche Untersuchungen böte sich z.B. die Beteiligung der Bundeswehr an den Balkaneinsätzen an, bei denen von Mitte der I990er Jahre bis ca. 2004/2005 ebenfalls ein Eskalationsprozess zu beobachten war, ehe Deeskalationstendenzen erkennbar wurden. Die Einsätze wiesen gewisse Parallelen auf (Auftrag zur Stabilisierung in einer Nachkriegssituation, Zielvorstellungen von state- oder nationbuilding), es bestanden aber auch gewichtige Unterschiede (Zugehörigkeit zum eigenen Kulturkreis, nach Ende des Kosovo-Krieges 1999 keine Parallelität von Kampf- und Stabilisierungsoperationen). Als "Gegenbeispiel" könnte der Entscheidungsprozess für die deutsche Beteiligung an der EU-Operation im Kongo 2008 herangezogen werden, bei der eine Eskalation vermieden wurde - wahrscheinlich, weil der politische Zweck von Anfang inhaltlich und zeitlich eng begrenzt worden war (Absicherung von WaWen im Raum Kinshasa, Dauer des Einsatzes vier Monate).
322
8. Lehren aus der Causa Afghanistan ("Comparative Merit")
In der Skizze des utilaristischen Liberalismus waren der Theorieansatz von ,,Außenpolitik als Produkt von Organisations- und Regierungshandeln" (Allison/ Zelikow 1999) und eine Konkretisierung in der Theorie von ,,Außenpolitik als Produkt der Bürokratie" (KrauselWilker 1978) als potentiell erklärungsmächtig für unsere Fragestellung erkannt worden. In der Analyse des Eskalationsprozesses der Afghanistanentscheidungen konnten diese jedoch nur marginal als Referenz verwendet werden, weil über die internen Abläufe keine oder nur sehr wenige Informationen verfügbar waren. Es wäre im Rahmen einer Forschungsagenda sicher lohnenswert, solche Detailanalysen durchzuführen, wenn sich die Quellenlage im Laufe der Zeit verbessert hat, spätestens, wenn die Archive einsehbar sind. (Dann wäre es jedoch eher eine Aufgabe für Historiker als für Politikwissenschaftler.) Ein solcher Ansatz könnte jedoch schon jetzt bei der Durchführung von entsprechenden Studien über die Balkaneinsätze versucht werden, weil die Entscheidungsprozesse für diese Einsätze z.T. durch Augenzeugenberichte transparenter sind. 693 Dabei sollte die Fragestellung nicht nur daraufzielen, welche Positionen von den verschiedenen am Entscheidungsprozess beteiligten Ressorts eingenommen wurden. Vielmehr wäre auch die Funktionsweise von Multilevel Governance bei Einsätzen von Koalitionsstreitkräften in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses stellen, die in dieser Analyse aufgrund der Ausrichtung auf die deutschen Entscheidungsprozesse nur punktuell skizziert werden konnte. Dazu wäre zu ermitteln, wie die Zweck- und Zielformulierung aufinternationaler Ebene erfolgte, insbesondere, inwieweit und mit welchem Erfolg die deutsche Politik in einer multilateralistischen Einbindung die Zielformulierung in den Bündnissen beeinflussen und eigenständig Ziele formulieren konnte. Darüber hinaus wäre zu analysieren, wie sich das Verhältnis zwischen der der politischen und der militärischen Führung - national wie multinational - manifestiert hat. Für die nationale Ebene gab es in der Untersuchung der Afghanistanentscheidungen einzelne Hinweise darauf, dass die nationale militärische Führung Eskalationstendenzen aus der (militärischen) NATO-Führung eher bremste. Dieses warf die Frage auf, ob hierin - wie Naumann formulierte - die Weiterentwicklung vom ,,Primat der Politik" zum ,,Primat des Politischen" zu erkennen ist, oder ob es sich - wie bereits oben zitiert - um politische Opportunität handelte, ,,mit dem notwendigen Widerspruch hinter dem Berg zu halten, insbesondere dann, wenn es um die unübersehbaren Diskrepanzen zwischen politischen Aufträgen und militärischen Mitteln, politischen Zielsetzungen und militärischen Fähigkeiten oder politischen KonsensInanÖvern und militärorganisatorischen Erfordernissen ging." (Naumann 2008, S. 64) 693
Vgl. z.B. Loquai 2000 und Joetze 2001.
8.4 Folgerungen für die Forschungsagenda
323
Weitere Schritte auf einer Forschungsagenda sollten sein, die Lehren aus dem Afghanistan-Fallbeispiel, die in dieser Arbeit nur skizziert werden konnten, zu präzisieren und in konkrete Handlungsempfehlungen umzusetzen. Dieses betrifft z.B. den Vorschlag zu einer "Sicherheitspolitischen Leitlinie" der Bundesregierung, die Anregung einer Weiterentwicklung des Parlamentsvorbehalts in Richtung eines höheren Quorums, den Ausbau der strategischen Fähigkeiten des Deutschen Bundestages, den Abbau der Spannungen zwischen militärischer Geheimhaltung und parlamentarischer Kontrolle sowie die Institutionalisierung eines Diskurses zwischen Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zur Formulierung und Abgrenzung von nationalen Interessen. Derartige, mehr punktuell ausgerichtete Studien wären eine lohnenswerte Aufgaben für Institutionen der Politikberatung, also z.B. den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, die politischen Stiftungen der Parteien und die in der Politikberatung aktiven Think Tanks, vorrangig die SWP. Von daher bietet die vorliegende Untersuchung der Afghanistanentscheidungen in Deutschland eine Fülle von Anknüpfungspunkten für weitere politikwissenschaftliche Forschungsanstrengungen, um den Gebrauch von Militär als Mittel der Politik - im Sinne der Theorie des Demokratischen Friedens - noch transparenter und noch besser kontrollierbar zu machen, und so dazu beizutragen, unbeabsichtigte Eskalationsprozesse nach Möglichkeit zu verhindern.
Nachwort
Die Entwicklungen zwischen Einreichung der Dissertation (April 2010) und Drucklegung (Oktober 2010) stehen mit den Ergebnissen der Analyse weitgehend in Übereinstimmung. So unterstreichen eine Vielzahl von Erklärungen von Bundesregierung und Bundestag, dass inzwischen - wie oben dargestellt - nur noch ein reduzierter politischer Zweck angestrebt wird, die ÖffilUng einer Exit-Option. Dieses war auch das wesentliche Ergebnis der Afghanistan-Konferenz in Kabu1 am 20.07.2010. Damit folgte die deutsche Politik der erklärten US-Zielsetzung. Inwieweit Deutschland bereit ist, den Amerikanern auch hinsichtlich der vorübergehenden Intensivierung des Militäreinsatzes zu folgen, bleibt abzuwarten. So bleibt z.B. offen, ob die Anfang 2010 beschlossene moderate Verstärkung der deutschen Kräfte, aber auch die Zuführung von schweren Waffen in den deutschen Verantwortungsbereich im Laufe des Sommers 2010 (z.B. der Panzerhaubitze 2000 nach Kundus694 ), mehr als Einzelschritte in diese Richtung darstellen. Sie sind jedoch ein deutliches Zeichen sowohl für die Wirksamkeit des Mu1tilateralismus als auch für eine andauernde Dominanz militärischer Notwendigkeiten. Der bereits in den Mandatsdebatten Anfang 2010 erkennbare Trend zu mehr kritischen Debattenbeiträgen einer erstarkten Opposition im 17. Deutschen Bundestag setzte sich im Laufe des Jahres fort. 695 Diese Entwicklung lässt erwarten, dass die Dominanz der Bundesregierung im parlamentarischen Verfahren rückläufig sein dürfte. Gleiches gilt auch für den gesellschaftlichen Diskurs. Die Ende 20091Anfang 2010 vollzogene Änderung der Qualifizierung des Einsatzes als "nicht-internationaler bewaffneter Konflikt" hat die Perzeption in der Gesellschaft verstärkt, dass 694 695
VgL "Guttenberg nimmt Afghanen in die Pflicht" in: Welt-Online vom 16.07.2010; Zugriff: 16.07.2010). So in der Debatte zur Regierungserklärung von Außenminister Westerwelle (FDP) vor der Afghanistan-Konferenz Ende Juli (BT PIPr 17/56 vom 09.07.20 I 0). Und auch in der politischen Diskussion um den Einsatz von Spezialkräften nach der Veröffentlichung von 91.000 amerikanischen geheimen Militärdokumenten, die seitens der Opposition zu Forderungen nach mehr Aufklärung führte (vgl. z.B. "Opposition fordert mehr Aufklärung über Spezialeinheiten" in: Welt-Online vom 27.07.2010; Zugriff: 27.07.2010).
U. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
326
Nachwort
Deutschland in einen Krieg involviert ist. Diese Meinungsbildung wurde auch durch eine ,,Flut" weiterer Beiträge der Populärliteratur befördert. 696 Hier sei nur auf drei Publikationen verwiesen: zum einen auf ein Buch von zwei Journalisten der Bild-Zeitung mit dem provokanten Titel ,,Ruhet in Frieden, Soldaten! Wie Politik und Bundeswehr die Wahrheit über Afghanistan vertuschen" (ReicheltlMeyer 2010). Verteidigungsminister zu Guttenberg (CSU) trug zu eine verstärkten öffentlichen Wahrnehmung des Buches bei, indem er trotz des provokanten Titels und der kritischen Aussagen dessen Präsentation in der Öffentlichkeit übernahm. Dabei wies er einerseits die These des "Vertuschens" zurück, vielmehr sei die "Verharmlosung" der Afghanistan-Einsätze "eher einer gemeinsamen Überforderung" von Politik und Gesellschaft geschuldet, die zu lange "die Augen vor den Realitäten im Einsatzgebiet verschlossen" hätten. 697 Andererseits unterstrich er: ,,Ich habe einen Diskurs zu dem Thema gefordert und mittlerweile haben wir ihn" und betonte, dass das Buch zu diesem Diskurs beitrage. 698 Und er entwickelte eine bis dato nicht gekannte Offenheit in seinen Meinungsäußerungen. 699 Darüber hinaus änderte das Verteidigungsministerium - ganz im Sinne der oben ausgesprochenen Empfehlungen - seine Öffentlichkeitsarbeit dahingehend, dass nun auch ,,Erlebnisberichte" aus dem Afghanistaneinsatz in Printmedien zugelassen wurden. 7oo Eine weitere Publikation - vom Stil her auf mehr Sachlichkeit und die Vermittlung profunder Hintergrundinformation ausgerichtet und gleichwohl mit Potential für eine Rezeption in der öffentlichen Debatte (u.a. wegen der Veröffentlichung in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung) - war eine Mitte 2010 erschienene umfassende Analyse der Taliban und des Konflikts in und um Afghanistan durch einen pakistanischen Journalisten (Rashid 2010), die nicht 696
697 698
699
700
So wiesen die Digitale Bibliothek und die Homepage von Amazon im Spätsommer die Gesamtzahl von 22 in 2010 erschienene Beiträgen mit Bezug zu Afghanistan auf (4 Romane und 18 Sachbücher), (Quelle: eigene Auswertung von http://www.digibib.netJDigIbib?LOCATION=005 und www.amazon.de vom 20.08.2010). VgI. "Verteidigungsminister geht in die Offensive" in Welt-OnIine vom 14.07.2010 (Zugriff: 16.07.2010). Bericht "Zu Guttenberg: Debatte zum Mgbanistaneinsatz ist notwendig" in: http://www.bmvg. de/portal/a/bmvg/kcxml/04_Sj9SPykssyOxPLMnMzOvMOY_QjzKLd4k3cQsESUGY5vqRMLGglFR9b31 fLzcVPOA_YLciHJHROVFAFBC9EYl/deltalbase64xmIlL2dJQSEvUUt3QS80SVV FLzZtRF80TDM!?yw_contentURL=%2FCl256F1200608B IB%2FW287DAQ40 I OINFODE% 2Fcontent.jsp (Zugriff: 16.07.2010) So formulierte er z.B. in einem Interview im ZDF, "dass wir in den letzten Jahren die Zielsetzungen, was Afgbanistan anbelangt, teilweise illusionär gesehen haben, teilweise in Traumbildern gearbeitet haben." (Quelle: ZDF-Heute-Joumal vom 21.07.2010; eigene Transkription) VgI. z.B...E-Mail aus Kundus - Ein deutscher Soldat berichtet" in: Welt-OnIinevom 23.07.2010 identisch auch in Berliner Morgenpost-Online vom 26.07.2010 (Zugriff: 26.07.2010) (1. Teil, weitere Teile in den folgenden Wochen, z.B. 27.07.2010,31.07.2010,05.08.2010, 11.08.2010, 16.08.2010).
