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Die Amazonas – Clique
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C.H.Guenter
Die Amazonas – Clique
MD-Erfolgsnachdrucke erscheinen 14täglich im Wechsel mit MD-Originalromanen im Erich Pabel Verlag GmbH, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1086 by Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt Titelillustration: Firuz Askin Alle Rechte vorbehalten Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin Verkaufspreis inklusive gesetzliche Mehrwertsteuer Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich; Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300, A-5081 Anif Einzel-Nachbestellungen sind zu richten an: PV PUBLIC VERLAG GmbH, Postfach 5103 31, 7500 Karlsruhe 51 Lieferung erfolgt bei Vorkasse + DM 3,50 Porto- und Verpackungsanteil auf Postscheckkonto 85.234-751 Karlsruhe oder per Nachnahme zum Verkaufspreis plus Porto- und Verpackungsanteil. Abonnement-Bestellungen sind zu richten an: PABEL VERLAG GmbH, Postfach 1780,7550 Rastatt Lieferung erfolgt zum Verkaufspreis plus ortsüblicher Zustellgebühr Printed in Germany Juli 1986 ISBN 3-488-20.428-6
1. Am 29. Mai 1861 frühmorgens ratterte eine geschlossene Kutsche über das Kopfsteinpflaster der Londoner Bedford Street. Vor einem schmalen Backsteinhaus mit weißen Fenstereinrahmungen wurde die Kutsche angehalten. Ein etwa 50 Jahre alter, elegant gekleideter Gentleman stieg aus, eilte die fünf Treppenstufen hinauf und betätigte die Klingel so lange, bis sich oben ein Fenster öffnete. »Guten Morgen, Sir!« rief ein junger Mann mit ungekämmter blonder Mähne herunter. »Was kann ich für Sie tun?« »Es ist soweit, Pit«, antwortete der grauhaarige Besucher. »Was ist soweit, Sir?« »Zum Teufel, schütten Sie sich einen Kübel Wasser über den Kopf. Sie schlafen ja noch.« Der Mann am Fenster in der ersten Etage fuhr mit gespreizten Fingern durch das Haar. Die damit verbundene Kopfhautreizung schien ihn munter zu machen. »Doch nicht etwa der Klipper?« fragte er. »Ja, der Klipper«, scholl es voll Ungeduld zu ihm hinauf. »Das ist unmöglich, Sir. Sind ja erst achtundneunzig Tage.« »Heute nacht kam die Meldung aus Beachy-Head per Telegraphen.« 8
»Ich komme!« Oben wurde das Fenster geschlossen. Der Herr mit der Kutsche, dem Äußeren nach gehörte er der vermögenden Schicht der Themse-Stadt an, hatte kaum in seinem Wagen Platz genommen und sich eine Zigarre angesteckt, als Pit Taylor zu ihm stieg. Noch während der Schiffbauingenieur Pit Taylor seine Krawatte band, fuhr die Kutsche los. »Sie haben ja die Schuhe verkehrt an«, sagte James Hull. »In der Eile, Sir«, entschuldigte sich Taylor, »kann das vorkommen.« Die Kutsche überquerte die Themse auf der Tower Bridge und fuhr dann am rechten Flußufer meerwärts. Was die Gaule hergaben, rasten sie zwischen Ladequais und Magazinen hindurch, an den Werften, an den Segelschiffen vorbei, deren Masten dichter standen als die Bäume im Wald von Aldershot. Behäbige Westindienfahrer lagen da, schnelle Boston-Schoner und auch einige der neuartigen Dampfsegler. Pit Taylor und Reeder James Hull schenkten der meilenlangen Parade prachtvoller Schiffe kaum einen Blick. Sie hatten täglich damit zu tun. Arbeit stumpfte ab. Das einzige, was die beiden noch interessiert hätte, das gab es nicht auf der Themse, das schwamm noch zwischen China und den britischen Gewässern. Es war das große Geheimnis amerikanischer Schiffbauer. Und heute waren sie unterwegs, um ihm endlich auf die Spur zu kommen. 9
James Hull trieb seinen Kutscher zu solcher Eile an, daß die Pferde völlig am Ende waren, noch ehe sie ihr Ziel erreichten. An der Poststation in Gillingsham wechselten sie rasch das Gespann und setzten die Hetzfahrt so lange fort, bis der Leuchtturm von Graine auftauchte. Auf einem Hügel ließ der Reeder anhalten. Während der auf dem Bock mitfahrende Diener das Champagnerfrühstuck für die Gentlemen bereitete und das StativFernrohr aufbaute, nahm der Reeder den jungen Schiffbauer beiseite. »Ich habe meine Spione überall sitzen«, eröffnete er ihm, »zwischen Shanghai, dem Kap der Guten Hoffnung und der Bretagne. Ich bin stets der erste, der weiß, welches Schiff das Rennen machen wird. Diesmal ist es ein Fünfmaster namens ,Rainbow’.« »Von McKay in Boston?« »Nein, John Griffith in New York hat ihn gebaut«, berichtete der mächtigste Reeder Londons. »Die ›Rainbow‹ ging im Herbst von New York aus mit Südkurs um Kap Hoorn nach Kalifornien, von dort mit Ballast nach China. Sie erreichte es Ende Februar zu Beginn der neuen Tee-Ernte.« Der Schiffbauer rechnete überschlägig. »Dann kann sie noch nicht hier sein.« »Sie passierte bei Sonnenuntergang und auflaufender Flut Beachy-Head. Eine absolut zuverlässige Meldung.« »Weniger als hundert Tage für sechzehntausend Seemeilen, Sir. Das ist Rekord.« 10
»Ja, ein absoluter Rekord sogar auf der Rennstrecke der Teeklipper. Aber wie ist so etwas möglich? Selbst von den besten Kapitänen bei optimalen Winden wurde das noch nicht geschafft.« »Nicht mit den bisher bekannten Schiffen, Sir.« »Dann«, der Reeder sprach jetzt leise, »hat dieser Griffith in New York wieder einmal zugeschlagen. Er hat sich etwas Neues einfallen lassen.« Dies bezweifelte der junge Ingenieur. »Den Bug noch schärfer zu gestalten, Sir, den Linienriß noch straffer zu führen, das Heck noch schräger, das ist fast nicht mehr zu machen. Bedenken Sie, welche Länge man bekommt.« »Länge läuft, heißt es doch, oder?« »Aber sie bringt Probleme mit der Stabilität.« »Angenommen, die Amerikaner haben das gelöst«, fuhr der Reeder fort, »was könnten sie außerdem noch geändert haben?« »Vergrößerung der Masten und damit der Takelage.« »Nun, wir werden ja sehen.« Hull zog seine brillantbesetzte Repetieruhr. »Das Wetter ist prächtig. Die ›Rainbow‹ muß in drei Stunden auftauchen, um ihren letzten Schlag für die Themseeinfahrt zu machen.« Die beiden Gentlemen kehrten zur Kutsche zurück. Sie tranken den kühlen Champagner, aßen zarte Fasanenbrüste, nahmen zum Abschluß ein wenig Käse und Obst. Während der ganzen Zeit stand der Diener am Fernrohr und beobachtete das Meer bis hinaus zum Horizont. 11
Es mochte auf Mittag gehen, als in Ost Mastspitzen in Sicht kamen. Der Diener zählte laut bis fünf. Dann rief er verblüfft: »Sir, eine ganze Wolkenbank aus Segeltuch!« »Das muß sie sein«, rief Hull. Während der schnellste Teeklipper der Welt in majestätischer Fahrt auf sie zurauschte und an ihnen vorüberzog, hatten sie genug Muße, ihn bei verschiedenen Manövern zu beobachten. Pit Taylor fertigte pausenlos Notizen an. »Ungeheuer«, äußerte er immer wieder, »das Längen-Breiten-Verhältnis des Rumpfes. Ich schätze es auf acht zu eins. Wie die das bloß machen?« »Sie haben die besten Hölzer.« »Die uns in England leider fehlen.« »Was halten Sie von der Takelage, Pit?« »Wir fahren noch Masten«, erklärte der Ingenieur, »die selten die Hälfte der Schiffslänge übersteigen. Bei der ›Rainbow‹ erreicht er schon dreiviertel der Länge. Und dann diese Beseglung. Extrem getakelt. Außerdem fährt er noch Segel, an Verlängerungsspieren gesetzt, und Zusatzsegel bis dicht über die Wasserfläche.« James Hull kam ins Schwitzen, was nicht allein am Champagner lag. »Wie«, fragte er, »kann er unter dem Druck der riesigen Segelflächen der Abdrift Herr werden?« Taylor rieb sich die Augen trocken. Wegen des ständigen Starrens durch das Nelsonfernrohr begannen sie zu tränen. 12
»Das ist nur durch eine revolutionäre Formgebung des Schiffskörpers möglich«, meinte er. »Die man aber nicht sieht«, fügte der Reeder hinzu und legte seine Hand auf die Schulter des begabten jungen Schiffskonstrukteurs. »Pit«, sagte er leise, »mein Junge, ich will, daß Sie mir solche Schiffe bauen. Nein, noch bessere, noch schnellere. Es geht nicht an, daß wir uns die Konkurrenz der Amerikaner noch länger gefallen lassen dürfen.« »Ich werde mein möglichstes tun«, versprach Taylor. »Sie müssen sogar noch mehr tun, mein Junge, nämlich das Unmögliche. Schwören Sie mir das!« Pit Taylor wußte nicht, wie er dieses bewerkstelligen sollte. Trotzdem gab er an diesem Mittag im Mai 1861 dem größten britischen Reeder das Versprechen, daß er ihm ein noch schnelleres Schiff als die »Rainbow« bauen werde. Taylor konnte nicht ahnen, worauf er sich da einließ. * Pit Taylor grübelte mehrere Nächte lang über dem Problem, für James Hull ein Schiff zu entwerfen, das sogar die ›Rainbow‹ in Grund und Boden segelte. Unter Zuhilfenahme von schottischem Whisky hatte er endlich einen Einfall. Genaugenommen stammte die Idee nicht von ihm. Vor 2000 Jahren waren bereits die Römer darauf gekommen, als sie versuchten, den technischen Vorsprung der Karthagischen Flotte einzuholen. Sie schickten damals Schiffbaumeister los, um ge13
strandete Galeeren aus Hannibals Flotte zu vermessen. Dieses Verfahren beschloß Pit Taylor ebenfalls anzuwenden. Da ihm der ›Rainbow‹-Kapitän wohl nicht den Gefallen tun würde, seinen Fünfmaster auf eine Sandbank zu setzen, mußte man etwas nachhelfen. Durch einen Schiffszimmermann, den er gut kannte, ließ er den Rumpf der ›Rainbow‹ an mehreren Stellen so beschädigen, daß man fürchten mußte, der Bohrwurm befinde sich im Holz. Bevor er neue Ladung für New York nahm, brachte der ›Rainbow‹-Kapitän sein Schiff in ein Londoner Dock zur Überholung, sorgte aber dafür, daß der Rumpf Tag und Nacht bewacht wurde. Pit Taylor verkleidete sich als Dockarbeiter. Er freundete sich mit den amerikanischen Matrosen an, spendierte großzügig Rum – und in einer mondhellen Juninacht machte er sich an die Vermessung des ›Rainbow‹-Rumpfes. Kaum hatte der Teeklipper mit neuer Fracht London verlassen, als Pit Taylor schon die Skizzen für James Hulls Schiff auf das Papier warf. Während er Detailzeichnungen und Berechnungen ausführte, besuchte ihn der Reeder immer wieder und schaute ihm bei der Arbeit über die Schulter. »Im Grunde«, erklärte der Ingenieur, »ist das ein Rumpf, wie ihn auch die Baltimore-Schoner haben, aber jeder neue Gedanke wird hier bis zum Extrem weitergeführt.« Seine Konstruktion hatte nichts Bauchiges mehr an 14
sich. Alles war perfekt auf die schmalen Formen und Linien der Klipper reduziert. »Dieser Rumpf«, erklärte der Konstrukteur, »schiebt das Wasser nicht mehr vor sich her wie bei der alten Bauweise, sondern durchschneidet es und wirft es mit seiner konkaven Linienführung zur Seite wie eine Pflugschar die Erde.« Ebenso streng war das Achterschiff unter der Wasserlinie zusammengezogen. »Wie ein senkrecht stehendes Messer«, staunte Hull. »Die Beschränkung des Widerstandes erhöht die Schnelligkeit.« »Dafür gibt es keine geeigneten Hölzer mehr«, bedauerte Taylor, »deshalb nenne ich diesen Schiffstyp auch Komposit-Klipper.« »Und was verstehen Sie darunter?« Leise, als könnten unbefugte Ohren das Gespräch mithören, erläuterte der Ingenieur: »Das ganze Gerippe, Sir, Kiel, Spanten, Verbände und Masten baue ich aus Eisen.« Hull blickte seinen Konstrukteur an, als habe dieser eben behauptet, Gott sei ein Mensch aus Fleisch und Blut. Was Taylor plante, war eine Revolution im Segelschiffbau, fast schon die Aufgabe einer Philosophie. Aber Taylor hatte Argumente. »Diese Bauart erhöht Stabilität und Lebensdauer«, sagte er, »und erlaubt eine noch schärfere Linienführung. Damit erobern wir den Ruhm, die schnellsten Schiffe zu bauen, von den Yankees zurück, Sir.« »Größe, dreitausend Tonnen«, murmelte James Hull, 15
»damit bringen wir in Rekordzeit Opium nach China und Tee zurück. Das ist wirklich letzte Vollendung, Pit! Genau das brauche ich gegen die aufkommende Konkurrenz der Dampfschiffe.« »Sie können das Schiff bekommen, Sir«, antwortete der junge Konstrukteur. »Bis wann?« fragte der Reeder und fügte hinzu: »Gehen Sie davon aus, Mister Taylor, daß Geld in diesem Falle keine Rolle spielt.« * Im Sommer 1863 verließ der damals größte Fünfmaster, ein Kompositklipper der Hull-Reederei namens »Flying Dream«, die Themse. Mit dem Abendhochwasser ging er Kurs DoverStraße in See. Sein Ziel war China. Die Ladung bestand aus dreihundert Tonnen türkischem Opium. An Bord befanden sich außer Kapitän, Offizieren und Mannschaft noch der Erbauer des Klippers, der Ingenieur Pit Taylor. Begleitet wurde er von seiner jungen Ehefrau Juliane und deren Bruder. Juliane Taylor, eine hübsche, äußerst lebendige Blondine, war die einzige Frau auf dem Klipper. Ein weibliches Wesen von Mrs. Taylors Liebreiz unter hundert Männern auf so langer Reise, das warf immer Probleme auf. Kapitän Durant wußte das. Doch gegen die ausdrücklichen Wünsche von Erbauer und Reeder konnte 16
er wenig ausrichten. In einem Gespräch unter vier Augen hatte Pit Taylor ihm seine Bedenken ausgeredet. »Dies ist das größte und schönste Schiff«, hatte Taylor damals am Ausrüstungskai erklärt, »das ich je konstruierte, und es ist fraglich, ob ich es jemals durch ein noch größeres und schöneres werde übertreffen können. Deshalb haben Juliane und ich beschlossen, am Tag des Stapellaufes zu heiraten.« »Aber ist es denn notwendig«, hatte ihm Kapitän Durant erwidert, »daß Sie Ihre Frau auf der Jungfernreise mitnehmen, Sir?« »Ich möchte sie nach so kurzer Zeit nicht schon alleine lassen.« Nun hatte der Kapitän eine andere Frage gestellt: »Warum wollen Sie denn unbedingt an dieser Reise teilnehmen, Sir?« Taylor hatte eine gute Erklärung: »Weil es sich bei der Takelage um ein neuartiges System handelt, das nur in der Praxis auf die umwälzende Rumpfform optimiert werden kann.« »Trauen Sie mir und meinen Offizieren das etwa nicht zu?« hatte Durant erwidert. »Selbstverständlich«, hatte Taylors Antwort gelautet, »Sie sind alle ganz hervorragende Seeleute. Aber erlauben Sie mir, Kapitän, daß ich persönlich feststelle, ob meine Berechnungen auch der Praxis bei Wind und Wetter gerecht werden. Ich trage Mister Hull gegenüber die Verantwortung. Es ist nicht auszuschließen, daß auf See, bei Sturm etwa, gewisse Änderungen notwendig werden.« 17
»Ob Tuch weggenommen werden muß, Sturmsegel zu setzen sind, das alles meldet mir meine Nase, Mister Taylor. Aber selbstverständlich respektiere ich Ihre Wünsche und die von Mister Hull.« »Und was meine Frau betrifft«, hatte Taylor versichert, »sie ist ein scheues zurückhaltendes Wesen. Sie wird sich den Augen Ihrer ausgehungerten Seeleute gewiß nicht in verführerischer Weise darbieten.« »Vier Monate auf See sind lang«, hatte Durant nochmals eingewendet. »Wir haben die Absicht«, hatte Taylor zu seiner Beruhigung erklärt, »das Schiff schon in Rio zu verlassen und von Brasilien aus die Rückreise anzutreten.« Inzwischen befand sich die »Flying Dream« auf See, und die Ereignisse waren nicht mehr aufzuhalten. * Auf vierzig Grad nördlicher Breite, halbwegs im Atlantik, briste es stark auf. Unter vollen Segeln machte das Schiff 14 Knoten Fahrt. Da das Barometer aber fiel, beschloß Kapitän Durant zumindest die obersten Segel, nämlich Sky und Royal, wegzunehmen. Pit Taylor, der gerne den Rekord London-Rio gebrochen hätte, versicherte ihm, daß die Stahlmasten den Druck aushalten wurden. Doch in einer mächtigen Sturmbö kam eine Rah vom Großmast herunter. Zwei Matronen wurden erschlagen, einer so schwer verletzt, daß er in der darauffolgenden Nacht starb. Bald ging unter den Matrosen das Gerede, die drei 18
Kameraden hätten sterben müssen, um den Ehrgeiz von Mister Taylor zu befriedigen. Die Stimmung gegen den Erbauer des Schiffes wurde feindlich, zumal es auch zu Verlagerungen von Fracht und Ballast kam, für die Taylor aber nichts konnte. Auf dem schmalen langen Schiff waren die Unterkünfte der Besatzung beengter als auf den dicken Westindienseglern. Auch das führte zu Aufsässigkeiten, je weiter man sich den Tropen näherte und je heißer es wurde. Leider war auch der Schiffskoch kein großer Meister seines Faches. Schließlich aber setzte das Benehmen von Mrs. Taylor allem die Krone auf. Sie war keinesfalls das scheue zurückhaltende Wesen, das nur frühmorgens und abends das Deck betrat, um Luft zu schnappen. Sie ließ sich ein Sonnensegel spannen und darunter eine Liege aus Kapokpolstern errichten. Darauf rekelte sie sich den ganzen Tag leicht bekleidet herum. Oft spielte der Wind die Röcke von ihren schlanken Beinen hoch. Und bei den warmen Äquatorialgewittern kam sie fast nackt an Deck, um ihre Regendusche zu nehmen. Einer der Steuerleute wandte sich an den Dritten Offizier und sagte: »Entweder ist das alles Absicht von diesem Weib oder grenzenlose Einfalt. Aber so töricht und ahnungslos kann keine Frau der Welt sein.« »Erst recht keine Frau, die Mister Taylor heiratete«, stimmte ihm der Dritte zu. »Sie hat keine Ahnung, was sie damit unter den Matrosen anrichtet.« 19
»Oder vielleicht doch«, äußerte der Offizier, »und es macht ihr Spaß, sie zum Kochen zu bringen. Ganz besonders den Zimmermann.« »Sie meinen Ronclif, Sir?« »Ja, diesen dunkellockigen Burschen aus Wales.« »Sieht gut aus, der Mann.« »Wenn er mit nacktem Oberkörper an Deck arbeitet und seine Muskeln spielen läßt, kommt ihm auf der ganzen ›Flying Dream‹ keiner gleich.« Südlich des Wendekreises ging bald das Gerücht um, Madam Taylor habe ihrem Ehemann Hörner aufgesetzt. Der Koch und der Segelmacher wollten sie in einer Mondnacht in der Werkstatt des Zimmermanns beobachtet haben. Der Zimmermann habe sie einfach auf seine Hobelbank gelegt. Ihr nackter Körper habe wie Elfenbein geschimmert. Als die Geschichte Kapitän Durant zu Ohren kam, glaubte er sie nicht. Er hielt sie für ein Phantasieprodukt der überreizten Gehirne seiner Männer. Doch eines Tages hieß es dann, Madame Taylor habe es in der Höhe von St. Paul mit etlichen Männern der Crew getrieben. Nun sah sich der Kapitän gezwungen einzuschreiten. Er stellte Pit Taylor zur Rede. Der Ahnungslose war sichtlich empört über diese Beschuldigungen. Er mußte aber zugeben, daß er auf See nur nach Einnahme starker Pulver zu schlafen vermochte. Er wisse also nichts von alledem. Kapitän Durant beauftragte seinen Ersten Offizier, die ›Hurerei‹, wie er die Sache nannte, abzustellen. Erst 20
aber brauchte man Beweise. Diese erhielt man zwei Tage später. Informiert von seinem Stellvertreter, konnte Kapitän Durant Juliane Taylor nachts im Logis der Seeleute überraschen. Vor den Augen aller trieb sie es gerade mit dem jüngsten Leichtmatrosen, während schon einige andere, darunter auch der Dritte Offizier und der Steuermann, auf ihren Augenblick warteten. Daraufhin ergriff Kapitän Durant Maßnahmen von äußerster Schärfe. Das war in der letzten Septemberwoche. Von da ab nahm das Unheil seinen Lauf. * Die »Flying Dream« segelte querab der AmazonasMündung. Noch zweitausend Meilen bis Rio. Da es nicht möglich war, die ganze Besatzung einzukerkern, sperrte Kapitän Durant die Verursacherin, nämlich Mrs. Taylor, ein. Sie durfte ihre Kajüte nicht mehr verlassen. Zwei zuverlässige ältere Seeleute hielten abwechselnd Wache vor der Tür. Das ging achtundvierzig Stunden lang gut. Dann erhitzten sich die Gemüter der Matrosen erneut. Sie schlichen nach achtern, um die allzeit willige, unersättliche Mrs. Taylor zu befreien. Es kam zu einem Handgemenge mit den aufgestellten Posten. Der Offizier der Hundewache hörte es, eilte unter Deck und versuchte die Matrosen festzunehmen. Sie schlugen ihn nieder. 21
Von dem Lärm erwachte der Kapitän. Durant, ein Mann mit Überblick, erkannte sofort, an welches Pulverfaß er die Lunte legte, wenn er jetzt zu hart vorging. Er versuchte mit den Matrosen zu verhandeln. Einer von ihnen war offenbar betrunken. Er führte aufrührerische Reden, die Durant nicht hinnehmen konnte. Er wies den Matrosen zurecht, der nun wütend auf ihn eindrang. Durant wehrte seine Schläge ab. Andere Offiziere sprangen ihm bei. Inzwischen hatten sich nahezu alle Männer der Crew achtern versammelt. Die Seeleute waren den Offizieren schon von der Zahl her weit überlegen. Die meisten hatten Messer bei sich, Marlspieker oder Spillspieren. Die wenigen Besonnenen auf beiden Seiten drangen nicht durch. Nach einem erbitterten Kampf von halbstündiger Dauer hatten die Seeleute die Offiziere überwältigt. Man konnte es ansehen wie man wollte, aber die Tatsache der Meuterei war damit gegeben. Da sich die Matrosen aber nicht zutrauten, das Schiff zu navigieren, überredeten sie den Dritten Offizier und den Steuermann. Diese schlugen sich auf die Seite der Meuterer. Man hielt Rat und beschloß, den Kurs zu ändern. Die Meuterer beabsichtigten, den Amazonas soweit wie möglich aufwärts zu segeln und dort den Kapitän, die Offiziere sowie Pit Taylor an Land zu setzen. »Danach wird man weitersehen«, sagte der Steuermann. »Aber erst muß dieses Pack runter vom Schiff.« 22
»Danach segeln wir Kurs Kap Hoorn.« »In China verkaufen wir das Opium.« »Und in Indien den ganzen Kahn«, schlug der Zimmermann vor. »Mit dem Anteil, den jeder bekommt, kann er dort prassen bis an sein Ende.« So ungefähr sahen ihre Pläne aus. Mit der Härte und Zähigkeit britischer Seeleute gingen sie an die Durchführung. Bald begann das grüne Wasser des Meeres heller zu werden. Von Stunde zu Stunde verfärbte es sich lehmfarbiger. Am nächsten Morgen tauchte in der Ferne die Küste auf. Sie liefen in die Santa-Rosa-Bucht ein und nahmen den Nordkanal, eine Tiefwasserdurchfahrt zwischen mehreren Inseln und dem Festland. Im weiten Amazonasdelta segelnd erreichten sie mit günstigen Winden bald die Hafenstadt Macapa. Am Ufer strömten Menschen zusammen. Noch nie zuvor hatten sie ein so prachtvolles Schiff gesehen. Doch die »Flying Dream« ging nicht vor Anker. Zwei Tagereisen weiter westlich nahmen sie einen Lotsen auf, einen englisch radebrechenden portugiesischen Mischling, der behauptete, den Fluß bis hinauf nach Cocoal-Grande gut zu kennen. Am 4. Oktober streifte der Kiel der »Flying Dream« zum ersten Mal eine Sandbank. Es knirschte, als schneide ein Messer trockenen Schiffszwieback. Trotz größter Vorsicht, es wurde ständig gelotet, saß das Schiff am Abend erneut fest. Erst mit auflaufender Flut kam es wieder frei. Die mit Flußschiffahrt wenig erfahrene Besatzung 23
wollte nichts mehr riskieren. So beschloß man, zu ankern und den Kutter klarzumachen. Der Kutter wurde getakelt und verproviantiert. Der Kapitän, der Schiffsarzt, alle Offiziere bis auf den Dritten, Mister Taylor sowie der Bruder von Juliane Taylor wurden ausgebootet. Als Mrs. Taylor begriff, daß sie allein auf der »Flying Dream« zurückbleiben sollte, gebärdete sie sich auf eine Weise, daß man es ihr freistellte, ebenfalls das Schiff zu verlassen. »Was haben wir von einem Weib«, fragte der Segelmacher, »das nur aus Schreikrämpfen und Hysterie besteht.« Am 6. Oktober legte der Kutter mit neun gefesselten Passagieren an Bord ab und segelte langsam amazonasaufwärts in den Regenwald hinein. Die Geduld der Männer auf der »Flying Dream« wurde auf eine lange Probe gestellt. Endlich, nach drei Wochen tauchte der Kutter wieder auf. Die Besatzung erzählte unglaubliche Geschichten. Sie seien bis Manaus gekommen, berichteten sie, und noch weiter. Nachts hätten sie mit Mühe die Überfälle der Kopfjäger abgewendet. Dann sei man einen Nebenarm hinauf gesegelt bis tosende Wasserfälle die Weiterfahrt unmöglich machten. Dort hatten sie die neun Mann an Land gesetzt. Wenig später habe der Kapitän zusammen mit dem Schiffsarzt versucht, den Kutter in seine Hand zu bringen. Weshalb man beide habe erschießen müssen. Die Männer vom Kutter bekamen eine Extraportion 24
Rum und wurden belobigt. Die »Flying Dream« lichtete die Anker und nahm wieder Kurs auf See. * Da der Fünfmastklipper »Flying Dream« China niemals erreichte, mußte der Reeder James Hull annehmen, sein stolzes Schiff sei bei der Umrundung von Kap Hoorn gestrandet oder einem Taifun im Stillen Ozean zum Opfer gefallen. Viele Jahre später, als ein kranker Mann in London auftauchte, der behauptete, der Bruder von Juliane Taylor zu sein, erfuhr man die volle Wahrheit über die Ereignisse im Herbst 1863. Juliane Taylors Brüder erzählte, daß nach der Aussetzung am Rio Grande Eingeborene drei weitere Männer getötet hätten. Darunter auch seinen Schwager Pit. Die Überlebenden wurden als Gefangene festgehalten. Erst nachdem der Stammeshäuptling Juliane zu seiner Ehefrau gemacht und sie ihm mehrere Kinder geboren hatte, erleichterte das ihr Schicksal. Mit Hilfe eines Indianermädchens habe er schließlich in einem Einbaum fliehen können. Diese abenteuerliche Geschichte wurde um so mehr mit Zurückhaltung aufgenommen, als der Berichterstatter von Fieberanfällen geplagt wurde. Im regnerischen Londoner Herbst zog er sich bald darauf eine Lungenentzündung zu und starb. Die »Flying Dream«, der stolzeste Teeklipper aller Zeiten, wurde nie mehr auf den Weltmeeren gesichtet. 25
Keiner der vielen befragten Seglerkapitäne war ihm auf der Kap-Horn-Route oder in irgendeinem Hafen Asiens je begegnet. Schließlich kam in die Geschäftsbücher der JamesHull-Reederei der übliche Vermerk: »Flying Dream« in maris submersus. Schiff auf den Weltmeeren verschollen.
