Die Ausweitung der Bekenntniskultur - neue Formen der Selbstthematisierung?

Günter Burkart (Hrsg.) Die Ausweitung der Bekenntniskultur neue Formen der Selbstthematisierung? Günter Burkart (Hrsg...

Author: Astrid Zipfel

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Günter Burkart (Hrsg.) Die Ausweitung der Bekenntniskultur neue Formen der Selbstthematisierung?

Günter Burkart (Hrsg.) unter Mitarbeit von Marlene Heidel

Die Ausweitung der Bekenntniskultur neue Formen der Selbstthematisierung?

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VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1.Auflage September 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-14759-5 ISBN-13 978-3-531-14759-8

Inhalt

Giinter Burkart Einleitung

Markus Schroer Selbstthematisierung. Von der (Er-)Findung des Selbst und der Suche nach Aufmerksamkeit

Herbert Willems /Sebastian Pranz Vom Beichtstuhl zum Chatroom. Strukturwandlungen institutioneller Selbstthematisierung

7-40

41-72

73-103

Hannelore Bublitz 'Magic Mirrors'. Zur extensiven Ausleuchtung des Subjekts

105-125

Undine Eberlein Serielle Einzigartigkeit und Eigensinn

127-143

Jeffrey Stepnisky Transformationen des Selbst im spatmodernen Raum. Relational, vereinzelt oder hyperreal?

145-169

Jan D. Reinhardt Massenmedien im und als Spiegel der Person

171-184

Bruno Hildenbrand Dissensfiktionen bei Paaren

185-206

Holger Herma Das erzahlte Ich in der Liebe. Biografische Selbstthematisierung und Generationswandel in einem modernen Kulturmuster 207-233

Wolfgang Kraus Die Veralltaglichung der Patchwork-Identitat. Veranderungen normativer Konstruktionen in Ratgebern fur autobiografisches Schreiben 235-259

Bettina Volter Die Herstellung von Biografie(n). Lebensgeschichtliche Selbstprasentationen und ihre produktive Wirkung

261-284

Carl Sasse Eine Romantische Arbeitsethik? Die neuen Ideale in der Arbeitswelt

285-312

Gunter Burkart / Melanie Frohlich / Marlene Heidel / Vanessa Watkins Gibt es Virtuosen der Selbstthematisierung? 313-337

Alois Hahn Wohl dem der eine Narbe hat. Identifikationen und ihre soziale Konstruktion

339-360

Gunter Burkart Einleitung. Selbstreflexion und Bekenntniskultur

1. Eine neue Bekenntniskultur? Im Januar 2006 wurde in der ARD ein ausfuhrliches Interview mit der Archaologin Susanne Osthoff gesendet, die vorher im Irak entfuhrt worden war. Nach ihrer Freilassung, deren Umstande von den Behftrden geheim gehalten wurden, war in den Medien viel spekuliert worden und sie zum Teil heftig kritisiert. Reinhold Beckmann, der Interviewer, versuchte die Geschichte zu durchleuchten. Dabei legte er groBen Eifer an den Tag, Frau Osthoff personliche Bekenntnisse abzuringen: zu ihrem Glauben, ihren familiaren und personliehen Beziehungen, ihren Geftihlen gegenuber den Entfuhrern, ihrer kulturellen Identitat, ihrer Dankbarkeit fur Deutschland. „Sind Sie dankbar, Frau Osthoff?", fragte Beckmann immer wieder, wahrend er ihr Feuer gab - eine (angesichts der heute fast skandalosen Praxis, im Fernsehen zu rauchen) seltsam antiquierte Hoflichkeitsgeste, die in scharfem Kontrast zur unhoflichen Insistenz des bohrenden Fragens stand. Aber trotz dieser intensiven Befragung gelang es dem Moderator nur selten, Bekenntnisse zutage zu fbrdern. Auffallig am Interview mit Susanne Osthoff war gerade, dass sie darauf bestand, nicht uber ihre privaten Angelegenheiten sprechen zu wollen. Diese Bekenntnis-Verweigerung wirkte fast noch skandaloser als die Missachtung des Rauchverbots - gemessen an der Alltaglichkeit und Selbstverstandlichkeit, mit der heute Menschen jeglicher Art offeiitlich zu ihren personliehen Lebensumstanden befragt werden und meist auch bereitwillig antworten. Sie geben Auskunft iiber sich und ihr Innenleben, weil sie gelernt haben, sich selbst zum Thema zu machen. Selbstaufmerksamkeit und Selbstbeobachtung der Individuen scheinen zugenommen zu haben und damit auch die biografische Reflexivitat. Insbesondere die inzwischen weiter ausgefacherte Tsychoszene' hat Diskurse der Selbstreflexion und der Selbstverwirklichung hervorgebracht und intensiviert, wie es sie in diesem Ausmaft wohl noch nie gab. Diese Diskurse - so die weitere Vermutung - sind tief in den Alltag eingedrungen, jedenfalls in den Bildungsschichten, deren Anteil an der Gesamtbevolkerung stetig gewachsen 7

ist. Eine Gesprachskultur der Selbstthematisierung ist entstanden, die vielfach die Form von Bekenntnis und Gestandnis, von sanktionsfreier Selbstenthtillung, annimmt. Viele Tabus sind inzwischen zuriickgedrangt oder gebrochen, es darf iiber private und intime, das Selbst betreffende Dinge gesprochen werden, wie es fruher in diesem AusmaB nicht moglich war. Dazu kommen neue mediale Formen der Selbstdarstellung und des Identitatsmanagements. Immer wichtiger wird dartiber hinaus eine kompetente Balancierung zwischen Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung, zunehmend auch im beruflichen Bereich, wo Selbstreflexion und Selbstcoaching zu neuen Zauberformeln der Managerweiterbildung geworden zu sein scheinen. Damit ist eine zeitdiagnostische These umrissen, die sich auf ein ganzes Btindel von Vermutungen sttitzt, die genauerer Prufung bediirfen. Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes bemtihen sich an ausgewahlten Aspekten und unterschiedlichen Themen um einen Beitrag zur Klarung dieser komplexen These. Diese Einleitung versucht einen Rahmen abzustecken, in dem die einzelnen Beitrage verortet werden kftnnen. Zunachst wird Selbstreflexion/ Selbstthematisierung als eine von drei Dimensionen von Individualisierung konzipiert. Nach einem ersten Uberblick zur neuen Kultur der Selbstthematisierung und einer kurzen Diskussion theoretischer Grundlagen und begrifflicher Probleme werden die historischen Hintergrtinde dieser Entwicklung skizziert. Die Frage nach einer moglichen Reflexionselite wird kontrastiert mit der These der Verallgemeinerung und Demokratisierung: ehemals exklusive Formen der Selbstthematisierung werden nun zunehmend flir alle zuganglich. Gerade in den neuen Medien, so scheint es, sind solche Demokratisierungstendenzen zu finden. SchlieBlich gibt es Anzeichen, dass der Prozess der allgemeinen Durchdringung der Gesellschaft mit Formen der Selbstreflexion auch die Arbeitswelt erreicht hat.

2. Individualisierung und Selbstthematisierung Selbstthematisierung ist eine Ausdrucksform des Individualismus und verweist auf einen langfristigen Prozess der Individualisierung. Seit mehr als 500 Jahren lasst sich, wenn auch keineswegs kontinuierlich, ein Bedeutungszuwachs des

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Individualismus als einem zentralen Element der westlichen Kultur beobachten.1 Renaissance, Aufkl&rung und Romantik, okonomische und politische Modernisierung (Kapitalismus und Demokratie) sind nur einige besonders herausragende Etappen dieses Steigerungsprozesses, in denen jeweils unterschiedliche Dimensionen des Individualismus - zum Beispiel der Wirtschaftsliberalismus und Besitzindividualismus oder der romantische Geniekult oder der affektive Individualismus - gestarkt wurden. Dieser Prozess scheint sein Ende noch nicht erreicht zu haben. Die Zahl der Singles und der Kinderlosen wachst weiter, von wachsender Handlungsautonomie, von Patchwork-Identitaten oder Bastel-Biografien ist die Rede. Es sind vor allem Beobachtungen dieser Art, die in den Sozialwissenschaften zu der jungsten Welle der Individualisierungsdiskussion gefuhrt haben, von der sie seit tiber zwei Jahrzehnten gepragt sind. Trotz dieser erneuten, intensiven und langen Debatte ist es jedoch bisher kaum gelungen, mehr Klarheit bei den umstrittenen Fragen zu gewinnen.2 Das liegt zum Teil daran, dass der Individualismus und die Individualisierung sich in unterschiedlichsten Bereichen und auf unterschiedliche Weise bemerkbar machen. Wo die einen einen Zuwachs an Entscheidungsautonomie sehen, konzentrieren sich andere auf den Bedeutungsanstieg von Intimitat oder der Idee der Selbstverwirklichung. Will man diese unterschiedlichen Facetten (und viele andere) in eine gewisse Ordnung bringen, ist es sinnvoll, drei Dimensionen des Individualismus und der Individualisierung zu unterscheiden. Sie lassen sich zunachst mit den Stichworten Autonomie, Einzigartigkeit und Selbstreflexion bezeichnen. Es geht um Handlungsautonomie und Selbstbestimmung durch Freisetzungsprozesse\ um individuelle Besonderheiten durch Distinktionsprozesse; und um Selbstreflexion durch Institutionen der Selbstthematisierung? Freisetzung/ Autonomic: Weitgehend Ubereinstimmung herrscht in der Soziologie dartiber, dass der Ubergang zur modernen Gesellschaft gekennzeichnet ist durch Individualisierung im Sinne der Auflosung traditionaler Gemein-

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Manche wurden die Startphase deutlich weiter zuriick legen: Noch vor die klassische Antike, in die „Achsenzeit" (ein Ausdruck von Jaspers; vgl. Eisenstadt 1987). Zur Langfristigkeit des Individual isierungsprozesses vgl. auch Macfarlane (1978). Allmahlich beginnt man, sich um den Status der Individual is ierungsthese als soziologischer Theorie zu kummern und ihren Spuren in der klassischen Soziologie bzw. der soziologischen Theorie nachzugehen (Kippele 1998; Kron 2000; Schroer 2001). Ausfuhrlicher dazu und zu ahnlichen Unterscheidungen vgl. Burkart (1998, 2004); die Unterscheidung der beiden ersten Dimensionen (Unabhangigkeit vs. Einzigartigkeit) geht auf Georg Simmel (1913, 1917) zuriick („quantitativer vs. qualitativer Individualismus") und findet sich haufig in der Literatur (liberales vs. romantisches Konzept, z.B. Eberlein 2000).

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schaftsformen und Bindungen, als Herauslosung der Individuen aus grofteren Kollektiven und festen Strukturen. Die Freisetzung erhoht die individuelle Autonomie, erweitert Handlungsmoglichkeiten und Entscheidungsspielraume, zwingt aber auch zu Eigeninitiative und Selbstbehauptung (im Sinne von SelfReliance). Als allgemeines Kennzeichen der Entwicklung der modernen Gesellschaft unbestritten, gab es aber Zweifel an der Diagnose eines neuen Individualisierungsschubes im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, insbesondere wenn etwa von Freisetzung in Bezug auf Geschlechtsrollen und Familie die Rede war. Distinktion/ Einzigartigkeit: Die strukturelle Freisetzung begtinstigt weitere Differenzierung, die Klassenstruktur wird durchlassiger, die individuelle Mobilitat steigt. Das macht feinere Unterscheidungen notwendig: An die Stelle groBer, homogener Blocke wie Klassen treten Milieus, Subkulturen, Lebensstilgruppen. SchlieBlich setzen die Unterscheidungen direkt am Individuum an; Individualist im Sinne von Einzigartigkeit wird bedeutsamer, begleitet von wachsenden Distinktions- und Klassifikationsbestrebungen (Bourdieu 1982). Feine Statusabstufungen und Ranking-Systeme breiten sich in alien Lebensbereichen aus, vom Bildungssystem uber das berufliche Statussystem bis zum Kulturbetrieb und zur Freizeitindustrie. Die Unterschiede werden individualisiert, indem sie psychologisch, biologisch oder als Resultat der Lebensweise begriindet werden. Sie tragen so auch zur Individualisierung und Naturalisierung von Ungleichheit bei (Neckel 1991). Selbstthematisierung/ Selbstreflexion: Freisetzung und Distinktion ziehen verstarkte Reflexivitat nach sich, die Selbstwahrnehmung der Individuen als Subjekte wird intensiviert. Das 'Selbst' und die Identitat werden zum Thema. Das schlieBt auch Fragen nach Selbstbestimmung und Einzigartigkeit ein: Wie kann ich meine Autonomie sichern? Was ist das Besondere an mir; unterscheide ich mich in ausreichendem MaBe von anderen? Die Lebensgeschichte wird zum Reflexionsgegenstand und erscheint dadurch zunehmend als machbar und planbar. Lebensplanung wird immer mehr zur Norm, die individuelle Zukunftsorientierung verdrangt die Familiengeschichte. Viele sind auf der Suche nach ihrem Selbst, das zunehmend als autonom, aus sozialen Bezugen gelost, wahrgenommen wird; manche mochten ihren inneren Kern fmden und ihr wahres Ich 'authentisch' zur Darstellung bringen. Wie Alois Hahn betont hat, ist Selbstreflexion in differenzierter Weise nur moglich, wenn kulturelle Muster der Selbstthematisierung und Selbstzuschreibung verfugbar sind (Hahn 1982), die institutionell abgesichert sein miissen. Wenn das Ich iiber sich selbst nachdenkt, dann tut es das nicht einfach „aus sich selbst heraus" (Hahn 1987: 18). Die Kultur stellt ihm Mittel und Techniken dafur zur Verftigung, von einfachen reflexiven Denkroutinen (zentriert um die 10