Nachwort
327
nur den historischen Kontext des Konflikts ausleuchtete, sondern vor allem die regionale Relevanz betonte. Und schließlich erschien kurz danach ein Buch unter dem Titel ,,Das ist auch Euer Krieg" (Groos 2010), in dem deutsche Soldaten bzw. deren Angehörige aus ihren Einsätzen berichten. 701 Der erste Absatz des Vorworts brachte die Entwicklung des gesellschaftlichen Diskurses auf den Punkt, indem formuliert wurde: "Ist dies auch unser Krieg? Ist ein Krieg, der acht Jahre lang nicht so genannt werden durfte, beschlossen von einer Regierung, die ich nicht gewählt habe, geflibrt unter falschen Voraussetzungen und mit Hilfe falscher Informationen, durchgesetzt gegen die Mehrheit des Volkes in Deutschland und Afghanistan - ist dies mein Krieg? Ja, denn an den Folgen dieses Krieges haben alle zu tragen und werden sie weiter zu tragen haben: Zivilisten und Soldaten, heimische und fremde, Kriegsbeflirworter und -gegner." (Willemsen 20 I0, S. 7)
Die Vorgänge um den Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler am 31.05.2010 sind ein deutlicher Beleg für die Erkenntnis der Analyse, dass die Definition deutscher Interessen weiterhin defizitär ist. Der Bundespräsident hatte auf dem Rückweg von einem Besuch deutscher Soldaten in Afghanistan in einem Interview mit dem Deutschlandradio über Militäreinsätze und deutsche Interessen gesprochen 702 und war dafür von Oppositionspolitikern heftig kritisiert worden. Ihm wurde sogar vorgeworfen, sich mit seinen Äußerungen außerhalb des Grundgesetzes zu bewegen.7°3 Es wird hier die These vertretenen: gäbe es eine gesellschaftlich akzeptierte Definition von deutschen Interessen, so wäre vermutlich keine so extreme Dis701
702
703
Von den 23 Beiträgen haben 19 einen Bezug zu Afghanistan, vier betreffen andere Einsätze. Die Herausgeberin formuliert als ihre "Vision", dass "anhand von diesen Schicksalen und Erlebnisberichten »aus dem Felde« das alles auf einmal aktuell, anschaulich und brisant wird, zum Anfassen gewissermaßen, und durch das bessere Verständnis auch endlich eine politische Debatte entsteht, die den Fragen und Nöten und der Realität der Soldaten gerecht wird" (Groos 2010 a, S. 30). Die entsprechende Passage des Interviews lautete: ,,Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einko=en. Alles das soll diskutiert werden und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg." (zit. nach ,,Das umstrittene Interview im Wortlaut" in: Süddeutsche-Online vom 31.05.2010; Zugriff: 17.08.2010) So äußerte der Parlamentarische Geschäftsflihrer der SPD-Bundestagsfraktion Thomas Oppermann gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung: "Das Grundgesetz erlaubt keine Wirtschaftskriege." ("Handelskrieg? SPD rügt Köhlers Worte" in: Hannoversche Allgemeine Online vom 27.05.2010; Zugriff: 17.08.2010) Der Grünen-FraktionschefJürgen Trittin wurde mit den Worten zitiert: "Wir brauchen weder Kanonenbootpolitik noch eine lose rhetorische Deckskanone an der Spitze des Staates." (,,Entweder Unkenntnis oder Ungeschicklichkeit" in: Stem-OnIine vom 28.05.2010; Zugriff: 17.08.2010)
328
Nachwort
kussion entstanden, die als ein Beitrag zu einem Rücktritt des Bundespräsidenten mit sofortiger Wirkung angesehen wird. Die in der Analyse herausgearbeitete starke Position der militärischen Führung der NATO - nicht zuletzt des Befehlshabers von ISAF - wurde durch die Entlassung von General McChrystal indirekt bestätigt. Die bekanntgewordenen Entwicklungen deuten darauf hin, dass aus seiner starken Position ein Verlust an Respekt gegenüber der politischen Führung entstanden war, der zu seiner Entlassung fiihrte. Dieses dürfte jedoch die Position seines Nachfolgers, General David H. Petraeus, nicht schmälern, sondern eher stärken. Ein Indiz dafür sind z.B. Äußerungen des neuen Oberbefehlshabers vom August 2010, mit denen er die Ankündigung von Präsident Obama hinsichtlich des Beginns eines Abzugs der US-Truppen ab Mitte 2011 relativierte. 704 Dieses deutet daraufhin, dass die multinationale militärische Führung weiterhin als einflussreicher Akteur einzuschätzen sein wird. Schließlich bestätigte die Veröffentlichung von vormals geheimen Informationen der amerikanischen Streitkräfte im Internet im Juli 2010, 70S über die zeitgleich in der New York Times, im Guardian und im Spiegel berichtet wurde,7°6 wesentliche Ergebnisse der auf offenen Quellen basierenden eigenen Analyse, so insbesondere das ,,Hineinschliddern" Deutschlands in diesen bewaffneten Konflikt,707 die Verursachung ziviler Opfer durch Kampfhandlungen708 und die Verschlechterung der Sicherheitslage, auch im "deutschen" Norden. 709 Es kann prognostiziert werden, dass die erkennbare abnehmende Dominanz der Regierung sowohl im parlamentarischen Prozess als auch im öffentlichen Diskurs mehr und mehr bremsende Wirkungen von Parlament und Öffentlichkeit auch in Deutschland zur Entfaltung kommen lassen werden, wie sie nach den Theorien des Demokratischen Friedens schon früher hätten erwartet werden können. Das Beispiel der Niederlande zeigt, dass bei hinreichendem öffentlichem Druck eine
704
705 706 707
708 709
Und der Parteichef der Linken, Klaus Ernst, fonnulierte nach der gleichen Quelle: "Das Grundgesetz legitimiert keine Wirtschaftskriege der Bundeswehr. Weder in Afghanistan noch sonst irgendwo in der Welt." (ebenda) General Petraeus wird in der Presse wie folgt zitiert: ,,Der General würde nach eigener Aussage ,ganz sicher' nicht davor zurückschrecken, von Obama eine Verschiebung des Abzugstennins zu fordern." (,,Afghanistan-Krieg - Petraeus sieht kein schnelles Ende" in: Welt-Online vom 15.08.2010; Zugriff: 16.08.2010) Vgl. http://wardiary.wikileaks.org/(Zugriff26.07.2010). Vgl. zur Vereinbarung zwischen diesen Blättern die Darstellung im Spiegel 30/2010 vom 26.07.2010, S. 5. So heißt es z.B. in der Spiegel-Darstellung: ,,Aber die Dokumente machen deutlich, wie unvorbereitet die Deutschen in diesen Krieg zogen und warum ihr Auftrag wohl unerfiillbar bleibt. .. Kenntnislos und naiv war die deutsche Annee in den Konflikt gestolpert." (,,Protokoll eines Krieges" in: Der Spiege130/2010 vom 26.07.2010, S. 70-81 (75» VgL ebenda, S. 74 f.. Vgl. ebenda, S. 75 ff.
Nachwort
329
Regierung über der Frage der Beteiligung am Afghanistaneinsatz zerbrechen und die Problematik wahlentscheidend werden kann. Die erklärte Absicht des neuen polnischen Präsidenten, das polnische Engagement in absehbarer Zeit zu beenden, ist ein weiteres Indiz für diese These.
Anhang
9. Abkürzungsverzeichnis
AA
Auswärtiges Amt
ACO (A)JFC AFPAK ANA
Allied Command Operations (Allied) Joint Forces Command Region Afghanistan/Pakistan Afghan National Anny
AWACS BK BKA BMF BMVg
Airborne Waming and Control System Bundeskanzleramt Bundeskriminalamt Bundesministerium der Finanzen
BND
Bundesministerium der Verteidigung Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Bundesnachrichtendienst
BTDrs BT PIPr BVerfG CI
Bundestagsdrucksache Bundestags-Plenarprotokoll Bundesverfassungsgericht Counter-Insurgency
CIMIC CJSTOR
Civil Military Cooperation Combined Joint Status ofRequirement
COMISAF DDR
Commander International Security Assistance Force Disarmament, Demobilization, Reintegration Deutscher Bundeswehrverband Deputy Strategie Allied Commander Europe Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europäische Polizeimission Friedrich-Ebert-Stiftung
BMZ
DBwV DSACEUR ESVP EUPOL FES
U. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
9. Abkürzungsverzeichnis
334
KdoFOSK
Kommando Führung von Operationen der Spezialkräfte
GOBT
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
GTZ
Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit
HQ
Headquarters
IED
Improvised Explosive Device
IFOR
Implementation Force
ISAF
International Security Assistance Force
ISFH
Institut für Friedensforschung und Sicherheit Hamburg
KAS
Konrad-Adenauer-Stiftung
KFOR
Kosovo Force
KSK
Kommando Spezialkräfte
NAC
North Atlantic Council
NATO
North Atlantic Treaty Organization
NGOINRO
Non Governmental OrganizationINichtregierungsorganisation
9/11
11. September 2001
OEF
Operation Enduring Freedom
OMLT
Operational Mentor and Liaison Team
OSZE
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
ParmG
Parlamentsbeteiligungsgesetz
PRT
Provincial Reconstruction Team
QRF
Quick Reaction Force
ROE
Rules of Engagement
SACUER
Strategie Allied Commander Europe
SHAPE
Supreme Headquarters Allied Powers Europe
SFOR
Stabilization Force
SWP UNOSOM
United Nations Operation in Somalia
UNTAC
United Nations Transitional Authority in Cambodia
VENRO
Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen e.V.
