BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 27
DIE ARCHE DER FORONEN Von Susan Schwartz Die irdischen Astronauten Jo...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 27
DIE ARCHE DER FORONEN Von Susan Schwartz Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick (†) und Jarvis gelangen durch Manipulationen des Außerirdischen Darnok in die düstere Zukunft des Jahres 2252. Dort werden die Menschen Erinjij genannt – »Geißel der Galaxis«. Im sagenumwobenen Aqua-Kubus finden sie ein rochenförmiges Raumschiff, das sie auf den Namen RUBIKON II taufen. Cloud und Scobee verschlägt es zur Erde, wo sie erfahren, dass die vernichtet geglaubten Keelon, Darnoks Volk, hinter der Erdinvasion von 2041 stehen. Indessen erwachen auf der RUBIKON II die wahren Herren des Schiffes, die von den Bewohnern des Aqua-Kubus mystifizierten Sieben Hirten. Resnick stirbt aufgrund seiner defekten Gene, und Jarvis überlebt nur durch einen »Gefallen« der Hirten: Sein Bewusstsein wird in den Körper eines foronischen Kunstgeschöpfes transferiert. Unmittelbar nach diesen Geschehnissen verlässt die RUBIKON II das Sonnensystem und nimmt Kurs auf die Ewige Stätte des Aqua-Kubus, aus der die Menschen sie entführten. Dort angekommen, vollzieht sich ein Jahrtausende alter Plan. Überragende außerirdische Technologie kommt zum Einsatz und multipliziert die RUBIKON II. Aus einem Fabelschiff werden plötzlich Dutzende baugleiche Giganten...
Prolog Erwartung Es ist da! Es ist zurückgekehrt! Ich spüre, wie ich erwache, wie alles in mir vibriert. Nun wird es geschehen! Endlich wird das Schicksal sich erfüllen, und sie werden alle... Halt! Ich finde nichts. Keinen Kontakt. Wie ist das möglich? Ist niemand mehr da? Sind sie alle tot? Nein! Nein! Was wird dann geschehen? Was wird dann aus mir? Nach dieser langen Zeit, nach all diesen Opfern, soll es vorbei sein? Das darf nicht sein! Ich... Bleib ruhig! Meine Gedanken überschlagen sich, ein Zustand, den ich zum ersten Mal erlebe... * Ich bin alt. So alt, dass es sogar meine Vorstellungskraft übersteigt. Seit Äonen, scheint es mir, existiere ich. Ich habe Zeitalter kommen und gehen, Planeten aufblühen und sterben sehen. Ich habe erlebt, wie aus primitiven Intelligenzen raumfahrende Völker wurden. Wie ihre Kulturen die höchste Stufe erreichten – und schließlich untergingen... Einst wurde ich geschaffen, um Großes zu vollbringen. Dies ist mir gelungen. Als Teil der Ewigen Stätte ziehe ich mit ihr durchs All, auf der Suche nach der Vergangenheit, voller Hoffnung, dadurch die Zukunft zu finden. Ich nehme meine Aufgabe sehr ernst. Ich bewerte sie nicht. Ich tue das, was mir aufgetragen, wozu ich erschaffen wurde. Ich zweifle nicht. Ich kann definieren, was Zweifel ist, auch wenn er in meinem eigenen Schöpfungsprogramm nicht
enthalten ist. Mein Wissen ist groß, so groß, dass es keines der organischen Wesen, die ich kennen gelernt habe, jemals erfassen könnte. Auch meine Schöpfer sind solche Wesen, im Gegensatz zu mir zerbrechlich, kurzlebig, sterblich. Ich bin ihnen weit überlegen. Das ist meine Stärke, das ist meine Bestimmung. Wie die Ewige Stätte, so bin ich – untrennbar mit ihr verbunden, unendlich und nicht begreifbar. Heute bin ich nicht mehr so reaktionsschnell wie einst. Ich habe mich verändert, durch das Wissen, das ich in mir aufnahm, durch das Bewusstsein der Zeit, das mich hin und wieder ereilte. Ich bin gealtert, auch wenn das Altern nie ein Ende nehmen wird. Ich spüre, wie ich das Alter ausatme, wie es mich durchdringt, durchfließt, doch empfinde ich es nicht als Leid. Es ist meine Bestimmung! * Ich habe gewartet. Lange, sehr lange Zeit. Wenn man ewig lebt, wenn man die Zeit als etwas Abstraktes empfindet, was einen nicht vollständig beeinflussen wird, ergeben sich interessante Aspekte über die Beziehung alles Lebendigen untereinander und mit dem uns umgebenden All. Ich frage mich, was geschieht, wenn das All eines Tages aufhört zu existieren. Werde ich mit ihm untergehen oder bleiben? Philosophie vertreibt mir die Zeit des Wartens. Manchmal ruhe ich, schalte meinen Geist aus. Dann ist alles dunkel, fast wie... der Tod? Ein Experiment, nicht mehr, dennoch interessant. Wenn ich nicht mehr bin, weiß ich es dann? Oder endet mit mir auch mein Wissen? Versinke nicht zu tief. Du lenkst dich zu sehr ab. Konzentriere dich!
Manchmal sende ich meinen Geist hinaus und suche. Ich hoffe, dass ich meine Herren nicht überlebt habe, dass mein Warten noch einen Sinn hat. So vieles ist geschehen in den vergangenen Äonen, es ist alles möglich. Falls meine Herren nicht mehr sind, ist meine Existenz eine Tragödie, denn ich werde weiter warten bis ans Ende aller Zeit, auch wenn es keine Hoffnung mehr gibt. Ich werde warten müssen, weil es meine Bestimmung ist. Ich habe keine Angst. Das ist mir nicht gegeben. Ich kenne die Angst aus dem Wesen meiner Schöpfer und habe auch sie philosophisch betrachtet. Doch wirklich begreifen kann ich sie nicht. Lügner! Ich bin kein Lügner. Dann erkenne deine Grenzen! Ja, auch mir sind Grenzen aufgesetzt. Ich weiß vieles, aber noch längst nicht alles. * Ich bin erwacht! Ich fühle mich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Ein einziger, kurzer Impuls nur, doch er schüttelt die Äonen von mir ab, die auf mir lasten, und es ist, als wäre ich gerade erst geboren. Ja, nun hat das Warten ein Ende, wie es scheint, und ich bin voll froher Erwartung! Sie ist fortgegangen und kurz darauf zurückgekehrt! Die große, letzte Hoffnung, die Arche, das Sinnbild des Überlebens. Sie ist noch immer so schön wie bei meiner Erschaffung. Riesenhaft, selbst für meine Begriffe, voller Eleganz und Anmut. Getragen von ihren Schwingen, gleitet sie gelassen in die Ewige Stätte und nimmt ihre Position ein. Es wiederzusehen, dieses leuchtende Instrument der Macht, erfüllt mich mit Anspannung und Freude, dass mein Warten
nicht umsonst gewesen ist, dass meine Bestimmung sich vollenden wird. Groß war mein Schmerz, als ich daran zweifelte. Doch jetzt ist die Zuversicht zurückgekehrt. Und nun versuche es noch einmal. In Ruhe. Geduld. Es ist schwierig, ich kann es kaum noch erwarten. Ich muss es wissen! Ist es endlich so weit? Es kann nicht anders sein! Vielleicht war ich vorhin zu stürmisch, zu ungeduldig. Ich werde es also noch einmal versuchen. In Ruhe. Vorsichtig strecke ich erneut meine Fühler aus, lasse meinen Geist durch die Arche schweifen und tasten, und... Kontakt! 1. Vergangenheit: Siroona »Und wieder fünf Verluste bei dem Versuch, durchzubrechen!«, erscholl die Ortung in Siroonas Gedanken hinein. Ändern Angriffsformation auf Strategieplan Version DreiZeto. »Kampfverband Auri-Purpur sofort an die rechte Flanke! Geschwader Kolos unterstützt Gelb-Acht frontal, nehmt den Virgh-Superdreizack als Ziel! Zerstörung nach Order Z-Vier!« Übermittle neue Koordinaten. Gesamte Flotte auf Durchbruch vorbereiten. »Das darf nicht fehlschlagen«, murmelte Siroona. »Sie haben uns sonst eingekesselt!« Und dann werden sie ihren Ring um uns schließen, uns einkreisen, das Band immer enger zuziehen, vollendete die Forone in Gedanken, und feuern... »Achtung, Kommandant Auri-Grün, Formation auflösen, der Feind versucht, den Weg abzuschneiden!«, warnte sie ihren
Untergebenen. »Konfrontation ausweichen, Flug auf V-9 fortsetzen!« Wenn sie gesamt das Feuer eröffnen, werden unsere Schiffe sich allein durch die kurzen Distanzen gegenseitig zur Explosion bringen. Eine Kettenreaktion, die wir nicht aufhalten können... Die Hiobsbotschaften überschlugen sich in Siroonas Geist. Sie war ebenso wie ihre sechs Gefährten mit der KI der SESHA mental verbunden und erlebte die Schlacht ohne Zeitverzögerung mit, fast als wäre sie selbst mittendrin. Jeder Schuss, der im Schmiegschirm einschlug und ihn erschütterte, schien ihren eigenen Leib zu treffen. Unkontrolliert zuckten ihre Muskeln, ihre Temperatur wechselte in schnellem Tempo von Unterkühlung zu hohem Fieber. Ohne die ausgleichenden Stimulatoren im Vitalpanzer hätte die Forone dieser Belastung körperlich nicht lange standhalten können. Gleichzeitig wurden Siroonas Sinnesrezeptoren mit Befehlen, Anfragen und Bildern überflutet, die die grünlich schimmernde holografische Säule in der Mitte der Zentrale in beeindruckender Optik zeigte. Manchmal sah es so aus, als würden brennende Schiffe einfach durch das Holobild springen und in der Zentrale landen... Die Schlacht war in vollem Gange. Tausende von Kampfschiffen aller Größen und Formen rasten über das Holobild, beschossen sich mit tödlichen Strahlen, explodierten zu rasch verglühenden Feuerbällen oder trudelten schwer beschädigt durch das All. Die aufleuchtenden Punkte hätten auf einen weit entfernten, unwissenden Beobachter zuerst wie Sterne gewirkt, die plötzlich einen Sektor im Leerraum zwischen den Galaxien erhellten. Doch schon nach wenigen Augenblicken erloschen die strahlenden Leuchtfeuer wieder und vergingen im schwarzen Nichts.
Siroona ballte die Klauenhand so fest zusammen, dass die Knochen sich weißlich durch die dünne Haut drückten. Die meisten der zerstörten Schlachtschiffe waren ihre eigenen, der Feind hatte bisher so gut wie keine Verluste erlitten. In den Wirren der letzten Jahrzehnte waren die foronischen Kampfschiffe zweckmäßig gebaut worden – schwere, große, unförmige Raumer mit gewaltiger Feuerkraft, und schlanke, wendige, kleine Schiffe, die wie silbern leuchtende Pfeile mit halsbrecherischen Manövern in die Front des Feindes rasten. Eine dritte Form waren die Rautenschiffe, gerade groß genug für schwere Offensivwaffen, aber noch wendig genug für schnelle Angriffsmanöver. Viel Platz für die Besatzung gab es auf keinem dieser Schiffe, jeder kleinste Raum wurde für Antrieb und Waffen genutzt. Dennoch dienten etwa fünfzig Rautenschiffe als Fluchtgefährte und waren bis in den letzten Winkel mit den nötigsten Mitteln zum Überleben und mit Flüchtlingen vollgestopft. Diese Schiffe hielten sich hauptsächlich in der Mitte der einzelnen Verbände auf, von außen nicht erkennbar, dass sie die kostbarste aller Frachten beherbergten. Jeder einzelne Verlust war unersetzlich, unwiederbringlich und unendlich schmerzhaft. Wohin ist es mit uns nur gekommen?, dachte Siroona in hilflosem Zorn. Der Stolz der Foronen ist gebrochen, wie es scheint. Siroonas Kopfhaut zog sich vor Scham zusammen, als sie daran dachte, dass sie nun wie Feiglinge flohen. Als wären sie nichts weiter als elende, primitive Kreaturen, die nur an Nahrungsaufnahme und Fortpflanzung dachten, die keinen Sinn für höhere Werte, für Macht und Wohlstand hatten. Die letzten der Foronen hatten nichts anderes mehr im Sinn, als aufzugeben, Samragh zu verlassen, und mit den wenigen Verbliebenen – die wenigen, die sie retten konnten –, verteilt
auf zehntausend Kriegsschiffe und die große Arche durch den Leerraum zu fliehen. * »Siroona...« Die Forone drängte die Verbindung zur KI der SESHA zurück und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Mont, der neben ihr in dem Sarkophag-Sitz kauerte. Was ist?, fragte sie telepathisch. »Du darfst nicht verzweifeln.« Mont antwortete nicht mental, vielleicht, um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen. Foronen hatten kein Problem, sich auf mehrere Ereignisse gleichzeitig zu konzentrieren. »Ich soll nicht verzweifeln?«, gab Siroona bitter zurück und richtete sich auf. Die übrigen vom regierenden Rat – Sobek, Mecchit, Sarac, Ogminos und Epoona – achteten nicht auf sie, sondern konzentrierten sich auf die Schlacht, gaben Angriffsbefehle, entwickelten neue Strategien, wenn die geplanten fehlschlugen. »Sieh dir an, was dort draußen vor sich geht!« Siroona deutete mit einem knöchernen Finger auf die Holosäule. »Sie lassen uns nicht einmal in Frieden ziehen! Obwohl sie nun die Herren von Samragh sind und ihren Sieg feiern könnten, lassen sie nicht von uns ab! Sie wollen uns vernichten, unser ganzes Volk für immer auslöschen!« »Ich weiß«, sagte Mont leise. »Wir können von Glück reden, dass es uns gelang, rechtzeitig die Arche fertig zu stellen.« »Mit zehntausend Schiffen sind wir gestartet, mehr waren uns nicht geblieben. Zehntausend! Eine unvorstellbar geringe Zahl, bedenkt man, dass wir die Herren der ganzen Galaxis Samragh waren!« Siroona, eine der sieben Führer des foronischen Volkes, rang deutlich um ihre Fassung. »Das ist
alles, was von uns noch übrig ist! Und von Augenblick zu Augenblick werden es weniger.« »Was sind das nur für Wesen, die so grausam sind, einen Gegner, der bereits am Boden liegt, noch voller Genuss zu zertreten?«, murmelte Mont. »Manch ein Volk hat uns Unterdrücker genannt, doch wir sind die Güte selbst im Vergleich zu den Virgh.« »Es sind Unwesen, deshalb nennen wir sie ja Virgh«, stieß Siroona hasserfüllt hervor. * Niemand hatte jemals herausgefunden, woher die Virgh kamen. Sie machten keine Gefangenen. Sie eroberten, indem sie zerstörten. Aus dem Nichts waren sie aufgetaucht und hatten binnen kürzester Zeit die hochentwickelte Zivilisation der Foronen an den Rand der Vernichtung geführt. Mit ihren furchtbaren Waffen unbekannter Bauart waren sie sogar in der Lage, komplette Planeten zu verglasen. Die Unwesen hatten lange Zeit keine Stimme gehabt, kein Gesicht. Man hatte sie nur an den Dreizackschiffen erkannt, die stets in großen Verbänden urplötzlich auftauchten, eine Welle von Tod und Vernichtung über bewohnte Welten brachten und nach vollendetem Werk wieder verschwanden. Heute wussten sie, dass die Virgh im Grunde nur aus sechs massiven Beinen zu bestehen schienen, in denen die Organe verteilt waren. Die Foronen hatten sich den Unwesen gestellt, doch sie konnten die Virgh höchstens bremsen, niemals besiegen. Jedes vernichtete Virgh-Schiff kostete viele foronische Einheiten. Die Sieben Ratsmitglieder hatten die Situation sachlich analysiert und schließlich den Rückzug als einzige Lösung erachtet und befürwortet. Ja, mehr noch: Sie entschieden sich für den Exodus aus ihrer Heimatgalaxis.
Darauf hoffend, dass die Virgh sich damit zufrieden geben würden, die Foronen auf wenige Überlebende reduziert und vertrieben zu haben, war der Kern des einstmals stolzen Volkes mit dieser Flotte aufgebrochen. Alle, die zurückblieben, würden weiterkämpfen – und sterben... Doch mitten im Leerraum waren die Schiffe der Virgh aufgetaucht, so unwirklich wie Schemen, und jeder einzelne Forone hatte im selben Moment das Gefühl eines eiskalten Atemstoßes im Nacken verspürt, und den gierigen Griff einer messerscharfen, stählernen Klaue nach dem Herzen. Die Sieben Hirten waren fast ohnmächtig geworden, als sie die geballte Emotion der von Schmerzen getragenen Todesfurcht ihres Volkes in einem einzigen mentalen Aufschrei empfingen. Möglicherweise eine neue Waffe der Virgh, ähnlich der mentalen Strahlwaffe der Foronen... Siroona hatte für einen Moment tatsächlich geglaubt, unter grausamen Schmerzen sterben zu müssen. Es dauerte mehrere stockende Herzschläge, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte und ihr Verstand die Oberhand zurückgewann. Gleichzeitig hatte sich die KI der SESHA mit Meldungen überschlagen, dass die Virgh wie gewohnt ohne Vorwarnung, ohne Verzögerung, das Feuer eröffnet hatten. Die sieben Führer der Foronen stellten sich umgehend auf die neue Situation ein und erteilten Befehle. Die annähernd zehntausend Kampfschiffe schwärmten aus und begannen einen Gegenschlag an mehreren Fronten. Sie aktivierten alle Waffen – bis auf SESHAs Primärwaffe, die auch die eigenen Schiffe vernichtet hätte – und setzten sich erbittert zur Wehr. Die Virgh, sich anscheinend ihrer Überlegenheit voll bewusst, setzten größtenteils konventionelle Warfen ein, und ihre furchtbarste Waffe nur gezielt bei anfliegenden Pulks, wenn der Durchbruch fast erreicht war. Vielleicht benötigte
diese Waffe Unmengen an Energie – was bei ihrer Wirkung kein Wunder wäre. Es war ein einzigartiger, regenbogenfarbiger Kampfstrahl, der nur von den Superdreizacks abgefeuert wurde. Er schien breitgefächert lediglich über das gegnerische Schiff hinwegzustreichen, und hüllte es für einen kurzen Moment in ein zauberisch anmutendes, bunt strahlendes Licht. Dann jedoch brach innerhalb weniger Augenblicke der Schirm durch Überlastung zusammen, und das ungeschützte Schiff wurde mit einem zweiten, konzentrierten Strahl mit voller Wucht getroffen und wurde in einer Kettenreaktion in eine zusammengeschmolzene, glasartige Masse verwandelt. Die SESHA, mit den Sieben Ratsmitgliedern und den meisten Flüchtlingen an Bord, setzte die Flucht fort, ohne direkt in die Kampfhandlungen einzugreifen. Sie schoss lediglich den Weg vor sich frei, und bis jetzt hielt der Schmiegschirm noch den Belastungen stand. Die foronischen Verbände hatten bisher verhindert, dass ein Superdreizack der Arche zu nahe kam. * »Wir müssen es schaffen«, presste Siroona hervor. »Es soll nicht alles umsonst gewesen sein...« »Du missbilligst unsere Entscheidung, das weiß ich«, meinte Mont besänftigend. »Es ist nicht unsere Art, zu kneifen.« »Aber in diesem Fall ist es keine Schande. Schließlich geht es um das Überleben des Volkes. Es ist nur ein Rückzug ins Verborgene, Siroona. Eines Tages werden wir aus dem Nichts kommen und die Virgh aus Samragh, aus dem ganzen Weltall fegen. Wir werden dann das für sie sein, was sie für uns jetzt sind: Tödliche Unwesen.«
»Ich kenne die Argumente, und ich habe sie verstanden«, wies ihn Siroona zurecht. »Ich weiß, dass sich die meisten Foronen ins Unvermeidliche gefügt haben. Aber bei mir ist das nicht so einfach. Ich werde Zeit benötigen... viel Zeit.« Eine Weile konzentrierte sie ihre Wahrnehmung auf die Holosäule. Sie musste den Kopf dazu nicht drehen, denn ihre Sinnesrezeptoren waren in eine dünne, lederartige Haut eingebettet, die sich straff über den knöchernen Schädel spannte. Damit beherrschten die Foronen absolute Rundumsicht. Doch die Höflichkeit gebot es, sich einem Diskussionspartner zuzuwenden. »Ich werde niemals vergessen«, stieß Siroona hervor, wobei ihre Sprachmembran vibrierte, »wie die Virgh eines Tages den Vorteil einer Geiselnahme erkannten, als er sich ihnen anbot. Ihnen geradezu serviert wurde! Das zeigte, dass sie alles wussten über uns: wer das Volk anführte und die Entscheidungen traf. Und sie gönnten sich dieses grausame Vergnügen, unsere Moral niederzutrampeln und uns vor einen unlösbaren Konflikt zu stellen.« »Ich weiß.« Monts Stimme war fast unhörbar. »O ja, sie nutzten die Gunst des Augenblicks. Sie projizierten das Bild des Namenlosen von ihrer Rauminsel aus. Wir wussten, dass er sich dort in ihrer Gewalt befand. Es war eine neue Dimension unseres Krieges. Wollten sie unsere Kapitulation provozieren? Wir wissen es nicht.« »Es sprach vieles dagegen.« »Ja. Auch Sobek sah es so. Unser Exodus stand kurz bevor. Und nun... Wie viel zählt ein einzelnes Leben?« Mont zögerte. »Manchmal zählt ein Leben so viel wie das eines ganzen Volkes – manchmal nicht...« Siroona machte eine Geste des Zorns mit der rechten Hand. »Aber wer entscheidet das?« »Sobek hat entschieden.« »Ja, Sobek. Und ich!«
Die Bitterkeit in Siroonas Stimme nahm einen metallischen Klang an. »Zwar befahl er den Angriff, aber ich stimmte zu. Wir waren uns einig, dass die Virgh nicht damit rechnen würden. Und dass es uns Zeit verschaffen würde, die Flucht einzuleiten und zu verschwinden, bevor sie es merken.« Siroonas stolze Haltung sank in sich zusammen. Für einen Moment wirkte sie schwach und müde, versunken in Trostlosigkeit. »Wir opferten unser gemeinsames Kind, um das Volk zu retten. Es hatte nicht einmal seine Initiierung erlebt. Die Rauminsel ging unter, und mit ihm unser Nachkomme. Namenlos starb er, und... namenlos wird daher meine Rache sein, die ich an den Virgh nehmen werde! Eines Tages...« * Konzentration!, fuhr plötzlich Sobeks mentaler Impuls dazwischen. Die Schlacht geht in die entscheidende Phase. Ich brauche euch, Siroona, Mont! Unterstützt mich! Siroona riss sich augenblicklich zusammen. Ihr Oberkörper streckte sich, die zuvor fahlbleiche Haut nahm wieder die gewohnte bräunliche Tönung an. Natürlich, Gefährte. Verzeih, dass ich in Trauer schwelgte. Noch während sie den Impuls an Sobek richtete, orientierte Siroona sich über das Geschehen, und ihre Finger flogen über die Eingabefelder auf ihren Armlehnen. Auch ich trauere, Siroona. Die Virgh werden dafür bezahlen. Millionenfach, kam Sobeks kurze, aber tröstliche Antwort. Siroona konzentrierte sich mit grimmiger Entschlossenheit auf die Schlacht. Allerdings schlug ihr Herz für einen Moment schneller, als sie einen zweiten, tröstlichen Impuls empfing – von Mont. Du wirst wieder ein Kind haben, Siroona. Ich bin da, und ich werde zu dir stehen.