Frage: Wer bin ich?) tiber Erzahlmuster und schriftliche Ausdrucksformen (Tagebuch, Brief, Weblog), bestimmte Themen wie Selbstfindung oder Selbstverwirklichung bis hin zu komplexen institutionellen Arrangements. Solche Institutionen der Selbstthematisierung stehen als komplexe Beschreibungs- und Zuschreibungsmuster den Individuen zur Verfugung, als Angebote ftir Identitatskonstruktionen, als 'Biografiegeneratoren', aber auch als Angebote ftir kontrollierte Selbst-Enthtillungen und -Bekenntnisse. Die klassische Palette reicht von der Beichte tiber Autobiografie und Tagebueh bis zur Psychoanalyse, gefolgt von neueren Formen wie biografisches Interview, neue Therapieformen, Selbsterfahrungs- und Selbstverwirklichungsgruppen oder Talkshow. Die Entwicklung der alteren Selbstthematisierungsformen, von der Beichte bis zur Gruppentherapie, ist relativ gut erforscht (Hahn 1982; Hahn/ Willems 1993; Willems 1999), die neuere Entwicklung dagegen noch wenig oder nur oberflachlich. Das gilt insbesondere fur neue mediale Formen der Selbstdarstellung, wo wissenschaftliche und popularwissenschaftliche Analysen oft nicht leicht zu unterscheiden sind. Sie stehen bei einer Reihe von Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes im Mittelpunkt des Interesses. Vielleicht wiirde eine genaue historische Analyse zeigen, dass sich die drei Dimensionen in eine zeitliche Abfolge bringen lassen. Der Freisetzungsprozess hatte dann seinen Hohepunkt bereits im Rahmen der btirgerlichen Revolutionen erreicht, zumindest in der Alten Welt. Allerdings wurde auch argumentiert, dass die Marktgesellschaft erst nach dem Zweiten Weltkrieg voll durchgesetzt wurde (Lutz 1984; Beck 1986). AuBerdem gibt es immer wieder Schtibe der Propagierung von Eigeninitiative, wie nach 1989. Dennoch scheint die These plausibel, dass sich im 20. Jahrhundert die beiden anderen Dimensionen starker in den Vordergrund geschoben haben. Distinktion wird wichtiger, je hoher der Lebensstandard ist und je mehr ein konsumorientierter Lebensstil in den Vordergrund riickt. Der reflexive Individualismus hat vor allem in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts einen deutlichen Schub erhalten, auch wenn er natiirlich eine lange Vorgeschichte hat, zu deren Hohepunkten etwa die Entfaltung der Selbstreflexion in der btirgerlichen Bildungskultur des 18. Jahrhunderts und die spatburgerliche Vertiefung seit Freud gehoren.

3. Eine neue Kultur der Selbstthematisierung Eine Reihe von Entwicklungen in verschiedenen Bereichen haben zur Entwicklung einer Kultur der Selbstthematisierung beigetragen. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Psychologisierung der Kultur hat sich seit den 1960er Jahren 11

eine historisch einzigartige Therapie- und Beratungskultur etabliert.4 Immer mehr Menschen nehmen Psychotherapie-, Beratungs-, Selbsterfahrungs- oder Selbstmanagementangebote in Anspruch, bei denen ihre Selbstreflexion geschult wird.5 Die Funktion des therapeutischen Gesprdchs nach dem Vorbild der klassischen Psychoanalyse ist das Aufdecken von verborgenen oder verkannten Aspekten des Innenlebens, von Affekten, Leidenschaften und sexuellen Wiinschen. Es geht also nicht urn Selbstreflexion im philosophisch-kognitiven Sinn deshalb geniigt es bekanntlich nicht, Freud zu lesen, urn das Ziel dieser Art von Selbstreflexion zu erreichen. Nach dem Modell der Ubertragung, durch die das Gesprach als affektiv gepragte Beziehung erscheint, wird eher die emotionale Selbstbeziehung geformt als die kognitive Selbsterkenntnis gefordert. Das gilt besonders ftir neuere Therapieformen, mit denen es zu einer weiteren Schwerpunktverlagerung von kognitiv-rationaler Reflexion (Wer bin ich?, im Anschluss an das cogito ergo sum) oder moralischer Reflexion (Wie lebe ich das richtige Leben?) zu Reflexionen tiber expressive Ausdrucksformen, Gefuhle und Korperlichkeit gekommen ist (Sehe ich gut aus, bin ich attraktiv, ist meine Inszenierung vorteilhaft, habe ich eine gute Performance!). Auch andere Entwicklungen haben zu einer Neubetonung der Korperlichkeit und des Korperausdrucks gefuhrt. Die Frage nach der Identity schlieBt heute auch die Korperlichkeit starker ein.6 Es haben sich praktische, korperbezogene Formen der Selbstthematisierung entwickelt, zum Teil direkt aus der Therapie-Szene heraus: Tanz-, Musik-, Bewegungstherapie. SchlieBlich ist hier auch der Freizeitsport und die ganze Wellness-Bewegung zu nennen, wo die Selbstfindung und Selbstverwirklichung in der korperlichen Praxis gesehen wird, die der Entfremdung des Geistes entgegenwirkt. Das therapeutische Gesprach bildet das Grundmodell fiir die Gesprachsform des Interviews, das ebenfalls stark an Bedeutung gewonnen hat, zunachst in den Sozialwissenschaften, wo das narrative Interview zu einer der erfolgreichsten Methoden der qualitativen Sozialforschung wurde. Es hat die biografische Selbstreflexion von immer mehr Menschen in Gang gebracht und eine Ftille von Lebensgeschichten produziert. Die Maxime „Erzahle dein Leben" oder „Erzahle dich selbst" (Thoma 1998) hat sich in der Alltagskultur verbreitet. Die Wissen-

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Illouz (2006), Furedi (2004), Ehrenberg (2004), Willems (1994), Michel/ Spengler (1985), Bellah et al. (1985), Castel et al. (1982), Lasch (1980). Besonders in den 1970er Jahren entstand eine Ftille neuer Therapie-Formen. Es ist jedoch nicht leicht, prazise Daten uber Therapienachfrage im Zeitvergleich zu erhalten (vgl. etwa StrauB 2004: 8 f.). Vgl. hierzu die einschlagigen Arbeiten zur Korpersoziologie (Turner 1984; Shilling 1993).

schaft wiederum begleitet diese Bewegung durch die Entwicklung narrativer Theorien fiber Identitat und Biografie. Auch in den Massenmedien hat das unspezifische biografische Gesprach, d.h. eine Unterhaltung Uber nahezu beliebige Aspekte des eigenen Lebens, stark an Bedeutung gewonnen. Immer haufiger, so scheint es, legen Menschen offentliche Selbstbekenntnisse ab, in Fernseh-Interviews, Talk-Shows und zunehmend in verschiedenen Sparten des Internet. 'Tyrannei der Intimitat' oder Offentlichkeit des Privaten sind die entsprechenden Schlagworte von Medienbeobachtern.7 Im Unterschied zur Therapie und zum Interview der Sozialforschung liegt der Schwerpunkt hier allerdings auf der Enthtillung fur ein Publikum, und deshalb geht es im Fernsehen nicht um Authentizitat und echten Gefuhlsausdruck, sondern um Strategien der wohldosierten Enthtillung. Nachdem eingangs erwahnten Interview mit Frau Osthoff wurde vor allem diskutiert, ob sie sich nicht einen Medienberater, einen TV-Coach, hatte nehmen sollen. Das Fernsehen ist ein Medium der expressiven Selbstdarstellung, die bestimmten Regeln der Dramatisierung und Inszenierung folgt. Die klassischen Institutionen der Selbstthematisierung - Beichte, Psychoanalyse und Interview - hatten sich als aus dem Alltag herausgehobene Formen entwickelt, in denen die Selbstthematisierung unter Anleitung von Experten oder zumindest mit professioneller Teilnahme geschieht. Inzwischen scheint die Kompetenz, mehr oder weniger virtuos uber sich selbst zu sprechen, schon zur Alltagskultur zu gehoren, weil immer und tiberall Gesprache und andere Praktiken stattfinden, in denen das eigene Selbst zum Thema werden kann. Vielleicht kann man deshalb sagen, dass sich als neue Gattung der Selbstthematisierung das selbstreflexive Problemgesprdch im Alltag entwickelt hat. Wenn gentigend Menschen Therapie- und Interview-Erfahrung haben, kommt es zur Veralltaglichung der Selbstreflexion. Man kann sozusagen nicht mehr unbefangen (unreflektiert) mit anderen tiber sich selbst reden, man tut es immer schon in einer quasi-therapeutischen Einstellung. Das gilt in besonderem MaBe fur personliche Beziehungen, zwischen Eltern und Kindern, Ehepartnern und engen Freunden. Vermutlich gehSrt zum Standardrepertoire von Reziprozitatsnormen in personlichen Beziehungen bereits die Norm der gegenseitigen Selbstthematisierung, gar: der Selbstenthtillung. Ftir moderne Paarbeziehungen hat sich jedenfalls der Partnerschaftlichkeits-Diskurs mit Authentizitats- und Wahrhaftigkeitsanspriichen weitgehend durchgesetzt,

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K. Hahn (2002). Zur Kritik an der „inszenierten Schamlosigkeit" und Offentlichen „SelbstentblOBung" vgl. etwa Winterhoff-Spurk/ Hilpert (1999).

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zumindest auf der Ebene normativer Ideale, die durch eine Ftille von Ratgebern fur Ehepartner immer wieder ausbuchstabiert werden. Gegen die Veralltaglichungsthese spricht allerdings immer noch die Beobachtung, dass diese ausgepragte Form der reflexiven Paarbeziehung und auch andere Elemente der Bekenntniskultur auf das Selbstverwirklichungsmilieu (Schulze 1992) bzw. das individualisierte Milieu (Burkart 1997; Burkart et al. 1999) oder auf bestimmter Subkulturen innerhalb dieses Milieus, wie etwa die „Therapie- und Selbsterfahrungsszene", konzentriert bleiben. Die Frage: Veralltaglichung oder Reflexionselite? wird in einigen Beitragen des vorliegenden Bandes diskutiert. In verschiedenen Spharen verlauft die Entwicklung unterschiedlich. Vielfach wurde Individualisierung auch und gerade fur die Konsum- und Freizeitsphare konstatiert. In der Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) steht die Innenorientierung im Vordergrund - oder besser: die Innenorientierung in der AuBendarstellung. Die Suche nach Selbstverwirklichung und Selbstausdruck hat die Konsumsphare erreicht, wo es um die psychologische Dimension von Erlebnissen geht, um asthetische und expressive Selbsterfahrung. Inzwischen, so scheint es, hat die Kultur der Selbstthematisierung auch die Arbeitswelt erreicht, in der es einen wachsenden Bedarf nach Selbstreflexion gibt und einen wachsenden Anspruch, eine Balance zwischen Selbstanalyse und Selbstprasentation zu finden. Strategien kontrollierter Selbstprasentation, zum Beispiel in Bewerbungsgesprachen, erfordern intensivierte Selbstreflexion. Es gibt Berufsgruppen, in denen es notwendig wird, die ganze Personlichkeit einzubringen, etwa in Werbeagenturen oder in der Beratungsbranche. Gefragt sind Individuen, die sich coachen lassen, die deshalb wissen, wie man sich selbst prasentiert und gleichzeitig authentisch bleiben kann, die nicht einfach ihre Pflicht erftillen, sondern uber die eigene Selbstverwirklichung auch zum wirtschaftlichen Fortschritt beitragen. Ankniipfend an Studien wie jene von Boltanski/ Chiapello (2003) tiber den „neuen Geist des Kapitalismus" lasst sich analog zur Protestantismusthese Webers - die These formulieren, dass es dem neuen Kapitalismus gelungen ist, sich das Selbstverwirklichungspotential zunutze zu machen. Andere Beobachterinnen stellen eine Psychologisierung und Emotionalisierung der Okonomie fest (Hochschild 2003; Illouz 2006). In den Kontext einer Kultur der Selbstthematisierung gehort auch die in vielen Bereichen gestiegene Bedeutung von Beratung und Evaluation. In gewisser Weise fangen Berater und Evaluatoren an, Therapeuten abzulosen, die ihrerseits historisch einmal die Pastoral-Experten abgelost hatten. Das gilt nicht nur fur Unternehmens- und Politikberatung, sondern auch fiir bisher eher beratungsresistente Bereiche: In der Schule wird der Lehrer zum Projektberater oder Evaluationsmanager (Pongratz 2005), und selbst fur Ehepartner und Eltern gibt es 14

bereits Evaluationsangebote (Hochschild 2005). Allgemein scheint zu gelten: Wer autonom und kreativ, wer individuell erfolgreich sein will, der muss Techniken der Selbstreflexion beherrschen, aber er muss sich auch helfen lassen Beratung, Evaluation, notfalls Therapie. Mit der Durchsetzung von Normalitatsstandards und der entsprechenden Aufmerksamkeit flir Abweichungen weitete sich das Therapie-Prinzip aus und wurde in Richtung Beratung transformiert, vor allem in Bereichen wie dem Management, wo 'Therapie' immer noch zu sehr nach Krankheit klingen wtirde.8

4. Theoretische Ankerpunkte Die deutsche Individualisierungsdiskussion war lange Zeit von Themen wie Entscheidungsautonomie, Bastelbiografie oder Pluralisierung von Lebensformen beherrscht, weil sie in ihren theoretischen Grundlagen noch stark auf die Freisetzungsdimension konzentriert blieb. Bei Fragen von Selbstthematisierung und Selbstreflexion und deren Konsequenzen bietet sich ein etwas anderer Theorie-Kontext an. Der vorliegende Versuch stiitzt sich auf Autoren wie Luhmann, Foucault und Hahn.9 Auch wenn es bisher eher ungewohnlich war, Michel Foucault als Theoretiker der Individualisierung zu betrachten, so ist doch offensichtlich, dass sein Werk von einer standigen Auseinandersetzung mit dem Verhaltnis SubjektGesellschaft gepragt ist. In alien seinen Buchern ging es mehr oder weniger um die {Constitution des modernen Individuums, zum Teil auch um dessen Destruktion. Auch wenn Foucault tiberwiegend historisch gearbeitet hat und sich zumindest in seinen Monografien selten zu zeitgenossischen Fragen explizit ge£uBert hat, lasst sich die bis heute anhaltende Faszination, die sein Werk ausgeubt hat, nur verstehen, wenn man den impliziten Gegenwartsbezug seiner historischen Analysen berticksichtigt. Aus seinen Arbeiten lasst sich eine Art Stufenmodell von Individualisierung rekonstruieren. Sieht man einmal vom Frtihwerk ab, so geht es auf einer ersten Stufe um ein Individuum, das zunSchst von der Strafmacht diszipliniert wird

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Fur manche Kritiker bedeutet 'Therapie-Kultur', dass den Individuen durch standig erweiterte Hilfs- und Beratungsangebote suggeriert wird, sie seien uberfordert und inkompetent. Sie wiirden dadurch unsicherer und vertrauten immer weniger auf sich selbst (Furedi 2004; Sommers/ Satel (2005). Vgl. Schroer (2001) zu dem Versuch, die Kultur des Individualismus starker auf Autoren wie Parsons und Luhmann, aber auch Foucault zuriickzufuhren.