VN
Vereinte Nationen
Stiftung Wissenschaft und Politik
10. Anlagen
10.1 Anlage 1: Forschungsfragen und Hypothesen Ü:
Übergeordnete Fragestellung: Welche Erklärungen gibt es - vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich starken Stellung des Deutschen Bundestages (,,Parlamentsarmee") - für die Eskalationsdynamik der deutschen Einsätze?
F 1:
Waren bei den einzelnen Entscheidungsschritten für die Afghanistaneinsätze mehr die außenpolitischen Traditionslinien der Bundesrepublik Deutschland, neue außenpolitische Interessen und Zielvorstellungen der Bundesrepublik und/oder Erwartungen von Internationalen Organisationen bzw. von Bündnispartnern ausschlaggebend?
Hyp 1:
Ausgeprägte Pfadabhängigkeit von den außenpolitischen Traditionen der Zivilrnacht und des Multilateralismus sind wesentliche Eirrflussfaktoren auf Entscheidungen zu den Afghanistaneinsätzen der Bundeswehr, nicht hingegen "nationale Interessen".
Hyp2:
Dominanz des Multilateralismus wirkt aufgrund der Forderungen/Erwartungen des internationalen Umfelds eskalierend.
Hyp3:
Andauernde Eskalation führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen einer multilateral handelnden Exekutive und Zivilmachtperzeptionen in der Gesellschaft.
F2:
Ist als Grundlage für die Entscheidungen eine stimmige Zweck-ZielMittelrelation im Clausewitzschen Sinne identifizierbar?
Hyp4:
Unpräzise und unrealistische politische Zielvorgaben (Befriedung, Demokratisierung nach westlichem Verständnis, Trennung von OEF und ISAF) schwächen den Primat der Politik und bieten Raum für eine Eskalationsdynamik.
U. V. Krause, Die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr, DOI 10.1007/978-3-531-92729-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
336
10. Anlagen
Hyp5
Aufgrund der z. T. krassen Diskrepanz zwischen politischem Zweck und der Zielsetzung für die Einsätze sowie zwischen Zielen und eingesetzten Mitteln - zivil wie militärisch - gewinnen militärische Aspekte bei den Entscheidungen zunehmend an Gewicht, was insbesondere bei fortschreitender Verschlechterung der Sicherheitslage eskalierend wirkt.
F3
Welche Akteure bzw. welche Merkmale des Institutionengeruges waren in den Entscheidungsprozessen relevant? Wirkten sie eskalationsfördernd oder -hemmend?
F4:
Wie beeinflussten gesellschaftliche Diskurse die Entscheidungsschritte?
Hyp6:
Trotz der verfassungsrechtlich starken Position des Parlaments dominiert die Exekutive in der Verfassungswirklichkeit die Entscheidungsprozesse.
Hyp7:
Im gesellschaftlichen Diskurs dominiert die Bundesregierung. Sie ist bestrebt, das Spannungsverhältnis zwischen Eskalation des Konflikts und Zivilmachtdenken durch Verschleierung des militärischen Charakters der Einsätze abzumildern. Dadurch waren bisher weder das Parlament noch die Öffentlichkeit noch andere Akteure in der Lage, die Eskalationsdynamik nachhaltig zu bremsen.
10.2 Anlage 2: Liste der Befragten / Interviewpartner
337
10.2 Anlage 2: Liste der Befragten /Interviewpartner 1.
Vorsitzende/Obleute des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses (14.-17. Wahlperiode)
Name
Partei
Datum I Art der Antwort
Amold, Rainer Beer, Angelika Gehrcke, Wolfgang Dr. Hoyer, Wemer
SPD Bündnis 90IDie Grünen Die Linke FDP
02.11.2009 Telefoninterview 18.08.2009 E-Mail-Antwort 27.01.2010 schriftliche Antwort 10.12.2009 persönliches Interview
Inner, Ulrich Dr. Lippe1t, Helmut Merten, Ulrike Nachtwei, Winfried Opel, Manfred Dr. Pflüger, Friedbert Schäfer, Paul Schrnidt, Christian Siebert, Bemd
FDP Bündnis 90IDie Grünen SPD Bündnis 90IDie Grünen
09.10.2009 telefonische Antwort 12.10.2009 E-Mail Antwort 20.10.2009 persönliches Interview 16.11.2009 schriftliche Antwort
SPD CDU Die Linke
13.09.2009 schriftliche Antwort 24.08.2009 Kurzstaternents aufFragenkatalog 05.11.2009 persönliches Interview 11.11.2009 schriftliche Antwort (namens BMVg) 30.09.2009 schriftliche Antwort
CSU CDU (keine Beantwortung
der Fragen)
Homburger, Birgit KJaeden, Eckart von
FDP CDU
KJose, Hans Ulrich Kossendey, Thomas Kuhn, Fritz Lamers, Karl
SPD CDU Bündnis 90IDie Grünen CDU
20.11.2009 E-Mail, dass keine Beantwortung 29.10.2009 E-Mail, dass keine Beantwortung 19.08.2009 E-Mail, dass keine Beantwortung
Lippmann, Heidi Polenz, Ruprecht Robbe, Reinhold Rosmanith, Kurt
PDS CDU SPD
Rübe, Volker Spranger, Car1-Dieter Weisskirchen, Gert Wieczorek, Helmut
CSU CDU CSU SPD SPD
Keine Antwort 26.11.2009 E-Mail, dass keine Beantwortung 14.09.2009 E-Mail, dass keine Beantwortung Keine Anschrift ermittelbar 20.08.2009 E-Mail, dass keine Beantwortung 14.09.2009 E-Mail, dass keine Beantwortung 28.08.2009 Verweis an MdB Siebert (AGV) Keine Antwort Keine Antwort Keine Antwort Keine Antwort
338
10. Anlagen
2. Militärische Verantwortungsträger (2001-2009) (ehemalige) Funktion
Name
Dienstgrad
Back, Gerhard
General a.D. Ehemaliger COMAJFCB*
Datum I Art der Antwort
16.12.2009 persönliches Interview Heyst, Norbert Generalleut- Ehernaliger Commander ISAF 15.11.2009 schriftliche van nanta.D. Antwort Kujat, Harald General a.D. Ehemaliger Generalinspekteur 16.11.2009 tel. Information, dass keine Beantwortung der Bundeswehr Dr. Olshausen, Generalleut- Ehemaliger deutscher militäri16.01.2010 schriftliche scher Vertreter im NATO-Militär- Antwort nanta.D. Klaus ausschuss Ramms,Egon General COMAJFSB 17.11.2009 persönliches Interview Schneiderhan, General Generalinspekteur der Bundes18.11.2009 schriftliche AntWolfgang wehr wort durch Generalmajor Karl Müllner, Stabsabteilungsleiter Militärpolitik und Rüstungskontrolle * COM AJFCB = Commander A1lied Joint Forces Co=and Brunssum
10.2 Anlage 2: Liste der Befragten / Interviewpartner
339
10.3 Anlage 3: Fragenkataloge
Anlage 3 a:
Fragenkatalog für Vorsitzende/Obleute (Auswärtiger/ Verteidigungs-Ausschuss)
Die Damen und Herren Ausschussvorsitzende/Stv Ausschussvorsitzende/Obleute werden gebeten, aus Ihrer persönlichen Sicht zu folgenden Fragen Stellung zu nehmen: 1.
Erfolgten aus Ihrer Sicht die ersten Entscheidungen zu Einsätzen der Bundeswehr in Afghanistan (OEF am l6.l1.200Il; ISAF am 22.12.20012) vorrangig zur Bekräftigung "uneingeschränkter Solidarität" gegenüber den USN oder lagen Ihrer Meinung nach auch eigenständige deutsche Interessen zu Grunde? Wenn ja, welche waren das?
2.
Hatten Sie bei den ersten Abstimmungen über die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr (OEF am 16.11.2001; ISAF am 22.12.2001) eine himeichende Vorstellung über die Rahmenbedingungen, unter denen die Einsätze stattfinden würden (durch Information der Bundesregierung oder auch aus eröfIentlichten Quellen)4?
3.
Sind Ihrer Meinung nach die eigenständigen Interessen Deutschlands in den ab 2003 formulierten Afghanistankonzepten der Bundesregierung als Grundlage für Entscheidungen über Einsätze der Bundeswehr himeichend präzise formuliert?
4.
In den Afghanistankonzepten der Bundesregierung sind militärische und zivile Instrumente konzeptionell gleichrangig dargestellt. In der Realisierung dominiert augenscheinlich jedoch die militärische Komponente. In
1 2 3
BT PIPr 14/202 v. 16.11.2001 BT PIPr 14/210 v. 22.12.2001 So die von allen Fraktionen des Deutschen Bundestages unterstützte Erklärung des Bundeskanzlers vom 12.09.2001 (BT PIPr 14/186 v. 12.11.2001, S. 18293), ergänzt durch die Entschließung, ,,konkrete Maßnahmen des Beistands" folgen zu lassen (BT Drs 14/6920 v. 19.09.2009, S. 2). So wurden z.B. in einem Beitrag von August Pradetto ("Internationaler Terror, forcierter Regimewechsel und die UNO: Der Fall Afghanistan". Aus Politik und Zeitgeschehen B 5112001 - Beilage zur Zeitschrift ,,Das Parlament") die Situation in Afghanistan und die Schwierigkeiten deutlich beschrieben, vor denen staatlicher Wiederaufbau, gesellschaftliche Modernisierung bzw. die militärische Absicherung solcher Ziele stehen würden. Die Studie benennt bereits im Dezember 2001 konkret wesentliche Risikobereiche, die dem Aufbau eines demokratischen Staatswesens nach westlicher Vorstellung entgegenstünden: Multiethnizität, CIan- und Stammesgesellschafl, ,,religiöse Determination" des öffentlichen Lebens, ökonomische Verarmung, agrarische Gesellschaft mit hohem Analphabetismus, Opiumproduktion sowie das Fehlen funktionierender Regierungsinstitutionen.
4
340
10. Anlagen
diesem Zusammenhang ist von verschiedener Seite vorgeschlagen worden, dass der Deutsche Bundestag im Zuge seiner Mandatierungsbeschlüsse nicht nur die militärischen Instrumente erörtern sollte, sondern auch die zivile Aufbauhilfe. Ggf. sollte er sogar auch ,,zivile Mandate" beschließen. Halten Sie diese Vorschläge für geeignet, das beobachtbare Missverhältnis zwischen der zivilen und der militärischen Komponente zu verringern? 5.
Wie ist aus Ihrer Sicht die seit den Erstentscheidungen 2001 zu beobachtende kontinuierliche Ausweitung der Afghanistaneinsätze der Bundeswehr (hinsichtlich der Zahl der eingesetzten Soldaten, des Einsatzraums sowie der militärischen Intensität und der eingesetzten Mittel) zu erklären?
6.
Konnten Sie als Abgeordnete(r) des Deutschen Bundestages bei den Folgeentscheidungen, die dieser Eskalation zu Grunde lagen, ihrer Verantwortung gerecht werden, die das Bundesverfassungsgerichts mit seiner Konstruktion der ,,Parlamentsarmee" dem Deutschen Bundestag zugewiesen hat? Waren insbesondere die verfügbaren Informationen - durch die Bundesregierung, aber zunehmend auch durch andere InstitutionenS - ausreichend? Fühlten Sie sich durch die Bundesregierung unter Druck, ggf. auch Zeitdruck gesetzt?6
7.
