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Über dieses Buch Die dramatische Bearbeitung der griechischen Sage von der Thessalierkönigin Alkestis, ursprünglich unter dem Titel »Life in the Sun« 1955 während der Testspiele in Edinburgh uraufgeführt, ist eines der stärksten Werke des Humanisten Thornton Wilder, dem hier eine Umdeutung der griechischen Tragödie in die Form des ›illusionslosen Theaters‹ gelungen ist. Alkestis will König Admetos nicht heiraten und Priesterin werden. Sie erfleht ein Zeichen von Apollo. Theiresias, der Seher, verkündigt, daß der Gott einer der vier Hirten sei, die in den Palast des Admetos gekommen sind. Alkestis sieht darin das ersehnte Zeichen. Im Dialog mit den Hirten wird ihr die Vieldeutigkeit des Orakels bewußt, zugleich erahnt sie etwas von der verwandelnden, göttliche Teilhabe stiftenden Kraft der Liebe, die sie Admetos entgegenbringen muß. So willigt sie ein, Admets Frau zu werden. Zwölf Jahre später, als einer der Hirten im Rausche Admetos tödlich verletzt, erfährt Alkestis, daß nur ein Opfertod den König retten könne, und sie stirbt für ihn. Herakles holt sie aus der Unterwelt zurück ins Leben. Abermals zwölf Jahre später: Admetos ist inzwischen gestorben. Alkestis lebt als Sklavin am Hofe des Tyrannen Agis. Im Lande herrscht die Pest, und man sieht in Alkestis die Schuldige. Da kehrt Alkestis’ Sohn zurück, um die Mutter zu rächen. Sie aber beschwichtigt den Sohn, den König und das Volk – Apollo geleitet sie ins ewige Leben. In dem Satyrspiel »Die beschwipsten Schwestern« wird die Ursache des Verhängnisses geschildert: wie Apollo von den Parzen fordert, das Leben des Admetos zu verlängern, diese aber darauf bestehen, daß ein anderer für Admetos stirbt.
THORNTON WILDER
DIE ALKESTIADE Schauspiel in drei Akten mit einem Satyrspiel: DIE BESCHWIPSTEN SCHWESTERN
fischer bücherei
Titel der Originalausgaben: The Alcestiad · The Drunken Sisters Aus dem Amerikanischen übersetzt von herberth e. herlitschka
Erstmalig in der Fischer Bücherei April 1960
Umschlagentwurf: Wolf D. Zimmermann Fischer Bücherei KG, Frankfurt am Main und Hamburg Lizenzausgabe des S. Fischer Verlages, Frankfurt am Main Copyright 1955 by Thornton Wilder (The Alcestiad); 1958 by Thornton Wilder (The Drunken Sisters); 1958 by Thew Wright, Jr. (The Alcestiad, The Drunken Sisters) Gesamtherstellung: Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany
Marion und ihrer Mutter
PERSONEN in der Reihenfolge ihres Auftretens Apollo Der Tod Ein alter Nachtwächter Alkestis Aglaia Teiresias Ein Knabe Admetos, König von Thessalien Ein Hirt Rhodope Herakles Ein junger Nachtwächter Epimenes Cheriander Agis, König von Thrakien Drei Hirten, Diener und Dienerinnen, Stadtvolk von Pherai, Leibgarde des Königs von Thrakien
Kein Vorhang. – Alle drei Akte spielen im Hinterhof des Palasts des Königs Admetos von Thessalien, viele Jahrhunderte vor der großen Zeit Griechenlands. Jeder Akt beginnt bei Tagesanbruch und endet bei Sonnenuntergang. Der Palast ist ein schlichtes, ebenerdiges Gebäude aus Quadern, mit flachem Dach, besitzt aber die Andeutung eines Vorbaus, der von Säulen aus roh behauenen Baumstämmen getragen wird. Die Flügel der Palasttür sind aus Holz, und an jedem, oder an jeder der zwei Säulen, ist ein vergoldeter Ochsenschädel befestigt. Von der Plattform des Vorbaus führen niedrige Stufen zu dem gestampften Lehmboden des Hinterhofs herab. Der Palast füllt links (vom Zuschauer gesehen) zwei Drittel des Bühnenhintergrunds. Das rechte Drittel und beide Seiten der Bühne sind von Mauern umschlossen. In der Mauer zur Rechten ein zweiflügeliges hölzernes Tor auf die in die Stadt Pherai führende Straße. Links ist die Mauer niedriger; darin eine kleine Tür in den Gesindeflügel. Vom linken Proszeniumspfeiler führt, unterhalb der Bühnenrampe, ein Pfad nach rechts in den Orchesterraum hinunter. Am unteren Ende dieses Pfads befindet sich (unsichtbar) eine Quelle mit praktikablem Wasser und eine – in die Unterwelt führende – von Weinranken überhangene, höhlenartige Öffnung,
die hoch genug ist, daß ein Schauspieler hindurchgehn kann; und hier befindet sich auch (unsichtbar, nur angenommen) die Schlange Pytho.
Anmerkung für den Regisseur Es gibt zwei Möglichkeiten, Apollo in diesem Stück auftreten zu lassen. Entweder wird er nur auf dem Dach des Palasts sichtbar, in goldenem Kostüm und stark angeleuchtet. Oder – und abgesehen davon, daß dieses in manchen Theatern vielleicht nicht möglich ist und Apollo von den höheren Rängen aus nicht gesehen werden kann, bevorzugt der Verfasser die folgende Gestaltung dieser Szenen – Apollos Auftritte und Abgänge geschehen durch die Tür des Palasts, gelegentlich auch durch das auf die Straße führende Hoftor. Apollo ist da in einen langen, dunkelblauen Mantel mit ebensolcher Kapuze gekleidet. Von Zeit zu Zeit klafft der Mantel bei seinen Bewegungen, und das Licht fällt auf sein glitzerndes goldenes Kostüm. Bei dieser Art der Inszenierung bewegt sich Apollo unter den andern Personen des Stücks umher, unsichtbar für alle, ausgenommen den Tod.
ERSTER AKT Ein erster Schimmer der Morgendämmerung. Allmählich steigert sich das Licht zu hellem Glanz und läßt Apollo, der auf dem Palastdach steht, sichtbar werden – oder Apollo erscheint innen vor dem Hoftor. Er trägt einen langen, dunkelblauen Mantel über die rechte Schulter. Ein bläuliches Licht beginnt unten, bei der Quelle, vom Eingang zur Unterwelt her zu scheinen. Der Tod – in einem Gewand aus großen schwarzen Lappen, darin er aussieht wie eine Fledermaus oder ein Käfer – kommt den Pfad herauf gewatschelt und schnüffelt an der Tür links und an der Palasttür. Während der ganzen Szene sieht Apollo in die Ferne, zu der aufgehenden Sonne hin – kühl, gemessen und mit einem leisen Lächeln um die Lippen. Apollo wie einen Morgengruß: Tod! Der Tod: Ah! Du bist da? – Der Palast Admets hat hohen Besuch! Hier soll heute eine Hochzeit sein. Und so ein illustrer Gast dabei! Oder bist du vielleicht gekommen, um die Braut zu rauben, erlauchter Apollo? Apollo: Tod, du lebst im Dunkeln. Der Tod: Das tu ich, das tu ich! Bist du heute etwa gekommen, um uns ein Zeichen zu geben, ein großes Wunder schauen zu lassen? Der alte Nachtwächter, seine Klap-
per schüttelnd und eine Öllampe oder eine Laterne aus gewachstem Pergament tragend, kommt von hinten um die Ecke des Palasts. Nachtwächter leiernd: Die Wache vor Tagesanbruch, und alles steht gut im Palast Admets, des gastfreundlichen, des Königs von Thessalien, des rossereichen. Im Abgehn nach links: Der Tag bricht an – der Tag der Hochzeit – der größten aller Hochzeiten ... Nachtwächter ab in den Gesindeflügel. Der Tod: Ich fragte dich, erlauchter Apollo, ob du gekommen bist, uns ein großes Wunder schauen zu lassen? Pause. Ja? Nein? Hoffentlich ja. Wenn die Götter den Menschen nahekommen, dann wird früher oder später jemand umgebracht. Werde ich heute einen hochgeschätzten Gast in meinem Reich begrüßen können? – Soll mir König Admetos anheimfallen oder die Prinzessin Alkestis? Apollo: Nein. Der Tod: Na, ich will harren und hoffen. Er watschelt zur Mitte der Bühne. In welcher deiner Eigenschaften und Kräfte bist du heute hier, wenn ich fragen darf? Als Heiler der Kranken? Pause. Als Lichtbringer und Lebenspender? Pause. Oder als Sänger? Apollo noch immer in die Ferne blickend, nebenhin: Sie sind alle ein und dasselbe. Ich
bin gekommen, um einer Sage Ursprung zu geben – eine Geschichte beginnen zu lassen – Der Tod: Eine Geschichte! Apollo: Eine Geschichte, die viele Male erzählt werden wird. Der Tod: Ah, eine lehrreiche Geschichte! Wird auch eine Lehre für mich darin sein? Apollo: Ja. Der Tod mit seinen Flatterflügeln den Boden peitschend: Nein! Apollo: Doch. Du wirst etwas aus ihr lernen. Der Tod voll Wut umherkrabbelnd: Nein! Es gibt nichts, was du mich lehren kannst. Ich bin für immer da, und ich verändere mich nicht. Ihr seid es, ihr Götter der höheren Regionen, die Lehren brauchen. Und ich will euch gleich hier und jetzt eine erteilen. Schrill: Laßt die Menschen in Ruhe! Bleibt oben auf euerm Olymp, wohin ihr gehört, und freut euch dort eures Daseins! Schon lange sehe ich zu, wie diese Torheit euch immer wieder überkommt. Ihr habt diese Geschöpfe erschaffen, und dann habt ihr euch in sie vernarrt – ihr habt damit die ganze Welt in Verwirrung gebracht, und es wird täglich schlimmer. Ihr könnt nichts tun, als die Menschen zu quälen; wer wüßte das besser als ich? Er watschelt zum obern Ende des Pfads zurück und schüttelt sich ergrimmt.
Sie werden eure Sprache nie verstehn. Je mehr ihr versucht, euch ihnen verständlich zumachen, desto elender macht ihr sie. Apollo: Die Menschen haben begonnen, mich zu verstehn. Erst waren sie wie Tiere – und doch nicht wie Tiere – nein, wilder, furchtsamer. Wie gefangene Tiere – sie selbst ihr eigener Käfig. Dann wurden ihnen zwei Dinge bewußt, und sie hoben den Kopf: meines Vaters Donner, der ihre Furcht zu Ehrfurcht steigerte; und mein Sonnenlicht, für das sie mir danken wollten. Dabei entdeckten sie die Sprache; und ich verlieh ihnen die Gabe des Singens. Das waren Zeichen, und sie erkannten sie. Der Tod: Ja, sie sind nicht mehr, wie sie früher waren– »Apollo liebt Thessalien. Apollo liebt das Königshaus von Pherai.« Begib dich wieder auf den Olymp, wohin du gehörst! Diese ganze Liebe – es läßt sich schwer sagen, wen sie unglücklicher macht: dich selbst oder diese jämmerlichen Geschöpfe. Wann immer du versuchst, in ihr Leben einzutreten, gleichst du einem Riesen in einer kleinen Kammer: mit jeder Bewegung zerbrichst du was. – Und wen wirst du heute peinigen? Den König? Oder seine Braut? Apollo: Dich. Der Tod: Mich? Mich? – Also hast du beschlossen, auch mich zu lieben? Nein, dan-
ke sehr! Er schlägt erbittert mit allen seinen Flatterflügeln, krabbelt den Pfad hinunter und krabbelt ihn dann wieder hinauf; schrill: Du kannst mir nichts anhaben, und du kannst mir keine Lehren geben. Ich und mein Reich, wir sind dazu geschaffen, ewig zu dauern. Wie könntest du da m i r etwas anhaben? Apollo: Du lebst im Dunkeln und vermagst nicht zu sehen, daß alles sich verändert. Der Tod schreiend: Verändert? Nichts wird sich verändern! Er blickt ängstlich besorgt um sich. Es wird schon hell. – Und diese Geschichte, die du heute beginnen lassen willst, handelt also von einer Veränderung? Einer Veränderung für m i c h? Apollo: Für dich und für mich. Der Tod mit einem letzten Hohngekrächz in seine Höhle sich verkriechend: Für d i c h! Das Licht um Apollo erlischt, und er verschwindet. Der Nachtwächter kommt auf seiner Runde zurück; schüttelt seine Klapper; dann bläst er seine Laterne aus. Nachtwächter: Es tagt! Es tagt! Und alles steht gut im Palast Admets, des gastfreundlichen, des Königs von Thessalien, des rossereichen. Er kommt an die Rampe oder ein Stückchen den Pfad herunter und spricht zu den Zuschauern: Der Tag der Hochzeit bricht an, der größten aller Hochzeiten – und nicht alles steht gut im Palast Admets,
des gastfreundlichen und so weiter ... Warum kann sie nicht schlafen – die Prinzessin, die Braut – unsre künftige Königin? Achtmal, zehnmal hab’ ich sie während der Nacht hier angetroffen – wie sie umherwanderte – zum Himmel aufsah. Manchmal ist sie auf die Straße hinaus, als erwartete sie einen Boten. Dann wieder steht sie da und streckt die Arme hoch und flüstert: »Apollo! Ein Zeichen! Ein einziges Zeichen!« Ein Zeichen wofür? Daß sie recht daran tut, König Admetos zu heiraten? Pah, wo wird sie deutlichere Zeichen finden als die, die auf seinem Gesicht geschrieben stehn? Oh, ich hab’ eine lange Zeit gelebt. Ich weiß, daß eine Braut von Ängsten befallen werden kann in der Nacht vor ihrer Hochzeit. Aber sich vor unserem König Admetos zu fürchten! Der ihre Hand auf so wunderbare Weise gewonnen hat, daß ganz Griechenland darüber staunt? – Oh, meine Freunde, beherzigt den Rat eines alten Nachtwächters! Denkt um drei Uhr morgens nicht über Lebensfragen nach! Um diese Stunde erreicht keine Wärme euer Herz und euer Hirn. Um diese Stunde – huuuh – seht ihr eure Häuser in Flammen stehn und eure Kinder tot zu euern Füßen liegen. Wartet, bis die Sonne aufgeht! Die Tatsachen bleiben dieselben – die Tatsachen des Menschenlebens bleiben dieselben; aber
das Sonnenlicht erst gibt ihnen Bedeutung. Laßt euch das von einem alten Nachtwächter gesagt sein! – Also ich muß einen Schluck Wasser trinken. Er steigt zur Quelle hinab. Einen schönen guten Morgen, Schlange Pytho, alte Freundin. Es wird auch für dich ein großer Tag werden. Du sollst deinen Anteil am Hochzeitsschmaus bekommen. Ein fettes Schaf oder einen halben Ochsen. Aber laß mich jetzt – laß mir die Hände frei, damit ich das Trankopfer darbringen kann. Er schöpft Wasser, läßt es durch seine hohlen Hände rinnen und murmelt den Spruch: »Ihr Quellen des Lebens, Erde, Luft, Feuer und Wasser ...« Dann schöpft er abermals und trinkt. Und dann beginnt er, den Pfad wieder hinaufzusteigen, und wendet sich an die Zuschauer. Seht her, Freunde! Seht ihr diese Höhle unter den Weinranken? Das ist einer der fünf Eingänge zur Unterwelt – und unsere gute Pytho hier liegt davor, um ihn zu bewachen. Kein Mensch ist je hier hineingegangen, und kein Mensch ist je hier herausgekommen – so ist das eben – einfach eins von den zehntausend Dingen, die wir nicht verstehn. Schreie von Tieren, die geschlachtet werden. Aha, der große Tag hat begonnen! Sie schlachten schon die Tiere für das
Festmahl. Die Köche errichten mächtige Feuerstellen. Die Wiesen sind bedeckt von den Zelten der Könige und Fürsten, die gekommen sind, um die Hochzeit zu feiern, die Hochzeit König Admets mit der Prinzessin Alkestis, der Tochter des Pelias, des Königs von Jolkos. Er geht den Pfad weiter hinauf. Alkestis, in einem weißen Gewand, schlüpft aus der Palasttür. Nachtwächter: Psst! Da ist sie wieder! Er verbirgt sich unterhalb der Rampe auf dem Pfad. Alkestis kommt in die Mitte der Bühne, hebt die Arme hoch und flüstert: Apollo! Ein Zeichen! – Ein einziges Zeichen! Sie geht durch das Hoftor rechts ab, das auf die Straße führt. Nachtwächter leise zu den Zuschauern, ihr nachsprechend: Apollo – ein einziges Zeichen! Aglaia, die alte Amme, kommt aus dem Palast geeilt. Sie blickt umher und sieht den Nachtwächter. Aglaia flüsternd: Wo ist die Prinzessin? Der Nachtwächter weist mit der Hand. Die ganze Nacht – so ruhelos, so unglücklich! »Apollo, ein einziges Zeichen!« Nachtwächter: Apollo! Ein einziges Zeichen! Alkestis kommt mit nervöser Entschlossenheit durch das Hoftor zurück.
Alkestis: Wächter! Nachtwächter: Ja, Prinzessin? Alkestis: Geh, such meine Wagenlenker! Sag ihnen, sie sollen die Pferde einspannen – für eine Reise. – Aglaia, ruf meine Dienerinnen zusammen! Sag ihnen, sie sollen alles bereitmachen – Aglaia: Eine Reise, Prinzessin – eine Reise an deinem Hochzeitstag? Alkestis die an ihr vorbeigeeilt ist, von den Stufen zum Palast her: Aglaia, ich kann nicht anders. Ich muß auf diese Reise. Verzeih mir! Nein, hasse mich! Verachte mich – aber, zuletzt, vergiß mich! Aglaia: Prinzessin – die Schande – und eine solche Beleidigung für König Admetos! Alkestis: Ich weiß das alles, Aglaia. Sobald ich weg bin, sag dem König – sag Admetos, daß ich alle Schmach auf mich nehme, daß ich ihn nicht bitte, mir zu verzeihen, sondern ihn bitte, mich zu verachten und mich zu vergessen. Aglaia: Ich bin eine alte Frau, Prinzessin. Ich bin keine gewöhnliche Dienerin in diesem Haus. Ich habe Admetos aufgezogen, als er klein war, und seinen Vater vor ihm. Zum Nachtwächter: Wächter, laß uns allein! Der Nachtwächter ab. Du kennst König Admetos nicht. In ganz Griechenland und auf den Inseln fändest du keinen besseren Mann zum Gemahl.
Alkestis: Das weiß ich. Aglaia: Du wirst wagemutigere Männer finden– stärkere vielleicht, aber keinen, der gerechter ist, der ... der mehr geliebt wird. Alkestis: Das alles weiß ich, Aglaia ... Auch ich liebe Admetos. Darum bin ich doppelt unglücklich – denn es gibt einen andern, den ich mehr liebe. Aglaia: Einen andern? Einen andern Mann? Mehr als Admetos? Dann geh, Prinzessin, und geh schleunigst! Wir haben uns in dir getäuscht. Du hast hier nichts zu suchen. Ja, wenn du keine Augen hast, wenn du keinen Verstand hast – wenn du nicht sehen kannst – Rauh: Wächter! Wächter! – Alles wird für deine Abreise bereit sein, Prinzessin. Aber reise schleunigst! Alkestis: Nein, Aglaia, keinen andern Mann. Der, den ich mehr liebe als Admetos, ist – ist ein Gott. Es ist Apollo. Aglaia: Apollo? Alkestis: Ja. Seit ich ein junges Mädchen war, hatte ich nur den einen Wunsch – seine Priesterin zu sein in Delphi. Sie verzweifelt daran, sich verständlich zu machen. Dann plötzlich ruft sie leidenschaftlich aus: Ich will in der Wirklichkeit leben. Nur ein einziges Leben zu haben, nur ein einziges hingeben zu können – nicht ein solches, wie wir es überall um uns sehen; fieberisch und eitel und ... und besitzstolz ... Nein, in der
Wirklichkeit; in Delphi, wo die Wahrheit ist. Aglaia: Und der Gott hat dich gerufen? Pause. Der Gott hat nach dir gesandt? Alkestis leise, voll Scham: Nein. Aglaia: Und diese W i r k l i c h k e i t – ist es nicht etwas genug Wirkliches, die Gemahlin Admets zu sein, die Mutter seiner Kinder und Königin von Thessalien? Alkestis: Jedes Weib kann Frau und Mutter sein; und Hunderte sind Königinnen gewesen. Mein Gemahl. Meine Kinder. Sein Leben ganz diesen fünf oder sechs Menschen zu widmen ... Eingeschlossen und gebunden zu sein von allem, was sie angeht ... Jeder Tag so voll – so angefüllt – von den tausenderlei Aufgaben, ihnen zu helfen und es ihnen behaglich zu machen, daß wir am Ende zwar g e l i e b t und g e e h r t ins Grab sinken, aber so unwissend wie an dem Tag, an dem wir geboren wurden – Aglaia: Unwissend? Alkestis: So ahnungslos, warum wir leben und warum wir sterben – warum die Hunderttausende leben und sterben – so ahnungslos wie an dem Tag, an dem wir geboren wurden. Aglaia trocken: Und das, glaubst du, kannst du in Delphi erfahren? – Aber der Gott hat dich n i c h t gerufen. Alkestis voll Scham: Ich habe Opfergaben
gesandt ... Botschaften ... Opfergaben ... Pause. Ich war die Lieblingstochter meines Vaters. Er wünschte, ich solle nicht heiraten, sondern bis zu seinem Tod bei ihm bleiben. Aber aus ganz Griechenland kamen Freier um meine Hand werben. Er stellte ihnen eine unmögliche Aufgabe. Er verlangte von ihnen, sie sollten einen Löwen und einen Wildeber vor einen Wagen spannen und dreimal mit ihnen um die Mauern unsrer Stadt Jolkos fahren. Aus ganz Griechenland kamen sie herbei: Jason und Nestor; Herakles, der Sohn des Zeus; und Atreus. Und keinem gelang es. Monat auf Monat versuchten es immer neue Freier vergeblich, und manche kamen kaum mit dem Leben davon. Mein Vater und ich saßen oben auf dem Stadttor, und mein Vater lachte. Und ich, ich lächelte – nicht, weil ich bei meinem Vater bleiben wollte, sondern weil ich mir nur dies eine wünschte, als Priesterin Apollos in Delphi zu leben und zu sterben. Aglaia: Und dann kam Admetos. Und er fuhr mit dem Löwen und dem Wildeber – wie mit einem Gespann sanfter Ochsen fuhr er mit ihnen um die Stadt; und er gewann deine Hand, Prinzessin – Alkestis: Ja, aber meine Liebe zu Apollo war größer. Aglaia: Ja. Aber es war Apollo, der diese Heirat stiftete.