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und allmahlich lernt, sich selbst zu iiberwachen. Auf der zweiten Stufe geht es um die Verfeinerung dieser Selbstkontrolle durch Techniken des Gestandnisses und des Bekenntnisses, die sich allmahlich nicht mehr auf das Bose beziehen, sondern auf das eigene Leiden und die eigene Unvollkommenheit, schlieBlich auf die Luste, Sexualitat und Begehren.10 Foucault geht es dabei aber nicht nur um Selbstkontrolle, sondern auch um Subjektivierung. Die Selbstanerkennung der Subjekte vollzieht sich fur ihn tiber die Offenbarung des Begehrens. Ein groBer Bekenntnisdiskurs ist in Gang gekommen. Im Sinne von Foucault konnte man sagen, es muss heute tiber die eigene Intimitat gesprochen werden, und daruber hinaus muss man bereit sein, sich therapieren zu lassen, wenn die Selbsterkenntnis tiber die eigene Sexualitat unzulanglich ist oder wenn die Selbstanalyse ergibt, dass das sexuelle Selbst (das „Begehrenssubjekt") unzureichend entwickelt ist (Maasen 1998). Therapeuten und Sozialarbeiter, Psychiater und Sexualwissenschaftler treten an die Stelle von Richtern und Priestern. Sie alle arbeiten mit am Diskurs der Normalisierung (Link 1996) und tragen damit zu Disziplinierung und Kontrolle bei, unter Einschluss von Intimitat und Sexualitat. Im Spatwerk Foucaults lasst sich eine weitere Stufe ausmachen, die aber eher utopischen Charakter hat. Es ist die Utopie eines sich selbst thematisierenden, sich um sich selbst sorgenden Menschen, dem es aber nicht darum geht, sein Selbst zu finden, zu verwirklichen oder narzisstisch zu enthiillen, sondern darum, als sich selbst „regierendes" (sich selbst beherrschendes) Individuum zum Gelingen von Gesellschaft beizutragen.11 Utopisch ist dies insofern, als es zwar in der Gegenwart Tendenzen dieser Art von Individualisierung im Sinne von Selbstverantwortung und Selbstinitiative gibt - aufgegriffen etwa im Konzept der Selbstregierung. In der gegenwartigen Phase des Kapitalismus bezieht sich die Selbstsorge allerdings haufig nur auf das okonomische Selbstmanagement als Ich-AG. Niklas Luhmann hat die historische These der funktionalen Differenzierung zur Grundlage seiner Theorie-Entscheidung gemacht, soziale und psychische Systeme zu trennen. Mit dem Ubergang zur Moderne, also mit der zunehmenden Ausdifferenzierung von gesellschaftlichen Funktionssystemen, so sein Ar-

10 Der Ubergang von der ersten zur zweiten Stufe lasst sich vor alien in den Werken der 1970er Jahre ablesen (Foucault 1976, 1977). 11 In zahlreichen Schriften und Vorlesungen in seinen letzten Lebensjahren, zum Teil erst vor kurzem verftffentlicht, hat Foucault unter wechselnden Titeln - Die Sorge um sich, Technologien des Selbst, Hermeneutik des Subjekts - diese Frage bearbeitet (vgl. Foucault 1989, 2005a, 2005b).

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gument, muss sich die gesellschaftliche Verortung der Individuen andern. Die bisherige Form (Inklusion in Klassen und Schichten) ist nicht mehr angemessen, die Inklusion der Individuen wird auf die Funktionssysteme verlagert. Dort allerdings ist sie nicht mehr stabil, das Problem der sozialen Ortlosigkeit entsteht. Es muss daher ein Ort fur das Individuum geschaffen werden, an dem man noch als ganze Person, als „unteilbares" Individuum, Geltung hat. Dieser Ort ist das Intimsystem (Luhmann 1982, 1989).12 Uber diese strukturelle Seite hinaus ist auf Seiten der Kultur eine neue Semantik der Individuality erforderlich, eine Rhetorik vom Subjekt und vom Selbst. Der Individualismus ist eine neue Form der Zuschreibung von sozialen Ereignissen auf individuelle Motivlagen und Handlungen, und die Individuen ubernehmen diese Zuschreibung in ihre Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen, die reichhaltiger werden. Man erlebt und erfahrt sich als Individuum, das sein Schicksal selbst in der Hand hat, das sich selbst klassifiziert, interpretiert, das sich letztlich selbst erschafft.13 Alois Hahn hat bei seinen Uberlegungen zur Selbstthematisierung auf Foucault und Luhmann zuruckgegriffen. Hahn verkniipft die Ideen von Selbstbeschreibung und Selbstproblematisierung mit dem Konzept der Kommunikationsmedien. So wie Medien die Kommunikation begUnstigen, so auch die Institutionen der Selbstthematisierung, nach dem Motto: „Menschen neigen nicht von Natur aus dazu, sich Uber ihr Leben Rechenschaft abzulegen" (Hahn 1987: 18). Die Kultur muss ihnen Mittel zur Verfugung stellen, institutionelle Moglichkeiten und Verfeinerungen der Semantik, um die eigene Biografie besser verstehen und interpretieren zu konnen - und schlieBlich auch selbst erzeugen zu konnen; oder zumindest die Illusion der Selbsterschaffung in Form der „Bastelbiografie". Wir haben hier allerdings mit gewissen terminologischen Problemen zu kampfen. In diesem Feld herrscht wenig begriffliche Ubereinstimmung. Wo der eine Autor vom Selbst spricht, verwendet ein anderer den Subjektbegriff. Dariiber hinaus sprechen manche von Identitat, wo andere das Selbst thematisieren. Vor allem die Verwendung des Selbstbegriffs ist wenig konsistent. Ein Teil der Problematik ergibt sich durch die im Deutschen und Englischen (im Unterschied zum Franzosischen) ubliche Substantivierung: 'das Selbst' und die zahlreichen Wortkombinationen von Selbstachtung bis Selbstzweifel. Diese Substantivie-

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Das schlieBt auch die Familie mit ein, auch wenn es hier Unklarheiten bei Luhmann gibt (Luhmann 1990; vgl. dazu Burkart 2005). 13 Wohlrab-Sahr (1997: 28) betont im Anschluss an Luhmann den Aspekt von Individualisierung als Veranderung des gesellschaftlichen Zurechnungsmodus in Richtung auf Autonomic und Subjektivierung.

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rungen sind irrefuhrend, weil sie suggerieren, 'das Selbst' sei der aktive Part. Tatsachlich ist aber gemeint: Das Ich oder das Subjekt thematisiert 'sich selbst'.14 'Das Selbst' ist also nicht, wie die Sprache - fast unvermeidlich - suggeriert, ein 'Ding', sondern die reflexive Seite des Bewusstseins. Gravierender ist, dass die unterschiedlichen Diskursfelder in verschiedenen Disziplinen wenig Bezug zueinander haben. Es ist daher schwierig, etwa die Frage zu beantworten, in welchem Verhaltnis der Selbstbegriff zu anderen Begriffen wie Ich und Individuum, Identitat und Subjekt steht und welche Bedeutung dabei der biografischen Dimension zukommt. Solche Klarungsversuche, im Anschluss an Autoren wie G.H. Mead, Erikson oder Goffrnan, sind bisher jedoch selten - es ist erstaunlich, dass in der soziologischen Individualisierungsdebatte kaum einmal der Versuch gemacht wurde, Verbindungen zu den sozialpsychologischen Diskussionen uber Identitat oder den philosophischen Diskursen zum Selbstbegriff herzustellen.15 Im Rahmen dieses Beitrags kann dieses Problem nicht bearbeitet werden. Wir meinen mit Selbstthematisierung also einfach die reflexive Seite der Subjektivitat, den Bezug des Subjekts auf sich selbst. Das Individuum wird zum Subjekt durch die Mftglichkeit, sich auf sich selbst zu beziehen, es kann sich selbst als ein Anderes wahrnehmen, indem es in Distanz zu sich selber tritt, und in diesem Sinn hat es Selbst-Bewusstsein. Und die Frage ist dann: Wie sieht, reflektiert und thematisiert das Ich sein Selbstsein? 'Das Selbst' kann zum Beispiel als in sich differenziert betrachtet werden - um so mehr, je mehr Theorien es dazu gibt, die auch der psychologisch gebildete Alltagsmensch kennt, etwa uber verschiedene Ich-Instanzen oder 'multiple Selbste'. Es kann dartiber hinaus, heute starker als fruher, den Status einer sozial ungebundenen Instanz zugeschrieben bekommen (oder, in Identitatsbegriffen: Identitat ist weniger 'kollek-

14 Im Anschluss an die Unterscheidung I/me bei G.H. Mead (1934/1974). Alois Hahn (2000: 99) unterscheidet implizites und explizites Selbst. Ersteres entspricht in etwa der „naturlichen Einstellung" der Phanomenologie und thematisiert sich nicht selbst (implizite Selbstprasenz); das explizite Selbst macht ein Ich geltend, stellt situationstibergreifende Bezuge (Identitat) her. Siehe zu den terminologischen Problemen auch unseren Beitrag (GONTER BURKART, MELANIE FROHLICH, MARLENE HEIDEL, VANESSA WATKINS).

15 Zu Modellen des Selbst in der Sozialpsychologie vgl. Kraus (1996). Zu Selbst- und Identitatsbegriffen in der Philosophie Henrich (1979) und Taylor (1996). In der Soziologie gehort Uwe Schimank zu den wenigen, die Individualitat und Identitat in Verbindung bringen: „Die Person in der modernen Gesellschaft begreift sich als Individuum. Individualitat ist eine tragende Saule der Identitatskonstruktion des modernen Menschen" (Schimank 2002: 107). Allerdings beschrankt er Individualitat auf Selbstbestimmung und Einzigartigkeit. „Als Kurzformel: Individualitat ist selbstbestimmte Einzigartigkeit" (ebd.). Es fehlt also die Dimension der Selbstthematisierung.

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tive' als 'individuelle' und 'subjektive' Identitat).

5. Selbsterkenntnis, Gestandnis und Bekenntnis Selbstthematisierung heiBt in einem ersten Schritt, sich selbst zum Objekt der Erkenntnis zu machen; sich zu fragen, wer man ist, wie man ist. Das kann situativ-reflexiv begrenzt sein, wenn man aus dem alltagsweltlichen Bewusstseinsstrom heraustritt - etwa, urn iiber Handlungsmotive nachzudenken; das kann aber auch den Charakter einer biografischen Bilanzierung annehmen (Identitat). Doch Selbsterkenntnis ist kein Selbstzweck. Sie dient - jedenfalls auch - dazu, sich gegentiber anderen als Individuum darzustellen. Es geht um Presentation und Sichtbarmachung des eigenen Selbst, also um Selbstdarstellung. Dabei konnen Selbsterkenntnisse in Mitteilungen an andere genutzt werden. Dabei kann nattirlich keine Eins-zu-eins-Entsprechung zwischen Analyse und Mitteilung erwartet werden - aufter vielleicht in bestimmten Therapieformen. Im alltaglichen Normalfall ist immer eine kontrollierende Instanz zwischen Erkenntnis und Enthiillung eingeschaltet (und auch in der Therapie taucht diese als standiger Storfaktor auf). Auf dieser Zwischenebene geht es also darum, ob und wie Selbsterkenntnisse anderen mitgeteilt und somit ins soziale Spiel eingebracht werden. Was wird mitgeteilt, was wird offenbart, was wird enthtillt? Wo wird die Grenze zwischen dem inneren, privaten Selbst und dem offentlichen Selbst gezogen? Es geht darum, eine Balance zu finden zwischen der Selbstoffenbarung und der Distanzwahrung. Analytisch lassen sich also drei Ebenen oder Stufen der Selbstthematisierung unterscheiden: 1) Versuche der Selbsterkenntnis (Selbstanalyse); 2) Selbstkontrolle, verstanden als Kontrolle tiber das, was von den Selbsterkenntnissen offenbart, also mitgeteilt werden soil; 3) und eben die kontrollierte Mitteilung der Selbsterkenntnisse einschlieBlich nonverbaler Selbstdarstellungen, also Selbstoffenbarung und Selbstdarstellung.16 Selbstthematisierung ist auch eine Frage von technischer Kompetenz. Man muss wissen, wie man Fragen nach der eigenen Autonomic und Identitat beantworten kann. Geht das alleine oder braucht man Anleitung und Hilfe durch Therapeuten oder 'Beichtvater'? Lernt man Selbstanalyse nur in entsprechenden Institutionen? Techniken der Selbstdarstellung und Inszenierung sind seit Goff-

16 'Selbsterkenntnis' und 'Selbstkontrolle' sollten nicht kognitiv-rational missverstanden werden. Es geht eher um praktische Selbstinterpretationen und Selbstentwurfe (vgl. Landweer 1999, 2001).