Wie bewerten Sie den Sachverhalt, dass nach Meinungsumfragen mehr als 60% der deutschen Bevölkerung die Afghanistaneinsätze der Bundeswehr ablehnt, die Medien dieses kontinuierlich kommunizieren und das Thema gleichwohl im gegenwärtigen Wahlkampf keine sichtbare Rolle spielt?
5
So hat z.B. die "Stiftung Wissenschaft und Politik" (SWP) seit 2001 in ihren beiden Publikationsreihen "SWP-Studien" und "SWP-Aktuell" zusammen 20 Beiträge mit Bezug zu Afghanistan veröffentlicht (6 SWP-Studien, 14 SWP-Aktuell). So wurde z.B. die Nutzung der Vertrauensfrage bei der OEF-Entscheidung vom 27.11.2001 verschiedentlich als eine ,,Erpressung" bezeichnet. Und bei der Mandatsverlängerung für lSAF v. 16.10.2008 lagen zwischen dem Beschluss der Bundesregierung über ihren Antrag (BT Drs 16/10473 v. 07.10.2008) und der 1. Lesung (BT PlPr 16/181 v. 07.10.2008) nur 3 Stunden Zeit.
6
10.2 Anlage 2: Liste der Befragten / Interviewpartner
Anlage 3 b:
1.
341
Fragenkatalog für General Egon Ramms (Commander AJFC Brunssum)
Sind aus Ihrer Sicht die Zielvorgaben des NATO-Rats zum politischen Zweck von ISAF • •
hinreichend präzise, um daraus eine schlüssige strategische und operative militärische Zielsetzung abzuleiten? mit dem Ihnen verfügbaren Kräfterahmen vereinbar?
2.
Die deutsche Politik tut sich schwer, ISAF als einen Krieg zu begreifen? Ergebnis sind Z.T. künstlich wirkende Einsatzeinschränkungen (z.B. TomadoMandat, diskutiertes Einführen von schweren Waffen). Welche Auswirkungen haben derartige Unterschiede in der Wahrnehmung von ISAF für ihre Operationen?
3.
Die militärtheoretische Literatur betont, dass in ,,kleinen Kriegen" andere militärische Ressourcen benötigt werden als in "klassischen Staatenkriegen". Die US-Streitkräfte bilden dieses in ihrem Konzept "Counter Insurgency" (CI FM 3-24) teilweise ab. Entsprechen aus Ihrer Sicht die militärische Zielsetzung von ISAF und die Beiträge der Bündnispartner zu ISAF - insbesondere die deutschen - den Notwendigkeiten "kleiner Kriege"?
4.
Wie bewerten Sie die Parallelität von OEF und ISAF? Ist diese Parallelität insbesondere (mit) ein Faktor, der zu einer Verschlechterung der Sicherheitslage stabilisierung der Lage in ehemals ruhigen Regionen beiträgt?
5.
Das Bündnis hat mit der "Comprehensive Strategy" bzw. dem "Comprehensive Approach" eine besonders auch von Deutschland betonte Zielsetzung (,,vemetzte Sicherheit") beschlossen. General a.D. Kujathat in einemVortrag vor derAFCEAimAugust 2008 darauf hingewiesen, dass die NATO wohl die einzige Organisation sei, die eine solche Strategie entwickeln könne. Aber sie wäre nicht in der Lage, sie umzusetzen, denn sie verfüge weder über die notwendigen zivilen Kapazitäten, noch beabsichtige sie, diese zu entwickeln. Die Konsequenz sei - so General a.D. Kujat -, dass damit das Prinzip des "Unity ofCommand" nicht durchgesetzt werden könne. Allenfalls könne das Prinzip des "Unity ofEffort" angestrebt werden. Ist aus Ihrer Sicht die Weiterentwicklung der Strategie des Bündnisses relevant für die militärischen Operationen oder ist sie mehr als symbolische
342
10. Anlagen Veränderung zu bewerten, um den Bündnispartnern (wie Deutschland) entgegenzukommen, die militärische Mittel nur zögerlich einsetzen? Hat sie eine Erschwerung der Operationsführung zur Folge?
6.
Entsprachen Ihre Forderungen nach Verstärkung Ihrer Truppen (z.B. in Welt-Online vom 24.06.2008), nach Entsendung der ECR-Tornados und der AWACS vorrangig der operativen Lagebeurteilung? Oder gab es entsprechende Vorgaben der strategischen Ebene? Gab es im Vorfeld Ihrer Anforderung der ECR-Tornados im Dezember 2006 entsprechende inoffizielle ,,Angebote" der deutschen Luftwaffe?
7.
In Veröffentlichungen wird häufig die Relation 80% : 20% zwischen "nation building" und "militärischer Aufgabe" genannt (u.a. werden Sie auch mit dieser Aussage zitiert, und zwar in einem Interview mit Frau Wuttke, Deutschlandradio). Woher stammt diese Relation? Ist sie eine Schätzung der Größenordnung oder wurde sie analytisch entwickelt?
8.
Wie eng ist Ihr Kontakt zum EinsFüKdo und zum FüS - Einsatzführungsstab?
9.
Suchen die politischen Entscheidungsträger (Leitung BMVg, GenInsp, Mitglieder des Auswärtigen Ausschuss bzw. des Verteidigungsausschuss) Kontakt mit Ihnen, um Informationen/lhre Einschätzung zur Lageentwicklung zu erhalten?
10.2 Anlage 2: Liste der Befragten / Interviewpartner
Anlage 3 c:
343
Fragenkatalog für Generalleutnant a.D. Norbert van Heyst (ehemaliger COM ISAF)
1.
War die politische Zielsetzung (Clausewitz: "politischer Zweck") der Afghanistaneinsätze der Bundeswehr hinreichend präzise, um schlüssige militärische Ziele daraus abzuleiten"?l
2.
Standen Zielsetzung und verfügbare Ressourcen (Kräfte, Mandat) in Einklang? (gern. Bundestagsbeschluss vom 20.12.2002 bis zu 2.500 Soldaten, davon bis zu 1.000 für die Wahrnehmung der Leitfunktion).
3.
Wie hat sich die zeitliche Befristung der Mandate (zunächst 6 Monate, ab dem 3. Kontingent 12 Monate) auf die Auftragserfü1lung ausgewirkt?
4.
Wie haben Sie aufgrund Ihrer Erfahrung als ISAF-Commander die nach Ihrer Zeit beschlossene Ausweitung der politischen Ziele (Beitrag zum Aufbau eines demokratischen Staates in Afghanistan) und die massive Ausweitung des deutschen Verantwortungsbereichs damals (2003, 2006) beurteilt? Wie beurteilen Sie diese heute?
Auftrag gern. Bundestagsbeschluss vom 22.12.2001 :"ISAF hat das Ziel, wie in Anhang I zur Bonner Vereinbarung vorgesehen, die vorläufigen Staatsorgane Afghanistans bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit in Kabul und seiner Umgebung zu unterstützen, dass sowohl die vorläufige afghanische Regierung als auch Personal der Vereinten Nationen in einem sicheren Umfeld arbeiten können")
344
10. Anlagen
Anlage 3 d:
Fragenkatalog für Generalleutnant a.D. Dr. Klaus Olshausen (ehemaliger Deutscher Militärischer Vertreter im Military Committee)
1.
Hat aus Threr Sicht die deutsche Politik "eigenständige" Interessen und Ziele bei den Afghanistaneinsätzen oder folgt man ausschließlich der Bündnisräson?
2.
Sind aus Threr Sicht die Zielvorgaben des NATO-Rats zum politischen Zweck von ISAF • hinreichend präzise, um daraus eine schlüssige strategische und operative militärische Zielsetzungen abzuleiten? • mit dem verfügbaren Kräfterahmen vereinbar?
3.
Die militärtheoretische Literatur betont, dass in ,,kleinen Kriegen" andere militärische Ressourcen benötigt werden als in "klassischen Staatenkriegen". Die US-Streitkräfte bilden dieses in ihrem Konzept "Counter Insurgency" (CI FM 3-24) teilweise ab. Entsprechen aus Threr Sicht die militärische Zielsetzung von ISAF und die Beiträge der Bündnispartner zu ISAF - insbesondere die deutschen - den Notwendigkeiten "kleiner Kriege"?
4.
Wie bewerten Sie die Parallelität von OEF und ISAF? War diese Parallelität insbesondere (mit) ein Faktor, der zu einer Verschlechterung der SicherheitslageIDestabilisierung der Lage in ehemals ruhigen Regionen beigetragen hat?
5.
Die seit Jahren erkennbare Verschlechterung der Sicherheitslage hat de facto zu einer Veränderung der Operationen von ISAF geführt. Während früher Stabilisierungsoperationen den Schwerpunkt darstellten, gewinnen Counter Insurgency-Operationen mehr und mehr an Bedeutung. Dieses entspricht nach Einschätzung von NATO-Befehlshabern nicht mehr dem gültigen OpPlan der strategischen Ebene von 2006. Dieser werde jedoch nicht angepasst, da SACEUR befürchte, im NAC den Op-Plan nicht wieder "geschlossen" zu bekommen, wenn er ihn mit Änderungswünschen "öffne". Wie stellt sich dieser Sachverhalt aus Threr Perspektive dar?
6.
Suchten die politischen Entscheidungsträger (Leitung BMVg, GenInsp, Mitglieder des Auswärtigen Ausschuss bzw. des Verteidigungsausschuss) Kontakt mit Ihnen, um Informationen/Ihre Einschätzung zur Lageentwicklung zu erhalten?
10.2 Anlage 2: Liste der Befragten / Interviewpartner
Anlage 3 e:
345
Fragenkatalog für General a.D. Gerhard Back (ehemaliger Commander AJFC Brunssum)
1.
Sind aus Ihrer Sicht die Zielvorgaben des NATO-Rats zum politischen Zweck von ISAF hinreichend präzise, • um daraus eine schlüssige strategische und operative militärische Zielsetzung abzuleiten? • mit dem Ihnen verfügbaren Kräfterahmen vereinbar?
2.
Die deutsche Politik tut sich schwer, ISAF als einen "Krieg" zu begreifen. Ergebnis sind z.T. künstlich wirkende Einsatzeinschränkungen (z.B. Tornado-Mandat, diskutiertes Einführen von schweren Waffen). Welche Auswirkungen hatten derartige Unterschiede in der Wahrnehmung von ISAF für ihre Operationen?
3.
Die militärtheoretische Literatur betont, dass in ,,kleinen Kriegen" andere militärische Ressourcen benötigt werden als in "klassischen Staatenkriegen". Die US-Streitkräfte bilden dieses in ihrem Konzept "Counter Insurgency" (CI FM 3-24) teilweise ab. Entsprechen aus Ihrer Sicht die militärische Zielsetzung von ISAF und die Beiträge der Bündnispartner zu ISAF - insbesondere die deutschen - den Notwendigkeiten ,,kleiner Kriege"?