2. Der Anruf kam in einer Septembernacht dieses Jahres. Verschlafen nahm Berni Bridges ihn entgegen. »Was regst du dich auf«, sagte der Mann am anderen Drahtende, »bei uns scheint noch die Sonne.« »Ja, in Südamerika.« »Ich habe ihn soweit«, berichtete der Anrufer. »Er hat es kapiert und ausgespuckt.« »Das Kapieren war wohl das Schwierigste.« »Richtig. Das andere kam von selbst.« »Und wie geht es ihm?« Berni Bridges machte in seinem Pariser Appartement volles Licht. »Du weißt, ich hüte ihn wie mein eigenes Kind. Ich bewache ihn wie das einzige Junge eines Adlerhorstes.« »Das ist selbstverständlich«, erwiderte Berni Bridges, »aber wie geht es ihm?« »Seine Hustenanfälle mehren sich«, meldete der Mann aus Südamerika. »Er hat immer trockene Lippen, seine Haut wird zusehends fahler.« »Verwechselst du vielleicht fahl mit hell?« 26
»Das Braun verblaßt, weil ich ihn nicht aus dem Haus lasse. Aber seine Augen gefallen mir nicht. Immer dieses fiebrige Leuchten.« »Das ist seine innere Energie.« »Der Arzt meint, man müsse aufpassen. Bei Menschen solcher Herkunft besteht immer die Gefahr einer Lungentuberkulose.« »Er verträgt das Klima eben nicht. Er muß sich erst langsam daran gewöhnen.« »Will’s hoffen«, äußerte der Mann auf dem anderen Kontinent. »Nimm jetzt Bleistift und Papier zur Hand.« »Liegt bereit, Slim.« »Dann notiere folgende Zahlen!« Der Anrufer begann mit Italien. Er gab für Italien eine Zahlenkolonne durch, dann eine Sechsergruppe für Deutschland, für Frankreich, Spanien und England. Berni Bridges wiederholte. »Mal sehen, ob unsere Genie auch wirklich funktioniert.« »In vier Tagen wissen wir es.« »Dann steht entweder das Betriebskapital zur Verfügung, oder du kannst ihn im Zoo abgeben.« »Ja, das wird die Bewährungsprobe. Alles Bisherige war nur Spielerei.« Weil der Mann in Europa ungewöhnlich lange schwieg, fragte der aus Südamerika: »Noch ein Problem?« »Ich mache mich sofort auf die Beine. Binnen achtundvierzig Stunden absolviere ich Rom, München, Madrid und London. Am Freitag um achtzehn Uhr schlie27
ßen sie die Büros. Angenommen es klappt, dann war so etwas noch nie da.« »Natürlich ist das schon mal dagewesen«, scherzte der Mann in Rio, »bei den alten Ägyptern.« »Gab’s da denn Fußball?« »In keinem Land mehr als drei Placierungen«, wurde der Anrufer wieder sachlich. »Dann bis zum Montag!« Sie legten beide auf. Der Mann in Paris fand keinen Schlaf mehr. Er duschte, kleidete sich an und packte den kleinen Reisekoffer. Bevor er nach Le Bourget hinausfuhr, um das erste Flugzeug nach Rom zu nehmen, ging er Kaffee trinken. In der Straße, wo er wohnte, gab es ein Bistro. Dort bekam man für zwei Franc noch eine Tasse Kaffee. Nicht sehr groß, aber immer frisch gebrüht und stark. * Früher hatte er viel getrunken. Das Trinken hatte Bridges wegen der bedenklichen Leberwerte aufgegeben. Aber selbst nach einem Jahr wirkte er noch ein bißchen aufgeschwemmt. Mit seiner dunklen Haartolle und dem runden flächigen Gesicht sah er aus wie Elvis Presley, wenn er das fünfzigste Lebensjahr erreicht hätte. Im übrigen war er etwa so gebildet wie ein Landschullehrer und so zuverlässig wie ein Korporal der Armee mit zwölf Dienstjahren. 28
An diesem Mittwoch landete er gegen 11 Uhr in Rom, fuhr aus Gründen der Sparsamkeit mit dem Bus in die Innenstadt und betrat dort zwei Wettannahmestellen, wo er jeweils zwei gleichlautende Wettscheine ausfüllte. Die Kopien verwahrte er sorgfältig. Da er bis zum Abflug der Maschine nach Madrid noch Zeit hatte, machte er einen Spaziergang durch den Borghese-Park, trank ein Glas Wein und nahm dann wieder den Bus zum Aeroporto Leonardo da Vinci. Während er in dem ratternden schmutzigen Zubringer saß und auf die Sportwagen und teuren Limousinen blickte, die den Bus einkeilten, dachte er, daß er entweder bald zu den Reichen gehören würde… oder nie. Noch bestand die Gefahr, daß sie einem riesigen Schwindel aufsaßen und aufs falsche Pferd gesetzt hatten. Aber die Gefahr hereinzufallen war ziemlich gering. Zuviel sprach dafür, daß dieser Bursche wirklich ein einmaliges Genie war. Anders konnte man seine Fähigkeiten nicht nennen, als genial. Das Wort genial war fast noch zu gering. Außerirdische Begabung wäre die passende Bezeichnung dafür gewesen. Am späten Nachmittag in Madrid nahm Berni Bridges dieselben Erledigungen vor wie in Rom, nur auf Spanisch. Er füllte Wettscheine aus, bezahlte die Gebühr, verwahrte die Kontrollabschnitte und beeilte sich, daß er das Flugzeug nach Paris noch bekam. Am darauffolgenden Donnerstag war Bernie Bridges 29
kurz in London. Am Freitag änderte er seine Reisepläne insofern, als er nicht nach München flog. Das Wetter war zu schlecht und einige Flüge fielen aus. Also bestieg er seinen betagten Renault und fuhr in die erste größere Stadt jenseits der französischen Grenze. Um 15 Uhr füllte er in einer Lotto-Annahmestelle in Saarbrücken vier Scheine aus. Die Zahlen entnahm er seinem Notizblock. Sie stammten ebenso wie die anderen aus Südamerika und sollten am Wochenende mit derselben Sicherheit kommen wie die Spielergebnisse der angekreuzten Fußballvereine. Noch einmal verglich Bridges die Scheine, bezahlte die Gebühr und fuhr zurück nach Paris. Dort fing jetzt das Warten an. * Eines wußte Berni Brigdes: Wenn die Vorhersage wirklich zutraf, dann war er am Montag mindestens zehnfacher Millionär. In Schweizer Franken gerechnet. Das ergab rund fünf Millionen auf Dollarbasis. Daß einer im Nationalen Toto absahnte, kam immer wieder vor. Wenn aber ruchbar wurde, daß er seinen Fischzug über halb Europa ausgedehnt hatte, dann würde er die Presse am Hals haben. Davor mußte Bridges sich hüten. Sie würden ihn hetzen und darauf bestehen, daß er ihnen seinen Trick verriet. Durch ihr Geschreibsel würden sie den Staatsanwalt aufmerksam machen. Die Po30
lizei würde sich einschalten, alles würde überprüft werden. Zwar würde sich der Verdacht auf Betrug bald als haltlos erweisen, aber am Ende würde er eine bekannte Persönlichkeit sein und Mühe haben unterzutauchen. Deshalb hatte sich Bridges einen genauen Plan zurechtgelegt. In allen Ländern, wo seine Wetten liefen, hatte er kleine Konten angelegt. Auf diese Konten würde er die Gewinne einzahlen. Am Samstagabend, kaum waren die Ergebnisse bekannt geworden, brach er mit seinem Vorsatz, nichts mehr zu trinken. Als das deutsche Fernsehen die Lottozahlen durchgab, und er hundertprozentige Übereinstimmung feststellte, als er eine Londoner Nachtausgabe aufschlug und las, daß er alle Ziffern richtig getippt hatte, und als Anrufe nach Rom und Madrid dort dasselbe bestätigten, holte er eine Flasche Brandy aus dem Kühlschrank und ließ sich langsam vollaufen. Wie immer in der Nacht, rief Slim Canera aus Rio an. »Wie sieht es aus?« erkundigte er sich. »Viktoria! Sieg auf allen Fronten.« »Dann verrate bloß unseren Trick nicht.« »Bin ich ein Idiot? Wir werden leben wie Millionäre, im Süden, wo immer die Sonne scheint. Wir werden Champagner haben, dicke Zigarren und schöne Mädchen.« »Mit den paar lausigen Millionen?« fragte der Mann in Rio. »Jetzt geht es erst richtig los. Du bringst das Geld in Sicherheit. Dann weiter nach Plan.« 31
»Klar«, steckte Bridges zurück. »War auch nur ein Anfall von Übermut bei mir.« »Sei vorsichtig! Das Abkassieren ist die heiße Phase.« »Heiße Phase«, Bridges lallte schon ein wenig, »ich kenne dich doch, Partner. Wenn es nach dir geht, war das nur der erste Geigenstrich der Ouvertüre. Was macht unser Wunderknabe?« »Er spielte heute morgen mit einem dieser neuen farbigen Rubix-Kube-Spielwürfel. Erst wußte er nichts damit anzufangen. Dann verstellte ich die Farben, so weit es nur möglich war. Minutenschnell hatte er die Felder wieder einander zugeordnet. Und das unter zwanzig Millionen Möglichkeiten. Dann feuerte er den Würfel achtlos in die Ecke. Der Bursche wird mir unheimlich.« »Ich war mal Grundschullehrer in Dakota«, erklärte Bridges, »ich werde ihn schon der Zivilisation anpassen.« »Okay«, sagte der Mann in Rio. »Und tu mir einen Gefallen, mir, dir, uns dreien: Schütte den Rest aus der Flasche in den Gully.« »Wird gemacht«, versprach Bridges. Er nahm noch einen großen Schluck, dann stellte er die Brandyflasche in den Kühlschrank zurück. Am Morgen rief er den Flughafen an. »Ich möchte eine Maschine chartern«, sagte er. »Für wie lange und wohin?« »Rundflug Saarbrücken-Rom-Madrid-LondonParis.« 32
»Ich verbinde Sie mit der Continent-Air-Service.« Dort wurde ihm dieselbe Frage gestellt, allerdings mit dem Zusatz, ob er ein einmotoriges Flugzeug wünsche, mit oder ohne Piloten, oder einen mehrmotorigen Jet. »Jet«, entschied er, »mit Piloten.« »Stundenpreis eintausendneunhundert Franc, Monsieur.« »In der Luft oder auch am Boden?« »Pro Flugstunde, Monsieur. Bodenstunden errechnen sich gestaffelt zu den Flugstunden.« »Akzeptiert«, sagte Bridges im Ton eines Topmanagers der Wirtschaft. »Ich bitte um ein erstklassiges Flugzeug mit Spitzenpersonal.« »Wir haben nichts anderes, Monsieur. Wann wünschen Sie zu fliegen?« »Gegen zehn.« Die Vorauskasse wurde vereinbart. Ihre Höhe entsprach der Summe, über die Bridges gerade noch verfügte. Sie bildete seine eiserne Reserve. Unter normalen Umständen hätte sie für sechs Monate zum Leben gereicht. Dann bestellte Bridges noch für 09 Uhr vormittags ein Taxi an das Bistro, wo es den billigen Kaffee gab.
3. Seit zehn Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen. Manchmal, um Weihnachten herum, kam ein Anruf von 33
ihr, meistens nachts entweder aus einer Bar, aus einem Hotel oder einem Filmstudio. Sie rief ihn aus Hollywood an, aus Tokio oder auch aus London. Diesmal war ihr Anruf aus Salzburg erfolgt und nicht im Winter, sondern im Spätsommer. »Komm doch mal rüber, Bob«, hatte sie gesagt, »weiß gar nicht mehr wie du aussiehst und wie du dich anfühlst. Habe fast schon Sehnsucht nach dir.« Und weil Salzburg für einen Münchner praktisch vor der Haustür lag, hatten sie sich verabredet. Zufällig stand in Riem eine der BND-Maschinen unbenutzt herum. Urban hatte sich den Drachen geschnappt und schnürte nun längs der Autobahn nach Österreich hinüber. Bald wurde ihm die Betonnavigation zu idiotisch. Knüppel nach rechts, Seitenruder und Kurve nach Süden. Bei Prien schnitt er ein Stück Chiemsee ab und hielt auf Ruhpolding zu. Ein Fluß glitzerte in der Sonne. Er flog über die Bäume hinweg, die den Fluß säumten, dann hinüber zu den grünen Weidehügeln, die immer weiter aufsteigend sanft in Bergwald und Fels übergingen. Urban zog seine Einmotorige über die Tannen hinweg und ließ sie steigen. Die Sicht war so klar, daß man in der Ferne schon Salzburg liegen sah. Damit kündigte sich meist ein Wetterumschwung an. Der Umschwung kam auch, aber anders, als sich der BND-Agent mit der Codenummer 18 das vorgestellt hatte. Nahe der Grenze quäkte es plötzlich im Funk. 34
Irgendein starker Sender rief sein Kennzeichen. Das konnte nur die Wendelstein-Antenne sein. Wenn sie die einschalteten, bedeutete das meistens, daß die faule Pause zu Ende ging. Urban meldete sich. Der Anrufer faßte sich kurz. »Sofortige Rückkehr nach Riem dringend erforderlich!« Urban überlegte sich die Sache erst oberflächlich, dann gründlich. Was sollte er tun. – Gefühlsmäßig reagieren oder sachlich? Irgend etwas war passiert, das stand fest, sonst würden die ihn nicht suchen. Und wenn sie ihn ernsthaft suchten, dann fanden sie ihn auch. Ob in der Luft oder auf seiner Jagdhütte. Er schaltete auf Sendung. »Verstanden, Roger!« bestätigte er und brachte die Cessna auf Gegenkurs. Wie es aussah, würde die hübsche Marina warten müssen. Vielleicht noch einmal zehn Jahre. Aber der Teufel sollte den Boß holen, wenn der Fall nicht wichtiger war als die schönste Sache der Welt. * Das einzige, was Bob Urban auf seinem Schreibtisch im BND-Hauptquartier vorfand, war ein Schnellhefter. Inhalt etwa dreißig fotokopierte DIN-A4 Seiten, die offenbar aus einem Manuskript heraussortiert worden waren. Das Ganze hatte Tagebuchcharakter. 35
Urban klappte den Deckel zu, steckte sich eine MC an und sagte zu dem untersetzten Herrn, der gerade sein Büro betrat: »Und deswegen fangen Sie mich mitten im Flug ab?« »Ich werde nicht dulden«, entgegnete der Operationschef des BND, »daß hier herumgejammert wird.« Er versuchte Urbans Rückruf zu erklären, aber irgendwie spielte er nur die uralte Schallplatte ab. Der Fall sei wichtig und habe alles in sich, um brisant zu werden. Damit die richtige Entscheidung gefällt werden könne, müßten so viele Experten wie möglich damit befaßt werden. Die nötigen Maßnahmen seien rasch zu treffen, denn am Ende fehle immer eines, nämlich Zeit. Urban hörte sich alles in Ruhe an und fand es nicht sehr imponierend, sondern abgedroschen. Es waren immer die gleichen Worte. Kein Fußballtrainer der Bezirksliga hatte sich leisten können, seine elf Männer vor einem Spiel mit immer denselben Ermahnungen ins Stadion zu schicken. Das hätte sie längst nicht mehr motiviert. Während Oberst Sebastian dackelmäulig seinen Text abspulte, öffnete Urban wieder den Schnellhefter und entdeckte einen auf der Innenseite angehefteten Zettel. Auf dem Zettel stand, wer außer ihm noch solche Fotokopien erhalten hatte. Die besten Adressen der Bundesrepublik wie Außenministerium, Kanzleramt, Chef der Bundeswehr auf der Hardthöhe, Bundeskriminalamt und Bundesnachrichtendienst waren aufgeführt. Aus der Tatsache, daß sie am Ende noch den BND um Unterstützung baten, konnte man schließen, wie ratlos sie waren. 36
»Sind wir wieder einmal die letzte Instanz?« fragte Urban. »Lesen Sie und gehen Sie den Fall an wie ein Bergsteiger einen Achttausender«, knurrte der Alte. Urban nahm den Hefter und seinen Autoschlüssel. »Ich mache das zu Hause.« »Mir wäre lieber, wenn Sie es hier erledigten. In einer Stunde, sagen wir bis neunzehn Uhr, möchte ich Ihre Meinung hören. Aber dezidiert, bitte.« »Eine kurze, klare und entschiedene Meinung dauert etwas länger«, erwiderte Urban. Schimpfend ging der Alte. »Nur Faulpelze«, murmelte er, »Nichtstuer, Schlafmützen.« Wie alle fleißigen Leute, fühlte er sich unter Faulen aber am wohlsten. Ohne besondere Erwartungen begann Urban die Tagebuchaufzeichnungen zu lesen. Schon nach wenigen Sekunden wuchs seine Neugier. Ein ihm unbekannter U-Boot-Kommandant hatte sie verfaßt. * Hamburg, März 1945 U 836 nimmt bei Blohm & Voss die nötigen Überholungsarbeiten vor. Das Boot soll frontklar gemacht werden. Wir brauchen dringend eine neue Batterie. Die alte hat nur noch 65 Prozent ihrer Kapazität. Abgelehnt wegen Materialmangel. 37
Ich bestehe auf Überholung der Diesel-Hauptkupplungen. Sie sind schon elf Monate in Betrieb und beginnen zu schleifen. – Abgelehnt wegen Mangels an Zeit. Wir bekommen auch keine Turmpanzerung. Lediglich das Funkmeßgerät wird erneuert. Ich spreche mit dem Flottillenchef. Trotz der Mängel besteht er darauf, daß das Boot in den Einsatz geht. Jeden Tag Bombenangriffe auf Hamburg. Alarmsirenen, Jagdflugzeuge so tief, daß man die Motoren hören kann. Aus dem vernebelten Hafen laufen wir elbabwärts. Dänemark, Esbjerg. April 1945 Wir ergänzen Treibstoff. Bekommen nur achtzig Tonnen. 120 fassen die Tanks. Aber dafür gibt es Lebensmittel die Menge. Der Intendant im Depot gibt uns, was wir wollen, da es sonst nur den Engländern in die Hände fällt. Ganze Lastwagenladungen verschwinden im Inneren des Bootes. Hartwürste, Sahnekanister, Käse, Schmalzfässer, Schinken, Eier, Schokolade, Alkohol, Zigaretten, Hartbrot. Noch ein Lkw voll und noch einer. Selbst wenn das Boot zu schwer wird, wir nehmen, was wir kriegen können. Auslaufen Kurs England. Nordsee. Mai 1945 Der Minengürtel ist passiert. Marschbefehl bei Tag unter Wasser. Luftzufuhr für den Diesel durch Schnorchel. 38
Ständiger Druckwechsel zwischen 100 bis 300 Bar. Wenn eine Welle das Klappventil am Schnorchel zudruckt und der Diesel seine Luft aus dem Boot holt, dann schmerzen die Trommelfelle, und die Augen treten uns aus den Höhlen. Aber besser als von Flugzeugen überrascht zu werden ist es allemal. Sie benutzen jetzt Vollgeschosse gegen U-Boote, die in die Tiefe gehen. Die durchschlagen glatt ein Boot. So ein Treffer kann tödlich sein. U-Boot-Führung meldet Geleitzug. Wir kommen aber nicht heran. Nordsee. 5. Mai Boot getaucht. Über uns Brummen und Stampfen von Frachtermaschinen. Endlich haben wir den Geleitzug. Torpedos klar in den Rohren. Da geht ein Offiziersfunkspruch ein. Ich entschlüssele ihn. Deutschland hat kapituliert! Von nun an sind die Befehle der Alliierten auszuführen. Ich breche Angriff auf Geleitzug ab. Wir sollen sofort auftauchen und Standort an die Alliierten melden. Beratung im Boot. Die einen wollen so schnell wie möglich nach Hause, die anderen ziehen Südamerika vor. Abstimmung. Wir bringen das Boot nach Argentinien. Die 14 Mann, die sich anders entschieden haben, werden abgesetzt.
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Biskaya. Ende Mai. Wir setzten die Aussteiger an Spaniens Küste ab. Die Nacht ist schon kurz und warm. Boot läuft auf Land zu. Abschiedsfest mit Alkohol. Wir singen ein paar Lieder. Die Schlauchboote gehen zu Wasser. Die Kameraden rudern weg. Sie wollen versuchen, über San Sebastian so rasch wie möglich die Heimat zu erreichen. Als Zeichen, daß sie gut gelandet sind, entzünden sie am Strand ein Feuer. Das Boot dreht und nimmt Kurs Azoren. Alliierte Luftüberwachung zwingt uns zum Tauchen. Atlantik. Juni 1945 Sechsundzwanzig Tage unter Wasser. Schnorchelfahrt. Sparsam mit einem Diesel. Man darf uns nicht entdekken. Wenn man uns findet, kreist man uns ein. Dann unternimmt man alles, um uns zu kriegen. Ein deutsches U-Boot nach der Kapitulation auf Kurs Südatlantik, da liegt der Verdacht nahe, daß es eine wichtige Persönlichkeit an Bord hat oder vielleicht eine von den neuen Todesstrahlenwaffen. Im Boot wird es allmählich unerträglich. Dunstwasser rinnt von den Wänden, Schimmelbildung überall. Kein trockener Faden mehr am Leibe. Krätze an der Haut und unter den Bärten. Wir sehen aus wie wachsgelbe Lemuren. Stimmung entsprechend niedrig. Kleine Meutereien. Kann ich überhaupt noch Befehle erteilen? – Keine Sonne, keine frische Luft und die Kälte im Boot. 40
Abfälle sammeln sich. Maden bilden sich. Das Boot beginnt zu verfaulen. Atlantik. Juli 1945 Für uns gibt es weder Tag noch Nacht. Fünfundfünfzig Tage jetzt pausenlos unter Wasser. Das muß Weltrekord sein. Wir sind nur noch Gespenster, die automatisch ihre Arbeit verrichten. Sehrohrtiefe. Überall stößt man noch auf Schiffe. Ein Diesel fällt aus. Kupplung total im Eimer. Notreparatur mit Bordmitteln. Nachts sehen wir im Periskop Blendlichter an Flugzeugfallschirmen. Die suchen uns immer noch. Da vergeht einem der letzte Humor. Sie haben uns geortet. Wasserbomben. Wir sinken auf Maximal tiefe. Stunden vergehen. Hält das Boot das noch aus? Endlich haben wir sie abgeschüttelt. Hochstimmung hält aber nur kurz an. Der Maschinist ist erkrankt. Riesiger Furunkel. Muß geschnitten werden. Blutvergiftung. Der wichtigste Mann an Bord stirbt. Äquator. August 1945 Neun Wochen unter Wasser. Jetzt müssen wir hoch. Die Leiche muß von Bord. Wir wagen es, geben dem Toten ein ordentliches Seemannsbegräbnis. Lüften das Boot durch, versuchen es auszutrocknen. Die Nächte sind warm. Der Gesundheitszustand der Männer wird besser. Auch die Stimmung. Reinschiff. Abfall von Bord. Schimmel von den Wänden kratzen. Mit Farbe überma41
len, was rostig ist. Fast alles ist rostig. Tagelang kein Schiff zu sehen. Die Kimm ist frei. Wir laufen weit abseits der Dampferroute. Trotzdem halten wir uns tauchklar für den Fall, daß ein Flugzeug auftaucht. Ende August. 1945 Wir fahren unter dem Kreuz des Südens. Das Boot ist wieder in Ordnung und sauber. Die fahlen Gesichter der Männer runden sich. Wir wollen den Argentiniern nicht wie Meerstreicher entgegentreten und ihnen einen vergammelten Pott übergeben. In Küstennähe tagsüber Tauchfahrt. Sprit wird knapp. Wir fahren mit einem Diesel und 75 Umdrehungen. Noch 1500 Seemeilen, aber nur noch 12 Tonnen Kraftstoff. Notfalls müssen wir segeln. In der Nacht zieht nahe an uns ein großer weißer Passagierdampfer vorüber. Wir sehen die Lichter an Bord. Männer im Smoking, Frauen in Abendkleidern, hören die Tanzkapelle. – Minuten später Alarm. Etwas rast auf uns zu. U-Boot-Jäger. Amazonasmündung. September 1945 Mit dem abgekämpften Boot, das nur noch die Hälfte seiner Leistung bringt, ist gegen einen Zerstörer wenig auszurichten. Wir haben noch alle Torpedos an Bord. Mit einem Fächer könnten wir ihn auf Grund jagen. Aber das würde uns in Buones Aires wohl an den Galgen bringen. Wir schlagen Haken, nützen unsere Fähig42
keit aus, in der dritten Dimension zu operieren, wir gehen auf Tiefe, stellen die Maschinen ab. Und entkommen ihm. Aber nach diesen Tagen wissen wir, daß Argentinien nicht erreichbar ist. Draußen an der Amazonasmündung stehen sie jetzt und warten auf uns. Klar, daß der Zerstörer andere Schiffe zu Hilfe ruft. Wir haben nur eine Wahl: Flucht flußaufwärts und dann ins Landesinnere. Amazonas. September 1945 Ohne Karten und Handbücher werden wir solange flußaufwärts laufen, bis unser Kiel endgültig auf Grund festliegt. Die Städte an den Ufern passieren wir nachts. Belem, Portel und andere. Wir haben das Delta hinter uns und fahren durch den sogenannten Südkanal. Noch ist der Fluß meilenbreit. An den Ufern undurchdringliches Grün des Dschungels. Kurz vor Manaus frißt sich der Bug in einer Sandbank fest. Kommen nur frei, indem wir Preßluft durch die unteren Tauchtanköffnungen blasen und dreimal äußerste Kraft zurückgehen. Das demoliert unsere Dieselkupplung endgültig. Stimmung an Bord gleich Null. Wenn ich jetzt die Männer frage, dann erhalte ich nur eine Antwort: Aufgeben! Endlich an Land gehen. Wieder ein Mensch sein.
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Amazonas. September 1945 Ende der Reise. Kein Treibstoff mehr. Bringen Boot mit letzter Schraubendrehung in einen Nebenfluß ohne Namen. Setzen es in Ufernähe auf Grund. Bald wird es der Urwald überwuchern. Proviant ist noch für Monate an Bord. Abwarten. Eines Nachts steht plötzlich ein kleiner schwarzhaariger Mann mit bemaltem Gesicht an Bord. Kopfjäger sehen so aus. Ein friedliches Kerlchen. Aber am Morgen sind es schon Hunderte. Und die sind weniger friedlich. Ich lasse die Flakkanone besetzen. Wir feuern Warnschüsse in die Luft. Sie ziehen sich zurück. Der I.WO. behauptet, unter den Indianern sei einer mit deutlich heller Haut gewesen. Ich stelle einen Freiwilligentrupp zusammen, der an Land gehen und Kontakt aufnehmen soll. Wir nehmen Geschenke mit. Aber soweit wir uns auch durch den Dschungel schlagen, wir können weder die Wilden noch eines ihrer Dörfer finden. Nach einer Woche kehren wir an Bord zurück. Auf dem Boot Totenstille. Niemand winkt uns zu. Was ist los? Eine Katastrophe, das Schlimmste, was meine Augen je sahen. Die ganze Besatzung, 24 Mann tot, hingeschlachtet. Köpfe abgeschnitten. Leiber geöffnet. Eingeweide herausgerissen. Der Herr im Himmel sei uns gnädig.