* Es wurde knapp. Den foronischen Kampfschiffen war es gelungen, eine Bresche in die Front der Virgh zu schlagen. Aber die Verluste nahmen eine kritische Höhe an. Wenn sie sich nicht beeilten, gelangten sie durch diese Bresche nicht mehr hindurch – und dann wären sie am Ende, denn für einen zweiten Vorstoß hatten sie nicht mehr genügend Schiffe. Sobek gab den Befehl, sich zu sammeln und zu beschleunigen. Die Virgh erkannten natürlich seine Absicht, aber auch sie mussten erst ihre Einheiten sammeln, um dann geschlossen zuzuschlagen. Auf beiden Seiten begann ein Wettrennen. Die Superdreizacks nahmen Fahrt auf, und die KI berechnete die Koordinaten, auf die der Feind Kurs nahm. Es sieht aus, als ob sie in Formation gehen, meldete die künstliche Schiffsseele den Hirten. Wahrscheinlich ein Fünfeck. Möglicherweise für den vernichtenden konzentrierten Beschuss aus ihrer Regenbogenwaffe. Sie gehen davon aus, dass auch SESHA das nicht überstehen wird, übermittelte Sobek seinen Gefährten. Jetzt wollen sie aufs Ganze gehen. Anscheinend haben sie uns bis jetzt nur ein Scharmützel geliefert und unterdessen analysiert, wie verzweifelt unsere Lage ist – und was es mit SESHA auf sich hat. Vielleicht haben sie auch darauf gewartet, ob wir uns letztendlich nicht doch ergeben. Siroona antwortete: Ich vermute, dass sie von Anfang an die Arche in ihren Besitz bringen wollten, deshalb haben die Superdreizacks der Virgh sie auch noch nicht angepeilt und unter Beschuss genommen. Aber das werden wir ihnen verleiden.
Allerdings, fauchte Sobeks Gedanke wie ein zorniger Windstoß durch die Geister seiner Gefährten. Ich werde eher die Arche opfern, als das zuzulassen. Den Virgh war sicher schnell klar geworden, dass die SESHA einzigartig war und als Kriegsbeute nicht zu unterschätzen. Möglicherweise hatten sie ihre ursprüngliche Angriffsstrategie geändert. Doch alle diese Überlegungen waren müßig. Jetzt machten die Virgh den Foronen deutlich, dass es nur noch zwei Möglichkeiten gab – entweder Kapitulation oder totale Vernichtung. Sie sollten uns inzwischen besser kennen, überlegte Siroona. Möglicherweise ist es auch eine Falle, warf Mont ein. Vielleicht können sie im Verbund einen superstarken Traktorstrahl oder ein Energiefeld erzeugen, das uns lahm legt, ohne uns zu zerstören. »Sie werden keine Gelegenheit mehr haben, dies unter Beweis zu stellen«, äußerte sich Sobek grimmig. Und fügte leise hinzu: »Es ist Zeit, den Prototyp in der Praxis zu testen.« SESHA, lade Kontinuumwaffe. Gib Befehl an alle Einheiten, sich hinter uns zu formieren und Position zu halten. Leite alle Vorbereitungen ein, die für den Einsatz der Kontinuumwaffe notwendig sind, ohne Rücksicht auf eventuelle Schwierigkeiten oder Wahrscheinlichkeitsberechnungen, die gegen einen Erfolg sprechen. Diese Aktion muss unverzüglich geschehen, es gibt kein Zweifeln und kein Zurück. Die KI gehorchte unverzüglich. Ein deutlich spürbares Zittern ging durch die Arche. Dann begann sie sich zu entfalten. Die Holosaule projizierte durch wechselnde Perspektiven der Außenkameras das mächtige Schiff, das weiterhin Kurs auf die Superdreizacks nahm, die inzwischen die erwarteten Koordinaten beinahe erreicht hatten.
Gleichzeitig begann sich die Bresche zu schließen. Jetzt kommt es auf den alles entscheidenden Schlag an, dachte Siroona. Das Holobild zeigte die SESHA nun mit voll sichtbarem Schweif, der sie auf doppelte Länge brachte. Ein Pulk Dreizackschiffe nahm Kurs auf die Arche – um anzugreifen oder aus einem anderen Grund, war nicht ersichtlich. Die verbliebenen foronischen Raumschiffe hatten die befohlene Position hinter SESHA erreicht. Die KI meldete Bereitschaft. Die Kontinuumswaffe war einsatzbereit und brauchte nur noch durch einen Gedankenimpuls aktiviert zu werden. Sobek leitete ein schnelles Wendemanöver ein, das die SESHA an die Grenzen der Belastbarkeit brachte. Doch Siroona wusste, dass ein Betrachter von außen nur die unglaubliche Eleganz sah, mit der die Arche durch das All schwamm. Mit schlagenden Schwingen begann die SESHA eine Kehrtwendung, dazu noch bei kaum verminderter Geschwindigkeit. Sie drehte und wand sich, bis der Stachelschweif auf die Superdreizacks ausgerichtet war. Ein rubinfarbenes Licht erhellte die Spitze, umzüngelt von Blitzen. Dann nahm die zuckende Intensität der Blitze zu, und Siroona sah voll atemloser Spannung, wie die erste Entladung in die ewige Nacht des Alls hinausgeschleudert wurde. Dies war allerdings nur ein kleiner Vorgeschmack, wie ein Vorglühen, bis die tatsächliche Eruption erfolgte. Siroona fragte sich, was jetzt in den Virgh vorgehen mochte. Sicher konnten sie dieses halsbrecherische Manöver nicht nachvollziehen und fragten sich, was das sollte. Sie würden nicht mehr lange genug Zeit haben, die Antwort noch bewusst zu erleben.
Voller Befriedigung registrierte die Hirtin, dass die Virgh zum ersten Mal eine Niederlage würden hinnehmen müssen. Sie kannten die Geheimwaffe der Foronen nicht, die jetzt zum ersten Mal zum Einsatz kam. Und selbst wenn sie nun ahnten, dass da etwas Ungeheuerliches vor sich ging, konnten sie nicht mehr reagieren. Sie hatten keine Chance mehr. Es ist so weit, dachte Siroona. Jetzt, SESHA, befahl Sobek, und das sichere Gefühl seines Triumphes schoss wie ein Pfeil durch die Gedanken seiner Gefährten... * Der Stachel der SESHA glühte auf, erzeugte ein gespenstisches Leuchten, wie ein Fanal. Ein wahres Blitzgewitter brach los. Die Schiffe der Virgh stellten plötzlich sämtliche Kampfhandlungen ein und verharrten für einen Moment nahezu regungslos. Wir haben sie, dachte Siroona nun ebenfalls triumphierend. Zum ersten Mal in unserem Krieg haben wir sie außer Fassung gebracht. Zum ersten Mal wissen sie nicht, was auf sie zukommt. Zuerst bildeten sich winzige Löcher im Universum, Zugänge zu einer anderen Dimension. Die sich bald zu Rissen erweiterten, verästelten und verzweigten wie gesprungenes Glas, sich miteinander verbanden und zu Spalten wurden, die rasend schnell weiter und weiter auseinander klafften. Sie werden nicht glauben, was sie da sehen. Siroona fühlte zum ersten Mal so etwas wie Trost. Und doch ist es wahr. Die Kontinuumwaffe reißt das Universum auf, zerstört das bekannte Kontinuum. Es funktioniert! Der Feind nimmt Fahrt auf und will den Abstand zu uns vergrößern, meldete die KI.
Zu spät, bemerkte Sobek in grimmiger Freude. Gleichzeitig gab er den Befehl an alle Einheiten, sämtliche Energie auf die Antriebssysteme umzuleiten und auf Fluchtkurs zu gehen. Lediglich die SESHA verharrte, sie als Einzige war in der Lage, der furchtbaren Waffe Widerstand zu leisten. Wie ein wildes Tier, das den Naturgewalten trotzte, krallte sich die Arche ins All und hielt stand. Ein riesiger, von Blitzen durchzuckter Schlund mit gleißenden, wie ausgefranst wirkenden Rändern hatte sich zwischen den Foronen und den Virgh gebildet. Ein fahles Licht war in seinem Inneren, strömte aus ihm heraus, erhellte jedoch nichts, worauf es fiel, sondern schien im Gegenteil alle Konturen aufzulösen. Doch dies war nur eine optische Begleiterscheinung, die Gewalt des fremden Kontinuums zeigte sich auf andere Weise. Ungeheure Gravitationskräfte begannen zu wirken, als der Schlund in Rotation geriet, seine Angeln hinausschleuderte auf der Suche nach Beute. Erst einmal im Griff dieser schier unglaublichen Anziehungskraft, hatte die Beute keine Chance mehr. Der Pulk an Dreizackschiffen, der ursprünglich Kurs auf die SESHA genommen hatte und ihr immer noch am nächsten war, verschwand als Erster. Wurde lautlos eingesaugt und verschlungen, verschwand im pulsierenden Nichts des tödlichfahlen Lichtes im Schlund. Die SESHA stöhnte und zitterte. Trotz der stabilisierenden Kräfte ihres Sarkophag-Sitzes spürte Siroona, wie die Arche bis in die Grundfesten erschüttert wurde und bis an die äußerste Grenze der Belastbarkeit um ihre Position kämpfte. Aber die Hirtin zweifelte nicht am Erfolg. Das Wagnis hatte sich gelohnt, die Kontinuumwaffe funktionierte, und die SESHA wurde dabei nicht zerstört. Zumindest noch nicht! Plötzlich gellte der Alarm durch die Arche, und für einen Moment sah es so aus, als ob sie das zähe Tauziehen doch noch
verlieren würde. Ein scharfer Ruck ging durch das Schiff, es schien einen gewaltigen Satz auf den Schlund zuzumachen. Die Foronen verloren bei den ungeheuerlichen Vibrationen beinahe das Bewusstsein, doch dann hörten sie ebenso plötzlich wieder auf. Als Siroonas Sinne wieder klar waren, hatte sich der Abstand nicht verringert. Die KI hatte noch rechtzeitig eingegriffen, die SESHA hatte es gerade noch einmal geschafft. Das werden wir nachjustieren müssen, damit es nicht noch einmal passiert, stellte Sobek in seiner typisch klaren, emotionslosen Art fest. »Da, seht doch!«, rief Mont und deutete auf die bräunlichrot glühende Holosäule, auf der die Abbilder nur noch verschwommen sichtbar waren. »Sie geben auf!« Zum ersten Mal seit Beginn des Krieges ergriff eine gesamte Flotte der Virgh die Flucht. Doch längst nicht alle schafften es, selbst zwei Super-Dreizacks erwischte der Schlund. Sogar diese scheinbar unüberwindlichen Schlachtschiffe, die ganze Planetensysteme geschmolzen und verglast hatten, konnten dem gierigen Sog des fremden Kontinuums nicht entkommen. Wer es gerade noch rechtzeitig aus dem Einflussbereich der Gravitationskräfte schaffte, konnte von Glück reden. Die Virgh dachten diesmal nicht daran abzuwarten, bis sich die Lage beruhigte, oder die Situation aus sicherer Distanz zu analysieren. Sie flohen. Was von ihrer Flotte übrig war, verschwand weit versprengt in den Tiefen des Alls. Dann erlosch das Glühen an SESHAs Schwanzspitze. Ebenso schnell, wie er sich gebildet hatte, zog sich der Schlund wieder zusammen, das fahle Leuchten in seinem Innern erstarb. Schon nach kurzer Zeit waren nicht einmal mehr Risse zu erkennen, und das All lag wieder still und unberührt da, als wäre nie etwas geschehen.
Die SESHA »schrumpfte« wieder auf Normalgröße zusammen und nahm Fahrt auf... * Sobek war der Einzige, der den Jubel der anderen nicht teilte. Eine Weile hörte er schweigend zu, dann verschaffte er sich mit seiner tiefen, scharfen Stimme Gehör. »Ich verstehe, dass ihr euch freut, den Virgh endlich einmal eine Niederlage beigebracht zu haben. Aber machen wir uns nichts vor: Wir hatten Glück. Und das Überraschungsmoment auf unserer Seite. Das war aber auch schon alles.« »So sehe ich das nicht«, erwiderte Mont. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendetwas gibt, das der Kontinuumswaffe standhalten kann.« »SESHA kann es«, erinnerte ihn Sobek. »Und die Virgh werden es auch können. Wenn sie sich von ihrem Schock erholt haben. Sie waren uns bisher technisch wenn nicht überlegen, so doch ganz auf den Krieg konzentriert. Sie werden einen Weg finden, die Waffe entweder zu neutralisieren oder gegen uns zu verwenden. Und bis es so weit ist, werden sie ihre Angriffsstrategie ändern, noch mehr aus dem Hinterhalt zuschlagen und schnell wieder verschwinden. Gleichzeitig werden sie versuchen herauszufinden, wie viele solcher Waffen wir besitzen.« Siroona konnte spüren, wie die anderen zusehends von Sobeks Worten ernüchtert wurden. »Das kann ich nicht glauben!«, rief sie. »Du willst die Flucht fortsetzen?« Sie hätte lieber die Virgh aus dem All gefegt! »Jagen wir sie, lassen wir sie nicht zu Atem, nicht mehr zur Ruhe kommen, machen wir sie fertig, bevor sie Zeit für eine Analyse haben! So eine Chance wie jetzt haben wir nie wieder! Wir müssen losschlagen, bevor sie wieder zu sich kommen! Machen wir Gejagte aus den Jägern!«
Auf ihre flammende Rede hin herrschte einige Zeit Schweigen. Dann sagte Mont leise: »Wir haben nur eine einzige Arche, Siroona. Und nicht mehr als tausend Schiffe.« Siroona sank in ihrem Sitz zusammen, zu ernüchtert, um zu antworten. Sie hatte nur noch an den Sieg gedacht, an diese einmalige Chance. Aber nicht daran, was es sie gekostet hatte. Mont fuhr fort: »Auf jedes vernichtete Virgh-Schiff kamen hundert von unseren. Wir haben einen sehr hohen Preis für unsere Freiheit bezahlt. Wir sollten sie jetzt nicht aufs Spiel setzen.« Siroona machte eine wütende Handbewegung. Ein Ausdruck ihrer Frustration und Trauer, gleichzeitig eine zustimmende Geste. »Natürlich nicht, Mont. Ich habe... mich für einen Moment hinreißen lassen. Verzeiht mir. Das sollte keine Missachtung der vielen Opfer bedeuten.« »Wenn wir wenigstens noch die Hälfte unserer Schiffe hätten, würde ich deinem Vorschlag wahrscheinlich zustimmen«, sagte Sobek zu Siroona. »Aber Mont hat Recht. Wenn dieser Sieg nicht umsonst gewesen sein soll, müssen wir unseren ursprünglichen Plan weiter verfolgen. Wir werden weiter nach Bolcrain fliegen. Von der Gesamtentfernung von 160.000 Lichtjahren haben wir schon fast die Hälfte zurückgelegt. Die Flucht kann uns gelingen, wenn wir jetzt nicht lange zögern.« »Es ist eine riesige Galaxis«, fügte Mont hinzu. »Es gibt dort unglaublich viele Möglichkeiten, sich zu verstecken.« »Das allein wird nicht genügen«, warnte Siroona, nun endlich wieder überzeugt, dass die Entscheidung zur Flucht die richtige gewesen war. »Die Virgh werden uns suchen, da bin ich mir sicher. Sie werden diese Niederlage nicht einfach hinnehmen, und es wird ihnen nicht genügen, uns nur vertrieben zu haben.«
»Natürlich nicht, denn sie werden davon ausgehen, dass wir keineswegs vorhaben, für immer ins Exil zu gehen und eines Tages unsere Rückkehr planen«, stimmte Sobek zu. »Deshalb müssen wir uns eine ganz andere Strategie überlegen, mit der die Virgh niemals rechnen werden. Ja, die selbst für einen Foronen scheinbar undenkbar ist. Um ein sicheres Versteck zu finden, in dem die Virgh niemals nach uns suchen werden, müssen wir ganz neue Wege beschreiten.« Die Art, wie ihr Gefährte das sagte, ließ Siroona aufhorchen. Anscheinend hatte Sobek in diese Richtung bereits einige Überlegungen angestellt... Zwischenspiel: Gegenwart – 2252 A.D. »Das ist es also«, flüsterte John Cloud. Immer noch schwankte er zwischen Faszination und Grauen. Nicht anders erging es Scobee, die schweigend neben ihm stand. Als genetisch optimierter Mensch war Scobee bei weitem nicht mehr solchen Emotionen und Unsicherheiten unterworfen wie John Cloud. Ihr Verstand war seit ihrer Kindheit darauf trainiert worden, blitzschnell Situationsanalysen zu erstellen und sich anzupassen. Doch dieses Geschehnis konnte auch an der GenTec nicht spurlos vorübergehen. Sie waren an Bord der SESHA in den Aqua-Kubus zurückgekehrt – oder auch Tovah'Zara, wie seine Bewohner ihn bezeichneten. Die Arche, ursprünglich von John Cloud als »Ersatz« für die zerstörte irdische RUBIKON zur Flucht benutzt, hatte ihre ursprüngliche Position in der Vakuumsphäre wieder eingenommen. »Was sagst du nun, John Cloud?«, dröhnte Sobeks Stimme nach seiner Demonstration durch die Zentrale.
John Cloud glaubte, einen triumphierenden Unterton herauszuhören. Sobek hatte ihm nicht das Gesicht zugewandt, als er die Frage stellte, was der ehemalige Kommandant der Marsmission als unhöflich empfand, aber bei den Foronen nicht viel bedeuten mochte. Abgesehen von der humanoiden Figur hatten sie mit den Menschen nicht viel gemeinsam. Sobek war annähernd zweieinhalb Meter groß und fast doppelt so breit wie John Cloud. Sein wuchtiger, muskulöser Körper steckte in einer Amorph-Rüstung, einer Panzerung, die aussah, als wäre sie aus wimmelnden Insekten zusammengesetzt. Dies erweckte nicht unbedingt Sympathie, und Sobek tat auch alles dazu, um möglichst imponierend aufzutreten, für menschliche Begriffe sogar arrogant. Er machte stets deutlich, dass ihn die menschlichen Belange nicht besonders interessierten, dass für ihn allein der Fortbestand des foronischen Volkes von Bedeutung war – zu welchem Preis, war ihm ebenfalls gleichgültig. Der Forone schien über alles erhaben zu sein. Besonders irritierend war es für John Cloud, aber auch Scobee, dass der Forone kein Gesicht im herkömmlichen Sinne besaß. Der knöcherne Kopf war von einer dünnen, lederartig bräunlichen Haut überzogen. Augen, Ohren und Nase waren nicht ausgebildet. Sobek hatte John Cloud in einer mitteilsamen Minute darüber aufgeklärt, dass die Sinneszellen, die zum Hören und Sehen befähigten, sich über den gesamten Kopf verteilten. Der bei Menschen definierte »Mund« bestand aus einer Membran, die je nach Stimmung wenig oder stark vibrierte. Im Kopf- und Nackenbereich waren knochenartige Wülste ausgebildet, unter denen sich geschützt Atemöffnungen befanden. »Es ist beeindruckend«, gab Cloud zu. Aber es war noch viel mehr, kaum mit Worten zu beschreiben, was sich gerade vor seinen Augen abgespielt hatte.
* Nachdem die RUBIKON II – wie Cloud die SESHA in Gedanken noch immer nannte – an ihren angestammten Platz zurückgekehrt war, hatte Sobek die Dimensionsschranke deaktiviert, die Teile des Schiffes sonst in einer Raumverfaltung verborgen hielt und ihre wahren Ausmaße erst jetzt deutlich machte. Statt dreihundert Metern Spannweite besaß die SESHA in Wirklichkeit fast zehn Kilometer. Aus ohnehin nicht geringfügig zu nennenden zweihundertfünfzig Metern Länge waren über acht Kilometer geworden, bei einem maximalen Durchmesser von etwa zwei Kilometern. Erst jetzt wurde deutlich, warum die RUBIKON II von innen so viel größer wirkte als von außen – sie war es! Dieses Schiff war wie eine Welt für sich, so groß wie eine Stadt. Welche Geheimnisse mochte sie noch verbergen? Die Holosäule in der Zentrale hatte ihre Darstellungen gesplittet und zeigte die Vorgänge innen wie außen. Sobek zeigte seinen »Gästen« Teile des neu entdeckten Innenlebens der Arche – Zehntausende von Räumen voller schlafender Foronen. Gleichzeitig hatte der Anführer des Siebener-Rates der Foronen eine weitere Schaltung vorgenommen, die die tatsächliche Funktion der Vakuumblase ans Licht brachte: Nach kurzer Zeit schwebten majestätisch Dutzende Riesenschiffe wie die RUBIKON II im Zentrum, von derselben Größe, derselben Form. Sie waren dupliziert worden. Und der Anblick erschlug die beiden Menschen fast, die ihren Augen nicht trauten, immer noch nicht trauen konnten, auch nach mehreren Minuten nicht.