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man gut erforscht. Was die Ebene der Mitteilung betrifft, haben sich historisch verschiedene Formen ausdifferenziert. Beim Gestandnis geht es um die Mitteilung eines Motivs, einer Tat, eines Personlichkeitszugs oder schlieBlich einer gesamten Identitat, die moralisch fragwiirdig sind. Es geht um das Eingestandnis einer Schuld.17 Beim Bekenntnis geht es eher darum, sich zu einem Glauben an etwas Wertvolles ('Heiliges') zu bekennen. Als Enthullung konnen wir die Mitteilung eines Geheimnisses, einer Intimitat oder sehr privaten Sache bezeichnen. Gestandnis, Bekenntnis und Enthullung sind Grundformen, die sich im Rahmen von Institutionen wie Beichte, Gerichtsverhandlung oder Therapie entwickelt haben. Allmahlich sind daraus komplexere Formen entstanden, wo es nicht mehr nur um das Gestandnis einzelner Taten oder Gedanken oder Uberzeugungen geht, sondern um Biografie- oder Identitatskonstruktionen. Schon die Geschichte der Beichte zeigt eine deutliche Entwicklung vom kollektiven Ritual iiber die Gewissenserforschung bis hin zur „Stindenbiographie" (Hahn 1982). Die Ausweitung der Gestandnispflicht auf Krankenhauser und Irrenanstalten, Gefangnisse und Waisenhauser verdrangt allmahlich das Schuldprinzip. Es geht immer weniger um die Verletzung einer moralischen Regel als um die Abweichung von einer Normalitat, wie sie von den Humanwissenschaften definiert wird. Auch bei der Sexualitat geht es weniger um Schuld als um die Einsicht in die Abweichung einer „sexuellen Abirrung", die als solche aber der Gestandnispflicht unterliegt. Man hat die Pflicht, die Wahrheit tiber sich selbst zu suchen. Das ist fur Foucault der Kern von Subjektivitat (Foucault 1977). Und „die Macht" beschr&nkt sich darauf, wissen zu wollen. Die moderne, sakularisierte Pastoralmacht verlangt nicht Gehorsam im Sinne von Regelbefolgung sondern: Selbsterkenntnis- und Bekenntnis-Wille (Foucault 2003 [1978]). Zwar kann es auch in literarischen Kontexten (Brief, Autobiografie, Tagebuch, Roman), wie bei Beichte und gerichtlichem Gestandnis, um Schuld, moralische Verfehlungen - kurz: um das Bose, gehen. Aber die literarischen Formen sind sehr viel haufiger/ starker auf das Gute, das Heldenhafte, das Geniale, das positive Einzigartige bezogen; es geht um Konstruktionen eines Charakterideals oder einer Identitat. Die literarischen Muster der Ich-Erzahlung haben sich von Marcel Proust und Virginia Woolf bis Italo Calvino oder Paul Auster immer mehr verfeinert, zunehmend Reflexivwerden der Erzahlerposition, wo Autor

17 Bekanntlich wird der Ausdruck 'Gestandnis' auch im Zusammenhang mit der Liebe verwendet, wo er aber der Sache nach eher ein Bekenntnis ist.

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und Ich-Erzahler und nicht mehr eindeutig unterscheidbar sind.18 Damit werden literarische Vorbilder fur die Konstruktion eines narrativen Selbst im Alltag geschaffen. Das virtuose Alltags-Selbst kann sich in ein Heldenepos oder eine Leidensgeschichte einrahmen, die Identitat kann als Genie, als Sunder oder als Erfolgsmensch konstruiert werden. Und es kann sich dabei auch reflexivironisch thematisieren (so wie 'ich liebe dich' heute fast nur noch mit dieser ironischen Distanzierung moglich ist). Auch im therapeutischen Kontext wurden Bekenntnisse zunehmend von der Dramatisierung der Schuld abgekoppelt. Sie haben nicht mehr die Aufgabe, an die eigene Schuld zu erinnern, sondern „sie sind bereits die Folge von als pathologist empfundenen Gewissensbissen. Die Bekenntnisse und die an sie sich anschlieBenden Therapien (ubrigens zunehmend auch innerhalb der religiOsen Gemeinschaften) dienen dann nicht mehr der Scharfung des Schuldbewufltseins, sondern der Heilung von Schuldgefuhlen" (Hahn/ Willems 1993: 319).

An die Stelle von Gewissenserforschung tritt nun die Frage der Authentizitat. Was will ich wirklich, ganz egal, wie moralisch es ist? Ging es in der Therapie zunachst immer noch um das Gestandnis eines Leidens, so haben sich die neuen Therapieformen seit den 1970er Jahre starker davon gelost, und an die Stelle der Erlosung von einem Leiden oder der Heilung einer Krankheit tritt SelbstGestaltung und Erftillung, Selbstverbesserung und die Kultivierung des Selbst (Ehrenberg 2004). Es gehe darum, meint Richard Sennett (1985: 110), dem Leben im Ganzen eine Form zu geben. „Deshalb sind wir bereit, immer groBere Bereiche unseres Lebens einer formlichen Schulung zu unterwerfen", SexHandbticher und Anleitungen zu selbstbewusstem Auflreten zu lesen.

6. Strukturelle Hintergrunde und historische Markierungspunkte In vielen westlichen Landern lassen sich seit etwa Mitte der 1960er Jahre eine Reihe von Umwalzungen beobachten, zum Teil getragen von sozialen Bewegungen, begleitet von Diskursen und von institutionellen Verankerungen neuer Werte. Bildungsexpansion und Frauenbewegung, Therapie-Boom, sexuelle Liberalisierung und padagogische Alternativkultur trugen mit dazu bei, indivi-

18 Insbesondere Paul Auster hat in zahlreichen Romanen verwirrende Verschachtelungen zwischen Autor, Erzahler und Romanfiguren aufgebaut, obwohl er sich eines konventionellen Erzahlstils bedient.

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dualistische Ideen und entsprechende neue Lebensformen zu verbreiten und die Entstehung einer Kultur der Selbstthematisierung voranzutreiben. In Selbsterfahrungsgruppen und Wohnkollektiven, in alltagspolitischen Zirkeln, Frauenund Mannergruppen und 'wilden Ehen' - uberall ging es um neue Werte: Selbstverwirklichung, Authentizitat, Autonomie, Echtheit des Gefiihls und Ganzheitlichkeit der Erfahrung. Man kann sie als Ausdrucksformen des romantischen Individualismus (Hennig 1989: 107 ff.; Eberlein 2000) und einer Kultur der Selbstreflexion betrachten. Eine der zentralen Botschaften der sie tragenden Subkulturen war, dass sich das Individuum von den Institutionen losen mtisse, um sich selbst zu finden und Selbstverwirklichung zu erreichen.19 Fur den Erfolg der individualistischen Ideen nicht nur in gegengesellschaftlichen Subkulturen, sondern bald auch im Zentrum der westlichen Kultur war wichtig, dass sie auch an den Universitaten Fuft fassen konnten - und dass diese sich gleichzeitig offheten: Die in dieser Zeit einsetzende Bildungsexpansion hat fur eine wachsende Bevolkerungsgruppe und bei einem wachsenden Anteil der jeweils nachfolgenden Jugendgenerationen nicht nur den Glauben an die individuelle Leistung gefordert, sondern auch zu einer Intensivierung und Ausdehnung der biografischen Bildungsphasen gefuhrt. Grundsatzlich bietet die Universitat gute Chancen fur reflexives Denken. Mit der Bildungsexpansion verstarkte sich diese Tendenz: Gerade die neuen Bildungsschichten (soziale Aufsteiger), die nun verstarkt in die Universitaten stromten, waren empfanglich fur individualistische Ideen, auch solchen, die aus den Subkulturen kamen und die in dieser Gruppierung sich verschmelzen konnten mit den klassischbiirgerlichen Ideen der Selbstverwirklichung durch Bildung (Hennig 1989; Eckert 1999). Auch die Frauenbewegung sowie ihre Verankerung an den Universitaten und im Wissenschaftssystem waren flir eine umfassende Problematisierung des Geschlechterverhaltnisses und fur intensivierte Selbstreflexion von groBer Bedeutung. Der Authentizitatsgedanke wurde zum Beispiel in der 'Betroffenheitsliteratur' seit den spaten sechziger Jahren entwickelt, in der radikale Selbstanalysen vorgenommen wurden, und die groBen Einfluss auf die Geschlechterdiskussion hatte. Auch die mannliche Geschlechtsidentitat wurde zunehmend in Frage gestellt, mehr oder weniger freiwillig auch von Mannern selbst. Inzwischen hat sich auf diesem Gebiet, jedenfalls auf diskursiver Ebene, manches geandert. Wichtiger vielleicht, als dass Manner nun iiber ihre Gefuhle sprechen

19 Turner (1976), Bellah et al. (1985); vgl. auch Bude (1995: 59 ff.), der dies in Zusammenhang mit der Generation der Achtundsechziger bringt.

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dtirfen, ist, dass auch die Geschlechtsrollen dem Imperativ der Authentizitat unterworfen wurden: Das Modell der Partnerschaftlichkeit in Paarbeziehungen setzte sich durch, verbunden mit einem neuen Ideal der Geschlechtsidentitat, die sich nicht mehr auf Rollenvorgaben verlasst. Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, vor allem im Privatbereich, wurden dadurch aus ihrer ritualisierten lebensweltlichen Verankerung gelost und offheten sich der reflexiven Problematisierung. Authentizitats- und Aufrichtigkeitsanspruche, die nun in kurzer Zeit als zentrale Normen fur Paarbeziehungen durehgesetzt wurden, erfordern ein hohes MaB an Selbstthematisierungskompetenz. Besonders im Selbstverwirklichungsmilieu hat der durch den Feminismus in Gang gebrachte Geschlechtsrollenwandel auch zur Forderung eines neuen Typs von Paarbeziehung, der individualisierten Partnerschaft, beigetragen.20 Weiterhin gerieten auch die Verhaltnisse, unter denen Kinder aufwachsen, in den Sog der Selbstthematisierungskultur. Zunehmend ging es um Individuality und Subjektivitat des Kindes in der Familie. Die Selbstfmdung des Kindes sei das „Erziehungsprogramm der europaischen Moderne", meint etwa Gestrich (2001). Mitte der sechziger Jahre begannen sich die Erziehungsvorstellungen in den alternativen Milieus deutlich zu &ndern. Zunachst als 'antiautoritare Erziehung' diffamiert und spater manchmal als 'gescheitert' bezeichnet, lSsst sich doch nicht tibersehen, dass sich dieses Konzept in einer weniger spektakularen Form als padagogischer Standard durehgesetzt hat. Das Ergebnis sind hohe Erziehungsanspruche, eine hohe Aufmerksamkeit fur die individuelle Personlichkeit des Kindes: L 'enfant le roi (Aries).21 Auch wenn anfangs noch 'sozialistische' Vorstellungen im Vordergrund standen ('Kollektiv'), setzte sich hier bereits eine modernisierte biirgerliche Individualist durch. Die Permissivitat, die im Zuge der padagogisch-sexuellen Revolution durehgesetzt wurde, ermutigte aber nicht nur die Orientierung an Einzigartigkeit und Selbstreflexion, sondern begunstigte auch eine Form des Individualismus, die eher zum Neoliberalismus passt: eine Art Durchsetzungs- und Ellbogen-Individualismus.22 Nach dieser ersten Phase des Aufstiegs der Selbstthematisierungs-Kultur in den 1970er Jahren, in der es zur Durchsetzung von Authentizitat und Selbstver-

20 'Partnerschaft' oder 'Partnerschaftlichkeit' meint hier immer ein Regulativ oder ein Organisationsmodell von Paarbeziehungen, nicht diese Beziehung selbst. 21 Allerdings meint Aries (1980), Konig Kind sei inzwischen entthront worden durch die Konzentration der potentiellen Eltern auf ihre eigene Selbstverwirklichung. Damit lasst sich vielleicht der wachsende Anteil an Kinderlosigkeit zum Teil erklaren; aber da, wo noch Kinder geboren werden, dlirfte ihr Konigtum weiterhin in Kraft sein. 22 So berichtet eine 1960 geborene Nachachtundsechzigerin: In den 1970er Jahren sei in der Schule eine gewisse Rucksichtslosigkeit und Frechheit gefragt gewesen (During 1998).