Alkestis: Das können wir nicht wissen. Aglaia: Das Zeichen, das du verlangst, Prinzessin, du hast es vor deinen Augen – das klarste aller Zeichen. Drastisch: Du bist nicht nach Delphi gerufen worden! Kannst du die einfachsten Zeichen des Gottes nicht lesen? Alkestis verbirgt ihr Gesicht mit der Hand. Jetzt höre, was ich dir sage! Warst du nicht erstaunt, als Admetos imstande war, den Löwen und den Keiler zusammenzuspannen? Wenn es Atreus mißlang – und Herkules, dem Sohn des Zeus? Ich will dir sagen, wie er es vollbracht hat: In einem Traum hat der Gott Apollo es ihn gelehrt. Alkestis weicht zwei Schritte zurück. Admetos hatte dich gesehen und dich sogleich geliebt. Bevor er dann zum zweitenmal nach Jolkos aufbrach – nach seinem Mißerfolg – erkrankte er. Liebe und Verzweiflung brachten ihn an die Schwelle des Todes – und ich pflegte ihn. Drei Nächte lag er so – dem Tode nah. Und in der dritten Nacht – ich saß und wachte neben ihm – der Qualen litt und im Fieber raste – da hörte ich, da s a h ich, daß in einem Traum Apollo ihn lehrte, einen Löwen und einen Keiler zusammenzuspannen. Alkestis starrt sie an. Das ist wahr. Ich schwöre dir, es ist wahr! Alkestis: Wahr, ja – aber wir haben schon
genug gehört von solchen Fieberträumen, solchen Wahnbildern, Aglaia. Es ist an der Zeit, daß wir Gewißheit fordern. Die offene, unverhüllte Anwesenheit des Gottes – sie ist in Delphi zu finden. Aglaia: Offen? Unverhüllt? Sogar die Priesterin in Delphi spricht wie im Rausch. Wer hat je gehört, daß die Götter sich klar und deutlich vernehmen lassen? Alkestis wendet sich verzweifelt, mit unentschlossenen Schritten, dem Palast zu: Ich bin verlassen, allein ... Aglaia fest, aber liebevoll: Hör mir zu, Prinzessin! Geh jetzt in deine Kammer und schlafe ein wenig. Zum Himmel aufblickend. Es ist noch lange bis zum Mittag – wenn du dann, nachdem du ein wenig geruht hast, bei deiner Absicht bleibst, kannst du jede Reise unternehmen, die du willst, und niemand wird versuchen, dich zurückzuhalten. Sie führt Alkestis am Ellbogen unter die Palasttür und schwatzt dabei auf eine mütterliche Art: Du möchtest, daß die Götter klar und deutlich zu uns sprechen, Prinzessin? Was glaubst du nur, was sie sind, Prinzessin? – Du stellst sie dir doch am Ende nicht als Menschen vor? Aglaia mit Alkestis ab in den Palast. Die Bühne bleibt eine kleine Weile leer. Ein Stimmengewirr, fast ein Geschrei, erhebt sich vor dem Hoftor rechts. Es wird daran
geklopft und mit Fäusten gehämmert. Der Nachtwächter kommt von hinten um die Ecke des Palasts. Nachtwächter: Was ist denn nur los? So ein Lärm! Er öffnet das Hoftor nur einen Spalt breit und spricht hindurch: Der Eingang für die Hochzeitsgäste ist durch das große Tor auf der Vorderseite des Palasts. Das hier ist die Hintertür. Wie? Was? Redet doch nicht alle auf einmal! Was? Na gut, gut. Laßt den Alten hereinkommen! Teiresias tritt auf, blind, unglaublich alt, jähzornig, herrisch, grauenerregend; er redet meist fast senil zusammenhanglos. Mit der einen Hand stützt er sich auf die Schulter eines Knaben, der ihn führt; die andre fuchtelt unaufhörlich mit einem Wanderstab. Stadtvolk folgt ihm in den Hof, und einige Diener und Dienerinnen kommen aus dem Gesindeflügel, andre um die Ecke des Palasts. Teiresias überraschend laut und kräftig: Ist das der Palast des Minos, des Königs von Kreta? Gelächter. Der Knabe beginnt, ihn am Ärmel zu zupfen und ihm ins Ohr zu flüstern. Ich meine, ist das der Palast des Ödipus, des Königs von Theben? Er schlägt den Knaben mit seinem Stab: Hör auf, an mir zu zerren und mir ins Ohr zu surren! Ich weiß schon, was ich zu sagen – die ihn Umdrängenden
abwehrend: Bienen, Wespen und Hornissen! Nachtwächter: Nein, Alter. Dies ist der Palast des Admetos, des Königs von Thessalien. Teiresias ihm nachsprechend: – des Königs von Thessalien. Na, das hab’ ich doch gesagt – das hab’ ich gemeint. Ruf Admetos, den König von Thessalien! Ich hab’ eine Botschaft für ihn. Nachtwächter: Alter, der König wird heute Hochzeit feiern. Er ist beschäftigt, begrüßt seine Gäste. Du setz dich jetzt schön hierher in die Sonne; wir werden dir die Füße waschen. Später wird der König kommen und dich anhören. Teiresias mit seinem Stab drohend: Hochzeit feiern – Füße waschen – was gehn mich Hochzeiten an und Waschungen? Ich will keine Minute länger warten. Aufstampfend: Ruft endlich diesen König Wieheißterdoch! Aglaia tritt aus dem Palast auf. Aglaia: Wer bist du, Alter? Ich werde dem König sagen – Teiresias: Melde dem König, ich bin Delphi, der Priester des – nein, Apollo, der Priester des Delphi ... Knabe, was sage ich da? Der Knabe flüstert ihm etwas ins Ohr. Melde dem König, ich bin Teiresias, der Priester des Apollo. Und daß ich von Delphi komme mit einer Botschaft und es eilig habe, dorthin zurückzukehren.
Aglaia: Du bist Teiresias? – Teiresias! Nachtwächter und die Umstehenden: Teiresias! Teiresias mit seinem Stab auf den Boden schlagend: Meld’ es dem König! Pest und Pestilenz! Ruf König Wieheißterdoch her! Aglaia: Sogleich, großer Teiresias, sogleich – Sie eilt zur Palasttür, da öffnet sich diese, und Admetos tritt heraus. Noch mehr Gesinde sammelt sich. Admetos: Was gibt es hier? Wer ist das, Aglaia? Aglaia vertraulich: Es ist Teiresias – er kommt aus Delphi. Admetos: Teiresias! Aglaia deutet auf ihre Stirn: ... und uralt wie die Berge, König Admetos. Admetos: Willkommen, willkommen, edler Teiresias, meines Vaters alter Freund! Willkommen in Pherai! Ich bin Admetos, der König von Thessalien. Teiresias mit seinem Stab fuchtelnd: Zurück! Macht Platz da! Dieses Drängeln und Stoßen ... Hast du Ohren, Mann? Admetos: Ja, Teiresias. Teiresias: Dann zieh das Wachs aus ihnen und höre, was der Gott sagt! Admetos: Meine Ohren sind offen, Teiresias. Teiresias: Atreus, König von Mykene, höre, was der Gott sagt – Admetos: Atreus, edler Teiresias? – Ich bin
Admetos, der König von – Teiresias: Admetos? – na schön, Admetos also. Schweig still und laß mich meine Botschaft bestellen! Ich bringe sie dir aus Apollos Tempel in Delphi. Eine Ehre, eine große Ehre ist Thessalien zuteil geworden. Knabe, wir sind doch in Thessalien? Er legt dem Knaben die Hand auf den Kopf; der Knabe nickt. Eine große Ehre und eine große Gefahr ist Thessalien zuteil geworden. Admetos: Eine Gefahr, Teiresias? Teiresias: Eine Ehre und eine Gefahr. Eine Gefahr ist eine Ehre, du Tor! – Nein ... eine Ehre ist eine Gefahr. Wißt ihr denn nicht einmal die einfachsten und selbstverständlichsten Dinge hier oben in Thessalien? Admetos: Einen Augenblick, Teiresias! Eine Botschaft für mich ist auch eine Botschaft für meine künftige Königin. Aglaia, ruf die Prinzessin! Aglaia eilt in den Palast. Heute werde ich Alkestis vermählt werden, der Tochter des Königs Pelias von Jolkos. Keinem der Gäste gebührt größere Ehre als Teiresias. Vor allem ruhe dich aus und – Teiresias: Hochzeiten gibt’s zu Tausenden. Diese Königin soll sich beeilen. Höre mich, Minos, König von Kreta – Knabe, wie heißt er nun eigentlich? Der Knabe flüstert ihm etwas zu.
Na, und wenn schon! Ist diese Königin hier –? Alkestis ist aus dem Palast aufgetreten, atemlos vor Verwunderung. Admetos: Sie ist hier. Alkestis: Edler Teiresias! ... Großer Teiresias! Alter Freund meines Vaters! Ich bin Alkestis, die Tochter des Königs Pelias von Jolkos. Teiresias mürrisch und mit seinem Stab fuchtelnd zu den ihn Umdrängenden: Zurück da! Zurück! Seid endlich still, ihr Schreigänse und Schnatterenten! – Zeus, der Vater der Götter und Menschen, hat befohlen ... hat befohlen ... Knabe, was hat er befohlen? Der Knabe flüstert ihm etwas zu. Teiresias schlägt ihn. Das genügt, du brauchst nicht das Ganze herzuleiern ... hat befohlen ... hat befohlen, daß Apollo, mein Herr ... daß Apollo vom Olymp herabsteige und ein Jahr lang auf Erden lebe ... von Sommersonnenwende zu Sommersonnenwende ... als Mensch unter Menschen lebe. Ich habe meine Botschaft verkündet. Knabe, führ mich zur Straße! Er wendet sich zum Gehn. Der Knabe flüstert ihm etwas ins Ohr. Admetos währenddessen: Apollo – auf Erden leben? Teiresias zu dem Knaben: Ja, ja, mach mich
nicht taub! – Und Apollo, mein Herr, hat sich ausbedungen, hier zu leben. Er schlägt mit dem Stab auf den Boden. Hier, als ein Knecht Admets, des Königs von Thessalien. Admetos: Hier? Hier, edler Teiresias? Er geht schnell zu ihm hin. Einen Augenblick noch, Teiresias. Wie soll ich das verstehn? Du meinst doch nicht etwa, göttlicher Teiresias, daß Apollo hier, bei uns, sein wird? Als ein Knecht? Jeden Tag? Jeden Tag bei uns? Teiresias die Hand vor der Stirn, scheint, während Alle ihn atemlos beobachten, in einen tiefen Schlaf zu verfallen. Plötzlich kommt er zu sich und sagt: Draußen vor dem Tor stehn vier Hirten. Sie sollen ein Jahr lang deine Knechte sein. Weise ihnen ihre Pflichten zu! Einer von ihnen ist Apollo. Admetos nachstammelnd: Einer von ihnen ist Apollo. Teiresias: Vier Hirten. Einer von ihnen ist Apollo. Versuche nicht, zu erkennen, welcher von ihnen der Gott ist. Ich weiß es nicht. Und du wirst es nie wissen. Und stell mir keine Fragen mehr, denn ich weiß keine Antworten mehr! Knabe – ruf die Hirten! Der Knabe ab. Allgemeines erwartungsvolles Schweigen. Admetos: Teiresias – sollten wir nicht ... auf die Knie fallen? Aufs Angesicht? Teiresias: Du hörst nicht zu, wenn man dir
etwas sagt. Apollo ist hier als ein Mensch! Als ein gewöhnlicher Rinderhirt oder Schäfer ... Tue, wie ich tue! Der Knabe kommt zurückgelaufen und schmiegt sich an Teiresias. Die Vier Hirten treten auf. Sie sind bestaubte, verschmutzte, stoppelbärtige Bauerntölpel. Es macht sie sehr verlegen, vor diesen Hochgeborenen zu erscheinen; sie greifen sich ehrfurchtsvoll an die Stirnlocke, stellen sich mit schüchternen Schritten in einer Reihe an der Mauer auf und wissen nicht, wohin sie schauen sollen. Zwei tragen große Weinschläuche umgehängt; alle haben sie lange Hirtenstäbe in der Hand. Teiresias barsch zu den vier Hirten: Kommt her, habt euch nicht so langsam! – Macht euerm neuen Herrn eure Verneigung! – Jeder Mensch kann sehn, daß ihr zuviel getrunken habt. Eine schöne Art, euern neuen Dienst anzutreten! Mit seinem Stab fuchtelnd: Wenn ich Augen hätte, mit denen ich euch sehen könnte, würde ich euch verprügeln. Vorwärts, nehmt eure Füße in die Hand! Knabe, sind sie alle vier da? – Also, hat der König die Stimme verloren? Admetos sich zusammenraffend: Ihr seid willkommen in Thessalien. Ihr seid willkommen zum Hochzeitsfest, denn ich heirate heute. Ihr habt eine lange Wanderung hinter euch. Willkommen in Thessalien! –
Teiresias, auch du hast eine lange Wanderung hinter dir. Willst du nicht ein Bad nehmen und ausruhen? Teiresias: Ich hab’ eine noch längere vor mir. Meine Botschaft ist überbracht. Knabe, führ mich zum Tor hinaus ... Alkestis tritt bis auf wenige Schritte an ihn heran und sagt leise: Göttlicher Teiresias, hast du keine Botschaft für Alkestis? Teiresias: Wer ist dieses Weib? Alkestis: Ich bin die Tochter des Königs Pelias von Jolkos. Ich habe schon viele Opfergaben und Botschaften nach Delphi gesandt, und ... Teiresias: Opfergaben und Botschaften! Die bekommen wir dort haufenweise. – Knabe, führ mich zur Straße! Der Knabe aber zupft ihn immer wieder am Ärmel und an der Schulter und versucht, ihm etwas zuzuflüstern. Teiresias: Ach ja, ich hatte auch eine Botschaft für irgendein Mädchen oder eine Frau – für Jokaste oder Alkestis oder Önone oder ... mir ist’s gleich, für welche, aber ich hab’ die Botschaft vergessen. Knabe, hör auf mit deinem Zerren! Er schlägt den Knaben mit seinem Stab. Nichtsnutz, unverschämter! Der Knabe fällt zu Boden; Teiresias schlägt weiter auf ihn ein. Knabe schreiend: Au! – Teiresias! – Hilfe! – Hilfe, König Admetos!
Admetos: Großer Teiresias, der Knabe hat gewiß nicht ... Alkestis: Es war doch nur ein kleines Vergehn, Teiresias. Ich bitte dich, schone den Knaben! Er wird’s schon lernen. Teiresias plötzlich innehaltend und zu Alkestis hinhorchend: Wie du auch heißen magst, Jokaste, Leda, Önone – Alkestis: Alkestis – Teiresias: Ich hatte auch eine Botschaft für irgendein Mädchen, aber ich hab’ sie vergessen. Oder vielleicht hab’ ich sie schon bestellt. Das ist’s: ich hab’ sie schon bestellt. Beim Donner und Blitz und beim heiligen Dreifuß – wozu ist denn das Orakel da, wenn die Menschen nicht lernen können, zuzuhören? Teiresias will mit dem Knaben zum Hoftor, da tritt Admetos ein paar Schritte an ihn heran. Admetos: Du sagtest ... du sagtest etwas von einer G e f a h r, Teiresias? Teiresias schon halb durchs Tor: Gefahr! Selbstverständlich, du Schwachkopf. Wenn d i e – jähe Geste himmelwärts – sich nähern, ist’s immer gefährlich. Admetos: Aber mein Vater sagte, daß Apollo Thessalien schon immer geliebt hat ... Teiresias: Ja – geliebt, geliebt, geliebt! Die dort oben sollen ihre Liebe für sich behalten! Sieh m i c h an: Fünfhundert, sechs-
hundert Jahre alt und so sehr von den Göttern geliebt, daß es mir nicht erlaubt ist, zu sterben. Würden die Götter die Menschen nicht lieben, wären wir alle glücklich. Und umgekehrt ist’s auch wahr: Würden wir Menschen die Götter nicht lieben, wären wir auch alle glücklich. Er geht mit dem Knaben ab. Eine Pause bestürzten Schweigens. Admetos sammelt sich und spricht dann in einem sachlicheren, fast herrischen Ton zu den Vier Hirten. Admetos: Abermals willkommen in Thessalien und Pherai! Morgen werde ich euch eure Rinderherden und Schafherden zuweisen. Heute ruht euch aus! Zu dem Nachtwächter: Sieh zu, daß sie gut versorgt sind! Wieder zu den Hirten: Es freut mich, daß ihr heute bei meiner Hochzeit meine Gäste sein werdet. Admetos und alle andern auf der Bühne sehen in scheuer Verwirrung zu, wie der Nachtwächter die Hirten an eine Stelle am Beginn des Pfads führt und auf die Quelle weist. Sie gehn mit knechtischer Schüchternheit an Admetos vorbei. Dann strecken sie sich auf die Erde und lassen den Weinschlauch von einem zum andern gehn; einer holt Wasser aus der Quelle; ein andrer schläft fast sogleich ein. Admetos hat Alkestis nicht angeblickt.
Teils zu ihr, teils zu sich selbst sagt er nachdenklich: Ich weiß nicht, was ich von alledem halten soll ... Ich selbst bin bloß ein Hirt. Alkestis, du wirst hier in Pherai sehr nötig sein. Er streckt die Hand hinter sich Alkestis hin. Sie aber, die in Nachdenken wie erstarrt ist, ergreift sie nicht. Ich muß jetzt zu meinen Gästen zurück. Mit einem Nachhall seiner ehrfurchtsvollen Scheu: Ich weiß nicht, was ich von alledem halten soll. Dann mit einem Lächeln: Alkestis, bei uns hier in Thessalien gibt es eine alte Sitte – am Hochzeitstag soll der Bräutigam das Gesicht seiner Braut nicht vor dem Abend erblicken. Das ist seit vielen hundert Jahren immer so gewesen. Gibt es eine solche Sitte auch in Jolkos? Alkestis leise: Ja, Admetos. Admetos mit jugendlicher Lebhaftigkeit an ihr vorbeigehend und dabei sein Gesicht mit der Hand beschirmend: Nachher, als ein Geschenk des Gottes, möge ich dein Gesicht schauen, bis ich sterbe! An der Tür des Palasts läßt ihn ein Gedanke innehalten. Noch immer sein Gesicht mit der Hand beschirmend, kommt er mit langsamer Entschlossenheit nahe zu der Stelle nach vorn, wo die Hirten lagern. Nach einem tiefen Atemholen seinen Entschluß fassend, sagt er gradeheraus und
unpathetisch: Apollo, Freund meines Vaters und meiner Vorväter und Freund meines Landes, ich bin nur ein schlichter Mensch, fromm, aber nicht gelehrt in solchen Dingen. Wenn ich aus Unwissenheit etwas falsch mache, verzeihe mir das, du Freund meines Hauses und meines Volkes! Du bist an einem Tag gekommen, an dem ich der glücklichste aller Menschen bin. Gewähre deine Gunst auch weiterhin mir und meinen Nachkommen ... Kleine Pause. Ich bin nicht geübt im Reden. Du aber vermagst die Gedanken der Menschen zu lesen. Lies denn in meinem Geist, oder vielmehr pflanze du in meinen Geist, diese Wünsche, die nur du erfüllen kannst! Er wendet sich und geht schnell in den Palast. Alkestis die nicht aufgehört hat, ihren Blick halb sehnsüchtig, halb zweifelnd und abgestoßen auf die Hirten gerichtet zu halten, leise: Bist du da, Apollo? Aglaia: Prinzessin! Alkestis: Einer von d i e s e n? – Und kann jener uralte Mann der edle Teiresias aus Delphi gewesen sein? Jener gebrochene, halb irre Greis? Aglaia wirklich entrüstet, mit Festigkeit: Wie kannst du zweifeln, Prinzessin? Alkestis nachdem sie ein paar Schritte vorwärts getan hat, mit plötzlichem Entschluß:
Laßt mich allein mit diesen! Aglaia macht dem Nachtwächter ein Zeichen, und beide gehn ab, sie in den Palast, er in den Gesindeflügel. Während Alkestis das Folgende spricht, sind drei der Hirten – der vierte ist eingeschlafen und schnarcht – durch ihre Gegenwart sehr verlegen. Sie lassen zwar den Weinschlauch von einem zum andern gehn, wagen aber kaum, die Augen zu ihr zu erheben. Bist du da? Tausende Male habe ich zu dir gesprochen – zum Himmel und zu den Sternen und zur Sonne. Und ich habe Botschaften nach Delphi gesandt. Bist du nun wahrlich in Hörweite meiner Stimme? Stille, unterbrochen von einem Schnarchen und einem grunzenden Schmatzen. Manche sagen, daß es dich gar nicht gibt. Manche sagen, daß die Götter uns sehr fern sind, daß sie auf dem Olymp schmausen und zechen oder im Schlaf liegen oder im Rausch. Ich habe dir mein Leben dargeboten. Du weißt, daß ich mir immer wünschte, nur für dich zu leben – daß ich lernen möchte – von dir gelehrt werden möchte – welchen Sinn unser Leben hat. Keine Antwort. Sollen wir Menschen ohne ein Zeichen, ohne ein deutendes Wort uns selbst überlassen bleiben? Sind wir preisgegeben?