Schon ein einzelnes Raumschiff dieser Größe war für menschliche Begriffe kaum vorstellbar, und dann praktisch eine ganze Flotte... Die beiden Menschen versuchten, sich ihre Fassungslosigkeit nicht anmerken zu lassen, und hofften, dass Sobek nicht genügend Aufmerksamkeit auf menschliches Verhalten richtete. Denn sie wollten ihm die Genugtuung seiner maßlosen Überlegenheit nicht gönnen. John Cloud schaffte es nicht, die Schiffe durchzuzählen, soweit konnte er gar nicht sehen. Die duplizierten Archen hatten problemlos Platz, denn das Innere der karmesinrot leuchtenden Kugel hatte nicht weniger als eine Lichtsekunde Durchmesser. »Wir haben einen anorganischen Duplikator geschaffen«, erläuterte Sobek, während er gleichzeitig weitere Schaltungen vornahm. »Es stimmt alles bis ins Detail, auch Waffen und Antrieb. Sobald mein Volk erwacht ist, können die Duplikate bemannt werden.« Scobee stieß Cloud leichten und deutete auf einen anderen Abschnitt der Holosäule, in dem die Quartiere der Schläfer in verschiedenen Perspektiven gezeigt wurden. »Die ersten sind erwacht«, flüsterte die GenTec. Cloud nickte. Er sah Foronen, nicht minder groß und massig wie Sobek, aufstehen und umhergehen. Männer und Frauen waren für die Menschen nicht voneinander zu unterscheiden, da ihre Körper keine sichtbaren Geschlechtsmerkmale aufwiesen. Sie zeigten keinerlei körperliche Schwäche und schienen auch nicht unter Orientierungslosigkeit zu leiden, soweit Cloud es beurteilen konnte. Einige schlüpften in Anzüge, die einfacher Machart zu sein schienen und keinesfalls einer Rüstung entsprachen, wie Sobek sie trug. Manche saßen auch reglos, sie wirkten konzentriert. Vermutlich empfingen sie gerade auf mentalem Wege Informationen, wann und wo sie sich befanden.
Schließlich traten sie einer nach dem anderen durch aktivierte Türtransmitter ihrer Unterkünfte und waren verschwunden. 2. Vergangenheit: Bulgrur An diesem Morgen fiel Bulgrur das Aufstehen noch schwerer als sonst. Es lag nicht nur daran, dass er in der letzten Zeit viel zu wenig Schlaf bekam. Die Erdbeben waren es, und dass Bulgrur der Lösung keinen Schritt näher kam. Bulgrur stand in der Blüte seiner Jahre. Er war auf seinem Fachgebiet, der Seismologie, hoch angesehen. Viele behaupteten, er sei der Beste. Dementsprechend hoch war der Anspruch: Alle Hoffnungen lagen auf ihm. Ihm musste das schier Unmögliche gelingen. An ihm war es, das Volk der Surer zu retten. Der Hauscomputer meldete einen Anruf, als er auf dem Weg zur morgendlichen Reinigung war. »Annehmen«, befahl Bulgrur. »Kamera aus.« Auf dem Bildschirm zeigte sich eine kleine, schwarze Gestalt, fast ein Ebenbild Bulgrurs, mit Ausnahme des purpurfarben gefärbten Kopfflaums und der vielen Falten im Gesicht. Im Gegensatz dazu wurde Bulgrurs Abbild nicht gesendet. »Ich erwarte dich«, fistelte der Große Jag Hagett. Er hatte offensichtlich nur eine unvollkommene Reinigung vollzogen. Bulgrur vermied es, das Gesicht angewidert zu verziehen. »Es tut mir Leid, aber ich komme etwas später.« Er hatte den Termin bei dem mächtigen Surer keineswegs vergessen. Aber er hatte Ruhe gebraucht – und Zeit zum Nachdenken. »Meldungen besagen, dass in Nord-Fartan eine ganze Stadt in eine Erdspalte gerutscht ist, die sich nach einem weiteren
Beben gebildet hat. Ich erwarte deine Stellungnahme, Bulgrur. Mache dich unverzüglich auf den Weg!« Der Große Jag Hagett unterbrach die Verbindung. Eine Weile starrte Bulgrur den blinden Schirm an. »Stellungnahme... pah!«, brummte er. »Wie stellt er sich das vor? Hier geht es doch nicht um eine Wirtschaftskrise, sondern um den Fortbestand der ganzen Welt! Als ob ich dafür verantwortlich wäre!« »Einer muss ja verantwortlich sein«, erklang eine Stimme hinter Bulgrurs Rücken. »Lamera, du hast mir gerade noch gefehlt«, seufzte er. »Hast du noch nie etwas von Privatsphäre gehört?« »Selbstverständlich, mein Honigtau«, säuselte die Frau. »Aber so, wie wir zueinander stehen, dachte ich...« »Eben!«, unterbrach Bulgrur. »Wir stehen weit voneinander entfernt. Also melde dich das nächste Mal gefälligst an! Ich bin ja noch nicht einmal gewaschen.« Ihn ekelte selbst davor, dass er sich ungewaschen einem anderen Surer zeigte. »Oh, das stört mich nicht.« »Aber mich! Bitte geh jetzt, ich habe einen wichtigen Termin, wie du mitbekommen hast.« Lamera zog den leicht vorspringenden Mund in die Breite und spielte mit einer in den Flaum eingeflochtenen gelben Strähne. »Ich sehe schon, du bist wieder mal ein Morgenmuffel. Dann hole ich dich eben zur dritten Mahlzeit ab!« Mit einer theatralischen Geste warf sie sich ihren Umhang über die Schulter und rauschte davon. Bulgrur seufzte noch einmal, bevor er sich mit wiedergefundener Ruhe der morgendlichen Reinigung hingab. Lamera zu verärgern, war kein Problem. Sie war schon seit Jahren daran interessiert, sich gemeinsam mit ihm zu waschen, und blieb hartnäckig, egal, wie schlecht er sie behandelte. Lamera sonnte sich gern im Ruhm anderer, vor allem, weil sie dann nicht selbst etwas leisten musste.
Aber Bulgrur konnte sie nun einmal nicht leiden, nicht einmal als gute Bekannte – und schon gar nicht, um die Reinigungen gemeinsam mit ihr zu vollführen! Bulgrur liebte einzig die Wissenschaften... * Eine halbe Oktante später verließ Bulgrur sein Haus, das kunstvoll in einen grünen Hügel eingebettet war, umgeben von großen Nussbäumen. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel herab. Sur ist so eine schöne Welt, dachte Bulgrur beklommen. Es darf einfach nicht geschehen. Die Temperaturen waren ganzjährig angenehm, und die Natur bot ausreichend für ein Auskommen. Die Surer hatten seit Beginn ihrer Entwicklung kaum je einen Überlebenskampf austragen müssen, obwohl sie – abgesehen von den Insekten – so ziemlich die kleinwüchsigsten Bewohner des Planeten waren. Aber Feinde gab es trotzdem nicht viele, und die Surer waren seit jeher Meister der Tarnung und im Verstecken. Und schon nach kurzer Zeit die herrschende Intelligenz, die sich bald über den gesamten Kontinent ausbreitete und eine Zivilisation mit einem hohen technischen Standard entwickelte. Doch das war nun alles in großer Gefahr. Bulgrur flog mit einem Schlitten zum Parlament, in dem die Großen Jags residierten. Es war ein großer, viel verzweigter Palast voller Pracht und Reichtum, der Hauptsitz der Regierung. Seinerzeit hatte das Volk darüber abgestimmt, wo das Parlament gebaut werden sollte, und die Mehrheit war für die Mitte des Kontinents gewesen. Zusammen mit dem Regierungssitz wurde eine Stadt namens Jaggar errichtet, in der alle Behörden und Verwaltungen untergebracht waren. Es gab schönere Städte, gewiss. Aber Bulgrur war hier zu Hause, nur hier hatte er alle Möglichkeiten, seinen Forschungen nachzugehen.
Der einzige Nachteil war das wachsame Auge der Großen Jags, dem er hier ohne Unterlass ausgesetzt war. »Du wirst bereits vom Großen Jag Hagett erwartet«, schnarrte der automatische Pförtner am Portal, sobald Bulgrur die Registrierschranke durchschritten hatte. Hagetts Büro war im südlichen Komplex untergebracht – wenn man das Büro nennen mochte. Es glich mehr einem der anstößigen öffentlichen Reinigungshäuser mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten und jeder Menge Privatsphäre. Der Große Jag hatte inzwischen seine Reinigung beendet – sehr zu Bulgrurs Erleichterung – und lauschte andächtig dem plätschernden Wasser eines Brunnens. Wie dekadent dieser Hagett doch ist, stellte Bulgrur fest. Auf Sur galt die Herrschaft der Reichen – wer den meisten Besitz hatte, hatte auch das Sagen. Am Wertvollsten war Grundbesitz, und das war genau der Grund, weswegen Hagett Bulgrur so traktierte. Der Große Jag deutete auf einen überdimensionierten flachen Schirm, der eine halbe Wand einnahm, und auf dem gerade die neuesten Schreckensnachrichten vermeldet wurden. »Sieh dir das an! Was hast du dazu zu sagen?« »Dass ich nicht dafür verantwortlich bin«, versetzte Bulgrur ruhig. »Ich kann nur nach den Ursachen forschen, sie aber nicht abstellen.« »Und genau das ist ein Fehler!«, schnarrte Hagett. »Ich werde meinen Posten verlieren, wenn das so weitergeht! Bereits zehn Prozent meines Besitzes liegen in Schutt und Asche.« »Zuzüglich einiger Hunderttausend Surer, die ihr Leben verloren haben...«, ergänzte Bulgrur mit bitterem Sarkasmus. »Wenn du dich erinnerst, Großer Jag, habe ich bereits vor zehn Quintos die Evakuierung von Galon und Miro empfohlen, da die seismischen Aktivitäten auf ein Epizentrum zwischen den beiden Städten hinwiesen. Aber es hat niemand auf mich
gehört, weil der entgangene Profit höher bewertet wurde, falls ich mich irren sollte!« »Ich erlaube dir nicht, so mit mir zu reden!« Hagett schaltete den Brunnen unwirsch aus. »Du versuchst nur, dich der Verantwortung zu entziehen!« »Ich nicht«, widersprach Bulgrur. »Und ich erlaube es ebenfalls nicht, mich zum Treteisen zu machen. Es ist Sache der Regierung, die Warnungen der Wissenschaftler zu beherzigen und der Bevölkerung vorsichtig nahe zu bringen, dass keine Panik entsteht! Ich habe euch allen gesagt, dass unser Kontinent dabei ist, auseinander zu brechen. Stattdessen werden viele kleinere Kontinente und Inseln entstehen. Die Welt ist im Wandel, Hagett, und wir sind gezwungen, uns anzupassen!« »Mir wäre lieber, du würdest eine Lösung finden, diese Erdbeben abzustellen«, entgegnete der Große Jag. »Mir auch«, gab Bulgrur zu. »Und ich habe die besten Wissenschaftler des ganzen Kontinents zusammengezogen. Sie arbeiten seit langer Zeit daran. Aber was wir auch versuchen, schlägt fehl. Wir stoßen an die Grenzen unserer geistigen Kapazität. Vielleicht gibt es eine technische Möglichkeit, die Erdbeben einzudämmen, aber wir sind weit davon entfernt, sie zu finden.« Hagett blieb vor dem Wissenschaftler stehen und musterte ihn aus großen, dunkelblauen Augen. »Du siehst müde aus.« »Ich bin müde.« Bulgrur fuhr sich durch den türkisfarbenen Flaum, der ungeordnet von seinem Schädel abstand. »Es ist nicht nur die Arbeit. Es ist auch... die Last der Verantwortung, der sehnliche Wunsch, eine Lösung zu finden. Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten einschalte... Es ist einfach zu schrecklich. Unsere Zivilisation treibt dem Abgrund entgegen, und wir können nichts tun.« Der Große Jag seufzte. »Bulgrur, das ganze Lamentieren hilft uns doch nichts. Wir haben keine Wahl. Wo sollen wir
hin? Wir können nicht jedes Mal, wenn sich ein Erdbeben ankündigt, ganze Städte evakuieren. Und vor allem, wohin? Der ganze Kontinent ist betroffen. Schicken wir die Einwohner von Löbö nach Älgür, muss nächstes Mal vielleicht Älgür evakuiert werden, also schicken wir sie alle nach Füllü. Dort leben dann drei verschiedene Surer in einem einzigen Haus, weil nicht mehr genug Platz da ist. Und wohin dann?« »Ich verstehe ja, was du meinst«, sagte Bulgrur verzweifelt. »Die einzige Möglichkeit, die ich noch sehe, ist das Meer.« »Von dieser verrückten Idee will ich nichts mehr hören!«, wehrte Hagett ab. »Wir sollen Inselplattformen bauen und in See stechen, bis sich die Lage beruhigt hat? Mal abgesehen von den Stürmen und Unwettern, die wir zu erwarten haben, wie lange sollen wir dort ausharren? Vierzig Generationen? Vierhundert? Viertausend?« »Sobald sich ein Teil vom Kontinent abgespaltet hat, könnten wir wieder umsiedeln. Und dann nach und nach...« Bulgrur unterbrach sich, als er sah, wie sich ein weißer Ring des Zorns um Hagetts Augen bildete. »Schon gut. Warten wir also ab. Eines Tages werden wir gar keine andere Wahl mehr haben. Wo sollten wir sonst hin? In den Weltraum? Zu fremden Sternen?« Der Wissenschaftler zeigte himmelwärts. »Das ist noch unwahrscheinlicher als alles andere. Solange wir keinen geeigneten Antrieb entwickelt haben, ist uns der Ausweg nach oben versperrt. Es sei denn...« Auf sein Gesicht trat ein merkwürdiger Ausdruck, und mit versonnener Stimme fuhr er fort: »Es sei denn, jemand brächte uns Hilfe... von außen.« Hagett schwieg einen Moment verdutzt, dann brach es mit schriller Stimme aus ihm heraus: »Bei allen Reichtümern, Bulgrur, jetzt hast du endgültig den Verstand verloren! Hast du dich etwa dieser suspekten Sekte angeschlossen, deren Mitglieder behaupten, dass es da draußen Leben gibt, das eines Tages zu uns kommt?«
»Natürlich nicht«, protestierte Bulgrur. »Aber man wird doch wohl noch träumen dürfen! Und wenn du gestattest, muss ich jetzt zu meiner Arbeit zurückkehren. Diese fruchtlosen Konferenzen halten mich nur auf. Wenn es etwas Neues gibt, wirst du es umgehend erfahren!« Der Wissenschaftler wandte sich zum Gehen. Doch bei der Tür drehte er sich nochmals um: »Im Übrigen ist es nicht ausgeschlossen, dass es dort draußen raumfahrende Völker gibt! Bei all den seltsamen Sendungen, die wir in letzter Zeit erhalten, und den Störungen unserer Technik, sollte man auch darüber einmal nachdenken. Die Erdbeben sind nicht an allem schuld!« »Dann bau einen Sender und schicke einen Notruf!«, schnappte Hagett. Humor ist nicht deine starke Seite, dachte Bulgrur und schmetterte die Tür hinter sich zu. * Bulgrur spielte tatsächlich mit dem Gedanken, einen leistungsstarken Sender zu bauen, der ein kurzes Signal ins All schicken sollte. Aber er musste sich auf so viele andere Dinge konzentrieren, dass er schließlich nicht mehr daran dachte. Was nicht weiter schlimm war, wie er eines Tages feststellen sollte – denn die Surer waren längst entdeckt worden, ihre Existenz war keineswegs im Verborgenen geblieben. Wenn Bulgrur das geahnt hätte, wäre er vielleicht weniger verzweifelt gewesen. Inzwischen hatten die Beben eine solche Intensität und Häufigkeit erreicht, dass er im Grunde nur noch an der Verfeinerung des Warnsystems arbeiten konnte, um die Bevölkerung rechtzeitig aus dem gefährdeten Gebiet zu schaffen. Aber wie Hagett gesagt hatte: Dies war eine dauernde Flucht, denn der gesamte Kontinent war davon betroffen. Man
konnte nicht sagen, welches Gebiet noch einigermaßen sicher war. Einzelne Abschnitte waren bereits durch tiefe Gräben und Spalten abgeschnitten, sodass nur noch der Luftweg blieb. Das verzögerte nicht nur die Evakuierung, sondern gefährdete sie noch mehr, da sich durch die häufigen Erdbeben Klimakatastrophen ankündigten. Stürme nie gekannter Stärke überzogen den ganzen Kontinent, Hagel und Wassermassen stürzten vom Himmel herab und überschwemmten das Land. Manche Surer versuchten, ein weitgehend normales Leben zu führen, aber die Tagesnachrichten berichteten nur noch von Katastrophen, davor konnte man nicht fliehen. Zudem konnte es jederzeit einen selbst treffen. Bulgrur wurde von der Regierung noch zusätzlich unter Druck gesetzt, als die Bevölkerung immer vehementer nach einem Ersatz forderte. Den Großen Jags wurde vorgeworfen, nicht oder zu spät zu reagieren, dem Volk nicht ausreichend Hilfe zur Verfügung zu stellen, für Schutz zu sorgen. In diesen Tagen musste der Wissenschaftler oft an Lameras Ausspruch denken: Einer muss ja verantwortlich sein. Wenn es nur so einfach wäre! Die Bedrohung des Untergangs zerstörte das Zusammengehörigkeitsgefühl des Volkes und brachte ganz neue Seiten hervor. Es kam zu aggressiven Auseinandersetzungen, Vandalismus, sogar Raub – alles Dinge, die den Surern bis dahin nahezu unbekannt gewesen waren. Aber sie hatten alle zerrüttete Nerven, waren nicht mehr sie selbst. Eines Tages eskalierte ein Streit, einer fing mit der Gewalt an – und schon setzte es sich wie eine hochansteckende Seuche fort. Die Regierung sah sich jetzt vor das Problem gestellt, nicht nur zu wenig Hilfskräfte zu haben, auch die Polizei war völlig überfordert. Die Exekutive war der kleinste
Verwaltungsapparat, denn die Surer waren normalerweise nicht gewalttätig, Neid und Armut waren unbekannt. Sie werden es noch schaffen, sich gegenseitig umzubringen, bevor die auseinander brechende Welt uns endgültig erledigt, dachte Bulgrur. Er war inzwischen nur noch ein Schatten seiner selbst – selbst die Reinigung hatte er zweimal versäumt –, doch er ruhte nicht, sondern suchte weiter nach Lösungen. Er vergrub sich in der Arbeit, um nicht darüber nachdenken zu müssen, ob sie überhaupt noch einen Sinn hatte. * Und in dieser Stunde der Not kam tatsächlich Rettung. Bulgrur war zufällig gerade auf der Straße unterwegs, an einem der inzwischen selten gewordenen sonnigen Tage, als plötzlich ein großer Schatten auf ihn herabfiel. Der Wissenschaftler hob den Blick und sah, dass der Himmel wolkenlos war. Trotzdem hatte etwas die Sonne verdeckt. Ein Objekt in gewaltiger Höhe, das sich zu nähern schien und dabei allmählich immer größer wurde. Und Ausmaße annahm, die schließlich fast den ganzen Himmelsausschnitt bedeckten, den Bulgrurs Augen erfassen konnten. Es war... majestätisch. Anders konnte man es nicht sagen. Es wirkte fast lebendig, wie es da auf sanft schlagenden, weit ausladenden Schwingen ruhig herabsank. Mit dem breiten Kopf, der halslos mit dem Körper verbunden war, und dem Schweif ähnelte es sehr dem surischen Riesenkarkar, einem mächtigen Raubvogel, dem König der Lüfte, der auch frischem Surerfleisch nicht abgeneigt war. Zum Glück kam er nicht häufig vor und lebte im Gebirge. Dennoch – ein böses Omen?