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wirklichung als zentralen Werten kam, setzte in den 1980er Jahren eine Renaissance des Utilitarismus ein und die Selbstverwirklichungs-Werte fingen an, in die Konsumwelt einzudringen. AuBerdem begann die Soziologie, sich dem individualisierten Zeitgeist zu offhen. Das Jahr 1983 kann dabei als Markierungspunkt stehen. 1983 erschienen die ersten Aufsatze, mit denen die erstaunliche Erfolgsstory der neueren Individualisierungsdiskussion begann.23 Das individualisierte Bewusstsein kommt nun auch in der Soziologie an. Das Jahr 1983 markiert gleichzeitig die Abkehr der Soziologie von der marxistischen Klassentheorie und dem Marxismus tiberhaupt. Zufallig ist es auch das Jahr, in dem die CDU/ FDP-Regierung unter Helmut Kohl erstmals die Wahlen gewann. Auch in anderen Landern endete eine Ara der Sozialdemokratie und begann der Aufstieg des Neoliberalismus, am deutlichsten in England (Margret Thatcher) und in den USA (Ronald Reagan). Die Popularisierung der Individualisierungsthese, das Wiedererstarken des okonomischen Individualismus und die Renaissance der Rational-ChoiceTheorien begannen, sich gegenseitig zu verstarken. Auch UNDINE EBERLEIN geht davon aus, dass die sozialwissenschaftliche Individualisierungsdiskussion seit 1983 Ruckwirkungen auf die Kultur hatte, wenn auch in der fur die Massenmedien ublichen verkiirzten Form. Deshalb sei dort manchmal nur die Formel 'mehr Freiheiten' (statt soziale Abhangigkeit) angekommen, manchmal nur 'mehr Egoismus' (statt Solidaritat und Gemeinschaft). Inzwischen heiBe es immer haufiger: 'Mehr Eigenverantwortung' (statt Sozialstaat). Die Frage liegt dann nahe, ob die Individualisierung in ahnlicher Weise zum Erfolg des Neoliberalismus mit beigetragen haben konnte, wie der Puritanismus - folgen wir Max Weber - zum Steigbtigelhalter des Kapitalismus wurde (ohne es zu wollen oder zu wissen) und der Feminismus in entsprechender Weise zur Hilfskraft der Kommerzialisierung von Intimitat, wie Hochschild (2003) vermutet. Seit den 1980er Jahren nimmt auch in der Medien- und Konsumwelt der Einfluss der individualistischen Ideen zu. Dabei ist die Privatisierung des Fernsehens von Bedeutung, die nicht nur die Orientierung am Individuum - am 'Menschen', der aus sich selbst heraus wird, was er ist — gefordert hat, sondern auch die expressive Seite des Individualismus im Sinne einer offentlich werdenden Bekenntnis- und Gestandniskultur. Allerdings - wie schon erwahnt -, geht es bei der medialen Selbstdarstellung nicht mehr um Authentizitat, sondern allenfalls um die Illusion von Authentizitat, nicht um ehrliche Selbstdarstellung,

23 Aufsatze von Beck, Beck-Gernsheim, Kohli u.v.a.; ein Teil von ihnen gesammelt in Beck/ Beck-Gernsheim (1994).

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sondern um mediale Inszenierung. Es geht also gerade nicht um Echtheit, sondern um das raffinierte - echt wirkende - Spiel mit einer Rolle. Aber auch dies will gelernt sein, man muss dazu sich selbst gut kennen und sich gut kontrollieren konnen beziehungsweise es mussen, wie bei Prominenten-Autobiografien, schreibende Experten fur 'authentische' Selbstdarstellung herangezogen werden. In diesem Sinn ist das Fernsehen auch ein Produktionsfeld von Mustern und Modellen des Selbst. JAN REINHARDT vertritt die These, dass die Massenmedien in der Moderne als Generatoren von Identitatsmustern und als Spiegel der Person fungieren. Sie zeigen uns zum Beispiel, wer wir sein konnten, sie ftihren Ideal-Identitaten vor. Manche Medienfiguren werden, wie man weiB, als Interaktionspartner missverstanden. Die Veranderung der Fernsehkultur passt gut zu den Veranderungen der Freizeit- und Konsumkultur seit den 1980er Jahren, wo die Imperative der Selbstthematisierung und Selbstverwirklichung, die sich ja zunachst in den 'Gegenkulturen' und Subkulturen entwickelt und den 'Konsumterror' bekampft hatten, immer mehr heimisch wurden. Selbstverwirklichung wurde immer haufiger im Bereich des Konsums gesucht. Die Popkultur bietet dafur viele Anschauungsbeispiele. Selbstverwirklichungs- und Konsumhedonismus 'verbundeten' sich gewissermaGen, mit dem Ergebnis des Entstehens einer 'SpaB-' oder 'Erlebnisgesellschaft' in den 1980er Jahren, als die letzten Reste von klassischer linker Konsumkritik und Kulturindustriekritik verschwanden. Analysen wie jene von Colin Campbell machen aber deutlich, dass der in die Konsumsphare eingezogene Hedonismus kein blinder Konsumismus war, sondern ein imaginativer Hedonismus, der ein innovatives und kreatives Potential mit sich fuhrt (Campbell 1987).25 Gleichwohl wird man sagen konnen, dass sich der Konsumkapitalismus in gewisser Weise den Individualismus zu eigen gemacht hat. Folgen wir UNDINE EBERLEIN, SO hat er aus der Individualist eine serielle Einzigartigkeit gemacht, wie etwa an der Serienproduktion mit individuellen Styling-Unterschieden abgelesen werden kann. Dagegen konnte, so ihre Hoffhung, der romantische Indi-

24 Aufgrund eines weiterhin aufrechterhaltenen Wahrheitsanspruchs kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Authentizitatsanspruch und Aufmerksamkeitszwang. So wurden zum Beispiel in den letzten Jahren in den Nachmittags-Talkshows fur Jugendliche zunehmend Schauspieler start „echte Gaste" eingesetzt; und auf dem Buchmarkt scheint es eine Tendenz zu geben, start wahren Geschichten erfundene Geschichten zu publizieren: „abenteuerliche Autobiografien", „Leidensbiografie" oder „Lebensbeichte" - sie miissen nicht echt oder wahr sein, aber „glaubwurdig" (vgl. DER SPIEGEL, Nr. 30,21.7.2003,44). 25 Auch Eva Illouz' Studie tiber den Konsum der Romantik (2003) zeigt, dass die einfache These einer Kommerzialisierung der Emotionen nicht haltbar ist.

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vidualismus ein Gegengewicht darstellen, well er einen reflektierten Eigensinn der Individuen ermoglicht und motiviert und somit ein Widerstandspotential bereithalt, das sich einem „fiktionalen Element" des romantischen Individualismus verdanke, namlich der Behauptung einer „normativ bedeutsamen Einzigartigkeit jedes Menschen". Auch HANNELORE BUBLITZ beleuchtet das Spannungsverhaltnis zwischen Macht- und Manipulationsstrukturen und dem Widerstand der Subjekte, wie es sich in globalisierten asthetischen Konsumwelten darstellt. Der globale Konsumkapitalismus erzeuge eine Illusion von Selbstfmdung oder Selbsterflillung im Konsum und fordere die expressive Selbstinszenierung durch Mode und Lifestyle. Deutlich wird aber auch, dass Selbstverwirklichung im Konsum zugleich Selbstmanagement im Sinne von Selbstvermarktung ist. Als Illustration dient das Beispiel der Magic Mirrors, einer Art Kombination aus Spiegel und Video-Bildschirmen in Modekaufhausern, wo die Kunden sich von mehreren Seiten sehen und mit Models vergleichen konnen. Die Bildschirme mussten jedoch bald wieder abgebaut werden. „Die Kunden fiihlten sich nicht angezogen, sondern verunsichert", wie eine Zeitung kommentierte. Der Spiegel musste ausgeschaltet werden: Erfolgreicher Widerstand autonomer Subjekte gegen den Zwang zur Selbstvermarktung und gegen den Zwang zur Normierung durch Stylisten und Designer?

7. Funktionen der Selbstthematisierung und ihre Bedeutung fur Liebe und Partnerschaft Aus einer fimktionalistischen Perspektive lasst sich konstatieren, dass die moderne Gesellschaft autonome und reflexive Individuen benotigt, also Personen mit individualisierter Identitat und reflexivem Subjektivismus (Schimank 2002). Eine eher kritische Interpretation wtirde dagegen vermuten, dass es bei der Steigerung von Selbstthematisierung letztlich um die Ausweitung gesellschaftlicher Kontrolle als Selbstkontrolle geht. In der Perspektive von Foucault ist damit jedoch immer auch Subjektivierung verbunden. Eine andere Funktionsbestimmung der Selbstthematisierung betont die Subjektwerdung durch die Suche nach Aufmerksamkeit. Dies ist eine These von MARKUS SCHROER, der ein verstarktes Streben nach Aufmerksamkeit, nach Bestatigung fur das eigene Selbst, konstatiert. Eine der zentralen Streitfragen der Individualisierungsdiskussion wird auch im vorliegenden Band erneut aufgegriffen: Gibt es einen die ganze Gesellschaft umgreifenden Trend zur Bekenntnis- und Selbstthematisierungskultur oder ist 26

sie doch eher auf ein Milieu oder auf bestimmte Tragergruppen beschrankt. Anders gefragt: Gibt es „Virtuosen der Selbstthematisierung"? (GUNTER BURKART, MELANIE FROHLICH, MARLENE HEIDEL,VANESSA WATKINS) Man konnte beim Kern einer solchen Gruppierung an Singles denken, die getrennt leben (Burkart 2004). Man konnte auch an Homosexuelle denken.26 Wie auch immer diese Frage beantwortet wird - eines durfte klar sein: Im Rahmen von Paarbeziehungen, die vom Partnerschaftsdiskurs beherrscht sind, wie er sich in der Folge der Therapie-Kultur entwickelt hat, ist auch virtuose Selbstthematisierung hilfreich. Der Partnerschaftsdiskurs fordert, wie gesagt, eine Reihe von Eigenschaften wie Authentizitat, Aufrichtigkeit, Offenheit, Gesprachsbereitschaft und so weiter - Partnerschaftsnormen, die besser zu erfullen sind, wenn Selbstthematisierungskompetenz vorhanden ist.27 Gilt das auch fur die Liebe? In Paarbeziehungen sind, wie Alois Halm herausgefunden hat, Konsensfiktionen am Werk (Hahn 1983). Folgen wir BRUNO HlLDENBRAND, dann sind auch Dissensfiktionen moglich. Diese seien eher dort zu erwarten, wo der Konsens der Normalfall ist, weil die Liebe regiert. Dissensfiktionen wtirden „fur jenes MaB an Distanz, auf das das moderne Subjekt angewiesen ist, soil es in der Paarbeziehung nicht untergehen", garantieren. Dagegen spielten Konsensfiktionen eher beim Modus der Partner•schaft eine Rolle. Die moderne Partnerschaft betont ohnehin die Individualitat beider Partner, das Trennende, eine gewisse Distanz. Partnerschaft tendiert, mit ihrer Logik der Rationalitat (Verhandlung, Vereinbarung), immer zum Dissens - oder zum Zweck-Kompromiss, was zwar fur Politik (Koalition, TarifVerhandlungen usw.) brauchbar sein mag, fur Paarbeziehungen aber ein Problem darstellen konnte. Dieser Tendenz zum Dissens konne durch Konsensfiktionen entgegengewirkt werden. Mit Selbstthematisierung und der Liebe des Paares befasst sich auch HOLGER HERMA. Er geht aus von der engen historischen Verbindung von romantischer Liebessemantik und Individualitat und fragt nach Veranderungen generationsspezifischer Muster der Selbstthematisierung in der Liebe in den letzten Jahrzehnten. Dabei kann er auf Ergebnisse einer eigenen Generationsstudie

26 Florida (2002) stellt fest, dass im Kern der „kreativen Klasse" die Homosexuellen eine starke Stellung innehaben. Dies ist im Prinzip lange bekannt. Fur Foucault und Giddens reprasentiert das homosexuelle Paar am besten die Kultur der Selbstthematisierung - in Form des Partnerschaftsideals -, weil es weniger Probleme mit alten Geschlechtsrollenfixierungen hat. 27 Es geht dabei vor allem um die kommunikative Kompetenz, iiber sich selbst zu reden und vielleicht mehr noch -, den anderen zum Sprechen zu bringen. Einer der haufigsten Ratschlage in der entsprechenden Ratgeberliteratur lautet ja: „Keine Vorwtirfe machen, sondern den anderen fragen, wie es kam, dass er sich so und so verhalten hat".

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zuriickgreifen. HERMA halt im Prinzip an der These fest, dass Liebe noch nicht durch Partnerschaft abgelost wurde, dass es sich bei alien Generationsmustern um Varianten oder Ausdrucksformen der romantischen Liebe handelt; und dass diese eng mit Individualist und Subjektivitat verkntipft ist. Die romantische Liebe sei daher ein Medium des 'romantischen Individualismus'. Es scheint, dass die romantische Liebessemantik bis heute so erfolgreich ist, weil sie das Versprechen enthalt, dass das Subjekt in der Liebe zu sich selbst findet; und gegen die Diffusions- und Fragmentierungserfahrungen der Moderne und Postmoderne seine ganzheitliche Identitat erfahrt und findet. Luhmann sah in der Liebe die Suche des Subjekts nach einer „Validierung der Selbstdarstellung" (Luhmann 1982: 208). Liebe verspricht authentisches Ich-Erleben. Aber das Individuum muss dieses Versprechen sozusagen selbst einlosen, durch Selbstreflexion, weil der Code die Antwort nicht mehr vorgibt.