Sie wartet noch einen Augenblick über dem verlegenen Schweigen der Hirten, wendet sich dann dem Palast zu und sagt mit Bitterkeit zu sich selbst: Dann müssen wir allein unsern Weg finden ... Und das Leben ist ein albernes Tasten und Greifen nach diesem und jenem ... etwas Sinnloses voller Leidenschaften ... Der Erste Hirt – der schmutzigste, unansehnlichste der vier – steht auf. Ehrfurchtsvoll und zugleich verlegen greift er sich an seine Stirnlocke. Hirt: Prinzessin, hat der Alte gesagt, daß einer von uns ein Gott ist? Hab’ ich das richtig gehört – der Gott Apollo? – Dann, Herrin, bin ich ebenso verdutzt wie du. Dreißig Tage lang, Herrin, sind wir vier miteinander durch ganz Griechenland hergewandert. Wir haben aus demselben Weinschlauch getrunken; wir haben mit unsern Händen in dieselbe Schüssel gelangt; wir haben an demselben Lagerfeuer geschlafen. Wenn ein Gott unter uns gewesen wär’, hätt’ ich das nicht erkannt? Alkestis ist voll Hoffnung und Abscheus ein paar Schritte auf ihn zugekommen. Bei allem, was mir teuer ist, Herrin, ich schwör’s dir, wir sind nur gewöhnliche Hirten. Unwissende Hirten. Aber ... aber eins muß ich sagen, Herrin: g a n z gewöhnliche Hirten, die sind wir nun auch nicht. Denn
sieh dir nur diesen Burschen dort an – den, der dort schnarcht: es gibt keine Krankheit, die er nicht heilen kann, keinen Schlangenbiß, kein gebrochenes Rückgrat. Und doch weiß ich, daß er kein Gott ist, Prinzessin. Und dieser da, neben ihm, der da – Er geht auf den Zweiten Hirten zu und stößt ihn mit dem Fuß an. Kannst du nicht aufhören zu saufen, während die Prinzessin dich ansieht? Also dieser da, Herrin, der verliert nie den Weg. In der finstersten Nacht weiß er dir den Norden vom Süden zu unterscheiden, und den Osten vom Westen. Oh, es ist zum Staunen! Und doch bin ich ganz gewiß, daß er nicht der Sonnengott ist. Halblaut fügt er hinzu: Und übrigens sind seine Gewohnheiten schweinisch – gradezu schweinisch sind sie. Alkestis sie haucht es kaum: Und dieser dort? Hirt: Dieser? Der ist unser Sänger. Alkestis: Ah! Hirt: Glaub mir, wenn er die Leier spielt und dazu singt – also, Prinzessin! – es ist wahr, daß ich mir manchmal gesagt hab’: der muß wohl ein Gott sein. Er kann uns bis obenhinauf mit Freude oder Traurigkeit füllen. Er kann die Erinnerung an die Liebe süßer machen, als die Liebe selbst ist. Aber, Prinzessin, ein Gott ist er nicht! Als hätte sie ihm widersprochen, mit plötzlicher, streitsüch-
tiger Heftigkeit: Wie kann er denn ein Gott sein, wenn ihn die ganze Zeit das graue Elend hat und er sich zu Tod säuft – sich, möcht’ man sagen, vor unsern Augen umbringt? Die Götter hassen sich selbst nicht, Prinzessin. Alkestis: Und du? Hirt: Ich? Ich Apollo? – Also, Prinzessin, nicht nur bin ich nicht Apollo, ich bin nicht einmal, bereit zu glauben, daß Apollo hier unter uns ist. Alkestis: Aber Teiresias ... Teiresias sagte doch ... Hirt: Das war Teiresias? – Dieser schwachsinnige Tattergreis? Können die keinen bessern Boten finden als so einen? Können sie, was sie zu sagen haben, nicht auf eine deutlichere Weise sagen? Wieder geht Alkestis ein paar Schritte gegen den Palast, wendet sich dann abermals dem Hirten zu und sagt, als spräche sie mit sich selbst: Alkestis: Dann sind wir wahrhaftig elend. Nicht nur, weil wir ohne Hilfe bleiben, sondern weil wir Betrogene sind, betrogen mit der Hoffnung, wir könnten Hilfe finden ... Hirt noch ein paar Schritte zu ihr hin gehend: Aber, auch wenn es sie gibt, diese Götter – wie könnten sie denn zu uns sprechen? In welcher Sprache sollten sie zu uns sprechen? – Mit ihnen verglichen sind wir siech
und todeskrank und blind und taub und so albern geschäftig wie Narren. – Ja es gibt Leute, die behaupten sogar, daß die Götter uns lieben. Kannst du dir das vorstellen, Prinzessin? Was für eine Art von Liebe könnt’ das sein, mit einer so großen Kluft zwischen den Liebenden? Er beginnt zu der Stelle zurückzugehn, auf der er vorher stand. Das wär’ nur eine unglückliche Liebe – ganz gewiß! Alkestis eindringlich und scharf: Nein, keine unglückliche! Hirt mit gleicher Lebhaftigkeit: Doch! – Denn wenn die Götter sich uns in ihrer ganzen Herrlichkeit zeigen wollten, würde die uns töten. Pause. Mir ist da vorhin etwas eingefallen: Vielleicht gibt’s einen andern Weg – einen Weg, über diese Kluft hinüberzukommen, mein’ ich – vielleicht wissen sie einen Weg, Menschen, die sie lieben, hinaufzuholen – näher zu sich hinauf, mein’ ich. Wenn Teiresias recht hat, ist Apollo hier in Thessalien. Aber vielleicht hat der vergeßliche Alte den Auftrag gehabt, zu sagen, daß Apollo zwar hier ist, aber aufgeteilt auf viele – auf uns vier Hirten und noch andre! Wie ist’s zum Beispiel mit König Admetos? Ich hab’ ihn nur eine kurze Zeit gesehn. Ich muß schon sagen, Prinzessin, zuerst war ich sehr enttäuscht. Es war nichts Außerordentliches an ihm. Hast
du jemals Herakles gesehn, Prinzessin? Alkestis bejaht mit einem leichten Kopfnicken. Hirt sich plötzlich erinnernd: Ach ja, auch er hat sich um dich beworben. – Das ist dir ein Mann! Herakles, der Sohn des Zeus und der Alkmene. Und das kannst du ihm sogleich anmerken. Ich hab’ ein Dutzend stärkere Männer als Admetos gesehn. Aber ... langsam ist mir aufgegangen, daß König Admetos etwas hat, das alle diese andern Helden nicht haben ... Die Welt verändert sich; langsam v e r ä n d e r t sie sich. Wozu wär’ denn das Leben gut, Prinzessin, wenn nicht dann und wann eine neue A r t von Männern auf die Welt käm’ – und auch von Frauen? Admetos tritt aus der Palasttür. Er trägt einen von der rechten Schulter herabhängenden blauen Mantel gleich dem Apollos. Er bleibt beobachtend auf der obersten Türstufe stehn. Bei Inszenierungen, in denen Apollo nicht auf dem Palastdach erscheint: Apollo, in seinem dunkelblauen Mantel, tritt hinter Admetos aus der Palasttür auf, steht dann links des Vorbaus und sieht von dort der folgenden Szene mit einem Lächeln auf den Lippen zu. In dieser Version trägt Admetos n i c h t den von seiner Schulter herabhängenden blauen Mantel.
Hirt: Und wär’ das nicht vielleicht die Art, auf die diese unglücklich Liebenden – er weist in die Höhe – versuchen würden, eine Brücke über die Kluft zu schlagen? Er gewahrt Admetos. Ehrfurchtsvoll den Kopf neigend und an seine Stirnlocke greifend, murmelt er: Möge dir alles Glück beschieden sein durch viele, viele Jahre! Er geht auf seinen Platz zurück. Die Sonne ist im Sinken. Der Himmel über dem Palastdach färbt sich rötlich. Admetos mit starrer Miene: Aglaia hat mir von deinem Wunsch gesagt, uns zu verlassen, Prinzessin Alkestis. Das steht dir selbstverständlich frei. Bei uns gibt es keinen Zwang. Niemand ist versklavt in Thessalien – nicht einmal seine Königin. Ich habe soeben befohlen, Prinzessin, daß deine Wagenlenker und deine Dienerinnen sich für die Reise bereit halten sollen. Er kommt eine Stufe herab. Aber bevor du uns verläßt, möchte ich dir eines sagen. Und ich sage es nicht, um dein Mitleid zu erregen, und auch nicht, um dich von deinem Vorhaben abzubringen. Ich sage es, weil du und ich keine Kinder mehr sind und wir nichts voreinander verbergen sollten, was in unsern Herzen ist. Kleine Pause. Es ist mir immer noch ein großes Wunder, daß ich imstande war, den Löwen und den Keiler zusammenzuspannen. Aber ich bin nicht im
Zweifel darüber, w i e s o ich imstande war, das zu tun: ich liebte dich. Nun werde ich dich nie wiedersehn. Und ich werde nie heiraten. Aber ich werde nie wieder derselbe sein. Von nun an werde ich wissen, daß etwas nicht recht und nicht richtig ist in dieser Welt, in die wir geboren wurden. Ich bin nur ein ganz gewöhnlicher Mann, aber die Liebe, die mich erfüllt, ist keine gewöhnliche Liebe. Wenn solche Liebe keine Gegenliebe findet, dann ist das Leben selbst ein Trug, und es ist am besten, wir Menschen leben aufs Geratewohl dahin, so gut wir können. Denn Gerechtigkeit ... und Ehre ... und Liebe sind einfach nur Dinge, die wir für eine kurze Weile erfinden ... wie es für den Augenblick taugt. Kleine Pause. Mögest du eine gute Reise haben, Prinzessin Alkestis! Alkestis hat mit erhobenem Kopf aber gesenktem Blick dagestanden. Nun streckt sie die Hand aus. Alkestis: Admetos! Kleine Pause. Admetos, frag mich nochmals, ob ich dich heiraten will. Admetos macht einen schnellen Schritt zu ihr hin; sie streckt abermals und schnell die Hand aus, aber damit er stehnbleibe. Fordere mich auf, alles das zu lieben, was du liebst ... und Königin deines Thessalien zu werden. Fordere mich auf, dir mit Schmerzen Kinder zu gebären; neben dir herzuschreiten bei den großen Festen;
dich zu trösten, wenn du verzweifelt bist; dafür zu sorgen, daß das Wasser für dein Bad heiß sei, wenn du von einer Reise zurückkehrst, – und daß dein Hauswesen so wohlgeordnet sei wie dein Geist, Admetos! Fordere mich auf, für d i c h zu leben und für deine Kinder und für dein Volk – für dich zu leben, als wäre ich jeden Augenblick bereit, für dich zu sterben. Admetos freudig, laut: Nein – nein – Alkestis! Ich bin es, der für ... Er ergreift ihre ausgestreckte Hand, aber sie umarmen einander nicht. Alkestis, willst du die Frau des Admetos werden, des Königs von Thessalien ...? Alkestis: Mit meinem ganzen Sein, Admetos. Sie gehn in den Palast.
Anmerkung für den Regisseur Bei Inszenierungen, in denen Apollo nicht auf dem Dach erscheint, schließt dieser Akt wie folgt: Sobald Admetos den Satz beginnt: »Alkestis, willst du die Frau des Admetos ...« tritt Apollo neben Admetos und streckt die Hand mit derselben Geste glühenden Flehens aus. Während Admetos und Alkestis auf die Palasttür zugehn, folgt er ihnen einige Schritte, wendet sich dann den Zuschauern zu, eilt mit ein paar Sprüngen an die Rampe, wo sie den Ein-
gang zur Unterwelt überragt, und ruft mit jugendlich freudvoller Stimme laut: Apollo: Tod – jetzt wirst du etwas lernen! Er geht schnell durch das Hoftor ab.
ZWEITER AKT Derselbe Schauplatz. Zwölf Jahre später. Wieder erste Morgendämmerung. Derselbe Nachtwächter kommt um die Ecke des Palasts. Diesmal schüttelt er seine Klapper nicht. Er spricht leise, langsam und niedergeschlagen. Nachtwächter: Die Wache vor Tagesanbruch ... Und im Palast Admets, des gastfreundlichen, des Königs von Thessalien, des rossereichen ... Er steht einen Augenblick still, den Blick zu Boden gerichtet; dann spricht er zu den Zuschauern: ... da steht alles so schlecht, wie es nur stehn kann ... wie es gar nicht schlechter stehn könnte. Er geht zum Hoftor, das ein wenig geöffnet ist, und spricht zu einer flüsternden Menge draußen. Nein, meine Freunde, nein. Nichts Neues. Der König ist noch am Leben; er hat wieder eine Nacht überstanden. Die Königin sitzt an seinem Bett. Sie hält seine Hand ... Nichts Neues. Keine Veränderung ... Schafft doch diesen Hund weg! Wir können hier kein Gebell brauchen. Ja, der König hat ein wenig Ochsenblut, mit Wein gemischt, getrunken. Er geht wieder in die Mitte der Bühne und spricht zu den Zuschauern.
Unser König liegt im Sterben. Daran ist nicht zu zweifeln. Ihr erinnert euch doch noch an jene Hirten – vor zwölf Jahren – die Teiresias herbrachte und sagte, einer von ihnen sei Apollo – und Apollo werde ein Jahr lang als Knecht hier leben? Ihr erinnert euch doch noch an das alles? Also, als das Jahr zu Ende war, sind die vier da etwa weggegangen? Nein. Sie sind noch immer hier. War Apollo in einem von ihnen? Niemand weiß es. Versucht erst gar nicht, darüber nachzudenken. Ihr werdet bloß den Verstand verlieren, wenn ihr’s versucht, solche Dinge zu verstehn. Aber, meine Freunde, jenes erste Jahr war ein wundervolles Jahr. Ich kann euch das nicht so recht schildern. Es war nicht mehr und nicht weniger gedeihlich als andre Jahre. Für einen Besuch oder einen Vorbeigehenden hätte alles den Anschein gehabt, so zu sein, wie’s immer gewesen war. Aber für uns, die wir’s erlebten, war alles anders. Die Tatsachen des menschlichen Lebens ändern sich nie; nur die Art, wie wir sie sehen, die ändert sich. Apollo war ganz gewiß hier. Pause. Was? Wie das zugegangen ist, daß König Admetos so schwer erkrankte? Also, wie ich euch schon erzählte, die vier Hirten sind bei uns geblieben. Sie sind gute Gesellen und gute Arbeiter – wenn’s auch Südgriechisch ist, wie sie sprechen. Aber zwei
von ihnen – tja, die tranken ihren Wein ungewässert. Und eines Abends bei Sonnenuntergang, da sitzen die zwei hier und trinken – genau hier! – und es entsteht ein Streit zwischen ihnen. Sie schreien immer lauter und jagen einander umher, und König Admetos kommt heraus, um dem ein Ende zu machen. Und grade da – ach, meine Freunde! – da zieht einer der beiden Hirten sein Messer und trifft versehentlich den König. – Ein Schnitt von hier, er weist auf seinen Hals, die ganze Seite hinunter, bis zur Hüfte. Ihr hättet die Hand hineinlegen können. Das ist schon vor vielen Wochen gewesen. Und die Wunde wollte nicht heilen. Sie schwärte und näßte und schwärte und näßte und wurde immer schlimmer, und jetzt wird der König ganz gewiß an ihr sterben. – Aber niemand hat den Hirten bestrafen wollen. Schließlich kann er doch der Hirt sein, in dessen Leib Apollo war – versteht ihr? Und die Untat war vielleicht Apollos Wille – versucht einmal, euch das auszudenken! Und dieser Hirt liegt nun draußen vor dem Hof tor – immer liegt er dort – auf die Erde hingestreckt, platt auf dem Gesicht, und wünscht sich, er wär’ tot. Vor dem Hoftor erhebt sich aufgeregtes Stimmengemurmel. Na, was soll denn dieser Lärm? Aglaia kommt eilig aus dem Palast: Wächter,
bist du toll? Wie kannst du sie so lärmen lassen? Nachtwächter zum Tor humpelnd: Sie haben soeben erst angefangen. Aglaia am Hoftor: Was fällt euch ein, so zu schnattern? Wißt ihr nicht, daß ihr still sein müßt? Nachtwächter: Habt ihr keinen Verstand? Habt ihr kein Herz? Wie? Was? Aglaia: Was? Was für ein Bote? Sagt ihm, er soll zur Vorderseite des Palasts gehn und keinen Lärm dabei machen. Was für ein Bote? Wo kommt er her? Alkestis tritt aus dem Palast auf. Alkestis: Hier muß Ruhe sein. Aglaia, warum duldest du diesen Lärm? Aglaia: Herrin – sie sagen, ein Bote ist gekommen. Alkestis: Was für ein Bote? Nachtwächter hat durch das nur einen Spalt weit geöffnete Hoftor ein kleines rechteckiges Goldtäfelchen empfangen, das er nun Alkestis reicht: Sie sagen, in der Nacht ist ein Bote gekommen und hat das da hiergelassen. Alkestis blickt auf das Goldtäfelchen in ihrer Hand. Der Nachtwächter beugt sich darüber und redet übertrieben diensteifrig weiter. Es ist aus Gold, Herrin ... das ist die Schrift des Südlands. Und da, siehst du, sind Zei-
chen. Hier ist die Sonne ... und hier ein Dreifuß ... und der Lorbeer ... Herrin, es ist aus Delphi. Es ist eine Botschaft aus Delphi! Alkestis vollzieht plötzlich das Ritual: sie hält das Täfelchen erst an die Stirn, dann an ihr Herz, dann an ihre Lippen. Alkestis: Wo ist der Bote? Der Nachtwächter tritt an das nur einen Spalt weit geöffnete Hoftor und spricht flüsternd mit den draußen Stehenden. Nachtwächter zu Alkestis zurückgewandt: Er ist weggegangen – schon vor Stunden, sagen sie. Alkestis: Wer kann diese Schrift lesen? Wächter, ruf die vier Hirten! Nachtwächter: Sie sind dort draußen, Herrin – alle vier. Wieder eine eifrige Unterredung am Hoftor. Es wird etwas weiter geöffnet, um die Vier Hirten einzulassen. Der Hirt, der das lange Gespräch mit Alkestis im 1. Akt führte, wirft sich vor ihr aufs Gesicht zu Boden und umfaßt seinen Kopf mit beiden Händen. Alkestis: Kann einer von euch die Schrift des Südlands lesen? Hirt den Kopf hebend: Ich kann’s ... ein wenig, Herrin. Alkestis: Dann steh auf, steh auf! Der Hirt steht auf. Alkestis reicht ihm das Täfelchen. Er besieht es, führt es dann an
Stirn, Herz und Mund und sagt ehrfürchtig: Hirt: Es kommt aus Delphi – aus dem Tempel Apollos. Einige vom Stadtvolk haben sich durch das Hoftor gedrängt. Hirt beginnt mühsam zu lesen: »Frieden ... und ein langes Leben ... Admetos, dem gastfreundlichen, dem König von Thessalien, dem rossereichen«! Alkestis: Ein langes Leben? Hirt: »Frieden und ein langes Leben Admetos, dem gastfreundlichen –« Alkestis: Warte! Zum Nachtwächter: Schließ das Hoftor! Der Nachtwächter drängt das Stadtvolk durch das Hoftor zurück, und nach einem Blick auf Alkestis schiebt er auch die Drei anderen Hirten hinaus. Dann schließt er das Hoftor. Alkestis wendet sich wieder dem Hirten zu, der versucht, die Schrift zu entziffern. Hirt: »König Admetos ... wird ... wird nicht ... wird nicht sterben ...« Aglaia: Groß ist Apollo! Groß ist Apollo! Hirt: »Wird nicht sterben ... weil ... nein, wenn ... wenn ... ein ... wenn ein andrer ... wenn ein andrer Mensch ... wünscht ... Er weist auf sein Herz ... sich sehnt ... begehrt ...« Herrin, ich weiß nicht, wie die letzten Wörter lauten.