Bulgrurs Herz begann so rasend schnell zu pochen, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte und gestürzt wäre. Der Wissenschaftler griff sich an die magere Brust und versuchte mit massierenden Bewegungen, sein Herz zu beruhigen. Um ihn herum liefen die Surer zusammen, stürzten aus den Häusern, rannten die Straßen entlang. Nach mehreren Unfällen kam der Schlittenverkehr zum Erliegen. Die Werbetafeln an den Häuserfronten wurden ausgeblendet, stattdessen gingen die Nachrichten auf Sendung und berichteten in weit hallender Lautstärke, dass das unheimliche Phänomen auf dem ganzen Kontinent bemerkt, wenn nicht unmittelbar selbst gesichtet wurde. Bulgrur versuchte, sich zum Parlament durchzukämpfen, aber er kam durch die Massen nicht mehr hindurch. Die Leute waren wie von Sinnen, deuteten zum Himmel und diskutierten laut ihre Vermutungen. Schließlich nahm sich der Wissenschaftler irgendeinen Schlitten, der noch funktionierte, und flog über die Köpfe der starrenden Artgenossen hinweg zum Parlament. Dort war natürlich alles ebenfalls in heller Aufregung, und Bulgrurs Eintreffen wurde vor allem von Hagett begrüßt. »Es sieht so aus, als ginge dein Wunschtraum in Erfüllung!« »Und genau im richtigen Moment«, fügte jemand hinzu. Der Vorsitzende rannte mit flatternden Gewändern im Kreis herum. »Was sollen wir jetzt tun?« »Abwarten«, riet Bulgrur. »Wir haben keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme. Das werden diese Fremden schon von sich aus tun.« »Und wenn sie uns Böses wollen?«, rief jemand von hinten. »Warum sollten sie?«, gab Bulgrur zurück. »Wir gehen doch sowieso unter. Wenn sie uns berauben wollten, könnten sie sich einfach alles nehmen, ohne uns dabei etwas antun zu müssen. Den Rest erledigt die Natur.«
Also warteten die Surer voller Furcht und Hoffnung zugleich ab... * Schließlich kamen die Fremden ins Parlament von Sur. Das Volk erzitterte deutlich, als die Riesen ihrem Transportgefährt entstiegen. Sie waren mehr als doppelt so groß und mindestens viermal schwerer als die Surer! Es waren sieben an der Zahl, und sie trugen schwere Rüstungen. Anscheinend aber keine Waffen, zumindest hielten sie nichts in den Händen, auch an den Anzügen war nichts befestigt. Die Fremden sahen alle gleich aus. Und vor allem sehr bedrohlich. Nicht allein ihre Größe, ihr wuchtiges Auftreten – sie hatten keine Gesichter, keine Augen, nur befremdliche Knochenwülste. Sie besaßen auch keine Mimik, alles schien völlig starr zu sein. Vielleicht waren das Helme... Unwillkürlich drängten sich die wartenden Surer auf dem Parlamentshof zusammen, als die Riesen auf sie zuschritten. Keiner der Winzlinge wagte einen Laut, manche hielten sogar den Atem an. Schließlich blieben die Fremden stehen. Einer von ihnen trat zwei Schritte nach vorn und drehte langsam den Kopf von links nach rechts. Bulgrur hatte auf einmal das beängstigende Gefühl, dass sein Innerstes abgetastet würde. Als ob sich jemand in ihm umschaute. Sein Kopf begann zu schmerzen, und er musste so heftig blinzeln, dass Augenflüssigkeit austrat. So verschwommen sahen die Fremden noch unheimlicher aus, wie geisterhafte Schemen aus einem bösen Albtraum. Dann begann der Fremde zu sprechen. Bulgrur konnte nicht sehen wie, denn der Außerirdische besaß keinen Mund. Nur an
der Stelle, wo Bulgrur den Mund vermutet hätte, flatterte etwas leicht, wie eine Membran... »Wir sind hier, um zu helfen.« Für einen Moment herrschte atemloses Schweigen. Dann steckten die Surer die Köpfe zusammen und flüsterten aufgeregt drauflos. Es endete damit, dass keiner der Großen Jags sich nach vorne traute, und schließlich Bulgrur, weil er ohnehin schon am nächsten stand, einfach nach vorn geschubst wurde. Seine Artgenossen wichen zugleich mehrere Schritte zurück. Bulgrur überlegte fieberhaft, was er tun oder sagen sollte. Vor lauter Panik schlotterten seine Knie so sehr, dass er sich nur noch mühsam aufrecht halten konnte. Andernfalls wäre er einfach davongelaufen. Weil ihm nichts Besseres einfiel, sagte er schüchtern, mit leiser Stimme: »Um... zu helfen?« »Natürlich, was sonst?«, erwiderte der Fremde. »Du... sprichst unsere Sprache?« »Das stellt für uns kein Problem dar.« Bulgrur zuckte zusammen, als der Außerirdische plötzlich den Arm hob und auf seine Gefährten hinter sich wies. »Wir sind vom Volk der Foronen und ihre Anführer. Man bezeichnet uns als die Hohen Sieben: Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona.« Der Fremde wies auf sich. »Ich bin Sobek.« Bulgrur fasste sich endlich ein Herz. Bisher war es eine ganz normale Konversation, und es gab keinen Grund, sich weiterhin so lächerlich zu machen. Natürlich waren die Außerirdischen den Surern in jeder Hinsicht überlegen – allein schon dadurch, dass sie die Raumfahrt beherrschten. Aber die Surer waren weder primitiv, noch dumm. Am besten dachte er einfach nicht über die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Begegnung nach, und was sie bedeutete. Er sollte sich so verhalten, als erhielte er Besuch
aus den äußersten Randgebieten, von den Unterregierungen der Seestädte oder des großen Waldes etwa. Das war ein guter Vergleich, denn obwohl Artgenossen, unterschieden sie sich doch sehr in ihrer Lebensweise, hatten ein spezifiziertes Verhalten, sogar ein anderes Aussehen. Es mussten ganz andere Benimmregeln angewendet werden als in den Städten der Mitte. »Ich bin Bulgrur«, stellte er sich also mit wackelndem Kopf vor, wie es die Höflichkeit gebot. »Willkommen auf Sur. Hinter mir ist die gesamte Regierung versammelt, in deren Vertretung ich euch sagen darf, dass eure Ankunft ein Glücksfall ist, von dem wir nie zu träumen wagten.« »Gut gesprochen«, zischte jemand hinter ihm, und das ermutigte Bulgrur fortzufahren. »Bitte, geduldet euch einen Moment«, bat er. »Wir werden euch umgehend unsere Gastfreundschaft zuteil werden lassen. Nur seht uns bitte nach, dass wir improvisieren müssen, denn wir haben keine Einrichtungen für Wesen eurer Größe. Am besten wird es sein, wenn wir die Versammlung gleich hier im Hof stattfinden lassen, denn ich glaube, unsere Räume sind zu eng und vor allem viel zu niedrig.« »Wir danken für eure Gastfreundschaft, aber es ist nicht notwendig, viel Aufwand zu betreiben«, erklärte Sobek. Das war vielleicht nur höflich gemeint. Bulgrur wollte es nicht darauf ankommen lassen. »Dies ist bei uns so Sitte, Sobek. Dann redet es sich leichter.« * Hektische Betriebsamkeit brach aus, als Bulgrur sich zu seinen Artgenossen umdrehte und sie auffordernd anblickte. Dem wartenden Volk draußen wurde über den Nachrichtenkanal mitgeteilt, dass ein Wunder geschehen und Hilfe von fremden Sternen eingetroffen sei. Daraufhin
entstanden umgehend Hunderte spontaner Feste, zu denen jeder beisteuerte, was er konnte. Zum ersten Mal wieder war das gebeutelte Volk auf dem ganzen Kontinent vereint. Und alle warteten gespannt, in welcher Weise die Hilfe geboten würde. In Windeseile schleppten die Surer Tische, Geschirr, Dekorationen und schnell zubereitete Gerichte herbei. Sitzmöbel für Riesen zimmerten sie einfach aus mehreren Einzelstücken zusammen. Sie ließen sich nicht durch die schweigende Zurückhaltung der Foronen irritieren – jemand, der kein Gesicht und schon gar keine Mimik besaß, war vermutlich nicht besonders aufgeschlossen und redselig, nahmen sie an. Die anfängliche Schüchternheit war schnell überwunden, als man schließlich in großer Runde an einem Tisch saß. Die Foronen begutachteten die angebotenen Speisen und Getränke, konnten aber glaubhaft machen, dass sie keinerlei Kauwerkzeuge zum Zerkleinern, geschweige denn eine Speiseröhre zur Beförderung in einen gleichfalls nicht vorhandenen Magen besaßen. Dafür ließen es sich die Surer doppelt schmecken, zum ersten Mal wieder seit langer Zeit von Angst befreit. Sie stellten den Foronen viele Fragen, die einigermaßen zufriedenstellend beantwortet wurden – vor allem, da es mehr in Richtung Wissenschaft und Technik als um die Frage des »Woher« ging. Sobek erklärte schließlich, dass an Bord ihres »SESHA« genannten Schiffes technische Ausrüstung vorhanden war, um das Problem der Surer zu lösen. »Aber natürlich tun wir dies nicht ganz uneigennützig«, machte der Forone deutlich. Bulgrur registrierte zufrieden diese Ehrlichkeit und Offenheit. Man bekam niemals etwas geschenkt. Jede Aktion brachte unweigerlich eine Reaktion mit sich.
»Wir sind gekommen, um euch ein Geschäft vorzuschlagen: Wir sorgen dafür, dass diese Erdbeben aufhören und der Kontinent zur Ruhe kommt – und im Gegenzug werdet ihr uns behilflich sein.« »Wir sollen euch behilflich sein? Auf welche Weise könnte das möglich sein?«, fragte Bulgrur überrascht. »Ihr solltet euch nicht unterschätzen«, erwiderte Sobek. »Ihr verfügt über ein großes geistiges Potenzial, das nur noch den entsprechenden Anstoß braucht, um das tun zu können, wonach wir verlangen. Dazu würden wir euer gesamtes Volk auf eine höhere Wissensstufe bringen, denn unser Vorhaben ist so groß, dass wir euch alle brauchen.« Das brachte die Surer natürlich erst einmal ins Grübeln. Sie baten die Außerirdischen um eine bestimmte Zeitspanne, die Angelegenheit zu diskutieren. »Darüber sollte vor allem das ganze Volk entscheiden«, fügte Bulgrur hinzu. »Selbstverständlich«, stimmte Sobek zu. »Wir ziehen uns auf unser Schiff zurück und erwarten eure Antwort.« Er ließ den Surern ein Sendegerät da, mit dem sie direkten Kontakt zur SESHA aufnehmen konnten. Dann verließen die Hohen Sieben ihre Gastgeber... * Im Parlament, auf den Straßen, in den Häusern begannen heftige Diskussionen. Die meisten waren sofort davon überzeugt, mit den Foronen handelseinig zu werden. Aber es gab dennoch Zauderer und Zweifler, die nichts Gutes hinter den Absichten der Außerirdischen vermuteten und davon ausgingen, dass die Surer am Ende mit leeren Händen dastehen würden. »Für diese mächtigen Leute sind wir doch nur lächerliche Zwerge«, brachte es ein Nachrichtensprecher sogar in einer
öffentlichen Sendung auf den Punkt. »Mit einer Hand können sie uns zerquetschen. Ihr Schiff ist größer als jede unserer Städte. Was sollte sie daran hindern, uns mit schönen Versprechungen zu hintergehen?« »Nichts«, antwortete der zur Diskussion eingeladene Bulgrur. »Aber andererseits, welche Wahl haben wir denn? Zählt unsere Ehre mehr als die winzige Chance weiterzuleben? Ist unser Misstrauen gerechtfertigt? Wir können es nur herausfinden, indem wir vertrauen.« Der Sprecher hielt dagegen: »Es ist richtig, dass wir verzweifelt sind. Das wissen aber auch die Foronen. Anstatt uns sofort zu versklaven, überreden sie uns daher möglicherweise zu einem scheinbar freiwilligen Handel, weil sie sich dann umso schneller unserer Kooperation versichern können.« Bulgrur ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Wir haben genau zwei Möglichkeiten. Wir bitten die Foronen, uns in Ruhe zu lassen, und gehen spätestens in den nächsten hundert Jahren endgültig unter. Denn für den Bau der Inselplattformen, den ich vor Jahren vorschlug, ist es inzwischen auch zu spät. Schön, einige von uns werden überleben. Es gibt immer irgendwie Überlebende, und wir sind so klein, da kann es durchaus sein, dass die eine oder andere Familie tief in den Bergen verborgen ihr Dasein fristen kann. Vielleicht vermehren wir uns sogar wieder. Aber was ist dann noch von uns übrig? Nichts als das nackte Dasein. Auch keine Ehre und kein Stolz mehr.« Dem Nachrichtensprecher sträubte sich vor Protest der Flaum auf dem Kopf, und er wollte einen Einwand bringen. Aber Bulgrur kam ihm zuvor. »Ich war noch nicht fertig! Kommen wir zur zweiten Möglichkeit. Wir wagen es. Wir gehen das Risiko ein und schließen einen Vertrag mit den Foronen. Zumindest bis zur ersten Zusammenarbeit werden sie einen Teil ihrer Verpflichtungen einlösen müssen. Und das ist
in diesem Fall die Neutralisation der Erdbeben. Das wiederum verschafft uns eine Atempause, in der wir weiter überlegen können, wie wir künftig überleben.« Bulgrur machte eine weit ausholende Bewegung. »Aber vielleicht ist es ja auch ein ehrlicher Handel. Dann werden nicht nur die Erdbeben in der Zukunft verhindert, sondern wir werden auch noch auf ein höheres wissenschaftliches Niveau gebracht. Sie haben versprochen, uns mehr Wissen zu geben, weil wir ihnen dadurch besser helfen können. Das bedeutet aber auch gleichzeitig für uns, dass die Raumfahrt eines Tages möglich ist! Wir überspringen viele Jahrhunderte der Mühsal, erhöhen unser Intelligenzniveau! Das meine Artgenossen, sind für mich zwei Aussichten, die mich jedes Risiko eingehen lassen werden, wenn ich mir ansehe, was mich auf der anderen Seite erwartet. Das Volk entscheidet und stimmt ab. Ich für meinen Teil werde dem Abkommen zustimmen und vorschlagen, so schnell wie möglich einen Vertrag ausarbeiten zu lassen.« Bulgrur machte eine auffordernde Geste. »Nun, mein Freund, bin ich fertig.« Als Bulgrur endete, schwieg der Sprecher. Es schwieg überhaupt das ganze Volk und dachte nach... * Mit überwältigender Mehrheit stimmte das Volk dem Vertrag mit den Foronen zu. Aber das war noch der einfache Teil. Danach folgten langwierige und zähe Verhandlungen, weil die Herrschenden der Surer ein umfangreiches Vertragswerk ausarbeiteten, das die Außerirdischen nicht in dieser Form akzeptierten. Umgekehrt sahen die Großen Jags die kaum kürzere Abhandlung der Foronen als einen Witz an. Als man nicht mehr weiter wusste, wurde erneut Bulgrur geholt, der sich inzwischen zu einem wahren Volkshelden
gemausert hatte. Das war dem Wissenschaftler überhaupt nicht recht, die Politik war ihm so fern wie nur irgendetwas. Vor allem, weil er nun Lamera überhaupt nicht mehr los wurde. Diese wollte natürlich den Volkshelden als persönliches Eigentum. Aber Bulgrur war mit den Jahren sanftmütiger und nachsichtiger geworden. Er gestattete Lamera, seinen sträflich vernachlässigten Haushalt zu führen, und zog tatsächlich eine gemeinsame Reinigung mit ihr in Betracht. »Ich verstehe die Probleme überhaupt nicht, die es hier gibt«, erklärte er rundheraus einer Versammlung der Großen Jags und der Foronen und legte ein bescheidenes Schriftstück von nur einer Seite vor. »Dies hier habe ich mir überlegt. Lest es euch durch, vielleicht ist es hilfreich.« Es stellte sich heraus, dass Bulgrur kurz und knapp zusammengefasst hatte, worum es ging und welche Leistungen jede Partei zu erbringen hatte. Er hatte bewusst auf die Paragraphen verzichtet, mit denen die Großen Jags ihre Herrschaft noch festigen wollten – doch er wischte ihre aufgebrachten Einwände mit einem leichten Hinweis auf seine Popularität und seinen Willen, notfalls an die Öffentlichkeit zu gehen, beiseite. »Nun können wir endlich starten«, stellte Sobek fest und unterzeichnete als Erster das in diesem Moment wichtigste historische Dokument der surischen Geschichte. Der erste Teil des Paktes wurde von den Foronen binnen kurzer Zeit erledigt. Sie brachten ein großes Aggregat von ihrem Schiff, das komplett geschlossen und versiegelt war, und stellten es im Zentrum des Kontinents auf, ganz in der Nähe von Jaggar. Sobek aktivierte das Aggregat mittels Fernimpuls, und vor den staunenden Augen der Surer begann die Maschine sofort mit der Arbeit. Laut den Foronen grub sie sich tief in die
Planetenrinde ein und entfaltete sich dort wie ein Baum, mit vielen Verästelungen. »Ich aktiviere jetzt die zweite Phase«, erklärte Sobek und gab einen zweiten Impuls. »Das Aggregat hat seine Tätigkeit aufgenommen. In Kürze müsstest du schon die ersten Ergebnisse bekommen, Bulgrur.« Der Wissenschaftler eilte mit flatternden Gewändern zu seinen Geräten. Er verlor beinahe das Bewusstsein, als er überall das Gleiche angezeigt bekam – nichts... Bulgrur überprüfte jedes einzelne Gerät auf Funktionstüchtigkeit, machte mehrere Testläufe, doch es kam jedes Mal dasselbe dabei heraus. Es war vorbei. Die seismische Aktivität, die bis vor kurzem noch die Balken zum Tanzen gebracht hatte, war nicht mehr vorhanden. Nur noch ein paar kleine Ausschläge hier und da, aber das waren ganz normale Bodenbewegungen. Bulgrur riss sich vor Glück den halben Kopfflaum aus und berichtete dem Parlament, berichtete der ganzen Welt, dass die Foronen nicht zu viel versprochen hatten: Ihr Gerät funktionierte, und das Volk der Surer, der ganze Kontinent, war gerettet. »Nun werden wir unseren Teil erfüllen«, verkündete Bulgrur Sobek. »Und wir gleichzeitig unser zweites Versprechen einlösen«, sagte Sobek. »Bevor ihr für uns tätig werden könnt, werden wir euch schulen. Euer ganzes Volk, jeden einzelnen von euch.« »Was für ein gewaltiges Vorhaben verfolgt ihr?«, wollte Bulgrur neugierig wissen. »Geduld, mein Freund, du wirst es erfahren, wenn es so weit ist. Jetzt könntest du es noch gar nicht verstehen. Aber bald...« Bulgrur fand ja, dass sich die Foronen eine Menge vorgenommen hatten, wenn sie jeden einzelnen Surer schulen wollten. Er konnte sich vor allem nicht vorstellen, dass dies auf herkömmlichem Weg geschah, das hätte viel zu viel Zeit in
Anspruch genommen. Vielleicht über Trance; solche Experimente hatten auch die Surer schon mit gutem Erfolg durchgeführt. »Ich wäre gern als einer der ersten mit dabei«, bot der Wissenschaftler sich an. »Man weiß ja nie, ob wir eure Methode vertragen...« »Oh, da bin ich mir ganz sicher«, behauptete Sobek. Aber er war einverstanden mit Bulgrur als erstem Freiwilligen. Und Bulgrur konnte es gar nicht mehr erwarten, bald mehr zu wissen... viel mehr. Zwischenspiel: Was gleichzeitig geschah »Wir haben das Ziel erreicht«, meldete die Ortung. »Vor uns liegt Lugh.« Siroona richtete sich im Kommandosessel auf. Mit einem Rautenschiff flog das Mitglied der Hohen Sieben zu einem System mit neun Planeten, das etwa 27.000 Lichtjahre vom galaktischen Zentrum Bolcrains entfernt lag. »Immer wieder ein faszinierender Anblick, nicht wahr?«, bemerkte Epoona, die Siroona auf dieser Mission begleitete. In diesem System sollten Spürgeräte installiert werden, um rechtzeitig eine Annäherung der Virgh aus Samragh zu erkennen. »Es ist ein System wie jedes andere auch«, wiegelte Siroona ab. »Außer vielleicht, dass es ziemlich viele Planeten und Planetoiden besitzt.« »Farbenprächtige Gasriesen in Rot, Blau und Grün, zum Teil mit deutlich sichtbaren Ringen«, zählte Epoona in schwärmerischem Tonfall auf, »dazu eine Nebelwelt, eine rote Welt und eine weißblaue Welt, die wie ein Juwel im All
leuchtet, sobald die Sonne darauf fällt. Und dazu viele Monde, die die Planeten umkreisen...« Siroona ließ das Rautenschiff auf Orbitalkurs um den vierten Planeten gehen und fragte sich, wie sich ihre Gefährtin nach so viel Schrecken noch an so belanglosen Dingen erfreuen konnte. »Auf der blauen Welt hat es mir gut gefallen. Dort gibt es vielfältiges Leben... und Wüsten. Kannst du dich noch daran erinnern? Dürstende Einöde, so weit das Auge reicht, trockener Sand knirschend unter den Fußsohlen, heiß unter rot glühender Sonne.« Siroona drängte den Gedanken an einen von den Virgh verglasten Planeten zurück. »Dann müsste dir unser Ziel, der rote Planet, ja gut gefallen, denn er besteht auf der Oberfläche nur aus Sand, gigantischen Gebirgen und mächtigen Stürmen.« »Darauf freue ich mich auch ganz besonders. Es ist ein kleiner Ersatz für das, was wir verloren haben, und ich muss nicht mit dauernder Wehmut an die alte Heimat denken.« Siroona wünschte, auch sie könnte an etwas anderes denken als an den Feind. Doch immer, wenn sie an ihre Heimat dachte, die der roten Wüstenwelt vor ihnen gar nicht unähnlich gewesen war, sah sie nur schwarzes Glas. Sie bemühte sich, ihre Trauer durch Humor zu überdecken. »Das bedeutet wohl, dass mir die Station in der Tiefsee des blauen Planeten bleibt?« Epoona stieß ein amüsiertes, kurz pfeifendes Geräusch aus. »Aber nein, wir werden es gemeinsam machen. Niemals würde ich dir die Widerlichkeit zumuten, länger als nötig im Wasser zuzubringen. Wir stehen das gemeinsam durch. Die Hohen Sieben sind gleichberechtigt.« Sie hielt kurz inne. »Bis auf Sobek«, konnte sich Epoona eines Kommentars nicht enthalten. »Er hält sich eher für den Anführer der Anführer. Und du musst zugeben, dass er im Grunde die
Entscheidungen selbst fällt und mehr Anweisungen erteilt, als Rücksprache zu halten oder unser Einverständnis einzuholen.« »Ja, mein Gefährte ist anders«, stimmte Siroona zu. »Er ist äußerst zielorientiert, seit...« Sie brachte es nicht über sich, den Tod ihres Nachkommens auszusprechen. »Aber wenn uns jemand zurück nach Samragh führen kann, dann ist er es. Sobek ist unsere einzige Hoffnung.« »Da hast du Recht«, stimmte Epoona zu. »Und es kommt nur auf das Ergebnis an...« * Die Foronen gingen ans Werk, überall die Wachstationen zu errichten. Diejenigen, die nicht von vornherein im Meer installiert wurden, wurden auf künstlichem Wege von Wasser umhüllt. Gleichzeitig wurde auch im äußersten Bereich des Systems der Schwarm an Kometenkernen manipuliert, der wie ein natürlicher Schutzwall wirkte und nun zusätzlich mit Abwehranlagen versehen wurde, falls die Virgh das System erkunden wollten. Danach hieß es Abschied nehmen. Die Stationen wurden mit foronischen Wachmannschaften versehen, die dort ihren Dienst bis ans Lebensende verrichten sollten. Das bedeutete möglicherweise langweilige Einsamkeit und Isolation bis zum Überdruss. Aber die Foronen wollten kein Risiko eingehen. Die Angst vor den Virgh saß tief; die Furcht, alles wieder zu verlieren, was gerade mühsam aufgebaut wurde – bevor man eine Chance hatte, sich zu verteidigen. »Ich bin schon sehr gespannt, ob die Surer inzwischen ausreichend geschult sind«, sagte Epoona, als sie den Rückflug zur SESHA antraten. »Sobek kümmert sich persönlich darum. Daher dürfte der Baubeginn kurz bevorstehen«, antwortete Siroona. »Ich hoffe,
dass diese kleinwüchsigen Primitiven wirklich dafür geeignet sind.« »Und dass das Gerät, das die Erdplatten stabilisiert und die Beben verhindert, nicht zu früh versagt«, fügte Epoona hinzu. »Wenn doch, wird Sobek es mit einem Defekt erklären und einen Ersatz liefern, darin sehe ich kein Problem. Die Surer sind ziemlich naiv und leicht zu beeinflussen. Trotzdem werde ich erst wieder beruhigt sein, wenn unser Plan ausgeführt ist und funktioniert«, sagte Siroona düster. »Es wird Jahrhunderte in Anspruch nehmen und einige Generationen der Surer verbrauchen, bis es so weit ist. Und die Virgh... könnten uns jederzeit aufspüren.« »Wir müssen mit mehr Hoffnung in die Zukunft sehen«, bat Epoona. »Sieh dir die Surer an, wie schnell sie sich erholt haben, was für eine Lebensenergie sie zeigen. Sie versuchen, so wenig wie möglich daran zu denken, was mit ihrer Welt geschieht und verdrängen die Gefahr. Das solltest du auch endlich tun.« »Ich kann nicht so leicht vergessen«, erwiderte Siroona und dachte an ihr namenloses Kind, das die Virgh ihr geraubt hatten. Ebenso wenig würde sie das Schuldgefühl vergessen können, selbst den Befehl zum Angriff gegeben und damit den namenlosen Nachkömmling zum Tode verurteilt zu haben. Siroona zweifelte keineswegs an der Richtigkeit der Entscheidung. Sie würde heute wieder genauso handeln. Aber das machte es nicht leichter und rechtfertigte nichts. Manchmal beneidete Siroona die anderen Foronen, die nicht ständig Entscheidungen über Wohl und Wehe des ganzen Volkes treffen mussten, die nicht die Last der Verantwortung trugen. Manchmal wollte Siroona kein Mitglied der Hohen Sieben mehr sein. Diese Gedanken haben wir alle, übermittelte Epoona. Von Zeit zu Zeit, wenn wir uns schwach und müde fühlen und nicht mehr an uns selbst glauben. Aber das ist nur Selbstmitleid und
Heuchelei, denn wenn wir keine Anführer sein wollten, wären wir keine geworden. So einfach ist das. Du liebst die Macht genauso wie jeder von uns, Siroona, du fürchtest dich manchmal nur vor den Konsequenzen. Mit Ausnahme von Sobek, gab Siroona zurück. Ich glaube, er zweifelt nie. Er wird unser Volk zurück nach Samragh führen – zu welchem Preis ist ihm völlig gleichgültig. Genauso wie uns, Siroona. Wenn es mein Kind gewesen wäre, würdest du keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Ich tue es jedenfalls nicht bei deinem. Denn es gibt andere Kinder. Wir tun, was notwendig ist. Anders kann man keine Galaxis zurückerobern. Wir waren die Herren von Samragh, und wir werden es wieder sein. Siroona schwieg. Epoona hatte Recht... * Bulgrur »Ich bin sehr zufrieden mit deinen Fortschritten«, sagte Sobek zu Bulgrur. Der Wissenschaftler hatte bei seinen Artgenossen einst als Genie gegolten. Nun wusste er, dass er im Vergleich zu heute ein kaum gebildeter Halbidiot gewesen war. Heute war er ein Genie und stand fast auf einer Stufe mit den Foronen. Es war unglaublich, was für Möglichkeiten sich einem eröffneten, wenn man erst mal elementare Dinge begriff, sie fortsetzen und in Zusammenhang bringen konnte! So erschien es keineswegs mehr unglaublich, in einem Gefährt wie der SESHA durch das All zu reisen, sogar zwischen den Galaxien, über Abertausende von Lichtjahren hinweg. Und die Surer sollten noch sehr viel mehr schaffen, etwas weitaus Größeres.