4.
Wie bewerten Sie die Parallelität von OEF und ISAF? War diese Parallelität insbesondere (mit) ein Faktor, der zu einer Verschlechterung der SicherheitslageIDestabilisierung der Lage in ehemals ruhigen Regionen beigetragen hat?
5.
Entsprachen die Forderungen der NATO-Kommandostruktur nach Verstärkung der Truppen vorrangig der operativen Lagebeurteilung oder gab es entsprechende Vorgaben der strategischen Ebene? Wie stellte sich das insbesondere bei der Forderung nach Entsendung der ECR-Tornados dar? Gab es im Vorfeld der Anforderung der ECR-Tornados im Dezember 2006 entsprechende inoffizielle "Angebote" der deutschen Luftwaffe?
6.
Wie eng war Ihr Kontakt zum EinsFüKdo und zum FüS?
7.
Suchten die politischen Entscheidungsträger (Leitung BMVg, GenInsp, Mitglieder des Auswärtigen Ausschuss bzw. des Verteidigungsausschuss) Kontakt mit Ihnen, um InformationenlIhre Einschätzung zur Lageentwicklung zu erhalten?
346
10. Anlagen
Anlage 3 f:
1.
2.
Fragenkatalog für General Wolfgang Schneiderhan (Generalinspekteur der Bw)
Der bisherige empirische Befund ist, dass die politische Zielsetzung (Clausewitz: "politischer Zweck") der Afghanistaneinsätze der Bundeswehr 200112002 fehlte bzw. zu wenig präzise war, um schlüssige militärische Ziele daraus abzuleiten. Die in den ersten Afghanistan-Konzepten der Bundesregierung 2003-2006 formulierte politische Zielsetzung erscheint wenig realistisch, weil dahinter z.B. noch die Vorstellung einer "Demokratisierung" von Afghanistan erkennbar ist. Inwieweit tragen aus Ihrer Sicht die wenig präzise bzw. nicht erreichbare politische Zielsetzung zur beobachtbaren Ausweitung der deutschen Einsätze bei? Entgegen den konzeptionellen Vorstellungen in den Afghanistan-Konzepten der Bundesregierung dominieren in der Realisierung bzw. im Ressourceneinsatz die militärischen Instrumente. Inwieweit beeinflusst das aus Ihrer Sicht die militärische Zielsetzung und deren Realisierung?
3.
In der Kriegsliteratur wird die These vertreten, dass in "Kleinen Kriegen" bzw. asymmetrischen Konflikten die Zielsetzung von klassischen "Staatenkriegen" - Vernichtung des Gegners - durch die Zielsetzung "Winning the hearts and minds" abgelöst wird. Als Folge seien reguläre Streitkräfte ein wenig geeignetes Mittel für die Kriegftihrungundkönnten denKleinen Krieg nicht gewinnen. Wie beurteilen Sie vor dem Hintergrund dieser These das graduelle Herfibergleiten der ISAF von Stabilisierungsaufgaben hin zum Bekämpfen von Aufständischen bzw. Terrorgruppen?
4.
Inwieweit tragen aus Ihrer Sicht die unterschiedlichen Ziele und das Nebeneinander von OEF und ISAF zu einer Eskalation unserer militärischen Einsätze bei?
5.
Inwieweit gingen/gehen Impulse zur Erweiterung des deutschen militärischen Engagements aus der NATO-Kommandostruktur aus?
10.4 Anlage 4: Entscheidungsschritte Afghanistaneinsätze
347
10.4 Anlage 4: Entscheidungsschritte Afghanistaneinsätze Entscheidungsschritte Operation Enduring Freedom (OEF) (grau: Eskalationschritte) DatumIPlenarprotokoU
Inhalt der Entscheidung
Abstimmnngsergebnis Ga:nein:Enthaltung)
16.11.2001 BT PlPr 14/202
100 Soldaten Spezialkräfte filr Afghanistan
336:326:0
15.11.2002 BT PlPr 15/11
Mandatsverlängerung
573:11:5
14.11.2003 BT PlPr 12.11.2004 BT PlPr 08.11.2005 BT PlPr 10.11.2006 BT PlPr
15/76 15/139 16/2 16/64
Mandatsverlängerung Mandatsverlängerung Mandatsverlängerung Mandatsverlängerung
540:41:5 550:10:0 519:67:3 436:101:26
15.11.2007 BT PlPr 16/126
Mandatsverlängerung
413:145:15
13.11.2008 BT PlPr 16/187
Streichung der 100 Soldaten Spezialkräfte filr Afghanistan
428:130:8
Entscheidungsschritte International Security Assistance Force (ISAF) DatumIPlenarprotokoU
Inhalt der Entscheidung
Abstimmungsergebnis Ga:nein:Enthaltung)
22.12.2001 BT PlPr 14/210
1.200 Soldaten filr ISAF, Einsatz begrenzt auf Großraum Kahul
538:35:8
14.06.2002 BT PlPr 14/243
Mandatsverlängerung, nachträgliche Billigung einer vorübergehenden Verstärkung von 80 Soldaten, Ermächtigung zur vorübergehenden Erhöhung um 200 Soldaten (z.B. fiir Kontingentwechsel)
496:38:5
20.12.2002 BT PlPr 15/17
Übernahme der Leitfunktion filr ISAF (gemeinsam mit den Niederlanden), Erhöhung der Obergrenze auf2.5oo Soldaten (davon 1.000 filr Leitfunktion)
565:9:2
24.10.2003 BT PlPr 15/70
Ausweitung des Einsatzgebiets auf die Region Kundus, Erhöhung der Obergrenze auf 2.500 Soldaten (davon 450 filr Kundus)
531:57:5
30.09.2004 BT PlPr 15/129
Mandatsverlängerung, Ausweitung des Einsatzes auf die Region Feisabad
509:48:3
348
10. Anlagen
DatumIPlenarprotokoll
Inhalt der Entscheidung
Abstimmungsergebnis (ja:nein:Enthaltung)
28.09.2005 BT PIPr 15/187
Übernahme der Führung der ISAFRegion Nord, Erhöhung des ISAFKontingents auf 3.000 Soldaten. Einsatz der deutschen Kräfte in Kahul und in der Region Nord. Einsatz in anderen ISAF-Regionen fiir unabweisbare Unterstützungsrnaßnahmen des ISAF-Gesamtauftrags zeitlich und im Umfang begrenzt möglich
535:14:4
28.09.2006 BT PIPr 16/54
Mandatsverl!1ngerung
492:71:9
09.03.2007 BT PIPr 16/86
Einsatz von Tomado-Aufklärungsflugzeugen im gesamten ISAF-Verantwortungsbereich. Erhöhung der Personalobergrenze um 500 Soldaten
405:157:11
12.10.2007 BT PIPr 16/119
Fortsetzung des Einsatzes mit bis zu 3.500 Soldaten
454:79:48 Kein Bundestagsbeschluss
01.07.2008
Übernahme der Aufgabe einer Quick Reaction Force filr die Nordregion (Entscheidung der Bundesregierung, keine Mandatserweiterung)
16.10.2008 BT PIPr 16/183
Erhöhung der Personalobergrenze auf 442:96:32 4.500 Soldaten
02.07.2009 BT PIPr 16/230
Beteiligung am NATO-AWACS-Einsatz im Rahmen von ISAF, Einsatz im gesamten ISAF-Verantwortungsbereich mit bis zu 300 Soldaten
460:81:15
03.12.2009 BT PIPr 17/9
Fortsetzung des Einsatzes mit bis zu 4.500 Soldaten, keine Verlängerung des AWACS-Mandats
446:105:43
26.02.2010BTPIPr 17/25
Erhöhung der Personalobergrenze 429:111:46 auf5.350 Soldaten, Verlagerung des Schwerpunktes auf Polizeiausbildung
11. Literaturverzeichnis
11.1 Veröffentlichungen ADAM, Rudolf 2005: Einleitung durch den Präsidenten der Bundesakademie für Sicherheit. Aus: GOMM-ERNSTING/GÜNTHER2005, S. 9-12. AFGHANISTAN COMPACT. The London Conference on Afghanistan 2006: The Afghanistan Compact. http://www.oecd.org/dataoecd/24/27/3914905I.pdf(ZugriffOI.11.2008). London 2006. ALLISON, Graham; ZELIKOW, Philip 1999: Essence ofDecision. Explaining the Cuban Missile Crisis. Second Edition. New York, Reading u.a. (Longman) 1999. ANGERER, Jo; SCHMIDT-EENBOOM, Erich 1988 (Hrsg.): Rüstung in Weiß-Blau: Politik: u. Waffenwirtschaft in Bayem. Starnberg (Informationsbüro für Friedenspolitik) 1988. ASSEBURG, Muriel; KEMPIN, Ronja 2009 (Hrsg.): Die EU als strategischer Akteur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Eine systematische Bestandsaufnahme von ESVP-Missionen und Operationen. Berlin 2009 (= SPW-Studie S 32). AUSWÄRTIGES AMT 2004: Aktionsplan ,,zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung". http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/ Themen/Krisenpraevention/ Downloads/Aktionsplan-De.pdf(Zugriff: 25.03.2010). Berlin 2004. AZARBAUANl-MOGHADDAM, Sippi 2009: Northem Exposure for the Taliban. Aus: GIUSTOZZI 2009, S. 247-268. BACHE, Ian; FLINDERS, Mathew 2004 (Hrsg.): Multi-level Govemance. Oxford (Oxford University Press) 2004. BACHE, Ian; FLINDERS, Matthew 2004 a: Themes and Issues in Multi-level Govemance. Aus: BACHEIFLINDERS 2004, S. I-li. BARAKl, Matin 2002: Islamismus und Großmachtpolitik in Afghanistan. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 2002, H. B 8, S. 32-38. BARSCHOW, Boris 2007: Kabul, ich komme wieder. LÜlleburg (Vive-Verlag) 2007. BASSFORD, Christopher 2007: The Primacy ofPolicy and the "Trinity" in Clausewitz's Mature Thought. Aus: STRACHAN/HERBERG-ROTHE 2007, S.74-90. BAUMANN, Rainer 2005: Der Wandel des deutschen Multilateralismus. Eine dislrursanalytische Untersuchung deutscher Außenpolitik. Baden-Baden (Nomos Verlagsgesellschaft) 2005 (= internationale Beziehungen Band 4). BAUMANN, Rainer 2007: Deutschland als Europas Zentralmacht. Aus: SCHMIDTIHELLMANN/ WOLF 2007, S. 62-72. BAUMANN, Rainer, RITTBERGER, Volker, WAGNER, Wolfgang 2001: Neorealist foreign poliey theory. Aus: RITTBERGER 2001, S. 37-67. BECK, Ulrich 2005: War Is Peace: On Post-National War. In: Security Dialogue, 36. Jg. (2005), H. 5, S. 5-26.
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11. Literaturverzeichnis
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11.2 Tages- und Wochenzeitungen
365
11.2 Tages- und Wochenzeitungen
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11.2.2 Online-Ausgaben Berliner Morgenpost-Ooline
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BZ-Berlin-Online
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Berliner Zeitung Berlin-Ooline
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11. Literaturverzeichnis
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11.3 Ausgewertete TV-Sendungen mit Afghanistanbezug 24.09.2008, ZDF:
Dokumentation "Todesfalle Hindukusch".