Alkestis: Ich weiß es. Hirt wieder die Stelle suchend und sich mühend: »An seinem Ort ... an seiner Stelle ... statt seiner ... zu sterben.« Groß ist Apollo! Aglaia: Wie heißt der Schluß? Wie heißt er? Nachtwächter: Ich, ich werde sterben. Er will nach links abgehn. Mein Schwert, wo ist mein Schwert? Aglaia seine Absicht erfassend: Nein! Gebieterisch zu dem Nachtwächter: Bleib! Diese Botschaft ist für mich. Ich war dabei, als er geboren wurde ... Ich werde statt seiner sterben. Ich werde mich in den Fluß stürzen. Nachtwächter zurückkommend, zu Aglaia: Das ist nichts für ein Weib. Hirt kniend, die Fäuste zu innerer Sammlung auf die Augen gedrückt: Ich, ich hab’ schon begonnen, zu sterben. Aglaia: Königin Alkestis, sag mir ... ich muß es ordentlich und richtig tun ... wie soll ich statt König Admetos sterben? Nachtwächter drängt sich wichtigtuerisch zwischen Aglaia und Alkestis: Befiehl es mir, Königin Alkestis! Es ist ganz klar, daß diese Botschaft für mich gemeint ist. Hirt sich schlagend: Ich hab’ ihn verwundet. Ich bin an allem schuld! Alkestis die regungslos gewartet hat, bis alle verstummt sind: Wie wolltet denn ihr an seiner Statt sterben? Pause. Glaubt ihr, es
genügt, sich in den Fluß zu stürzen oder sich ein Schwert ins Herz zu stoßen? Pause. Nein – die Götter verlangen nichts von uns, was uns leicht fällt. Aglaia schluchzend: Herrin, wie stirbt eins für König Admetos? Hirt: Ich weiß es. Ich w e i ß es. Er erhebt sich und geht auf das Hoftor zu. Frieden und langes Leben dem König Admetos! Alkestis dem Hirten nachrufend: Warte! Alle sehen sie an. Sie sagt sehr ruhig: Aglaia, geh und leg das Gewand bereit, in dem ich getraut wurde. Aglaia starrt sie in jähem Begreifen an und flüstert entsetzt: Nein, nein ... du darfst nicht ... Alkestis: Sag den Kindern, ich komme auf einen Augenblick zu ihnen. Sag dem König, die Sonne scheint warm hier außen. Er soll herauskommen und sich hier sonnen. Aglaia und der Nachtwächter laut und durcheinander: Aglaia: Nein, nein, Königin Alkestis! Wir sind alt. Unser Leben ist vorbei. Nachtwächter: Herrin, sieh mich an! Ich bin schon sehr alt. Aglaia: Herrin, das darfst du nicht tun. Er würde es nicht wollen. Du bist Königin, du bist Mutter. Alkestis die beiden durch ihren Ton und ihre Gebärde zum Schweigen bringend: Vor al-
lem ... vor allem befehle ich euch, niemand etwas davon zu sagen. Aglaia, hast du verstanden? Niemand! Aglaia: Ja, Herrin. Alkestis: Wächter! Nachtwächter: Ja, Königin Alkestis. Alkestis: Niemand – bis morgen. Ganz gleich, was hier geschieht, ihr werdet keine Überraschung zeigen, keinen Kummer. Und jetzt laßt mich allein mit ihm! Auf den Hirten weisend. Aglaia geht in den Palast, der Nachtwächter nach links ab. Der Hirt steht, die eine Faust vor der Stirn, in innerer Sammlung und ruft plötzlich: Hirt: König Admetos – steh auf! Steh auf! Alkestis: D u kannst ihn n i c h t retten. Hirt: Ich hab’ schon begonnen zu sterben. Alkestis: Ja, vielleicht könntest du’s. Aber du tätest es unvollkommen. Du wünschst zu sterben, aber nicht aus Liebe zu Admetos, sondern, um dir die Last deiner Untat vom Herzen zu wälzen. Doch dies muß ein Werk der Liebe sein, Hirt – nicht ein Werk der Sühne, sondern der Liebe. Hirt fast zornig: Auch ich liebe König Admetos. Alkestis: Wer liebt Admetos nicht? Aber d e i n Tod wäre ein geringer Tod. Du s e h n s t dich danach, zu sterben. Ich s c h a u d e r e davor, fürchte mich, hasse es, zu sterben.
Ich muß von meinem Admetos hinwegsterben. Von meinen Kindern hinwegsterben. Sie blickt aufwärts. Von diesem Sonnenschein hinwegsterben. Nur so wird er wieder gesund werden. Vermagst d u das für ihn? Der Hirt schweigt. Sie spricht, wie mit sich selbst, weiter. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe, und weiß, w i e es tun. Aber ich weiß nicht, w a r u m ... warum das von mir gefordert wird. Du, du kannst mir helfen, es zu verstehn, warum ich sterben muß. Hirt: Ich? Alkestis: Ja, du – der du von Delphi gekommen bist; du, in dem Apollo – Hirt mit aufrichtig entrüsteter Zurückweisung: Herrin, Königin, ich hab’ es dir doch gesagt. Wenn Apollo in einem von uns Hirten war – in mir war er nicht! Alkestis sanft und leise: Du hast mir klargemacht, daß Apollo meine Heirat wollte. Hirt noch immer fast zornig: Nein, nein. Du hast mir Fragen gestellt. Ich hab’ geantwortet, wie jeder geantwortet hätte. Du weißt sehr gut, daß ich ein ganz gewöhnlicher Mensch bin. Alkestis geht, unter der Vergeblichkeit ihres Bemühens leidend, auf die Palasttür zu; wendet sich dann aber nach dem Hirten um. Alkestis: Also sprich wiederum als ein ge-
wöhnlicher Mensch und sag mir, warum Apollo von mir verlangt, ich soll sterben. Hirt noch immer mit einer Spur von Zorn: Da antwort’ ich dir als ein gewöhnlicher Mensch – aus Delphi ist die Botschaft gekommen, daß eins von uns hier sterben muß. I c h bin bereit zu sterben. Warum sollt’ ich versuchen, es zu verstehn? Alkestis: Aber wenn wir nicht verstehn, dann ist unser Leben kaum besser als das der Tiere. Hirt: Nein, Herrin, zu verstehn, heißt, etwas als Ganzes sehen. Aber sehen wir Menschen je eine Sache als Ganzes, und wie sie endet? Wenn du mir erlaubst, jetzt für Admetos zu sterben, werd’ ich nicht wissen, was nach meinem Tod geschehen ist. Aber ich würde willig sterben. Denn ich hab’ immer gesehen, daß es zwei Arten von Sterben gibt: eine, die ein Ende ist, und eine, die ein Vorwärtsgehn ist, die trächtig ist von dem, was hernach folgt. Und ich würde wissen, daß ein Tod, den Delphi mir auferlegt hat, ein Tod war’, der zu etwas führt – ein Teil von etwas Größerem, als was wir sehen können. Laß m i c h diesen Tod sterben, Herrin – denn er würde mich vor dem andern bewahren, vor dem mir graut: dem bloßen Aufhören, zu sein – bloß Staub in einem Grab zu werden. Alkestis hat seine Worte als vollständige
Antwort und Lösung aufgefaßt. Ihre Stimmung schlägt um; sie sagt unbeschwert und schnell: Alkestis: Nein, Hirt, lebe – lebe für Admetos, für mich und für meine Kinder! Bist du nicht der Freund meines Epimenes? – der nun Haß gegen dich fühlt, weil dein Messer seinen Vater getroffen hat? Du hast ihm fast das Herz gebrochen. Er hielt dich für seinen Freund – dich, der ihn schwimmen und fischen gelehrt hat. Bevor ich gehe, werde ich Epimenes sagen, daß du mir einen großen Freundschaftsdienst erwiesen hast. Der Hirt geht schweigend durch das Hoftor ab. Alkestis vollführt wieder das Ritual mit dem Goldtäfelchen – drückt es an Stirn, Herz und Mund. Aglaia tritt aus dem Palast auf. Aglaia mit gesenktem Kopf: Das Gewand liegt bereit, Königin Alkestis. Alkestis: Aglaia – um tun zu können, was ich nun tun muß, kann ich – d a r f ich die Kinder nicht mehr sehen. Ihr Haar duftet so ... Verstehst du? Aglaia: Ja, Herrin. Alkestis: Dann sag Epimenes – sag ihm von mir – er soll zu dem Hirten gehn, der seinen Vater verwundet hat – er soll ihm verzeihen – und ihm danken für einen großen Freundschaftsdienst, den er mir erwiesen hat.
Aglaia: Ich werd’s ihm sagen. Alkestis: Und nachher schneide eine Locke von von meinem Haar ab ... Sag niemand etwas davon und leg sie auf den Altar – sie weist auf das Hoftor – drüben, im Hain Apollos. Und wenn ich nicht mehr da bin, Aglaia, sollst du dem König sagen, es sei mein Wunsch gewesen, daß er wieder heirate. Aglaia: Königin Alkestis! Alkestis nüchtern beginnend: Ein Mann braucht eine Frau um sich. Aber, Aglaia! – Stiefmütter sind den Kindern der früheren Frau oft schlechte Mütter – darum bleib du bei ihnen! Bleib in ihrer Nähe und – Aglaia! – manchmal ... manchmal ... sprich ihm von mir – erinnere ihn an mich! Mit brechender Stimme: Erinnere ihn an mich! Sie eilt in den Palast. Aglaia will ihr folgen, da wird sie durch aufgeregtes Flüstern und Reden am Hoftor zurückgehalten. Einige des Stadtvolks kommen ein paar Schritte in den Hof herein; Rhodope, eine junge Palastdienerin, läuft, ein freudiges Kichern kaum unterdrückend, vom Hoftor zur Tür des Palasts. Aglaia: Was gibt’s? Was für ein Lärm ist das? Rhodope! Rhodope: Er kommt schon die Straße herauf! Aglaia: Wer kommt? Rhodope und Stadtvolk: Herakles kommt!
Er ist gar nicht mehr weit! Herakles, der Sohn des Zeus! Herakles! Aglaia: Seid still, ihr alle, seid doch still! Und verlaßt sogleich den Hof! Habt ihr vergessen, daß ein Kranker in diesem Haus liegt? Rhodope, hinein mit dir, und halt den Mund! Das Stadtvolk zieht sich durchs Hoftor zurück. Rhodope ab in den Gesindeflügel. Der Nachtwächter tritt durch die Palasttür auf und gibt zwei zunächst noch, unsichtbaren Dienern hinter sich mit der Hand Weisungen. Dann sagt er, zu Aglaia gewendet, die, ängstlich besorgt, mit gesenktem Kopf dasteht: Nachtwächter: Herakles – und grade heute! Aglaia übelnehmerisch: Ja. Und jedes Jahr. Warum kommt er jedes Jahr? Wissen wir das? Nachtwächter: Nun ... ein so guter Freund! Aglaia: Ja – aber manchmal kann uns ein guter Freund ein Geschenk mit seiner Abwesenheit machen. Nachtwächter: Ich versteh dich nicht, Aglaia. Aglaia gereizt: Ich weiß, was ich weiß. Aus der Palasttür treten Zwei Diener auf. Sie tragen ein Ruhebett und einen Hocker. Nachtwächter: Stell beides dorthin! – Ihr wißt schon, wo. Aglaia übernimmt das Anordnen, während
der Nachtwächter sich zurückwendet, um Admetos zu helfen. Hier, hierher! Sie blickt nach dem Stand der Sonne. Wendet es so! Sie nimmt ihnen Kissen ab. So – so ist’s recht. Und die Königin sitzt gern hier. Admetos tritt auf, die Arme um die Schultern des Nachtwächters und eines Dieners, die ihn stützen. Admetos: Die Sonne ist schon den halben Himmel hinauf. Zum Nachtwächter: Du hast die ganze Nacht gewacht, du solltest schon schlafen. Nachtwächter: Oh – wir alten Männer, König Admetos – wir brauchen sehr wenig Schlaf. Vorsichtig jetzt, vorsichtig! Admetos: Ich weiß nicht, wo die Königin bleibt, Aglaia. Aglaia sich mit den Kissen beschäftigend: Sie wird gleich hier sein, Herr. Du kannst dich darauf verlassen. Sie geht schnell in den Palast ab. Nachtwächter: Also, Herr, sobald du es dir auf diesem Ruhelager hier behaglich gemacht hast, hab’ ich eine Neuigkeit für dich. Du wirst sie kaum glauben. Er schielt zur Sonne hinauf. Ja, Herr, es wird sehr heiß werden heute. Wir haben Mittsommer. Die Seeleute sagen, daß die Sonne jetzt sehr tief kreist ... daß sie uns in diesen Tagen sehr nahe ist. So sagen die Seeleute.
Admetos: Also, was weißt du Neues? Nachtwächter: Ein guter Freund, Herr, kommt dich besuchen. Ein sehr guter Freund. Admetos: Herakles! Nachtwächter: Ja, Herakles, der Sohn des Zeus. Admetos: Heute! Grade heute! Nachtwächter: Die ganze Stadt weiß davon. Aber er läßt sich Zeit. In jedem Dorf, aus jedem Gehöft bringen sie ihm Wein und bekränzen ihn. Sicher ist er betrunken ... Oh! Wir müssen verhindern, daß er dich umarmt, Herr! Heute würde er dich sicherlich damit töten. Admetos: Weiß es die Königin? Nachtwächter: Die Mägde werden’s ihr wohl schon erzählt haben. Admetos: Ich wollte, er wäre an einem bessern Tag gekommen. Nachtwächter: Jeder Tag, an dem Herakles kommt, ist ein guter Tag. Deine beiden kleinen Söhne, Herr, sind außer sich vor Freude. Epimenes wird ihn wiederum genau ausfragen, wie er den nemäischen Löwen getötet hat und wie er König Augias den Stall säuberte. Admetos: Ruf Aglaia! Aglaia tritt aus der Palasttür auf. Nachtwächter: Dort kommt sie. Aglaia: Ja, König Admetos?
Aglaia bedeutet hinter dem Rücken Admets dem Nachtwächter, sich zu entfernen. Er geht links ab. Admetos: Komm ganz nah zu mir, Aglaia! Weißt du’s schon? Der Nachtwächter wirft im Abgehn Aglaia einen angstvollen Blick zu und zeigt bei ihrer Antwort Erleichterung. Aglaia: Ja, ich hab’s schon gehört. Der Sohn des Zeus kommt uns besuchen. Admetos ohne Pathos: Aglaia, dies ist mein letzter Tag. Ich weiß es. Ich fühle es. Aglaia: Herr, wie kann irgendeins von uns so etwas wissen? Und du sollst jetzt nicht sprechen. Du mußt mit deinen Kräften haushalten. Admetos: Bevor die Sonne untergeht, werde ich sterben. Aber wenn es möglich ist – und du wirst es möglich machen – muß mein Tod Herakles verheimlicht werden – wenigstens einen Tag lang oder zwei. Ihr alle müßt sagen, daß jemand vom Gesinde gestorben ist. Und ihr alle müßt euern gewohnten Geschäften nachgehn, als wäre nichts geschehn. Du weißt, was für ein mühsames Leben Herakles hat – diese schweren Aufgaben, eine nach der andern. Wenn er zu uns kommt, als ein froher Gast, soll er doch nicht ein Haus voller Trauer und Trübsal vorfinden, nicht wahr? Besonders nicht Herakles – der so oft nahe daran
ist, sein Leben zu verlieren – und dem alles, was an Begräbnisse und Trauer erinnert, so zuwider ist! Aglaia abermals ihm die Kissen zurechtrückend: Herr, ich bin nicht so töricht. Das alles begreife ich sehr gut. Aber jetzt lehn dich zurück und schließ die Augen! Dieser Sonnenschein wird dir neue Kraft geben. Admetos: Wenn er mir nur Kraft für noch einen einzigen Tag gibt – um Herakles zu empfangen. Geh und sieh, wo die Königin bleibt! Aglaia: Sie ist schon hier. Sie geht links ab. Alkestis ist aus der Palasttür aufgetreten und bleibt auf der obersten Stufe stehn. Sie trägt dasselbe weiße Kleid wie im 1. Akt. Admetos wendet den Kopf und sieht sie an. Admetos: Unser Hochzeitskleid! Alkestis legt lächelnd den Finger an die Lippen, um Admetos am Weitersprechen zu hindern, geht zu ihm und sagt leichthin: Die meisten Frauen bewahren es für ihr Begräbnis auf. Ich trage es dem Leben zuliebe. Admetos: Setz dich zu mir, Liebste! Ich sagte vorhin Aglaia – Alkestis hat sich zu ihm gesetzt und legt ihre Hand auf die seine: Ja, ja, ich weiß – wenn Herakles kommt ... Admetos: Er wird bald hier sein. Alkestis: Oh, er wird sich wohl unterwegs
verweilen. Herakles beeilt sich nur, wenn’s einer Gefahr entgegengeht. Vielleicht wird er erst am Abend kommen. Vielleicht nicht vor morgen. Wir haben Zeit. Sie steht auf, geht ruhig zum Hoftor und steht dort lauschend. Ich höre Freudengeschrei aus dem Tal. Sie geht langsam zu ihrem Hocker zurück und wiederholt: Wir haben Zeit. In der Mitte der Bühne, wie um Hilfe zur Sonne aufblickend: Die Sonne der Sommerwende – die heilende Sonne – spürst du sie? Admetos: Ja, die heilende Sonne –aber nicht mehr für mich. Ich habe das alles von mir abgetan – ich brauche keine Hoffnung mehr. Mein Leben war kurz, aber eine einzige Stunde kann die ganze Fülle der Zeit enthalten. Mir ist sie geschenkt worden, die Fülle der Zeit. Wer einmal glücklich war, ist der Zeit nicht mehr Untertan ... Komm, wir wollen einander sagen, was noch zu sagen bleibt an diesem letzten Tag. Alkestis sich wieder zu ihm setzend, mit einem leisen Lächeln: An diesem letzten Tag? – Du mußt ruhen und deine Kräfte und deinen Atem schonen. Laß mich reden. Ich werde für zwei reden – für dich und für mich. Ich weiß nicht, wer mir diesen Beinamen gegeben hat: Alkestis, die Schweigsame. Ich glaube, du warst es. Aber Herakles, der hat ihn in ganz Griechenland verbreitet.
Admetos: Warst du nicht immer so schweigsam? Alkestis: Ich? Nein. Als Mädchen – oh, da war ich ein eigensinniges und streitsüchtiges Ding – das weißt du doch. Und jetzt gibt es Zeiten, wo ich sehr ungeduldig werde mit dieser langweiligen, schweigsamen Alkestis! Es gibt Zeiten, da wünsche ich mir, ich wäre wie andere Frauen, die frei heraus sagen können, wie’s ihnen ums Herz ist. Frauen, die so etwas sagen können wie: Liebster ... hab’ ich dir je gesagt ... laß mich dir nochmals in die Augen sehen ... hab’ ich dir je gesagt, daß ich dich mehr liebe als mein Leben? Während sie sich über ihn neigt, wird sie plötzlich von einem starken Schmerz befallen. Sie steht auf, dreht sich um sich selbst, die eine Hand an die Stirn, die andre an ihre linke Seite gedrückt, an dieselbe Stelle, wo er die Wunde hat. Admetos hat es nicht bemerkt. Er hat wieder die Augen geschlossen und lacht leise vor sich hin. Admetos: Das klingt nicht ... das klingt gar nicht wie meine schweigsame Alkestis. Und wenn du für mich sprechen würdest – was würdest du sagen? Alkestis deren Schmerz nachgelassen hat, sagt fast heiter: Ich würde sagen, daß ich – ich, Admetos – weder den Tag meiner Geburt noch den Tag meines Todes gewählt
habe. Daß geboren worden zu sein ein Geschenk ist, das uns zuteil wurde, ein wundervolles Geschenk, und daß Alkestis’ Tod – oder mein eigener – aus derselben Hand kommt. Admetos fast belustigt: D e i n Tod, Alkestis? Alkestis: Er käme aus derselben Hand, die Leben schenkt ... Schmerzt deine Wunde, Admetos? Admetos greift sich verwundert an die Seite: Nein ... Ich weiß nicht wieso, aber der Schmerz scheint ... Alkestis: Heb’ deine Hand! Sobald er langsam seinen bisher gelähmten linken Arm hebt, geht der Schmerz in ihren Körper über; sie greift sich krampfhaft an die Seite und knickt vor Schmerz ein. Admetos: Wie leicht mir ist ... Er blickt hoffnungsvoll vor sich hin. Nein, ich darf so etwas nicht einmal denken ... Das alles liegt hinter mir. Wir, die wir glücklich waren, sind der Zeit nicht mehr Untertan. Alkestis deren starker Schmerz vorbei ist, die sich aber vorsichtig bewegt, hat sich wieder gesetzt und sagt, die Wange an die seine geschmiegt: Ja, wir, die wir glücklich waren . .. Admetos plötzlich ihre Hand ergreifend, leidenschaftlich innig: Und du hast mich einst gehaßt! Alkestis ihm ihre Hand entziehend: Nein, nie.
Admetos: Diesen jungen Kerl, der immer wieder erschien zu der Probe mit dem Löwen und dem wilden Eber. Da ist er schon wieder, dieser Kerl aus Thessalien! Sie lachen beide. Alkestis: Oh, was für einen weiten Weg ich gewandert bin! Admetos: Nicht wahr, du hast mich nicht wirklich gehaßt, als ich um die Ecke der Mauer gefahren kam und mich mit diesen verdammten Untieren plagte? Alkestis: Nein, ich litt nur um so mehr. Ich hatte begonnen, ihn zu lieben, diesen jungen Kerl aus Thessalien mit seinem ernsten Gesicht. Du warst der einzige Freier, der es mehr als einmal versuchte ... Sogar Herakles gab es auf ... Wenn ich bedenke, daß ich nicht sehen konnte, wohin das Leben mich tragen werde ... Admetos stolz, feurig: Ich, ich habe es gesehen. Alkestis: Geliebter Admetos ... Du hast es gesehen. Und hast sie geheiratet, diese eigenwillige, widerspenstige Alkestis. Admetos noch inniger: Unsere Liebe! Unsere Liebe! – Unser Geflüster in der Nacht! ... Und die Geburt unseres Epimenes, bei der ich dich beinahe verlor. Alkestis bedeutet ihm, zu schweigen. Alkestis! Alles, was wir miteinander erfahren, was wir miteinander erlebt haben! – Oh,
ewig zu leben – mit dir – an deiner Seite! Alkestis: Seh! ... Es gibt Dinge, die auszusprechen uns Sterblichen nicht erlaubt ist. Admetos versuchsweise den Fuß auf den Boden setzend: Ich verstehe das nicht ... Mein Knie zittert nicht mehr. Mit freudiger Hoffnung: Alkestis ... vielleicht ... vielleicht werde ich doch leben. Alkestis ebenso ekstatisch, zum Himmel empor: Im Leben und im Tod werden wir gehört ... wir werden verstanden. O Admetos! ... Nein, bleib liegen! Lieg still! Admetos: Ich wage es kaum ... zu glauben ... zu hoffen ... Alkestis abermals von dem Schmerz befallen, beginnt, auf die Tür des Palasts zuzugehn: Admetos, ich fände es ganz natürlich, wenn eine Botschaft aus Delphi käme – eine Botschaft für mich – daß ich mein Leben für meine Kinder oder für Thessalien hingeben soll oder ... für meinen Mann. Admetos: Nein, nein. Niemand würde wünschen, daß ein andrer für ihn sterbe. Jeder Mensch ist bereit, für sich selbst zu sterben. Alkestis den Schmerz bezwingend: Was sagst du da, Admetos? Denk an alle die Krieger – Tausende und Tausende von ihnen – die für andre gestorben sind. Und wir Frauen – armselige, feige Krieger ... viele von uns ... sind gestorben ... für unsere Kinder, für unsere Männer. Sie geht taumelnd weiter auf
die Palasttür zu. Admetos: Ich würde geringer denken von Göttern, welche es zwischen Mann und Frau zu einer solchen Entscheidung kommen ließen ... Sich aufrichtend, laut und verwundert: Sieh her! Sieh nur, wie leicht ich – Alkestis: Aglaia! Aglaia! Admetos aufspringend und zu ihr eilend: Alkestis, was ist dir? Aglaia! Aglaia! Aglaia eilt aus der Palasttür zu Alkestis. Alkestis: Hilf mir zu meinem Bett! Admetos: Was hast du? – Bist du krank, Alkestis? Alkestis zurückgewendet: Hab du mein Leben! Und sei glücklich! Sei glücklich! Sie bricht in den Armen der beiden zusammen und wird in den Palast getragen. Außerhalb des Hoftors erhebt sich der Lärm einer aufgeregten Volksmenge; Bruchstücke von Gesang usw. und das laute Grölen von Herakles’ Stimme dringen in den Hof. Herakles: Wo ist mein alter Freund Admeee-tos? Stadtvolk außerhalb: Herakles ist da, Herakles ist da! Herakles: Al-keee-stis! Wo ist die göttliche Al-keee-stis? Alkestis, die Schweigsame! Admetos, der gastfreundliche! Der Nachtwächter tritt auf. Stadtvolk: Herakles ist da! Herakles!