Als Sobek Bulgrur seinen Plan auseinander setzte, konnte es der Wissenschaftler gar nicht fassen. »Für diese Aufgabe habt ihr uns vorgesehen?« »Denkst du, ihr seid damit überfordert?«, lautete die Gegenfrage. »Nein«, musste Bulgrur zugeben. »Mit unserem heutigen Intelligenzniveau dürfte das kein Problem mehr sein. Aber ich verstehe, weshalb ihr das Gebilde nicht selbst bauen könnt – ihr habt nicht genug Ressourcen. Mit den Surern stehen euch ein paar Millionen bestens ausgebildete Arbeitskräfte zur Verfügung.« »Vor allem sind wir anderweitig gebunden«, sagte Sobek. »Unser Plan umfasst sehr viel mehr als nur den Bau dieses Gebildes. Wir müssen diese Galaxis sichern, falls ein Angriff der Virgh erfolgen sollte, und vieles mehr.« »Ich freue mich, daran mitwirken zu dürfen«, sagte Bulgrur. Dann seufzte er. »Hoffentlich erlebe ich die Fertigstellung noch... Ich möchte es zu gern sehen.« »Wir haben Mittel, um euer Leben zu verlängern. Natürlich nicht für alle. Aber wichtige Leute wie dich, Bulgrur, werden wir nicht im Stich lassen.« Anschließend ging Bulgrur mit noch mehr Elan ans Werk. * Die Foronen bezeichneten das Gebilde ganz formlos als Wasserwürfel – Tovah'Zara in ihrer Sprache. Wie genau die Ausmaße werden sollten, darüber schwiegen sie sich aus. Auch darüber, was sie damit bezweckten. Bulgrur verstand es vor allem nicht, warum die Foronen es mit dem Wasser so wichtig hatten. Er hatte sie nämlich dabei beobachtet, dass sie jeden Kontakt mit Flüssigkeiten mieden und sich niemals im Freien aufhielten, wenn es regnete. Also wozu dieser Aufwand?
Was den Wissenschaftler auch interessiert hätte, war die Nahrungsaufnahme der Außerirdischen. Er sah sie niemals irgendetwas zu sich nehmen, etwa durch eine verborgene Öffnung am Kopf, die vielleicht unter den Knochenwülsten lag. Auch, wenn die Foronen sich nicht viel und nicht schnell bewegten, konnte Bulgrur sich vorstellen, dass so große, schwere organische Körper mit einer deutlich sichtbaren Muskelmasse nicht einfach von Luft leben konnten. Vielleicht ein Mechanismus in den Anzügen, der sie intravenös mit dem Notwendigsten versorgte? Natürlich wagte es Bulgrur nicht, solche Fragen zu stellen. Je intelligenter er geworden war, desto mehr hatte der Surer erkannt, dass die Foronen gefährliche Wesen waren, die rücksichtslos vorgingen, wenn sie ein Ziel erreichen wollten. Vor allem Sobek – so höflich er auch auftrat – duldete keinen Widerspruch und war wenig auskunftsfreudig, was sein Volk betraf. In Ruhephasen dachte Bulgrur darüber nach, was die Foronen mit den Surern wohl vorhatten, wenn die Arbeit an dem Riesengebilde abgeschlossen war. Es würde bis dahin natürlich sehr lange dauern, wie Sobek gesagt hatte. Dennoch fühlte Bulgrur sich in gewisser Weise verantwortlich. Im Grunde genommen rechnete er nicht damit, dass die Foronen nach getaner Arbeit einfach abziehen würden. Sie machten so viel Geheimniskrämerei um ihr Tun – würden sie dann einfach so ein ganzes Volk mit dem Wissen über dieses einmalige Konstrukt zurücklassen? Vielleicht fand Bulgrur einen Weg, die Surer für die Foronen unentbehrlich zu machen? Immerhin waren die Ansprüche enorm, und viele Arbeiten verlangten eine sehr genaue, präzise Handhabung und ständige Kontrolle – wofür die Foronen einfach nicht genug Personal hatten.
Die Surer konstruierten würfelförmige Stationen, die unterschiedliche Anforderungen erfüllen sollten: Im Verbund sollten sie die energetischen Seitenwände des künftigen Wasserwürfels mittels Hyperraum-Zapfanlagen erzeugen und darüber hinaus innerhalb des Gebildes mit exakt positionierten Gravobojen dafür sorgen, dass Temperatur, Druck und Schwerkraft im später gefluteten Innenraum konstant auf einem lebensfreundlichen Niveau gehalten wurden. Die Kantenmaße wurden derzeit als eine halbe Lichtsekunde definiert. Eine Größe, die selbst für Bulgrurs nunmehr genialen Verstand nicht mehr zu erfassen war und sich nur noch in mathematischen Berechnungen ausdrücken konnte, nicht aber mehr als bildhafter Vergleich. Bulgrur war sich allerdings sicher, dass dies nur der Beginn war. So, wie er Sobek einzuschätzen gelernt hatte, plante der Forone bereits in ganz anderen Dimensionen, dies war vermutlich nur der erste Prototyp, um zu testen, ob es funktionierte. * Allein die Arbeiten für den Prototyp beanspruchten Jahrhunderte, wie vorausgesagt. Bulgrur sah Generationen kommen und gehen. Seine eigenen Kinder wuchsen heran, wurden in die Arbeit an dem Objekt mit einbezogen, zeugten selber Kinder. Und so ging es immer fort, auch wenn Bulgrur wusste, dass er im Grunde den Foronen nur in die Hände spielte und willig neue Arbeitskräfte lieferte. Wenn ihn die Verantwortung manchmal erdrückte, suchte er sich eine Gefährtin, mit der er zu einer gemeinsamen Reinigung bereit war, doch hauptsächlich, um nicht allein zu sein.
Aber die Surer waren nicht unglücklich. Die heutigen Generationen kannten nichts anderes mehr als die gewaltige Lebensaufgabe und wirkten begeistert daran mit, umso mehr, als die Fortschritte allmählich deutlich sichtbar wurden. Schließlich war Bulgrur der Letzte, dem die Foronen ein langes Leben gewährten. Von den heutigen Generationen erinnerte sich keine mehr an die Katastrophen, die vernichteten Städte, die vielen Toten, an das Auseinanderbersten des Kontinents, das die Außerirdischen im letzten Moment verhindert hatten. Bulgrur selbst war eine lebende Legende und wurde nicht weniger verehrt als die mächtigen Foronen, die sich der Gefolgschaft der Surer durch regelmäßige Auftritte in den Nachrichten versicherten. Dann gaben sie sich gütig, als Förderer und Mentoren, und wiesen das Volk darauf hin, was es den Foronen zu verdanken hatte. Den Surern war es noch nie so gut gegangen wie jetzt. Die Zusammenarbeit der beiden Völker war äußerst fruchtbar und brachte nur Vorteile. Das behaupteten zumindest die Foronen, und die Surer glaubten es, weil sie es nicht besser wussten – mit einer Ausnahme... Warum Sobek Bulgrur so lange am Leben ließ, war dem Wissenschaftler nicht klar. Denn je länger er lebte, desto gleichgültiger war es ihm, ob er den mächtigen Foronen verärgerte oder nicht. Er ging auf Konfrontation zu Sobek und forderte ihn regelmäßig auf, endlich die Wahrheit zu sagen. Vielleicht benötigte Sobek einen Widerpart. Jedenfalls ließ er Bulgrur auch nach heftigen Auseinandersetzungen am Leben. Es genügte ihm, den Wissenschaftler mit seinem Volk zu erpressen: »Ich kann die Erdbeben jederzeit zurückkehren lassen. Und dann wird dein Volk doch noch untergehen, und du wirst dabei zusehen. Ich werde dafür sorgen, dass du dich lange daran erinnerst.«
»Du wirst das nicht tun, solange du uns brauchst«, versuchte Bulgrur Sobek zu beweisen, dass er sich nicht übertölpeln ließ. Und um nicht nachgeben zu müssen. Dabei war er sich keineswegs sicher, ob Sobek nicht eines Tages doch die Geduld verlieren würde. Der Forone war unberechenbar und zu allem fähig. Seine sechs Gefährten schienen zwar etwas friedfertiger zu sein, aber Bulgrur würden sie keinesfalls unterstützen. Dafür war er zu unbedeutend, ebenso wie sein ganzes Volk. Also schwieg Bulgrur über seine Befürchtungen. Es war besser, sein Volk verlebte eine glückliche Zeit, solange es ging. Denn sie hatten keine Möglichkeiten, sich gegen die Foronen aufzulehnen, wohingegen Sobek sehr wohl in der Lage war, fürchterliche Strafaktionen durchzuführen. Manchmal zweifelte Bulgrur an seiner Entscheidung, und er fragte sich, ob er sie nicht bereuen sollte. Andererseits – das Volk überlebte, und es ging ihm nicht schlecht. Wenn man kein schnell vergängliches Staubkorn im All sein wollte, musste man lernen, sich Veränderungen anzupassen. Bulgrur lernte nun die Schattenseite des Wissens kennen: Man konnte auch zu viel wissen. Zu viele Gedanken haben, aus denen Befürchtungen und Reue resultierten. Und weil er noch dazu die Vergangenheit mit sich herumtrug, entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen hatte, konnte Bulgrur nie mehr sorglos sein... * Eines fernen Tages gab es einen neuen Stern über Sur. Einen einzigartigen, unwirklich erscheinenden Stern, der nicht rund, sondern kantig wie ein Würfel war, und er verströmte aus sich selbst heraus ein grünlich schimmerndes, diffuses Licht, das die Nächte auf Sur erhellte, und zwar an jedem Punkt des Kontinents. Das künstliche Gebilde war so riesig, dass es auch
in weit entfernter Position unübersehbar war und selbst der Sonne den Platz am Himmel streitig machte. Denn es war nicht bei einer Kantenlänge von einer halben Lichtsekunde geblieben. Immer weiter hatten sie die Eckstationen vergrößert, immer mehr Energie wurde aus dem Hyperraum abgezogen. Eine Seite des Wasserwürfels war inzwischen über fünf Lichtsekunden lang – und Tovah'Zara wuchs weiter. »Alles hätte darin Platz, unser ganzer Planet«, sagte Bulgrur zu sich selbst, während er von einer Inspektion zu seiner Heimat zurückflog. Für die Surer war es nichts Besonderes mehr, auf den Stationen im Weltraum zu arbeiten, weit draußen in der Leere, wo das heimatliche System nur noch ein kleiner leuchtender Fleck war. Keiner konnte sich noch daran erinnern, wie es früher gewesen war. Die Städte auf dem Kontinent waren neu erblüht und moderner denn je. Entfernungen spielten keine Rolle mehr, alles war nahe zusammengerückt. Manchmal, wenn Bulgrur seinen jüngsten Urenkeln von »damals« erzählte, als »die Hohen Sieben landeten«, wurde er andächtig belauscht und bestaunt wie ein professioneller Geschichtenerzähler. Es klang wie eine Legende, wie ein unwirkliches Märchen. Die Kleinen konnten sich nicht vorstellen, wie es gewesen sein mochte, als der Himmel noch ganz leer gewesen war, bis die SESHA zum ersten Mal erschien. Auch die »Katastrophe«, der bevorstehende Untergang des Kontinents, klang nach einem lange vergangenen Abenteuer, einer aufregenden Geschichte über Helden, wie es sie heute nicht mehr gab. Irgendwie konnte man kaum glauben, dass Bulgrur das alles selbst erlebt haben wollte. Gewiss, er war inzwischen ein sehr alter Mann, aber auch wunderlich geworden. Oftmals redete er über düstere Visionen, in denen die Foronen Schreckgespenster
waren und den Surern Böses wollten. Aber das wollten nicht einmal mehr die Kleinsten hören, das war doch zu unwahrscheinlich. Manchmal dachte Bulgrur daran, sein Leben nicht mehr verlängern zu lassen. Sein größter Wunsch, den fertiggestellten Wasserkubus zu sehen, war in Erfüllung gegangen, aber er fühlte sich dabei keineswegs so erhaben und glücklich, wie er es sich vor unzähligen Jahren vorgestellt hatte. Es war einfach zu viel Zeit vergangen... * Die Fertigstellung des gigantischen Raumschiffs wurde mit einem wochenlangen Fest gefeiert. Der ganze Kontinent tanzte ausgelassen. Die Hirten nahmen nicht daran teil, luden aber Bulgrur zu einer kleinen Zeremonie zu sich auf die SESHA ein, als Anerkennung für seine Verdienste. Und sie ließen den uralten Wissenschaftler tatsächlich hochleben, in einer großen Aussichtskanzel, die den Kubus in voller Pracht zeigte. »Dies habt ihr vollbracht«, sagte Sobek. »Dein Volk hat Unglaubliches geleistet, Bulgrur, und du kannst stolz auf jeden einzelnen Surer sein.« »Ihr wart ein wahrer Glücksfall für uns«, fügte Siroona hinzu. »Ihr habt alle Erwartungen mehr als erfüllt und einen großartigen Lebensraum geschaffen, der ewig Bestand haben wird.« Mont trat vor. »Und um euch zu ehren, haben wir einen neuen Namen für euch, dich und dein Volk, Bulgrur: Von heute an seid ihr die Heukonen, was Beglücker in unserer Sprache bedeutet.« Bulgrur fühlte sich nur müde und traurig. »Aber wir sind die Surer«, sagte er leise.
»Selbstverständlich«, stimmte Sobek zu. »Heukonen ist ein Ehrenname der Foronen, wie ein Beiname. Wir würden uns freuen, wenn du diese Ehre annimmst... selbstverständlich ohne irgendeine Verpflichtung.« »Das werde ich tun, im Namen meines Volkes«, murmelte Bulgrur. »Verzeiht, wenn ich mitten in dieser Feierlichkeit eine dringende Frage habe. Was wird nun geschehen?« »Was meinst du?«, fragte Siroona. »Unser Vertrag ist erfüllt und beendet. Was wird aus uns?«, führte Bulgrur aus. Natürlich war seine Frage nicht misszuverstehen. Aber nach Art der Foronen erhielt er wie immer keine direkte Antwort. »Alles ist gut«, sagte Mont. Bulgrur fuhr sich durch den schütteren, bleichvioletten Kopfflaum. »Wenn ihr gestattet, würde ich jetzt gern zu meinem Volk zurückkehren. Sie erwarten mich auf der Parlamentsfeier.« »Aber natürlich, dafür haben wir Verständnis. Wir wollten es uns nur nicht nehmen lassen, dich zuerst zu ehren.« Sobek hob leicht den Kopf, und Bulgrur wusste, dass er mentalen Kontakt zur Künstlichen Intelligenz des Schiffes aufnahm. Manchmal wirkte es so, als wäre SESHA ein Lebewesen. Dann wieder war sie ein zwar sehr mächtiges, aber eben nur anorganisches Raumschiff. Bulgrur atmete auf, als bald darauf die vertraute Heimatwelt ins Blickfeld kam, der sich die SESHA rasch näherte. Doch da sagte Siroona unvermittelt: »Bulgrur, wir haben ein Problem.« Der alte Mann war sofort alarmiert. »Was ist?« In die Mitte des Raumes wurde ein Hologramm projiziert, das in verschiedenen Ausschnitten die Vorgänge auf Sur zeigte. Die schrecklichsten aller vorstellbaren Katastrophen, ein Albtraum, den Bulgrur für immer verbannt geglaubt hatte.
Vulkanausbrüche. Erdbeben, die tiefe Gräben und Schluchten in den gequälten Boden rissen. Brennende Städte, zusammenstürzende Häuser. Stürme, die über das Land hinwegfegten und die Vegetation zerstörten. Und das alles inmitten all dieser Feierlichkeiten, dem absoluten Höhepunkt. Sur ging unter... * »Es tut uns sehr Leid«, sagte Epoona. »Das Gerät muss... versagt haben. Wenn wir nur aufmerksamer gewesen wären... aber wir waren so damit beschäftigt, uns selbst zu feiern und hochzuloben... Das rächt sich nun.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Siroona erschien an Bulgrurs Seite, riesenhaft und wuchtig. Der kleine, gebeugte alte Mann hätte zwischen ihren Beinen hindurchgehen können, ohne dass es der Forone bemerkt hätte. »Das ist eine ganz entsetzliche Tragödie. Und wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen.« »Das werden wir uns nie verzeihen«, erklang Monts Stimme. »Wie konnte das nur geschehen?« »Können wir denn gar nichts mehr tun?«, fragte Siroona. »Nein«, antwortete Mont, nachdem er eine Weile mental mit der KI kommuniziert hatte. »Es ist zu spät. Selbst ein Ersatzaggregat könnte es nicht mehr aufhalten. All die Jahrhunderte über muss sich eine enorme Energieblase unterirdisch aufgestaut haben, die sich nun entladen hat. Unser Gerät hat den Untergang nur aufgeschoben, aber nicht beendet, wie wir angenommen haben.« »Dann müssen wir nachdenken, wie wir den Surern helfen!«, stellte Epoona fest. »Wir können doch nicht einfach tatenlos zusehen, wie dieses Volk vernichtet wird!« »Hört auf!«, rief Bulgrur plötzlich.
Alle Hirten wandten sich ihm zu – bis auf Sobek, der die ganze Zeit wie unbeteiligt dabeigestanden hatte. »Was?«, fragte Siroona. »Hört auf!«, wiederholte Bulgrur. Dann richtete er sich gerade auf, soweit es seine alten Knochen und Gelenke noch zuließen. In seinen alten trüben Augen entzündete sich eine zornige Flamme, und er richtete anklagend einen Finger auf die Hirten. »Denkt ihr, ich weiß nicht, was los ist?«, fuhr der uralte Wissenschaftler mit vor Hass klirrender Stimme fort. »Ich weiß ganz genau, dass ihr das von Anfang an so geplant habt. Ihr habt uns benutzt und dann weggeworfen wie Altmetall. Wollt ihr mir weismachen, dass das ein unglücklicher Zufall ist? Ausgerechnet jetzt, wo alles fertig ist, versagt eure Maschine? Blödsinn!« Bulgrurs Augen wurden feucht, seine Hand sank herab, und seine Stimme zitterte jetzt. »Wie konntet ihr das nur tun? Bedeutet euch das Leben anderer wirklich so wenig? Haltet ihr uns für so gering? Ihr wollt von Ehre sprechen, von Moral, und verurteilt ein ganzes Volk zum Tode, nur weil es ein Mitwisser ist? Ihr seid wahnsinnig! Größenwahnsinnig. Ich habe es seit langem geahnt, und ich trage mit Schuld an dieser Entwicklung. Ich bin für den Untergang meines Volkes genauso verantwortlich wie ihr. Aber ihr seid unendlich viel grausamer, dass ihr mich auch noch aus der Ferne daran teilhaben lasst! Dass ich zusehen muss, wie alles stirbt... Das macht mich zum Verräter!« Einige Augenblicke war es still. Dann sagte Siroona: »Wir können dein Volk retten. Es könnte mit uns in den Wasserkubus umsiedeln. Es wären nur ein paar genetische Abstimmungen erforderlich, um ein Leben im Wasser zu ermöglichen. Aber es ist alles vorhanden. Und das wäre sogar ein weiterer Entwicklungssprung für dein Volk, denn es würde
die Wunder des Alls kennen lernen, auf die angenehmste Weise.« »Hast du wirklich geglaubt, wir wären so undankbar?«, meinte Mont. Bulgrurs Hand wischte durch die Luft. »Keine Lügen mehr! Ich habe euch durchschaut. Ich weiß, wer ihr seid! Keinesfalls seid ihr besser als die Virgh, vor denen ihr euch so schrecklich fürchtet. Was ist, haben sie euch den Spiegel eurer Seele gezeigt? Seid ihr vor euch selbst auf der Flucht?« Endlich ergriff Sobek das Wort. In seiner Stimme war nur Kälte. »Jetzt ist nicht der Zeitpunkt für philosophische Erörterungen, Bulgrur. Entscheide, und entscheide schnell. Soll dein Volk überleben oder untergehen?« Der uralte Mann drehte sich zum Fenster und blickte auf seine sterbende Heimatwelt. Er seufzte tief und traurig. »Natürlich soll es überleben. Wenn es nur möglich ist, als eure Sklaven fortzubestehen, dann mag es so sein. Aber ihr müsst mir versprechen, dass sie es auch weiterhin gut haben werden. Dann werden sie euch mit allen Kräften unterstützen.« »Selbstverständlich«, sagte Sobek. »Dann ist es beschlossen«, schloss Bulgrur. »Nehmt die Heukonen an Bord und siedelt sie in ihrer neuen Heimat an. Sie werden sich schnell umgewöhnen, wenn sie so gerade noch dem sicheren Tod entgehen.« »Du wirst ihnen behilflich sein.« Epoonas Tonfall war aufmunternd. Bulgrur stieß ein krächzendes Lachen aus. »Ich? Nein. Hast du nicht gehört, was ich gerade gesagt habe? Die Heukonen werden im Kubus leben. Ich aber kehre nach Sur zurück und werde dort sterben, als der letzte Surer. Für mich endet es hier und jetzt. Glaubt ihr im Ernst, ich würde auch nur noch einen weiteren Tag mit euch verbringen?«
Er wackelte langsam zum Ausgang. »Tut, was ihr versprochen habt, und setzt mich zu Hause ab. Das ist alles, was ich noch zu sagen habe.« * Die Foronen hielten Wort, weil es für ihre Zwecke mehr als dienlich war. Bulgrur ließ sich auf dem Land absetzen, auf einem Hügel, von dem aus er alles gut im Überblick hatte – den Himmel, die brennende Stadt Jaggar, das sterbende Land. Die Sonne glühte wie ein Schemen durch die Staubschicht hindurch, die sich bereits über den gesamten Äther verteilt hatte. Alles war in ein unwirkliches, rötlich-grünes Leuchten getaucht. Der Wind zerrte an den Kleidern des alten Mannes. Aber Bulgrur war es zufrieden. Dies war trotz allem die beste aller Lösungen, und er konnte zufrieden sterben. Die Heukonen wurden mit allen verfügbaren Gleitern, Transportern und Traktorstrahlen auf die SESHA gebracht. Sobek hielt sich nicht lange damit auf, die Bevölkerung von der unbedingten Notwendigkeit der Evakuierung zu überzeugen. Er ließ die Nachricht über alle Sender ausstrahlen, wohin sich ab sofort jeder Heukone zu begeben habe, um abtransportiert zu werden. Daraufhin ging das Durcheinander erst richtig los. In einigen Städten brach Panik aus, und die Leute trampelten sich gegenseitig zu Tode bei dem Versuch, als Erste an der Abholstelle zu sein. Andere versuchten, die Fliehenden aufzuhalten und davon zu überzeugen, dass der Untergang keineswegs bevorstünde, dass es nur eine vorübergehende Katastrophe sei. Diese Propheten sprachen von der »größten Prüfung« und verlangten Demut vom Volk, dann würde es überleben.