07.10.2008, Phoenix:
"Phoenix-Runde" zum Thema "Abziehen oder Aufstocken".
16.10.2008, ZDF:
"Heute-Journal".
20.10.2008, ZDF:
"Heute Journal".
21.10.2008,ARD:
"Menschen bei Maischberger". Thema: "Deutschland im Kriegverdrän-gen wir die Gefahr?".
26.01.2009, ARD:
Diskussionsrunde bei Reinhold Beckmann 02.02.2009
02.02.2009, ARD:
Fernsehfilm "Willkommen zu Hause".
24.06.2009, ARD
"Tagesschau" (20 Uhr).
24.06.2009, ZDF:
"Heute Journal".
25.06.2009, ZDF:
"Maybrit IIlner" (Interview mitAußenminister Steinmeier).
29.06.2009, DW-TV 02.07.2009, ZDF:
"Einsatz am Hindukusch: der verdrängte Krieg?" ,,Am Mittag" (13 Uhr}," ZDF-Reporter" (21 Uhr).
02.07.2009, ARD:
"Tagesthemen".
19.07.2009, ARD:
"Der General, der Tod und das Leben" (Porträt des Generalinspekteurs Schneiderhan).
19.07.2009, Phoenix:
"Kamingespräch" (mit Ex-Außenminister J. Fischer).
26.07.2009,ARD:
"Presseclub" zum Thema ,,Der Krieg, der keiner sein darf'.
23.08.2009, ARD:
,,Anne Will" zum Thema ,,Deutschland im Krieg"
07.09.2009, ARD:
"Tagesthemen" "Morgenmagazin" zum Thema ,,Afghanistan nach dem Luftangriff'.
08.09.2009, ZDF: 08.09.2009, Phoenix:
"Phoenix-Runde" zum Thema "Raus aus Afghanistan? Zerreißprobe für die NATO".
09.09.2009, ARD:
"Hart aber Fair" zum Thema ,,Abgrund Mghanistan - sollen unsere Soldaten nach Hause kommen?".
06.12.2009, ARD:
"Presseclub" zum Thema: "Krieg und Frieden - Obama zwischen Nobelpreis und Mghanistan".
10.12.2009, ZDF
"Maybrit IIIner" zum Thema "Nobelpreis für Obama - Lasst uns mit seinem Krieg in Frieden?".
14.12.2009, ARD:
"Tagesthemen".
20.12.2009, Phoenix:
"Phoenix-JahresfÜCkblick".
24.01.2010, ARD:
"Tagesthemen".
28.01.2010, ZDF:
"Maybrit IIlner" zum Thema "Wie kommen wir raus aus Mghanistan?".
12.03.2010, Phoenix:
"Phoenix vor Ort", Diskussion der ,,Atlantikbrficke" über Außen- und Sicherheitspolitik und die Bundeswehr an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg.
16.03.2010, ZDF:
"Frontal-Dokumentation" zum Thema "Sterben für Afghanistan".
08.04.2010, ZDF
TV-Beitrag ,,Die Mghanistan-Lüge".
11.4 Genutzte Homepages
367
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11. Literaturverzeichnis
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•
PREUSS, Hans-Joachim (Geschäftsfiihrer GTZ): ,,ziviler Wiederaufbau unter Kriegsbedingungen - die GTZ in Afghanistan". Internationaler Club La Redoute, Bonn e.v., am 24.03.2010.
•
RIELLY, John E. (langjähriger Präsident des Chicago Council on Foreign Relations): "Obama's Approach to Foreign Policy. Where is he moving? A criticalAppraisal". Internationaler Club La Redoute, Bonn e.v., am 10.09.2009.
•
RAMMS, Egon (General, Befehlshaber Allied Joint Forces Co=and Brunssum): ISAF aktuelle Entwicklung und Perspektiven". ,,6. Petersberger Gespräche zur Sicherheit", am 06.03.2010 in Königswinter.
Personen-/Sachregister
11. September2001 (9/11) 105tI., 109, 112f., 118f., 122ff.,127(,139,145,170,204,206,214, 247,280,289,302,320,334 A Adam, Rudolf 76 Afghanistan Compact 99, 121, 129, 150 AFPAK 115,117,173 Agendasetting 183(,202,250,274,286,306 ALLIED FORCE 22 Allison, Graham 37,40,307,322 Al Qaida 103, 113ff., 119, 153, 171, 173, 176, 214,216,222,243 Angerer.Jo 83 Annan, Kofi 119 Amol~Rainer 104,156,168,184(,187(,212, 222,241,269,296(,337 Aufstandsbekämpfung 58, 112, 124, 126, 156, 159(,175,223,269 AVVACS 21,74,84, 166,230, 295ff., 301, 342 Azarbaijani-Moghaddam, Sippi 96
B Bache, !an 41 Back, Gerhard 13,169,172,266(,271,338,345 Bahr, Egon 110 Baraki, Matin 94 Barschow, Boris 226 Bartels, Hans-Peter 295 Bassford, Christopher 51, 52 Baumann, Rainer 30ff., 90 Beck, Emst-Reinhardt 162,197,222 Beck, Ulrich 54, 112f. Beer, Angelika 184,337 Belasco. Amy 166 Benz, Arthur 36,41 Bergen, Peter 115
Biddle, Stephen 115 Biermann, Rafael 64, 85f., 186 Bittner, Jochen 198,200,272 BIome, Nikolaus 140 BöckenfOrde, Stephan 314 Boek1e, Henning 33f., 38ff. Böhme, Erich 248 Bonn-Prozess 97,120,121,171 Brahimi, Lakhdar 97,119,120,140 Braml, Josef 32 Brand, Karl-VVemer 203 Breitmeier, Helmut 301 Breuer, Paul 141 Brock, Lothar 17, 43f., 63, 89 Brok, Elmar 128( Brzoska, Michael 112, 114f., 148, 172 Bundesländer 18,45,80,167,199,285 Bundesregierung 21, 37,42,44,46, 51, 65f., 70tI., 79(, 82, 85, 87, 91, 94, 97, 100, 103ff., 114f., 119, 124, 128, 130, 134ff., 143, 145ff., 155ff.,167ff., 171, 173ff., 177, 183ff., 190ff., 200tI., 209tI., 216ff., 221, 223(,226(, 233ff., 250ff., 254ff., 261(, 268, 274, 280tI., 285ff., 300, 302ff., 309, 312,314,316(,319,325,343 Bundessicherheitsrat 19,316 Bundestag 17(,27,37,64(,70,72,79(, 84tI., 91,101(,105, 107f., 117, 127, 135tI., 140, 149, 157, 162,171, 183(, 187(, 192ff.,201, 204tI.,218, 232(,235, 239,244, 247,251, 256,263,273(,279(,283,286,291,293, 299f., 302, 314, 316, 318(, 323, 325, 328, 334(, 339f. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 5,17,21, 42,44, 63(, 84ff., 91, 183, 192,209,216, 286,314(,340
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370 Bündnisinteressen 159, 212f., 216, 245, 281, 305, 313, 320 BÜfgerkriegsökonorrrie 93,100(,360 Bush, George W. 110, 113fI., 119,205, 212f.
C Chau~stre,Eric 158,190,222,228,239 Chayes, Sarah 175 Chestennan, Simon 119 Chiari, Bernhard 97,103 CIMIC 260, 274 Claus, Roland 108, 136, 142,205, 219fI. Clement. Rolf l3lf. Comparative Merit 75f., 311, 321 ComprehensiveApproach 115, 125, 161,341 Cordesman, Anthony H. 56, 179f. Counter-Insurgency 57f., 112, 115, 155f., 159, 173,265, 341,344( Czada, Roland 51 Czempiel, Ernst-Otto 113
Personen-/Sachregister
Einsatzweiterverwendungsgesetz 256 Einzelfallstudie 69, 75f., 309, 311, 321 Elbers, Helmut 23 Erler, Gernot 236, 294 Ernst, Klaus 328 Eskalation 17f., 22, 27, 50f., 53, 66, 69, 72(,142, 145,170, 172ff., 204, 233, 249, 266, 271, 275, 281ff., 285ff., 295f., 298, 302, 304, 306,321,335(,340,346 Eskalationsschritt 72ff., 143, 160, 283, 288fI., 296ff., 300ff., 304 EUPOL 130,151, 166( Europäische Union(EU) 43, 45, 73, 83, 90, 112, 127ff., 134f., 149, 159, 163ff., 258, 280, 308,314(,321 Exekutive 17,27,29,50,63ff., 79,183(,191(, 194,197ff.,201(,211,280,282,285ff.,306, 308,311, 314, 318(, 321, 335( Exit-Kriterien 136,144,314,317 Exit-Strategie 136,138,143,151,257,281,283, 298,306
D
Daase, Christopher 54ff. Dalgaard-Nielsen 38 DBwV 254ff., 268, 274 Dembinski, Matthias 21, 64 Dembritzki, Andreas 205 Dempsey, Judy 316 Denison, Andrew B. 207 Dettke, Dieter 112, 172 Deutsche Bundesbank 165 Dietrich, Sandra 24,64(,202,314 Diskurs 48, 59, 63, 66, 70, 8lf., 90(, 106, 132, 139,174, 183,203(, 206,210, 212,215ff., 222(, 225, 227fI., 232, 242, 244ff., 250(, 253,255,259,262,274,280,287(,305(, 308(,313, 318, 32Of., 323,325(, 336 Domröse, Hans-Lothar 266,295 Drogen 100, 103, 118, 121, 129, 144, 146, 169, 173,225,261 E
Echevarria 11, Antulio 55 Ehrhart,Hans-Georg 112,114(,148,172 Einsatzversorgungsgesetz 238, 255
F Ferner, Elke 274 Ferrero-Waldner, Benita 129 Feyzabad 74, 153, 160, 189, 194, 290f., 301 Fischer, Joschka 64,90,111,124,140,193,198, 211,219,232,234,248,250,289 Flinders, Mathew 41 Frankenberger, Klaus Dieter 127 Freuding, Christian 140 Freund. Corinna 35ff. freundliches Desinteresse 224(, 306 Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) 81, 102f., 195, 251,333,360 Fröhlich, Stefan 48 G
Gabriel, Sigmar 201,243 Gack, VIi 153 Gates, Robert M 292ff. Gehrcke,Wolfgang 105,136,187,337 Geis, Anna 17, 43f., 61, 63, 65, 89,145,230 Generalinspekteur 13,82, 125, 141, 174,232, 234, 237f., 262ff., 268f., 271f., 292, 317, 338, 342, 344ff.