Nachtwächter: Die Götter mögen uns beschützen! Was sollen wir nur tun? Immer mehr Stadtvolk drängt sich durch das Hoftor und ruft: »Lang lebe Herakles, der Sohn des Zeus!« Herakles tritt auf, weinselig, bekränzt – einen Weinkrug in der Hand. Zwei junge Männer tragen lachend seine Keule wie eine schwere Last. Herakles: Alkestis, schönste der Töchter von Jolkos – Admetos, bester aller Freunde – wo steckt ihr? Stadtvolk: Herakles, der Vernichter der Ungeheuer! Herakles, der Freund aller Menschen! Lang lebe Herakles! Nachtwächter: Tausendmal willkommen in Pherai, mächtiger Herakles! Herakles: Wo ist mein Freund Epimenes – der große Jäger, der große Fischer? Epimenes, ich werd’ mit dir ringen – beim Donner des Zeus, du sollst mich nicht wieder besiegen! Nachtwächter: Alle werden sie sogleich hier sein, Herakles. Sie sind außer sich vor Freude. Ein Klagen und Jammern ist aus dem Palast vernehmbar. Herakles: Das ist doch Weinen und Schluchzen, was ich da höre? Was soll dieses Gejammer bedeuten, Alter? Nachtwächter: Gejammer, Herakles? Die
Frauen und Mädchen jubeln darüber, daß Herakles gekommen ist. Aglaia kommt hastig aus dem Palast. Aglaia: Sei tausendmal willkommen, göttlicher Herakles! Der König und die Königin werden sogleich hier sein. Sie sind glücklich, überglücklich – das kannst du mir glauben. O Sohn des Zeus, welche Freude, dich wieder bei uns zu sehn! Herakles laut: Ich bin nicht der Sohn des Zeus! Aglaia sich die Ohren zuhaltend: Herakles! Was sagst du da? Herakles: Ich bin der Sohn des Amphitryon und der Alkmene. Ich bin ein gewöhnlicher Sterblicher, Aglaia; und die Arbeit, die ich leiste, fällt mir so schwer, wie sie jedem andern fallen würde. Aglaia: Oh, mögen die Götter Unheil abwenden von diesem Haus! Du mußt sehr betrunken sein, Herakles, daß du so etwas sagen kannst. Herakles: Ich bin ein Mensch, ein ganz gewöhnlicher Mensch, sag’ ich dir. Aglaia: Halbgott oder Mensch, was muß ich sehn, Herakles? Du bist ja ganz verdreckt! Sieht so der stattlichste Mann in ganz Griechenland aus? Bei den unsterblichen Göttern, ich hätte dich fast nicht erkannt. Nun hör zu! Du erinnerst dich doch, was für Bäder Aglaia zu bereiten versteht? Sie würden
einem gewöhnlichen Menschen die Haut ablaugen. Und das Öl, das ich für dich bereit habe – das Öl! Du erinnerst dich doch, nicht wahr? Herakles vertraulich: Vorerst, Aglaia, vorerst ...! Er macht die Gebärde des Trinkens. Aglaia: Du hast auch unsern Wein nicht vergessen, das meinst du? Du sollst sogleich welchen haben! Herakles plötzlich losbrüllend: Was ist denn das, was man mir unterwegs erzählt hat? Admetos durch einen Dolchstich schwer verwundet? Wer hat das getan, Aglaia? Aglaia: Ach, das ist alles längst vergessen, Herakles. Er ist jetzt wieder so gesund wie du und ich. Rhodope und eine Zweite junge Dienerin kommen mit einem Weinkrug und Bechern aus dem Palast. Komm, setz dich hierher und erfrische dich! Herakles versucht, Rhodope zu haschen, aber sie entwischt ihm. Er läuft dann der Zweiten Dienerin nach und bekommt sie zu fassen. Herakles: Wie heißt du, mein Täubchen? Aglaia entrüstet: Aber, Herakles! Die Zweite Dienerin entwindet sich ihm. Herakles läuft ihr nach, stolpert und fällt längelang hin. Die Zweite Dienerin und Rhodope ab. Herakles: Au, verdammt, ich hab’ mir weh-
getan! Styx und Kozytos, mein Knie! Mein Knie! Aglaia: Herakles! Ich hab’ kein bißchen Mitleid mit dir. Ist’s möglich, daß du vergessen hast, wo du bist? Himmel, was wird sich Königin Alkestis von dir denken – wenn du dich so benimmst! Herakles der sich schwerfällig erhoben und dann gesetzt hat: Zwanzig Tage bin ich hergewandert – Wo bleiben sie alle? Wo stecken meine lieben Freunde Admetos und Alkestis? Aglaia vertraulich: Also, Herakles, du bist doch ein alter Freund des Hauses, nicht wahr? Herakles: Das will ich meinen! Aglaia: Ich kann doch ganz offen mit dir reden, nicht wahr? Du bist ja, den Göttern sei Dank, nicht einer von diesen Gästen, vor denen man etwas geheimhalten muß? Herakles: Wir sind wie Geschwister – wie Geschwister! Aglaia: Also hör zu! Eine der Dienerinnen im Haus, eine Waise ... eine der Dienerinnen ist plötzlich ... Herakles: Was? – Gestorben? Aglaia den Finger an den Lippen: Und du weißt, wie gut und freundlich der König und die Königin zu uns allen hier im Haus sind. Herakles: Gestorben? Eine Waise?
Aglaia: Ja, sie hat schon sehr früh beide Eltern verloren. Also, der König und die Königin werden gleich hier sein – nachdem du dein Bad genommen hast. Aber jetzt, grade jetzt – weißt du, sind sie bei dem armen Mädchen – aus Freundschaft und Frömmigkeit. Nicht wahr, du verstehst doch das alles, Herakles? Herakles: Nein. Nein, Aglaia. Es gibt zu vieles, was ich nicht verstehe. Aber weißt du, wer alles versteht? Pause. Alkestis. Hab’ ich nicht recht, Aglaia? Aglaia: Ja, Herakles, ja. Herakles: Also, jetzt will ich ganz offen mit dir reden, Aglaia. Ich bin hergekommen, ich bin zwanzig Tage gewandert – um Alkestis eine einzige Frage zu stellen. Aglaia: Eine Frage, Herakles? Als Antwort weist Herakles zweimal schnell und nachdrücklich zum Himmel hinauf. Über die Götter? Herakles nickt. Aglaia faßt sich und sagt energisch: Na, erst mußt du dein Bad nehmen. Wenn du heraussteigst, wirst du aussehn wie ein Jüngling von siebzehn Jahren. Und ich hab’ einen so schönen Kranz für dich bereit. Und solche Wohlgerüche! Herakles steht auf und beginnt, ihr nach links, zur Tür des Gesindeflügels, zu folgen. Herakles: Und während ich im Bad liege,
wirst du dich da neben mich setzen und mir nochmals erzählen, wie Apollo nach Thessalien kam? Aglaia: Ja, wenn du willst, werd’ ich’s dir nochmals erzählen. Herakles sie zurückhaltend; drängend: Und niemand hat erkannt, welcher von ihnen Apollo war? Aglaia schüttelt den Kopf. Ein ganzes Jahr lang? Und niemand hat erkannt, welcher Apollo war – nicht einmal Alkestis? Aglaia schüttelt abermals den Kopf. Herakles greift sich an die Stirn. Wer kann die Götter verstehn? Sag mir das, Aglaia! Wir werden sie nie verstehn. Wenn ich an sie zu denken versuche, beginn’ ich zu zittern, und es schwindelt mir. Aglaia: Du bist müde, Herakles. Komm ... Admetos tritt aus der Palasttür auf und bleibt auf der obersten Stufe stehn, als Herakles und Aglaia die Tür zum Gesindeflügel erreichen. Admetos laut: Willkommen, Herakles, Freund aller Menschen! Wohltäter aller Menschen! Herakles auf ihn zugehend: Admetos! Alter Freund! Admetos legt Herakles die Hände auf die Schultern. Sie blicken einander in die Augen. Admetos: Woher kommst du, Herakles? Herakles: Von der Arbeit, Admetos ... von der Arbeit.
Aglaia: König Admetos, das Bad für Herakles ist bereit. Laß ihn erst baden, bevor ihr ins Plaudern kommt. Zum Himmel aufblickend: Es wird bald Abend sein. Admetos: Nein, erst wollen wir miteinander einen Becher trinken. Komm, setz dich, Herakles! Eine kurze Zeit war ich krank, und hier, auf diesem lächerlichen weibischen Ruhebett hab’ ich immer in der Sonne gelegen. Sie setzen sich. Jetzt erzähl mir – was war die letzte deiner Taten? Aglaia ist in den Gesindeflügel abgegangen. Herakles mit gedämpfter Stimme und weit aufgerissenen Augen: Admetos – denk dir, Admetos – ich hab’ die Hydra erschlagen. Admetos aufstehend, mit scheuem Staunen: Die Hydra erschlagen! Beherzter Herakles – bei den unsterblichen Göttern, du bist wahrhaftig der Freund der Menschheit. Die Hydra erschlagen! Die Hydra! Herakles winkt Admetos, er solle sich für eine vertrauliche Mitteilung nahe zu ihm beugen: Admetos – ich kann dir sagen – es war nicht leicht! Admetos: Das glaub’ ich dir gern. Herakles fast bitter und ihm ins Gesicht blickend: Es war gar nicht leicht. Mit jähem Wechsel zu dringlichem Ernst: Admetos, bin ich der Sohn des Zeus? Admetos: Herakles! Jeder Mensch weiß, daß du der Sohn des Zeus und der Alkmene bist.
Herakles: Nur eine kann mir das sagen. Um Alkestis das zu fragen, bin ich hergekommen. Wo ist Alkestis, die Krone aller Frauen? Admetos: Aber Aglaia hat es dir doch gesagt. Herakles: Ach ja – wer ist denn dieses Waisenmädchen, das gestorben ist? War sie eine der obersten vom Gesinde? Admetos: Sie nannte sich die Magd der Mägde. Herakles: Und ihr habt sie alle liebgehabt? Admetos: Ja, alle haben wir sie liebgehabt. Herakles: Siehst du, Admetos, jeder Mensch sagt, ich sei der Sohn des Zeus, und darum müßten mir meine Taten leichter fallen, als sie andern Männern fallen würden. Wenn ich mein Blut und mein Herz und meine Lunge von Ihm – himmelwärts weisend – hätte, würden sie mir dann nicht leicht fallen? Aber sie fallen mir nicht leicht, Admetos, sie fallen mir gar nicht leicht. Die Hydra! Er bewegt die Arme, als ahme er Schlangen nach, und macht ein von Grauen verzerrtes Gesicht. Ich war schon fast am Bersten. Das Blut ist mir aus den Ohren gequollen wie ein Springbrunnen. – Wenn ich also bloß ein Mensch bin – der Sohn des Amphitryon und der Alkmene – dann, Admetos – er späht Admetos gespannt und eindringlich ins Gesicht – dann bin ich doch ein sehr tüchtiger Mensch, nicht?
Admetos: Ob Halbgott oder Mensch, Herakles – ob Halbgott oder Mensch – alle Menschen ehren dich und sind dir dankbar. Herakles: Aber ich will es w i s s e n! An manchen Tagen fühl’ ich, daß ich der Sohn des Zeus bin. An andern wieder ... da bin ich ein wildes Tier, Admetos. Jeden Monat kommen Boten aus ganz Griechenland und bitten mich, dahin oder dorthin zu gehn und dies oder jenes zu tun. Aber ich will nichts mehr tun. Ich will keine einzige Tat mehr vollbringen, bevor diese Frage nicht entschieden ist. Eines schönen Tags ... ja, ich seh’ es schon voraus – da wird jemand kommen und mich bitten ... in die Unterwelt hinabzusteigen ... ins Totenreich, Admetos, um jemand zurückzuholen, der gestorben ist. Aufstehend, in entsetzter Abwehr: Nein, nein, das will ich denn doch nicht tun! Ob ich ein Halbgott bin oder ein Mensch, n i e m a n d soll das von mir verlangen! Admetos aufrichtig entsetzt: Nein, Herakles – das hat noch niemand getan oder auch nur daran gedacht, es zu tun. Herakles: So oft ich herkomme, muß ich dorthin sehen – auf diesen Eingang zur Unterwelt ... und Furcht packt mich, Admetos – große Furcht. Admetos: Du darfst gar nicht an so etwas denken!
Herakles: Nicht einmal ein Sohn des Zeus könnte so etwas vollbringen, nicht wahr? Also – also – verstehst du jetzt meine Frage? Ist’s nicht eine wichtige Frage? Und wer kann sie beantworten? Wer versteht sich grade auf diese Dinge, in denen du und ich so unwissend sind? Du weißt, wer. Sie, die nie spricht oder so wenig spricht. Die Schweigsame. Sie ist doch schweigsam, nicht wahr? Admetos: Ja, sie ist schweigsam. Herakles: Aber zu mir wird sie sprechen ... zu ihrem alten Freund Herakles. Mir zuliebe wird sie sprechen, nicht wahr? Er schenkt sich noch Wein ein. Weißt du, Admetos – weißt du auch, was du an deiner Alkestis hast? Admetos, schmerzlich betroffen, erhebt sich und setzt sich dann wieder. Nein, das weißt du nicht. Ich wandre von Ort zu Ort, von Königshof zu Königshof. Ich hab’ sie alle gesehn – die Königinnen und Prinzessinnen Griechenlands. Die Töchter der Männer, die wir kannten, und die Mädchen, die wir umwarben, wachsen heran, Ödipus von Theben hat eine Tochter, Antigone. Und Penelope – die hat soeben den Sohn des Laertes von Ithaka geheiratet. Und Leda von Sparta hat zwei Töchter, Helena und Klytämnestra. Ich hab’ sie alle gesehn. Ich hab’ mit jeder von ihnen
gesprochen. Was sind sie alle neben Alkestis? Tand! Kehricht! Aglaia kommt mit einer Girlande von Weinblättern aus dem Palast. Der Nachtwächter folgt ihr mit einem Krug Öl. Sie bleiben zuhörend stehn. Herakles steht auf, und mit der an Gewalttätigkeit grenzenden Energie eines Betrunkenen wendet er Admetos/ der auch aufgestanden ist, zu sich herum und schreit: Weißt du’s? Weißt du’s wirklich? Admetos in großer Seelenqual die Arme hebend: Ich weiß es, Herakles. Herakles: Weißt du auch alles? – Weißt du, welche Kraft sie besitzt, zu vergeben, zu verzeihen? Nein, du weißt gar nichts. Alkestis ist die Krone Griechenlands, die Krone aller Frauen! Admetos drei Schritte zurückweichend: Herakles! – Alkestis ist tot. Pause. Die Magd der Mägde. Verzeih uns, Herakles! Herakles schweigt; ein großer Zorn steigt in ihm hoch. Dann, mit ungezügelter Erbitterung: Admetos ... du bist nicht mein Freund. Bei den unsterblichen Göttern, du bist mein schlimmster Feind! Er packt ihn an der Gurgel und zerrt rückwärtsschreitend den keinen Widerstand Leistenden mit sich. Wenn du nicht Admetos wärst, ich würde dich jetzt töten.
Aglaia gleichzeitig mit dem Nachtwächter: Herakles, Herakles! Königin Alkestis wollte es so. Sie wollte, daß wir es dir erst später sagen. Herakles: Du hast mich nicht wie einen Freund behandelt. Und ich dachte, ich sei dir wie ein Bruder. Aglaia mit den Fäusten auf seinen Rücken losschlagend: Herakles! Herakles! Herakles: Alkestis ist tot – und ich war dir nicht so viel wert, daß du es mir gesagt hättest! Da läßt du mich drauflosreden und prahlen und trinken und lustigsein ... Aglaia: Sie wollte es so, Herakles. Die Königin hatte es so befohlen. Herakles düster sinnend, während er Admetos den Oberkörper weit zurückbiegt und ihn so vor sich festhält: Du glaubst, ich hab’ keinen Verstand, kein Herz, keine Seele? – Was liegt mir an Dank und Lob der Welt, wenn ich nicht für würdig genug gehalten werde, den Kummer meiner Freunde mit ihnen zu teilen? Schweigen. Aglaia: Es geschah aus Gastfreundschaft, Herakles – es war i h r Wunsch. Herakles: Gastfreundschaft ist für Gäste, nicht für Brüder. Admetos ruhig: Verzeih uns, Herakles! Herakles von Admetos ablassend: Alkestis ist tot. Alkestis ist in der Unterwelt, im Schattenreich. Es fällt ihm plötzlich etwas ein,
und er ruft laut: In der Unterwelt! Meine Keule! Wo ist meine Keule? Ich will hinunter und Alkestis zurückholen. Aglaia: Herakles! Admetos: Nein, Herakles. Lebe! Sie starb an meiner Statt. Sie starb für mich. Es ist nicht recht, daß noch eins sterben sollte. Herakles: Meine Keule! Meine ... Admetos, ich will dir nun etwas sagen – etwas, wovon niemand weiß. Jetzt kann es die ganze Welt erfahren. Er ist bis zum Beginn des Pfads, der zur Höhle hinabführt, nach vorn gekommen. Ich bin einmal Alkestis mit Gewalt nahegetreten. Mit tierischer Gewalt. Ja, ich, Herakles, der Sohn des Zeus, hab’ das getan. Ein Gott – irgendein Gott – griff noch rechtzeitig ein, um sie zu bewahren – und um mich zu bewahren. Alkestis hat mir verziehen. Wie ist das möglich? Wie soll ein Mensch das verstehn? Sie hat zu niemand auf der Welt davon gesprochen. Und wenn ich hierher nach Pherai kam, war ihrem Gesicht nichts anzumerken, und in ihren Augen stand kein Zeichen, daß ich ein Verbrecher war. Nur ein Gott kann das verstehn ... Nichts als dieses liebevolle Lächeln. Verzeihung liegt nicht in unsrer Macht – in der Macht gewöhnlicher Menschen. Nur die Starken und Reinen können verzeihen. Ich wollte nie, daß sie jenen bösen Augenblick vergesse, nie – weil darin, daß sie sich
seiner erinnerte, meine Glückseligkeit lag; denn bei ihr waren Erinnern und Verzeihen eins. Admetos: Herakles, ich komme mit dir. Herakles: Nein, bleib und herrsche, Admetos! Deine Taten kann ich nicht tun, und du nicht die meinen. Welchen Gott soll ich anrufen? Nicht meinen Vater – meinen Vater und Nichtvater. Welches ist der Gott, den ihr hier vor allen verehrt? Aglaia: Hast du’s vergessen, Herakles? Dies ist das Land Apollos. Herakles: Ja, jetzt erinnere ich mich. Ich hab’ wenig zu tun gehabt mit ihm, aber ... zum Himmel aufblickend: Apollo, ich bin Herakles, den man den Sohn des Zeus und der Alkmene nennt. In ganz Griechenland erzählt man sich, wie sehr du Admetos und Alkestis liebst. Du weißt, was ich vorhabe. Du weißt, daß ich es nicht allein tun kann. Flöße meinen Armen so viel Kraft ein, wie nie zuvor in ihnen gewesen ist. Du vollbringe es – oder sagen wir, du und ich, wir wollen es miteinander tun. Und wenn wir es können, laß jedermann sehen, daß uns eine neue Erkenntnis zuteil wurde: was Götter und Menschen vereint zu tun vermögen. Admetos: Warte, warte noch, Herakles! Er geht den Pfad hinunter. Pytho! Pytho! Dies ist Herakles, unser aller lieber Freund. Laß
ihn vorbei, Pytho – auf dem Hinweg und auf dem Rückweg. Er kommt wieder herauf. Herakles: Geh in deinen Palast, Admetos! – Geht, ihr alle! Ich muß meine Taten vollbringen, wie ich leben muß – allein. Er geht den Pfad hinunter. Es ist dunkel geworden. Die auf der Bühne Anwesenden ziehen sich zurück, bis auf Admetos, der an der Palasttür stehnbleibt und das Gesicht mit dem Mantel bedeckt. Herakles ist durch die Höhle in die Unterwelt verschwunden. Ein dumpfer Paukenwirbel wie ferner Donner wird immer lauter, bis zu einem starken Schlag, auf den die obere Quart folgt. Alsbald kommt Herakles zurück und führt Alkestis an der Hand. Über ihrem weißen Kleid und über den Kopf trägt sie einen dunklen Schleier, der mehrere Schritte weit nachschleift. Sobald die beiden die Bühne erreichen, läßt Herakles ihre Hand los; sie taumelt wie schlaftrunken und macht tastende Schritte. Herakles schultert seine Keule und geht durchs Hoftor ab und seinen einsamen Weg. Admetos, seinen Mantel vor sich haltend wie gegen ein starkes Licht, nähert sich Alkestis und hüllt sie in den Mantel. Sie lehnt den Kopf an seine Brust, und er führt sie in den Palast.