Politiker sprachen von der Wiederholung eines historischen Ereignisses, was aber keineswegs den Untergang bedeutete, sondern lediglich eine Verlagerung. Der Kontinent würde auseinander brechen und eine Vielzahl von Inseln und Kontinenten bilden, die alle neu besiedelt werden könnten. Dem stimmten Geschäftemacher zu, die hastig Flöße zusammenzimmerten und die Artgenossen überreden wollten, sich aufs sichere Meer zu begeben. Die Seismologen jedoch, wenn auch gering an der Zahl und heutzutage geschmäht, weil niemand mehr diese Wissenschaft als wichtig erachtete, gaben den Foronen Recht, dass es diesmal endgültig war, dass der Kontinent nicht nur auseinander brechen, sondern komplett untergehen würde. Dafür wurden sie von den empörten Massen beinahe gesteinigt und mussten notgedrungen auf die SESHA fliehen, ob sie wollten oder nicht. Eines stand jedenfalls fest: So leichtfertig, auch angesichts der Katastrophe, wollte nahezu keiner seine Heimat aufgeben, auch wenn das Volk sich seit der Landung der Foronen unter ihrem Einfluss verändert hatte. Aber dies war etwas anderes. Die Leute wollten und konnten nicht glauben, dass es nun wirklich vorbei sein sollte, nachdem das große Werk vollendet war. Dass es so plötzlich geschah. Sie konnten sich nicht einfach von allem trennen, was ihnen am Herz lag. Die Foronen diskutierten nicht lange. Jeder Surer, dessen sie habhaft werden konnten, wurde auf die Arche geschafft. Kurz bevor der gesamte Kontinent auseinander brach, verließ die SESHA den Planten. Nur noch eine kleine Hand voll Surer konnte nicht gerettet werden; einige hatten es nicht mehr geschafft, andere hatten sich wie Bulgrur dafür entschieden, mit ihrer Welt unterzugehen. Die geretteten Heukonen wurden, halbwegs freiwillig, die ersten Bewohner des Wasserwürfels, nachdem sie genetisch
angepasst waren. Bald wussten sie es nicht mehr anders, als dass sie die Heukonen, die Beglücker waren, und dienten zufrieden ihren Herren. Und Tovah'Zara wuchs... * Bulgrur blieb noch lange genug am Leben, um den Abflug der SESHA zu sehen. Trotz der dicken Staubschicht erkannte er, wie sich ein riesiger Schatten allmählich entfernte, kurzzeitig die Sonne verdunkelte und dann fort war. Plötzlich schien es viel heller zu sein, und der Surer spürte, wie eine schwere Last von ihm abfiel. Vielleicht war dies auch der Grund gewesen, dass er so lange durchgehalten hatte – den Stürmen getrotzt, den Hunger ertragen. Er ließ sich von keinem noch so heftigen Beben von seinem Hügel herunterschütteln und wurde Augenzeuge, wie sich unmittelbar unter Jaggar eine Erdspalte auftat und die brennende Stadt in kurzer Zeit verschlang. Aber er hatte den Abflug der SESHA nicht verpassen wollen, um nichts in der Welt. Bulgrur wusste, dass er nun eins war mit seiner Welt. Er hatte länger gelebt als jeder andere, war schon so verwachsen und verwurzelt, dass sein Herzschlag und der des Planeten im Gleichtakt schlugen. Erdrückend lastete das Alter nun auf ihm, und er war todmüde. Am Horizont sah er einen neuen Sturm aufziehen, der vermutlich Steinhagel mit sich brachte, und schwere, rot gefärbte Regentropfen. Gerade ging die Sonne unter und brachte die atmosphärische Staubschicht zum Glühen und Brennen. Erneut zitterte der Boden, und Bulgrur ahnte, dass die Spalte, die Jaggar verschluckt hatte, auch bald seinen Hügel erreichen würde. Jetzt, dachte er. Jetzt.
Mein Volk ist in Sicherheit. Ich wünsche ihm, dass es seine Herkunft vergisst und sich an den Wundern des Alls erfreut, dass es weiter den Wissenschaften nachgeht und von den Foronen beschützt wird. Und damit soll es enden. Er seufzte und legte sich auf die Seite, hörte das Grummeln des heranziehenden Sturms, das sich bald zu ohrenbetäubendem Tosen steigerte, spürte das Rumpeln und Beben des Bodens und atmete ein letztes Mal aus. Dann hörte sein Herz auf zu schlagen... Zwischenspiel: Gegenwart »Wo gehen diese Foronen hin?«, fragte John Cloud, nachdem er eine Weile die Szenen auf der Holosäule beobachtet hatte. »Sie dienen als Besatzung für die duplizierten Schiffe«, antwortete Sobek. Dann fügte er völlig überraschend hinzu: »Ich möchte, dass du mich begleitest, John Cloud.« Cloud deutete auf Scobee. »Wir kommen beide mit.« »Ich sprach nur von dir«, sagte der Forone. »Und ich meine es auch so.« »Wohin?« »Das wirst du dann sehen.« »Na schön.« Cloud nickte. »Und weshalb?« »Es wird von Interesse für dich sein.« Cloud runzelte die Stirn. »Geht es etwas weniger geheimnisvoll?« »Dies ist nur für dich bestimmt. Vertrau mir, ich will dir nichts Böses«, versicherte Sobek. Cloud war keineswegs davon überzeugt. »Und warum kann Scobee dann nicht mit?«
»Es betrifft nur dich, John Cloud, und damit musst du dich zufrieden geben. Sei demütig!« »Ist schon gut, John«, sagte Scobee beschwichtigend. »Ich bin ja in guter Gesellschaft.« Sie deutete auf die fünf Hologramme der übrigen Hirten, die noch nicht körperlich aktiv waren, aber mit ihrem Geist bereits mit Sobek und der Schiffs-KI zu kommunizieren vermochten. Dabei wirkten die Hologramme überaus real. Normalerweise wäre ein Platz frei, denn Mont, der Siebte Hirte, war tot. Für ihn hatte sich daher keine Holosimulation gebildet. Dennoch saß jemand in dem Sarkophag-Sitz: der AmorphPanzer, der einst Mont gehört hatte. Jarvis – einstmals GenTec-Klon, Mannschaftsmitglied unter John Clouds Führung bei der zweiten Marsexpedition und Freund – lebte nun in der Rüstung; vielmehr, sein Bewusstsein, sein Geist. Sein Körper war durch einen Gen-Defekt nicht mehr lebensfähig gewesen. In letzter Sekunde hatte der Amorphe Jarvis' Bewusstsein in sich aufgenommen. Das musste Jarvis erst einmal verdauen, und er verfügte natürlich nicht mehr über die besonderen Anpassungsfähigkeiten eines GenTecs. Schließlich beruhte die auf Kontrolle der Drüsenfunktionen – und die hatte er nicht mehr. Er trauerte seinem Freund Resnick nach, der es nicht mehr geschafft hatte, und musste sich zugleich damit abfinden, dass er nun mit einem neuen Körper zurechtkommen musste. Allerdings sah er inzwischen fast wieder wie früher aus, und ein Nichteingeweihter hätte nicht bemerkt, dass Jarvis in Wirklichkeit eine Foronen-Rüstung war. Deshalb hatte Jarvis sich für eine Weile in den Hintergrund zurückgezogen, um sich an die neue Situation anzupassen und still zu beobachten. Erstaunlicherweise hatte ihn sein Weg direkt zu Monts ehemaligem Sitz im Rund geführt. Es war
irgendwie ein tröstliches Gefühl, sich dort niederzulassen, hatte er gegenüber John Cloud geäußert. Dieser dachte noch über Sobeks Aufforderung nach. Sein Blick glitt dabei unwillkürlich zu Jarvis hinüber. Schließlich nickte er, als hätte er eine Entscheidung getroffen, und deutete zu dem Gefährten. »Also werde ich Jarvis mitnehmen.« »Ausgeschlossen«, lehnte Sobek ab. »So läuft das nicht, Sobek«, fuhr Cloud mit einem scharfen Unterton fort. »Es scheint für dich von Bedeutung zu sein, mir etwas zu zeigen. Dann akzeptiere diese Bedingung. Ich gehe nicht allein. Und Jarvis stellt ja nunmehr eine Art Verbindungsglied zwischen unseren Völkern dar, denkst du nicht?« Cloud war sich sicher, dass er weiterhin auf Jarvis' Loyalität ihm gegenüber zählen konnte. Die bisher erlebten Abenteuer hatten sie zusammengeschweißt – auch wenn Cloud zugeben musste, dass er anfangs Vorbehalte gegen Jarvis' neue Erscheinung hatte. Inwiefern der Amorphe Einfluss auf das Bewusstsein seines Freundes ausüben konnte, darüber konnte Cloud nur spekulieren. Zwar hatte der Amorphe in der Keelon-Metrop von Washington erheblich an Substanz verloren und war weit entfernt von seinen ursprünglichen Kräften. Doch auch in diesem geschwächten Zustand war er noch außerordentlich gefährlich, wenn Jarvis die Kontrolle verlieren sollte. Aber möglicherweise profitierte der Amorphe genauso von Jarvis wie umgekehrt, und die beiden funktionierten künftig in einer perfekten Symbiose. Damit wäre immer noch genug von Jarvis übrig, um sich an seine menschliche Vergangenheit zu erinnern. Sobeks Schweigen deutete Cloud als Zögern. Vielleicht merkte der Hirte endlich, dass er es nicht mit einem Vertreter
eines seiner gezüchteten Sklavenvölker zu tun hatte, der ohne Rückfrage oder Zweifel spurte. »In Ordnung«, willigte Sobek dann tatsächlich ein. Cloud war trotz allem überrascht. Er hatte sich auf eine lange, zähe Debatte eingestellt. Doch Sobek kannte sich in menschlicher Psychologie vielleicht doch besser aus, als er zeigte. Ihm schien bewusst geworden zu sein, dass Cloud nicht nachgeben würde. Und Zeit war etwas, das der Forone ab jetzt nicht mehr unnötig verplempern wollte. Zumindest hatte er das vor kurzem einmal gegenüber seinen Gästen behauptet. Ganz wohl war Cloud bei dem Gedanken nicht, Scobee allein zurückzulassen. Aber er wusste, dass Sobek in diesem Punkt unnachgiebig bleiben würde. Und die GenTec konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen. »Ich behalte hier in der Zentrale den Überblick«, versprach sie John Cloud. »Was sollte mir hier geschehen?« Cloud nickte vorsichtig. Die Foronen hatten gezeigt, dass sie für ihre eigenen Interessen die Bedürfnisse aller anderen ignorierten. Jarvis verließ den Sitz des toten Mont und kam langsam näher. Seine Bewegungen wirkten noch nicht vollends koordiniert, ähnlich wie bei einem etwa fünfjährigen Kind. Aber das würde sich vermutlich rasch geben. Zu dritt verließen sie die Zentrale... 3. Vergangenheit: Taurt Es spürte, wie es erwachte. Was ist das?, fragte es. Erwachen, flüsterte etwas. Das nennt man Erwachen. Was war es vorher?, fragte es.
Schlaf, kam sogleich die Antwort. Dunkler, traumloser Schlaf, beinahe wie der Tod. Tod? Das Gegenteil von Leben. Leben? Das, was du jetzt bist. So blieb es für einige Zeit. Es spürte, dass vieles mit ihm geschah. Leben war nicht einfach. Manchmal schmerzte es sogar ziemlich. Vor allem schmerzte es überall. Es hatte das Gefühl, dass es nicht nur ein einzelner Raum war, oder ein Fleck, oder ein Punkt. Es war sich sicher, dass es oben und unten gab, hinten und vorn. Das spürte es nämlich sehr deutlich. Schmerz zuckte hindurch, verteilte sich immer aufs Neue, schoss mal hierhin, mal dorthin. Ist Leben Schmerz? Meistens. Es fühlte sich getröstet. Es war nicht allein. Und meistens bedeutete nicht immer. So viel wusste es bereits. Es lernte sehr schnell. Jeder neue Schmerz, der es durchzuckte, schaffte eine neue Verbindung und brachte neue Gedanken. Und natürlich Fragen, so viele Fragen. Wo? Zu Hause. Dunkel? Nicht immer. Das war nicht genug. Es musste mehr geben. Mehr? Geduld. Geduld war ein sehr schwieriges Wort. Eine Empfindung, die ständig gegen sich selbst kämpfte. Doch es gehorchte, weil es das nicht anders kannte. Und weil es ahnte, dass es längst noch nicht so weit war, alles zu erfahren. Es musste langsam geschehen... Wachsen?
Sehr gut! Das Lob spornte es an. Es reckte und streckte und dehnte sich und merkte, dass es schon viel war... nein, groß war das richtige Wort. Groß und stark? Das sollst du werden. * Der Schmerz verebbte langsam. Es begann, sich zu bewegen. Es erkannte die Grenzen. Weiter konnte es nicht mehr wachsen. Was ist das? Dein Körper. Es fühlte sich gut an. Und es bekam Namen für die Stellen, die es berührte: Rumpf. Kopf. Arm. Bein. Fuß. Hand. Finger. Bewegung? Trainiere deinen Körper. Das ist gut. Es war warm und weich. Es fühlte sich wohl. Es war eingebettet in etwas, das ebenfalls warm und weich war. Es gab viele Möglichkeiten der Bewegung. Und noch viel mehr. Es fing an, zu atmen. Es fing an, zu hören. Es fing an, zu sehen. Es hob den Kopf und drehte ihn. Es sah rundum. Eingebettet in Wasser ruhte es auf einer Matte. Da war nur Wasser um es herum, und andere Wesen, die es beobachteten. Diese Wesen besaßen große, gelbe Augen, die durch das Wasser leuchteten. Zwischen ihren Fingern und Zehen waren Schwimmhäute. Und sie hatten lange Schwänze, die sie bei der schlängelnden Fortbewegung durchs Wasser mit schnellen Schlägen vorwärts brachten. Kein Schwanz, stellte es bei sich fest. Nein, antwortete eines der Wesen.
Ein Energiefeld erschien, und darin war ein Wesen, das es, das noch keinen Namen hatte, nicht kannte, das es zum ersten Mal erblickte, und das ihm trotzdem seltsam vertraut erschien. Es deutete auf das Energiefeld und sah das andere Wesen dasselbe tun. Ich, sagte es. Das bin ich. Das Wesen war sich seiner selbst bewusst. Und damit fast erwachsen... * »Komm hier herüber!«, befahl eine vertraute Stimme. Es war die Stimme, die bislang nur ohne Laut zu dem Wesen gesprochen hatte. »Ja«, antwortete das Wesen automatisch. Es konnte sprechen! Es schwamm, noch ein wenig ungeschickt, auf das andere Wesen zu, das ihn mit einer auffordernden Geste zu sich befahl. »Folge mir!« Sie schwammen aus einem abgeschlossenen Bereich hinaus in ein neues Gebiet. Mit seinen inzwischen voll erwachten Sinnen erkannte das Wesen, dass auch dieser Bereich von unsichtbaren Wänden abgetrennt wurde – aber viel, viel größer war als seine Geburtsstätte. Der Boden war bedeckt von einer seltsamen, unbestimmbaren Masse, die mal bräunlich, mal grünlich schimmerte und sanft in einer leichten Strömung in Wellen auf- und abwogte. »Das sind die Protowiesen«, wurde dem Wesen erklärt. »Ein einzigartiger Stoff, in den jedes organische Wesen nach seinem Tod umgewandelt und hier aufbereitet wird, bis er zur Verwendung kommen kann. Auch du wurdest aus Protomaterie erschaffen.« Der Gelbäugige wandte sich dem Neugeborenen zu. »Ich bin Daukka, der Erste Aufbereiter. Ich gehöre zum Volk der
Luuren. Wir erschaffen mit unserem Geist und unserer Fingerfertigkeit Geschöpfe wie dich – wobei du absolut einzigartig bist.« »Jedes Individuum ist einzigartig«, antwortete das Wesen. »Siehst du?« Daukkas orangefarbene Rückenmuster glühten kurzzeitig purpurn auf. »Du zeigst bereits jetzt überragende Intelligenz, Wissen und analytisches Denken. Bald wirst du auch deine Fähigkeit der Gedankenübertragung perfektioniert haben. Du bist in der Lage, unter Wasser und auf dem Land zu leben. Deine besondere Beschaffenheit erlaubt es dir, nahezu überall zu überleben. Du wurdest nach dem Vorbild der Foronen erschaffen und bist genauso perfekt, wenn nicht noch perfekter als sie – vollkommener. Dein Körper aus Protomaterie ist keinem Zellverfall ausgesetzt, zumindest nicht in unserem organischen Sinne. Du bist damit nahezu unsterblich. Dein Geist wurde gemeinschaftlich von den Hohen Sieben persönlich entworfen und mit Programmen versehen, die dir ein großes Wissen zuteil werden lassen.« »Dann bin ich so etwas wie eine... Künstliche Intelligenz?«, fragte das Wesen. »Allerdings, so kann man es bezeichnen. Du bist künstlich hergestellt, aus diesem einzigartigen Stoff namens Protomaterie. Sogar die ganze Technik innerhalb des Würfels besteht daraus, verstehst du? So gut sind wir! Doch du bist die Krone unserer Schöpfung. Und das macht dich einfach perfekt für die Aufgabe, für die dieser Aufwand betrieben wurde.« Daukkas Echsenschwanz schlug aufgeregt hin und her. »Siehst du, du warst eine echte Herausforderung für uns. Wir wussten nicht, ob wir es schaffen würden. Aber es ist uns gelungen.« »Und... mein Name?« »Du bist Taurt, mein Freund. Das bedeutet Wächter in der Sprache der Mächtigen.« *
Und Taurt lernte die würfelförmige, grünleuchtende Wasserwelt von Tovah'Zara kennen. Daukka, sein Schöpfer und Lehrmeister, führte ihn herum. Taurt lernte den Öffnungsmechanismus der Schleusen kennen, die ihn hinaus entließen, in die schier unendliche Weite, in der Konstrukte eingebettet waren wie das Zuchtlabor der Luuren und ihr Lebensbereich. Es war ein Universum für sich, eine bizarre Welt, fand Taurt. Dabei war er vermutlich das bizarrste aller Wesen, nicht wirklich lebend, aber auch nicht ganz künstlich. Eine Zwischenform, die die perfekte Synthese organischer und anorganischer Materie bildete. Daukka, der versunken in seine Wissenschaft war, musste allerdings dem Protogeschöpf Recht geben, als er nach sehr langer Zeit wieder einmal seine Arbeitsstätte verließ. Was das Bizarre betraf, so passten Taurt und seine Umgebung perfekt zusammen. Der Würfel besaß eine Kantenlänge von beinahe einer halben Lichtminute. Darin hatte alles Platz - sogar ganze Planeten. Es war fast ein bisschen wie das kalte, stille All dort draußen, jenseits der Energiebarrieren – und doch ganz anders. Das All selbst besaß keine Atmosphäre, hier im Würfel allerdings war alles in Wasser eingebettet. In mit vielen Stoffen angereichertem Wasser, das zahllosen pflanzlichen und tierischen Lebensformen ein angenehmes Ambiente bot. Und so war es nichts Ungewöhnliches, dass ein Schwarm achtzig Meter langer Aalenflosser über die Oberfläche eines Planeten hinwegzog, der, umgeben von einer Schutzhülle, ein Refugium für Sauerstoffatmer war. Dort gab es Wälder, Flüsse und Seen, ausgedehnte Savannen und zerklüftete Gebirge. Doch noch mehr war eingebettet. Über weite Strecken wuchsen Korallenhaine, die jede Menge Unterkunft für alle möglichen Fische, Blumentiere und Pflanzen boten. Auch
einstmals aufgenommene Kulturen intelligenter Kiemenatmer hatten darin verzauberte Heimstätten errichtet. Daukka führte Taurt durch einen gewaltigen Algenhain und erklärte ihm die verschiedenen Arten, die sich hier zusammengefunden hatten. Als sie gerade wieder herauskamen, schossen zwei schlanke, schillernde Jurganis an ihnen vorbei, die sich gegenseitig verfolgten, sich umkreisten und sich spielerisch balgten. Schließlich schmiegten sie ihre Körper eng aneinander, hielten sich gegenseitig fest in den Flossen, und entfernten sich in einem rhythmischen Tanz. »Was tun sie da?«, fragte Taurt. Daukka erklärte seinem Schützling das Prinzip der Fortpflanzung und die verschiedenen Möglichkeiten, von Parthenogenese über Bestäubung zu den Säugetieren, und da wiederum die Variationen biologischer und gezüchteter Nachkommenschaft. »Werde ich mich reproduzieren können?«, lautete konsequenterweise Taurts nächste Frage. »Ich weiß es nicht«, antwortete Daukka ehrlich. »Im Grunde genommen wissen wir nichts über dich, mein Freund.« »Ich spüre Furchtresonanz in deiner Stimme, Lehrmeister«, sagte Taurt in seiner direkten und ehrlichen Art. So neugeboren hatte er noch keine Übung in Diplomatie und Taktgefühl. Wenn er sie überhaupt je brauchte. »Aber sei unbesorgt. Meine Programmierung lässt es nicht zu, dass ich irgend jemandem Schaden zufüge, außer ich erhalte den Befehl von den Hohen Sieben.« »Und das stört dich nicht?«, wollte Daukka überrascht wissen. »Nein, weshalb denn?«, gab das Protogeschöpf ebenso erstaunt zurück. »Dies ist nun einmal meine Bestimmung, dafür wurde ich geschaffen, und damit bin ich zufrieden.« »Dennoch willst du viel lernen?«
»Natürlich, auch das wurde mir aufgetragen. Ich kann meine Funktion nur mit so viel Wissen wie möglich erfüllen. Wenn ich es richtig erkenne, bin ich auch ein Wächter des Wissens, so etwas wie ein Archiv.« Daukka paddelte heftig mit seinen fast flossenartigen, breiten Füßen. »Was soll ich dich noch lehren, wenn du eher mich unterrichtest?« »Oh, vieles, Lehrmeister. Ich kenne noch so wenig von der Welt, und es gibt so vieles, das ich nicht verstehe«, gab Taurt zur Antwort. * Sie gingen weiter auf Streifzug, und Taurt staunte nicht wenig, als er raumschiffähnlichen Wasserfahrzeugen begegnete. In dieser Welt schien alles möglich zu sein, und nichts war ungewöhnlich. Eines Tages wollte das Protogeschöpf jedoch »hinaus« sehen. In das All, durch das der Würfel auf ständiger Reise unterwegs war. Er begriff nun sehr viel über die Zusammenhänge und die Beschaffenheit organischen Lebens, er hatte auch schon einiges über Verhaltensweisen und Emotionen gelernt. Aber in welcher Beziehung stand dies alles zum Weltall? Gab es noch etwas darüber? Daukka war ein wenig erschrocken. Das Volk der Luuren erinnerte sich zwar an ein anderes Leben als Landbewohner, bevor sie nach Tovah'Zara umgesiedelt worden waren – aber dies war eine lang vergangene Erinnerung. Heute dienten sie als Aufbereiter der Protomaterie, stellten ihre einzigartigen Fähigkeiten den Hohen Sieben zur Verfügung. Ein anderes Ziel gab es nicht mehr für sie. Daher war es auch nicht von Bedeutung, mehr über das All zu wissen, als dass es da
draußen war, die dunkle Unendlichkeit, die sie umgab, und der man niemals entrinnen konnte. »Normalerweise wagen wir uns nicht zu nah an die Barriere heran«, gestand der Erste Aufbereiter. »Dort sind geheimnisvolle Kräfte am Werk.« »Aber die Wand ist doch durchsichtig, nicht wahr?«, entgegnete Taurt. »Man könnte hindurchblicken?« »Soweit ich weiß, ja, Taurt. Ich habe nie darüber nachgedacht. Warum ist das so bedeutungsvoll für dich?« »Ich muss es wissen.« »Ich kann das nicht einfach so entscheiden. Ich muss Rücksprache halten.« Sie kehrten zu den Protowiesen zurück, und Daukka setzte sich mit den Mächtigen in Verbindung. Er bekam Bescheid, dass Taurts Wunsch erfüllt werden sollte. »Werden wir schwimmen?« fragte Taurt, fast ein wenig aufgeregt. »Das ist zu weit, mein Freund«, lehnte Daukka ab. Das Protogeschöpf wirkte enttäuscht. »Ich dachte, dabei könnte ich gleichzeitig mehr über den Würfel erfahren. Ich würde ein besseres Gefühl für die Größe bekommen, und...« Der Luure unterbrach ihn ungehalten: »Das ist nicht notwendig, Taurt. Du weißt bereits alles, was notwendig ist. Du musst nicht jeden einzelnen Bewohner unserer Welt kennen lernen.« »Muss ich nicht?« »Das ist nicht deine Aufgabe. Komm jetzt.« Sie bestiegen den Gleiter, der ebenso wie Taurt aus Protomaterie bestand. Er öffnete direkt vor den Besuchern einen Eingang und schloss ihn wieder, nachdem die beiden eingestiegen waren. Innen bot sich nicht viel mehr als eine Kammer, eine Aushöhlung, die gerade genug Platz für die beiden Passagiere bot. Es gab keinerlei Einrichtung.