Personen-/Sachregister
Gerhardt, Wolfgang 108,221 Gennund, Willi 168 Gertz, Bernhard 167,255, 257ff. Gieß~,HßnsJ. 241,246 Giustozzi, Antonio 94, 112, 149, 155, 175f., 178 Glassner, Rainer 95 Glatzer, Bernt 96f. Global Governance 41,126 Glos, Michael 108, 204 Goertz, Stefan 55, 57f. Gomm, Claudia 94, 98, 103 Gomm-Ernsting, Claudia 103 Good Govemance 41,51, 161 Governance-Versagen 170,285,305 Grande, Edgar 36 Graw, Ansgar 110 Gresch, Norbert I28f. Groos, Heike 327 GTZ 166 Günther,Annett 94,98,103,158 H
Hacke, Christian 22,131,140,207 Haftendorn, Helga 26,105,107, 109,312 Hague, Rod 75 Harmel-Bericht 123 Harrop, Martin 75 Hasenc1ever, Andreas 21,64 Hedtstück, Michael 111 Hegemon 42,138,159,210,212,267,280,298, 305,308f. Hellmann, Gunther 19f., 22ff., 29, 88ff., 106, lll, 206f., 212f. Hennes, Michael 83 Herberg-Rothe, Andreas 52f., 55, 57,150,157 Hennann, Winfried 220 Herzinger, Richard 147 Hindukusch 97,126,138,143,204, 207ff., 211f., 214, 225,227f., 231f.,234f., 243, 245,259, 272, 296f. Hippier, Jochen 58, 114,284,313 Hoch, Martin 54f., 57 Hodes, Cyrus 155 Hofmann, Birgit 154,169,170 Hornburger, Birgit 188,296,337 How, Matthew P. 149
371
Hoyer, Werner 185, 188f., 196,337 Hununel, Hartwig 64f., 202, 314 I
IFOR 22 Thlau, Olaf 169, 177, 227f. Interessen, ökonomische 25, 208, 327 Internationale Organisationen 23,27, 31f., 34, 43, 50,61,83,99, Ill, 129, 309f., 335 International Security Assistance Force (ISAF) 13, 17, 58f., 72ff., 83,87, 102, 104[, 115ff., 12Iff., 128f., 135, 139, 14Iff., 150f.,153ff., 170ff., I78ff., 184, 186, 188, 190, 192f., 195, 197, 200f., 205f., 211ff., 216, 221ff., 233, 236,24O,242,244f.,249, 252f., 26Iff., 269, 271, 274f., 279f., 282f., 285, 289ff., 293, 295ff.,299, 303ff., 320, 335, 338ff., 343ff. investigativerJournalisrnus 70f.,191,250,318f. Ipsen, Knut 54, 236, 238 ~ak 90,109[,115,124,139,153, 159,205, 212f., 216,227,241,245,290,311f. ~er, Ulrich 104, 337 J
Jackson, Michael 232 Jäger, Margarete 203 Jäger, Siegfried 203 Jahn, Detlef 69 Joetze, Günter 322 Joffe, Josef 233 Jörges, Hans-Ulrich 237 Jung, Franz-Josef 157,214,217, 232ff., 236, 238, 240, 250,259, 268f., 29IfI., 299 K
Kabul 56, 73f., 82, 84,95, 99,103,120,124, 140fT., 144f., 149f., 153, 161, 169, 173, 176, 178f., 189,201,207,209,212,223, 226, 244, 251, 256, 262, 266, 269, 290, 296,303,343 Kairn,Markus 18,44,126,180,253,305 Karnptbubschrauber 157, 269ff. Kanada 292 Kandahar 175ff., 181,291,296,302
372 Karl, Wolf-Dieter 24,29,80, 174, 197,200,266, 337f. KdoFOSK 198 K.empin, Ronja 167 Keohane, Robert O. 32, 34, 42f. KFOR 22 Kirsch, Ulrich 255ff. Kirste, Knut 38, 49 Kleine Kriege 55f., 161,341, 344f. Klemp, Ludgera 41 Klingbeil, Lars 300 Klose,lIans-Ulrich 17,64,86(,118,139,186, 193,197,199(,205,208(,337 Knoche,~onika 184 Koalitionsvertrag 1998 106 Koalitionsvertrag 2009 151, 211 Koczy, Ute 162 Koelbl, Susanne 169, 177, 227( Köhler, lIorst 224, 327 Kohl, Helmut 19,20,131 Kohrs, Ekkehard 225 kollektive Sicherheit 43f., 280, 308 kollektive Verteidigung 43,123,308 Kommando Spezialkräfte (KSK) 87, 158, 190, 198,227,295(,318 Kommission Europäische Sicherheit 133ff. Konflikt, bewaffneter 236fI., 243(, 325 Konrad-Adenauer-Stiftung(KAS) 81, 102f.,251, 334,367 Konstruktivismus 23ff., 33f., 38fI., 43f., 169, 203,209, 307fI. Koordinationsmängel 169f., 174,285 Koppelin, Jürgen 213 Komelius, Stefan 124,228,233,237, 240f., 267 Korruption 169,174(,261 Kosovo 22,102,139,219,230,321 Kossendey 72, 337 Kratochwil, Friedrich 46,281 Krauel, Torsten 312 Krause,JoachUn 29,37,322 Kren, Georg 25,61 Kremp, lIerbert 230 Kremp, Wemer 112 Krieg gegen den Terror 55, 113, 120, 173,205, 214,219ff.,225,263,302 KJilIne, Winrich 131,213,252
Personen-/Sachregister
Kuhn, Fritz 337 Kujat, Harald 125, 141,234,237, 263f., 269f., 338,341 Kümmel, Gerhard 239 Künast, Renate 171,316 ~dus 73,116,146,153(,156,158,160,179(, 188f., 191, 194, 200, 213, 224, 226, 229, 231(,234,236(,240,242,246,250,252(, 256, 267fI., 287, 290f., 296, 30lf., 309, 312,318(,325 Kupferschmidt, Frank 126 L
Lachmann, Günther 158 Lafontaine, Oskar 139 Lamers, Karl 337 Lather, Karl-lIeinz 266 Lauth, lIans-Joachim 69,75 Legislative 63,191,202 Legitimation 45,49,70,113,139,142,147,204, 207,209,217,237,244,250,260,279, 287,308f. Liberalismus 25, 30, 35, 38, 309, 322 light footprint 121 Lindemann, ~arc 229 Lippelt, lIelmut 104, 138,337 Lipprnann, lIeidi 337 List, ~artin 30, 32 Livingston, Robert Gerald 110 Löffelmann, Georg 227 Londoner Konferenz 129, 152, 157, 160, 165, 214,253,285,299(,316 Lonsdale, David 55 Loquai, Heinz 322 Lötzsch, Gesine 205,213 LoyaJirga 97(,121 Loyalität 44,57,63,145,147 Lutz, Dieter S. 43 Lütz, Susanne 41 M ~aaß,
Citha D. 101, 105, 120f., 155, 252f. Geert 158 ~r, Stefan 132fI.,217 ~ann, ~ichael 114 ~arschall, Stefan 64f., 202, 314 ~ackenroth,
373
Personen-/Sachregister
MaulI, Hanns W. 27,38,42,46, 48ff., 87ff., 132, 215f., 307, 364 Mayntz, Gregor 17 Mayntz, Renate 36, 76 McChrystal, Stanley A. 115ff., 237, 265ff., 275, 298,328 McKiernan, David D. 116,265 McNeill, Dan K. 116,173 Mechtersheimer, Alfred 83 Mehrebenendile=a 145, 159,282,304 Mehrebenengovemance 36, 4Of. Merey, Can 73, 94ff., 117, 172ff., 227 Merkei, Angela 98, 150, 158, 224, 233f., 242, 299f.,316 Merten, Ulrike 104, 146, 164, 185, 188ff., 195, 217,238,241,337 Merz,Friedrich 108,128,193,210,219,221 Meyer, Berthold 17,21,86,131,216,224,315 Meyer, Jan 326 Mielke, Katja 82, 96ff., 111, 114, 172f. militärische Geheimhaltung 70,187,191, 197ff., 286, 317f., 323 Mittel 18f., 22, 36, 51ff., 55ff., 59, 82, 88f., 115f., 118,121,133,135, 144,152,161, 165, 198, 219f., 264ff., 270, 272f., 275, 283ff., 291, 303f., 306, 312ff., 318,323,340,342,346 Möhle, Holger 194,283,300 Mölling, Christian 315 Moran, Daniel 53 Moravcsik, Andrew 35,64 Müller, Harald 17, 43f., 60ff., 65, 89,114 Müller, Kerstin 136,218 Müllner, Karl 174, 338 Multilateralismus 27,32,34, 42ff., 50, 62f., 87f., 9Of., 93, 133, 135, 141, 145, 171, 206f., 279,281f.,288,301,304f.,307,325,335 Multilateralismusfalle 18, 44, 305 Multilevel Govemance 4Of., 43,83,307,322 Münkler, Herfried 55,312f. Muno, Wolfgang 69f., 75f. Musa-Qala 172f. N
Nachtwei, Winfried 132ff., 138f., 144, 167, 170f., 173, 184f., 187f., 190, 195, 199,205,208, 211,215,220,292,297,337
Nahles, Andrea 138f.,205 Narwan, Sultan Hamid 94 nationale Interessen 44f., 47f., 50,108, 13lf., 147, 204, 21Off., 215ff., 245, 251, 274, 279ff., 303,305,307,313,320,323,335 nationbuilding 58, 114f., 117, 119, 129, 149, 154, 209,302,306,321,342 NATO 19ff., 43, 45, 70, 74f., 83, 85, 88f., 105, 109, 112f., 116, 122ff., 13Of., 134f., 138, 149,151,153,158ff., 163f., 172, 174,176ff., 199,205, 207,209,214,219,221, 227ff., 233f., 237ff., 243, 260, 262f., 265ff., 275, 280,282,285,291f.,294f.,298ff.,305,308, 311,314f.,317,338,341,344ff. NATO-BÜDdnisfall 107, 122, 138, 142,205 NATO-Kommandostruktur 83, 122, 199, 263, 265ff.,272,275,322,328,345f. Na~,Klaus 18f.,76,138, 141f., 173, 194f., 197,200,209,238,268,273,316,319,322 Neitzel, Sönke 218 Neorealismus 24f., 30ff. Neorealismus, modifizierter 31, 310 Neu, Alexander S. 94,109 Nichtregierungsorganisation (NRO) 81,162,254, 260ff.,274,288 Niederlande 73,84, 122ff., 178,262,289,328 Noetzel, Timo 17,58,124,126,156,162,168, 172,191,198f.,252,317 Non-Govermnental-Organization (NGO) 8lf., 166, 169f., 195,262 Nordallianz 95, 111, 119f., 170 North Atlantic Council (NAC) 265, 344 Norwegen 156,292 Nuland, Victoria 294 Nye, Joseph S. 32
o Obama, Barack Hussein 115, 117f., 126, 15lf., 233, 252,267, 275, 297ff., 328 Olshausen,KJaus 13,122,153,338,344 Opel, Manfred 105, 137f., 144, 185,211,337 OperationEnduringFreedom(OEF) 17,59, 7Iff., 87, 104f., 121f., 135, 137, 139, 141f., 144ff., 153ff., 158, 163, 170ff., 174f., 179, 184, 186, 190, 193, 197,200,205,210, 212f., 218ff., 229,247,249, 262, 264, 279f.,282,