DRITTER AKT Zwölf Jahre später. Abermals der erste Schimmer der Morgenröte. Von links tritt Alkestis auf – sehr gealtert, heruntergekommen, in Lumpen. Sie trägt einen Wasserkrug, geht zur Quelle hinunter, um ihn zu füllen. Pytho regt sich nicht. Ein Nachtwächter, jünger als der im 1. und 2. Akt, tritt von hinten um die Palastecke auf und kommt nach vorn. Auch er trägt eine brennende Laterne oder Öllampe und eine Klapper. Sein Gesicht ist mit Asche bestrichen. Nachtwächter: Es tagt, es tagt, und alles steht gut im Palast des Agis, des Königs von Thessalien, des rossereichen ... Auf der Straße vor dem Hoftor beginnt eine Volksmenge zu lärmen. Stadtvolk außerhalb des Hoftors: König Agis, hilf uns! Rette uns! ... König Agis muß uns helfen ... Wir wollen mit König Agis sprechen ... König Agis ... Bei Aufführungen, in denen Apollo nicht auf dem Dach erscheint, tritt Apollo hier aus der Palasttür und steht dann seitlich von ihr, zuhörend und die Vorgänge beobachtend. Nachtwächter öffnet das Hoftor einen Spalt breit und spricht hindurch: Ihr kennt den Befehl: Jeder, der den Fuß in den Hof setzt, soll getötet werden.
Stadtvolk hereindrängend und den Nachtwächter überrennend: Mag er uns töten! Wir sterben sowieso schon. Der König muß etwas für uns tun! Nachtwächter über die Schulter auf den Palast zurückblickend, angstvoll: Der König tut, was er kann. Pestilenzen und Seuchen kommen von den Göttern, sagt er, und nur die Götter können ihnen ein Ende setzen. Begrabt eure Toten, sagt er, begrabt einen jeden sogleich, sobald er tot zusammenbricht. Und bestreicht euch das Gesicht mit Asche. Auf diese Weise kann die Seuche euch nicht sehen, sagt er, und wird an euch vorübergehn. Stadtvolk: Das haben wir alles längst gehört. Wir wollen mit Königin Alkestis sprechen. Königin Alkestis! S i e kann uns helfen. Königin Alkestis! Nachtwächter entrüstet: Was soll das heißen? – Königin Alkestis? Hier gibt’s keine Königin Alkestis. Sie ist eine Sklavin, die niedrigste der Sklavinnen! Alkestis ist, den Krug auf der Schulter, den Pfad heraufgekommen. Sie bleibt stehn und horcht. Der Nachtwächter erblickt sie. Dort ist sie! Heftig: Seht sie an! Sie ist schuld an der Seuche. Sie i s t die Seuche. Sie hat dieses Unheil über Thessalien gebracht. Stadtvolk nach einem entsetzten Schweigen in widersprechende Rufe ausbrechend:
Nein, nein! Gewiß nicht – nicht Königin Alkestis! – Was hat er gesagt? Was soll sie getan haben? Alkestis langsam den Kopf von einer Seite zur andern wendend, wahrend sie in ihre Gesichter blickt; in kaum fragendem Ton: Ich ... die Seuche gebracht? Ich habe die Seuche gebracht? Nachtwächter: Sie war schon tot und Herakles hat sie aus dem Totenreich zurückgeholt, nicht wahr? Und sie hat den Tod mit sich gebracht. Alle ihre Angehörigen sind tot. Ihr Mann getötet. Zwei ihrer Kinder getötet. Der eine ihrer Söhne ist zwar entkommen – aber wer hat je wieder von ihm gehört? Der König will sie töten lassen oder aus dem Land jagen. Alkestis: Nein, nicht ich habe dieses Unheil über Thessalien gebracht. Führt mich vor die Richter! Wenn ich es bin, die Thessalien in dieses Unheil gestürzt hat, sollen sie mir das Leben nehmen und so euch und eure Kinder von der Seuche befreien! Alkestis geht nach links, in den Gesindeflügel, ab. Bei Aufführungen, in denen Apollo nicht schon seitlich der Palasttür steht, erscheint er jetzt auf dem Dach. Stadtvolk: Nein, sie kann nichts Böses über Thessalien gebracht haben! Sie ist Alkestis, die weise Alkestis! Nachtwächter gleichzeitig mit widerspre-
chenden Rufen aus der Menge: Geht heim! Hier werdet ihr alle umkommen. Zu den Vordersten: Was versteht denn ihr davon, ihr unwissenden Tölpel? Weg von hier, ihr alle! Ich hab’ euch gewarnt. Ihr wißt, was für ein Mann der König ist. Das Stadtvolk murmelnd und murrend durch das Hoftor ab, das nur angelehnt bleibt. Der Nachtwächter, der sich dem Volk nicht in die Nähe traute, geht, seine Klapper schüttelnd, links ab. Im Abgehn: Es tagt... es tagt ... und alles steht gut im Palast des Agis, des Königs von Thessalien, des rossereichen ... Der Tod kommt aus seiner Höhle hervor, krabbelt den Pfad hinauf und schnüffelt an den Türen. Apollo: Tod! Der Tod der ihn noch nicht gesehen hat, überrascht: Ah, du bist wieder hier! Apollo: Es wird Licht. Du schauderst. Der Tod: Ja. Ja, aber ich muß dich etwas fragen. Erlauchter Apollo, ich kann nicht verstehn, was du mit alledem meinst. So viele Tote! Dort unten, wo ich wohne, ist ein solches Gedränge und Getrampel und Schlangestehn! Und noch nie hab’ ich so viele Kinder gesehen. Ich weiß nicht, was du damit meinst. Du bist doch der heilende Gott – der lichtbringende und lebenspendende.
Und du sendest nun Seuche und Pestilenz. Du liebtest doch Admetos und die Seinen und sein Volk? Apollo mit einem Lächeln: Ich liebte Alkestis – und ich tötete sie. Der Tod: Es ist schmählich, was du getan hast! Apollo: Hast du die Mauer geflickt – die Mauer, die Herakles durchbrochen hat? Der Tod: Herakles? D u hast sie durchbrochen! Du hast das uralte Gesetz und die Weltordnung durchbrochen: daß die Lebenden die Lebenden sind, und die Toten die Toten. Apollo: Ja. – Ein erster dünner Strahl fiel dorthin, wohin nie zuvor ein Licht drang. Der Tod: Du hast dieses Gesetz gebrochen, und jetzt hast du dich in den Folgen verstrickt. Du verlierst deine Glückseligkeit und sogar deinen Verstand, weil du dich diesen Geschöpfen nicht kundgeben kannst. Und du benimmst dich wie ein abgewiesener Liebhaber, der ins Haus seiner Geliebten stürzt und dort alle umbringt. Apollo: Ich h a b e mich ihnen kundgegeben. Ich habe meine Geschichte beginnen lassen. Der Tod: Deine Lehre! Apollo: Ja, meine Lehre – daß ich nur diejenigen von den Toten zurückholen kann, die ihr Leben für andre hingegeben haben. Der Tod: Du hast e i n e n Menschen zurück-
geholt. Und jetzt schleuderst du tausende hinab in mein Reich. Apollo: Ja, ich muß Vernichtung und Verheerung bringen, denn nur so werden sich die Menschen meiner Geschichte erinnern. In allen Geschichten, die ihnen im Gedächtnis bleiben, spielt der Tod eine große Rolle. Der Tod schaudernd: Dieses Licht! Dieses Licht! – Auf alle diese von der Seuche Befallenen bin ich nicht begierig. Nur einen einzigen Menschen gibt’s, auf den ich warte ... sie, die mir einmal entschlüpft ist. Apollo: Alkestis? Die wirst du nie bekommen. Der Tod: Sie ist sterblich! Apollo: Ja. Der Tod: Sie ist s t e r b l i c h! Apollo: Ganz und gar sterblich. Nichts als eine Sterbliche. Der Tod: Was hast du vor? Du kannst sie mir nicht ein zweites Mal rauben. Apollo: Tod, die Sonne ist aufgegangen. Du schauderst. Der Tod: Ja, aber antworte mir! Ich habe Eile. Apollo: Du wirst dich an eine Veränderung gewöhnen müssen. Der Tod: Ich? Apollo: E i n Lichtstrahl ist schon in dein Reich gedrungen. Der Tod während seiner überstürzten Flucht
in die Höhle, schreiend: Aber jetzt keiner mehr! Kein zweiter! Kein Licht, keins mehr! Keine Veränderung! Der Tod ab. Das Licht um Apollo erlischt, und er verschwindet – oder er geht durch die Palasttür ab. Von der Straße her, durch das nur angelehnt gebliebene Hoftor, das sie hinter sich schließen, kommen Epimenes, einundzwanzig Jahre alt, und der gleichaltrige Cheriander geschlichen. Sie halten ihre Mäntel bis vor die Nase hochgezogen. Unter dem Mantel trägt jeder ein kurzes Schwert. Cheriander kommt eifrig nach vorn und blickt mit ehrfurchtsvoller Scheu um sich. Epimenes folgt ihm, mißmutig und erbittert. Cheriander: Der Palast des Admetos und der Alkestis! ... Hier also ist Apollo gewesen? Wohin hat er den Fuß gesetzt? ... Hierher – oder hierher? Epimenes nickt, hebt dabei aber kaum die Augen vom Boden. Und Herakles hat deine Mutter von den Toten zurückgeholt? ... Wo? Epimenes weist auf die Höhle. Cheriander geht zu ihr hinunter. Epimenes folgt ihm langsam. Cheriander bleibt auf halbem Weg stehn: Daß ich es erleben darf, diesen Ort zu erbli-
cken! Schau, Epimenes, dort liegt deine alte Freundin Pytho und bewacht den Eingang. Sprich zu ihr, damit wir aus der Quelle trinken können. D i e s e s Wasser wenigstens wird nicht verseucht sein. Epimenes: Erinnerst du dich an mich, Pytho? Sie regt sich kaum. Cheriander: Sag den Opferspruch, und dann wollen wir trinken. Epimenes schöpft Wasser. Epimenes: »Ihr Quellendes Lebens – Erde, Luft ...« Nein, Cheriander, ich kann nicht. Wie kann ich das Gebet sprechen, das wir hier so viele hundert Male gesprochen haben? Jeden Morgen führten mein Vater und meine Mutter uns Kinder hierher. Wie hat das alles geschehen können? Der Gott hat sein Angesicht abgewendet. Mein Vater getötet. Mein Bruder und meine Schwester getötet. Ich selbst bei Nacht weggeschickt, um unter Fremden zu leben. Meine Mutter eine Sklavin – oder tot. Das Land von einer Seuche heimgesucht, und die Toten unbegraben in der Sonne! Zu wem soll ich da beten? Cheriander ruhig entschlossen: Wir werden Pherai verlassen. Du bist nicht bereit, zu tun, was zu tun wir gekommen sind. Darum werde ich dir nicht helfen. Epimenes: Was ich zu tun habe, kann ich ohne Gebet oder Opfergabe tun. Gerechtigkeit
und Rache sprechen für sich selbst. Ein Schwertstoß! Ein Schwertstoß in seine Kehle! Und seine Tochter Laodamia, auch sie werd’ ich mit meinem Schwert – Cheriander: Epimenes, ich werde dir nicht helfen. So haben wir das nicht geplant. Töte oder werde getötet – wie du willst. Ich bin nicht mit dir durch ganz Griechenland hergekommen, um mich an einer bloßen Schlächterei zu beteiligen. Epimenes: Du willst, ich soll beten? Zu wem? Zu Apollo, der dieses Haus mit seinem Haß versehrt hat? Cheriander legt Epimenes die Hände auf die Schultern und schüttelt ihn; ernstlich erzürnt: Bist du der e r s t e Mensch, der gelitten hat? Grausamkeit, Unrecht, Mord und Erniedrigung – ist das alles nur hier zu finden? Hast du vergessen, daß wir herkamen, um Gerechtigkeit zu üben? Hast du nicht selber gesagt, daß die Menschen nie von allein zur Idee der Gerechtigkeit gelangt wären? – Sondern daß sie ihnen von den Göttern eingepflanzt wurde? Sie sehen einander eindringlich in die Augen. Epimenes leise, zu Boden blickend: Ich verdiene es nicht, einen solchen Freund zu haben. Alkestis tritt von links auf, den Wasserkrug in der Hand. Cheriander: Bist du jetzt bereit, das Trankopfer darzubringen?
Epimenes sagt feierlich aber unhörbar den Spruch her. Sie trinken beide. Cheriander beginnt dann, den Pfad hinaufzugehn, und sagt lebhaft: Ich werde an die Palasttür klopfen. Er erblickt Alkestis, wendet sich zurück und sagt zu Epimenes: Dort kommt eine alte Frau. Wir wollen sehn, was wir von ihr erfahren können. Alkestis will den Pfad hinuntergehn, aber als sie die beiden erblickt, weicht sie zurück. Cheriander geht auf sie zu. Alte, ist dies der Palast des Agis, des Königs von Thessalien? Ihre Augen wandern sogleich besorgt von den beiden zum Hoftor. Cheriander geht zu Epimenes zurück: Sie scheint eine Sklavin zu sein. Vielleicht ist sie deine Mutter? Epimenes geht schnell den Pfad hinauf, sieht Alkestis aufmerksam an und sagt dann schroff: Nein! Cheriander: Bist du sicher? Epimenes kurz: Ganz sicher. Cheriander: Sag mir, Alte, hat diese Seuche auch im Palast Tote gefordert? Alkestis schüttelt verneinend den Kopf. König Agis wohnt hier, mit seiner Familie, nicht wahr? – Mit seiner jungen Tochter Laodamia? Alkestis nickt.
Sag mir ... die Leibwache, mit der er sich umgibt, hat er die aus Thrakien mitgebracht, oder sind es Leute aus diesem Land hier? Keine Antwort. Epimenes: Vielleicht ist sie taub oder stumm. Lauter: Reist er oft in seine Heimat, nach Thrakien? Alkestis: Ihr seid hier in Gefahr. Ihr müßt weg von hier. Ihr müßt sogleich gehn. Epimenes: Oh, sie kann sprechen! Dann sag mir, Alte, warst du schon hier zur Zeit König Admets und der Königin Alkestis? Alkestis: Wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Epimenes: Hast du sie beide gekannt? Hast du mit ihnen gesprochen? Alkestis nickt bejahend. Und König Admetos ist tot? Sie nickt. Aber Königin Alkestis lebt? Kein Zeichen. Hier im Palast? Alkestis wendet die Augen wieder dem Hoftor zu, aber schweigt. Bei den unsterblichen Göttern, da du sprechen kannst, sprich! Alkestis: Ihr müßt sogleich weg von hier. Aber sag mir ... sag mir ... wer bist du? Cheriander Alkestis anblickend, aber Epimenes dringlich auf den Unterarm klopfend: Sieh sie dir nochmals an! Genau! Bist du überzeugt?
Epimenes: Ganz überzeugt! – Diese Gebirglerinnen sehen eine wie die andre aus. Sie sind alle so wortkarg, so verschlagen. Alkestis: Wie seid ihr hier hereingekommen? König Agis wird euch töten lassen ... Cheriander: Nein – wir bringen König Agis eine Botschaft, und er wird sich freuen, sie zu hören. Alkestis mehrmals den Kopf schüttelnd: Es gibt keine Botschaft, die euch beiden jetzt das Leben retten könnte, junger Mann. Geht! – Geht schleunigst! Die Straße nach Norden. Epimenes: Die Botschaft, die wir bringen, wird uns sehr willkommen machen. Wir sind hergeeilt, um König Agis zu melden, daß sein schlimmster Feind, daß Epimenes, der Sohn des Admetos und der Alkestis, tot ist. Alkestis läßt den Krug sinken und greift sich ans Herz. Cheriander schnell zu ihr tretend: Laß mich dir den Krug tragen, Mutter! Er nimmt ihr den Krug ab. Alkestis jäh: Du bist Epimenes! Cheriander mit einem kurzen Auflachen: Aber nein. Epimenes ist tot. Alkestis: Hast du Beweise dafür? Cheriander: Ja, ich habe Beweise. Alkestis: Wir glaubten immer, er wird zurückkehren ... heimlich ... oder verkleidet. Meine Augen werden schwach. Hoffnungs-
voll erregt: Du b i s t Epimenes! Cheriander: Nein, Mutter, nein! Alkestis: Du hast ihn gekannt – hast mit ihm gesprochen? Cheriander: Ja, viele Male. Wohin soll ich dir den Krug tragen? Alkestis erst Epimenes ins Gesicht spähend: Laß mich dich ansehn! Dann beide anblickend: Belügt eine alte Frau nicht! Er hat keine Botschaft gesandt? Epimenes: Keine. Alkestis: Keine? Epimenes: Nein, nur dies hier. Siehst du diesen Gürtel? Alkestis hat ihn für Admetos gewoben, bevor Epimenes geboren wurde. Alkestis besieht den Gürtel und stößt einen Schrei aus: Wie sah er aus, der junge Mann, der euch diesen Gürtel gegeben hat? Epimenes seine Ungeduld beherrschend, wie zu einer Schwerhörigen: Alte, ist Königin Alkestis in der Nähe? Antworte! Ja oder nein? Das ist unerträglich! Kannst du Königin Alkestis herrufen oder kannst du’s nicht? Alkestis: I c h bin Alkestis. Cheriander nach wortlosem Staunen auf ein Knie sinkend und in ihr Gesicht blickend: Du ... du ... bist ... Alkestis? Epimenes wie erstarrt dastehend, eine Faust vor der Stirn: Ich schäme mich, meinen Namen zu nennen. Auch er sinkt auf ein-
Knie: Ich bin Epimenes. Alkestis: Ja – ja. Ihre Augen wandern zwischen dem Palast und dem Hoftor hin und her. Aber in solcher Gefahr ... solcher Gefahr ... Epimenes: Verzeih ... verzeih mir! Alkestis ihm über den Kopf streichend: Du bist ein ungeduldiger, eigenwilliger junger Mann, wie ich ein ungeduldiges, eigenwilliges Mädchen war. Es ist Zeit, du würdest deinem Vater ähnlicher. Epimenes: Du Unglückliche – Alkestis fast scharf: Nein. Nein, Epimenes, nenne mich nicht unglücklich! Epimenes: In solchem Elend ... Alkestis: Nein! Lerne, Unglücklichsein zu erkennen, wenn du es s i e h s t. Es gibt nur ein Elend, und das ist Unwissenheit ... Cheriander aufstehend,gespannt: Unwissenheit? Alkestis: Nicht zu wissen, welchen Sinn unser Leben hat. D a s ist Elend und Verzweiflung. Mir ist einst große Glückseligkeit zuteil geworden. Soll ich das jetzt vergessen? Und ihn vergessen, der sie mir gab? Alles, was seither geschah, kam aus derselben Hand, ist Teil eines Ganzen, das ich bloß nicht zu sehen vermag. – Ihr müßt jetzt gehn – ihr beide! Epimenes aufstehend: Wir sind gekommen, um König Agis zu töten, um die Herrschaft
wiederzugewinnen. Alkestis schüttelt langsam den Kopf und murmelt: Nein. Nein. Epimenes: Wir haben es alles bis ins einzelne ge-’ plant. Noch heute nacht ... Alkestis: Nein. Nein, Epimenes! Die Seuche, diese Pestilenz, ist an Stelle von alledem gekommen. König Agis hat nur e i n e n Gedanken, nur e i n e Angst – nicht um sich selbst, sondern um seine Tochter, um Laodamia. Der Gott läßt alles auf s e i n e Weise geschehn. Cheriander: Tun wir, wie sie sagt, und gehn wir jetzt. Alkestis: Später kommt dann zurück ... In zehn Tagen. Geht nach dem Norden! Haltet den Mantel vors Gesicht und geht nordwärts! Cheriander: Hol deinen Mantel, Epimenes! Epimenes geht zur Quelle hinab. Alkestis: Wo bist du daheim, junger Mann? Cheriander: In Euböa – am Fuß des Bergs Dyrphis. Alkestis: Lebt deine Mutter noch? Cheriander: Ja, Königin Alkestis! Alkestis: Kennt sie meinen Namen? Cheriander: Jedes Kind in Griechenland kennt deinen Namen! Alkestis: Sag ihr ... Alkestis ist ihr dankbar. Epimenes ist heraufgekommen und steht neben ihr; sie berührt ihn leicht und sagt zu ihm:
Merk dir – ich bin nicht unglücklich. Ich war einmal elend und verzweifelt. Daraus bin ich errettet worden. Sie nimmt den Krug von Cheriander zurück; mit der andern Hand weisend: Geht durch den Hain dort ... und dann folgt dem Fluß! Lärm sich nähernden Stadtvolks. Das Hoftor wird gewaltsam aufgesprengt. Einige dringen schreiend bis an die Rampe vor. Der Nachtwächter und einige Leibgardisten kommen bestürzt herbeigeeilt. Alkestis winkt Epimenes und Cheriander, sie sollen zur Quelle hinunter und sich dort verbergen. Sie tun es. Die Leibgardisten drängen das Volk zurück, indem sie ihre Speere waagrecht vor sich halten. Stadtvolk: Wasser! Wir wollen Wasser aus der Quelle hier im Palast! Das Wasser in der Stadt ist vergiftet worden. König Agis! Hilf uns! Leibgardisten: Zurück! Zurück! Hinaus mit euch! Aus dem Palast tritt König Agis auf. Er ist in ein barbarisches, reichverziertes Gewand gekleidet. Er ist vierzig, mit einer dichten Haube schwarzen Haars über einer niedrigen Stirn. Sein Gesicht zeigt Schmierstreifen von Asche. Agis: Wie sind diese Leute in den Hof hereingekommen? Stadtvolk: Hilfe, König Agis! Agis: Dieses ewige »Hilf uns!«. Ich tue, was
ich kann. Wer hat diese Leute eingelassen? Leibgardisten durcheinander: König – Herr – Sie haben das Tor aufgebrochen. Wir konnten sie nicht zurückhalten. Agis: Feiglinge! Tut eure Pflicht! Ihr fürchtet euch, ihnen in die Nähe zu gehn, das ist’s. Zu dem Stadtvolk: Zurück, zurück mit euch! Agis zu einem Leibgardisten: Was schreien sie da von Wasser? 1. Leibgardist: Sie sagen, Herr, sie glauben, die Brunnen in der Stadt sind vergiftet worden, und sie wollen Wasser aus der Quelle im Palast. Agis: Gut – ihr sollt Wasser haben aus dieser Quelle. Er hält sich einen Zipfel seines Mantels vor die Nase und wendet sich gegen den ihm zunächst stehenden Städter, dann an Alle: Zurück mit dir! – Volk von Pherai! Hört, was ich euch zu sagen habe. Ich dachte, ich hätte alles getan, was ein König tun kann. Doch nun finde ich, daß noch eins zu tun bleibt. Wo ist diese Alkestis? Nachtwächter: Sie ist hier, Herr. Agis wendet sich Alkestis zu, sieht sie lange mit Verachtung an und sagt gedehnt: Du ... du ... bist die Bringerin all dieses Unheils! – Dies ist ein großer Tag, Volk von Pherai, denn endlich sind wir dem Unheil auf den Grund gekommen. Wenn es sich zeigt, daß
wirklich diese hier die Seuche über uns gebracht hat, soll sie gesteinigt werden oder auf immer verbannt. Zu Alkestis: Ist es wahr, daß du tot warst? – Tot und begraben? – Und daß du ins Leben zurückgeholt worden bist? Alkestis: Es ist wahr. Agis: Und daß du und dein Mann glaubten, das sei von Herakles vollbracht worden und mit Apollos Hilfe – als ein Zeichen seiner Gunst? Alkestis: Wir glaubten es, und es ist wahr. Agis: Und ist es auch wahr, daß du und dein Mann glaubten, Apollo sei ein ganzes Jahr hier bei euch gewesen, aus Liebe und Wohlwollen für euch und Thessalien? Alkestis: Wir glaubten es, und es ist wahr. Agis: Und wo ist diese Liebe jetzt? – Volk von Pherai, dies ist Apollos Land. Wenn Apollo früher einmal dieser Frau und ihrer Familie Wohlwollen bezeigte, ist euch da nicht klar, daß seine Liebe sich in Haß verkehrt haben muß? Das Stadtvolk schweigt. Ja oder nein? Widersprechendes Gemurmel. Was? Ihr seid nicht alle meiner Meinung, ihr Schwachköpfe? Habt ihr vergessen, daß diese Seuche unter euch wütet? – Wächter! Nachtwächter: Ja, Herr? Agis: Bevor die Palasttore verschlossen wurden, hast du da die Wirkung der Seuche gesehen und, wie sie einen befällt?