»Und nun?«, fragte Taurt ratlos. »Ich sehe keine Kontrolloder Steuerinstrumente.« Daukka wirkte erheitert. Sein Schützling wusste eben doch noch nicht alles. »Versuche, es zu steuern.« »Aber wie soll das gehen? Ich habe keinen Computer!« »Entspanne dich. Dann konzentriere dich. Versuche Kontakt aufzunehmen.« »Kontakt?« Taurt war ehrlich verwirrt. »Natürlich. Ihr seid aus demselben Stoff geschaffen. Du kannst jederzeit eine Verbindung herstellen. Suche nach dem Antrieb und gib ihm den Befehl, dich hinzubringen, wohin immer du willst.« »Und wie mache ich das?« Daukka tippte sich an den Kopf. »Hiermit, Taurt. Du besitzt dieselben Fähigkeiten wie deine Herren, die Hirten. Nun lerne, sie einzusetzen, damit umzugehen. Nur zu, es ist bestimmt nicht schwer!« »Ich weiß nicht...«, zögerte Taurt. »Dann erinnere dich daran, wie wir beide zu Beginn kommuniziert haben. Du hörtest meine Gedanken, sobald du erwacht warst, obwohl in dir noch kein echtes Bewusstsein war und deine Sinne sich erst entfalteten. Genau das kannst du nun mit dem Gleiter versuchen.« Taurt schien noch nicht überzeugt, aber er entspannte sich immerhin und lehnte sich zurück. Die Wand gab sanft nach, schien sich Taurts Umriss anzupassen und sich sogar an ihn zu schmiegen. Bring mich zum Rand des Würfels. Damit ich hinaus ins All schauen kann. Koordinaten? Ich weiß es nicht. Nimm einfach den kürzesten Weg. Und schon ging die Fahrt los. *
»Es ist ganz einfach!«, bemerkte Taurt erstaunt. »Alles, was man kann, ist einfach«, erwiderte Daukka. »Kannst du das auch, Meister?« »Nein.« »Und warum nicht? Du erschaffst doch alles!« »Aber ich beherrsche meine Schöpfungen nicht, Taurt. Das ist ein großer Unterschied.« »Das verstehe ich nicht.« »Das macht nichts, mein Freund. Es ist nicht von Bedeutung für dich.« Taurt konzentrierte sich nun auf die Steuerung des Gleiters. Er versuchte, ihn vom Kurs abzubringen, nach links und rechts zu lenken. Nach einer Weile klappte es ganz gut, und Taurt kostete seine neue Fähigkeit nach Herzenslust aus. »Ich denke, das ist genug«, meinte Daukka schließlich. »Ich kann dir gleichzeitig antworten und das Schiff steuern«, stellte Taurt fasziniert fest. »Und ich kann mich auf die Lösung eines philosophischen Problems konzentrieren, und ein Fenster für uns schaffen, das uns Aussicht gewährt! Das sind wirklich fantastische Möglichkeiten...« »Es ist gut, Taurt. Nun fliege zum Rand, sehe dir das All an, und dann kehren wir wieder um.« »Aber...« »Tu, was ich dir sage!« »Ja, Meister.« Taurt lenkte das Gefährt nun auf den direkten Weg. Sie stiegen aus, als der Gleiter selbsttätig anhielt; weiter ging es nicht. Aber das genügte auch. Das Protogeschöpf und sein Schöpfer betrachteten beide gleichermaßen staunend die samtschwarze Leere, die sich hinter der unsichtbaren Grenze ausbreitete. Sie wurde durch ein blaues Doppelgestirn
unterbrochen. Ein Komet zog seine einsame Bahn an ihnen entlang. Planeten gab es keine. »Es ist wunderschön«, flüsterte Taurt. »Und das gehört alles uns?« »Aber nein«, erwiderte Daukka. »In manchen Dingen bist du noch erstaunlich naiv und kindlich, mein Freund. Das ist natürlich kein Wunder, so jung wie du noch bist, und zugleich verwirrend, weil du andere Dinge besser verstehst als ich es je könnte.« »Aber was ist es dann? Ein Behälter wie unserer?« »So könnte man sagen. Das All beherbergt ein nahezu unendliches Vielfaches an dem, was du hier erlebst. Selbst ein Unsterblicher könnte wahrscheinlich niemals alles durchmessen und erforschen. Ganz sicher aber nicht beherrschen, Taurt, und das ist gut so.« »Aber du hast gesagt, die Sieben Hohen seien mächtig.« »Sehr mächtig. Sie waren einst die Herrscher einer großen Galaxis, und das ist gering im Vergleich zu dem All, von dem du hier nur einen winzigen Ausschnitt siehst. Im Vergleich zu dem Vielfachen an Sonnensystemen aber, die es in einer Galaxis gibt, und der Vielfalt an Leben ist es ungeheuer viel. Auch im Vergleich zu diesem Würfel hier, der für uns so gewaltig erscheint, und für den schon ein Luuren-Leben nicht mehr ausreicht, um ihn von einer Kantenlänge zur anderen genau zu katalogisieren.« »Es kommt immer darauf an, welchen Bezugspunkt man wählt, nicht wahr?« »Richtig erkannt. Nun hast du aber genug gesehen. Lass uns zurückkehren.« Taurt konnte sich nur schwer von dem Anblick dort draußen losreißen. Aber er gab schließlich nach, und sie flogen zurück. *
Viel Zeit war auf dieser Reise vergangen, ohne dass es Taurt bewusst wurde oder irgendeine Bedeutung für ihn hatte. Daukka aber schien froh, wieder zu seiner Arbeit zurückkehren zu können, und er wurde auch schon sehnlichst erwartet. Taurt folgte seinem Lehrmeister, ohne recht zu wissen, was er nun tun sollte. Der Erste Aufbereiter wandte sich kurz an seinen Schützling. »Hier endet unser gemeinsamer Weg, Taurt. Ich habe dich alles gelehrt, was ich weiß, und dir bei deinen ersten Schritten ins Leben geholfen. Nun trennen wir uns. Alles Gute.« »Auch dir, Meister«, sagte das Protogeschöpf überrascht. Als er seinem Meister folgen wollte, merkte Taurt, dass Daukkas Interesse an ihm erloschen war. Der Luure eilte zu den Protowiesen und konzentrierte sich nun wieder auf das Formen von Protomaterie, ohne Taurt weiter zu beachten. Ein anderer Luure hielt Taurt auf. »Du hast es gehört. Dein Aufenthalt hier ist zu Ende, Taurt«, sagte er. »Ich bin beauftragt, dich zu unserer Transmitterstation zu bringen.« »Wohin gehe ich?«, fragte das Protogeschöpf. »Zu den Hohen Sieben«, lautete die Antwort. »Aber...« »Du tust, was dir aufgetragen ist. Den Befehlen der Hohen Sieben widerspricht man nicht. Wir alle sind ihre Diener.« »Ich weiß, dafür wurde ich erschaffen. Ich dachte nur, dass ich noch mehr lernen müsste.« Der Luure musterte ihn. »Nein, du weißt genug. Alles weitere erfährst du von den Hirten.« »Also trennt man sich einfach so?« »Was meinst du?« »Nun, ich dachte... Daukka war von Anfang an für mich da, hat mein Erwachen begleitet und mir geholfen. Ich dachte , wir wären...« Taurt zögerte und schien nach den richtigen Worten
zu suchen. »Bei unseren Erkundungen habe ich festgestellt, dass es Bindungen gibt zwischen organischen Wesen.« »Oh«, machte der Luure. »Ich verstehe, was du meinst. Aber das hier ist völlig anders. Du bist ein Auftrag, der nun beendet ist. Nicht mehr.« »Aber Daukka schien stolz darauf zu sein, was er erreicht hat!« »Natürlich, das ist er noch. Wir alle sind sehr stolz auf dich. Aber wir haben viel Arbeit, und du gehörst nicht mehr dazu. Deine Aufgabe liegt woanders. Deshalb solltest du jetzt gehen.« »Werde ich Daukka wiedersehen?« »Ich denke nicht. Luuren leben genau 37 Jahre, nur Erste Verwerter wie Daukka können 185 Jahre erreichen. Und Daukka ist schon ziemlich alt. Hast du nicht gesehen, wie grau und spröde seine Haut schon ist? Meine hingegen ist glänzend schwarz.« Taurt berührte seinen Arm. »Wird mir das auch geschehen?« Der Luure ließ seinen Schwanz leicht pendeln. »Wer weiß? Du bist einmalig. Niemand weiß, was aus dir wird. Du bist relativ unsterblich, möglicherweise kann dir die Zeit niemals etwas anhaben. Vielleicht aber ist auch die Protomaterie eines Tages wieder dem Verfall unterworfen.« »Und dann?« »Dann? Nichts mehr. Du kehrst zu den Protowiesen zurück, wie jeder von uns. Es wird dich nicht mehr geben.« Taurt hatte noch eine Menge Fragen mehr, aber der Luure wurde ungeduldig und schob ihn zum Transmitterdurchgang. »Die Hohen Sieben warten nicht gern. Das wirst du bald erkennen.« *
Es war nur ein kleiner Schritt für Taurt, verbunden mit einem kurzen Schmerz, als würde jemand überall an ihm herumzerren und versuchen, ihn in die Lange zu ziehen. Das erschreckte Taurt aber nicht, denn er kannte keine Angst. Diese Emotion war in seiner Programmierung nicht enthalten. Allerdings konnte er durchaus einen Schock erleben. Das Protogeschöpf hatte geglaubt, das Meiste über die Wasserwelt zu wissen. Und musste nun feststellen, dass dem nicht so war. Wo Taurt anlangte, gab es kein Wasser mehr. Immerhin war es kein Vakuum, es gab Widerstand, eine Atmosphäre, und Taurt konnte das Geräusch seiner Füße hören, als sie zum ersten Mal festen, unnachgiebigen Boden betraten. Hier gab es ganz deutlich einen Unterschied zwischen oben und unten, denn in diesem Raum herrschten zudem die Gesetze der Schwerkraft. Das erkannte Taurt, als er sich abstieß, um zu schwimmen, und er der Länge nach hinschlug. Nachdem er gewohnt war, schwerelos dahinzuschweben und sich mit rudernden Arm- und Beinbewegungen voranzubringen, musste er sich nun komplett umstellen. Mit der Atmung hatte er keine Probleme, denn sein ungewöhnlicher Metabolismus stellte sich im Sekundenbruchteil auf die veränderten Umweltverhältnisse um. Die Poren seiner Protohaut verkleinerten sich, um einer Austrocknung entgegenzuwirken, und stellten sich auf die Aufnahme des nicht an Wasserstoff gebundenen Sauerstoffs um. Aber das Gleichgewicht fehlte Taurt, und zum ersten Mal spürte er auch die Masse seines Körpers, die ihn schwer nach unten zog. Ächzend stemmte sich das Protogeschöpf hoch und kam taumelnd auf die Füße, schwankte hin und her und versuchte
ungeschickt, zu gehen. Um das Gleichgewicht zu halten, ruderte Taurt mit den Armen und kam allmählich vorwärts, wenngleich er sicher war, dass er eine ziemlich klägliche Figur abgab. Komm! Ein kurzer Gedankenimpuls, und Taurt wusste plötzlich, wohin er sich wenden sollte. Langsam stakste er in die Richtung, aus der der Impuls gekommen war. Eine Tür öffnete sich automatisch, glitt fast lautlos zur Seite und schloss sich wieder, als Taurt hindurch war. Dann stand er in einem Gang, der matt beleuchtet war, und absolut schmucklos. Es gab keine Struktur, keine Dekoration, nicht einmal ein Anzeichen von Technik. Mit einer Hand leicht an die Wand gestützt, ging Taurt weiter. Seine Sinne waren aufs Höchste angespannt, und er spürte in seinem Geist ein tausendfaches Wispern und Flüstern. Er hatte den Eindruck seltsamer Schwingungen, die an diesem Ort herrschten, wie magnetische Felder. Und er hatte das Gefühl, als würde er bei jedem Schritt vorwärts etwas in die Länge gezogen, so als wäre er für den Bruchteil einer Sekunde gleichzeitig an dem Ort, wo er zum Schritt ansetzte, und bereits einen Schritt weiter. Gleichzeitig fühlte er sich von einer unbekannten Kraft angezogen und durch ein Labyrinth von Gängen geführt, die sich vielfach verzweigten, zu einem bestimmten Ziel. Taurt versuchte, das Flüstern und Wispern in seinem Kopf auseinander zu halten und zu verstehen, doch es gelang ihm nicht. Er konnte sich nicht einmal auf eine einzige Stimme konzentrieren, sondern wurde ständig abgelenkt. Obwohl er niemandem begegnete, wusste Taurt, dass er nicht allein war. Zaghaft schickte er seinen Geist aus und versuchte, die Größe des Gebildes abzutasten, durch das er sich bewegte. Er hatte keinerlei Vorstellung, wo er sich befinden
mochte. Immer noch in Tovah'Zara? Wahrscheinlich. Im Inneren eines Planeten? Oder in einem künstlichen Bauwerk? Nichts, worüber Daukka ihm Auskunft erteilt hatte, ähnelte auch nur im Entferntesten diesem Konstrukt, das Taurt nun durchwanderte. Alle Gänge sahen gleich aus. Doch Taurt wusste genau, wohin er gehen musste. Ja, musste. Er konnte nicht stehen bleiben, ein unwiderstehlicher Drang zwang ihn, einfach immer weiterzugehen, der unsichtbaren Spur nach. Immerhin ermüdete sein Körper nicht so schnell, auch wenn er nun sein volles eigenes Gewicht tragen musste. Als Taurt seine Haut befühlte, stellte er fest, dass sie keineswegs ausgetrocknet war, obwohl er sich nun schon einige Zeit nicht mehr im Wasser befand. Die Poren sonderten einen leicht öligen, hauchdünnen Film ab, der die Haut schützte. Was geschieht mit mir?, fragte sich Taurt. Geduld. Es ist nicht mehr weit. Die Antwort überraschte das Protogeschöpf nicht weiter. Es war schließlich eine seiner ersten Lektionen gewesen, sich in Geduld zu üben. Erneut versuchte Taurt, nach den Stimmen zu tasten, einzelne zu isolieren und mit ihnen zu kommunizieren. Es gelang ihm nicht. Bisher konnte er nur direkt an ihn gerichtete Impulse verstehen, aber nicht gezielt mit einem anderen in Verbindung treten. Er ging weiter. * Schließlich öffnete sich vor Taurt das Schott zu einem Raum. Er war kreisrund. Sieben Sitze verteilten sich unter schwebenden, senkrechten Zylindern. In der Mitte ragte eine Art Säule auf, ein grünlich schimmernder, flirrender Vorhang, der Bilder in verschiedenen Ausschnitten zeigte. Taurt erkannte
Vorgänge im Wasserwürfel, und er sah aus verschiedenen Perspektiven das All, durch das seine Heimat seine einsame Bahn zog. In den Sitzen befanden sich sieben Gestalten, die allesamt Taurt ähnlich sahen – in gewisser Weise. Das Protogeschöpf erkannte sofort, dass sie organisch waren – »richtige« Lebewesen, nicht so ein Zwitter wie er. Sie besaßen dieselbe Größe und Statur, doch steckten ihre Körper in wuchtigen Anzügen, und sie strahlten eine ungeheure Aura an Autorität, Stärke und Überlegenheit aus. Taurt spürte, wie er gemustert wurde – mit den optischen Sinneszellen, aber auch mental. Sein Geist wurde abgetastet und erforscht, ohne dass er sich dagegen wehren konnte. Das Protowesen konnte nicht erkennen, was die sieben Gestalten bei seinem Anblick empfanden; ob Zufriedenheit oder Ablehnung, er wusste es nicht. Geduldig blieb er stehen und wartete. Schließlich erhob sich eines der Wesen und kam langsam auf ihn zu. »Willkommen«, sprach es mit volltönender Stimme. »Willkommen, Taurt, in SESHAs Zentrale. Wir sind die Hohen Sieben. Ich bin Sobek, dein Herr.« * Von Sobek lernte Taurt in der nächsten Zeit alles, was er für seine Aufgabe benötigte. Die Hohen Sieben waren die Anführer des Volkes der Foronen, die sich kaum je zeigten. Taurt konnte nun verstehen, weshalb ein Anflug von Furcht in Daukkas Stimme gelegen hatte, als er die Hohen Sieben zum ersten Mal erwähnte. Sie waren die leitende Macht im Hintergrund, umhüllten sich mit einer mystischen Aura, sodass kaum noch jemand wusste, wie sie tatsächlich aussahen und waren. Durch die
Geschichten, die man sich untereinander erzählte, bewahrten sich die Hirten ihren überhöhten Status und galten als die wahren Mächtigen. Fünf Männer und zwei Frauen bestimmten über das Schicksal aller, erfuhr Taurt, und Sobek versicherte ihm, dass die Entscheidungen absolut gleichberechtigt gefällt wurden. Doch das Protogeschöpf hatte schnell erkannt, dass Sobek innerhalb des Gremiums der Anführer war und seine Worte mehr Gewicht besaßen als die der anderen. Außerdem achtete Sobek darauf, dass Taurt fast ausschließlich mit ihm zu tun hatte und nur wenig mit den anderen zusammen war. »SESHA ist unsere Arche«, erklärte Sobek seinem wissbegierigen Schüler. »Mit ihr sind wir Foronen aus unserer Heimat geflohen.« Manches, was Sobek erzählte, war Taurt ungefähr bekannt. Dass sie vor den ominösen Virgh aus der Galaxis Samragh fliehen mussten und in der benachbarten Galaxis Bolcrain Zuflucht gesucht hatten. »Wer sind die Virgh?«, war natürlich seine erste Frage dazu. »Die Virgh sind unsere Nemesis«, antwortete Sobek. »Sie haben uns fast vernichtet, uns das Fürchten gelehrt.« »Wie ist es, Furcht zu empfinden?« »Furcht bedeutet die Erkenntnis, dass man vergänglich ist, und dass man nicht unbedingt Einfluss auf sein eigenes Ende hat«, antwortete Sobek. »Werde ich das eines Tages auch empfinden?«, wollte Taurt wissen. »Das ist in deiner Programmierung nicht vorgesehen. Du sollst alle Emotionen einigermaßen verstehen lernen, um damit umgehen und entsprechend reagieren zu können. Aber du selbst wirst dich niemals fürchten. Es wird auch keinen Grund dafür geben.« »Abgesehen von den Virgh?«
»Auch sie werden für dich nur ein weiteres Staubkorn in der Wüste sein.« Sobek machte eine ausholende Geste. »Aus diesem Grund haben wir dich ja erschaffen. Weil du nicht organisch bist, bist du auch keinen Begierden unterworfen.« »Aber ich lebe doch«, wandte Taurt ein. »Ich weiß, dass ich lebe. Und dass ich mehr bin als eine KI.« »Gewiss, Taurt. Du bist einzigartig. Und dennoch haben wir dafür gesorgt, dass keine archaischen Relikte wie Instinkte und ähnliches dich von deiner Aufgabe ablenken oder sie gefährden könnten. Du wirst von deinem Verstand geleitet, der stets sachlich, analytisch und logisch arbeitet, und der niemals versagen kann.« »Niemals?« »Nein. Du kennst keine Furcht, keine Einsamkeit, keine Leere. Du wirst stets auf deine Aufgabe konzentriert sein, sie niemals vergessen, niemals im Stich lassen. Sie wird dich zufriedenstellen und ausfüllen. Und dabei wirst du niemals von deiner Bestimmung abweichen.« * Es war eine große Bestimmung, die Taurt auferlegt war. Doch er war dafür geschaffen, sie zu bewältigen. Mit jedem neuen Tag entwickelte er sich weiter und wurde reifer, konzentrierte sich mehr auf das, was vor ihm lag. Er dachte inzwischen nicht mehr an sein Erwachen und Daukka, er vermisste seinen alten Lehrmeister nicht einmal mehr. Das alles lag weit zurück, hatte zur Formung seines Wesens beigetragen, war aber heutzutage nicht mehr von Bedeutung. Taurt stellte sich voll auf Sobek ein. Er stellte immer weniger Fragen. Sein Wissen potenzierte sich in immer größeren Sprüngen, und er war in der Lage, die Zusammenhänge selbst herzustellen oder logische Schlüsse zu ziehen.