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Damit endete der Tagebuchauszug des Kapitänleutnants Herrwege. Urban legte die Blätter säuberlich aufeinander und schloß den Hefterdeckel. Bis jetzt mochte das eine durchaus dramatische Geschichte sein, aber nicht dramatischer als die anderer deutscher U-Boote, die nach der Kapitulation nach Südamerika oder Südostasien geflüchtet waren. Was sollte er damit anfangen? Wo saß der Haken dabei? Selbst wenn er das Manuskript noch dreimal und von hinten nach vorne las, er würde darin keine Problemstellung entdecken. Punkt neunzehn Uhr stiefelte Oberst Sebastian herein. »Nun?« schnarrte er. »Was wollen Sie hören?« »Sie sind doch kein Anfänger, oder?« Urban mußte sich wirklich anstrengen, um aus dieser U-Boot-Geschichte eine Konsequenz für die Gegenwart abzuleiten. Denn darauf lief es wohl hinaus. »Das alles war vor fünfunddreißig Jahren. Wie gelangte das Material zu uns?« »Über die deutsche Botschaft in Rio.« »Und woher hat sie es? Wurde es eingesandt?« Der Ausdruck von Grimm in Sebastians Gesicht wurde noch grimmiger. »Eingesandt ist gut. Der brasilianische Staatspräsident zitierte den deutschen Botschafter zu sich und übergab ihm das Material. Unter Protest, versteht sich.« »Protest wogegen? Daß seine Landeskinder deutsche Soldaten meuchelten?« 45
»Das nicht, sondern daß ein deutsches Kriegsschiff brasilianisches Territorium verletzte.« Urban mußte sich beherrschen, um nicht aufzulachen. Ein Protest wegen einer Sache, die vor so langer Zeit unter so außergewöhnlichen Umständen passierte, das war fast ein Witz. »Das Boot ist längst verrottet, vom Urwald überwuchert, nicht mehr auffindbar.« »Die Brasilianer bezweifeln das.« Mit einem Mal wurde Urban nachdenklich. Sollten sich diese uralten Gerüchte noch immer in ihren Gehirnen festgefressen haben, wonach ein U-Boot Adolf Hitler aus Deutschland herausgebracht habe, oder das andere Gerücht, daß sich gefährliche Waffen auf den flüchtenden Booten befunden hätten? Todesstrahlenwaffen. Heute nannte man sie einfach Laser. »Ist das Material überhaupt ernst zu nehmen?« wollte Urban wissen. »Ach, Sie meinen, ein cleverer Schreiber habe sich die Geschichte aus den Fingern gesaugt. – Da muß ich Sie leider beunruhigen. Die Angaben wurden von BKA und Marine überprüft. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie zutreffen, ist sehr hoch.« Urban steckte sich eine MC an, blies den Rauch gegen die Decke und blickte den Schwaden hinterher. »Und wie lautet die Aufgabenstellung?« Der Alte holte tief Luft. »Die brasilianische Regierung fordert Herstellung des Urzustandes. In diesem Fall also die Beseitigung des Wracks.« 46
»Ein Sprengkommando erledigt das mit links.« »Eine Sprengung ist ausdrücklich verboten. Man befürchtet Freiwerden von Giftstoffen. Seitdem amerikanische Holzkonzerne das halbe Amazonasgebiet zur Steppe machten, ist man in diesem Punkt äußerst vorsichtig. Man möchte jedes Umweltrisiko vermeiden.« Urban verstand. »Dann muß das Boot eben aus dem Urwald herausgesagt und abgeschleppt werden. Was ist dabei? Dafür gibt es Bergungsunternehmen. Das kostet weniger als ein Leopard II oder die linke Tragflächenhälfte eines Tornado.« »Angesichts der Kassenlage des Bundes ist jede überflüssig ausgegebene Mark zuviel.« »Bin ich Sparkommissar?« »Als Allround-Experte können Sie helfen, daß man unnötige Kosten vermeidet«, erklärte der Alte. »Ich ersuche dringend darum, dieses Tagebuchmaterial noch einmal auf seine Stichhaltigkeit zu überprüfen. Ist das erfolgt, erwartet der Präsident Vorschläge, wie der Wunsch der Brasilianer auf schnellstem Weg erfüllt werden kann. Unser Verhältnis zu Brasilien darf keine Trübung erfahren.« »Ich weiß, wegen des Atommeiler-Geschäftes«, flocht Urban ein. »Schön, ich kümmere mich darum. Aber das erfordert Zeit.« Daraufhin ließ der Alte wieder einen seiner umwerfenden Sprüche los, die einen zum Weinen brachten. »Ich mag alt sein«, sagte er, »ich mag nicht einer der Schnellsten sein, ich mag dumm sein, ich mag taub sein, 47
ich mag von gestern sein, aber das alles beeinflußt nicht meine Auffassung, daß diese Sache in maximal achtundvierzig Stunden abgeklärt werden kann.« Sie mögen es nicht nur sein, dachte Urban, sie sind es wirklich, Großmeister. Diszipliniert, wie man es von ihm erwartete, machte er sich ans Werk. Nur an den vor ihm liegenden Berg Arbeit konnte er nicht denken, ohne zu husten…
4. In Saarbrücken hatte Berni Bridges kaum Probleme mit dem Lottogewinn. Er zeigte seine Kontrollabschnitte vor und nannte das Konto, auf das er den Betrag überwiesen haben wollte. Man wünschte ihm Glück, und er konnte seine Reise fortsetzen. In Rom dauerte die Abwicklung länger. Erst für Mittwoch bekam er einen Termin bei der Staatlichen Lotterieverwaltung. Also flog er nach Madrid. Dort war mittlerweile bekannt geworden, daß der Hauptgewinn viermal auf ein und denselben Wetter fiel. Die Presse veranstaltete einen riesigen Rummel. Überall lagen Reporter auf der Lauer. Für diesen Fall hatte Bridges bereits einen Notplan entwickelt. Er ließ sich zu einem Madrider Notar fahren, legte ihm seine Situation dar und überließ dem Notar alles weitere, wie Vorlage der Kontrollabschnitte und Durchführung der Überweisung auf Bridges Bankkonten. Ein Vertrag wurde aufgesetzt, Vollmachten 48
wurden ausgefertigt. Für seine Bemühungen sollte der Notar ein Prozent der Gewinnsumme erhalten. Zurückgekehrt nach Rom, konnte Bridges seinen Anspruch auf die Ausschüttung dieser Woche mühelos geltend machen, Es war aber üblich, die Summe in bar auszuzahlen. Also rief Bridges die Banca-Mediterranea an, wo er ein Konto unterhielt, und ließ einen Kassierer kommen, der die Beträge in Empfang nahm. Wenig später tauschte er am Schalter der Bank zehn Millionen Lire gegen Dollar ein. Auf die Frage des Direktors, was mit den restlichen neunhundertneunzig Millionen zu geschehen habe, sagte Bridges: »Legen Sie sie gut an. Ich werde im Laufe des Winters darüber verfügen.« »Für Anlagen gibt es zwei Möglichkeiten«, erklärte der Direttore, »normale Verzinsung auf Sparkonto, oder längerfristige Anlage in tresore.« »Wie hoch ist dort die Verzinsung?« »Im ersten Falle vierzehn Prozent, im anderen einundzwanzig Prozent.« Bridges zog die kurzfristige Anlage vor. »Da geht Ihnen aber eine Menge Geld verloren«, sagte der Bankmanager. »Betrachten Sie es als Beitrag zur Entwicklungshilfe Süditaliens«, erwiderte Bridges lächelnd und raste mit dem Taxi zum Flugplatz. Am Abend in London verlief die Abwicklung wieder britisch kühl. Anhand des Passes bewies Bridges seine Identität, bekam den Scheck und bestätigte per Unterschrift den Empfang. Keine Fragen, keine guten 49
Wünsche, keine überflüssigen Ratschlage, keine Presse. Er hob die Summe sofort ab und zahlte sie in bar bei der City-Bank ein. Am Donnerstag war er wieder in Paris. * Auf Grund ihres neuen Reichtums konnten die Partner sich jetzt längere Transatlantik-Gespräche leisten. »Ist die Beute in Sicherheit?« fragte der Mann in Rio. »Beute ist immer das Ergebnis eines Raubzuges«, erwiderte Bridges. »Selten gab es legalere Wettgewinne als die unseren.« »Inwiefern legaler?« »Gewöhnlich entstehen Wettgewinne durch Zufall. Man errät, vielmehr tippt man mit Glück die richtigen Zahlen. Berechnung ist es nie. Man kann so etwas nicht berechnen. Wir kannten die Ergebnisse aber vorher und setzten sie nur ein. Was ist nun legaler? Der Umgang mit Tatsachen oder das Warten auf ein Augenblinzeln der Glücksgöttin?« Canera ging nicht näher darauf ein. Er hatte wenig übrig für derartig tiefschürfende Auslegungen. Seine Lebensphilosophie sah anders aus. Sie beschränkte sich auf Realitäten. »Hast du an mich überwiesen?« »Hunderttausend Dollar wie vereinbart.« »Okay, das genügt für den Ortswechsel.« »Wie macht sich unser Freund?« »Nun, er ist gelehrig. Wie er in wenigen Wochen unsere Sprache perfekt lernte, so lernt er Lesen, Schreiben 50
und Rechnen. Er liest alle erreichbaren Zeitungen. In der großen Encyclopaedia Britannica ist er jetzt bei Band vier Buchstabe D-F angelangt. Ich glaube er behält jedes Wort von dem, was er liest. In einem Monat haben wir einen Super-Einstein an ihm.« »Es genügt, wenn er das behält, was er uns allen voraus hat«, sagte Bridges. »Zuviel Wissen, zuviel Bildung weckt vielleicht den Wunsch nach Freiheit. Hat er sich erst einmal in die Zivilisation integriert, kann er nur seine Fähigkeiten einbüßen.« »Niemals«, erwiderte der Mann in Rio, »denn er hat sie von der Natur. Oder wurdest du dein Gehör verlieren, wenn du ständig Jazzmusik hörst?« »Bei Jazz vielleicht schon«, scherzte Bridges, »bei Klassik weniger. – Was gibt unser Wunderkind so von sich?« »Im Moment fesseln ihn die weltwirtschaftlichen Probleme.« »Was soll man kaufen? Zucker oder Zinn?« »Er rät uns, in den Dollar einzusteigen.« »Der Dollar ist schwach.« »Du hast mich gefragt, was er von sich gibt» und ich habe es dir gesagt.« »Was versteht er von Dollars.?« »Vielleicht mehr als du und ich zusammen.« Wieder einmal wurde Bridges nachdenklich. »Wird Zeit, daß ich mich seiner annehme. Gefällt mir nicht, daß er so rasch aus dem Ruder läuft.« »Dann beeile dich. Hast du schon Objekte besichtigt?« 51
»Ein Landgut in der Normandie. Es war nicht optimal.« Canera wollte wissen, was sein Partner darunter verstand. »Zu elegant das alles. Es erfordert zuviel Personal, zu viele Leute aber haben zu viele Augen und Ohren.« »Ganz ohne Personal wird es niemals gehen.« »Aber diese Berufslakaien sind mir zu neugierig. Ich suche weiter.« »Wie wär’s mit dem Süden?« »Zu trocken für ihn. Er ist in schwülfeuchtem Klima aufgewachsen.« »Dann sollten wir ins Rhônetal gehen.« »Oder ins Ohio-Tal.« »Dachte, wir waren uns darüber einig, daß die USA nicht in Fragen kommen. Erstens stehen wir beide im FBI-Computer, zweitens soll man sich nie dort aufhalten, wohin man sein Hauptoperationsgebiet zu verlegen gedenkt.« »Ich suche weiter«, versprach Bridges. »Ich tu nichts anderes, als uns eine Festung zu besorgen.« »Den Horst für den jungen Adler.« »Ja, den Adlerhorst«, bestätigte Bridges, »Ich wollte keine Witze machen«, entgegnete Canera. »Das Land ringsum muß entweder flach sein, oder das Haus muß sehr hoch liegen.« »Wie eine Burg. Ich habe verstanden.« »Du weißt warum.« »Ich kenne deine Theorie«, äußerte Bridges, »aber ich bin nicht bereit, sie völlig zu übernehmen.« 52
»Auch nicht nach dem überwältigenden Ergebnis am Wochenende?« »Es gibt das sogenannte Anfängerglück.« »Du bist unbelehrbar, Berni.« »Nur skeptisch«, erwiderte Canares Partner in Paris, »denn zwei Enthusiasten können wir uns bei diesem Job nicht leisten. Nicht bei dem, was wir vorhaben. Einer muß auf dem Boden der Tatsachen bleiben.« »Laß dich überraschen.« »Gerne«, sagte Bridges. »Für wann bereitest du die Überführung vor?« »Die nötigen Maßnahmen sind abgeschlossen«, berichtete Canara. »Der Container steht bereit. Er ist eingerichtet wie sein Zimmer, versehen mit Sauerstoff Versorgung, Druckanlage, Wassertank, Batterien für Licht und einem Kloakenbehälter. Der Container wird an das Haus herangefahren. Unser Freund wird gar nicht merken, daß es nicht mehr sein bisheriger Wohnraum ist. Das Charterflugzeug kann uns binnen vierundzwanzig Stunden an jeden Punkt der Erde bringen. Ich muß das alles nur noch bezahlen.« »Die Überweisung muß morgen in Rio sein«, erwähnte Bridges noch. »Bis bald!« Bridges wußte, daß die andere Hälfte der Aufgabe bei Canera in guten Händen lag. Sie kannten sich lange genug. Sie waren sich zum ersten Mal in Afrika begegnet, wohin sie der Weg als Ausbilder der USEntwicklungshilfe geführt hatte. In Afrika war leider nicht zu holen gewesen, was man das große Geld nannte. 53
Später im brasilianischen Norden zwar auch nicht, aber beim Umgang mit den Indianern im Amazonasgebiet hatten sie merkwürdige Dinge gehört. Sie waren der Geschichte auf den Grund gegangen und eines Tages fündig geworden. Sie hatten Tayloro entdeckt. Wenn sie klug damit umgingen, war es, als hätten sie Eldorado, die sagenhafte goldene Stadt der Inkas, ausgegraben. Vielleicht war das zu bescheiden. Was sie in Händen hatten, kam zehn goldenen Städten der Inkas gleich. Berni Bridges wälzte weiter die Kataloge der Immobilienmakler. Das Angebot war vielfältig. Mit Geld konnte man heutzutage alles kaufen. Aber je umfangreicher das Angebot, desto schwerer war es, das wirklich günstigste Objekt herauszufinden. * In einer Woche brachte Berni Bridges Strecken hinter sich wie sonst in einem halben Jahr. Mit seinem neuen CX fuhr er täglich bis zu 1500 Kilometer quer durch Frankreich. Von der Picardie im Norden bis ins Languedoc im tiefsten Süden, von Landgut zu Weingut, vom Waldgut zu Jagdrevieren im Gebirge mit den dazugehörigen Schlössern hetzte er. Keines der Objekte erreichte die geforderte Punktzahl auf der von ihm erstellten Solliste. Das eine Objekt lag zu weit entfernt von vernünftigen Straßen, Eisenbahnen oder Flugplätzen. Man 54
brauchte ein Geländefahrzeug, um bei jedem Wetter zu jeder Jahreszeit mit Sicherheit hinzukommen. Ein anderes Objekt wiederum wäre, was die Erreichbarkeit betraf, perfekt zu nennen gewesen, aber es lag in einem Tal rings von Bergen und Hügelland umgeben. Nahe der Côte d’Azur fand Bridges schließlich ein Landhaus mit großem Park und arrondierten Obst- und Weingärten. Das Haus war groß genug, in gutem baulichen Zustand und lag auf der Kuppe eines Hügels. Nach Süden, Osten und Westen hin hatte man freien Blick bis zum Meer. Im Norden ragten allerdings die Seealpen bis auf dreitausend Meter Höhe auf. Über die Rivieraautobahn und ausgebaute Nebenstraßen gelangte man auch im Winter bequem dorthin. Von Marseille oder Genua aus in jeweils zwei Stunden, von Monaco aus in einer halben. Der Flugplatz Nizza lag vor der Nase. Absprunghäfen für einen Trip auf See gab es überall. Bridges schilderte alles seinem Partner und endete mit der Feststellung: »Die Villa ist absolut ideal.« »Aber? Das Ganze hat doch einen Haken, oder?« »Preis: zwei Millionen Franc.« »Das sind eine halbe Million Dollar.« »Dann müssen wir eben das Lotto-Spiel wiederholen.« »Wir werden ein anderes Spiel spielen«, erklärte Canera, »unser Supergehirn beginnt nämlich zu funktionieren. Okay, du hast das Haus, versuche es mit einer Anzahlung zu kriegen. Rest in zwei Monaten.« 55
»Warum? Wir haben doch genug Bares.« »Wir brauchen es in diesem Monat noch. Je mehr an Ultimo auf dem Konto liegt, desto besser. Und noch eines, Berni, wir müssen Dollars kaufen. So günstig und zu Mengen, wie du sie nur kriegen kannst.« »Hat er eine Idee ausgespuckt?« fragte Bridges. »Die sicherste, die du dir vorstellen kannst.« »Und du glaubst daran?« »Wie an die Trefferzahlen vorletzte Woche.« »Ich sage dem Verkäufer sofort zu«, erklärte Bridges, »dann marschieren wir diese Woche noch zum Notar.« »Sobald du eingezogen bist, geht der Container ab«, bestätigte Slim Canera. »Unser Freund bekommt ein leichtes Schlafmittel. Er reagiert darauf wie ein Kanarienvogel. Kein Wunder, er kam ja nie mit diesen Zivilisationsgiften in Berührung.« »Ich organisiere den Transport vom Flugplatz zum Haus.« Sie legten letzte Einzelheiten fest. Wer ihr Gespräch belauschte, mußte annehmen, bei dem Transport handle es sich um eine äußerst wertvolle indianische Skulptur, oder um die Mumie einer Dschungelkönigin und nicht um ein lebendes Individuum, um einen Menschen, wenn auch von besonderer Herkunft und mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.
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5. Die Regenwolken hingen tief. Was sich zwischen dem Betonband der Nürnberger Autobahn und dem Himmel befand, war im wesentlichen Wasser mit etwas Luft. Die Autos zogen schmutzige Gischtfahnen hinter sich her. Trotz der Aquaplaning-Gefahr verringerte ein dunkelblauer Mercedes 280-S seine Geschwindigkeit kaum. Von München bis Ingolstadt hielt er meist die Überholspur besetzt. Im veloursgepolsterten Fond saßen zwei Männer. Ein dicklicher Graukopf um die Sechzig und ein schlanker, athletisch gebauter Einsachtzig-Mann mit sonnengebräuntem Gesicht, grauen Augen, dichtem braunen Haar und einem Lächeln um den Mund, als fände er alles auf Erden wunderbar. Der eine rauchte Virginia, der andere Filterzigaretten mit einem Goldmundstück. »Und was passiert«, fragte der Ältere, den Sitz seines Monokels im Auge korrigierend, »wenn Sie sich irrten, Achtzehn?« »18« war die Dienstnummer des BND-Agenten Bob Urban. Wenn der Operationschef besonders konventionell sein wollte, sprach er ihn mit dieser Nummer an. Urban holte einen tiefen Zug aus der würzigen MC. »Ich ging der Sache, wie man so schön sagt, nach den Regeln der Kunst nach. Zuerst überprüfte ich die Herkunft des Tagebuchmanuskriptes. Es stammt aus der Hinterlassenschaft des Autors, des Ex57
Kommandanten von U-836, Kapitänleutnant Herrwege.« »Der Name stimmt?« »Er wird im Kriegsmarinearchiv des Wehrmachthauptarchivs in Berlin als letzter Kommandant von U836 geführt.« »Und wie kamen die Brasilianer an dieses Material?« »Nachdem sich Herrwege mit einer Handvoll Männer aus dem Amazonasdschungel gerettet hatte, wurde er natürlich erst einmal festgenommen. Das war 1946. Er kam in amerikanische Gefangenschaft. Es gab Verhöre, jahrelang kann man sagen. Da ihm aber nicht nachzuweisen war, daß er Adolf Hitler zur Flucht in die Antarktis verholfen haben könnte, wurde er freigelassen. In das hungernde und frierende Deutschland heimzukehren, verspürte er wenig Lust. Also ging er nach Brasilien zurück und baute dort ein Transportunternehmen auf. Er heiratete ein Mädchen aus der Oberschicht des Landes. Seine Frau starb früh. Die Ehe war kinderlos. Vor ein paar Jahren verkaufte er seine Unternehmen, zog sich auf seine Rinderfarm zurück und kam im letzten Herbst bei einem Unfall ums Leben. Man stellte Recherchen an, aber kein erbberechtigter Verwandter meldete sich. So verfiel sein Vermögen dem Staat. Der mit der Abwicklung beauftragte Regierungsbeamte fand in Herrweges Papieren das U-BootTagebuch. Es wurde übersetzt, gelesen und geriet in die falschen Hände, offenbar in die eines Beamten, der sich profilieren wollte. Er spielte die Sache hoch. Nun be58
steht die Regierung darauf, daß wir den Schrott beseitigen.« »Das alte U-Boot, das sie für ein Giftschiff halten.« »Der Umweltschutz artet drüben zu derselben Hysterie aus wie bei uns.« »Und der Lageort war einkreisbar?« »Ungefähr.« »Was heißt ungefähr?« »Bis auf dreißig Meilen genau.« Der Alte reagierte unwirsch. »Und das nennen Sie Vorarbeit nach den Regeln der Kunst?« Urban drückte die Kippe im Ascher tot und schlug die Beine übereinander. Im Fond des Wagens war genug Platz dafür. »Ich bot mich an, an den Amazonas zu fliegen. Es wurde abgelehnt. Aus Kostengründen.« Daraufhin grinste der Alte spitzbübisch. »Um ehrlich zu sein, ich habe daran gedreht. Kosten spielten in diesem Fall natürlich keine Rolle, aber die reine Bergungsaktion ist nun wirklich nicht unser Bier. Das überlassen wir den Pionieren und der Marine. Sie sind mir zu kostbar, Urban, als daß ich Sie mit der Machete in den Busch schicken würde, um ein paar Tonnen rostiges Eisen von Schlingpflanzen zu befreien.« »Es gibt Motorsägen«, wandte Urban ein. »Widersprechen Sie mir nicht ständig«, brauste Sebastian auf. »Einen Spitzenchirurgen ruft man auch nicht zum Furunkelschneiden, oder?« »Kommt darauf an, wo der Furunkel sitzt.« 59
Der Alte blickte hinaus in die graue regennasse Hügellandschaft. Über den Wiesen hingen Dunstfetzen. Kühe standen frierend herum. Der Fahrer bremste wegen eines ausscherenden Tankzuges scharf an und beschleunigte dann wieder voll. »Also, wie ist das nun mit dem Lageort?« fing der Alte wieder an. »Ich bin sicher, daß die Angaben stimmen. Herrwege war Seeoffizier und wird schon wissen, wo sein Boot auf Schlick ging.« »Kann man mit einem U-Boot denn so tief in den Dschungel gelangen?« »Der Amazonas ist sehr weit landeinwärts schiffbar. Als einziger großer Strom des Amazonasbeckens bereitet nur der Xingu dem Verkehr zu Wasser größere Hindernisse. Fälle und Stromschnellen machen ihn ab der Hälfte seines Laufes unpassierbar.« Der Alte war noch immer nicht befriedigt. Schließlich kostete dieses Unternehmen einige Millionen DMark aus Steuergeldern und fußte auf den Ermittlungen des Auslandsgeheimdienstes der Bundesrepublik. »Haben Sie eine Ahnung von der Unendlichkeit des Dschungels, den man dort die grüne Hölle nennt?« »Ich war schon ein paarmal da«, antwortete Urban. »Wenn auch in einer anderen Sache.« Der Alte schien sich zu erinnern. »Stimmt es, daß man stundenlang fliegen kann und nichts anderes sieht als Bäume, Regenwalddickicht rundherum bis zum Horizont?« »Ja, es gibt Distrikte, da ist es heute noch so.« 60
»Und dort sollen wir dieses Wrack finden?« Urban antwortete ebenfalls mit einer Frage: »Haben Sie eine Vorstellung, Chef«, erwiderte er, »von der hohen Wirksamkeit von Magnetsuchgeräten? Sie werden vom Hubschrauber aus bis in Gipfelhöhe der Bäume herabgelassen und registrieren jedes alte Fahrrad, das im Urwald zurückgelassen wurde.« »Auch jede Konservenbüchse?« »Ein U-Boot ist eine ziemlich große Büchse.« »Schön, wollen wir Vertrauen in die moderne Technik setzen, sowie in das Können und die Einsatzbereitschaft dieser Expedition.« Wenig später verließ der BND-Mercedes die Autobahnausfahrt Manching und rollte weiter in Richtung Luftwaffen-Erprobungsstelle. * Der schwere Transall-Transporter war so gut wie startklar. Triefend vor Nässe stand er auf dem Rollfeld, grau in grau wie ein überdimensionaler Anden-Condor, der einen Boxhieb auf die Nase bekommen hatte. Die Heckklappe wurde soeben hydraulisch geschlossen. Urban, der einen letzten Blick hineingeworfen hatte, sah den Bölkow-Hubschrauber mit zusammengefaltetem Rotor festgezurrt stehen, eine Sonderausführung des VW-Iltis-Geländefahrzeuges, das sich auch in Wasser und Schlamm fortbewegen konnte, sowie mehrere Container mit Spezialausrüstung. Der technische Koordinator, ein Oberst der Bun61
deswehr, gesellte sich zu den BND-Zivilisten. »Außer der Besatzung und zwei Helikopterpiloten fliegen mit: ein Pionierhauptmann als Sprengfachmann, ein Bergungsexperte der Marine, und für alle Fälle ein Chemiker mit Erfahrung auf dem Gebiet von Kampfstoffgiften. Des weiteren fliegen mit: ein Biologe und ein Arzt mit Amazonaserfahrung, beide haben schon mehrere Expeditionen dorthin mitgemacht, und ein Dolmetscher. Dazu kommen noch drei Techniker als Wartungspersonal für das Gerät sowie ein Koch, der außerdem ein guter Funker ist. Wir hielten uns im wesentlichen an Ihre Vorschläge, Herr Sebastian.« Sebastian deutete auf Urban. »Oberst Urban hat das alles ausgearbeitet. Ich habe nur unterschrieben.« Der Mann von der Bundeswehr stemmte die Hände in die Hüften. »Dann kann ja nichts schiefgehen, oder?« »Oder eine ganze Menge.« Urban schielte zum Himmel. »Glück gehört auch dazu.« »Es scheint uns hold zu sein. Regen am Reisetag bringt Sonne im Urlaub.« »Schöner Urlaub«, warf Sebastian ein. »Ist der Schlepper schon unterwegs?« erkundigte sich Urban. Der Heimatkoordinator entnahm seinem Regenmantel ein Notizbuch und blätterte es durch. In fein säuberlicher Handschrift hatte er darin die wichtigsten Positionen verzeichnet. »Das Marine-Oberkommando hat den Zwanzig62
tausend-PS-Schlepper Herkules gechartert. Zwanzigtausend PS an der Schraube bitte ich zu bedenken! Schlepper Herkules lag bei den Kapverdischen Inseln und läuft bereits Richtung Amazonasmündung. Er kann in vier Tagen dort eintreffen.« »Viel schneller schafft es die Crew auch nicht«, schätzte Urban. Der Bundeswehroberst bedauerte dies. »Kurioserweise forderte die Regierung in Brasilien von uns, daß das Überbleibsel aus vergangener Zeit von der gleichen Organisation zu beseitigen sei, die es einst in den Dschungel pflanzte. Von Einheiten der Streitkräfte also. Leider verfügen unsere Streitkräfte nicht über Galaxy-Düsentransporter wie die Amerikaner. Eine C160 ist mit Propellerturbinenantrieb nur fünfhundert Stundenkilometer schnell.« »Bei der nötigen Ladekapazität«, fügte Urban hinzu. »Das Gewicht der Ladung beträgt elf Tonnen. Mit acht Tonnen Ladung reicht der tankbare Treibstoff fünftausend Kilometer weit, bei elf Tonnen Ladung schafft sie dreitausend Kilometer.« »Was für den Sprung über den Südatlantik knapp bemessen ist.« »Ja, es wird knapp. Nur fünf Prozent Reserve.« »Risiken sind dazu da, um eingegangen zu werden«, schnarrte Sebastian im Ton eines Panzerdivisionskommandeurs an der Ostfront, der er einmal war. »Flugroute?« fragte Urban noch. »Lissabon, Dakar, dann im freien Fall hinüber zum anderen Kontinent, Ziel ist der Flughafen Belem am 63
Amazonas. Bei Notfällen Zwischenlandung auf St. Paul.« Das hörte sich alles ganz selbstverständlich an, bedeutete aber einen Langstreckenflug von zwanzigtausend Kilometern. »Übermorgen früh«, rechnete Urban, »können Sie da sein, wenn alles klappt.« »Was sollte nicht klappen«, mischte sich der Erste Pilot der Transall, der zu ihnen getreten war, ein, »ich glaube, es gibt keine C-160 in diesem Land, die gründlicher gecheckt ist als diese. Man hängte uns extra zwei neue Rolls-Royce-Triebwerke rein. Maschine und Mannschaft kerngesund, Stimmung bestens, alles in Butter. Melde mich ab, Herr Oberst.« Lässig legte der Major die Hand an die Mütze und deutete auch den Zivilisten gegenüber eine Verbeugung an. Dann stiefelte er zu seinem Riesenvogel, kletterte durch die Rumpfluke auf und grüßte noch einmal durch die Cockpitscheiben. Die Turbinen sprangen an, nahmen pfeifend Drehzahlen auf. Der Startwagen fuhr weg. Die Transall bekam Rollfreigabe, bewegte sich vibrierend zum Startpunkt der Piste. Draußen wuchs das Heulen zu einem Orkan. Start. Der Lufttransporter nahm Fahrt auf, beschleunigte und hob ab. Noch ehe das Fahrwerk in den Rumpf klappte, schluckte die tiefhängende Wolkendecke die C-160. »Haben wir getan, was wir konnten?« fragte Sebastian seinen Spezialagenten. »Was wir konnten schon«, bestätigte Urban, »doch ob das alles ist – wer weiß das.« 64