Nachtwächter: Ja, Herr, das hab’ ich gesehen. Agis: Beschreib es! Nachtwächter: Herr, es ist nicht nur eine, es sind dreierlei Seuchen. Die erste kommt ganz plötzlich – wie – Ein Leibgardist ist aus dem Palast gekommen und tritt zu einer Meldung vor den König. Agis gereizt: Na, was gibt’s, was gibt’s? 2. Leibgardist: Herr, deine Tochter schlägt an ihre Tür. Sie sagt, sie will herausgelassen werden. Sie sagt, sie will dort sein, wo du bist. Ununterbrochen schlägt sie an die Tür ihrer Kammer. Agis mit einer Spur seiner zärtlichen Liebe für sie, dringlich: Sag ihr, ich werde bald wieder bei ihr sein. Sag ihr, daß ich beschäftigt bin; sie soll Geduld haben, ich komme bald zu ihr. 2. Leibgardist: Ja, Herr. Er geht auf die Palasttür zu. Agis: Warte! Von seinen Gefühlen hin und her gerissen: Sag ihr, sie soll Geduld haben. Ich werde sie später zu einem Gang durch den Garten aus ihrer Kammer holen. 2. Leibgardist: Ja, Herr. Ab. Agis zu dem Nachtwächter: Dreierlei? Dreierlei Seuchen, sagst du? Nachtwächter: Die erste fällt einen plötzlich an, Herr, wie der Blitz.
Agis mit einem Schaudern, sich Alkestis zuwendend: D e i n Werk, du ... Nachtwächter die Hände auf seinen Bauch haltend: Sie brennt wie Feuer. Das ist die, die junge Leute und Kinder befällt. Agis außer sich: Kinder befällt! – Tölpel! Weißt du nichts Gescheiteres, als Worte von böser Vorbedeutung hier auszusprechen? Ich lasse dir die Zunge ausreißen. – Wendet es ab, ihr unsterblichen Götter, das böse, unheilbedeutende Wort! Hört es nicht! Zum Nachtwächter: Ich will nichts mehr wissen. Sich dem Palast zuwendend, in verzweifelter Ohnmacht: Oh, geht, geht ... ihr alle! Wer wird uns aus dieser Nacht erretten? – Aus diesem Sumpf? Aus dieser Wolke von Unheil? Er wendet hilflos und voll Abscheus den Kopf von einer Seite zur andern; dann rafft er sich plötzlich zusammen und sagt mit Entschiedenheit zu Alkestis: Sprich doch! Apollo haßt dich. Deinetwegen hat er dieses Unheil über Thessalien gesandt. Alkestis sieht ihn schweigend und mit stetem Blick an. Ist es nicht so? Sprich! Alkestis sich Zeit lassend: Als Apollo hierherkam, König Agis, da sagte sein Priester Teiresias, daß diese große Ehre eine große Gefahr mit sich bringe.
Agis: Eine Gefahr? Alkestis: Du stehst jetzt in dieser Gefahr. Der Erdboden hier ist noch warm – glüht noch – von den Schritten des Gottes ... Wie zu sich selbst, fast träumerisch: Ich habe das lange nicht verstanden. Einsamkeit ... und Sklaverei... haben es mir klargemacht. – Gib acht, was du hier tust, König Agis! Agis das Kinn vorstoßend und die Warnung in den Wind schlagend: Antworte auf meine Frage! Alkestis: Die Götter sind nicht wie du und ich, König Agis – aber manchmal sind wir wie sie. Sie lieben uns nicht für einen Tag oder ein Jahr und hassen dann, was sie geliebt haben. Und auch du, du liebst deine Tochter Laodamia nicht heute und jagst sie morgen auf die Straße hinaus. Agis empört: Nenne sie nicht, du ... du Bringerin von Tod und Vernichtung! Er geht auf die Palasttür zu, bleibt dann, während Alkestis spricht, stehn und wendet sich um. Alkestis: Wir bitten die Götter um Gesundheit ... und Reichtum ... und Glück. Sie aber versuchen, uns etwas anderes und Besseres zu geben: Verständnis. Und wir ... wir können ihre Gabe nicht schnell genug zurückweisen ... Nein! Nein! Apollo hat sein Angesicht nicht von mir abgewendet ... Volk von Pherai, habt ihr je gehört, daß König Admetos ungerecht gegen euch war?
Stadtvolk: Nein, nie, Königin Alkestis! Alkestis: Oder ich? Stadtvolk: Nein, nie, Königin Alkestis! Alkestis: Glaubt ihr, daß diese Seuche gesandt worden ist, um e u c h für etwas Böses zu strafen, das w i r begangen haben? Stadtvolk: Nein! Nein! Alkestis: Wenn Herakles jemand von den Toten zurückholte, glaubt ihr, er kann das getan haben gegen den Willen der Götter? Stadtvolk: Nein! Nein! Agis: Dann sag mir, Alkestis, was ist der Grund dieser Seuche? Alkestis: Sie ist gesandt worden ... um uns zu erwecken ... uns die Augen zu öffnen. Agis: Wofür? Wofür, Alkestis? Alkestis den Kopf hebend, wie lauschend: Ich weiß es nicht ... Für ein Zeichen. Ein Augenblick atemloser Erwartung. Dann erblickt der erste Leibgardist, der am obern Ende des Pfads steht, plötzlich Epimenes und Cheriander und ruft: 1. Leibgardist: Herr, dort sind zwei Fremdlinge! Agis nach vorn kommend, soweit er es wagt: Wie konnten die hier herein? Zu der Leibgarde: Laßt sie nicht entkommen! Die Leibgarde versperrt den beiden den Pfad. Zu Epimenes und Cheriander: Werft eure Schwerter weg! Epimenes: Niemals, König Agis!
Agis: Was könnt ihr tun, gefangen in dem Winkel dort unten? Werft eure Schwerter weg! Alkestis den Kopf schüttelnd, murmelt beschwörend: König Agis, König Agis! Agis zu Alkestis: Du hast sie eingelassen. Weder du noch sie haben Asche auf dem Gesicht. Zu der Leibgarde: Tötet die zwei – tötet sie! Zwei Leibgardisten beginnen, zaghaft den Pfad hinabzusteigen. Agis: Feiglinge, Verräter, tut, was ich euch befehle! Plötzlich wird der dritte Leibgardist, oben auf der Bühne, von der Seuche befallen. Der Speer entsinkt ihm, und er schreit auf. 3. Leibgardist: König Agis! Wasser! Die Seuche! Ich verbrenne. Rette mich, König Agis! Hilf mir, ich verbrenne! Zwischen seinen Schreien gähnt er und taumelt. Agis zurückweichend, wie alle zurückweichen: Jagt ihn aus dem Hof! Treibt ihn mit euern Speeren hinaus! 3. Leibgardist hin und her taumelnd, gähnend und schreiend: Wasser! Wasser! Trinken! Schlafen! Agis die Hände vors Gesicht haltend: Jagt ihn auf die Straße hinaus! Allgemeiner Tumult. Der dritte Leibgardist versucht, sich zum Hoftor zu schleppen. Die Leibgardisten und das Stadt-
volk, die Gesichter abgewendet, treiben ihn mit Speeren und Fußstößen hinaus. Durch diese Vorgänge ist die Aufmerksamkeit der Leibgardisten von Epimenes und Cheriander abgelenkt. In einer sekundenlangen Pause ist nichts zu hören als erschöpftes Keuchen. Agis schreiend: Meine Wagen! Meine Pferde! ... Nach Thrakien! Nach Thrakien! Zu Alkestis: Du kannst es wiederhaben, dein Thessalien, das gastfreundliche, Königin Alkestis! Herrsche über deine Toten und Sterbenden .. . Epimenes: Jetzt, Cheriander! Beide eilen auf die Bühne hinauf. Agis – ich bin Epimenes, der Sohn des Admetos! Agis: Wer? Was soll das heißen? Leibwache! Alkestis stellt sich vor König Agis und mit erhobenen Händen Epimenes entgegen. Alkestis: Nein, Epimenes – nein! Epimenes durch Alkestis’ Haltung aufgebracht: Mutter! Der Augenblick ist da. Er hat meinen Vater getötet ...! Alkestis: Tu’s nicht! Agis: Leibwache! Verzweifelt ein paar Schritte nach rechts und links machend: Ihr Feiglinge! Ihr Schufte! Cheriander: Hör auf deine Mutter, Epimenes! Alkestis mit dem Rücken gegen Agis, aber
zu ihm sprechend: Ja, König Agis. Geh zurück in dein eigenes Reich! Agis: Ist das dein Sohn? Alkestis, antworte mir! Ist das dein Sohn? Epimenes voll Zorns, seine Absicht vereitelt zu sehn, sinkt auf ein Knie und schlägt mit dem Schwertgriff mehrmals auf den Erdboden. Epimenes: Rache, Rache! Alkestis: Epimenes, der Mörder trifft sich selbst ins Herz. Erinnere dich der Worte deines Vaters! Epimenes schluchzend, die Stirn fast bis auf den Boden gesenkt: Er hat meinen Vater getötet – meinen Bruder – meine Schwester. Der zweite Leibgardist kommt aus dem Palast geeilt. 2. Leibgardist: König Agis! Deine Tochter, die Prinzessin Laodamia! Sie schlägt mit den Fäusten an die Tür und schreit nach dir. – Sie hat Schmerzen, König Agis – Schmerzen! Agis mit erhobenen Armen: Wendet das Unheil, ihr Götter! Wendet es ab, ihr Unsterblichen! Laodamia! Laodamia! Er eilt in den Palast. Alkestis neben Epimenes stehend und ihm die Hand auf die Schulter legend: Dein Vater sagte immer: »Ein Mensch, der die Freude der Rache gekannt hat, wird viel-
leicht nie eine andre Freude kennen.« Sie wendet sich an das Stadtvolk und sagt nüchtern und sachlich: Freunde, eilt nach Hause und holt Körbe und Krüge. Geht zu den Steinbrüchen vor dem Südtor und sammelt den Schwefel, der sich dort findet. Epimenes, erinnerst du dich des Steinbruchs, wo du als Kind spieltest? ... Den gelben Schwefel, den die Eisenschmiede gebrauchen – verbrennt ihn auf den Straßen! Streut ihn über die Toten! Zu den Leibgardisten: Helft dabei mit! Es gibt für euch hier nichts andres mehr zu tun. Epimenes, steh auf! Führe sie! Epimenes sich aufraffend: Ja, Mutter. Mit ruhiger, gebieterischer Entschiedenheit zu Leibgarde und Stadtvolk: Kommt mit mir! Alle ab, nur Cheriander bleibt zögernd zurück und sagt leise, mit ehrfürchtiger Scheu: Cheriander: Königin Alkestis – das Zeichen, von dem du gesprochen hast – das Zeichen von Apollo, dem Gott ... Dieser Entschluß des Königs, Thessalien zu verlassen – war der das Zeichen? Alkestis mit lauschend erhobenem Kopf: Nein ... das Zeichen ist noch nicht gekommen. Cheriander mit jugendlichem Teuer: Du selbst bist das Zeichen! D u bist Botschaft
und Zeichen, Königin Alkestis! Alkestis fast unmerklich den Kopf schüttelnd, leise: Nein ... nein ... Cheriander eilt, Epimenes nach, ab. Aus der Palasttür tritt König Agis auf, laut aufheulend vor Kummer und Seelenqual. Agis: Sie ist tot! Laodamia ist tot! Zwölf Jahre alt – und sie ist tot ... Er schlägt mit den Fäusten gegen Säulen und Wände; er stampft die Stufen herab und dann wieder hinauf: Erst zwölf Jahre! Ihre Arme um meinen Hals. In qualvollen Schmerzen. »Vater, hilf mir« ... »Vater, so hilf mir doch!« ... Ihr Haar. Ihr Gesicht wie das ihrer Mutter. Ihre Augen, ihre Augen! Er erblickt Alkestis: Du ... Du hast das getan! Alkestis murmelt, während er spricht, wie beschwörend: Agis ... Agis ... Agis. Agis ihre Hand ergreifend und mit ihr seine Stirn und Brust berührend: Gib mir diese Seuche! Mag sie uns alle vernichten – »Vater, hilf mir!« Sie war mein alles. Und sie ist tot – tot – tot! Alkestis: Agis ... Agis ... Agis: Du – die Herakles von den Toten zurückgeholt hat – nur du konntest das tun. Ein Gedanke kommt ihm. Herakles hat dich zurückgeholt? Wo geschah das? Von dort? Er stolpert den Pfad hinunter: Dort? Er steigt schnell den Pfad wieder hinauf: Sag mir, Alkestis – wie hat er das getan? Was
geschah dort unten? Alkestis schüttelt schweigend den Kopf. Zeig mir, was er getan hat, und auch ich werde es tun. Laodamia, ich komme – ich komme dich holen! Antworte mir, Alkestis! Alkestis: Agis, ich habe nichts gesehen – nichts gehört. Agis: Du lügst. Alkestis: Agis, hör mich an! Ich habe dir etwas zu sagen. Agis: Sprich! Sprich! Alkestis: »Vater, hilf mir!« Agis: Verspotte mich nicht! Alkestis: Ich verspotte dich nicht. Was meinte Laodamia damit, König Agis? Agis: Daß sie Schmerzen litt, qualvolle Schmerzen. Alkestis: Ja, aber das war nicht alles. Was noch hat sie gemeint? Agis: Was noch? Alkestis: Die Bitternis des Todes, König Agis, ist zum Teil Schmerz – nur zum Teil. Das Bitterste am Tod ist nicht das Scheidenmüssen – wenngleich das ein großer Kummer ist. Ich selbst bin einmal gestorben. Weißt du, was die äußerste Bitternis des Todes ist, König Agis? Agis: Sag es mir! Alkestis: Es ist die Verzweiflung darüber, nicht gelebt zu haben. Die Verzweiflung darüber, daß das eigene Leben nichts be-
deutete, daß es – ob glücklich oder unglücklich – sinnlos gewesen ist. »Vater, hilf mir!« Agis: Sie hat mich liebgehabt, Alkestis. Alkestis: Ja. Agis: Sie hat mich l i e bgehabt. Alkestis: Ja, aber Liebe ist nicht genug. Agis: Sie war genug. Für Laodamia und für mich war sie genug. Ich will dir nicht länger zuhören. Alkestis: Liebe ist nicht der Sinn. Sie ist eins der Zeichen, daß da ein Sinn ist – sie ist nur eines der Zeichen dafür, daß das Leben eine Bedeutung hat. Laodamia ist verzweifelt und bittet dich, ihr zu helfen. Das, siehst du, ist der Tod für sie – Verzweiflung. Ihr Leben bleibt vergeblich und leer, bis du ihm einen Sinn gibst. Agis: Welchen Sinn könnte ich ihrem Leben geben? Alkestis ruhig: Du bist ein roher, ein grausamer und unwissender Mensch. Kurzes Schweigen. Du hast mir meine Laodamia getötet. Dreimal. Sinnlos. Weißt du, wie oft du eine Laodamia getötet hast? Agis: Nein – Alkestis: Du weißt es nicht! – Geh zurück in dein Königreich! Dort, nur dort kannst du Laodamia helfen. Agis geht an Alkestis vorbei auf die Palasttür zu. Alle Toten, König Agis – sie
weist auf den Eingang zur Unterwelt – alle diese Millionen von Toten dort flehen uns an, ihnen zu beweisen, daß ihr Leben nicht leer und vergeblich gewesen ist. Agis: Und welches ist der Sinn, den ich Laodamias Leben geben kann? Alkestis: Heute hast du begonnen, das zu verstehn. Agis den Kopf an den Türpfosten der Palasttür gelehnt: Nein. Alkestis: Auch ich habe es erst verstehn lernen müssen. Auch ich. Und auch du wirst es lernen, König Agis. Durch Laodamias Leiden wirst du es lernen ... Agis geht gebrochen durch die Palasttür ab. Während seines langsamen Abgangs beginnt das Licht auf Apollo zu fallen, der auf dem Dach erschienen ist. – Oder Apollo tritt durch das Hof tor auf. In diesem Fäll trägt er noch immer seinen Mantel, aber die Kapuze ist auf die Schultern zurückgeglitten und läßt einen goldenen Lorbeerkranz um seinen Kopf, sehen. Er spricht Alkestis erst vom Hoftor her an und tritt dann hinter sie. Allein geblieben, scheint Alkestis den Kopf vor großer Müdigkeit sinken zu lassen. Sie schließt die Augen und macht ein paar Schritte nach links. Sie scheint greisinnenhaft zusammenzuschrumpfen. Dann wen-
det sie sich nach rechts und beginnt, mit halb geschlossenen Augen auf das Hoftor zuzugehn. Apollo: Noch ein paar Schritte, Alkestis! Durch das Tor ... und über die Straße ... in meinen Hain. Alkestis: So weit ... und so hoch ... Apollo: Nur wenige Schritte! Es geht nicht auf einen Berg hinauf. Du brauchst den Fuß nicht zu heben. Alkestis: Es ist zu weit. Laß mich hier mein Grab finden! Apollo: Dieses Grab wird dir nicht werden, Alkestis. Alkestis: O doch. Ich will mein Grab ... Apollo: Das Grab bedeutet ein Ende. Du wirst kein solches Ende haben. Du bist die erste einer großen Zahl, die dieses Ende nicht haben wird. N o c h einen Schritt, Alkestis! Alkestis: Und werden Enkelkinder da sein ... und Enkel von Enkelkindern ...? Apollo: Nicht zu zählende. Alkestis: Ja ... Wie war sein Name? Apollo: Admetos. Alkestis: Ja ... und jener Leuchtende, dem ich dienen wollte? Apollo: Apollo. Alkestis: Ja ... Nahe dem Hoftor: Alle die Tausende von Tagen ... eine Welt von Sorgen ... Den Kopf hebend, mit geschlossenen
Augen: ... Und wem soll ich danken für so viel Glückseligkeit? Apollo: Freunde fragen einander das nicht. Alkestis geht durch das Hoftor ab. Apollo hebt die Stimme, als wollte er sicher sein, daß sie ihn auch außerhalb der Mauer hören werde: Die einander geliebt haben, fragen einander das nicht, Alkestis.
Überleitung von der Alkestiade zum Satyrspiel Die beschwipsten Schwestern Am Schluß des 3. Akts der Alkestiade fällt ein Vorhang. Apollo tritt vor den Vorhang. Apollo zu den Zuschauern: Wartet! Wartet! – Wir sind noch nicht zu Ende. Wir sind in Griechenland, und da hält man es nicht für richtig, die Zuhörer sogleich heimgehn zu lassen, nachdem ihnen so Schwieriges und Schmerzliches aus dem menschlichen Leben dargestellt wurde. Vielmehr ist es Brauch, und man erwartet vom Dichter, daß er ein kurzes Nachspiel schreibe – zur aufheiternden Zerstreuung – sogar ein komisches – ein Satyrspiel. Vertraulich: Wir sind nämlich überzeugt, daß die tragische Lebensanschauung nicht für sich allein bestehn kann. Sie neigt dazu, sich selbst zu übertreiben. Wie einer von euch – er weist ins Publikum – gesagt hat: Weder der Tod noch die Sonne lassen sich lange ins Gesicht blicken. Und ferner wird erwartet, daß so ein Nachspiel sich mit einem der Haupt- oder Nebenthemen des vorausgegangenen Dramas befasse. Also – was sollen wir euch da vorführen? Teiresias, den armen achthundertjährigen, den zuviel geliebten? Und wie die Götter ihn von Zeit zu Zeit wieder jung machten?