8. Veralltaglichung und Demokratisierung. Autobiografie fur jedermann und die neuen Medien Die Suche nach neuen Institutionen der Selbstthematisierung verweist auf Tendenzen der Veralltaglichung und Demokratisierung. In zwei Bereichen scheint dies besonders deutlich: Bei der neuen Praxis der Autobiografie und bei den neuen Medien der Postmoderne. Frtther schrieben nur wenige herausragende Personlichkeiten eine Autobiografie oder gar ihre Memoiren. Heute hat sich diese Praxis verbreitet, wie BETTINA VOLTER und WOLFGANG KRAUS zeigen. „Wir fertigen das Buch ihres Lebens" oder „Warum sollen sich nur Prominente in Memoiren verewigen? Ihr Leben ist genauso interessant" - so werben Firmen, bei denen ganz normale Durchschnittsmenschen ihre Autobiografie veroffentlichen oder schreiben lassen bzw. Anleitungen zum Schreiben holen, wie BETTINA VOLTER berichtet. Das Geschaft boomt. Die „Dienstleistung des biografischen Ghostwriting" ist ein „Berufsfeld mit erfolgversprechender Zukunft". Daran hat, wie VOLTER schreibt, auch die Biografieforschung einen gewissen Anteil. Man kann deshalb die marktorientierte Biografie-Dienstleistung und die wissenschaftliche Biografieforschung, insbesondere mit ihrem Erhebungsinstrument des narrativen Interviews (das so gesehen ein Produktionsinstrument von Biografien ist), als zwei neue Biografiegeneratoren bzw. Formen biografischer Selbstthematisierung betrachten. Auch WOLFGANG KRAUS, der sich mit Ratgebern flir autobiografisches Schreiben befasst, geht davon aus, dass die Veralltaglichung biografischer Selbstreflexion zunimmt. Der Selbstinszenierung in einer Autobiografie, so seine These, liegt ein normatives Modell von Identi28

tatskonstruktionen zugrunde. KRAUS fragt nach Veranderungen dieser normativen Rahmung und den narrativen Formen, in denen dies geschieht, nach Veranderungen der Begriindungsstrukturen fur die normativ akzeptable Selbstreflexion in Form der Autobiografie. Aus der Mode kommt nicht die Autobiografie als solche, sie verliert aber ihren Status als Ausdruck des biirgerlichen Subjekts: Narrative Koharenz ist heute nicht mehr unbedingt notig und sogar fiktionale Mittel sind zum Teil erlaubt. Das Problem der Demokratisierung lasst sich auch an der Frage erortern, ob das Internet und andere neue Medien tatsachlich neue Formen der Selbstthematisierung ermoglichen, denn im Unterschied etwa zur Psychoanalyse oder auch der klassischen Autobiografie sind diese Medien im Prinzip alien zuganglich, auch wenn es empirische Evidenzen fur die gegenteilige Behauptung eines Digital Divide gibt, demzufolge das Internet neue Ungleichheiten produziere. HERBERT WILLEMS und SEBASTIAN PRANZ sehen beim Ubergang von alten zu neuen Institutionen der Selbstthematisierung bestimmte Transformationsprinzipien am Werk, die sie mit dem Begriff der Theatralisierung zu erfassen suchen. Sie betrachten die Kommunikation in den Chatrooms des Internet in gewisser Weise als einen historischen Nachfolger von Beichte, Psychoanalyse und Gruppentherapie. Allerdings ist offensichtlich, dass es dabei eine Reihe markanter Unterschiede zu den alteren Formen gibt. Zum Beispiel handelt es sich um eine korperlose Fern-Kommunikation; oder es steht bei der „Selbstkonstruktion" (durch Nick Names) weder eine Biografie noch ein Authentizitatsanspruch im Hintergrund: „Das schlieBt eine Bekenntniskultur im klassischen Sinn mehr oder weniger aus". Dennoch, so glauben die Autoren, bote sich „in diesem inszenatorischen Spielraum das vielleicht grofite Potential der Exploration von Selbstkonzepten". Auch MARKUS SCHROER befasst sich mit neuen medialen Praktiken und stellt dabei Tendenzen der Universalisierung fest - Selbstthematisierung als ein Trend, der alle Schichten erfasse. Zweifellos sind manche dieser neuen Formen auBerhalb der klassischen Bildungselite entstanden, einige sind geradezu Spezialitaten des 'Unterschichtenfernsehens'(Harald Schmidt), wie etwa die TrashTalkshows oder die Gerichts-'Shows'. Hier geht es um reine Inszenierungen, fern von Authentizitat und Selbstreflexion. Die neuen Medien sind Teil einer neuen postmodernen Bildkultur, einer Visual Culture, wo es starker um Gesehenwerdenwollen und Selbstprasentation geht. Selbstthematisierung wird 6ffentlich und expressiv. Bietet schon die private Homepage die Moglichkeit, von sich selbst auch Bilder zu prasentieren - nicht mehr nur: So bin ich, so empfmde ich, das macht mich aus; sondern: so sehe ich aus -, so kommt dies noch deutlicher zum Ausdruck bei der Praxis, private Videos und Fotos im Internet publik 29

zu machen. Besonders groB ist die Distanz zur klassischen Selbstthematisierung im bildungsbiirgerlichen Sinn beim Phanomen des Happy Slapping, auf das SCHROER ebenfalls hinweist. In der Diskussion um die neuen Medien zeichnen sich bei der Frage, welches die neuen Leitmedien der Selbstthematisierung werden konnten, zwei Entwicklungsrichtungen ab: entweder Sprache oder Bild, Chatten oder Video, sprachliche Selbstreflexion oder visuelle Selbstdarstellung. Anders gesagt: Beichtstuhl und Couch werden zunehmend verdrangt entweder vom Chatroom oder vom Laufsteg. Nimmt man die Laufsteg-Metapher ernst, konnte man, im Anschluss HANNELORE BUBLITZ auch sagen: Das Subjekt, das heute sein Selbst auf dem „Laufsteg" zu finden versucht (statt im Beichtstuhl oder auf der Couch), schaltet im Moment seiner Ausleuchtung den Spiegel aus (den es eigentlich braucht, um sich im Blick der Anderen iiber sich selbst zu vergewissern), weil dieser Magic Mirror die Imagination zerstort, die darin besteht, sich zu vervielfaltigen. Kenneth Gergen (1991) beschreibt das Selbst in der Postmoderne als „ubersattigt", als Folge der Kommunikations-Technologien (Telefon, Fernsehen), die uns aus lokal-gemeinschaftlichen Bindungen immer starker herausreiBen und uns global vernetzen. JEFF STEPNISKY schlieBt hier an und befasst sich mit Transformationen des Selbst im Kontext des postmodernen Raumes. Er erganzt Gergens Vorstellung des elektronischen Raums mit dem Konzept der Nicht-Orte (Auge 1994). In gewisser Weise lost sich durch die technischen Medien der Kommunikationsraum auf, es entstehen virtuelle, elektronische Raume der Telekommunikation. Welche Konsequenzen ergeben sich fur das Selbst: Werden wir einsam an den Nicht-Orten? Oder ermoglichen sie uns, „hyper-reale Selbste" zu kreieren, stimuliert durch die phantasmagorische Umgebung von Werbung und Konsumkultur? Offenbar entsteht durch die neuen Medien etwas Neues, das nicht mehr in die historische Linie der Selbstreflexion des burgerlichen Subjekts passt - eine Tradition, die ihren Hohepunkt in der klassischen Psychoanalyse gefunden hatte. Der Unsicherheit in der Diskussion um die neuen Medien korrespondiert eine Unsicherheit hinsichtlich des aktuellen Status der Psychoanalyse. Fur manche Beobachter ist die Psychoanalyse schon langst untergegangen und mit ihr der ganze Psychokult. Die zahlreichen Berichte zum Freud-Jahr 2006 waren dann nur noch historisierende Rituale der Erinnerung an einen Klassiker gewesen, der

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genial war, aber inzwischen uberholt ist.28 Mehrere Entwicklungen scheinen sich zu iiberkreuzen, die verschiedene Strange der Selbstthematisierung betreffen. Zunachst gibt es Anzeichen dafur, dass Selbstreflexion durch visuelle Selbstdarstellung abgelost wird. Postmoderne Identitatsspiele und andere neue Formen der Selbstdarstellung im Internet verweisen zusatzlich auf eine mogliche Demokratisierung der Selbstthematisierung, aber eben auch auf ihren Formwandel, den die klassische Reflexionselite vielleicht zu ignorieren sucht. Der Kampf um Aufmerksamkeit (Franck 1998) vollzieht sich fllr verschiedene Milieus auf unterschiedlichen Kanalen: Wahrend die einen immer noch um Reputation im traditionellen Sinn bestrebt sind, finden andere es wichtiger, prominent zu sein, und die jugendlichen Nutzer des demokratisch-anarchischen Internet gehen dabei zum Teil ganz neue Wege, bis hin zu fragwtirdigen Formen der Auftnerksamkeitssuche. Wir mtissen offenbar weiter daruber nachdenken, ob solche doch recht unterschiedlichen Phanomene - btirgerliche Selbstreflexion, postmodernes Identitatsspiel, innovative Praktiken der Suche um Aufmerksamkeit - mit ein und dem selben Begriffsinstrumentarium bearbeiten werden konnen.

9. Arbeit und Selbstverwirklichung In den letzten Jahren verstarken sich die Hinweise, dass auch in der Arbeitswelt die Kultur der Selbstthematisierung an Einfluss gewinnt. Zunachst noch eher unter Stichworten wie Subjektivierung, Autonomie und Flexibilitdt (VoB/ Pongratz 1998; Sennett 1998) gefasst, geht es heute zunehmend um Kreativitdt (Boltanski/ Chiapello 2003; Florida 2002). Es scheint, dass der Bedarf nach flexiblen, kreativen Individuen, die iiber Selbstreflexions-Kompetenzen verfugen und die bereit sind, die Grenze zwischen Berufs- und Freizeit aufzulosen, wachst. Neue Wirtschaftsbereiche und Berufsfelder sind entstanden, in denen eine selbstreflexive Berufsidentitat gefragt ist, die weniger stark als fruher zwischen privatem und beruflichem Selbst trennt (Hochschild 1997), und wo Tugenden wie Kreativitat, Hedonismus und Selbstverwirklichung erwartet werden,

28 Diese Meinung gilt fur weite Bereiche der Psychologie und naturlich auch fur die neuen 'Lebenswissenschaften' (Gehirnforschung, Evolutionspsychologie, Soziobiologie usw.). Fiir Zaretsky (2004) hat die Psychoanalyse ihren HOhepunkt in den 1960er Jahren erreicht und befindet sich seither im Niedergang. Genauer gesagt: Sie habe sich auf der einen Seite den Neurowissenschaften und der Pharmakotherapie angenahert; auf der anderen Seite habe sie sich vom Ethos der Selbstreflexion gelOst und damit ihren Status einer Kulturtheorie aufgegeben.

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die einstmals in Opposition zum biirgerlichen Arbeitsethos standen. Der „neue Kapitalismus" praferiert Personlichkeiten, die sich ganz auf die Arbeit konzentrieren kftnnen, bei der sie sich selbst verwirklichen konnen und genau dadurch dem Kapitalismus zu neuem Erfolg verhelfen. Besonders das Berufsbild des Managers hat sicli verandert. Manager, so scheint es, mussen heute, neben den herkommlichen Kenntnissen in Betriebswirtschaftslehre, uber reflexive Kompetenzen verfugen, fur deren Erwerb sich bestimmte Formen des Coaching und des Selbstmanagement entwickelt haben, die weit genug vom Therapie-Diskurs entfernt sind, um in der Wirtschaft akzeptiert zu werden. Mit dem Eindringen von Elementen des Selbstverwirklichungsdiskurses in die Sphare der Erwerbs- und Berufsarbeit ist eine Transformation der therapeutischen Kultur der Selbstreflexion in eine Kultur der Beratung und des Coaching zum Zweck vorteilhafter Selbstdarstellung auf einem weiter individualisierten Arbeitsmarkt ('Selbstmanagement,) verbunden. Ein seltsames Amalgam aus alten Idealen der Hippie-, Therapie-, Selbstverwirklichungs- und Achtundsechziger-Bewegung mit neoliberalen Werten ist hier entstanden.29 In den 'Karriere'-Beilagen der Tageszeitungen fmden sich standig Hinweise darauf, wie wichtig das Selbst-Management ist, und es gibt zahlreiche Anzeigen zu 'Selbst-Coaching'-Seminaren. In einem Weiterbildungsmagazin fur Manager war kurzlich zu lesen: „Beratung von Ich zu Ich: Werden Sie Ihr eigener Coach - Warum Selbstcoaching heutzutage unabdingbar ist".30 Man konnte vermuten, dass es hier um bloBe Ideologie geht (im Sinne des paradoxen 'be creative'), derm in der selben Ausgabe des genannten Magazins (S. 68 f.) gibt es auch einen kurzen Bericht uber „Die unterschatzten Fahigkeiten". Dort heiBt es u.a., dass in Stellenanzeigen fur Manager meist „Kreativitat, Teamf&higkeit und Durchsetzungsvermogen" gefragt sei - „weniger glamourose Eigenschaften wie Disziplin, Geduld und Frustrationstoleranz finden indes kaum Eingang in Stellenanzeigen und den Karriereberatern, klingen sie doch langweilig, spiefiig, verstaubt und irgendwie nach Arbeit". Und weiter heiBt es dann, dass diese Fahigkeiten gleichwohl sehr wichtig seien. Boltanski/ Chiapello behaupten in ihrer Untersuchung uber den „neuen 29 Wahrend Flexibility und Autonomic eher auf den Neoliberalismus verweisen, lassen sich fur Kreativitat unterschiedliche historische Quellen ausmachen: Kunstlerkritik (Boltanski/ Chiapello 2003) und Boheme; Therapie und Achtundsechziger-Kultur. Florida (2002) vermutet eine Fusion zwischen Hippie- und Boheme-Kultur und dem Milieu der Techniker und Computerfreaks im Silicon Valley, wahrend Brooks (2001) eher die Verbindung von Bildung und Boheme hervorhebt. 30 managerSeminare, Nr. 100 (Mi 2006), S. 40 ff. Hier finden sich auch Annoncen fur „interkulturelles Selbst-Coaching".