Die Meldungen über den Verlauf des Unternehmens »Amazonasschrott«, wie es sinnigerweise getauft worden war, erfolgten in militärischer Kürze. Sämtliche Funksprüche liefen über eine Marinefunkstelle an der Küste via Verteidigungsministerium. Der BND München wurde nur am Rande und aus Höflichkeit unterrichtet. »Die halten uns aber knapp«, wandte sich Sebastian ein wenig ratlos an Bob Urban. »Kann man da nichts tun?« »Unsere Funkstelle am Wendelstein hört selbstverständlich alles mit. Wer illegale Rockmusiksender aus Moskau empfängt und Bergsteigerkauderwelsch aus dem Himalaja, der kann auch eine starke C-160 Station aus Südamerika empfangen.« »Und warum erhalte ich die Information nicht direkt?« Urban wollte den alten Herrn nicht gleich mit Tatsachen verärgern. »Darf ich fragen, was uns das noch angeht, Boß?« »Sie arbeiten schließlich nach unseren Plänen.« »Unsere Pläne sind nur Vorgaben, die von Fall zu Fall umgestoßen werden dürften.« »Trotzdem würde ich gerne weiterhin dabeisein.« »Mit dem Finger am Puls? Seien Sie froh, Chef, daß man uns das abgenommen hat.« Aber der Alte gab keine Ruhe. Er war Geheimdienstmann. Für ihn war Neugier selbstverständlich, oder er hätte die falsche Position eingenommen. »Was wir aus Bonn bekommen, ist redigiert und ge65
filtert. Ich möchte wissen, was da unten wirklich läuft. Lassen Sie den Funk aufzeichnen und über Fernschreiber vom Wendelstein an uns geben.« Nun mußte Urban wohl oder übel mit der Wahrheit herausrücken. »Wir haben es versucht, Großmeister«, erklärte er, »geht aber leider nicht. Ist alles verschlüsselt.« »Klar ist es verschlüsselt. Diese Schlüssel kennen wir doch alle.« »Sie verwenden einen neuartigen.« Jetzt wurde der Alte wütend und lief rot an. »Das ist ja ein ungeheurer Affront gegen den Auslandsgeheimdienst dieser Republik. Man benutzt einen neuen Code, den wir nicht kennen, damit man nur das weiterzugeben braucht, was genehm ist. Und aus welchen Gründen wohl? Doch nur aus Kompetenzneid. Unsere Mitarbeit, die vom Kanzleramt gefordert wurde, paßt einigen Herren bei der Truppe nicht. Na, meinetwegen.« Urban wartete. »Ihretwegen was, Herr Oberst?« »Meinetwegen läuft es da unten im Urwald wie es mag. Die Sache ist für mich gestorben. Ich will nichts mehr davon hören. Wagen Sie es nicht, mich daraufhin noch einmal anzusprechen. Ich werde mein Büro anweisen, alle diesbezüglichen Meldungen aus dem Tagesreport zu entfernen. Sollen sie in Bonn sehen, wie sie klarkommen.« Und die kommen auch klar, dachte Urban. Aber eine Frage konnte er sich nicht verkneifen. 66
»Sind Sie jetzt beleidigt, Großmeister?« Der Alte winkte heftig ab. »Beleidigt? Mich beleidigt man nicht. Aber ich bin enttäuscht. Und fortan desinteressiert. Das Unternehmen Amazonasschrott ist für mich erledigt. Deckel zu, Akte abgelegt.« Mit seinem Monokel blickte er durch Urban hindurch, als sei er weniger als eine Klarsichtfolie. »Mahlzeit!« fauchte er und stiefelte hinaus. Aber schon achtunddreißig Stunden später sah alles anders aus. Die Welt am Amazonas war ein wenig in Unordnung geraten. * »Eine Vollkatastrophe«, meldete der Verbindungsoffizier aus Bonn. »Warum geben Sie uns das nicht per Telex?« erkundigte sich Urban. »Wie Ihre täglichen Kurzberichte.« Der Major beim Verteidigungsministerium schien sich der Spannungen wohl bewußt zu sein, die sich wegen des dürftigen Informationsflusses zum Geheimdienst aufgebaut hatten, ging aber klugerweise nicht darauf ein. »Man konnte nichts dagegen tun. Auch Sie hätten es nicht zu verhindern gewußt.« »Sogar Blitzeinschlage kann man verhindern.« »Es war wie ein Frontalzusammenstoß auf der Autobahn, so unabwendbar.« »Ist er auch unabwendbar, wenn man rechts schön langsam und aufmerksam fährt?« 67
Urban sprach gegen seine Überzeugung, aber die Stimmung des Chefs hatte auf ihn übergeschlagen. »Was sollen die Brasilianer von uns denken. Die halten uns für unfähige Amateure.« »Und was ist nun wirklich geschehen?« »Alles lief gut«, berichtete der Major aus Bonn. »Mit kaum zehn Stunden Rückstand gegen den Einsatzplan. Der Hubschrauber ortete prompt die 750 Tonnen UBoot-Schrott. Als dann die Experten abflogen, um die Sache endgültig in Angriff zu nehmen, muß der Helikopter abgestürzt sein. Bisher erfolgte keine Meldung mehr.« »Wie lange schon?« »Zwanzig Stunden.« Das war allerdings ungewöhnlich. »Und das Dumme daran ist, sie verbreiteten in Brasilien schon Erfolgsmeldungen. Das heißt, die dortige Armee schickte einen Beobachter, in dessen Gefolge ein Schwarm von Reportern mitkam. Über unsere Aktionen wurde tagtäglich in der Presse und im Fernsehen ausführlich berichtet. Und nun dies.« »Der Helikopter meldet sich also nicht.« »Seine Funkstation ist tot.« »Was vermuten Sie? Unfall?« »Ein technisches Versagen dieses Geräts ist ebenso unwahrscheinlich wie menschliches Versagen. Es handelt sich um einen neuen Helikopter, speziell für Tropeneinsatz ausgerüstet, mit den besten Piloten, die wir haben!« »Und Sabotage?« 68
»Sabotage«, murmelte der Major, »wer, zum Teufel, sollte da etwas sabotieren?« »Motive gibt es immer.« »Dann nennen Sie mir welche.« »Wie käme ich dazu. Das Ganze ist nicht mein Fall.« »Es wird bald Ihr Fall werden, schätze ich.« »Nur über einige Leichen von führenden Personen hier im Hause.« »Das werden wir ja sehen.« »Dann viel Glück, Major«, wünschte Urban. »Aber nehmen Sie einen guten Rat von mir an. Falls Bonn die Absicht hat, irgendwelche diesbezüglichen Wünsche an den BND heranzutragen, dann machen Sie das lieber nicht auf Majorsebene. Lassen Sie mindestens einen Oberst antreten, noch besser einen General, am besten den Minister. Sonst, so fürchte ich, ist hier alles in der Sommerfrische.« Damit hängte er auf. Zweifellos waren da unten im Dschungel Fehler gemacht worden. Er hatte aber keine Lust, sie im nachhinein zu korrigieren. Daß er das nicht zu tun brauchte, dafür glaubte er wichtige Leute zwischen sich und dem Problem stehen zu haben. Leute wie Sebastian, Männer wie eine Mauer. Wenige Stunden später wußte er, daß er sich irrte. Mit ihrer schiefgelaufenen Operation ›Amazonasschrott‹ machten sie alle verrückt, vom Präsidenten bis zum Operationschef. Sebastian rief Urban nachts in seiner Wohnung an. Auf Umwegen kam er zur Sache. Es fiel ihm schwer. 69
»Ich habe Ihnen erklärt«, sagte er, »daß ich mit der Amazonas-Geschichte nichts mehr zu tun haben möchte. Also delegiere ich Sie. Übernehmen Sie den Fall! Das ist ein Befehl. Ende.«
6 Mitte September trafen sich im New Yorker PierreHotel zwei unauffällig gekleidete Gentlemen. Wer sie nicht kannte, hielt sie für Universitätsprofessoren. Der eine hieß Lee Seyring, der andere Fred P. Russel. Seyring war Staatssekretär im Finanz-Department, Russel einer der größten Bankiers der USA. Der brillenlose Russel trug zur Tarnung einen Zwikker, der Brillenträger Seyring nur Haftschalen, dafür aber eine karierte Hose, was den modebewußten Beamten beinahe zu schmerzen schien. Für ihn, der gewöhnlich nur in Dunkelblau vor die Öffentlichkeit trat, war eine Karohose die beste alle Tarnungen. Während sie ungeniert an der Bar ihre Drinks einnahmen, sagte Russel: »Da haben Sie recht, so geht das nicht weiter.« »Der Präsident ist in großer Sorge.« »Nicht nur der Präsident«, erwiderte Russel, den Inhalt des Glases schwenkend, »auch die Industrie, der Handel, die ganze Wirtschaft. Die Flucht aus dem Dollar hält an. Er ist einfach unterbewertet.« »Im letzten Monat«, erklärte Seyring vom Finanzministerium, »sind mehr als zehn Prozent unserer Devi70
senreserven abgeflossen. Auch der Außenhandel stagniert. Die Importe werden zu teuer. Wer aber nicht importiert, sagt man, kann auch nicht exportieren.« Russel bestellte noch einen Martini, »Für diesen Drink haben Sie früher in Monte Carlo einen Dollar bezahlt. Heute kostet er das Doppelte. Das liegt aber nicht allein an der Inflation der anderen Länder.« »Der Dollar ist einfach zu billig.« Weil der Keeper lange Ohren bekam, gingen sie an einen Nischentisch. Später setzten sie beim Dinner und dann in Russels Suite ihr Gespräch fort. Es dauerte bis weit nach Mitternacht. Als alle wichtigen Punkte fixiert waren, faßte der Regierungsbeamte das Ergebnis zusammen: »Sie als Vertreter der Bankwirtschaft sind also voll damit einverstanden?« »Das müssen wir ja wohl aus eigenem Interesse.« »Und Sie sind auch im Namen Ihrer Standeskollegen bereit, aus den von uns geplanten Maßnahmen keinerlei Vorteile zu ziehen?« »Wenn Sie meinen, wir würden jetzt hohe Dollarreserven anlegen, dann kann ich Ihnen versichern, daß wir schon hoch drin stehen im Dollar. Schließlich sind wir eine amerikanische Bank. Zusätzliche Aufkäufe werden wir allerdings nicht tätigen, schon, um kein Aufsehen zu erregen. Das müssen wir wie üblich den Spekulanten überlassen. Aber das ist nicht zu vermeiden. Es gibt immer Gerüchte. Im übrigen bewahren wir strengstes Stillschweigen. Das garantiere ich.« 71
Lee Seyring packte seine Papiere in den Aktenkoffer. »Dann werde ich dem Minister unterbreiten, daß auch die Geschäftsbanken einer Aufwertung zwischen vier und sechs Prozent positiv gegenüberstehen.« »Sie sollte so schnell wie möglich erfolgen.« »Den Termin kann ich Ihnen nicht nennen«, erwiderte der Beamte. Dann senkte er die Stimme: »Aber unter uns: Ich halte das Wochenende um den Siebzehnten herum für nicht völlig von der Hand zu weisen.« Die kleine Runde löste sich auf. An der Tür sagte der Mann aus Washington noch: »Und Sie garantieren mir keine auffälligen Geldbewegungen von seiten der Banken.« »Nur im Rahmen des üblichen.« »Okay, Fred«, dankte der Beamte. »Sie kennen ja die Spielregeln, Sie waren ja selbst Finanzberater von Präsident Johnson. Vielleicht sind Sie es beim nächsten Präsidenten wieder. Good night! Und wir sind uns nicht begegnet.« Am darauffolgenden Tag nahmen die Gentlemen wieder ihre gewohnte Tätigkeit auf. Lee Seyring saß an seinem Schreibtisch im Finanzdepartment zu Washington und bereitete die Dollaraufwertung vor. Fred P. Russel fuhr auf die Bahamas in den schon lange geplanten Familienurlaub. Vorher wies er jedoch seine über die ganzen USA verstreuten Filialen an, gegen Monatsmitte das Depot an Devisen und Auslandspapieren möglichst niedrig zu halten. 72
Die Dollaraufwertung kam schon deshalb überraschend, weil die Washingtoner Administration immer wieder versichert hatte, der Dollar sei international korrekt bewertet. In den drei Tagen von Börsenschluß bis Börsenbeginn wurden weltweit die üblichen Verluste und Gewinne gemacht. Wer Dollars hatte, dessen Vermögen hatte sich über Nacht um fünf Prozent vermehrt. Anleger in D-Mark, Pfund oder Franken hingegen mußten ebensogroße Verluste hinnehmen. Wie immer gab es Spekulanten, die ihrer Nase vertrauten. Sie hatten Dollar gekauft und binnen 72 Stunden einen satten Jahresgewinn eingefahren. Doch diese Geschäfte blieben im üblichen Rahmen. Bis auf eine Ausnahme. Den Beamten einer FBI-Sonderabteilung, die entsprechendes Material sichteten, fiel der durchlaufende Posten immer wieder auf. »Rio de Janeiro«, sagte der eine, »Donnerstag. Fünf Millionen Dollars gekauft.« »Mehrere Orders?« »Nein, nur eine einzige Order. Kurz vor Bankschluß.« »Dann ist das derselbe Vorgang wie in Athen und in Madrid.« »Hier der Auszug London. Zwar alles nur kleine Fische, aber wieder ein paar Millionen Pfund gegen Dollars gewechselt. Die Order kam um fünfzehn Uhr. Von einem Privatmann.« Wo sie auch nachprüften, ob in Paris oder Amster73
dam, in Kopenhagen oder Frankfurt, an allen Plätzen wurden in letzter Minute noch Dollars gekauft. Fast zur gleichen Stunde und immer von einem einzigen Auftraggeber. Nun ließ das FBI Sonderdezernat alle Verbindungen spielen. »Es geht nicht um die siebzig Millionen Dollar, die da in letzter Sekunde auf die schnelle gekauft wurden«, erklärte der Sektionschef seinem Beamten. »Insgesamt wurden etwa dreieinhalb Millionen Dollar bei dem Deal verdient. Das können wir verschmerzen. Man kann sagen, es fällt gar nicht ins Gewicht. Aber, und das ist von uns zu klären, wie konnte ein Privatanleger, um einen solchen handelt es sich offenbar, von der bevorstehenden Aufwertung wissen? Er mußte wissen, daß sie kommt, sonst wäre sein Verhalten Wahnsinn gewesen und hätte zu sicheren Verlusten geführt. Allein an Kosten hatte ihn das Manöver mit Hunderttausenden belastet. Wie also konnte die Information durchsickern? Wir müssen herausfinden, durch welches Loch sie hinausging und durch wen.« Die Beamten erwarteten von ihrem Sektionschef nicht nur die Zielsetzung, sondern auch Hinweise, wie die Aufgabe zu meistern sei. »Finden Sie heraus, Gentlemen«, fuhr der Sektionschef fort, »wer hinter diesen Blitzkäufen steckt und, falls es mehrere Personen sind, wer sie an der Leine hat. Ob die Käufe mit vorhandenem Kapital getätigt oder über Kurzkredite abgewickelt wurden. In diesem Falle muß es sich um einen Kunden handeln, der bei seinen Ban74
ken Vertrauen genießt, also über Einlagen verfügt. Auf diese Weise müßte die Nuß zu knacken sein.« Noch einen weiteren Weg zeigte der Sektionschef auf: »Nur über die Personen dieses eindeutigen Kursgewinnlers führt die Spur zu dem Informanten. Dieser Mann im Dunkel ist zu finden und unschädlich zu machen. Solche Leute können der Wirtschaft eines Staates auf unvorstellbare Weise Schaden zufügen. Ich danke Ihnen, Gentlemen!« * Die FBI-Spezialisten versuchten auf verschiedene Weise das Bankgeheimnis zu knacken. Da sie über Verbindungen zu amerikanischen Geldinstituten verfügten, war dies nicht sonderlich schwer. Einem von ihnen gelang es, sehr gute Drähte nach London zu knüpfen. Im Laufe eines Ferngespräches von Washington zur Londoner City-Bank konnte der FBIFahnder Licht in das Dunkel bringen. »Jetzt, wo Sie die Sache ansprechen«, erklärte der Mann in London, »fällt mir noch einiges mehr auf. Es mag vor vier Wochen gewesen sein, da kam ein Kunde zu mir und eröffnete ein kleines Konto.« »Engländer?« »Dem Dialekt nach war er Amerikaner.« »Höhe des Kontos?« »Unter fünfzig Pfund.« »Ein normaler Vorgang«, bemerkte der FBI-Agent. »Bis dahin ja, aber nun wird es märchenhaft. Schon 75
eine Woche später erscheint der Kunde wieder in der Bank, um eine neuerliche Einzahlung vorzunehmen. Diesmal etwas mehr.« »Hundert Pfund?« »Nein, über eine Million Pfund.« Der FBI- Agent machte eifrig Notizen. »Woher das Geld stammte, wissen Sie nicht zufällig?« »Ob Sie es glauben oder nicht, er hatte es in bar bei sich.« »Über die Scheine kommt man nicht weiter.« »Heute nicht mehr. Das Geld ist längst im Umlauf. Es wurde sorgsam geprüft. Keine Blüten, falls Sie an so etwas denken.« Der Amerikaner drängte jetzt, er fühlte sich fündig werden. »Was geschah mit dem Geld? Legte er es an? Kurz-, mittel-, längerfristig?« »Er nahm keinerlei Anlagen vor, sondern überwies hunderttausend Dollar auf ein Privatkonto nach Rio.« Der Amerikaner hatte im Gefühl, daß noch etwas hinzukommen würde. Er täuschte sich nicht. »Vor kurzem sah ich diesen Mann ein drittes Mal«, erfuhr er aus London. »Es war in der Woche vor der Dollaraufwertung. Er ließ das Pfundkonto in ein Dollarkonto umwandeln und bewegte unsere Kreditabteilung zu einem Darlehen von zehn Millionen Pfund, nur für ein paar Tage, genaugenommen von Freitag bis Montag. Da dieser Kredit nicht abgezogen wurde, er sollte ausschließlich zum Kauf von Dollars 76
verwendet werden, und somit in unserem Hause bleiben, wurde der Devisenkredit gewährt. Wir hatten ja genügend Sicherheit, da wir uns die Einlage für den Fall eines Kursverlustes übertragen ließen. Bankmäßig gesehen ein völlig korrekter Vorgang.« »Und am Montag hatte der Kunde fünfhunderttausend Pfund Gewinn gemacht.« »Hätte man nur mitgezogen.« »Sie wußten ja nicht, daß die Aufwertung jetzt schon kommen würde.« »Leider nein.« »Ihr Kunde hingegen scheint es gewußt zu haben.« »Offenbar.« Nun erklärte der Amerikaner, wie wichtig es sei, die Informationsquelle zu bekommen. Dies sei aber nur über den Kunden möglich. Nach einigem Hin und Her gab der Engländer den Namen preis. Es war immer gut, beim FBI Freunde zu haben. »Es handelt sich um einen gewissen Berni Bridges«, sagte er. »Aber von mir haben Sie den Namen nicht. Sie haben ihn selbst herausgefunden,« »Adresse?« faßte der FBI-Agent nach. »Ich glaube, er wohnt in Paris.« »Tun Sie mir einen Gefallen«, der FBI-Agent war unersättlich, »und lesen Sie mir die Adresse vor. Sie haben die Kontokarte doch in der Hand.« Der FBI-Fahnder erfuhr, was er wissen wollte, hatte aber noch weitere Fragen. »Wie sieht das Konto jetzt aus?« 77
Der Mann in London zögerte. »Sagen wir ziemlich unverändert.« »Gut gespickt also. Kein Wunder bei dem raschen Gewinn. Könnten Sie uns informieren, sobald Geldbewegungen auf dem Bridges-Konto stattfinden?« »Nein, tut mir leid.« »Trotzdem vielen Dank. Wenn Sie mal ein Problem haben, wir sind zur Stelle.« Damit war FBI schon einen großen Schritt vorangekommen. Weitere Gespräche mit ausländischen Banken ergaben, daß auch dort Aufwertungsgewinne über ein Konto mit dem Namen Berni Bridges gelaufen waren. »Jetzt brauchen wir nur noch diesen Bridges«, frohlockte der Teamchef, »und wir kriegen die undichte Stelle im Finanz-Department.« »Haben Sie schon einen Verdacht, Sir?« »In Frage kommt jeder. Jeder, der Bescheid wußte, von Russel bis Seyring. Nun, dieser Mister Bridges wird uns aus der Ungewißheit heraushelfen. Sucht mir diesen Burschen und schafft ihn her.« »Zumindest seine Aussage«, schränkte einer der Agenten ein. Als der FBI-Beauftragte zwei Tage später vor Berni Bridges Pariser Wohnung stand, wurde ihm nicht geöffnet. Von der Concierge erfuhr er, daß die Wohnung möbliert vermietet werde und der letzte Mieter vor wenigen Tagen ausgezogen sei. Daß er Bridges hieß und Amerikaner war, konnte sie bestätigen. Sie beschrieb 78
sein Aussehen. Es stimmte mit den vorliegenden Ermittlungen überein. Wohin sich Monsieur Bridges begeben hatte, wußte die Hausmeisterin leider nicht. »Ich kann nur soviel sagen«, erklärte sie, »daß er oft von Südamerika sprach und auch von dort Post bekam.« »Argentinien, Chile, Peru, Bolivien, Brasilien…«, zahlte der FBI-Fahnder auf. »Und wo bitte liegt Rio?« fragte die Concierge. »Nach Rio wollte er also.« »Die Briefe kamen aus Rio. Andererseits wollte er auch gar nicht weg von Paris. Es gefiel ihm in Frankreich. Er sprach auch perfekt Französisch. Einmal sagte er, wenn er mal genug Geld hätte, würde er hier ein Stück Land kaufen mit einem Haus darauf. Groß genug, daß ihm keiner über den Zaun spucken kann.« Der FBI-Agent zog seine Querschlüsse. »Wenn er mal zu Geld käme.« »Diesbezüglich bestand wohl keine Aussicht«, meinte die Hausmeisterin. Der FBI-Agent wußte es besser. Berni Bridges, soviel stand mittlerweile fest, hatte es nicht nur verstanden, auf raffinierte Weise an einem Wochenende in vier Ländern die Haupttreffer von Lotto und Toto abzukassieren, er hatte auch von der streng geheimen Dollaraufwertung gewußt. Das machte den Burschen immer interessanter. Der FBI-Agent war jetzt so in Eile, daß er vergaß, merci zu sagen. 79
Etwa achthundert Kilometer Luftlinie vom Aufenthaltsort der FBI-Fahnder entfernt standen zwei Männer im ersten Stock eines provenzalischen Landhauses vor einem Bauernschrank. Bridges öffnete beide Schranktüren. Slim Canera wußte sofort, was sein Partner hier eingebaut hatte. Die Rückwand des Schrankes bestand aus Glas und gab den Blick in ein freundlich möbliertes Zimmer frei. Da die Abendsonne durch die Fenster schien, war jedes Detail der Möbel wie des Teppichmusters zu erkennen. Auf einem breiten französischen Bett lag ein Mann in Jeans und Rollkragenpullover. Vom Körperbau her wirkte er zierlich und mehr sehnig als muskulös. Sein Gesicht war das eines arglosen College-Schülers, sein blondes Haar kraus und auf Fingerlänge gestutzt. »Er kann uns nicht sehen«, flüsterte Bridges. »Was für uns durchsichtiges Glas ist, ist für ihn der Spiegel.« »Kann er uns hören?« »Auch das nicht. Ich habe eine Dreifach-Isolierglasscheibe in Größe des Spiegels vorgesetzt. Da dringen kaum Geräusche durch.« »Aber«, gab Canera zu bedenken, »er kann uns denken. Er weiß, daß wir ihn beobachten.« »Nicht wenn er schläft. Dann befinden sich diese Fähigkeiten im Ruhezustand. Du selbst hast es getestet.« »Im Schlaf schaltet er ab, erhöht aber seine Instinkte. Würde mich nicht wundern, wenn er davon erwacht, falls wir ihn noch länger anstarren.« Deshalb schloß Bridges die mit schallhemmendem Schaumstoff gefütterten Schranktüren. Sie gingen ins 80
Parterre hinunter und legten ein wenig Feuer in den wandgroßen Kamin. Es regnete seit Tagen, und wenn es regnete, wurde es rasch kühl. »Du mußt also unbedingt wieder nach Rio«, stellte Bridges fest. »Ich hoffte, wir könnten von hier aus gemeinsam und in aller Ruhe unsere neuen Projekte angehen.« »Die laufen uns nicht weg.« »Du meinst, der Junge funktioniert bald ganz automatisch?« »Hör ihm zu, paß auf, was er von sich gibt, und schon bieten sich täglich eine Reihe von Möglichkeiten an.« »Wir werden uns nur noch die Rosinen herauspflücken.« »Trotzdem muß ich noch einmal nach Brasilien«, beharrte Canera. »Hängt es mit eurer verzögerten Abreise zusammen?« »Ja, es wird zuviel geschnüffelt.« »Diesmal war es nicht nur ein naseweiser Wissenschaftler«, wiederholte Bridges, was ihm sein Partner schon berichtet hatte, »sondern eine organisierte Expedition.« »Auf Wunsch der Regierung.« »Mitten in das kritische Urwaldgebiet hinein?« »Zufälle regieren das Leben«, bemerkte Canera. »Vor hundert Jahren landete dort der britische Kapitän mit seinen Offizieren, ausgesetzt von den Meuterern der ›Flying Dream‹. Vor fünfunddreißig Jahren fand ein 81
anderes Fahrzeug auf der Flucht seinen Weg dorthin. Ein deutsches U-Boot. Die Kopfjäger schnitten ihnen zwar die Hälse ab, aber irgendwie erfuhr die Regierung vor kurzem davon und besteht nun auf Beseitigung des Wracks. Die Deutschen stellten ein Kommando zusammen. Nun mußte ich eingreifen, ob ich wollte oder nicht.« »Damit unser Geheimnis nicht an die Öffentlichkeit dringt. Das nenne ich scharf kombiniert und rasch gehandelt.« »Kein Opfer ist groß genug für unsere Sache.« »Und nun willst du noch einmal hinüber.« »Ich muß dafür sorgen, daß es keine Spuren gibt, und daß sich auch der letzte freche Nachzügler seine Pfoten verbrennt.« »Nachzügler?« »Mit Sicherheit werden Leute kommen, um herauszufinden, woran das Bergungsunternehmen scheiterte.« »Verstehe«, sagte Bridges, »das raubt dir den Schlaf.« »So ist es«, gestand der braungebrannte Mann aus Rio, der aussah wie Sven Hedin ausgesehen haben mochte, nachdem er die Wüste Gobi durcheilt hatte, abgekämpft, aber siegesfroh. »Ich fliege also morgen.« Canera steckte sich seine Pfeife mittels eines langen dünnen Spanes, den er am Kaminfeuer entzündete, noch einmal an. »Aber auch hier gibt es Probleme«, erwähnte Bridges. 82
»Gewiß sind es nur Neugierige.« »Ich behalte sie im Auge.« »Ist doch immer so, wenn ein großes Anwesen den Besitzer wechselt, dann erweckt das einfach das Interesse bestimmter Leute. Sind es immer dieselben?« »Kann ich nicht sagen«, meinte Bridges. »Vielleicht ist es auch Zufall. Neulich traf ich einen Burschen, der im Bach Forellen angelte. Ich sagte ihm, daß dies ein privates Fischwasser sei. Daraufhin erklärte er, sein Großvater habe hier schon gefischt und auch er fische seit dreißig Jahren hier. Ich ließ ihn gewähren.« »Das war klug von dir. Bloß keinen Ärger mit den Nachbarn.« »Falls er ein Nachbar ist. Ich besuchte alle Grundbesitzer, mit denen wir eine gemeinsame Grenze haben. Dem Forellenangler begegnete ich nicht wieder.« »Dann ist er eben aus der Stadt« »Vorgestern hörte ich eine heftige Schießerei«, fuhr Bridges fort. »Ich fuhr gleich mit dem Jeep los und stellte die Typen. Eine Gruppe von drei Jägern, Sie ballerten auf alles was sie sahen, in der Hauptsache Wildhasen. Ich sagte ihnen, daß sie sich auf Privatbesitz befänden, außerdem sei jetzt Schonzeit und die Jagd sei erst im Oktober wieder offen.« »Sie zogen ab?« »Nein, sie dachten nicht daran. Sie übten ein Gewohnheitsrecht aus, behaupteten sie. Der letzte Besitzer habe sich um so etwas nicht gekümmert. Erst als ich mit der Polizei drohte, fuhren sie in ihrem Kombi weg.« 83
»Ich würde daraus keine Gefahr für uns konstruieren«, meinte Canera. »Ich auch nicht«, versicherte Bridges, »aber ihre Wagen hatten Pariser Kennzeichen. Ich frage mich, wer fährt von Paris hierher, um Hasen zu schießen? Allein für das Benzin kann er sich ein Halbdutzend bratfertiger Karnickel kaufen.« »Sie machten wohl Urlaub.« »Ja, vielleicht«, räumte Bridges ein, »aber ich muß immer daran denken, was wir zu schützen haben. Es ist mehr wert als das Gold der Bank von England.« »Nun«, meinte Canera, »da du das weißt, bin ich sicher, daß du auf der Hut sein wirst. Außerdem hoffe ich, in ein paar Wochen zurück zu sein. Endgültig und für immer.« Bridges stieg in den Keller und holte eine Flasche. Sie tranken den kühlen Rose und stießen auf die Zukunft an. Wie bei allen Dingen, die sie gemeinsam taten, blieben sie dabei etwas förmlich. Der Zeitpunkt, an dem sie ›Sie‹ zueinander gesagt hatten und ›Sir‹, lag noch nicht lange zurück.