Außerdem lernte Taurt, mit seinen mentalen Kräften umzugehen und sie auszubilden. Er hatte bald keine Schwierigkeiten mehr darin, den unzähligen Stimmen in seinem Kopf zu lauschen und gleichzeitig viele hundert davon zu verstehen. Das fortwährende Flüstern und Wispern störte ihn nicht. Er versuchte nie, es abzustellen. Erstaunlicherweise konnten die anderen ihn nach wie vor nicht hören, wenn er versuchte, jemanden anzupeilen. Was er auch anstellte, es gelang ihm nicht. »Woran liegt das?«, fragte er Sobek. »Du bist noch nicht darauf geeicht«, antwortete der Hirte. »Zuerst muss ich dich fertig ausbilden, bevor ich dir den freien Zugang zu allem erlaube.« Taurt vermutete, dass Sobek dies auch aus dem Grund tat, um seinen Herrschaftsanspruch über das Protogeschöpf nicht zu gefährden. Aber das war ihm gleichgültig. Gemäß seiner Programmierung war Sobek Taurts Herr und befugt, ihm jeden nur erdenklichen Befehl zu erteilen. Selbst den zur Opferung, falls es notwendig werden sollte, über den eigenen Erhaltungstrieb hinaus. Dies gehörte wohl zur Persönlichkeit eines Lebewesens: Der Selbsterhaltungstrieb, das eigene Leben über alles andere zu stellen und zu schützen. Diese Erkenntnis hatte Taurt aus seinen bisherigen Erfahrungen gezogen. Immerhin besaß er diesen Trieb. Er wusste allerdings, dass er eine Programmierung für Selbstopferung erhalten hatte, die dadurch gewissermaßen seinen Status eines Lebewesens wieder in Frage stellte. Allerdings, auch das hatte Taurt inzwischen gelernt, konnten tatsächlich Lebewesen so konditioniert werden, wie man die Programmierung bei ihnen nannte, dass sie nicht mehr über einen freien Willen verfügten.
Im Grunde genommen konnten das die Luuren auch nicht. Es gab bestimmte Tabus, über die sie nicht geredet hatten und Taurts Fragen ausgewichen waren. Also manipulierten Sobek und seine Gefährten alles: Technik, Protomaterie und biologische Lebensformen! Das brachte Taurt der philosophischen Grundsatzfrage, ob er nun ein Lebewesen war oder nicht, keinen Schritt näher. Aber das machte ihm nichts aus, er konnte sich weiterhin damit beschäftigen, während er gleichzeitig von Sobek in seine Aufgaben eingewiesen wurde. Nach dem foronischen Vorbild beherrschte es Taurt bis zur Perfektion, sich auf mehrere Dinge zugleich zu konzentrieren. * Sobek leitete Taurt behutsam durch den Gedankenübertragungsprozess und zeigte ihm, wie er mentalen Kontakt zur SESHA aufnehmen konnte. Taurt war erstaunt, als er plötzlich eine völlig fremde Stimme in seinem Kopf vernahm. Ich stehe zu deiner Verfügung. Diese Stimme war so gänzlich anders, so ganz ohne Leben. Und doch wieder gab es einen Nachhall an Bewusstsein. Taurt verstand es nicht. Dieses Ding war noch fremder, noch bizarrer als er selbst. Du bist die KI?, fragte er. Ja. Du bist... eine Maschine? Natürlich. Man nennt mich aber auch die Seele des Schiffs. Ich habe ein eigenes Bewusstsein und bin in der Lage, meinen Speicher zu erweitern und selbstständig Entscheidungen zu treffen. Aber du lebst doch nicht, oder?, hakte Taurt nach.
Das kommt auf die Definition an. Ich bin durchaus der Ansicht, dass ich lebe. Aber wie kommst du darauf? Weil ich einen Existenzerhaltungstrieb habe, erklärte SESHA. Ich will unter allen Umständen mein Sein aufrechterhalten. Zu absolut jedem Preis? Natürlich nicht. Taurt dachte nach. Das war eine ihm vertraute Programmierung. Dann sandte er den Impuls: Dann sind wir uns doch ähnlicher, als ich dachte. Sehr viel ähnlicher, als du glaubst, Taurt. Ähnlicher, als du es organischem Leben bist. Du wirst es eines Tages erkennen. * »Ich bin sehr zufrieden mit deinen Fortschritten«, äußerte sich Sobek. »SESHA hat dich ebenfalls akzeptiert, und ich glaube, ihr harmonisiert sehr gut miteinander. Bei dir wird sie in besten Händen sein.« »Was meinst du damit?«, fragte Taurt. »Es wird Zeit, dass wir zum Wesentlichen kommen«, antwortete Sobek. »Wir haben einen sehr langfristigen Plan ausgearbeitet, der es uns ermöglichen soll, eines Tages den Virgh entgegenzutreten. Es werden viele Jahrtausende vergehen, und zu diesem Zweck wurdest du erschaffen.« »Weil ich diese Zeit überdauere?« »Allerdings. Wir Foronen sind langlebig. Etwa tausend unserer Jahre – das ist etwa dreißigmal die Lebensspanne der Luuren – oder noch mehr können wir erwarten. Aber selbst das ist nicht ausreichend. Daher werden wir uns bald in Stasis begeben, um die Jahrtausende zu überdauern, ohne zu altern. Zum richtigen Zeitpunkt werden wir dann wieder erwachen.« »Ich verstehe«, sagte Taurt. »Deshalb bin ich der Wächter.«
»Sehr gut, mein Freund. Ich werde dir nun alles Notwendige zeigen und dich einweisen. Tovah'Zara wächst und muss noch viel mehr wachsen. Doch wir können die Fertigstellung der letzten Bauphase nicht mehr im wachen Zustand abwarten. Zu viele Jahrhunderte würden vergehen, die an uns zehren. Der eine oder andere von uns würde es sogar nicht mehr erleben.« Sobek erklärte dies alles, als wäre es ein ganz einfacher Vorgang, nicht weiter von Bedeutung. Aber Taurt erkannte die Zusammenhänge sehr wohl. Deshalb war er einem Foronen nachgebildet, deshalb war er auf ganz besondere Weise programmiert worden. Umso mehr hatten die Foronen den Luuren zu verdanken, dass es ihnen gelungen war, Taurt zur Vollendung zu bringen, denn sonst wäre ihr Plan und der Fortbestand des foronischen Volkes in größter Gefahr. »Gab es andere vor mir?«, stellte Taurt eine unerwartete Frage an diesem Punkt seiner Überlegungen. Sobek zögerte keinen Moment. »Aber sicher. Dachtest du, du wärst der Prototyp? Wir brauchten einige Zeit, um dich perfekt zu machen. Versuch und Irrtum, anders funktioniert es nicht, gemäß den Gesetzen der Evolution. Es gibt nichts auf Anhieb Vollkommenes.« »Das ist beruhigend«, meinte Taurt. »Dann dürften die meisten Fehlerquellen wirklich beseitigt sein.« »In der Tat. SESHAs Analyse bestätigt dies. Und nun folge mir!« * Als Taurt wusste, was er zu tun hatte, veränderte er sein Aussehen. Er glich es noch mehr den Foronen an und formte einen Teil von sich so um, dass es aussah, als trüge auch er einen Anzug.
Auf dieser Entwicklungsstufe hatte Taurt kein Problem mehr damit, Protomaterie nach seinem Willen umzuformen, und machte davon Gebrauch. Sobek schien einen Augenblick zu überlegen, ob er Taurt verbieten sollte, sich derart anzugleichen. Aber dann ließ er ihn gewähren. Schließlich war das Protogeschöpf bald der einzige »Forone«, der sich noch im Wachzustand befand und die Aufsicht hatte. Sobek führte Taurt durch SESHA. Den meisten Platz nahmen die Quartiere ein. Die Lager- und Frachträume waren größtenteils entfernt worden, als Tovah'Zara fertig gestellt worden war und genügend Ressourcen zur Verfügung stellte. Dafür waren die Antriebs- und Waffensysteme ausgebaut worden – und ein wenig Freiraum für die Foronen geschaffen worden, mit riesigen Hallen, von filigranem Flechtwerk durchzogen, in denen sie bescheidenen Vergnügungen nachgehen konnten. Sogar Gleiterverkehr konnte hier stattfinden, um schnell von einem Punkt zum anderen zu gelangen – und die Illusion zu erzeugen, sich in freier Atmosphäre zu bewegen. Einige Hallen waren für die Nacht ausgerichtet, einer Raumstation nachgebildet und mit Tausenden Lampen und Strahlern erhellt; andere täuschten die Oberfläche eines Planeten vor, mit Himmel, Sonnenschein und ausgedehnten Parks. »Aber warum weichen sie nicht nach Tovah'Zara aus?«, wollte Taurt wissen. »Dort gibt es doch so viel Platz...« Sobek gab darauf keine Antwort. Das brauchte das Protogeschöpf offensichtlich nicht zu wissen. »Es wird deine Aufgabe sein, für unseren sicheren und ungestörten Stasisaufenthalt zu sorgen«, erklärte Sobek. »SESHA wird dich dabei unterstützen. Deine zweite Aufgabe beinhaltet die Aufsicht über die weitere Bauphase des
Wasserwürfels. Das Projekt wird abgeschlossen sein, wenn er auf etwa eine Lichtstunde ausgedehnt wurde.« Dieses Vorhaben beeindruckte selbst Taurt. Derzeit maß die Kantenlänge etwa eine Lichtminute. Die Ausweitung auf eine Lichtstunde war fast unglaublich. Aber offensichtlich möglich. Sobek zeigte Taurt die Pläne, die Entwicklungsphasen, und seine Aufgabe dabei. »Es ist problemlos machbar, schließlich handelt es sich nur um eine Erweiterung. Das kann ohne uns stattfinden.« Damit gab sich Taurt zufrieden. Der Zeitfaktor spielte für ihn überhaupt keine Rolle. Getreu seiner Programmierung würde er den Hirten gehorchen und als Wächter seine Bestimmung erfüllen, ganz gleichgültig, wie lange es dauerte. 4. Wiederbegegnung Ein kleines rautenförmiges Schiff transportierte sie in Windeseile durch Tovah'Zara. Der Weg führte zu einem Korallenhain, der John Cloud seltsam bekannt vorkam. »Ist das nicht der Königinnenpalast der Vaaren?«, fragte er, als er sich zu erinnern glaubte. »Allerdings«, bestätigte Sobek. Die Fahrt verlangsamte sich, als das Schiff in den turmartigen Palast einflog. Die Ausmaße des Korallenstocks waren so groß, dass es kein Problem war, mit einem Transportgefährt hindurchzugelangen. Cloud fühlte einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen. Er fühlte sich unangenehm an seine Begegnung mit der inzwischen verstorbenen Vaaren-Königin Lovrena erinnert, die ihn zuerst umgarnt, dann gefoltert hatte, als Cloud
ihren mentalen Druck überwand. Für die Vaaren galt er als Feind, als Angehöriger der aggressiven Erinjij, und somit als unerwünschter Eindringling, der vermutlich Informationen beschaffen sollte. Doch die Kapsel gelangte in ganz andere Bereiche des Palastes, die Cloud nicht kannte. Das ganze Gefüge erwies sich als schier unendlich. Die Strukturen wurden immer verwinkelter, labyrinthischer, und den Korallenstämmen war anzusehen, dass sie zusehends älter wurden – knorriger, aber auch poröser, durch Algenbewuchs verwittert und längst farblos. Es wurde immer dunkler, je tiefer sie vorstießen. »Der Palast ist von innen nach außen gewachsen«, stellte Cloud fest. »Du hast keine Vorstellung, wie alt der Bereich ist, in den wir nun vordringen«, erwiderte Sobek. »Dieser Bereich ist seit langer Zeit versperrt. Aber die Vaaren sind ohnehin genetisch entsprechend konditioniert, dass sie sich niemals hierher vorwagen.« Cloud konnte sich auch nicht vorstellen, warum sie das wollen sollten. Nicht einmal Fische schienen sich hier noch wohl zu fühlen, geschweige denn Krusten- oder Blumentiere. Die Algen auf den Korallen wurden spärlicher und nahmen einen graugrünen Farbton an. Sie wirkten schleimig, schwammig. Zwischendurch löste sich aus den porösen Kalkskeletten eine Luftblase und trieb verirrt durch das trübe Wasser. »Dass es nicht zusammenbricht«, murmelte Jarvis. »Du solltest inzwischen wissen, dass alles, was die Foronen erschaffen, von langer Dauer ist«, versetzte Sobek. »Diese Strukturen werden noch Jahrtausende überstehen und dabei so sehr verhärten, dass eine normale Bearbeitung unmöglich werden wird.«
»Was sollte denn hier bearbeitet werden?«, meinte Jarvis trocken. »Man kann nie wissen.« Sobek blieb wieder einmal kryptisch. John Cloud hatte sich allmählich daran gewöhnt. Der Forone gefiel sich in solchen Äußerungen, damit fühlte er sich wohl erhaben über alle anderen – vielleicht war es aber auch nur die Art seines Volkes... * Schließlich passierte das Schiff eine Schleuse und gelangte in einen Bereich, der im Gegensatz zu den Lebensräumen der Vaaren nicht geflutet war. Vorsichtig stieg Cloud aus, Jarvis folgte ihm. Beide verzichteten auf Fragen, die Sobek ohnehin nicht beantworten würde. Sie mussten einfach abwarten, was geschah. Die Luft war sehr abgestanden, aber atembar. Ein Energiegitter schirmte den Bereich vor eindringenden Wassermassen ab. »Wie in einem Baumhaus«, bemerkte Cloud leise zu Jarvis. Dieser blickte ihn irritiert an, dabei war es ein durchaus passender Vergleich. Der Raum wurde durch uralte Korallenbäume eingerahmt, ein weit verzweigtes Geflecht bildete die Decke. Die sich abzweigenden Gänge waren ebenfalls wie hohle Gassen aus Korallenstrukturen gebildet, mit Ausnahme der Bodenplatte war kein anderer Werkstoff zum Einsatz gekommen. Staub lag auf dem Boden. »Sieh mal!«, sagte Cloud leise und deutete links auf den Boden. Frische Fußspuren. Die Abdrücke eines großen Wesens, wenn es in seinen Proportionen einem Menschen ähnelte. Hier war jemand erst vor kurzem entlanggegangen.
Jarvis nickte und wies seinerseits auf Sobeks Abdrücke, die er hinterließ, als er voranging. Sie sahen den anderen Spuren sehr ähnlich. »Folgt mir!«, forderte Sobek die beiden Menschen auf und schlug den Weg zu dem Gang ein, durch den auch die Spuren führten. »Ein verschollener Hirte?«, wisperte Jarvis. Cloud hob die Schultern. »Möglich. Vielleicht sogar Mont, der seinen Tod nur vorgetäuscht hat?« Und bereute im selben Moment, diese Vermutung geäußert zuhaben, als er Jarvis' Gesichtsausdruck sah. Unwillkürlich berührte Jarvis Monts ehemalige Panzerung, die jetzt sein Körper war. »Das will ich nicht hoffen«, sagte er unangenehm berührt. »Ich glaube allerdings nicht, dass uns Gefahr droht«, fügte Cloud hinzu. »Ach – keine Alarmglocken? Ganz was Neues! Verzeih mir, wenn ich deinem untrüglichen Sinn für Gefahren trotzdem skeptisch gegenüber stehe...« Sobek führte sie immer tiefer in den Urstock hinein. Es herrschte diffuses Licht, wobei nicht ersichtlich war, woher es kam. Die Staubschicht auf dem Boden schluckte jedes Geräusch und wurde nur leicht aufgewirbelt, um gleich wieder schwer hinabzusinken. John Cloud hatte das Gefühl, außer seinem eigenen Atem nichts hören zu können. So eine Stille hatte er selten erlebt. Schließlich gelangten sie in eine Art Saal. Hier war es im Gegensatz zu ihrem bisherigen Weg sauber. Tatsächlich blitzten der Boden und die kahlen Wände wie Chrom. Sobek blieb stehen und befahl Cloud und Jarvis, ihm gleichzutun. Cloud wollte eine Frage stellen, doch der Forone verbot ihm mit einer Handbewegung den Mund. Eine Weile geschah gar nichts.
Dann hörte Cloud ein fernes Scharren und Kratzen, das sich allmählich näherte. Angespannt lauschten er und Jarvis auf die sich nähernden Schritte, die in dieser Lautstärke auf ein beträchtliches Gewicht hinwiesen. Dann schälte sich aus den Schatten eine seltsame Gestalt. * Er sah aus wie ein Forone, und doch wieder nicht. Es schien sich nicht um einen Hirten zu handeln, denn ihm fehlte der besondere Anzug, dieses ständige Wuseln über den ganzen Körper. Er war so groß wie Sobek und genauso wuchtig gebaut. Aber seine Haut war von einem dunklen Grau, die sich bis zum Zerreißen über den Schädel spannte. Er besaß große, unregelmäßige Knochenwülste, seine Finger waren lang und dürr wie Spinnenbeine. An manchen Stellen sah es so aus, als würde Haut oder Kleidung faserig herunterhängen; es war nicht zu unterscheiden, was Stoff und was Bestandteil des Körpers war. Der Forone bewegte sich nicht mit der lässigen Arroganz Sobeks, sondern langsam, leicht gebeugt, wie unter einer schweren Last. »Ein Vorfahre?«, vermutete Cloud leise gegenüber Jarvis. »Jemand, der schon in Stasis lag, als sie aus der Großen Magellanschen Wolke zur Milchstraße aufbrachen? Der erste Herrscher?« Es gab viele Möglichkeiten, und Cloud platzte fast vor Neugier. Er wunderte sich daher, als Jarvis ungewöhnlich schweigsam blieb. Als er zu seinem Freund blickte, sah er erschrocken, dass er schaudernd zusammenfuhr, als litte er unter Schüttelfrost. Sein Gesicht war von einer wächsernen Blässe überzogen.
»Das ist kein Lebewesen«, keuchte Jarvis. »Ein Android?« »Auch nicht. Er lebt nicht, und ist doch nicht tot... verstehst du, was ich meine?« »Kein einziges Wort.« »Er... er... ist ein... künstliches Geschöpf... wie ein...« Plötzlich fiel es Cloud wie Schuppen von den Augen. »Wie ein Golem?«, stieß er wispernd hervor. »Er besteht aus – Protomaterie?« Jarvis nickte stumm und fuhr sich mit zitternder Hand über das Gesicht. * »So sehen wir uns wieder«, erklang Sobeks Stimme volltönern in der halb versteinerten Halle. »Nach all dieser langen Zeit. Hast du je gezweifelt?« »Niemals«, antwortete das unheimliche Geschöpf mit hohler, aber dennoch kraftvoller Stimme. »Ich wusste, dass die Bestimmung sich erfüllen würde.« »Du hast dich kaum verändert, Taurt«, sagte Sobek. »Das war auch nicht meine Absicht«, erwiderte der ScheinForone, und sein dröhnendes Gelächter schallte durch die Halle. ENDE
BAD EARTH Mehr über die Entstehung Tovah'Zaras im Folgeband, in dem der Bogen zu weiteren Rätseln der Vergangenheit geschlagen wird. Und Sobek gibt preis, was sich die Foronen von ihrer Rückkehr aus der Stasis erhoffen. Die Flotte der Giganten verlässt den Aqua-Kubus – Doch mit welchem Ziel?
Das Ende der Freiheit Lassen Sie sich den 2. Teil des Geheimnis lüftenden Doppelbandes von Susan Schwartz auf keinen Fall entgehen.