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Geist" des Kapitalismus, dass es diesem seit den 1980er Jahren gelungen sei, sich die zunachst anti-kapitalistischen Ideen der Selbstverwirklichung und Kreativitat zu eigen zu machen, sie in sein Rechtfertigungssystem zu integrieren und so eine neue Akzeptanz auch bei seinen ehemaligen Gegnern (den Achtundsechzigern) zu gewinnen. Manche gehen noch weiter und behaupten, dass nun die Achtundsechziger selber den Kapitalismus fuhren (Brooks 2001). Das neue Modell der kapitalistischen Arbeit ist flir Boltanski/ Chiapello das Projekt, wichtig ist die Fahigkeit, in Projekten zu arbeiten. Projekte aber sind immer nur von begrenzter Dauer. Der neue Erfolgsmensch „verzichtet darauf, lebenslang ein einziges Projekt (eine Berufung, einen Beruf, eine Ehe etc.) zu verfolgen. Er ist mobil. Nichts darf seine Bewegungen beeintrachtigen" (Boltanski/ Chiapello 2003: 169). Wie kommt es nun, dass die alten Ideale aus den Zeiten der Kulturrevolution - Autonomie, Authentizitat, Kreativitat -, die sich nicht zuletzt gegen Leistungsgesellschaft und Kapitalismus richteten, eben diesem Kapitalismus anscheinend zu neuem Erfolg verholfen haben? Wie kommt es, dass die neuen Leistungseliten der kapitalistischen Wirtschaft genau jene Personlichkeitseigenschaften besitzen oder besitzen sollten, die von den Revolutionaren der Achtundsechziger-Zeit gegen die alten Leistungseliten in Anspruch genommen wurden? Mit diesen Fragen befasst sich auch CARL SASSE in seinem Beitrag in diesem Band. Abgesehen vom Wertewandel, der sich auf noch nicht ganz geklarte Weise auch in der Wirtschaft durchgesetzt hat, durften fixr den Bedeutungszuwachs von Selbstthematisierung im mittleren und hoheren Management der Wirtschaft jedenfalls auch Gkonomische Erfordernisse und innerbetriebliche Entwicklungen eine wichtige Rolle gespielt haben („Humanisierung der Arbeitswelt", Abbau von Hierarchien, Teamarbeit, mehr Flexibility und Entscheidungsmoglichkeiten auf alien Ebenen), die Innovationsfahigkeit und Kreativitat zu neuen Tugenden machten, wie SASSE argumentiert. Zu vermuten ist aber auch, dass es primar Kultur- und Medien-Berufe waren, in denen Selbstverwirklichungs-Werte zuerst in die Arbeitssphare eindringen konnten, in jenen Branchen also, die auch uber Werbung besonders eng mit der Konsumsphare verkniipft sind. Mit dem Bedeutungszuwachs der Werbebranche (Koppetsch 2005), dem Aufstieg der „kreativen Klasse" (Florida 2002), dem Aufkommen „neuer Kulturvermittler" (Koppetsch/ Burkart 2002) konnte sich das neue Arbeitsethos durchgesetzt haben. Ohnehin scheinen 'Kreative', Berater und Manager an gesellschaftlichem Ansehen zu gewinnen. So werden zum Beispiel Vertretern kreativer und beratender Berufe auch zunehmend zeitdiagnostische Kompetenzen zugeschrieben werden. Unternehmensberater dtirfen immer haufiger in den Medien den Zustand der Gesellschaft erklaren: Ro33

land Berger wird von Journalisten kurzerhand zum Sozialtheoretiker gekiirt. 10. Unverwechselbarkeit 1972 wurde ein Kinderbuch veroffentlicht, in dem die Geschichte eines seltsamen Tieres erzahlt wird, das keiner Tiergattung angehort „und daher nicht weiB, wer es ist" (Hennig 1989: 7). Seine 'Selbstsuche' ist die Suche nach einem Tier, das ihm ahnelt. Aber es findet kein solches. Es findet seine soziale Identitat nicht und ist unglticklich. Doch es kommt zu einer glticklichen Wendung. Das Tier entdeckt plotzlich: Ich bin ich. Und nun wird es als solches Ich-bin-Ich-Tier auch von den anderen Tieren akzeptiert, weil es sich selbst nun akzeptiert nicht als ein Gattungswesen, sondern als ein unverwechselbares Ich. Diese Geschichte verweist auf den historischen Wandel von der Inklusionszur Exklusions-Individualitat, von der sozialen zur personalen Identitat. Die Suche nach sozialer Einbindung, Anerkennung und Identitat wird schwieriger in einer sich individualisierenden Welt. Aber diese neue Welt bietet auf semantischer Ebene auch eine Losung an. DasfreigesetzteWesen findet schlieBlich zu sich selbst, als ein unverwechselbares Individuum. Wir alle sind heute einzigartige Individuen, jedenfalls in unserem Selbstverstandnis. Es ist schwer, gegen diesen Konformismus der Einzigartigkeit anzugehen. Aber es gibt Beispiele. In dem Monty-Python-Film „Das Leben des Bryan" gibt es eine Szene, wo Bryan zu der Menge sagt: „Ihr seid alle unverwechselbare Individuen". Und die Menge antwortet: „Wir sind alle unverwechselbare Individuen". Nur einer sagt: „Ich nicht!". Unser Band schlieBt mit einem Beitrag von ALOIS HAHN, der ja wesentliche begriffliche Grundlagen fur die hier verhandelte Problematik der Selbstthematisierung beigesteuert hat. Hier geht es ihm um die Frage der Indikatoren flir Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit. Das btirgerliche Subjekt neigte dazu, den Anspruch darauf durch besondere Ansichten, Maximen und Tugenden oder, als Kunstler, durch seine einzigartige Genialitat, zu verwirklichen. Im Zeitalter des expressiven Individualismus dagegen riickt die korperliche Dimension starker in den Vordergrund. Immer mehr Menschen statten ihre Korper mit Zeichen der Unverwechselbarkeit aus, die manchmal wie Brandzeichen wirken (Piercing, Tattoo), die aber auch, mit zunehmender Verbreitung, ahnlich wie andere leicht veranderbare modische Accessoires alle Merkmale serieller Einzigartigkeit aufweisen. Sogar die amerikanische Einwanderungsbehorde, die seit den Anschlagen im Jahr 2001 von samtlichen Einreisenden Zeichen der Unverwechselbarkeit sammelt, verlasst sich bei der Identifikation auf korperliche Merkma34

le: Iris-Foto und Fingerabdruck. HAHN schlagt einen Bogen von diesen aktuellen Erscheinungen zuriick zu den Narben des Odysseus und den Wundmalen Christi und verweist so auf eine tiberraschende Kontinuitat in der Bedeutung des Korpers fur die soziale und personliche Identitat.

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Markus Schroer Selbstthematisierung. Von der (Er-)Findung des Selbst und der Suche nach Aufmerksamkeit „Mir geht nichts iiber mich!" (Max Stirner) „Ich bin einer der Vielen, und das gerade finale ich so seltsam." (Robert Walser) „Ich will, dass man mich ansieht, sonst glaube ich nicht, dass es mich gibt." (Lola Ferrari)

Einleitung Das Thema Selbstthematisierung hat eine lange Geschichte. Es lasst sich bis in die Antike zurtickverfolgen, hat von Augustinus liber Montaigne bis Rousseau bertihmte Vorbilder hervorgebracht und in der Diskussion um die Postmoderne eine wahre Konjunktur erlebt (vgl. Foucault 1989a, 1989b; Taylor 1996; Vester 1984). Sind es zunachst vor allem religiose Zusammenhange, die eine Selbsterforschung und -befragung auf den Plan rufen, kommen spater auch rechtliche und politische Zusammenhange hinzu, in denen es um Selbstthematisierung in Form von Bekenntnissen und Gestandnissen geht (vgl. Hahn/ Kapp 1987). Heute denken wir bei Selbstthematisierung langst auch an private Gesprache, therapeutische Diskurse und mediale Selbstprasentationen. Gewandelt haben sich tiber die Jahrhunderte sowohl Kontext, Funktion und Form der Selbstthematisierung als auch die Anzahl derer, die Selbstthematisierung betreiben. Hat man es zunachst mit einer kleinen Elite zu tun, die dazu in die Lage versetzt werden, sich reflektorisch auf sich selbst zu beziehen, so hat die moderne und erst recht die spat- bzw. postmoderne Gesellschaft gewissermaBen zu einer Demokratisierung und Veralltaglichung der Selbstthematisierung gefiihrt. Ohne ein Mindestmafl an Selbstreflexion, an einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Werden und Gewordensein kommt heute niemand mehr durchs Leben, selbst wenn er es wollte. Entgegen der immer wieder zu vernehmenden Annahme, dass auch gegenwartig nur einige wenige in die Lage versetzt werden, iiber sich selbst zu reflektieren, soil im Folgenden Selbstthematisierung als durchgangiger gesellschaftlicher Trend begriffen werden, der in den unterschiedlichen Milieus auf allerdings verschiedene Weise umgesetzt wird. Ob jung oder alt, reich oder arm, Mann oder Frau - der Alltag des modernern Individuums ist durchzogen von Situationen, in denen es Auskunft iiber sich selbst erteilt bzw. zu erteilen hat. 41

Mit der Anzahl derer, die ihr Selbst thematisieren konnen, diversifizieren sich auch die Formen der Selbstthematisierung. Neben bzw. an die Stelle der 'klassischen' Medien der Selbstbefragung wie etwa dem Tagebuch, dem Brief und den Memoiren, sind langst die Talk-Show, die Psychoanalyse und das biografische Interview getreten. Hinzu kommen in jtingster Zeit Chatrooms, Homepages und Weblogs im Internet. Neben diesen institutionalisierten Formen der Selbstthematisierung gibt es freilich auch nicht institutionalisierte, weil eher situative Formen der Selbstthematisierung in Privat-, Patienten-, Bewerbungs- und Behordengesprachen. Gelten nach traditioneller Sichtweise einschneidende biografische Ereignisse (Umztige, Heirat, Elternschaft) und Krisensituationen (Krankheit, Todesfall) als Ausloser von bilanzierenden Selbstthematisierungen, haben wir es gegenwartig mit Selbstthematisierungen zu tun, die auch bei geringeren Anlassen und in immer ktirzer werdenden Zeitabschnitten vorgenommen werden. Nicht mehr erst auf dem Sterbebett, aber auch nicht mehr nur von Jahrzehnt zu Jahrzehnt (vgl. Fuchs 1983: 396), sondern angesichts beliebiger biografischer Ereignisse wird Ruckschau auf das bisherige Leben genommen, werden bereits getroffene Entscheidungen problematisiert, neue Ziele ausgelotet, Moglichkeiten gegeneinander abgewogen, Prognosen ttber zukiinftige Entwicklungen erstellt usw. Selbst Verkaufsgesprache, ja sogar harmlose Fragen wie 'Wie geht es Dir?' kftnnen Selbstreflexionen in Gang setzen und zu umfangreichen Selbstauskiinften motivieren. These der folgenden Uberlegungen ist, dass es nicht nur zu einer gesteigerten Selbstthematisierung kommt, sondern zu einer verstarkten Suche nach Aufmerksamkeit fur die Belange des eigenen Selbst. Entscheidend geandert hat sich damit auch die Funktion der Selbstthematisierung. Mag sie einstmals der Sicherung der ewigen Dauer im Diesseits, dem Ruhm eines Ftirsten, der Erlangung jenseitigen Heils oder - wie in jtingster Zeit - der Heilung von psychischen Spannungen gedient haben (vgl. Hahn 1987: 17), so hat es aktuell oftmals den Anschein, als sei die Funktion der Selbstthematisierung die Selbstthematisierung selbst. Selbstthematisierung wird damit gewissermaBen selbstreferentiell, verweist nur mehr auf sich selbst, dient nicht mehr l&nger einem tibergeordnetem Ziel, sondern erfolgt zu dem alleinigen Zweck, die Aufmerksamkeit der anderen auf das eigene Selbst zu lenken, um gleichsam eine Bestatigung fur das eigene Selbst zu erlangen. Zwar werden mit dem Erzielen von Aufmerksamkeit oft weitere Ziele verbunden (Reputation, Erfolg, Karrierechancen), doch in diesem rein instrumentellen Sinne geht die Suche nach Aufmerksamkeit nicht auf. Entzug oder Erlangung von Aufmerksamkeit scheint in einer globalisierten Medien- und Informationsgesellschaft vielmehr ein entscheidender Exklusionsbzw. Inklusionsfaktor zu sein.

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Blickt man auf die bisherige Erforschung der Selbstthematisierung, so fallt der hohe Stellenwert narrativer Texte auf, wahrend eine Thematisierung des Selbst durch visuelle Medien ein Schattendasein ftihrt. Entsprechend des gegenw&rtigen „Pictorial turn" (Mitchell 1997) und des sich damit andeutenden Ubergangs von einer Schrift- zu einer Bildkultur steht heute jedoch nicht mehr langer nur ein GehSrt-werden-Wollen, sondern vor allem auch ein Gesehen-werdenWollen im Mittelpunkt der Selbstthematisierungspraktiken. Selbstthematisierung erfolgt nicht langer nur narrativ und verbal, sondern vermehrt auch visuell: durch Fotos und Filmaufhahmen von sich selbst, die mit der Verbreitung von Digitalkameras in erheblichem Mafle zugenommen haben. Dazu gehort, dass Selbstthematisierung nicht zwingend durch Introspektion, sondern auch durch Objekte und Dinge, bestimmte Wohnungseinrichtungen etwa, erfolgen kann. Auch mit der Wahl eines bestimmen Handys und bestimmter Klingeltone kann demonstriert werden, wie bzw. als was oder wer man gesehen werden mochte. Selbstthematisierung ist folglich nicht mehr langer als solipsistische Ubung ohne Zuschauer und Publikum vorstellbar wie beim traditionellen Tagebuchschreiber, auch richtet es sich nicht auf ein konkretes Gegenuber wie etwa beim Brief. Selbstthematisierung heute erfolgt vielmehr vor allem offentlich und expressiv, mit moglichst vielen Zuschauern bzw. vor moglichst groBem Publikum. Ich mochte diese These anhand der drei Beispiele Talkshows, private Homepages und private Video- und Digitalfilme erlautern, die als paradigmatisch fur Selbstthematisierungen in der gegenwartigen, visuellen Kultur angesehen werden konnen (2.). Zuvor soil die Selbstthematisierung in den Kontext des Individualisierungsprozesses gestellt werden. Dabei wird sich zeigen, dass vormoderne, moderne und postmoderne Gesellschaften ein je verschiedenes Individualists- und Identitatsverstandnis aufweisen, dem verschiedene Formen der Selbstthematisierung entsprechen (1.). AbschlieBend wird gezeigt, dass viele der gegenwartigen Formen der Selbstthematisierung nur vor dem Hintergrund des Kampfes um Aufmerksamkeit verstanden werden konnen, der in der Geschichte der Selbstthematisierung zwar von Anfang an eine Rolle gespielt haben mag, gegenwartig aber besonders intensiv gefuhrt zu werden scheint (3.). Als Grund fur diese Intensivierung wird die durch den Globalisierungsprozess sich verstarkende {Confrontation mit anderen Kulturen und konkurrierenden Lebensmodellen angenommen, die es besonders wichtig erscheinen lassen, eine Bestatigung der eigenen sozialen Relevanz zu erhalten.