7. In den letzten drei Tagen hatte der Fall eine rasante Entwicklung genommen. Dies vor allem insofern, als sich immer neue Schwierigkeiten ergaben. Kurz vor Urbans Abreise nach Brasilien kam noch dieser Anruf aus Washington. Die CIA meldete sich. 84
Zunächst hatte Urban den Eindruck, daß sich der amerikanische Geheimdienst nur einschalten wollte, um wie stets dabeizusein, wenn ein großes Spiel lief. Der Anruf hatte jedoch andere Gründe. »Wir sind ein wenig ratlos«, begann sein Kollege im CIA-Hauptquartier Langley, »aber nach unseren Analysen müßte der Strang, auf dem wir vorgehen, mit dem Strang, auf dem Sie vorzugehen beabsichtigen, irgendwo am Amazonas zusammenführen.« »Sie machen mich neugierig«, antwortete Urban. Ziemlich oberflächlich, wie es CIA-Art war, setzte ihn der Kollege ins Bild. »Auf der Suche nach einer undichten Stelle im Finanzdepartment stieß eine Fahndungsgruppe der FBI auf einen Mann, der anläßlich der letzten Dollaraufwertung durch außerordentliche Gewinne auffiel. Er plazierte unmittelbar vor dem Aufwertungstermin große Mengen Pfund, Franken, D-Mark und Peseten auf eine Weise, daß wir annehmen mußten, er sei informiert gewesen. Von diesem Mann nun gibt es Drähte nach Rio und von dort weiter bis in den Amazonasdschungel. Im wesentlichen handelt es sich bei den Verdächtigen um zwei Männer, die längere Zeit nahe jener Stelle des Amazonasgebietes tätig waren, wo vor kurzem der Unfall mit Ihrem Helikopter passierte.« Das Wissen des Amerikaners versetzte Bob Urban nicht in Entzücken, aber in Erstaunen. Er kannte die CIA aus langjähriger Zusammenarbeit. Es gab Sachen, da hatten sie Bretter vor dem Kopf, dann gab es andere, da blickten sie auf verblüffende Weise durch. Oft schien 85
es, als seien ihre Erfolge durch einen Zufallsgenerator bedingt. Aber soviel stand fest, ihr Informationsnetz in. Südamerika arbeitete vorzüglich. »Ich möchte bei dieser Gelegenheit ausdrücklich erklären«, fuhr der Amerikaner fort, »daß wir auf dem Wege über den NATO-internen Nachrichtenaustausch natürlich wußten, was die Brasilianische Regierung von Ihrer Regierung forderte, und welche Schritte Bonn einleitete, um dieses Übel aus vergangener Zeit aus der Welt zu schaffen. Wir bedauern sehr, daß Sie soviel Pech hatten. Die technischen Experten, die dem Unfall zum Opfer fielen, dürften wohl nicht so rasch zu ersetzen sein.« Urban hörte aus dieser Feststellung heraus, daß der Kollege mehr zu wissen wünschte, also gab er ihm den Zucker, den er haben wollte. »Zunächst ruht das Unternehmen Amazonasschrott, im Einverständnis mit der Regierung in Brasilien. Natürlich werden wir das U-Boot eines Tages bergen, aber erst müssen die Unfallursache und einige andere Dinge geklärt sein.« »Noch andere Sabotageversuche etwa?« »Ob es Sabotage war, steht nicht fest. Aber ich werde es bald wissen.« »Deshalb rufe ich Sie an«, erklärte der Amerikaner. »Sie, Urban, sind der Bursche, den man in die grüne Hölle schickt. Und ich bin der Mann, den Sie dort treffen werden, denn ich muß die undichte Stelle unseres Finanz-Departments ausfindig machen, was nur durch direkte Befragung der Verdächtigten möglich ist.« 86
»Und die befinden sich am Amazonas?« zweifelte Urban. »Zumindest einer von ihnen.« »Aber bitte lassen Sie ihn am Leben.« »Erst muß ich ihn haben.« »Wo genau ist er denn?« »Das erfahre ich entweder durch unsere V-Leute oder durch seinen Partner, der in Frankreich sitzt.« »Und Sie glauben, unsere Fälle hingen auf irgendeine rätselhafte Weise unterirdisch zusammen?« »Soweit gehe ich nicht«, antwortete der Amerikaner, »aber gewisse Auffälligkeiten sind vorhanden. Deshalb mein Vorschlag.« »Ich höre.« »Man kann alles dem Zufall überlassen. Sie folgen Ihrer Spur und ich der meinen. Jeder arbeitet für sich. Vielleicht trifft man sich auf einem Punkt nahe der Wahrheit. Ist es aber nicht klüger, wenn wir uns von vornherein zusammentun? Was halten Sie davon?« »Wie soll das aussehen?« erkundigte sich Urban vorsichtig. »Wir legen auf den Tisch, was wir haben.« »Ich habe nicht viel«, gestand Urban. »Aber Sie sind ein erstklassiges Zugpferd, wurde mir gesagt. Meine Vorgesetzten waren mit dieser Kooperation einverstanden.« Urban glaubte nicht, daß man im BND-Management etwas dagegen hatte, wenn er mit einem CIA-Kollegen zusammenarbeitete. Der Vorbehalt lag mehr bei ihm persönlich. Er hatte einige böse Erfahrungen gemacht. 87
Sobald nur der Silberstreifen einer Lösung am Horizont auftauchte, ließen sie Vereinbarung Vereinbarung sein und koppelten sich ab, um das Ergebnis für sich allein an Land zu ziehen. Möglicherweise konnte ihm der Amerikaner aber doch nützlich sein. »Wo treffen wir uns, in Rio?« »Warum erst dort«, sagte der Kollege. »Ich erhielt einen erstklassigen Tip durch FBI, wonach ich den Partner des Hauptverdächtigen an der Riviera finden kann. Ich fliege heute noch nach Paris und bin morgen mittag in Nizza.« Für Urban spielte es keine Rolle, ob er Frankfurt-Rio flog oder den Umweg über Nizza nahm. »Hotel Descartes!« schlug er vor. »Wie der Philosoph.« »Siebzehn Uhr in der Bar,« »Ich bin zur Stelle«, versprach der Amerikaner. »Und mein Name ist Tom Winward. Abteilung vierzehn/Cäsar. Sie können selbstverständlich zurückrufen, um sich von der Korrektheit meiner Angaben zu überzeugen.« »Das werde ich«, versicherte Bob Urban. * In der Hotelbar mit Blick auf die Promenade des Anglais wartete Bob Urban Punkt 17 Uhr auf den Amerikaner. Er nahm Bourbon mit einem Spritzer weißen Cinzano und Eis. Um 17 Uhr 15 wandte er sich an den Keeper. 88
»Hat ein Mister Winward etwas für mich hinterlassen? Urban ist mein Name.« »Bei mir nicht«, sagte der Mixer, telefonierte aber mit der Rezeption. »Beim Portier auch nicht, Monsieur.« Nach dem zweiten Doppelten betrat Urban die Telefonkabine und erkundigte sich am Flugplatz, ob die Mittagsmaschine aus Paris angekommen sei. »Zwei Minuten vor fünfzehn Uhr gelandet«, hieß es. Urban rauchte eine Zigarette und telefonierte mit München. In München lag keine Nachricht aus Washington vor. Demnach blieb es bei dem Treffen. Aber wo steckte der CIA-Mann? Wieder in der Bar, orderte Urban nur ein BitterLemon, bezahlte und ließ einen Zwanziger über den Tresen gehen. »Wenn Monsieur Winward nach mir fragen sollte, ich schaue in einer Stunde wieder herein.« Einen Moment überlegte Urban, ob er dem Barmixer das Archivbild von Tom Winward zeigen sollte, aber die Kopie war nicht besonders gut. Mit dem Taxi fuhr er zum Flughafen hinaus und stellte sich beim Air-France-Schalter in die Schlange. Als er dran war, sagte er: »Ich bin mit Mister Tom Winward aus Washington verabredet. Er sollte mit der Mittagsmaschine aus Paris ankommen. Tat er das?« Die Hostess drückte mehrere Knöpfe ihres Buchungscomputers. Über den Display-Schirm flimmerten drei Zeilen. Sie nickte freundlich. 89
»Mister Winward kam vor drei Stunden in Nizza an. Er ließ seinen Weiterflug für morgen nach Lissabon bestätigen.« Urban griff in die Sakkotasche und legte dem Mädchen die Kopie des Archivfotos vor. »Ist er das?« Die Hostess setzte extra die Brille auf. »Oui, Monsieur, das durfte er gewesen sein.« »Hinterließ er etwas?« »Nein, Sir.« Draußen bei den Taxis ließ Urban das gleiche Frageprogramm ablaufen, obwohl er von vorneherein wußte, daß es nicht viel brachte. Die Taxis wechselten zu oft. Er steckte sich eine MC an, schlenderte in die Cafeteria und überlegte, was bei Winward dazwischengekommen sein mochte, daß er die Verabredung nicht einhielt. Urban süffelte gerade an einer Tasse Espresso herum, als ihm von der Drehtür her zugewinkt wurde. »Hallo, Monsieur!« Es war ein Taxifahrer. Der Mann kam näher. »Meine Kollegen erzählten mir, daß Sie einen großen schlanken, rothaarigen Amerikaner suchen.« Von rothaarig war zwar nicht die Rede gewesen, trotzdem zeigte Urban dem Mann das Foto. Der nickte begeistert. »Das ist er. Den habe ich befördert.« »Wohin?« »Richtung Grasse auf der alten D-zwanzig-fünfundachtzig.« 90
»Wann war das?« »Gleich, nachdem er angekommen war.« Da er gut in Schwung zu sein schien, beschloß Urban den Fahrer reden zu lassen. »War eine prima Fuhre. Kurz vor Grasse stieg der Kunde aus. Der Weg, den er nahm, war ziemlich schlecht. Ich hätte auf ihn gewartet, aber er wollte später den Bus nehmen. Den Bus, der um siebzehn Uhr am Bahnhof ist.« Urban leerte seinen Kaffee. Winwards Verhalten war typisch für einen Profi. Was du sofort erledigen kannst, das verschiebe nicht um eine Minute. Offenbar hatte er sich zusätzliche Informationen versprochen, die er in ihre gemeinsame Arbeit einbringen wollte. Urban dankte dem Taxifahrer. »Merci! Bringen Sie mich zu der Stelle, wo Mister Winward Ihr Auto verließ.« Der frühabendliche Verkehr flaute schon ab. Sie kamen rasch durch. Nördlich der Stadt quälte der Taxifahrer seinen Diesel die Steigungen hinauf, durch die duftenden Blumenfelder, auf die Parfumstadt Grasse zu. Für die dreißig Kilometer brauchte der schwere Peugeot knapp eine Stunde. Kurz vor Grasse, man sah schon die Dächer und Türme, bog der Wagen nach Nordosten auf ein schmales Gebirgssträßchen ab. Dem Wegweiser nach führte es zu einer Ortschaft namens St. Paul. Schon nach wenigen hundert Metern gabelte sich die Straße jedoch wieder. Das Taxi hielt neben der Felssteinmauer eines Weinberges. 91
»Er nahm den Weg nach Süden. Ich sah ihn noch gehen. Als ich wendete, war er etwa bei der Kurve.« »Warten Sie hier«, sagte Urban. Er folgte dem leicht bergan führenden Weg, auf dem nach Aussagen des Taxifahrers Tom Winward vor drei Stunden verschwunden war. Der Weg schlängelte sich an Pfirsichplantagen vorbei. Links standen uralte Olivenbäume, weiter oben ein Schafstall. Dann kam eine Brücke. Sie überspannte ein trockenes Bachbett. Ein dünnes Rinnsal sickerte durch kiesigen Grund voller Gerumpel. Ein rostiges Autowrack Marke Citroen lag herum, ein zerborstenes Jauchefaß, Autoreifen, Kisten, eine Matratze. Urban ging weiter. Doch dann fuhr sein Kopf ruckartig nach rechts. Das war keine Matratze. Er betrachtete sie näher. Was er für den hellen Bezug gehalten hatte, war ein Staubmantel, und der Streifeneffekt kam von dem aufgeschlagenen Innenfutter. Im Mantel steckte ein lebloser Mensch. Urban kletterte die Uferböschung hinab, hielt sich an Gestrüpp fest, rutschte, sprang hinab in den Bachgrund. Dann kniete er neben dem Mann. Ohne ihn umzudrehen, ohne ihn berühren zu müssen, sah er was er sehen wollte: Den Schuß durch das linke Auge quer durch den Schädel, den Kugelaustritt im Nacken auf Ohrenhöhe. Eine zweite Kugel hatte vermutlich den Herzmuskel erwischt. – Der Mann war Tom Winward, darüber gab es keinen Zweifel. Er hatte keine Chance gehabt. 92
Urban tastete ihn ab. Die Waffe klemmte unbenutzt im Holster. In der Brieftasche hatte er Reiseschecks von American-Travellers, ein Flugticket bis Belem, Dollars, sowie einen Paß auf den Namen Ronnie Rider. Links steckte ein Notizbuch. Neben anderen Aufzeichnungen fand Urban seinen Namen, die Uhrzeit, dazu den Vermerk Descarts-Hotel-Bar Weiter hinten las Urban in Druckschrift den Namen Slim Canera. Die Eintragung war die letzte. Er nahm das Notizbuch an sich. Auf dem Weg zum Taxi wischte er, so gut es ging, das Blut vom Einband. Von Nizza aus rief Urban sein Hauptquartier an und meldete das Ergebnis seines Treffens mit Tom Winward. München wollte sofort Langley informieren. Langley würde dann alles Weitere, wie Bergung der Leiche et cetera veranlassen. »Gab es Spuren?« fragte Sebastian seinen Agenten, »Nicht im Bachbett. Vermutlich erwischte ihn der Täter mitten auf der Brücke. Als Winward zu Boden gegangen war, warf er ihn die drei Meter in die Tiefe.« »Gewehrschüsse?« »Schwer zu sagen. Bestimmt war es ein Profikaliber. Schmauchspuren konnte ich mit bloßem Auge nicht erkennen.« »Die Schußrichtung?« »Vermutlich nördlicher Halbkreis aus leichter Überhöhung.« »Und Sie sehen keine Notwendigkeit, die Gegend 93
nach dem Täter abzukämmen? Winward folgte gewiß einer heißen Spur und lief seinem Mörder dabei in die Arme.« Urban gab zu bedenken, daß die CIA eine undichte Stelle in Finanz-Department ausfindig machen wollte, während seine Aufgabe eine ganz andere war. »Außerdem stellt die Polizei an jeden, der als erster eine Leiche entdeckt, immer äußerst komische Fragen.« »Dachte, die Nizza-Gendarmen seinen Ihre. Freunde.« »Und ich möchte sie als Freunde auch nicht verlieren. Außerdem genügt mir, was ich in Winwards Notizbuch fand. Er hat ziemlich viel über einen bestimmten Distrikt im oberen Amazonasgebiet gesammelt.« Der Alte schien sich wieder des ursprünglichen Auftrags seines Agenten zu erinnern und erhob keine weiteren Einwände mehr. Ganz abgesehen davon, sah die Lage vor Ort immer anders aus, als auf der Landkarte in der Operationsabteilung. Bob Urban verließ Nizza mit der Abendmaschine Richtung Madrid. Von Madrid aus bekam er einen schnellen Iberia-Flug über Dakar nach Rio de Janeiro. * Von Rio nach Belem, von Belem aus mit dem Flugboot amazonasaufwärts bis Manaus und von dort weiter mit dem Dampfer, das war alles noch ein Touristentrip unter dem Motto: Ausflug in die grüne Hölle. 94
Doch dann bekam die Dampfermaschine einen Speisewasserpumpenschaden. Der Dampfer machte kehrt und Urban stand sechs Bootsstunden von der nächsten größeren Ansiedlung entfernt am Ufer. Zum Glück traf er auf der alten Dschungelstraße einen Händler. Der klapperte mit einem völlig überladenen Land-Rover die Dörfer ab. Für einen Mann hatte er noch Platz. Allerdings forderte er dafür zweihundert Dollar. »Was machen Sie, ein Gringo, in dieser gottverlassenen Gegend?« Gringos nannten sie hier die Amerikaner. Urban sah keinen Grund zu erklären, daß er Deutscher sei. »Ich habe einen Regierungsauftrag«, antwortete er in einem Ton, der durchaus Zweifel aufkommen lassen sollte. »Die Senhores von der Administration benutzen doch Flugzeuge.« »Wie kann man hier landen?« »Mit Hubschraubern überall.« »Ein Hubschrauber ging uns erst kürzlich verloren. Wir haben wenig Lust, einen weiteren zu opfern.« Interessiert lauschte der Händler Urbans Erzählung. »Stimmt, davon habe ich gehört«, sagte er. »Wo liegt der Helikopter?« »Ungefähr elfhundert Kilometer von hier«, schätzte Urban. »Ist das nicht im Gebiet der Cofanos?« »Weiter oben auf Barcelos zu.« Urban nannte dem Mann absichtlich einen falschen Ort. Doch der Händler witterte ein Geschäft. 95
»An so einem Hubschrauber, ist da noch etwas Verwertbares dran?« »Wenn er nicht ausbrannte.« »Brannte er aus?« »Die Nachrichten klangen ungenau. Es gab Tote.« »Angenommen er brannte nicht aus, was glauben Sie, was man für ein Funkgerät oder für Instrumente im Süden erlösen kann?« »An der richtigen Adresse eine Masse Cruzeiros.« »Und wem gehört das Zeug?« Urban schüttelte die Hand locker aus. »Dem, der es findet.« »Vamos! Ich bringe Sie hin.« »Laufen die Geschäfte so schlecht?« fragte Urban beiläufig. Der Händler weinte jetzt fast vor Gram. »Ich versorge die Dörfer mit allem, was die Indios brauchen, mit einfachen Medikamenten, mit Waffen, Munition, Stiefeln. Manche tragen sogar schon Hosen. Ich liefere Haushaltsgeräte, Pfannen, Töpfe, Konserven.« »Fleischkonserven etwa?« Der Händler nickte. »Von wegen Wildreichtum hier oben, das sind doch Märchen. Alles leergejagt. Die Indios schleichen manchmal tagelang durch die Gegend, um einen Leguan oder einen Tippi zu schießen. Vielleicht liegt es auch daran, daß sie mit Blasrohr, Pfeil und Bogen völlig unterbewaffnet sind.« »Und womit bezahlen die Indios Ihre Waren?« erkundigte sich Urban. 96
Der Händler war jetzt ein Bild des Jammers. »Früher«, erzählte er, »gab es hier Flüsse, wenn Sie da die Hand reinhielten und rauszogen, dann war sie vergoldet. Soviel Gold trieb flußabwärts. Heute gibt es kein Gold mehr. Wenn Sie heute die Hand reinhalten, wissen Sie, was dann passiert?« Urban nickte. »Dann zieht man sie als Skelett wieder heraus.« »Die verdammten Piranhas«, fluchte der Händler. »Satansbrut! Piranhas bestehen nur aus messerscharfen Zähnen, Kaumuskeln und ’nem Stück Darm hinten dran. Die fressen nicht, die fräsen sich durch wie Maschinen. Satansbrut! Und was die Indios betrifft, nun, sie zahlen mit getrockneter Krokodilhaut, mit Mädchen für die Bordelle in Manaus und mal mit Edelsteinen, wenn sie welche finden.« Solange der Händler auf seiner Generalrichtung blieb, hielt Urban die Stellung auf dem zerschlissenen Sitz des traktorharten, kaum gefederten Land-Rovers. Die Sonne ging unter. Innerhalb weniger Minuten wurde es stockdunkel. Plötzlich, wie eine eingeschaltete Stereoanlage, begann der Urwald zu leben. Abseits des Pfades schlug der Händler sein Primitivlager auf. Mit Benzin setzte er feuchtes Holz in Brand. Im dichten Unterholz um sie herum raschelte und zirpte es ohne Pause. Schatten huschten vorüber. Die Augen von Wild reflektierten grünlichschimmernd das Lagerfeuer. Hunderte von Moskitos fielen über jedes Hautstück 97
her, das sich ihnen ungeschützt darbot. Urban hatte sich mit einer Spezialsalbe eingedeckt. Im Vergleich zu anderen penetrant stinkenden Produkten war sie geruchlos. Ihre Wirkung bestand aus einigen, nur für Insekten wahrnehmbaren Abwehrstoffen. Der Händler war begeistert, als Urban ihn damit versah. »Hombre«, staunte er, »das wäre ein Geschäft. Können Sie mir eine Kiste davon schicken?« »Klaro«, sagte Urban, »wird gemacht. An Pedro Pommerigo, Rio Negro, Flußmeile dreihundert, gleich links.« Wolken schoben sich vor die Sterne. Der Dschungel rund um den Lagerplatz war wie eine schwarze Wand. Das Feuer brannte nieder. Urban schlief nicht sehr fest. In der Ferne ging grollend ein Gewitter nieder. Das war so eine Nacht, wo selbst die Indianer in ihren Hütten enger zusammenrückten. * Die Urwaldpiste hörte auf, und bald auch die letzte Spur von Zivilisation. Der Fluß führte Niedrigwasser. Sie überquerten ihn unter Benützung von Sandbanken. Trotzdem sackte der Landrover bis zum Ansaugstutzen des Diesel ein. Mit Mühe überquerten sie den Seitenarm des Rio Negro und schlugen sich durch den Dschungel weiter nach Westen. Sie mußten Baumstämme beseitigen, die der Sturm 98
gefällt hatte, und immer wieder Brücken instand setzen. Beinahe jede Stunde einmal hatte der Dieselmotor ein anderes Gebrechen. Dann reparierte Pedro Pommerigo geduldig und gottergeben hier eine Düse, da ein Kabel, dort einen Kühlwasserschlauch oder wieder einmal die Aufhängung. Und während er sich Schlamm und Schweiß abwischte, sagte er: »So ein Landrover ist nie völlig in Ordnung. Irgendwas ist immer kaputt. Sogar bei einem ladenneuen. Aber im Stich läßt er dich nie. Der beste Geländewagen der Welt.« Im Lauf der nächsten Tage brachte sie der beste Geländewagen der Welt allmählich dem Absturzort des Helikopters näher. Nach Urbans Karte konnte er nur noch wenige Meilen entfernt irgendwo nahe dem Fluß liegen. Aber der Fluß war nicht zu sehen. Der Händler deutete auf dunstverhangene Berge. Dabei schlug er eine auf der umgelegten Frontscheibe spazierende Vogelspinne tot. Dann sagte er: »Über den Paß noch.« Irgendwie ging es zwischen den Bäumen auf Pfaden, die ein normaler Mensch gar nicht als solche erkannte, weiter. Der Einschnitt zwischen den grünen Hügeln mochte siebenhundert Meter hoch liegen. Sie schafften es bis zum Mittag. Von der Höhe aus hatten sie endlich einen freien Blick auf das Stromtal. Nach langem Suchen mit dem Fernglas entdeckte Urban das Bölkow-Wrack. Ob99
wohl es zum Greifen nahe schien, fuhren sie noch zwei Stunden. Schließlich stellte der Händler fluchend den Diesel ab. »Kommt selten vor, aber ich kenne mich nicht mehr aus.« Urban glaubte, ihn zu durchschauen. Pedro wußte genau, wo das Wrack lag, hoffte aber, als erster dort zu sein, um es fleddern zu können. »Am besten, wir trennen uns«, schlug Pommerigo vor. »Du gehst am Ufer entlang, ich fahre nach Norden. Wir treffen uns am Ende der Flußschleife.« Urban stieg aus, nahm aber das Nötigste mit. Der Kompaß zeigte ihm an, wie er marschieren mußte. Verhältnismäßig rasch kam er zum Fluß, schlug sich am Ufer entlang durch und sah dann, oberhalb einer Biegung, auf einer Art Halbinsel das ausgeglühte Wrack liegen. Trotz der Hitze und der Fliegen, die in Wolken über dem Ufermodder schwebten, erreichte er das Hubschrauberwrack gegen 17 Uhr. Die Toten waren offenbar geborgen worden. Urban untersuchte das Gewirr aus verglühtem Metall und verschmorten Kunststoffen. Hier noch die Absturzursache erkennen zu wollen, wäre selbst den Bölkow-Ingenieuren schwergefallen. Eines jedoch gab Urban zu denken. Der linke Zusatztank war nicht verglüht und verbeult wie der rechte, sondern sah aus, als habe ihn eine Explosion zerfetzt, als habe ihn ein Sprengsatz von innen zum Bersten gebracht. 100
Es gab Höllenmaschinen, nicht größer als ein PingPong-Ball, gefüllt mit hochbrisantem Material und einem Zeitzünder. Dabei waren die Dinger absolut flüssigkeitsdicht. Es genügte, so eine Minibombe beim Tanken durch den Stutzen fallen zu lassen. Nach gegebener Zeit brachte er das Kerosin zu unkontrollierter Verbrennung. Urban nahm an, daß hier eine derartige Sabotagevorrichtung am Werk gewesen war. Der Mann, der das arrangiert hatte, war Profi oder hatte gute Verbindungen zu den Herstellern solcher Spezialinstrumente. Nicht weit entfernt rauschte ein Wasserfall in den Fluß. Außerdem war Urban so in seine Nachforschungen versunken, daß er alles zu spät wahrnahm, das Knirschen des Sandes, die Bewegung hinter sich, den Schatten, den Druck gegen seine Niere. Er drehte sich um. Hinter ihm stand Pedro Pommerigo, der Händler. Er hatte ein Gewehr im Hüftanschlag und preßte den Lauf in Urbans Hüfte. »Das gehört mir, hombre!« »Nimm es dir«, sagte Urban generös. »Der Schrott interessiert mich nicht. Ich will das, was du eben eingesteckt hast.« »Es war nur mein Taschentuch.« »Gib es heraus, oder ich lege dich um. Unten an den Stromschnellen warten schon die Alligatoren auf eine Mahlzeit.« Urban drehte sich vollends um, faßte aber nicht in die Tasche, aus der es nichts zu holen gab, und hob 101
auch nicht die Hände. Aber er lächelte schadenfroh, obwohl es auch sein Schaden war. »Was grinst du, hombre?« zischte Pommerigo. »Dreh dich um!« »Darauf falle ich nicht rein.« »Tu es trotzdem.« Der Händler trat drei Schritte zurück, behielt mit einem Auge Urban im Visier, mit dem anderen schielte er zum Ufer hinüber. Am Rande des Urwaldes standen Männer. Sie waren fast nackt, hatten weiß bemalte Gesichter und Speere sowie drei Meter lange Blasrohre. In ihrer Mitte stand einer in einem schwarzen togaähnlichen Gewand, eine Federkrone auf dem Kopf, eine Kette voll Jaguarzähnen um den Hals. »Madre mia!« Der Händler fluchte. »Shvaro-Indianer, Kopfjäger! Keine Bewegung, sonst schrumpfen unsere Schädel heute nacht schon im Suppentopf!« * Urban kam gefesselt in einen Einbaum, der Händler auf ein Balsafloß. Die vier Stunden bis zum Eintritt der Dunkelheit ruderten die Indianer flußauf. Dann folgte ein Fußmarsch von mehreren Kilometern Länge. Urban trottete im Rhythmus der schlagenden Machete hinter Pommerigo her. Er war müde, durstig und in Unruhe. Bei Mondaufgang erreichten sie ein Dorf. Frauen saßen um ein Feuer. Am Spieß drehte sich ein Schwein. Den Gefangenen wurden die Fesseln abgenommen. 102
Bei dem Händler requirierten sie eine billige Quarzuhr, bei Urban das kleine Taschenradio. Dafür bekamen sie zu trinken. Jeder eine Kokosnußschale voll von ihrem Bier. Das Chicha-Bier schmeckte erfrischend. »Ist aus Maniok-Wurzeln«, sagte Pommerigo, »und ich würde es zu meinem Lieblingsgetränk erklären, wenn ich nicht wüßte, daß das Kauen der Wurzeln von den uralten Großmüttern besorgt wird.« Wie sich ergab, war das Ferkel am Spieß ein Affe. Die ganze Nacht lang hatte Urban den herben Geschmack seines Fleisches auf der Zunge. Später fingen die Kopfjäger zu tanzen an. Sie tanzten, bis die Sonne aufging. Dann trat der Häuptling zu den Gefangenen in die Hütte. Er sprach mit Pommerigo, und der Händler übersetzte. »Ob du die Gräber suchst, will er wissen.« »Wo sind sie?« »Sechs Gräber draußen bei den Feldern.« »Kann ich sie sehen?« fragte Urban. Der Häuptling nickte, wollte aber dafür bezahlt werden. »Gib ihm reichlich«, riet der Händler. »Normalerweise sind Kopfjäger wie die Alligatoren. Sie jagen ausschließlich ihresgleichen. Aber nur, wenn man sie zufriedenstellt.« Urban hatte vorgesorgt. Er nahm sein Schweizer Kombimesser vom Gürtel und reichte es dem Häuptling. Dann gab er ihm noch die Taschenlampe mit der selbstaufladenden Sonnenzelle. 103
»Sag ihm, er muß sie bei Tag in die Sonne legen, sie frißt sich voll Licht und gibt es in der Nacht wieder her, wenn man diesen Knopf da drückt. Sag ihm das, Pedro!« Der Häuptling begriff schnell. Zum Lohn wurde Urban hinaus zu den Gräbern gebracht. Es waren sechs Hügel aus rasch aufgeworfener und dann festgetrampelter Erde. Nur einen der Hügel zierte ein Stein. »Wer liegt unter dem sechsten?« fragte Urban. »Soviel ich weiß, hatte der Hubschrauber nur fünf Mann an Bord.« Wieder dolmetschte der Händler. »Der sechste war der Scout, behauptet der Boß.« »Liegt er unter dem geschmückten Grabhügel?« »Sie schmückten sein Grab, weil sie ihn gut kannten.« »Einer aus dem Stamm?« »Nein, ein Weißer.« »Der Name?« Wieder palaverte der Händler mit dem alten Häuptling. »Sie nannten ihn Slim.« Urban entsann sich des Namens im Notizbuch des toten CIA-Agenten. »Slim Canera etwa?« Im Gesicht des Häuptlings zuckte es. Als er antwortete, wußte Urban sofort, daß er log. »Der Häuptling kennt keinen Senhor Canera.« Nun bezweifelte Urban, daß dieser sechste Grabhügel ein echtes Grab sei. Doch den Beweis zu führen, 104
das würde Probleme aufwerfen. Sie gingen zurück zum Dorf. »Frag ihn, wo der große Fisch aus Eisen ist«, wandte sich Urban an den Händler. Pommerigo übersetzte. Der Häuptling streckte die Hände gen Himmel und schüttelte sie entsetzt, als stehe er unter Strom. Dann redete er viel und lange. Bruchstückweise erfuhr Urban, daß über den Stamm zweimal das Unheil hereingebrochen sei. Einmal zu der Zeit, als es noch den großen König gegeben habe. Damals kam ein riesiger Segler den Amazonas herauf, setzte Menschen aus und die brachten viele Jahre großes Unglück. Und dann, der Häuptling selbst hatte es noch erlebt, war wieder ein Schiff gekommen. Diesmal eines ohne Segel, ohne Masten und ohne Schornstein. Und wieder brachten die Menschen Unglück über den Stamm, Krankheit und Tod. Die Männer auf dem eisernen Schiff mußten sterben, und viele Krieger des Stammes starben. Ehe Urban fragen konnte, wo das Boot jetzt liege, befahl der Häuptling ihn zu fesseln. Nur ihn. Er wurde in eine der Hütten geworfen und streng bewacht. * Zu trinken bekam er nur von dem betäubenden ChicaBier. Urban wußte, daß es Alkohol enthielt und CocaAuszüge, aber er mußte trinken. Der Körper verlor bei der Hitze zuviel Flüssigkeit. Auf diese Weise hielten die Indios ihn automatisch fluchtunfähig. 105
Die Nacht kam. Die Indios tanzten um das Feuer. Sehr spät, als Urban aus seinem Hindämmern erwachte, spürte er plötzlich Wärme neben sich, ausgehend von der samtweichen Haut eines Tieres. Ganz nahe an seinem Ohr flüsterte plötzlich eine kindliche Stimme: »Du mußt fliehen!« Sofort dachte Urban an eine Falle. Man verhalf ihm zur Flucht, jagte ihn und streckte ihn mit den vergifteten Blasrohrpfeilen endlich nieder. Was für ein Heidenspaß. Doch dann stutzte er. »Woher sprichst du Englisch?« »Das ist eine lange Geschichte.« »Erzähl sie kurz.« Das Kind versuchte es. »Das Segelschiff vor hundert Jahren. Die Frau wurde unsere Königin. Tayloro, der Sohn des Sohnes ihres Sohnes, lebte noch hier. Vor kurzem. Er lehrte mich die Sprache seiner Vorfahren.« Urban erinnerte sich, daß im Tagebuch des U-BootKommandanten Herrwege etwas von einem hellhäutigen Indio gestanden hatte. Hellhäutig mit hellen Haaren und von herausragender Größe. »Dein Bruder?« »Tayloro ist nicht mein Bruder. Könnte ich sonst seine Frau sein wollen?« »Du warst nicht seine Frau?« »Leider. Er war unser kluger Gott. Aber Weiße nahmen ihn mit.« »Wurde er entführt?« 106
»Bring mich zu ihm«, flehte ihn das zarte IndioMädchen an. Urban wollte erst mehr wissen. »Wer entführte ihn?« »Slim, der Scout.« »Und warum kam Slim wieder?« »Das weiß ich nicht.« »Fiel er mit dem Flugzeug vom Himmel?« In Urban begann ein Verdacht zu keimen. »Ich muß zu seinem Grab«, flüsterte er. Da fühlte er schon, wie sich die Klinge eines Messers zwischen seine Gelenke schob und die Lianenstricke durchtrennte. Er brauchte einige Zeit, bis er seinen erlahmten Bewegungsapparat unter Kontrolle hatte. Dann verließen sie die Hütte durch den hinteren Ausgang. Ein Loch, durch das für gewöhnlich Hunde und Hühner spazierten. Das Feuer warf die Schatten der tanzenden Kopfjäger bis zu ihnen, als sie, den Pfad entlang hastend, das Dorf verließen. Für Augenblicke verschwand das zierliche ShvaroMädchen und kam mit einem langen Speer wieder. Nachdem sie die Gräberstätte erreicht hatten, wußte Urban, was sie mit dem Speer vorhatte. Sie übergab ihm die Waffe und deutete an, daß er damit in die Gräber hineinstechen solle. Fünfmal stieß Urban etwa fußtief unter der Erde auf den typischen Widerstand, wie ihn menschliche Körper hervorriefen. Beim sechsten Grab, bei dem mit der 107
Steinverzierung, dem Grab eines angeblichen Stammesfreundes also, ging der Speer doppelt so tief hinein. »Leer«, stellte er fest. »Eine Attrappe! Warum will Slim Canera, daß man ihn für tot hält?« Das Indio-Mädchen wußte keine Antwort. Urban gab sie sich selbst. »Er ahnte, daß wir Nachforschungen anstellen würden. Aber warum machte euer Häuptling bei der Täuschung mit? Wo Canera doch euren weißen Gott entführte.« »Weil die Macht des Häuptlings gespalten war, solange Tayloro, der weiße Gott, noch lebte.« »Demnach sind er und Canera Komplizen.« »Niemals darf jemand wissen, was hier geschah, wohin sie Tayloro brachten und warum sie ihn wegbrachten.« »Deshalb darf auch kein weißer Mann dieses Dorf betreten.« Das Mädchen nickte. »Und was ist so Geheimnisvolles um Tayloro?« fragte Urban. »Er ist ein Gott«, wiederholte sie. »Er kann Regen machen, wenn das Land den Regen braucht. Er kann Krankheiten heilen, noch ehe sie entstanden sind. Er kann das Böse im Menschen erkennen, noch ehe es zum Ausbruch kommt. Er weiß was du denkst, fühlst, tust, ohne daß er dich sieht… er ist ein Gott. Tayloro ist unser Gott!« Über das Lärmen im Dschungel hinweg spürte Urban die plötzliche Veränderung. Der monotone Sing108
sang der tanzenden Krieger war wie abgeschnitten. Er spürte die Hand des Mädchens an seinem Arm. »Sie kommen«, sagte sie. »Sie haben es entdeckt. Sie werden dich jagen.« Wortlos folgte er dem Mädchen in den Dschungel. Mit der Sicherheit eines Tieres, das stets seinen Weg zur Tränke findet, nahm die Indianerin den Weg zum Fluß hinunter. Geäst, Schlingpflanzen und Luftwurzeln versperrten ihnen den Weg. Manchmal rückten die Verfolger so nahe, daß Urban ihre Stimmen und ihr Keuchen zu hören glaubte. Doch dann, nachdem sich der Regenwald fast filzartig verdichtet hatte, lichteten sich die Bäume. Der Fluß schimmerte im Mondlicht. Das Mädchen holte ein Kanu aus dem Dickicht. Wenig später zog undurchdringlicher Urwald links und rechts an ihnen vorbei, während der Einbaum lautlos flußabwärts trieb…