Wie sie ihn von Zeit zu Zeit sogar in ein Weib verwandelten? Und den Streit, den Zeus und Hera deswegen miteinander hatten? Er beginnt zu lachen, versucht aber, sich zu beherrschen. Nein, nein – das eignet sich nicht für euch. Dieses kleine Spiel wäre zu derb. Ein Griechenmagen verträgt so Unziemliches, aber – Er wird abermals von Lachen überkommen. es ist – nein, nein, für euch ist das nichts. [Vielleicht sollten wir euch die Geschichte von den Schwestern der Königin Alkestis vorspielen? Ihr Vater, König Pelias, war ein alter Narr, und ihre beiden Schwestern waren auch nicht gescheiter. Das kommt oft vor – daß es in einer Familie nur einen einzigen gescheiten Menschen gibt. Wir könnten euch vorführen, wie Medea, diese berüchtigte Kochkünstlerin, den beiden Schwestern heimlich einredete und vormachte, daß sie ihren lieben Vater wieder jung werden lassen könnten. Plötzlich den Ton wechselnd: Nein! Es ist allerdings wahr, daß es Leute gibt, welche nur dann lachen, wenn sie von Grausamkeiten hören. Dieses Stück ist voller Grausamkeiten. Doch schon beim Nachhausegehn würdet ihr euch schämen, davon belustigt gewesen zu sein.] Wir haben allerdings noch ein Stück – es ist
nicht grade furchtbar komisch – aber habt ihr euch vorhin nicht gefragt, wie es möglich war, daß sich das Leben König Admets verlängern ließ? Diese erlauchten Damen – die Parzen, die Schicksalsschwestern, die bei euch hier oben im Norden die Nornen heißen – lassen sich die etwa bestechen? Wir wollen euch zeigen, wie das zuging. Er beginnt, sein Obergewand abzulegen, unter dem er als Küchenjunge gekleidet ist, und ruft in die Kulisse: »Meinen Hut, meinen Gürtel!« In diesem kleinen Nachspiel bin ich wiederum Apollo – als Küchenjunge verkleidet. Aus der Kulisse werden ihm ein großer kegelförmiger Strohhut und ein Gürtel gereicht, an dem Geräte eines Küchenjungen, Zwiebeln usw. hängen. Er ruft in die Kulisse: »Meine Flaschen!«, setzt den Hut auf und legt den Gürtel an. Ich hasse Verkleidungen, und ich hasse Trunkenheit – Aus der Kulisse wird ihm eine Schnur, an der drei bocksbeutelförmige Flaschen hängen, gereicht. aber seht ihr diese Flaschen, die ich mir hier umhänge? Ich hasse alle Lügen und Listen – aber ich will auf krummem Wege erreichen, was nicht einmal Allvater Zeus ohne Arglist gelänge – ein Menschenleben zu v e r l ä n g e r n. Durch den Vorhang nach
hinten oder in die Kulisse rufend: »Alles bereit?« Wieder zu den Zuschauern: Ja, alles ist bereit für das Nachspiel – das Satyrspiel, den Abschluß dieser ernsten Trilogie, der Alkestiade. Er bleibt am Proszeniumspfeiler stehn, während der Vorhang aufgeht.
DIE BESCHWIPSTEN SCHWESTERN
PERSONEN Klotho Lachesis Atropos Apollo
Auf einem öden Berggipfel sitzen übergroß die Drei Parzen. Sie tragen Hexenmasken und wiegen während ihrer Arbeit den Oberkörper vorwärts und rückwärts. Klotho wie auf eine Frage antwortend: Was das ist, was am Morgen auf vieren geht, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien? Absichtsvoll schelmisch: Nein, nein, sag’s mir nicht, sag’s mir nicht! Lachesis gelangweilt: Als ob du’s nicht wüßtest! Klotho: Laß mich so tun, als wüßt’ ich’s nicht. Atropos: Ach, es gibt keine neuen Rätsel mehr für uns. Wir kennen sie alle schon längst. Lachesis: Wie langweilig unser Leben ist ohne Rätsel! Du mußt ein neues erfinden, Klotho! Klotho: Dann schweigt still und laßt mich nachdenken ... Was ist das, was ... Was ist das, was . .. Apollo zu den Zuschauern: Die dort sind die drei Schicksalsgöttinnen. Die Parzen. Klotho spinnt die Lebensfäden; Lachesis mißt einem jeden seine Länge zu; und Atropos schneidet ihn ab. Bei ihrer eintönigen Arbeit, unser Leben zu bestimmen, langweilen sie sich entsetzlich, und wie so viele Leute, die sich langweilen, finden sie großen Gefallen an Spielen – an Denkaufgaben und
Rätseln. Karten spielen können sie natürlich nicht, weil ihre Hände die ganze Zeit mit den Lebensfäden beschäftigt sind. Atropos: Schwester, dein Ellbogen! Kannst du nicht messen, ohne zu stoßen? Lachesis: Ich kann nichts dafür. Dieser Faden ist sooo lang! Noch nie hab’ ich so weit ausholen müssen. Klotho: Ja, er ist lang und grau und grindig. So viele Jahre für einen Sklaven! Lachesis: So ist’s nun einmal. Zu Atropos: Schneid ihn ab, Schwesterlein! Mit einem hörbaren Schnippen schneidet Atropos den Faden ab. Jetzt den da. Schneid auch den ab! Er ist blau – die Farbe der Tapferkeit – blau und kurz. Atropos: Das versteht sich. Wieder ein hörbares Schnippen. Lachesis: Du hättest beinahe diesen purpurnen hier auch abgeschnitten. Atropos: Diesen hier? – Den purpurnen für einen König? Lachesis: Ja. Gib acht auf den und behalt ihn im Auge, meine Liebe! Der ist der Lebensfaden des Admetos, des Königs von Thessalien. Apollo beiseite: Ha! Des Admetos! Lachesis: Ich hab’ die Länge deutlich bezeichnet. Bei Sonnenuntergang muß er sterben. Apollo zu den Zuschauern: Nein, nein, das wird er nicht!
Lachesis: Er ist ein Günstling Apollos – wie sein Vater vor ihm und das ganze lästige Herrscherhaus von Thessalien. Königin Alkestis wird heute abend Witwe sein. Apollo wie vorher: Alkestis! – Nein, nein! Lachesis: Es wird ein großes Jammern anheben in Thessalien. Sie werden sich alle auf dem Boden wälzen und ihre Kleider zerreißen. – Nein, noch nicht, meine Liebe! Es ist noch eine Stunde Zeit bis dahin. Apollo beiseite: Ans Werk! Ans Werk, Apollo, listenreicher! Er macht sich bemerkbar, indem er die Bewegungen heftigen Laufens ausführt, ohne sich von der Stelle zu rühren, und laut und lärmend jammert: Oh, mein Rücken! Auweh, auweh! Solche Prügel zu bekommen! Au, au! Und dann noch so aufgehalten zu werden! Ich werd’ mich verspäten und wieder Prügel kriegen! Auweh, auweh! Lachesis: Wer ist denn dieser Winsler? Apollo: Haltet mich jetzt nur nicht auf! Ich darf keinen Augenblick mit Reden verlieren. Hab’ mich sowieso schon schrecklich verspätet. Und überhaupt ist mein Auftrag ein tiefes Geheimnis. Ich darf kein Wort darüber sagen. Atropos: Wirf ihm deinen Garnsträhn über, Klotho! Wie kommt der Tölpel da zu einem Geheimnis? Wir sind’s, die alle Ge-
heimnisse besitzen. Die Lebensfäden auf dem Schoß der Schwestern sind unsichtbar für die Zuschauer. Klotho steht nun auf und schwingt die Hand in weiten Kreisen dreimal über ihrem Kopf, als wollte sie ein Lasso werfen, und wirft dann die imaginäre Schlinge gegen Apollo hin. Apollo gebärdet sich, als wäre er eingefangen worden. So oft Klotho die Geste heftigen Anziehens macht, wird Apollo näher zu ihr geschleift. Während des Folgenden hebt sie mehrmals ihr Ende des imaginären Garnsträhns in die Höhe, zieht Apollo damit hoch, wodurch sie ihn fast erwürgt, und läßt ihn dann wieder zu Boden fallen. Apollo: Ihr schönen Damen, laßt mich frei! Laßt mich laufen, meine Damen! Wenn ich mich verspäte, wird der ganze Olymp in Aufregung geraten. Aphrodite wird ganz toll sein vor Angst. O je, da hab’ ich schon zuviel gesagt! Mein Auftrag war, sogleich wieder heimzukommen und keine Silbe davon zu sagen, schon gar nicht zu Frauen. Für Männer ist die Sache nicht so interessant. Ach, meine lieben Damen, laßt mich frei! Atropos: Zieh die Schlinge enger, Schwesterlein! Apollo: Au! Du schnürst mir ja den Hals zu. Du würgst mich ja zu Tod.
Klotho gebieterisch: Hör auf zu winseln und sag uns auf der Stelle dein Geheimnis! Apollo: Ich kann nicht. Ich darf nicht. Lachesis: Zieh fester zu, Schwesterlein! Sprich, Bursche, oder du wirst – sie macht die Gebärde des Kehlezuschnürens. Apollo: Halt, halt! Wartet doch! – Ich sag euch die Hälfte davon, wenn ihr mich laufen laßt. Atropos: Sag uns das Ganze, oder wir lassen dich in der Luft baumeln. Apollo: Gut, gut, ich will’s euch sagen, aber – er sieht sich ängstlich um – eins müßt ihr mir versprechen! Schwört beim Styx, ihr werdet es niemand weitersagen. Und schwört bei Lethe, ihr werdet das Ganze vergessen. Lachesis: Wir kennen nur einen Schwur – beim Acheron. Und bei dem schwören wir nie – am allerwenigsten einem winselnden Sklaven. Sag uns, was du weißt, oder du wirst im Halsumdrehn selber beim Styx sein. Und bei Lethe und Acheron. Apollo: Ich fürchte mich, es euch zu sagen. Ich ... schsch! Ich trage hier ... in diesen Flaschen ... O schöne Damen, laßt mich los, laßt mich laufen! Lachesis: Ho-ruck, Schwesterlein! Atropos gleichzeitig: Ho-ruck, Schwesterlein! Apollo: Nein, nein! – Ich sag’s euch schon. In
diesen Flaschen hier trag’ ich ... den Wein ... den Wein für Aphrodite. Alle zehn Tage frischt sie ihre Schönheit auf, indem sie ... von diesem Wein trinkt. Atropos: Lügner! Dummkopf! Sie trinkt Nektar zur Ambrosia, wie alle andern. Apollo vertraulich: Aber ist sie nicht die Schönste? ... Es ist eine Liebesgabe von Hephaistos ... Aus dem Weingarten des Dionysos ... Dieser Wein ist aus Trauben gekeltert, die unter dem Auge Apollos reiften. Apollos, der niemals lügt. Die Drei Schwestern, in seligem Vorgenuß, bedeutungsvoll zueinander: Lachesis: Mmm! Atropos: Mmm! Klotho: Mmm! Atropos zuckersüß: Laß uns doch einmal deine Flaschen ansehen, mein lieber Junge! Apollo erschrocken: Nein, nur das nicht! – Meine Damen, ist’s nicht genug, daß ich euch das Geheimnis verraten habe? Nein, nein, nur das nicht! Atropos: Lachesis, du kannst doch gewiß auf deinem Schoß den Lebensfaden dieses Sklaven finden, dieses unnützen – einen gelbgrünen, einen für ein langes Leben? Apollo auf die Knie fallend: Gnade! Erbarmen! Atropos zu Lachesis: Schau, dort ist er – dieser bleiche dort, der ganz verfitzt ist vor
Unehrlichkeit und ganz steif vor Widerspenstigkeit und voller Knoten vor Dummheit. Reich ihn mir her! Apollo mit der Stirn auf den Boden schlagend: Oh, war’ ich nie geboren! Lachesis zu Atropos: Da hast du ihn, den Faden. Mit einem Seufzer: Und ich wollte ihn hundert Jahre langwerden lassen! Apollo steht auf und reicht schluchzend die Flaschen hin: Hier – nehmt sie, nehmt sie! Ich werde sowieso umgebracht. Aphrodite wird mich umbringen. Mit mir ist’s aus. Atropos streng, während alle Drei Schwestern die Flaschen an sich reißen: Halt den Mund! Kein Wort mehr, keinen Mucks! Wir haben’s satt, dir zuzuhören. Apollo, von der Schlinge befreit, wirft sich längelang aufs Gesicht, und seine Schultern zucken heftig, als schluchze er. Die Drei Schwestern setzen jede eine Flasche an die Lippen, trinken gierig und stöhnen vor Wonne. Lachesis: Mmm! Atropos: Mmm! Klotho: Mmm! Lachesis: Schwestern, wie seh ich aus? Atropos: Oh, einfach zum Küssen – und ich? Klotho: Schweschtern, wie scheh ich aus? Lachesis: Schön – beide wunderschön. Atropos: Und kein einziger Spiegel auf diesem ganzen Berg, nicht einmal ein Wasser-
tümpel – der uns sagen könnte, welche von uns die Schönste ist. Lachesis sich mit der Hand übers Gesicht fahrend, träumerisch: Mir ist ... mir ist wie damals, als Kronos mir überallhin nachstieg, um mich in einem dunkeln Winkel zu erwischen. Atropos: Ah – Poseidon war außer sich – er raste und rollte über das Land, um mir den Weg abzuschneiden. Klotho: Mein eigner Vater – und wer könntsch ihm übelnehmen? – begann schich zu vergeschen. Atropos flüsternd: Der dort ist vielleicht doch nicht so unnütz. Gar kein so übler Bursche. Zu Klotho: Frag ihn, wie wir aussehn! Lachesis: Ja, frag ihn, welche von uns die Schönste ist. Klotho: He, du, schpich fei herausch! Ich meine, schpei fisch heraus! Schpich du zu ihm, Lache-schisch – mir hat’s die Schpache verschlagen. Lachesis: He, du! Steh auf! Hab keine Angst! Sag uns offen deine Meinung! Welche ist die Schönste von uns dreien? Apollo ist mit dem Gesicht nach unten auf dem Erdboden liegen geblieben. Nun erhebt er sich. Er tut, als wäre er geblendet: duckt sich erst, zieht dann langsam die Hand von den Augen und sieht vorsichtig eine nach der andern an.
Apollo: Oh, was hab’ ich da angerichtet! Solche Schönheit! Du – und du – und du! Tötet mich, wenn ihr wollt, aber ich vermag nicht zu sagen, welche von euch die Schönste ist. Auf die Knie fallend: Oh, ihr schönen Damen – wenn soviel Schönheit euch nicht grausam gemacht hat – laßt mich nun gehn und mich verbergen, denn Aphrodite wird es gewiß erfahren, und dann ... Laßt mich nach Kreta entfliehen und zu meinem früheren Beruf zurückkehren! Atropos: Was war denn dein früherer Beruf, mein lieber Junge? Apollo: Ich half meinem Vater auf dem Marktplatz. Ich war ein Geschichtenerzähler und Rätselerfinder. Die Drei Schwestern sind wie vom Blitz gerührt. Dann rufen sie fast kreischend aus: Alle drei: Was? Was sagst du da? Was hast du gesagt? Apollo: Daß ich ein Geschichtenerzähler und Rätselerfinder – Geruhen die schönen Damen, an Rätseln Gefallen zu finden? Alle drei den Oberkörper wiegend und einander auf die Schultern schlagend: Schwestern, ob wir an Rätseln Gefallen finden? Atropos: Ach, er weiß sicher nur die alten. Das von dem blinden Pferd und das von der großen Zehe. Lachesis: Und das von der Wolke und das von
Heras Augenbrauen. Klotho leiernd: Was geht am Morgen auf vieren und am – Atropos: Ja, ja, und das vom Delphin und das noch ältere vom Ätna. Apollo: Die alle kennt doch ein jeder! Aber ich weiß neue – Alle drei abermals fast kreischend: Neue! Neue! Er weiß neue! Apollo zögernd: Was ist das? Es ist notwendig für – Er hält inne; die Drei Schwestern hängen wie gebannt an seinen Lippen. Lachesis: Weiter, Junge, weiter! Was ist notwendig für – Apollo: Ja, aber – Rätselraten spiele ich nur um einen Einsatz. Versteht ihr? Wenn ich verliere ... Klotho: Wenn du verlierst, mußt du uns sagen, welche von uns die Schönste ist. Apollo: Nein, nein, das wage ich nicht. Lachesis scharf: Doch, das mußt du uns sagen. Apollo: Und wenn ich gewinne ... Alle drei: Wenn du gewinnst? Dummkopf! Esel! Sklave! Gegen uns hat noch niemand gewonnen! Apollo: Wenn ich aber doch gewinne ... Lachesis: Er weiß nicht, wer wir sind! Apollo: Wenn ich gewinne ... Klotho: Der Narr redet von Gewinnen.
Apollo: Wenn ich gewinne, müßt ihr mir einen Wunsch erfüllen. Nur einen einzigen. Aber, was er auch sei. Lachesis: Ja, ja, meinetwegen. So ein lästiger Bursche. Also vorwärts mit deinem Rätsel! Was ist notwendig für – Apollo: Schwöret beim Acheron! Klotho: Wir schwören! Beim Acheron! Lachesis: Beim Acheron! Apollo zu Atropos: Na, und du? Atropos dumpf, unheimlich: Beim Acheron. Apollo: Also, seid ihr bereit? Lachesis: Warte einen Augenblick! Sie neigt sich zu Atropos, flüsternd: Die Sonne ist im Untergehen. Vergiß nicht – den Faden des Ad– du weißt schon, den Faden des Ad– ! Atropos: Wie? Was für ein Ad? Was wisperst du da? Lachesis etwas lauter: Vergiß den Faden des Admetos nicht, des Königs von Thessalien. Bei Sonnenuntergang! Hast du am Ende deine Schere verlegt, Atropos? Atropos: Ach, hör schon auf mit deinem Gewisper und Getue und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten! Natürlich hab’ ich meine Schere nicht verlegt. Los, weiter mit deinem Rätsel, Bursche! Apollo: Schön – also ich will euch so viel Zeit geben, wie es braucht, die Namen der Musen und ihrer Mutter herzusagen.
Lachesis: Hm! Neun und noch einen. Na gut. Los! Apollo: Was ist das? Es ist notwendig für jedes Leben – und kann doch nur eines retten. Die Drei Schwestern wiegen den Oberkörper und wiederholen murmelnd, mit geschlossenen Augen, den Wortlaut des Rätsels. Plötzlich beginnt Apollo in einem lauten Singsang seine Anrufung der Musen. Mnemosyne, Mutter der Neun, Polyhymnia, Weihrauch der Götter – Lachesis schreiend: Hör auf zu singen! Das ist unfair. Wie sollen wir da nachdenken? Klotho: Verstopf dir die Ohren, Schwester! Atropos: Ja, unfair! Vor sich hinmurmelnd: Was ist notwendig für jedes Leben – Alle drei stecken die Finger in die Ohren. Apollo: Erato, Stimme der Liebe, Euterpe, hilf mir nun! Kalliope, die du die Seele uns stiehlst, Urania im Sternenkleid, Klio mit zurückgewandtem Blick, Euterpe, hilf mir nun! Terpsichore mit den schlanken Fesseln, Thalia mit dem lustigen Lachen, Melpomene mit der tragischen Miene, Euterpe, hilf mir nun! Dann, sehr laut: Verspielt! Ihr habt verspielt!
Klotho und Atropos bergen ihre Gesichter an Lachesis’ Nacken und stöhnen. Lachesis mit versagender Stimme: Sag es uns! Sag uns die Lösung! Apollo seinen Hut wegwerfend, triumphierend: Ich selbst – Apollo – die Sonne. Alle drei: Apollo! – Du? Lachesis wütend: Pah! Welches Leben kannst du retten? Apollo: Euern Einsatz! Einen Wunsch! Ein Leben! Das Leben des Admetos, des Königs von Thessalien. Die Drei Schwestern stimmen ein entsetzt abwehrendes Geschrei an. Alle drei: Schwindel! Betrug! Unmöglich! Gar nicht dran zu denken. Apollo mahnend: Beim Acheron ... Die drei: Gegen jedes Gesetz! Zeus muß das entscheiden. Betrug! Apollo wie vorher: Beim Acheron! Die drei: Nein! Nein! Wir gehn zu Zeus. Wir gehn zu Zeus. Er soll entscheiden. Apollo: Zeus selbst schwört beim Acheron und hält seine Schwüre! Betroffenes Schweigen. Atropos mit Entschiedenheit, aber drohend: Dein Wunsch soll dir erfüllt werden – das Leben König Admets – aber Apollo triumphierend: Das Leben König Admets ist mein! Alle drei: Aber –
Apollo: Das Leben König Admets ist mein! Was soll euer Aber? Atropos: Aber nur, wenn ein andrer Mensch statt seiner stirbt. Apollo leichthin: Ach, dann sucht euch irgendeinen Sklaven aus! Irgendeinen grauen und grindigen Faden auf deinem Schoß, göttliche Lachesis. Lachesis empört: Was? Du verlangst von mir, ich soll ein Leben verkürzen? Atropos: Du verlangst von uns, wir sollen morden? Klotho: Apollo hält uns für Verbrecherinnen! Apollo beginnt ängstlich zu werden: Also dann – erhabene Schwestern – wie ließe es sich sonst machen? Lachesis: Ich – eine Mörderin? Sie breitet die Arme aus und sagt feierlich: Über meiner Linken der Zufall. Über meiner Rechten die Notwendigkeit. Apollo: Erhabene Schwestern, wie also? Lachesis: Jemand muß sein Leben für Admetos h i n g e b e n. Aus freier Wahl und freiem Willen. Über einen solchen Tod haben wir keine Macht. Weder Zufall noch Notwendigkeit herrschen über den freien Willen. – Jemand muß es wollen und es sich erwählen, an Stelle Admets, des Königs von Thessalien, zu sterben. Apollo das Gesicht mit den Händen bede-
ckend: Oh! Oh! – Jetzt sehe ich, wie es kommen wird. Aufschreiend: Alkestis! Alkestis! Er läuft stolpernd von der Bühne.