374 285, 289(, 293, 295ff., 302, 304, 334(, 339ff.,344ff. Oppermann, Thomas 327 Orywal, Erwin 95 Out ofArea 2lf., 123,218
p Paech, Norman 221 Pakistan 94,115, 118,125,153,173,176,213,333 Parlament 17f., 21, 27, 35,42, 63ff., 71, 85f., 104,110,135,142,156,158, 183ff., 194ff., 199ff., 208, 212, 230, 241, 246, 254,281, 285,287ff.,300,302,306,308(,312,314ff., 319,336,339 parlamentarische Kontrolle 192, 196(, 199,252, 286,314,316(,323 Parlamen!sarmee 5, 17f., 27, 42, 60, 63ff., 79, 135,187(,230,279,286,301(,307(,314, 335,340 Parlamentsbeteiligungsgesetz (ParIBG) 80, 84ff., 91,199,315,317 Parlamentsvorbehalt 18,65, 84f., 183, 192, 194, 196,199,201,286,315,323 Parteitag 247fE, 273, 320 Pau, Petra 144 Perthes, Volker 66, 132ff. Petersberg-Konferenz 97, 105, 139fE, 159, 171, 289,303 Petersen, Britta 103 Peters, Gretchen 100 Petraeus, David H. 328 Pfadabhängigkeit 50,75,79, 88,91, 193f., 202, 279,286,300,311,335 Pflüge~Friedbert 105,143,193,211,337 Pickel, Gert u. Susanne 69, 75 Poeschke, Roman 41 Polenz, Ruprecht 294, 337 Polizeiausbildung 130,152, 166ff., 195,257,285 Pradetto,August 102,114,119(,339 Preuß, Hans-Joachim 166 Primat der Politik 18,51,59,82,273, 282f., 285, 306,308,322,335 Provincial Reconstruction Team(pRT) 73f., 153f., 158,160, 166, 169f., 191, 197,213, 260f., 267,274,290 Putnam, Robert 36
Personen-/Sachregister
Q Quick Reaction Force (QRF) 72,74, 156f., 201, 23Off., 257, 268, 292i, 301 R
Raabe, Thomas 161 Rally Round the Flag' 63 Ramms, Egon 13,58, 116, 126, 162, 169, 176, 181,201,265i,296,298,317,338,341 Rashid, Abmed 326 Rauber, Helmut 142 Rehse, Peter 260 Reichelt, Julian 326 Reichertz, Jo 81 Richards, David 173 Richter, Edelbert 220 Rid,Thomas 160 Rielly, John E. 117 Risse, Thomas 25,27, 38f., 88f., 126 Rittberger, Volker 25, 29ff. Robbe, Reinhold 235, 337 Robertson, Lord George 109,122 Rohrschneider, Kai 112 Roos, Ulrich 106 Rosmanith, Kurt 337 Rubin, Bamett R. 97,100 Rudzio, Wolfgang 80,81 Ruggie, John Gerard 42f. Rühe,Volker 21,141,211,234,269,337 Rühle, Michael 123 Rules of Engagement (RoE) 133, 135, 156f., 160,201,256 Ruttig,Thornas 95,99,173,175,252 Ruwe, Jürgen 271
S Samimy, Said Musa 95ff. Schäfer,Paul 170,185,187,189,192,194,196, 242,318,337 Scharpf, Fritz W. 36 Scharping, Rudolf 234, 255, 263 Scheel, Constanze 60( Scheipers, Sibylle 124, 126 Schetter,ConradJ. 82, 93ff., 111, 114, I 72f., 225 Schirnank, Uwe 36,41
375
Personen-/Sachregister
Schindler, Sebastian 55f. Schlagintweit, Reinhard 96 Schlotter, Peter 241 Schrnidt, Christian 187,208,337 Schmidt-Eenboom, Erich 83 Schmidt,Helmut 19,243, 312, 319[ Schmidt, Manfred G. 192 Schmidt, Siegmar 19f., 23f., 29, 88, 90,139 Schmitt, Uwe 109 Schmunk, Michael 114, 154,290 Schneider, Gerald 40 Schneiderhan, Wolfgang 13,232,268,271,338, 346 Schoch, Bruno 11 5 Schockenhoff, Andreas 133, 135, 161,205,215 Schöllgen,Gregor 131,219 Schönenborn,Jörg 232,234 Schreer, Benjamin 17,58,191, 198f., 252, 317 Schreiber, Wilfried 45 Schröder,Gerhard 17, 100ff., 127, 140, 153, 184, 206,213, 218fE, 241, 247[ Schüttemeyer, Suzanne S. 192 Sedra, Mark 102, 155, 171 Seidelmann, Reimund 23f.,29 SFOR 22 Shakib, Siba 225f. SfU\PE 22,83,123,266 SHAPE GUARD 22 Sicherheitslage 60,93, 102f., 121, 146, 154, 157, 160,173,175,178[,181,187,261,284[, 289,294, 304fE,336, 341,344[ Siebert, Bernd 138, 157, 185, 187, 196,205, 297,337 Siedschlag, Alexander 19,20 Simonis, Georg 5,23,41,47 Simon, Steven 173 So1ana, Janvier 129 Solidarität bedingungslose 184 Bündnis- 64, 108, 138, 147, 204fE, 211, 244, 280, 289ff., 302f. kritische 205 uneingeschränkte 107, 109, 137[, 145, 159, 204ff.,279,289, 302, 339 volle 205 Sommer, Theo 230
Spanger, Hans-Joachim 114 Spanta, Rangin Dadfar 103,114 Speriallrräfte 58,73[,87,135[,198[,220,252, 264,295[,302,334 Spranger, Carl-Dieter 337 Stabilisierung 43, I11f., 121, 124, 126, 133, 139, 141,144[, 149ff., 153[,161,172,176,206, 208,213,234[,270,282,285,297,321 Stanzel, Volker 209 state building 114, 119ff., 129 Steinicke, Stefan 167 Steinmeier, Frank-Walter 150, 193,205,214, 232,236,241,291,295,298,300,316,317 Stengel, Frank A. 169 Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) 81, 180, 187, 251ff., 316,323,340 Stolze, Wilfried 257 Ströbele, Hans-Christian 180 Struck,Peter 104,107,143,154,178,198,200, 208ff., 219ff., 244, 256, 302[ T
Taliban 56f., 94f., 100, 102f., I11f., 114, 117ff., 126,148,155,157[, 171ff., 175ff., 179fE, 213[,217,222,232,238,240,242,244, 252f., 259, 264, 266, 297, 302, 305, 312, 318,326 Taschenkarte 157,201 Theisen, Heinz 147,152 Theorie des Demokratischen Friedens 42, 60fE, 147,183,202,286,306[,311[,314,318, 323,328 Thibaut, Bernhard 35 Todenhöfer, Jürgen 179,207,227 Tornado 74, 155f., 197,200,205, 208f., 216, 222,224,226[,240,249,257,262,266[, 271,274,291,293[,297,301,341[,345 Trittin,Jürgen 171,197,222,249,327 U
Übergabe in Verantwortung 151f., 160,283,298 Ulbert, Comelia 25 UNOSOM 21 UNTAC 21 Untersuchungsausschuss 158, 190, 191
376 USA 32,42,72,83, 94f., 107, 109ff., 117, 119f., 122,124, 126f., I 37ff., 145, 153, 157, 159, 166, I69f., 173, 175, 184,204fI., 210, 212f., 215f., 243f., 252, 267, 279f., 282, 289fI., 293f.,298fI.,302f.,305,308f.,339
v van Heyst, Norbert 13, 142,269,338,343 Varwick, Johannes 106f., 122f., 125f. Veit, Rüdiger 220 \TENRO 82,254,260ff. Vereinte Nationen 20f., 43ff., 49, 64, 83, 90, 106f., 112, 118ff., 126, 131, 135, 138fI., 145, 159, 169,171,174,178,180,204, 211f., 222, 236,243,252,279,282,289, 302f., 305, 308,339,343 Generalsekretär 109,118, 12lf., 178, 180 Generalversammlung 64, 106, 118 Sicherheitsrat 49,106,110, 118fI., 139, 178,212, 279,289, 302f. Vemetzte Sicherheit 125, 150f., 159, 161, 194f., 284,304 Verteidigungsfall 86, 315 Vertrauensfrage 17, 137, 139, 184f., 193,202, 212, 219f., 247,282, 286, 302, 340 Vollmer, Jörg 270f. von Bredow, Wilfried 20, 23f., 51, 106f. von Clausewitz, Carl 18,42, 5IfI., 59,199,307, 343,346 von Klaeden, Eckart 208,222,233,337 von Krause, Marlis 5 von Krause, VIf 37,40 Voß, Sylvia 139 W Wagner, Armin 241, 246 Wagner, Frieder 207 Wagner, Wolfgang 21, 30fI., 38fI., 61, 64f., 241 Walser, Martin 232f. Weißbuch 1994 131,215 Weißbuch 2006 112, 125, 150,210,215 Weiss, Dieter 179 Weisskirchen, Gert 337 Weller, Christoph 169, 196 Welthungerhilfe 82,166, 26lf. WesseIs, Wolfgang 44
Personen-/Sachregister
Westerwelle, Guido 151,197,217,244, 298f., 325 Wibel, Detlef 36 Wieczorek, Helmut 337 Wieczorek-Zeul, Heidemarie 147, 161,219 Wiederaufbau 58, 87, 102, 112, 124, 129, 139, 141, 143f., 146, 149, 151f., 16IfI., 165f., 168f.,173,175f., 180f.,195, 197,209,216, 234f.,239,261f.,282,290,298,303f.,339 Wiefelspütz, Dieter 17, 22, 63ff., 79, 84fI., 192 Wilker, Lothar 37,322 Willemsen, Roger 327 Wilzewski, Jürgen 112 Wohlgethan, Achim 226 Wolff, Jonas 114 Wolf, Günter 5 Wölfle,Markus 20,89 Wolf, Reinhard 19f., 23f., 29, 88, 90,106 Wolfrum, Edgar 55 Wolf, Winfried 25f., 263f. Wyrwich, Roswitha 207
Z Zapfe, Martin 156 Zelikow, Philip 37,40,322 Zentrum für Nachrichtenwesen der Bundeswehr 103 Ziele, militärische 19,43,46,49, 5lf., 56fI., 87, 100, 104, 111, 113fI., 117f., 128, 133fI., 141f., I 44ff., 151, 153f., 156ff.,160f., 172, 174, 180, I94f., 198,229, 261, 265f.,283f., 286,290, 302ff., 313, 318, 320, 336, 339, 341, 343fI. Ziesemer, Bemd 110 Zivilmachtdenken 66, 88ff., 136, 141, 145, 171, 207, 218, 239, 242, 245,279f., 282, 287f., 290,301,304,308f.,336 zuGuttenberg,KarI-Theodor 15If., 156, 197,200, 215, 242fI., 246, 259, 299, 325f. Zumach, Andreas 151 Zweck, politischer 18f., 27, 5Iff., 56f., 59f., 70, 118, 135ff., 14IfI., 157, 159f., 194, 199, 202, 209, 213, 240, 265fI., 282fI., 288fI., 30IfI., 306, 313f., 321f., 335f., 341, 343fI. Zweck-Ziel-Mittel-Relation 5, 42, 52, 55f., 59, 160,199,201,307f.