8. »Der Schnüffler ist tot«, berichtete Bridges nach Südamerika. »Irgendeine Kugel erwischte ihn. Man weiß nicht, woher sie kam. Danach stürzte er von der Brücke ins Flußbett. Die Polizei steht vor einem Rätsel. Sie sieht kein Motiv, weshalb ein als amerikanischer Tourist getarnter CIA-Agent nach Nizza flog, um oben bei Grasse in den Weinbergen spazierenzugehen. Sie sind geneigt anzunehmen, daß ihn Schüsse trafen, die eigentlich die Vögel vertreiben sollten.« 109
»Wir wollen hoffen, daß es so bleibt«, antwortete Canera. »Hier hatten die Schnüffler leider mehr Glück.« »Man schlägt einen Kopf ab, und schon wachsen zwei neue nach.« »Wie zu befürchten war, schickten sie einen Mann los, der den Hubschrauberabsturz aufklären sollte. Ich habe den Häuptling der Shvaros auf ihn gehetzt. Aber unzuverlässig, wie diese verkommenen Wilden nun mal sind, ist er ihm entwischt.« »Kann er uns gefährlich werden?« »Nach meinen Informationen ist er ein deutscher Spitzenagent, ein ganz gewiefter Bursche.«. »Wirst du ihn abfangen?« Der Mann in Südamerika lachte kehlig. »An dem mache ich mir die Hände nicht schmutzig. Ich fand einen anderen Weg. Den Leuten von der Madero-Corporation erzählte ich, daß er als Beauftragter der UNO gekommen sei, um ihre Geschäfte zu stören.« »Sehr klug«, äußerte Bridges anerkennend, »was täte ich ohne dich.« »Was«, fragte Canera, »täten wir ohne unseren jungen Freund? Wie geht es Tayloro?« »Er funktioniert auf beängstigende Weise.« »Nachdem er in kurzer Zeit auch Französisch zu beherrschen gelernt hat und ihn Wirtschaftszeitungen langweilen, weil die dort aufgeworfenen Fragen für ihn keine reizvollen Probleme mehr darstellen, wendet er sich nun dem Gebiet von Wissenschaft und Forschung zu.« »Speziell welchem?« 110
»Er befaßt sich mit Medizin, Physik, Chemie und Elektronik, quer durch alle Bereiche. Er verschlingt, was ihm an Büchern unter die Hände kommt. Gestern fragte er noch, was ein integrierter Schaltkreis ist, heute entwirft er schon Verbesserungen an hochkomplizierten Chips.« Diese Entwicklung schien Caneras Plänen entgegenzukommen. »In Toulon«, sagte er, »findet in diesen Tagen eine geheime Konferenz von Marinetechnikern statt. Niemand außer einer Handvoll Eingeweihter weiß, um was es da geht. Sie treffen sich in einem streng abgeschotteten Bunker des französischen Flottenstützpunktes. Könnte mir vorstellen, daß es Kreise gibt, denen Einzelheiten über dieses Hearing sechsstellige Beträge wert sind. Wir sollten versuchen…« »… die Antennen nach dorthin auszurichten«, fiel Bridges seinem Partner ins Wort. »Wenn das gelingt, hätten wir das Mittel in der Hand, alle nur denkbaren Geheimnisse durch ihn an uns zu bringen.« »Toulon«, Bridges rechnete, »das sind immerhin dreihundert Kilometer Luftlinie.« »Hat er nicht auch die Dollar Aufwertung vorhergesagt, obwohl die Köpfe, in denen sie ausgebrütet wurden, zehntausend Kilometer entfernt saßen?« »Ich werde tun, was ich kann«, versprach Bridges, der im Umgang mit ihrem Medium mittlerweile schon Übung hatte. »Viel Glück!« wünschte Canera. 111
»Dir auch«, sagte Bridges. »Und wenn das klappt, schreiten wir in eine völlig neue Dimension.« »Auf diese Weise«, bemerkte Canera leise und auf die große Distanz kaum verständlich, »auf diese Weise läßt sich eines Tages die Welt beherrschen.« »Du machst mir Angst«, gestand Bridges. * Am Morgen verließ Berni Bridges das Landhaus, fuhr nach Cannes und erwarb bei der dortigen ChryslerVertretung einen Simca-Kastenwagen in Weiß. Er legte Wert darauf, daß es das Modell mit den kleinen, nicht zu öffnenden Fenstern war. Am Donnerstag wurde der Wagen geliefert. Noch in der Nacht baute Bridges eine bequeme Liege ein, einen Tisch und ein Trockenklosett. In eine schaumstoffgepolsterte Halterung kam ein Tonbandgerät, das seine elektrische Energie aus der Wagenbatterie bezog. Am Vormittag hatte er eine längere Unterhaltung mit seinem Gast. Er erklärte ihm, daß sie eine Reise unternehmen wurden. Diese Reise werde sie zu einem Ort führen, an dem mehrere Männer in einem Bunker beisammen saßen. Ein Bunker sei eine künstlich erbaute Höhle, um dort wichtige Gespräche zu führen. Daraufhin lächelte der blasse blondhaarige Mann und hob seine feingliedrige Hand. »Das Gespräch dieser Männer ist wichtig für uns?« »Ziemlich«, deutete Bridges an. »Was du davon er112
fährst, sprichst du in eine Maschine, die nichts davon vergißt.« »Ein Tonband, meinst du«, verblüffte ihn Tayloro. »Batterie oder Netz?« »Zwölf Volt«, sagte Bridges. »Volltransistoriert.« »Tragen die Männer blaue Uniformen mit goldenen Verzierungen?«erkundigte sich Tayloro. »Siehst du sie etwa schon?« »Nur undeutlich. Aber es sind Leute, die auf das Meer hinausfahren und Schiffe befehligen. Große Schiffe mit Kanonen, Raketen und Torpedos. Manche dieser Schiffe können auch untertauchen wie Fische.« »Ist es dir recht, wenn wir in einer Stunde aufbrechen?« fragte Bridges. »Ich bin bereit«, erklärte Tayloro. »Ich werde nur noch ein wenig schlafen. Ich bin sehr müde in letzter Zeit.« »Im Wagen ist ein Bett für dich.« »Wie schön«, sagte der Mann, der längst nicht mehr wie ein Collegestudent aussah, sondern wie ein vierzigjähriger Professor. »Aber ich bin immer sehr müde in letzter Zeit.« Um 14 Uhr fuhren sie los. Anfangs saß Tayloro noch auf dem Klappbett und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. Doch bald langweilte sie ihn, als kenne er schon im voraus jede Kurve, jede Brücke, jede Ortschaft, jede Kirche und jedes Haus, das auftauchen würde. Er legte sich hin, starrte zur Decke und schlief wie immer mit offenen Augen. 113
In Lavalette verließ Berni Bridges die durch Toulon führende Stadtautobahn und lenkte den Lieferwagen zum Mont Faron hinauf, dessen parkartige Anlagen sich fünfhundert Meter über die Stadt erhoben. Dort stellte er den Simca so hin, daß sein Passagier, ohne seine Lage zu verändern, über die Stadt und die weiträumigen Hafenanlagen aufs Meer hinaussehen konnte. Nachdem sich Tayloro ausgiebig orientiert hatte, reichte ihm Bridges das Fernglas und gab einige Erklärungen ab. »Den Kai Cronstadt, wo früher die Mannschaften der Schlachtschiffe an Land gingen, gibt es nicht mehr«, sagte er. »Weit draußen auf der Außenrede, die einst zum Grab der selbstversenkten französischen Flotte wurde, siehst du die Silhouetten der neuen Geschwader.« Von da führte Bridges den Blick des jungen Mannes geschickt dorthin, wo er mit seiner außergewöhnlichen Gabe ansetzen sollte: »Diese langen Hallen rechts, sind das Arsenal. Ein Kreuzer und mehrere U-Boote liegen an der Pier. Der graue Klotz, der sich wie die Grabplatte einer gigantischen Gruft aufrichtet, ist der neue Kommandobunker. Er reicht tief in die Erde hinab. In seinem Inneren sitzen zu dieser Stunde hohe Offiziere des Westens, vorwiegend Admirale. Sie erörtern geheime Plane, wie sich der Westen gegen einen Angriff aus dem Osten schützen könne. Ihre Namen sind: Admiral Bouchier, Admiral Rochefort, Admiral Perini, Admiral von Schmiedeburg, Admiral Perkins…« 114
»Und Admiral de Santos«, ergänzte der junge Mann fast tonlos. Offenbar hatte er sich schon besser eingepeilt als zu erwarten war. »Perkins raucht eine Havanna, obwohl sein Arzt es verboten hat. Perini ist die Uniform zu eng, er würde gerne die Jacke ablegen. Bouchier hat Probleme mit dem Magen. Er weiß nicht, soll er Kaffee trinken oder besser Tee zu sich nehmen. Der deutsche Teilnehmer hat Schwierigkeiten mit dem Gehör, er ist rechts fast taub. Wirklich zufrieden ist nur Rochefort. Er denkt an die Frau, die er später besuchen wird, aber jetzt ist er wieder voll konzentriert.« »Worüber sprechen sie?« fragte Bridges. Der junge Mann, der auf dem Bett sitzend hinausgeblickt hatte, reichte ihm das Glas zurück und legte sich hin. Langsam begann er zu sprechen, als dolmetsche er simultan, was er zu hören bekam. Bridges hängte ihm das Mikrofon um den Hals. Die Spulen des Aufzeichnungsgerätes drehten sich. * Zwei Tage später rief Canera aus Brasilien an. »Was ist los?« fragte er besorgt, »wo steckt ihr? Ich habe gestern versucht, dich zu erreichen.« »Wir sind erst heute nacht zu rückgekommen«, berichtete Bridges. »Es gab eine ungeplante Verzögerung.« »Klappte es etwa nicht?« »Er hat funktioniert wie immer. Was das betrifft, 115
konnte es gar nicht besser laufen. Aber bei der Rückfahrt erlitt er krampfartige Anfälle.« »Was für Anfälle?« »Ich würde sie als epileptisch bezeichnen. Ich wußte mir nicht zu helfen und brachte ihn in Le Luc ins Hospital.« »Bist du total verrückt geworden!« ereiferte sich Canera. »Sollte ich ihn etwa krepieren lassen«, entgegnete Bridges scharf. »Aber du magst beruhigt sein, ich gab falsche Namen an und eine Adresse in Bayonne. Ich sagte, wir seien als Touristen unterwegs. Der Arzt verabreichte ihm eine Injektion, eine Beruhigungsspritze. Daraufhin entspannten sich seine Muskeln und er schlief ein. Der Arzt fragte, ob er Epileptiker sei. Ich sagte, er habe manchmal solche Anfälle, aber äußerst selten. Daraufhin meinte der Arzt, wir sollten einen Experten zu Rate ziehen.« »Wie geht es ihm jetzt?« fragte Canera besorgt. »Er ist seitdem nur kurz erwacht, um etwas Tee und Zwieback zu sich zu nehmen. Auf Anraten des Arztes fuhr ich erst weiter, als er sich besser fühlte. Vielleicht verträgt er auch die Reise im Automobil nicht.« Darüber lachte Canera nur. »Er hat sich auf allen Transportmitteln, die es nur gibt, immer wohl gefühlt und glänzend gehalten. Krämpfe, epileptische Anfalle, das ist ja ganz etwas Neues.« »Vielleicht ziehen die Experimente zuviel Energie von ihm ab. Wir sollten uns darauf einstellen, daß er 116
wie eine Batterie funktioniert, die sich rasch leert und lange Zeit, vielleicht sogar immer längere Zeit braucht, um sich aufzuladen.« »Unsinn!« tat Canera den Einwand seines Partners ab, »wie war das Ergebnis in Toulon?« »Wie befürchtet.« »Wie erhofft, meinst du.« »Ich bin dabei, seinen Monolog von Band auf Papier niederzuschreiben. Was wir damit in Händen haben, dürfte wohl das Geheimste sein, was auf dem Gebiet der Abwehrsysteme derzeit ersonnen wird.« »Ein System also gegen Angriffe.« »Aus dem Osten, auf die Staaten der NATO, im wesentlichen auf Westeuropa.« »Kein Wort weiter«, schnitt Canera seinem Partner die Rede ab. »Ich habe hier noch eine Kleinigkeit zu erledigen. Anschließend nehme ich die nächstbeste Maschine und fliege zurück. Endgültig. Danach wird es auf diesem Kontinent für uns nichts mehr zu tun geben.« »Denke einmal darüber nach«, bat Bridges, »wie wir den Jungen für uns erhalten können. Er gefällt mir gar nicht.« »Das geht vorüber.« »Er verliert auch an Gewicht.« »Das sind die veränderten Lebensumstände. Vergiß nicht, daß wir eine völlig neuartige Pflanze aus der Wildnis in die Zivilisation umgetopft haben. Dabei gibt es Anlaufschwierigkeiten. Aber ich werde darüber nachdenken.« 117
»Was man tun kann«, ergänzte Bridges. »Unter anderem auch mit den Informationen aus Toulon.« »Du wirst staunen«, versicherte Bridges. »Nicht zu fassen, was die Burschen alles vorhaben.« »Sprich nicht darüber«, stoppte ihn Canera, »das Gespräch läuft über Satelliten und kann mitgehört werden.« Sie legten beide fast gleichzeitig auf.
9. Von Axaro aus brachte sie der Flußdampfer bis Mura. Von dort nahmen sie wieder das klapprige Flugboot nach Belem. Auf Teile seiner Ausrüstung, sie befanden sich noch im Land-Rover des Händlers Pommerigo, verzichtete Urban gerne zugunsten seiner gelungenen Flucht. Papiere und Geld in Landeswährung hatte er bei sich. Außerdem führte er auf solchen Unternehmungen immer Dollars und Goldmünzen, versteckt im Futter seines breiten Hosengürtels, mit. In Axaro hatten sie sich völlig neu eingekleidet. Die Indianerin, sie hieß Aci, trug jetzt ein leichtes Gewand aus olivgrünem Popeline. Wenn sie das Kopftuch umband und ihr kurzes blauschwarzes Haar damit verdeckte, sah sie aus wie eine hübsche brasilianische Negerin, sogar wie eine von der hellhäutigen Sorte. Nachdem es ihm mit Acis Hilfe gelungen war, den 118
Kopfgeldjägern zu entkommen, wußte Urban nicht recht, was er mit dem Indiomädchen anfangen sollte. Deshalb fragte er Aci. Sie erklärte, bei ihm bleiben zu wollen. »Weil du hoffst, mit mir deinen Geliebten wiederzufinden.« »Tayloro lebt«, sagte sie. »Vielleicht aber braucht er meine Hilfe.« »Ich dachte, er besitzt ungeahnte Fähigkeiten.« »Ja, er ist ein Gott.« »Du meinst, er ist nicht von dieser Welt.« Urban versuchte soviel wie möglich aus dem Mädchen herauszuholen, aber ihr beschränkter Wortschatz, sowohl in Englisch als auch in Portugiesisch, setzte dem Verhör Grenzen. Auch als sie ihm von Canera erzählte und ihn beschrieb, war dies eher dürftig. Urban beschloß, sie entweder in Rio oder in München mit einem Experten zusammenzubringen, der die Indiodialekte des oberen Rio Grande beherrschte. In Belem nahmen sie eine Maschine des innerbrasilianischen Netzes bis Rio. Nur von dort gab es Verbindungen nach Europa. In Rio traten unerwartet neue Probleme auf. Aci besaß keinerlei Papiere. Mit Hilfe der deutschen Botschaft gelang es Urban, ihr einen Paß zu besorgen. Die Leute von der Botschaft wollten auch einen Dolmetscher suchen. Inzwischen verfaßte Urban eine Beschreibung von Slim Canera, die man einem internationalen Steckbrief 119
zugrunde legen konnte. Er leitete sie an die zuständigen Stellen weiter. Dann wartete er nur noch auf den Anruf des Lufthansabüros wegen der Tickets nach Frankfurt. Zwischendurch fand er Zeit, die Indianerin in die Zivilisation einzuführen. Das fing mit dem Gebrauch von Messer und Gabel an und hörte mit der Nutzung von Seife und Zahnbürste noch lange nicht auf. Er deutete auf Flaschen und Gläser. »Das Gelbe ist Maracuja-Saft, das Farblose ist Mineralwasser. Beides darfst du trinken. Vor allem anderen hüte dich.« Aci mampfte Schokolade und Früchte. »Und wenn der Zimmerkellner wieder hereinkommt«, fuhr Urban fort, »würde ich dir raten, dich ein wenig zu bedecken. Du hast einen sehr hübschen Körper, Aci, aber nackt läuft man hier nicht herum.« »Warum nicht?« »Ein Kellner ist ein Mann.« »Du bist auch ein Mann, Ich habe es vorhin im Bad gesehen.« »Ja aber«, setzte er an, »ich gehöre quasi zu deinem Stamm.« Er erklärte ihr auch, daß es nicht ginge, nur ein Höschen zu tragen. Im Hotelflur oder auf der Straße müsse es schon eine Kleinigkeit mehr sein. Später versuchte er wieder, über Canera zu sprechen. »Wann kam er das erste Mal zu euch?« »Vor vielen Monden mit anderen weißen Männern. Es waren auch Männer dabei, die auf Sonnenuntergang 120
zu den Wald ausrissen und Löcher in die Erde gruben.« Urban nahm an, daß es sich um Bergbauingenieure handelte. »Slim hat auch einen Freund«, fuhr Aci fort, »wir nannten in Bini.« »Bini«, wiederholte Urban. »Ein Weißer?« »Weiß wie Slim, weiß wie Tayloro.« »Bini oder vielleicht Willi oder Berni?« »Bini«, beharrte Aci. »Sie waren viel mit Tayloro zusammen, weil er ihre Sprache verstand. Von dieser Zeit an, als sie mit Tayloro zusammensteckten, veränderte er sich.« »Tayloro, was bedeutet das in eurer Sprache?« »Es ist nicht unsere Sprache«, erklärte die Indianerin, »es kommt aus der Sprache der Matrosen, die die weiße Frau einst zu uns brachten. Auch sie hieß Tayloro. Alle ihre Nachkommen hießen Tayloro.« »Stammt es von dem englischen Taylor ab?« Da die Antwort zu schwierig für das Madchen schien, fragte Urban etwas anderes: »Kannten Slim und Bini die Fähigkeiten eures blonden Häuptlings? Wußten sie, daß er Regen und Sonne machen kann?« »Und daß er in die Köpfe anderer hineinsehen kann. Ja, das wußten sie. Und sie wußten auch, daß er vorhersagen konnte, wann ein gelber Vogel kommt und sich vor die Hütte setzt, oder wann eine alte Frau vorbeigeht und zweimal ausspucken wird, oder wo die entlaufenen Schweine sind, nämlich unten beim Bach, wo er in den Fluß mündet, einen Pfeilschuß in Richtung auf den bemoosten Felsen.« 121
»Slim und Bini bewunderten ihn deswegen sehr?« »Sie brachten ihn dazu, immer neue Proben seines Könnens zu zeigen.« Das Telefon summte. Das Lufthansabüro hatte zwei Plätze für sie freigemacht. »Wir fliegen morgen«, sagte Urban zu der Indianerin. »Ich hole jetzt die Tickets. Du verläßt dieses Zimmer nicht. Ich klopfe wie immer. Erst dann öffnest du.« Er suchte im Fernseher ein Programm, das Aci zusagte. In einer halben Stunde versprach er, zurück zu sein. Dann deutete er zum Fenster hinaus. »Wenn die Sonne über diesem Haus dort steht.« Immer, wenn er ging, legte sie ihre Stirn an die seine und rieb sie ein wenig. Das war bei den Indiomädchen eine Art Kuß. * Im Lift bemerkte Urban, daß der Schlüssel des Mietwagens nicht an seiner Gürtelschlaufe hing. Im Siebten stieg er aus und nahm, weil alle Lifte unterwegs waren, die Treppe. Als er vor seiner Suite ankam, stand die Tür offen. Nichts Gutes ahnend, ging er hinein und rief nach Aci. Jetzt erst sah er die Unordnung. Eine Banane, sie hatte sie geschält als er ging, lag angebissen auf dem Teppich. Der Inhalt der Pralinenschachtel war in den Sessel gekippt, samt der goldfarbenen Einwickelpapiere, die sich Aci ins Haar zu drehen pflegte. Obwohl es aussichtslos war, suchte er sie im Bade122
zimmer. Kaum hatte er es betreten, fühlte er einen verdammt unangenehmen Druck im Kreuz, als bohre ihn der Finger einer stählernen Hand an. »Stop, Senhor!« Urban hob unaufgefordert die Arme, weil das die beste Ausgangsposition für einen unerwarteten Rundumschlag war. »Fragen Sie nicht nach dem Mädchen!« zischte der Mann hinter ihm. Er stank nach Knoblauch. »Es geht ihm gut. Wir bringen Aci in ein Bordell, wo man sich um sie kümmern wird. Sie wird dort ein feines Leben haben, wenn sie fleißig und folgsam ist.« Das Ganze war offenbar als Falle und allein für Urban arrangiert. Von Aci ging keine Gefahr für sie aus. Trotzdem schien der Mann ebenso überrascht von Urbans unverhoffter Rückkehr zu sein, wie Urban von seiner Anwesenheit. Sein Atem ging eine Spur zu heftig. »Was hat sie euch getan?« fragte Urban. »Sie? Gar nichts.« »Um was geht es euch?« »Um dich, Senhor.« »Dann sag schon, was du auf dem Herzen hast.« Im Augenwinkel erkannte Urban, wie der Mann blitzschnell die Waffe hob, um damit zuzuschlagen. Zweifellos wäre ein glatter Narkosetreffer daraus geworden, wenn die Waffe ihr Ziel erreicht hätte. In einer blitzartigen Reaktion kippte Urban den Oberkörper zur Seite, kreiselte herum und schlug mit dem Knie den Arm des Gegners zurück. Auf diese Art wurde fürs erste die Waffe unschädlich gemacht. Sie flog in weitem Bogen in die Wanne. 123
Doch der andere konterte schnell und wuchtete seine Faust in Richtung auf Urbans Magengrube, was gewöhnlich ein Gefühl erzeugte, als würde man ohne Betäubung operiert. Urban saugte pfeifend Luft ein, bremste die Faust am Rippenbogen und war sich klar darüber, daß er sich einen weiteren Treffer nicht leisten konnte. Deshalb setzte er das härteste Instrument ein, über das er verfügte, seine Handkante. Sie war wie Gußeisen, schlug zu wie ein Hammer und meist auch an der richtigen Stelle. Er traf den Gegner genau dort, wo er ihn hatte treffen wollen. Und nach dem ersten Schlag setzte er sofort noch einmal nach. Der andere saß jetzt am Boden, dicht an der Wand, mit schlotternden Beinen und schmerzgeweiteten Pupillen. »Möchtest du weiterleben?« fragte Urban eiskalt. »Bei der Madonna, Senhor!« »Wo haben sie das Mädchen hingebracht?« »Garage, Senhor.« »Welches Fahrzeug?« »Chevrolet weiß, Station.« Urban ergriff den 45er, stürzte hinaus, sperrte das Apartment ab, rannte zum Lift. Diesmal bekam er ihn sofort und fuhr ohne Halt durch bis zur Tiefgarage. Als er den Lift verließ, sah er einen weißen Chevrolet auf sich zukommen. Es gab jede Menge Chevrolets in Rio, und wegen der Hitze waren fast alle Autos weiß lackiert. Ob es sich um einen Station handelte, 124
konnte er nicht erkennen. Aber der Fahrer beging einen Fehler. Er schaltete volles Licht ein, um Urban zu blenden, und versuchte ihn auf die Stoßstange zu nehmen. Das war der Beweis, daß es sich um jene Leute handelte, die Aci entführten. Urban sprang zur Seite und schleuderte den schweren Smith & Wesson gegen die Windschutzscheibe. Er hörte erst das bekannte Bersten, dann das Knirschen, mit dem bestimmte Autoglassorten zu tausend Bröseln zerfielen. Der Fahrer stieg voll auf die Bremse. Trotzdem erwischte er einen der Stützpfeiler. Da war Urban schon zur Stelle, riß die Tür auf und schlug blind zu. Der Fahrer wehrte sich, aber mit jedem Treffer wurde sein Widerstand schwächer. Urban packte ihn an der Jacke, zog ihn heraus, warf ihn zu Boden und hielt ihn mit dem Fuß gegen den Beton gepreßt. »Wer seid ihr?« »Richmond-Madera-Holz-Corporation.« Erst dachte Urban, der Bursche verkohle ihn. Dann sah er an der Cheviseite die Malerei, einen Baum, eine Säge und den Namen Richmond-Madera-Corporation. »Okay, ihr fällt für Richmond Bäume am Amazonas. Was geht euch das Mädchen an?« »Ihr Stamm weigert sich, uns die Arbeit aufnehmen zu lassen.« »Klar, weil er nicht will, daß dort, wo jetzt noch Dschungel ist, von euch Steppe hinterlassen wird.« Was sollte er mit diesem Halunken länger diskutieren, der sagte ja doch nicht die Wahrheit. 125
»Aci!« rief Urban. Sie stieg aus. Sie hatten sie nur an den Händen gefesselt. »Kennst du diesen Mann?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Such den Revolver!« Sie fand ihn und reichte ihn Urban. Er umfaßte den Knauf und drückte die Waffe dem Brasilianer in den Körper. »Die Wahrheit, oder du wirst nie mehr im Leben einen Kaffee trinken, eine Samba tanzen, ein Mädchen haben.« Vielleicht lag es an Urbans drohender Haltung, oder daran, daß der Brasilianer keinen Sinn mehr in der Sache sah, jedenfalls begann er zu sprechen. »Die Richmond-Corporation hat nichts damit zu tun.« »Ein Mann von Richmond etwa?« »Nein, Senhor.« »Dann ein Mann, den du bei Richmond kennengelernt hast, vielleicht droben am Rio Negro.« Je tiefer sich der Lauf in seinen Körper bohrte, desto mehr bekam es der Kidnapper mit der Angst zu tun. »Si, Senhor.« »Sein Name?« Der Brasilianer zögerte. »Von mir wissen Sie ihn nicht, Senhor.« »Nein, aber von deinem Kumpel, der halbtot oben in der Badewanne schwimmt.« Jetzt endlich rückte der andere damit heraus. 126
»Canera, Slim Canera.« »Wo finde ich den?« »In den Wolken, Senhor. Er ist abgereist.« »Wohin?« »Töten Sie mich, ich weiß es nicht.« Wenn er ein Flugzeug nahm, wird das herauszufinden sein, dachte Urban. Er lockerte den Druck des Revolvers und den seines Fußes, nahm Aci beim Arm und ging mit ihr rückwärts, immer den Fahrer des Chevi anvisierend, auf den Lift zu. »Versucht es noch mal, und ich hetze euch die Polizei auf den Hals.« Offenbar hatte der Brasilianer den Eindruck, daß er bei der Sache glimpflich weggekommen sei. Er blieb liegen, bis Urban außer Sicht war. Im Lift wollte Aci ihre Stirn an der von Urban reiben, doch er war nicht aufgelegt für Urwaldzärtlichkeiten. »Warum hast du geöffnet?« fuhr er sie an. »Sie haben geklopft wie du.« Was ist dieser Canera für ein Mann, überlegte Urban. Er hatte dich die ganze Zeit unter Kontrolle und du hast nichts davon bemerkt. Entweder ist er ein Naturtalent, oder ein erfahrener Profi, oder du läßt ganz einfach nach. Oben in ihrer Suite weckte Urban den Killer durch einen Guß aus der kalten Brause. Mühsam kam er auf die Beine. Als der Brasilianer das Mädchen sah, drohte er wieder wegzusacken. Urban nahm ihm die Brieftasche ab, las seinen Namen und gab ihm die Papiere wieder zurück. 127
»Noch einmal«, drohte er, »wenn einer von euch unseren Weg kreuzt, seid ihr euren Job bei Richmond los, und die Polizei wirft euch ins mieseste Gefängnis dieser Stadt.« Dann packte er ihn hinten und bugsierte ihn zur Tür hinaus. Als er sich umdrehte, stand Aci wieder einmal ohne alles da. »Wir sind nicht im Dschungel!« wies er sie zurecht. Sie lächelte und fragte: »Möchtest du mich haben?« »Dachte, du liebst Tayloro.« »Wir Shvaro-Indianerinnen lieben nicht nur einen Mann.« »Du willst mir ja nur deine Dankbarkeit beweisen«, entgegnete er. »Ist das etwa nichts?« »Mag sein«, sagte Urban, »daß es mehr ist, als viele Frauen einem Mann zu bieten haben.«
10. Berni Bridges erwartete seinen Partner spät nachts am Bahnhof in Nizza. Aber der Dalmatien-Expreß hatte eine Stunde Verspätung. Als er endlich hereindonnerte und mit pfeifenden Bremsen zum Stehen kam, verließ ein graugesichtiger Canera den Speisewagen. »Mußte noch einen Mokka nehmen«, sagte Slim, als er mit Berni durch die Halle eilte, »sonst hätte ich bis 128
Paris durchgepennt. Das war vielleicht eine Schinderei.« Canera bat um eine Zigarette. »Die Krautwickel, die am Balkan als Zigaretten verkauft werden, wachsen mir schon aus den Ohren.« »Aber es hat sich gelohnt«, bemerkte Berni. Sein Partner nahm neben ihm Platz. »Na ja«, meinte Slim gähnend, »es war nicht das Geschäft meines Lebens, aber es setzt die Reihe unserer erfolgreichen Unternehmungen fort. Sie wollten hunderttausend für die Toulon-Aufzeichnungen bezahlen und nach Überprüfung weitere hunderttausend. Darauf ließ ich mich nicht ein. Es ist leicht, hinterher zu behaupten, das Zeug sei nichts wert. Hundertfünfzigtausend, sagte ich, und wir sehen uns niemals wieder. Sie stiegen ein.« »Nicht schlecht«, sagte Berni, »gar nicht übel, wenn man bedenkt…« »Was?« »Was es uns gekostet hat.« »Du darfst niemals den Fehler begehen«, klärte ihn sein Partner auf, »nur die Beschaffungskosten in Toulon anzusetzen. Du mußt sämtliche Kosten zugrunde legen, die uns Tayloro bis heute verursachte.« »Dann müssen wir fairerweise auch alle Gewinne anrechnen. Die aus den Wetten, die aus der Dollaraufwertung und die aus den NATO-Papieren. Wann ziehen wir wieder eine Wettkiste durch?« »Nächstes Jahr«, vertröstete ihn Canera. »Diese öffentlichen Coups machen zu viel Wind. Ich habe vielleicht etwas Besseres.« 129
»Gibt es denn etwas Besseres?« »Kaum saß ich in Belgrad wieder im Zug«, erzählte Canera, »und fuhr Richtung Triest, kam so ein Typ zu mir ins Abteil.« »Was für ein Typ?« »Du weißt schon, Marke Ostblockfunktionär. Er wies sich aus, sperrte dann die Abteiltür von innen ab und fiel mir beinahe um den Hals.« »Ja, sie sind immer sehr herzlich.« »Vor allem dann, wenn du sie gut bedient hast«, fuhr Canera fort. »Er war beauftragt, mir Grüße aus Moskau zu überbringen. Man sei dort so verblüfft vom Inhalt der Toulon-Papiere, daß man geneigt ist, an deren Wahrheitsgehalt zu zweifeln. Ich versicherte ihm, es seien Original-Tonbandprotokolle, aufgenommen über einen Mini-Spion im Befehlsbunker der franzosischen Mittelmeerflotte. Daß die NATO plant, unterseeische Raketenabschußbasen rund um den Ostblock, vom Persischen Gold bis Gibraltar und von der Biskaya bis ins Eismeer zu errichten, hat sie natürlich aufs Kreuz gehauen. Unterseeische Raketenbasen beherrschen sie technologisch noch nicht. Ihr Bau wird auch in den Abkommen über Rüstungsbeschränkung nicht erwähnt und Gegenmittel gibt es kaum. Kein U-Boot kann tiefer als 700 Meter tauchen.« Bridges stoppte Caneras Redefluß. »Das hat sie also begeistert?« »Die Information ja, die Tatsachen weniger.« »Nur das wollte dir dieser Bursche sagen?« Slim Canera verneinte dies. 130
»Er machte mir einen sensationellen Vorschlag. In einem Monat treffen sich auf der US-Marinewerft in Boston die NATO-Spitzentechniker, um über die neuen OHIO-II-Boote zu beraten. Bei dieser Gelegenheit dürften auch die Grundentwürfe für die submarinen Raketenbasen vorgelegt werden. Wenn es uns gelingt, von diesen Gesprächen ebenfalls Aufzeichnungen herzustellen, sind sie bereit, eine Million zu zahlen.« »Dollar?« »Rubel.« »Wie steht der?« »Ein Rubel zwei Dollar.« »Das läßt sich hören.« Bridges bog auf die Bergstraße nach Grasse ab. »Eine reizvolle Aufgabe ist es obendrein.« »Und Tayloro kann sich solange schonen.« Der Ton, in dem sein Partner dies äußerte, mißfiel Canera. »Hat er es so nötig?« »Ich fürchte ja. Gefällt mir nicht, der Junge. Neulich…« Weil Berni nicht weitersprach, hakte Slim nach: »Was war neulich?« Bridges blickte seinen Partner an, schaltete zurück und gab Gas. »Neulich fand ich Blut in seinem Taschentuch.« Canera versteifte sich spürbar im Sitz. »Lunge?« »Das Klima. Er verträgt es nicht.« »Tuberkulose.« 131
»Ich bin kein Arzt. Das Blut kann auch aus einer Mundwunde stammen, vom Zähneputzen vielleicht. Aber so geht es nicht weiter. Wenn wir uns den Dukatenesel erhalten wollen, müssen wir etwas unternehmen.« Der andere nickte und sagte leise: »Glaub mir, ich war nicht untätig. Ich horchte herum, deutete hier und da an, daß ich ein Sanatorium mit verschwiegenen, aber erstklassigen Ärzten für einen prominenten Patienten suche. Ich bekam ein paar Adressen.« »Wo?« »Stockholm, Florenz, eine im Ostblock.« »Man muß weiter herumhorchen und die wirklich beste in einem freien Land aussuchen. Den Ostblock halte ich für schlecht. Da kannst du spurlos für ewige Zeiten in der Versenkung verschwinden. Wenn sie erst spitzkriegen, mit welchem Wundertier wir da anreisen, Ärzte merken das sehr schnell, dann machen sie kurzen Prozeß, und es gibt uns nicht mehr.« »Wir werden darüber nachdenken«, versprach Canera. »Ich besorge mir die nötigen Unterlagen gleich morgen.« Nachdem das Wesentlichste zwischen den Partnern besprochen war, schlief das Gespräch ein. In zwanzig Minuten brachte Bridges den Rest der Bergstrecke hinter sich. Als sie die schmale Straße zum Gutshof hinauffuhren und das Wohnhaus auf dem Hügel liegen sahen, sagte Canera: »Im ersten Stock brennt Licht.« 132
»Das muß bei ihm sein.« »Schläft er nicht um diese Zeit?« »Im Moment hat er das Fernsehen entdeckt. Aber die alten Filme im Nachtprogramm interessieren ihn nicht sonderlich. Mit Humphrey Bogart und Fred Astaire kann er nicht viel anfangen.« »Nun, Erinnerungen an vergangene Zeiten, Gefühle, Nostalgie, die vermag er eben nicht zu reproduzieren. Damit sind auch ihm Grenzen gezogen.« Bridges fuhr schneller. Beunruhigt eilte er ins Haus. Schon auf der Treppe rief er nach Tayloro. Die Tür zu seinem Zimmer stand offen. Sie suchten ihn im Haus, im Park, und fanden ihn schließlich im Weinkeller unter dem Nebengebäude. Um einen Deckenbalken hatte er einen Strick ge schlagen und war im Begriff, sich die Schlinge um den Hals zu legen. »Verdammt, das muß er in einem Western gesehen haben!« schrie Bridges und entwand das Selbstmordinstrument seinen Händen. »Was machst du da, Junge?« fuhr ihn Canera entsetzt an. »Wie ist sterben?« fragte Tayloro mit einem Ausdruck voller Unschuld. »Das weiß niemand.« »Ich möchte es aber wissen. Tot, wie ist das?« »Mir ist nur soviel darüber bekannt«, antwortete Canera, »daß dabei ein Zustand eintritt, bei dem man keinerlei Fragen mehr stellt.« 133
»Keine Fragen, das ist schön«, flüsterte der Junge. »Man hat keine Bedürfnisse mehr, keine Wünsche, keine Schmerzen, keine Sorgen. Es ist alles aus, vorbei, dunkel, endlose Nacht.« »Muß Sterben schön sein«, murmelte Tayloro und ließ sich widerstandslos in sein Zimmer bringen. Sie sorgten dafür, daß er den Versuch, sich umzubringen, nicht wiederholen konnte. Als Berni Bridges hinter ihm die Tür abschloß, sagte er: »Ärztliche Behandlung ist unumgänglich, wenn wir noch länger seine Dienste in Anspruch nehmen wollen.« »Ja, es wird höchste Zeit«, pflichtete ihm Canera bei.
11. Vor die Entscheidung gestellt, das Indiomädchen Aci in einem BND-Sanatorium in den bayrischen Bergen unterzubringen oder in privater Umgebung, beschloß man, sie weiterhin in Bob Urbans Nähe zu lassen. Er war zu ihrer Bezugsperson geworden, von der man sie nur behutsam entwöhnen durfte. Nach der Landung in München-Riem lotste sie ein Beamter der Grenzpolizei unter Umgehung der Einreiseformalitäten zu einem wartenden Mercedes. Urban und Aci setzten sich neben den im Fond wartenden Operationschef. »Wir dachten, daß es am besten ist, wenn Sie das Mädchen vorerst als Gast in Ihrer Wohnung auf134
nehmen«, erklärte Sebastian, nachdem er Aci mit raschem Blick gemustert hatte. »Hübsche Person übrigens.« »Bleibt das Sicherheitsproblem.« Urban erinnerte den Chef an den Zwischenfall in Rio. »Dafür ist gesorgt. Sie müssen, solange Aci bei Ihnen lebt, ein Dienstmädchen in Kauf nehmen. Natürlich eine von unseren Nachwuchs-Agentinnen.« »Und wo wird man sie verhören?« »Auch dafür ist uns etwas eingefallen.« Der Alte erläuterte es. »Sie haben seit heute eine Haushälterin. Keine Sorge, sie wird auf die Organisation Ihrer Junggesellenwelt keinen Einfluß nehmen. Sie ist Privatdozentin für Indianersprachen des oberen Amazonas an der Universität Konstanz. Die Regierung von Württemberg hat sie uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Ich denke, daß sie in einigen Tagen alles wissen wird, was auch dieses Mädchen weiß. Menschen, die noch in der Steinzeit leben, sind relativ unkompliziert.« »Die Shvaro leben fast schon in der Eiszeit«, erwiderte Urban, »aber sie wird alles erzählen, wenn sie auf diese Weise Tayloro, ihren Gott, wiederfindet.« Die Unterhaltung zwischen Urban und Oberst Sebastian wurde in Deutsch geführt, von dem Aci nichts verstand. Die Fahrt von Riem in die Innenstadt lenkte sie jedoch auf eine Weise ab, daß sie gar nicht merkte, wie sehr die beiden Männer ins Gespräch vertieft waren. Durch Fragen versuchte Bob Urban sein Wissen auf den neuesten Stand zu bringen. »Drei Wochen im Dschungel«, sagte er, »da vergißt 135
man, was ein paar Weißwürste kosten. Gibt es schon eine Spur von Canera?« »Wir spannen gerade das Netz«, berichtete Sebastian, »die Haken, an denen es aufgehängt wird, heißen amerikanische Bundeskripo, CIA, Interpol und NATOGeheimdienste.« »Was hat die NATO damit zu tun?« »Vielleicht gar nichts, möglicherweise aber auch sehr viel.« Sebastian setzte Urban über Vermutungen ins Bild, die zu großen Befürchtungen Anlaß gaben. »Das Ergebnis der Toulon-Konferenz muß in den Ostblock gelangt sein.« Urban, dem bekannt war, unter welchem Sicherheitsgrad die Toulon-Konferenz stattgefunden hatte, kamen Zweifel. »Die Sowjets bluffen wieder einmal.« »Leider scheinen ihre Informationen sehr konkreter Natur zu sein. Die großen Werften am Finnischen Meerbusen sollen den Entwurf von Tiefsee-Drohnen zur Vernichtung unterseeischer Raketenbasen in Angriff genommen haben. Übrigens, was versteht man unter einer Tiefseedrohne?« »Drohnen nennt man unbemannte, zur Aufklärung eingesetzte Flugzeuge. Sie werden ferngesteuert, können aber statt Kameras auch eine Bombe mitnehmen. Vom Luftkrieg auf den Seekrieg übertragen, wäre eine Tiefseedrohne also ein unbemanntes U-Boot, das ferngesteuert große Tiefen aufsuchen kann, Raketenbasen zu finden und eventuell zu zerstören vermag.« 136
»Demnach kennen die Russen Einzelheiten aus Toulon.« »Und wie kamen sie dazu, bitte?« »Die Amerikaner verfolgen eine beinah utopisch klingende Theorie.« »Bezieht sie sich auf einen gewissen Tayloro?« »Wir fragten uns lange«, fuhr der Alte fort, »was dieser Agent, ich glaube Tom Winward war sein Name, ausgerechnet in Nizza zu suchen hatte. Dort wurde er bekanntlich erschossen, ehe er sich mit Ihnen treffen konnte.« »In seinem Notizbuch stand der Name Canera.« »Canera lebte doch bei diesem Indianerstamm am Rio Grande.« »Und er soll Tayloro, den Freund von Aci, entführt haben.« »Diesen Wunderknaben. Es klingt zwar alles ein bißchen nach Zirkus, aber warum auch nicht. Es könnte etwas dran sein.« »Was?« fragte Urban. »Etwas in Verbindung mit Toulon? Ist doch lachhaft.« Der Alte hob die Hand und ließ sie auf das Knie zurückfallen. »Ich möchte nichts gesagt haben, aber langsam kommt eines zum anderen. Der CIA-Agent starb nahe Grasse. In seinem Buch stand der Name Canera. Canera soll dieses medial veranlagte Wesen entführt haben. Grasse wiederum liegt nicht allzuweit von Toulon entfernt. Nur zwei oder drei Autostunden.« »Noch sind das alles Glieder ohne Verbindungen.«« 137
Nun erinnerte Sebastian seinen Agenten daran, was die Amerikaner dazu gebracht hatte, in den Fall einzusteigen. »Eine Gruppe von Privatleuten machte hohe Devisengewinne, weil sie rechtzeitig von der geplanten Dollaraufwertung wußte. Man folgte ihrer Spur und stieß auf einen gewissen Berni Bridges, Nach langwierigen Nachforschungen ergab sich, daß Bridges und Canera vor x-Jahren gemeinsam für die amerikanische Entwicklungshilfe in Afrika tätig waren. Schließt sich nun der Kreis?« »Das entscheidende Glied fehlt immer noch«, bedauerte Urban. »Aber das werden wir schon schmieden.« »Wir haben zwei Eisen im Feuer. Das Indio-Mädchen und Stralman. Der Professor befaßt sich seit Tagen mit nichts anderem, als mit dem Stand der Forschung auf dem Gebiet der Parapsychologie, der Prakognation, der Parakinese und wie sich das alles noch nennen mag. Er erwartet Sie übrigens.« »Schätze, er ist so neugierig auf meinen Bericht wie ich auf seine Analysen.« »Alles hat höchste Dringlichkeitsstufe«, betonte der Alte. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.** »Ich weiß.« »Man stelle sich vor, es gelänge irgendeiner gegnerischen Großmacht, sich eines Gehirns zu bedienen, das nicht nur in andere Gehirne hineinblickt, sondern auch zukünftige Entscheidungen vorhersehen kann. Dann sind wir ziemlich krumm geleimt.« 138
»Auf die Politik übertragen, auf die Forschung und auf die Weltwirtschaft ergäbe das unvorstellbare Vorsprünge der anderen Seite.« »Im Falle einer gezielten Auswertung. Und das dürfen wir nicht zulassen.« Urban sah deutlich, was auf ihn zukam. In der Ferne ballten sich schwere, graublaue Gewitterwolken zusammen. Und an ihm würde es wieder liegen, sie aufzuhalten. Er kannte den Mechanismus der Aufgabenverteilung. Wer kompetent war, mußte ins Feuer. Wer sich eingearbeitet hatte, mußte einen Fall zu Ende bringen. Der Oberst wechselte das Thema. »Der Grund Ihrer Reise zum Amazonas waren Nachforschungen über den Tod des Bergungsteams. Was war die Absturzursache?« »Sabotage. Ein Sprengsatz im Kerosintank des Bölkow.« »Und wo liegt das U-Boot?« »Bitte, fragen Sie mich was Hübscheres«, bat Urban seinen Vorgesetzten. * Der sonst fröhliche, stets zu einem Umtrunk bereite Professor Stralman saß im Chefzimmer seines weiträumigen Labortraktes und brütete finster vor sich hin. So kannte ihn Urban nur, wenn er mit einem Problem an der Wand stand. Links vor sich hatte Stralman die Gesprächsproto139
kolle der Konstanzer Professorin mit dem IndioMädchen liegen, rechts die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen und Ermittlungen. Diesbezüglich war er auf Urbans Besuch gut vorbereitet, aber er hatte ihm wohl nicht allzuviel zu bieten. Er blickte hoch, nahm den Zwicker ab, legte beide Hände auf die Papiere und hob sie nach Mohammedanerart. »Nur heiße Luft«, verkündete er. »Die Sprachexpertin holte aus deiner Amazonas-Eroberung im Grunde nicht mehr heraus als du. Es ist immer dasselbe. Mit zweihundert Worten kannst du dich verständigen. Hast du aber tausend Worte, ergibt das höchstens ein paar Ausschmückungen, die nur unwesentlich mehr bringen, meist aber schwieriger zu deuten sind.« »Und die Mutmaßungen über Tayloro«, fragte Urban gezielt, »wie steht es damit?« Der weißhaarige Professor zog seinen Labormantel eng um die hagere Gestalt. Dann zuckte er mit den knochigen Schultern. »Wir haben alles erreichbare Material abgecheckt und sind so klug wie zuvor.« Urban setzte sich auf die schwarze Glasplatte des Stahlrohrschreibtisches. »Ist es möglich oder nicht?« Stralman wand sich wurmartig. »Unsere Welt ist so durch und durch erklärbar geworden, daß ich hoffe, es möge noch Wunder geben.« »Sie wissen, was man diesem Tayloro zuschreibt.« »Alles, von der Beeinflussung von Materie durch 140
Geisteskräfte bis zur präzisen langfristigen Vorhersage von Ereignissen.« »Sowjetische Psi-Tests haben ergeben, daß dies im Prinzip möglich ist.« »Wobei die Ergebnisse so minimal sind, daß sie auch mit Meß- und Beobachtungsfehlern erklärt werden können.« Urban ließ nicht locker. »Aus meiner Unterhaltung mit Aci weiß ich, daß sie nicht lügt. Ich habe sie mir vorgenommen wie ein Psychologe. Sie sagte, Tayloro, den sie Gott nennen, habe Vögel im Flug zur Strecke gebracht, habe Gewitterwolken verjagt, grüne Früchte reif, Kranke gesund und wilde Tiere zahm gemacht. Einmal habe er sogar im Regen nasses Holz zum Brennen gebracht. Stets nur kraft seiner Konzentration. Und das ist noch lange nicht alles. Er sagte die Ankunft von Fremden voraus, kannte ihre Absichten, bevor er sie gesehen, noch bevor sie ein Wort gesprochen hatten.« »Wir vermögen das nicht. Was mangelt uns also?« faßte Stralman zusammen. »Es mangelt uns das, was Tayloro besitzt. Und was, bitte, besitzt er?« »Gewisse überirdische Fähigkeiten.« »Alles, was wir nicht beherrschen, du und ich, ist also überirdisch«, tat Stralman Urbans Wortwahl ab. »Ich akzeptiere gern jede bessere Bezeichnung«, erwiderte Urban. Stralman las die Protokolle vor. Darin wurde aufgezählt, welche Fähigkeiten man diesem Mann aus dem Dschungel zuschrieb. Stralman gab ihnen prächtige 141
lateinisch wissenschaftliche Bezeichnungen, damit war er aber auch schon am Ende. »Existieren Beweise?« fragte er, als wolle er damit seine Unsicherheit entschuldigen. »Die Vorhersage der Dollaraufwertung und die Beschaffung der TouIon-Protokolle.« »Beides ist auch anders zu erklären, nämlich durch Verrat.« »Man hat es überprüft. FBI und CIA arbeiten sehr gewissenhaft.« Stralman lehnte sich zurück, massierte seine Gesichtsfalten, besonders die, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln verliefen. »Ein Gott kam also zu uns auf die Erde.« »Die Bezeichnung Gott ist wohl ebenso dilettantisch wie der Begriff überirdische Fähigkeiten«, entgegnete Urban. »Aber wie kann so etwas entstehen in einem normalen Menschenwesen aus Fleisch und Blut?« Nun holte Stralman weit aus. »Dieser Tayloro«, begann er, »kommt aus dem Regenwald. Der Regenwald ist voller Geheimnisse. Man kann sagen, er birgt die letzten Rätsel dieser Erde. Er ist Brutstätte von Entwicklungen, von denen wir uns keine Vorstellungen machen können, weil er seit Jahrtausenden unberührt blieb. So einen feuchtwarmen Dschungel muß man sich vorstellen wie einen im Brutschrank angesetzten Nährboden. Wenn wir davon ausgehen, daß auf unserer Erde Millionen Jahre lang der Urschleim brodelte, bis endlich Leben entstand, primitives einzelliges Leben, dann wäre denkbar, daß sich dort drüben 142
im Amazonasdschungel phantastische Sachen in Richtung Mutation et cetera tun.« »Vom Affen zum Menschen, vom Menschen zum Übermenschen.« Durch Urbans Einwurf fühlte sich Professor Stralman ein wenig auf den Arm genommen. Deshalb begann er jetzt zu dozieren: »Der tropische Regenwald des Amazonasbeckens ist etwa dreißigmal so groß wie die Bundesrepublik. Bis vor wenigen Jahren war die grüne Unendlichkeit praktisch unberührt. Sie ist, im Gegensatz zu mitteleuropäischen Waldgebieten, ein sensibel ausbalanciertes, in sich geschlossenes Öko-System. Da der Boden an sich unfruchtbar ist, zirkulieren Nährstoffe und Wasser oberhalb des Bodens zwischen Bäumen und Schlingpflanzendickicht. Durch diese Geschlossenheit spielt der Regenwald auch eine große Rolle als sogenannte GenBank, aus der sowohl Saat- wie Tierzüchter unendlich viele neue Erbanlagen entnehmen können, egal ob sie andere Nutzpflanzen oder Tierarten züchten wollen. Durch Millionen von Jahren hindurch diente der Tropenwald der Natur als Labor, um nicht zu sagen als Spielfeld zum Ausprobieren neuer Tier- und Pflanzenarten. Sie entstehen bekanntlich durch Gensprünge. Diese können Jahrtausende auf sich warten lassen, aber auch von heute auf morgen auftreten. Vielleicht, und nun begebe ich mich auf das Gebiet der Spekulation, traf diese weiße Frau vom Teeklipper »Flying Dream« genau zu einem Zeitpunkt dort ein, um die Spermen eines Indianerhäuptlings aufzunehmen, als der Zeit143
punkt für eine Gen-Explosion reif war. Bei ihren unmittelbaren Nachkommen wurde diese Mutation noch nicht voll wirksam, aber in der dritten Generation, eben bei Tayloro, kam alles zum Durchbruch. Vielleicht ist er der erste Vorbote einer neuen Übermenschenrasse, vielleicht aber auch, und das ist nach Ansicht meiner Fachkollegen wohl die größere Wahrscheinlichkeit, nur ein Ausreißer der Natur, eine Abnormität im eingefahrenen Produktionsablauf.« »Eine Montagsproduktion gewissermaßen?« faßte es Urban in verständliche Umgangssprache. »Ich würde sagen«, Stralman machte eine Pause, »vielleicht ein menschlicher Prototyp.« »Von dem aber nicht gesagt ist, ob er auch in Serie geht.« »Wahrscheinlich geht er«, erwiderte Stralman, »um bei deiner Wortwahl zu bleiben, niemals in Serie. Da anzunehmen ist, daß die geistige Überpotenz dieses Menschen zu Lasten seiner physischen Widerstandskraft geht, dürfte ihm kein allzu langes Leben beschieden sein. Das heißt, er hält den Abnutzungserscheinungen des Daseins wohl nicht allzulange stand. Dies noch weniger außerhalb seiner gewohnten Wildbahn in der Hochzivilisation Europas. Es sei denn…« »Man wickelt ihn in Watte.« »In sehr viel, sehr weiche und völlig sterile Watte. Sonst geht er so rasch kaputt, wie eine exotische Blüte. Und daß so ein Prototyp nachwächst, ist erst wieder im Jahr 50.000 zu erwarten. Aber schon in zehn Jahren 144
wird es keinen Amazonaswald mehr geben, wenn dort weiter so barbarisch gehaust wird. Sie räumen ja ab, was nur geht. Holz, Bodenschätze, alles. Schon sind zehn Prozent des ehemaligen Dschungels Wüste. – Wüste, verstehst du!« Ihr Gespräch, das sich im Grunde nur um dieses Lebewesen drehte, das bisher kaum einer zu Gesicht bekommen hatte, ging noch Stunden weiter und hätte wohl bis in die Nacht gedauert, wenn Urban nicht abberufen worden wäre. * In der Operationsabteilung ließ ihm Oberst a. D. Sebastian nur Zeit für ein Kurzreferat. Es gipfelte in der Schlußfolgerung, daß die Weitergabe der TouIonPapiere nach Moskau nicht unbedingt auf eine undichte Stelle zurückzuführen sein müsse. »Diesen Hellseher gibt es also wirklich«, unterbrach Sebastian. »Man muß davon ausgehen.« »Dann darf ab sofort nichts Geheimes mehr gedacht, gesprochen, ausgehandelt und aufgezeichnet werden.« »Im extremen Fall wäre das die Konsequenz.« »Und das ist untragbar.« »Weiß ich«, sagte Urban. »Dann überlegen Sie sich mal was, wie man dem Problem beikommt.« Urban steckte sich eine MC an. Während sich der aufsteigende Rauch um die Stores ringelte, fragte er: 145
»Soll ich mich nun weiter um die Bergung von U-836 kümmern, oder um Freund Tayloro?« »Was ist Ihnen lieber?« fragte der Boß mit höhnischem Grinsen. »Das Leichtere«, gestand Urban. »Das alte Unterseeboot. Lieber zerlege ich es mit der Nagelfeile und schleppe es Stück für Stück auf dem Buckel aus dem Urwald, als mich weiter mit diesem Wahnsinnstyp zu befassen, von dem keiner weiß, wo er ist und der alles, was geschieht, schon im voraus kennt. Sein eigenes Problem wohl nicht ausgeschlossen.« »Tut mir leid«, bedauerte der Alte, »um das U-Boot kümmert sich ab sofort die brasilianische Marine. Bonn hat wohl ein bißchen an der langen Schraube gedreht und Begünstigungen auf anderen Gebieten zugesagt.« »Also behalte ich den Schwarzen Peter.« »Heißt er nicht Tayloro und ist er nicht von weißer Hautfarbe?« Urban hatte eigentlich an eine Ablösung gedacht. Der Einsatz in Brasilien hatte ihm immerhin einiges abverlangt. »Ich brauche eine Pause«, forderte er. »Den Fall soll ein anderer übernehmen. Außerdem ist das ein Puzzle, und damit Sache des Fahndungscomputers.« Doch da machte der Alte nicht mit. »Wenn ein ausgebildeter Spitzenagent wie Sie«. erwiderte er, »auf einen Fall eingependelt ist, das heißt, wenn er das Problem und damit den Gegner einwandfrei erkannt hat, dann bietet er ein Höchstmaß von Effizienz, und es ist unmöglich, seine für diesen Fall ent146
wickelten Instinkte plötzlich auf einen anderen Agenten übertragen zu wollen. Ich habe keinen Ersatzmann für Sie. Sagt man nicht von Ihnen, Sie seien rücksichtslos auch gegen sich selbst und schwindelfrei in allen Situationen?« Der Alte äußerte das in seiner väterlich belehrenden Art, aber sein freundliches Äußeres täuschte nicht darüber hinweg, daß er im Grunde ein Schweinehund war.
12. Der Chef der Abteilung für geheime Operationen, Vorsitzender des Planungsdirektoriums und Leiter des Büros für Sondereinsätze bei der CIA, James P. Hollister, hatte schlechte Laune. Genaugenommen hatte dieser Zustand an dem Tag begonnen, an dem sie die Leiche des toten CIA-Agenten Tom Winward der heimatlichen Erde übergeben hatten. Seitdem ließ sich Hollister jeden Morgen Bericht erstatten, um jeden Morgen wieder das gleiche zu erfahren: »Keine neuen Erkenntnisse, Sir.« Da er ohnehin ein aufbrausender Mensch war, pflegte James P. Hollister dreimal zu schlucken, ehe er reagierte. »Langsam wird mir das aber zu dumm«, sagte er. »Oder soll ich diesen Laden für unfähig erklären. Die Agency beschäftigt Tausende von hervorragend ausgebildeten Männern, gibt pro Jahr über eine Milliarde Dollar an Steuergeldern aus, und wenn man die nähe147
ren Umstände des Mordes eines Spezialisten erfahren möchte, dann heißt es, keine neuen Erkenntnisse, Sir. Ich fordere nun, daß der Sache Winward energisch nachgegangen wird. Und nicht nur, um den Täter hinter Schloß und Riegel zu bringen. Mittlerweile besitzen wir Erkenntnisse, daß hier ein wenig mehr auf dem Spiele steht.« Dermaßen zur Tätigkeit ermuntert, gab der Unterabteilungsleiter den Tritt weiter. Um 11 Uhr 30 an diesem verregneten Vormittag fand im Lageraum IX des CIA-Hauptquartiers in Langley eine Konferenz statt. Alle erreichbaren Spitzenleute waren zusammengerufen worden. Der Verantwortliche, ein Baseballspielertyp von etwa 35 Jahren, den sein blonder Spitzbart jedoch deutlich älter erscheinen ließ, faßte sich kurz: »Gentlemen«, begann er, »wir mußten eine Entwicklung registrieren, die es uns nicht erlaubt, den Tod von Tom Winward auf sich beruhen zu lassen oder seine Aufklärung dem Zufall, das heißt der französischen Kriminalpolizei anheimzustellen.« Der Seitenhieb auf die Fähigkeiten der Sûrété erzeugte nur müdes, aber immerhin höfliches Gelächter. Wenn der Chef schon mal einen Scherz machte, dann mußte dieser auf irgendeine Weise zur Kenntnis genommen werden. Ziemlich scharf fuhr der Unterabteilungsleiter fort: »Tom Winward war hinter einem gewissen Berni Bridges her. Bridges wird im Zusammenhang mit Devi148
senmanipulationen genannt. Aber nicht nur damit. Mittlerweile ist bekannt, daß er einem gewissen Slim Canera partnerschaftlich verbunden ist. Beide haben aus dem Amazonasgebiet eine Art menschliches Medium entführt, das hellseherische Fähigkeiten besitzt. Mit Hilfe dieses Mannes gelangten sie an die ToulonProtokolle. Diese äußerst geheimen Papiere wiederum brachten sie in den Besitz des Kreml. Weitere Geheimnisabflüsse aus West nach Ost sind zu befürchten. Wir haben also die dringende Verpflichtung, die abrupt gestoppten Nachforschungen von Tom Winward weiterzuverfolgen. Auf Grund von Rekonstruktionen wissen wir jetzt, daß Winward an der franzosischen Riviera in der Nahe von Grasse ein Objekt unter Beobachtung nehmen wollte. Das in Frage kommende Gebiet ist mit vierzig Quadratkilometern nicht allzu groß. In diesem Raum muß man jedes Haus, jeden Stall, jede Erdhöhle untersuchen. Dazu bilden wir vier Einsatzgruppen. Kontaktaufnahme zum französischen Geheimdienst SDECE läuft bereits. Das Transportflugzeug, das Sie nach Europa bringt, startet in vier Stunden. Sie können also schon morgen früh mit der Arbeit beginnen. Einzelheiten bei der Befehlsausgabe. Die Spur ist vielleicht schon kalt, Gentlemen, aber man sagt uns bekanntlich nach, wir seien in der Lage, auch heute noch der Spur Buffalo-Bills durch die Prärie zu folgen, und das liegt auch schon einige Jahre zurück, daß er von Tampico nach Sacramento ritt. Das war’s, Gentlemen! Wünsche viel Erfolg!« In der Hoffnung, die Riege seiner Bluthunde ge149
nügend motiviert zu haben, fuhr er zum Essen und anschließend auf den Golfplatz. * Für die vier Dreierteams des Suchkommandos war der Einsatz in Südfrankreich alles andere als eine sportliche Abwechslung. Eine amerikanische Army-Einheit in Italien hatte sie mit dem nötigen technischen Gerät versorgt. Die Teams verfügten nun über zwei Jeeps, einen Hubschrauber, eine Staffel Bluthunde und selbstverständlich über Sprechfunkverbindung. Unter den wachsamen Augen von SDECEBeobachtern begann die Durchsuchung. Das Gebiet war bergig und bewaldet. Trotzdem gab es auf den vierzig Quadratkilometern eine Reihe von Landgütern, etwa sechsundzwanzig Villen in kleineren oder größeren Grundstücken, ein von seinen Einwohnern verlassenes, allmählich verfallendes Dorf sowie bebautes Land, auf dem vorwiegend Blumen gezüchtet, Wein oder Oliven angebaut wurden. Die Durchsuchung des Dorfes ging rasch vonstatten. Die Kontrolle der lichten Wälder und des offenen Areals übernahm der Hubschrauber. Zwei Höhlen und mehrere entlegene Schafställe zwangen ihn mehrmals zur Landung, aber bis zum Abend konnte die Helikopterbesatzung nur Fehlanzeige melden. Die Überprüfung der Villen gestaltete sich einfacher als erwartet. 150
Die Bewohner empfanden das Ersuchen der Kommandos, die Häuser inspizieren zu dürfen, nicht als Störung, sondern als angenehme Abwechslung. Man bot den Amerikanern und Franzosen Wein an oder Kaffee, und zeigte sich im großen und ganzen kooperativ. Bei den Landgütern war alles ein wenig schwieriger. Die Besitzer arbeiteten meist in den Feldern und waren erst gegen Abend anzutreffen. Trotzdem verlief die Aktion so zügig, daß in den ersten vierundzwanzig Stunden achtzig Prozent des Programms abgewickelt waren. Am nächsten Tag mußten nur noch ein paar Häuser und zwei Landgüter besucht werden. Bereits am frühen Vormittag glaubte ein Team, fündig geworden zu sein. Schon als sich der Jeep dem Haus auf dem Hügel näherte, kam es den erfahrenen Agenten auf merkwürdige Weise verlassen vor. Das Tor in der Parkmauer war verschlossen und mit einer schweren Kette gesichert. Die Männer des Teams nahmen die Karte zu Hilfe, auf der der Fundort von Tom Winwards Leiche angekreuzt war. »Hier ist der Bach.« »Da die Brücke.« »Luftlinie knapp eine Viertelmeile.« »Schätze, von der Terrasse des Hauses kann man sogar hinsehen.« »Es wurde auch hingesehen, und zwar mit der Absicht, jeden Schnüffler, der zu nah kommt, am weiteren Vordringen zu hindern. Notfalls per Gewehrschuß.« 151
Da niemand öffnete, knackten sie die Kette mit dem schweren Seitenschneider und näherten sich vorsichtig dem Haus. Es war verlassen. Versperrt, verriegelt und verlassen. Es gab keinen Angestellten, der es bewachte, und kaum Spuren der Bewohner. Das Innere des Hauses machte zwar keinen übertrieben sauberen Eindruck, aber auch nicht den, als hätten hier vor kurzem noch Menschen darin gelebt. »Ein bißchen zu wenig Staub auf den Möbeln«, meinte einer der Experten, »ein Grund zum Weitersuchen.« Im Nebengebäude – Ölflecken am Boden deuteten darauf hin, daß es als Garage gedient hatte – fanden sie einen kastenförmigen Behälter. »Eine Art Wohnwagen«, schätzte der SDECEBegleiter. »Aber warum hat er keine Räder?« fragte sich einer der CIA-Agenten. »Von Größe und Konstruktion her erinnert er mich an Luftfrachtcontainer.« »Nur sind Container nicht mit einem Bett ausgestattet« An der südlichen Parkmauer begann einer der Hunde zu scharren. Unter einem Laubhaufen entdeckten sie weiches, nur mit der Schaufel festgeklopftes Erdreich. Vorsichtig hoben sie es ab und stießen auf vergrabenen Müll. Müll aber sagte über die Menschen, die ihn hinterließen, oft mehr aus als ein selbstverfaßter Lebenslauf. Vorausgesetzt, man verstand in ihm zu lesen. Aus den Dosen, Büchsen, Tüten, Beuteln und Kar152
tons war zu erkennen, wovon die Bewohner sich ernährt und wo sie ihre Einkaufe getätigt hatten. Aus den Flaschen, aus Tee und Kaffeesatz schloß man auf ihre Trinkgewohnheiten, aus Kuchen- und Gemüseabfällen, ob sie Vegetarier waren oder nicht. Nachdem auch die anderen Teams zu ihnen gestoßen waren, begannen die Fachleute die Abfälle zu sortieren. Papiertaschentücher, Zigarren- und Zigarettenreste, Rasierklingen, leere Zahnpastatuben, feuchte Zeitungen, ja kleinste Papierfetzen wurden säuberlich getrennt. Sogar Fingerabdrücke konnte gesichert werden. »Es waren mindestens drei Personen«, lautete das Ergebnis. »Zwei hatten dunkle Bartstoppeln, einer blonde. Die Fingerabdrücke des Blonden sind an dieser Einwegklinge, auf der Seifentube und auf den VichyWasser-Flaschen.« So ging es weiter, bis einer das Ergebnis formulierte. »Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das gesuchte Nest von Bridges, Canera und dem unbekannten Mann aus der Wildnis.« Doch als er fortfuhr, klang deutlich die Enttäuschung heraus. »Aber verdammt, wo sind sie hin? Unser Auftrag lautete nicht, ihren zeitweiligen Unterschlupf zu finden, sondern die drei Männer in persona.« Als einer der CIA-Männer Quittungen fand, die von dem französischen Aufpasser als Telefonrechnungen identifiziert wurden, glaubte man einen Schritt weiterkommen zu können. Es ergab sich nämlich, daß Ferngespräche von dieser Landnummer aus noch nicht per 153
Selbstwahl hergestellt werden konnten. Sie wurden noch handvermittelt. Die sofort eingeleiteten Nachforschungen endeten leider enttäuschend. Außer einigen Anmeldungen nach Rio de Janeiro war nichts registriert. Und selbst die Gespräche nach Südamerika lagen schon Wochen zurück. * Die Detailarbeit der CIA-Teams führte immerhin dazu, daß man in der Lage war, das Leben der drei Menschen auf dem einsamen Landsitz zu rekonstruieren. Mit Archiv-Fotos des US-Entwicklungshilfe-Departments wurden die umliegenden Ortschaften und dort speziell die Supermärkte und Tankstellen aufgesucht. So erfuhr man, welche Fahrzeuge Bridges und Canera benutzt, wie sie sich gekleidet hatten, dazu einige ihrer Äußerungen. »Sie benahmen sich, als wollten sie für ewig hierbleiben«, meinte der Friseur in Grasse. Der Pächter der elf-Tankstelle sagte folgendes aus: »Sie achteten stets darauf, daß ihre Wagen tip top waren. Es handelte sich um einen CX und einen SimcaKasten lief er wagen mit Fenstern. Farbe weiß. Sobald zehn Liter aus den Tanks waren, füllten sie nach. Immer kontrollierten sie Luftdruck, Kühlwasser, Batteriesäure und Öl. Also was das betrifft, da waren sie ungeheuer gewissenhaft. Das machen nur Leute, bei denen es darauf ankommt, jederzeit abmarschbereit zu sein. Oui, und nun sind sie wohl abmarschiert. Sonst kamen sie 154
jeden zweiten Tag vorbei. Seit einer Woche habe ich keinen von ihnen mehr gesehen.« Das CIA-Team stellte mehrere Fragen. »Kauften sie bei Ihnen Straßenkarten?« »Ja, einmal eine von Nord-Frankreich.« »Äußerten sie sich über Reiseabsichten?« »Eigentlich nie«, erklärte der Tankwart. »Was das betrifft, da waren sie eher wortkarg. Der eine sprach auch kaum Französisch.« Das CIA-Team schaffte noch eine Menge Einzelheiten über Bridges, Canera und. ihren Gast heran, aber nicht eine, die ihnen weiterhalf. Die Spur der drei endete etwa dort, wo man mit der Suche nach ihnen begonnen hatte.
13. »Typisch für die CIA«, äußerte Bob Urban. »Wenn sie Erfolg haben, dann herrscht Schweigen. Nur bei Mißerfolgen werden sie mächtig gesprächig.« »Zwölf ausgefuchste Experten fanden nullkommanichts«, ergänzte Sebastian. »Plus drei SDECE-Agenten.« »Fünfzehn Flaschen, kann ich da nur sagen.« Der Alte hob sein Kinn und versuchte so streng wie möglich dreinzublicken. »Und wo stehen wir, bitte?« »Wo fünfzehn Mann nichts finden, hat es der Einzelgänger ziemlich schwer.« »Nun sagen Sie bloß, Sie wüßten auch nicht weiter.« 155
»Es geht dort weiter, wo Bridges & Canera ihren Freund Tayloro hinbrachten.« »Und wie heißt dieser geheimnisvolle Ort?« Urban stieß eine MC aus der blaugoldenen Packung, steckte sie mit ruhigen Bewegungen an und antwortete: »Null null drei fünf eins eins neun.« »Werden Sie bloß nicht komisch«, schnarrte der Alte, »ist das ein Code?« »Die Vorwahl von Lissabon.« »Portugal«, fiel dem Alten immerhin ein. »Wie kommen Sie darauf?« »Ganz einfach«, berichtete Urban. »Als ich das TelexProtokoll der CIA durchlas, fiel mir auf, daß von den Landhausbewohnern überraschend wenig Telefongespräche geführt worden waren. Ich stellte mit Gil Quatembre von der SDECE-Zentrale Kontakte her und setzte ihn auf die dem Bridges-Anwesen benachbarten Landgüter und Häuser an. Soweit sie Telefonanschlüsse haben und derzeit nicht bewohnt sind. Und siehe da!« »Dieser Hundesohn Bridges!« »Ja, er war ein großer Schlaumeier«, bestätigte Urban. »Für Telefongespräche, die nicht auf seinen Namen registriert werden sollten, nahm er heimlich andere Teilnehmer in Anspruch. Er stieg mal hier, mal dort ein. Sowohl hier wie dort fand der SDECE heraus, daß er mit Lissabon gesprochen hatte.« »Aber nicht nur mit der Vorwahl.« »Nein, mit einer Nummer, mit immer derselben Nummer.« 156
»Und wem gehört sie? Wenn wir sie haben, haben wir doch die ganze Bande.« Leider mußte Urban den Alten enttäuschen. »In Portugal wurde dasselbe Verfahren angewendet wie in Grasse. Die Verbindung lief auch dort über einen Anschluß, der fast das ganze Jahr unbenutzt ist. Er gehört einem Senhor Galvarez in Estoril. Estoril ist ein Luxusbadeort nahe Lissabon. Wir faßten sofort nach. Senhor Galvarez konnte nachweislich kein Gespräch mit Nizza anmelden oder empfangen haben, denn er leistet seit einem Monat seine militärische Pflichtübung als Reserveoffizier ab. Und dies außerhalb von Portugal.« Sebastian bekam keinen Wutanfall, sondern wurde recht blaß und kleinlaut. »Ist das schon wieder das Ende der Fahnenstange?« Urban ließ ihn in seiner Verzweiflung schmoren und druckte die Zigarette aus. »Ich möchte mich abmelden.« »Wohin?« »Nach Lissabon.« »Gibt es denn eine Chance in dieser Millionenstadt?« »Eine geringe«, sagte Urban. Ohne sich darüber zu äußern, ging er. * Sie hatten die Dachsuite im Altis-Hotel freimachen lassen. Es lag im Zentrum von Lissabon und sehr hoch. Dort saß Bob Urban mit Aci, dem Indio-Mädchen, 157
und wartete. Urban achtete darauf, daß sein Plan genau eingehalten wurde. Aci durfte sich in der Suite und auf der Dachterrasse frei bewegen. Sie durfte die gewohnten Mahlzeiten zur gewohnten Stunde zu sich nehmen, durfte ausgehen oder in der Sonne liegen, im Pool baden und schlafen soviel sie wollte. Urban achtete lediglich darauf, daß sie keinen Alkohol zu sich nahm, nicht einmal das leichte Dosenbier, dem sie in letzter Zeit gerne zusprach. »Warum verbietest du mir Bier«, fragte sie, »bei uns zu Hause bekommen das schon die Kinder.« »Alkohol benebelt«, entschied er. »Ein Zustand, den wir lieben. Man schwebt wie auf Wolken. Alles wird leicht.« »Zu leicht«, antwortete Urban. »Was stört dich daran, wenn ich betrunken bin?« »Was mich betrifft«, sagte er, »nichts. Aber es wäre möglich, daß Alkohol deine Ausstrahlung beeinträchtigt. Und das möchte ich vermeiden.« »Was für eine Ausstrahlung?« »Man kann das nicht erklären«, wand sich Urban heraus. »Jeder Mensch hat eine gewisse Ausstrahlung. Sie ist nur von feinsten Meßgeräten registrierbar oder…« »Oder?« wollte sie wissen. »Oder vielleicht von deinem Freund.« »Von Tayloro?« Sie erschrak und wurde mit einemmal traurig. »Warum erinnerst du mich immer an ihn? Bist du eifersüchtig?« »Im Gegenteil. Ich wollte, er wäre hier.« 158
»Glaubst du, daß er in der Nähe ist?« Urban wußte es nicht. Er hatte auch keine Lust, diesem Mädchen mühsam seine Theorie auseinanderzusetzen, die ohnehin völlig unwissenschaftlich nur auf Vermutungen und Hoffnungen aufgebaut war. Aci ging ins Bad, duschte wieder einmal und kam ohne einen Faden am Leib heraus. Ihr Körper war mit Ausnahme des dichten blauschwarzen Kopfhaares völlig unbeflaumt. Er hatte auch nie gesehen, daß sie sich rasiert hätte. Diese Rio-Grande-Indios waren von der Natur wohl so eingerichtet worden. Nackt setzte sie sich vor ihn auf den Boden, lächelte ihm zu, ließ sich aber nicht vom Thema abbringen. »Du glaubst also, daß Tayloro in unserer Nähe ist.« »Vieles spricht dafür, daß man ihn nach Lissabon brachte.« »Und warum?« »Man fand dort, wo er vor kurzem lebte, gewisse Medikamente.« »Was für Medikamente?« »Tabletten, runde weiße Bonbons, ein starkes Mittel zur Stützung des Kreislaufs und zur Anregung der Gehirntätigkeit« »Schön«, sagte sie entwaffnend logisch, »man gab ihm solche weiße Bonbons. Warum aber sollte er hier sein?« »Weil diese Bonbons wohl nicht ausreichten, um seine Krankheit zu heilen.« »Heilt man sie in dieser Stadt?« »Es gibt hervorragende Ärzte hier.« 159
»Es gibt viele Städte, allein in der kurzen Zeit mit dir habe ich mindestens…«, sie zählte an den Fingern ab, aber die Finger reichten nicht aus, »… viele Städte gesehen. Manaus, Belem, Rio, Paris, Frankfurt, München, Lissabon, viele noch.« »Wir haben Hinweise, daß er hier ist.« »Was ist ein Hinweis, Roberto?« Er erklärte es, wie er alle ihre Fragen beantwortete. Es wurde Abend. Er legte sich hin. Sie legte sich zu ihm, und rieb ihre Stirn an der seinen. Sie sagte, er solle sie lieben. Er antwortete, es ginge jetzt nicht, das würde womöglich den ganzen Versuch scheitern lassen. »Ein andermal, Aci.« »Wann ein andermal?« wollte sie wissen. »Wenn Tayloro bei uns ist.« »Dann liebe ich Tayloro«, erklärte sie arglos. »Auch recht«, erwiderte Urban. Nach einer Weile fing sie wieder an. »Welchen Versuch würde es scheitern lassen, wenn du mich jetzt in die Arme nimmst?« Geduldig erklärte er auch dies. »Wir haben viel über Tayloro gesprochen«, sagte er. »Du hast mir seine außerordentlichen Fähigkeiten beschrieben. Du hast mir ferner erzählt, daß ihr befreundet seid, du und er.« »Ja, wir sind ein Liebespaar.« »Und darauf baue ich. Vermutlich schwebt Tayloro in großer Gefahr. Er muß diese Gefahr spüren. Stets wenn man in Gefahr ist, erwartet man Rettung. Ein Phänomen wie er wird auf Grund seiner Fähigkeiten 160
wissen, ob eine Rettung möglich ist. Seine übermächtigen Sinne sind ganz auf das Problem Rettung ausgerichtet. Von wem kann Rettung kommen? Doch nur von Freunden. Du bist ein Freund von ihm, ich auch. Wenn Tayloro wirklich das Genie ist, als das man ihn bezeichnet, dann muß er irgendwann spüren, daß du in seiner Nähe bist. Das muß einfach bis zu ihm durchdringen. Deshalb mußt du jetzt stark an ihn denken, Aci. Immerzu, so sehr du nur kannst.« Sie blickte ihn mit ihren dunklen Augen an. »Ich möchte aber jetzt an dich denken, Roberto. Jetzt an dich, morgen an ihn. Einverstanden?« »Nein, du denkst auch jetzt an ihn«, befahl Urban, »und ich kaufe dir das Kleid, das wir am Rossio-Platz gesehen haben.« »Das gelbe?« »Das mit den Blumen.« »Und die Schuhe?« »Und den Hut, die Handtasche und den Sonnenschirm. – Sonst noch was?« Sie schloß die Augen. »Ich denke fest an ihn«, versicherte Aci. * »Es funktioniert nicht«, meldete Urban nach München. »Jetzt sitzen wir schon den dritten Tag hier herum, und es rührt sich nichts.« »Geduld«, riet ihm Stralman. »Was sollte denn geschehen? Wie sollte sich Tayloro diesem Mädchen mit161
teilen? Mal angenommen, er wird wie ein Gefangener gehalten.« »Wird er bestimmt.« »Na also.« »Bei der Fülle transzendentaler Kräfte, die man ihm nachsagt, sollte ihm eigentlich etwas einfallen.« »Das dauert«, beruhigte Stralman den Agenten Nr. 18. »Außerdem kennen wir seinen Zustand nicht. Bestimmt haben sie ihn unter Drogen gesetzt. Das beeinträchtigt seine Empfangs- und Sendeleistung beträchtlich.« Urban versprach, sich wieder zu melden und unternahm mit Aci eine Stadtrundfahrt. Sie benutzten ein offenes Cabrio, da eine Limousine möglicherweise alles, was von Aci ausging, wie ein Faradayscher Käfig abschirmte. Sie fuhren mehrere Stunden durch die innere und äußere Stadt, kehrten ins Hotel zurück, badeten, machten Siesta. Gegen Abend, die Lage war unverändert, das Telefon war nicht gegangen, die Posten rings um das Hotel hatten nichts gemeldet, und oben im Dachgarten trieb Aci wieder einmal Nacktkultur, flog ein Helikopter der Hafenpolizei über das Hotel hinweg. Er kreiste auffallend lange. Offenbar hatten die Piloten die nackte Schönheit erkannt und beobachteten sie ausgiebig durch ihre Ferngläser. »Muß das sein?« rief Urban. »Los, komm herein, Aci!« »Ich habe ja nichts anzuziehen«, maulte sie. »Du hast 162
mir etwas versprochen, aber du hältst dein Versprechen nicht.« »Los, gehen wir!« sagte Urban. Um 18 Uhr, es wurde schon merklich kühler auf der Avenida da Liberdade, schlenderten sie Richtung Rossio hinunter. Es sah aus, als strichen sie ziellos durch die Gassen. Nur dem Kenner fiel auf, daß sie von einem Ring von Agenten umgeben waren. Der NATO-Partner Portugal hatte auf Ersuchen Brüssels sofort mit BND und CIA zusammengearbeitet und seine besten Leute abgestellt. Am belebten Rossio nahmen Urban und Aci einen Kaffee. Später suchten sie im Schatten der Markisen die Boutique, wo Aci das gelbe Kleid mit Blumen gesehen hatte. Sie fanden auch den Laden. »Gelb«, fragte Urban, »muß es das Gelbe sein?« Aber Aci gab keine Antwort. »Außerdem ist das Gelbe nicht mehr da.« Anfangs war sie enttäuscht darüber, daß man das Kleid, den Hut und die Schuhe schon verkauft hatte. Die Enttäuschung steigerte sich zur Benommenheit. Urban stellte eine Frage an sie. Sie antwortete nicht. Sie schien ihn gar nicht zu hören. Ihre Augen waren starr auf eine goldene Handtasche hinter dem Schaufensterglas gerichtet. Sie wirkte wie hypnotisiert, daß er sie am Arm packte, um mit ihr weiterzugehen. Aber sie sträubte sich heftig. »He, wach auf!« fuhr er sie an. »Was ist?« Plötzlich riß sich die Indianerin los. Sie wandte sich 163
um und lief, ohne auf den dichten Verkehr zu achten, wie eine Schlafwandlerin über die Straße, an den Blumenständen vorbei Richtung Hafen. Urban eilte ihr nach, doch Aci rannte immer schneller. Mit einem Mal hob sie die Hand, deutete auf etwas und stieß einen herzerschütternden Schrei aus. Urban blickte in die Richtung und glaubte einen jungen Menschen zu sehen. Er trug ein helles Hemd, weiße Jeans und war barfuß. Urban konnte sich irren, aber möglicherweise hatte der Junge Aci zugelächelt. Im nächsten Moment wurde er von zwei Männern ergriffen und ins Dunkel eines Hauseingangs gerissen. Urban verständigte sich mit den portugiesischen Geheimagenten. »Los, folgt ihm!« stieß er hervor. Schon war er bei Aci, die jetzt einer Ohnmacht nahe zu sein schien. »Was ist?« fragte er. »Das!« stieß sie hervor. »Das war er. Er war es. Ich bin sicher, das war er. Er muß es gewesen sein. Ich fühle es. Ich wurde einfach zu ihm hingezogen… und jetzt, jetzt ist er fort. Fort für immer.« Sie kämpfte verzweifelt gegen Schock und Weinkrampf. Urban brachte sie mit dem Taxi ins Hotel zurück. Aci fieberte und hatte rasch 39 Grad Temperatur. Urban sorgte dafür, daß sie sich hinlegte. Er dunkelte den Raum ab, brachte ihr kühlen Orangensaft, aber Aci fand keine Entspannung. Immer wieder richtete sie sich auf und wollte das Bett verlassen. 164
Urban hatte Mühe, sie zu beruhigen. Immer wieder stieß sie zwei Worte hervor. Es dauerte lange, bis Urban verstand, was sie sagte: »Bruder… Woronow…« »Was meinst du damit?« »Bruder… Woronow!« »Wie kommst du darauf?« »Er hat es mir gesagt.« »Du warst noch dreißig Meter von ihm entfernt«, erklärte er. »Ich habe es trotzdem gehört. Bruder… Woronow.« Urban ging zunächst davon aus, daß Aci wirklich eine Botschaft empfangen hatte. »War es Tayloro?« drang er in sie. »So wahr ich lebe.« »Hat er einen Bruder?« »Nein, er hat keinen Bruder.« »Was kann dann Bruder bedeuten?« »Ich weiß es nicht.« Vielleicht, so kombinierte Urban, kommen wir dahinter, wenn wir wissen, was mit Woronow gemeint ist. Aber auch Aci wußte nichts mit dem Wort anzufangen. Also telefonierte er mit München. Stralman war nicht mehr im Hauptquartier. Also rief er Stralman in seiner Privatwohnung an. Mit knappen Worten schilderte Urban den Zwischenfall am Rossio-Platz. »Seitdem phantasiert sie unentwegt über Bruder und Woronow.« »Da muß eine starke Prägung durch Gedankenübertragung vorliegen«, mutmaßte Stralman. 165
»Sie hat aber keinen Bruder. Bezeichnet man Pfleger in Hospitälern oder Klosterleute nicht auch als Brüder? Ist das vielleicht eine Spur?« »Woronow«, wiederholte Stralman, »Woronow… ich kenne einen Dr. Woronow, Arzt und Biochemiker an der Frunse-Universität in Moskau.« »Biochemiker!« Urban fiel es wie Schuppen von den Augen, »Arzt! Natürlich, sie halten Tayloro in einer Privatklinik versteckt. Sie riefen Dr. Woronow aus Moskau. Dr. Woronow soll sich Tayloros annehmen. Biochemiker sind meist Experten für Genforschung.« »Oder für Genveränderung«, ergänzte Stralman, »und Genmanipulation.« »Etwa auch«, Urban zögerte es auszusprechen, »auch für Klonen?« »Auch für Klonen«, stimmte ihm Stralman zu. »Wie kommst du auf Klonen?« »Tayloro signalisierte ›Bruder‹. Er muß also fühlen, daß sie vorhaben ihn zu klonen, zu vervielfältigen, indem sie die Eizellen einer Wirtsmutter mit seinen eigenen Genen so präparieren, daß Originalkopien entstehen, genau bis auf die letzte Zelle.« »Das klappt mit Fröschen. Aber nicht mit Menschen.« »Sagten Sie nicht, Dr. Woronow sei eine Weltkapazität?« Stralman schien bestürzt zu sein. »Richtig, Und niemand weiß, wie weit die Russen auf diesem Gebiet wirklich vorangekommen sind.« »Das ist es«, erklärte Urban erschüttert. »Der Zu166
stand von Tayloro dürfte nicht der beste sein, also versuchen sie es mit Klonen oder anderen Tricks. Mit letzter Kraft ist es ihm gelungen, ihnen zu entwischen. Aber sie haben ihn wieder eingefangen.« »Versucht ihn zu finden!« rief Stralman, »könnte sonst sein, daß er an diesen Manipulationen zugrunde geht.« Wenig später erhielt Urban einen Anruf der portugiesischen Geheimdienstzentrale. »Unsere Leute konnten den Entführern des Mannes folgen«, übermittelte man ihm. »Sie brachten ihn in eine Villa auf dem Alcantara-Hügel. Was sollen wir tun?« »Umstellen, das Haus«, sagte Urban, »total absperren. Ich komme. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« * Als Urban in die Calcada da Ajuda kam, die in weiten Kurven durch das Villenviertel zur Auto-Strada führte, sah er schon von weitem die Drehlichter der Polizeifahrzeuge. Er hatte Mühe, durch die Straßensperren zu gelangen. Als er endlich den zuständigen Einsatzleiter fand, sagte er: »Noch auffälliger ging es wohl nicht.« Der Portugiese strahlte wie ein Zirkusdirektor vor der Premiere. »Wir haben nur noch auf Sie gewartet, Amigo.« Urban hatte sich die Sache etwas dezenter vorgestellt. Die Polizei aber ging vor wie bei einem Angriff auf die von Terroristen besetzte Staatsbank. 167
Scheinwerfer flammten auf. Das Parktor wurde ausgehängt, die Mauer von MPi-Schützen besetzt. Während Spezialkommandos mit Panzerwesten und Helmen die Eingänge des Sanatoriums stürmten, beschallten Lautsprecher die Villa von allen Seiten. »Leisten Sie keinen Widerstand! Legen Sie die Waffen nieder und ergeben Sie sich! Kommen Sie mit erhobenen Händen einzeln heraus!« So hämmerte es pausenlos durch die Nacht. Tatsächlich wurde der Aufforderung Folge geleistet. Pflegepersonal, Schwestern in Tracht und Ärzte in weißen Mänteln verließen völlig verwirrt das Haus. »Auf die kommt es leider nicht an«, sagte Urban und eilte den Einsatzgruppen hinterher. Auf der Treppe zum Obergeschoß mußte er in Dekkung springen. Eine Schießerei fing an. Sie mochte mehrere Minuten dauern. Schließlich gaben die Verteidiger unter dem Zwang von Tränengas auf. Hustend und sich übergebend wurden sie von Polizisten mit Gasmasken ins Freie geführt. »Das dürften Mister Berni Bridges und Slim Canera sein«, sagte Urban zu dem Lissabonner Einsatzleiter und griff sich einen der jungen Mediziner. »Wo ist der Patient?« Der Arzt führte ihn. Wenige Minuten später betraten sie einen supermodern eingerichteten Operationstrakt. Dort saß auf einer Art Zahnarztstuhl ein Mensch, nackt bis auf eine Badehose. Von seinem rasierten Schädel, der von einem zwei168
fingerbreiten sondenbestückten Stahlband eingeengt wurde, lief eine Vielzahl von Drähten zu elektrischen Geräten. Der Mann war weißer Hautfarbe, von schmächtiger Figur und hatte blaue Augen. Die Augen waren merkwürdig leblos. Urban wußte warum. Auch die Meßinstrumente, der Gehirnstromoszillograph, der EKG-Schreiber, der Pulstonverstärker zeigten es an. Der Mann war tot. Und es gab keinen Zweifel, daß es sich um Tayloro, den Gott der Shvaro-Indianer handelte. Sein Herz schlug nicht mehr, sein abnormes Gehirn hatte aufgehört zu arbeiten. »Zu spät«, murmelte Urban innerlich erleichtert. Doch dann packte er den jungen Arzt am Mantelrevers. »Wo ist Dr. Woronow?« »Ich kenne keinen Dr. Woronow.« »Den russischen Arzt meine ich.« Der Mediziner schaute sich um, als könne er den sowjetischen Professor irgendwo entdecken. »Keine Ahnung«, stotterte er, »als ich mich ergab, war er noch da.« »Hat das Haus ... «, setzte Urban an. »Nur einen Durchgang zu den Garagen, Senhor.« »Und die liegen dicht an der Mauer«, bemerkte einer der Polizisten. »Weit kann er noch nicht gekommen sein«, hoffte Urban. 169
Professor Dr. Wassilij Woronow wurde gejagt, als habe er die Pest an sich. Vermutlich hatte er noch viel Schlimmeres bei sich als nur die Pest, aber darüber sprach Urban lieber nicht. Mit etwa fünfzehn Minuten Verzögerung setzte die Ringfahndung nach ihm ein. Die Stationsärzte hatten seine Beschreibung geliefert. »Den kriegen wir«, versicherte der Polizei-Einsatzleiter immer wieder. »Alles ist dicht. Die Ausfallstraßen, der Hafen, der Bahnhof, der Flugplatz. Wo will er hin? Als Russe…« »In seine Botschaft«, befürchtete Urban. »Wenn er die erreicht, gibt es allerdings Komplikationen.« Sofort ließ der Polizeichef auch die Straßen zur sowjetischen Botschaft sperren. Niemand durfte ohne Kontrolle durch. Vor allem kein Mann, der über Fünfzig war, grauhaarig, schlank, mit Oberlippenbärtchen und Narbe an der linken Hand. Um 23 Uhr wurde über Funk gemeldet, daß der Gesuchte bis jetzt an keiner der Sperren aufgetaucht sei. »Vermutlich trägt er einen Kühlbehälter bei sich« erweiterte Urban den Steckbrief. »Kühlkoffer? Wozu?« »Er versucht wichtige Präparate ins Ausland zu bringen, männliche Samenzellen und gefährliche Gewebeproben«, erklärte Urban. Sie warteten im Präsidium bei Kaffee und Zigaretten. Um 23 Uhr 30 meldete die Straßensperre vor der so170
wjetischen Botschaft die Ankunft einer schweren SILLimousine. »Wem gehört sie?« wurde zurückgefragt. »Dem Botschafter.« »Und wer sitzt darin?« »Der Botschafter selbst und eine Person, auf die die Beschreibung Woronows passen könnte.« »Verhaften!« befahl der Einsatzleiter. »Der Botschafter protestiert.« »Natürlich nicht den Botschafter. Den laßt ihr durch. Schnappt euch nur seinen Begleiter.« »Der Botschafter bezeichnet das als Übergriff auf exterritoriales Gebiet.« »Quatsch! Exterritorial ist nur das Botschaftsgelände und nicht jedes russische Automobil.« »Wir müssen hin«, entschied Urban. Sie rasten durch die Nacht zum Diplomaten-Viertel. Die schwere Funktionärslimousine des sowjetischen Geschäftsträgers stand mit vollem Licht und laufendem Motor vor der Sperre. Der Botschafter hielt die Türen von innen verriegelt. »Der weiß, warum«, sagte der Einsatzleiter. »Sein Begleiter ist heiß. Aber wie kriegen wir ihn da heraus?« Urban ließ sich einen Lautsprecher geben und setzte den Schalltrichter dicht gegen das schußfeste Glas der Limousine. In einigermaßen gutem Russisch sagte er: »Exzellenz, der Mann bei Ihnen, Professor Woronow, wird wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit gesucht. Für den Fall, daß Sie ihm in der 171
Botschaft Zuflucht gewähren, sieht sich die portugiesische Regierung im Auftrag der NATO und wegen der Sicherheit des Bündnisses veranlaßt, fortan Ihre Botschaft zu isolieren und sei es für die nächsten hundert Jahre. Zweifellos führt das zu weitreichenden politischen Komplikationen. Es liegt nun an Ihnen zu entscheiden, ob Ihnen Professor Woronow dies wert ist.« Im Inneren der Limousine wurde erregt diskutiert und verhandelt. Schließlich schien man zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Die Tür schwang auf. Lächelnd, mit erhobenen Händen stieg Professor Woronow aus und ging auf die Sperrkette der Polizisten zu. »Das genügt nicht!« bedeutete Urban. »Der Botschafter ist persona grata, auch wenn er Dr. Woronow zu Hilfe kam.« »Es geht nicht um den Botschafter«, sagte Urban, »aber wenn wir höflichst um den Kühlkoffer bitten dürften?« Angeblich existierte kein derartiger Koffer. Er enthalte Diebesgut, betonten die Portugiesen immer wieder. Am Ende fand er sich doch. Nämlich in einem Stahlfach für Kuriergepäck. Noch in der Nacht fuhr Urban hinauf auf die neue Tejo-Brücke. Dort öffnete er den Behälter, warf zunächst den Inhalt in den Fluß, dann den Koffer. Erst damit war für ihn der Fall korrekt erledigt. Der Rest war Sache der NATO-Administration.
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Die Amerikaner Berni Bridges und Slim Canera hatten Anklagen wegen Mordes zu erwarten. Sie blieben in Haft. Der Leichnam von Tayloro wurde zur Obduktion freigegeben. Man entnahm ihm das Gehirn und beerdigte ihn nach drei Tagen. Das Indio-Mädchen Aci äußerte den Wunsch, zu seinem Stamm an den Rio Grande zurückkehren zu dürfen. Aci hatte offenbar genug von der europäischen Zivilisation. Der BND übernahm die Kosten ihrer Heimreise. Als Bob Urban wenige Tage später wieder seinen Dienst im BND-Hauptquartier in Pullach antrat, kam der Vizepräsident zu ihm ins Büro und drückte ihm stumm die Hand. Urban fand jedoch, daß ein warmer Händedruck ein bißchen wenig sei…
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