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1. Individualisierung und die Geschichte der Selbstthematisierung: Von der Entdeckung iiber die Leugnung bis zur Vervielfaltigung des Selbst Die Geschichte der Selbstthematisierung ist ohne Individualisierungsprozess nicht denkbar. Ein verstarkter Bezug auf sich selbst, ein Thematisieren des eigenen Ich, kann nicht gedacht werden ohne einen strukturellen Prozess, der den Einzelnen aus traditionellen Abhangigkeiten befreit, die ihm weder die Zeit noch den Raum gelassen haben, sich mit sich selbst reflexiv zu beschaftigen. Allerdings ist Individualisierung so wenig wie Individualismus mit Selbstthematisierung einfach gleichzusetzen. Der Klage Max Webers (1988: 95) folgend, dass „der Ausdruck 'Individualismus' (...) das denkbar Heterogenste" umfasse, schlagt Michel Foucault (1989b: 58 ff.) deshalb vor, zwischen drei Entwicklungen zu unterscheiden: 1. die individualistische Einstellung, die die Einzigkeit des Individuums sowie seine Unabhangigkeit von Gruppen und Institutionen betont, 2. die Hochschatzung des Privatlebens und 3. die Intensitat der Selbstbeziehungen. Mit dieser Einteilung will Foucault der Gefahr entgehen, mit dem Hinweis auf Individualismus zu verschiedenen Zeiten die unterschiedlichsten Phanomene zu erklaren. Bei der Betonung der Einzigartigkeit des Individuums, der Hochschatzung des Privatlebens und der Intensitat der Selbstbeziehungen handelt es sich fiir Foucault um sehr verschiedene Phanomene, die keineswegs gleichzeitig auftreten miissen. Obwohl er dies prinzipiell fur durchaus moglich halt, weisen seine historischen Beispiele Falle aus, in denen wir es jeweils nur mit einem oder zweien dieser Phanomene zu tun haben. Die uns im vorliegenden Zusammenhang interessierenden Selbstbeziehungen definiert er als „Formen, in denen man sich selbst zum Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich nehmen soil, um sich umzubilden, zu verbessern, zu lautern, sein Heil zu schaffen" (ebd.: 59). Schon in der Antike findet Foucault Quellen fur die Beschaftigung des Einzelnen mit sich selbst. Die Suche nach dem Selbst und das Streben nach Selbsterkenntnis treten also keineswegs erst in der Moderne auf. Foucaults Untersuchung iiber die Geschichte der Sexualitat lebt allerdings von der These, dass von den beiden antiken Maximen „Achte auf Dich Selbst" und „Erkenne Dich selbst" im Zuge der Ausbreitung der christlichen Religion nur die letztere tiberlebt hat, wahrend die erste in Vergessenheit geraten ist. Das vorherrschende Modell der Moderne ist die Selbsterkenntnis und nicht die Selbstsorge (Foucault 1993: 31 ff.). Es gibt allerdings Anzeichen fur eine Renaissance des Gebots, sich um sich selbst zu kummern - und diese dtirften Foucault zu seiner umfassenden Studie motiviert haben (vgl. Schroer 2001: 81 ff). Vorerst gilt es festzuhalten, dass die ersten Selbstbiografien, die sich der Aufgabe der Selbsterkenntnis widmen, offenbar ausnahmslos in religiosen Kontexten entstehen. Und dies gilt nicht nur fur die elitaren und elaborierten 44

Formen der Selbstthematisierung, wie sie sich etwa in den „Bekenntnissen" des Augustinus niedergeschlagen haben (vgl. Augustinus 2004), sondern auch fur die dem gemeinen Volk zur Verfugung stehende Form der Selbstthematisierung: die Beichte. Ihre Verbreitung sorgt dafur, „daB in Europa die Massen zunachst nur im religiosen Kontext eine relevante biographische Identitat haben" (Hahn 2000: 108; vgl. Dinzelbacher 2001). Obwohl wir es in beiden Fallen zweifellos mit Selbstthematisierung zu tun haben, gilt als eigentliche Geburtsstunde der modernen Selbstbiografie das Erscheinen der „Bekenntnisse" von Jean-Jacques Rousseau (Rousseau 1985). Sie stellen so etwas wie die Initialziindung ftir die in der Folgezeit haufig vorzufindende Thematisierung des Selbst in Biografien und Romanen dar. Das sich bis heute groBer Beliebtheit erfreuende autobiografische Schreiben findet hier zum ersten Mai seinen umfassenden Niederschlag. Neu und modern gegentiber seinen zahlreichen Vorlaufern ist an dieser Schrift, dass wir es hier mit einem individualistischen Streben nach Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung zu tun haben, das in der langen Geschichte von Vorgangern noch undenkbar erschienen ware.1 Vor allem in den religios motivierten Selbstthematisierungen eines Augustinus geht es um die Reflexionen der Beziehung des Menschen zu Gott. Was wir vor Rousseaus Confessions in diesem AusmaB noch nicht finden, ist der unbedingte Anspruch auf Besonderheit, der gleich zu Beginn seiner Erinnerungen unmissverstandlich artikuliert wird: „Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausfiihrung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Einzig und allein ich. Ich bin nicht gemacht wie irgendeiner von denen, die ich bisher sah, und ich wage zu glauben, dafi ich auch nicht gemacht bin wie irgendeiner von alien, die leben. Wenn ich nicht besser bin, so bin ich doch wenigstens anders." (Rousseau 1985: 37)

Eine solche Betonung des individuellen Selbst als unverwechselbare Besonderheit - dartiber scheint in der Forschung weitgehend Einigkeit zu herrschen - hat es vor dem 18. Jahrhundert nicht gegeben. In diesem Sinne notiert Luhmann (1993: 174): „Weder in den Biografien noch in den Romanen findet man (...) vor dem 18. Jahrhundert nennenswerte Spuren moderner Individualitat." Die Betonung liegt dabei auf moderner Individualitat, verstanden als Besonderheitsindividualitat, die dem Unterschied gegentiber anderen Menschen eine vorher nicht gekannte Bedeutung beimisst:

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„Die modernistische Kultur ist die Kultur des Selbst par exellence. Ihr Zentrum ist das 'Ich', ihre Grenzen werden durch die Identitat festgelegt. Der Kult der Einmaligkeit beginnt, wie so vieles, in der Modernitat, bei Rousseau." (Bell 1973: 161)

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„In der Zeit vor dem spaten 18. Jahrhundert ware niemandem eingefallen, den Unterschieden zwischen den einzelnen Menschen ein derartiges moralisches Gewicht beizumessen. Es gibt eine bestimmte Art, Person zu sein, die meine Art ist. Ich bin aufgerufen, mein Leben in dieser Art zu leben und nicht das Leben eines anderen nachzuahmen. Diese Vorstellung verstarkt den Grundsatz, sich selbst treu zu sein. Bin ich mir selbst nicht treu, so verfehle ich die Aufgabe meines Lebens; ich verfehle das, was Humanitat fur mich bedeutet." (Taylor 1993: 19)

Allein in den Schriften Michel de Montaignes findet sich ein wichtiges Vorlauferunternehmen. Schon Montaigne begibt sich in seinen Essais im durchaus modernen Sinne auf die Suche nach seinem Selbst: „Die Welt sieht stats gerade vor sich. Ich, meines Theils, wende mein Gesicht zurilck, auf mein Innerstes. Ich richte dasselbe auf mich, und beschaftige es mit mir selbst. Ich habe mit nichts, als mit mir, zu thun. Ich betrachte mich ohne UnterlaB, ich priife mich, ich versuche mich." (nach Taylor 1996: 326)

Was Montaigne mit Rousseau verbindet, ist der gleich zu Beginn seiner autobiografischen Schriften erhobene Anspruch auf die unverstellte, ehrliche, nichts auslassende Selbstbeschreibung: „Ich will (...) dafi man mich hier in meiner einfachen, nattirlichen und alltaglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschonigung und Ktinstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. Meine Fehler habe ich frank und frei aufgezeichnet, wie auch meine ungezwungene Lebensfiihrung, soweit die Riicksicht auf die 5ffentliche Moral mir dies erlaubte." (Montaigne 1998: 5)

Allerdings verdichten sich seine Aphorismen noch nicht zu einer umfassenden Lebensbeichte wie bei Rousseau, so dass man den Beginn der Autobiografie noch immer zu Recht mit der Confessions beginnen lassen kann. Von dieser Ausnahme einmal abgesehen geht es vor dem Zeitalter der Aufklarung weniger um individuelle Besonderung als vielmehr um die Betonung der ZugehSrigkeit zu einer Religion, einer Klasse oder eines Berufsstandes (vgl. Lyons 1978; Luhmann 1993). In vormodernen Gesellschaften finden wir folglich noch keine Individualist im modernen Sinne. Denn das vormoderne Individuum ist gerade nicht an seiner Besonderheit, sondern an einem Allgemeinen orientiert (vgl. Bohn/ Hahn 1999: 40; Luhmann 1993: 178). Erst die Abweichung vom allgemeinen Schema, der Widerspruch zu einem erwartbaren Lebenslauf, bringt die Selbstthematisierung hervor und fuhrt zu einem legitimatorischen Selbstrechtfertigungsdiskurs, wie wir ihn etwa in den Bekenntnissen Rousseaus vorfmden. Insofern l&sst sich mit Alois Hahn (2000: 111) treffend von der „Geburt der Autobiografie aus der Erfahrung der Selbstentfremdung sprechen". Ausloser fur biografische Selbstthematisierungen sind oftmals Erschutterungen der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, die das Individuum zunehmend auf sich zuriickwerfen (vgl. ebd.: 113 f). So gesehen 46

dient die Herstellung einer in sich geschlossenen Lebensgeschichte in gewisser Weise als Kompensation fur die Verunsicherungen, die durch gesellschaftliche Umbriiche ausgelost werden. Und in der Tat scheint es sowohl Ausloser als auch Folge der Individualisierung zu sein, dass das Individuum fur sich eine Ordnung herzustellen hat, die gesellschaftlich nicht mehr langer vorgegeben ist. Der Aufbau einer Identitat, die Ausbildung eines Selbst und die Erlangung von Individuality werden nun zu einer von jedem Einzelnen zu bewaltigenden Aufgabe. Vormoderne, moderne und spat- bzw. postmoderne Gesellschaft bringen insofern ein je spezifisches Verstandnis vom Selbst, von Individualist und Identitat hervor, wie im Folgenden gezeigt werden soil.

/. 1 Vormoderne- traditionale Gesellschaften: Kein Selbst, Nirgends Es ist beinahe ein Allgemeinplatz in der sozialwissenschaftlichen Literatur, die Identitat des Menschen in vormodernen Gesellschaften als fest, starr und stabil zu beschreiben (vgl. Elias 1991; Luhmann 1993; Kellner 1994, Gergen 1996). In der Gesellschaft, in die man hineingeboren wurde, bekam man einen festen Platz zugewiesen, den man ein Leben lang auch behielt. Der Lebensweg jedes Einzelnen war somit festgelegt. Abweichungen vom vorgesehenen Lebensplan gab es kaum. Man war Jager oder Sammler, spater: Handwerksgeselle oder Kaufmann und starb zumeist auch als solcher. Vor allem Religion bot jedem Einzelnen Orientierung, indem sie Verhalten und Handeln streng reglementierte. Mit anderen Worten: Identitat war etwas Unproblematisches. Fur den vormodernen Menschen gab es weder Identitatswandel noch Identitatskrisen im modernen Sinne. Wer man war, wurde durch die Gemeinschaft festgelegt. Man war derjenige, der man zu sein hatte. Wie unproblematisch die Identit&t des Einzelnen angesehen wurde, vermag man daran abzulesen, dass es noch gar kein Wort fur 'Identitat' oder 'Individuality' gab. Wir haben es in dieser Gesellschaftsform folglich mit einer hohen Standardisierung der Lebenslaufe zu tun, die so etwas wie eine Thematisierung des eigenen Selbst, die biografische Reflexion dariiber, wie man geworden ist, wer man ist, warum man geworden ist, wer man ist, warum man nicht anders geworden ist, als man ist, also ein Hadern mit der eigenen Biografie und einen daraus womoglich resultierenden Veranderungswillen des eigenen Lebensweges, nicht zulassen. Noch ist jeder aufgehoben in einem umfassenden Kosmos, in dem jeder Einzelne seine ihm zugewiesene Rolle spielt.

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1.2Moderne Gesellschaften. Selbstentdeckung, Selbstverleugnung, Selbstverwirklichung Als ein wenn nicht das entscheidende Merkmal der modernen Gesellschaft wird immer wieder das auBergewohnlich hohe Mali an Kontingenz angeflihrt. Niklas Luhmann spricht gar von der Kontingenz als „Eigenwert" der modernen Gesellschaft (vgl. Luhmann 1992). Mit der Uberwindung des antiken Kosmos imd des mittelalterlichen Ordo bekommt die bisher als alternativlos gedachte Ordnung der Welt plotzlich Konkurrenz: „Eine neue Form der Ordnung, die wir als modern bezeichnen kOnnen, bricht sich Bahn, wenn der Verdacht aufkommt, die so unverbruchlich und allumfassend scheinende Ordnung sei nur eine unter mGglichen anderen." (Waldenfels 1990: 18)

Hatte bisher Religion fur eine einheitliche Weltdeutung gesorgt, die der Gesellschaft Struktur und dem Einzelnen Orientierung gab, so haben wir es nunmehr mit einer pluralen und multizentrischen Welt zu tun, die das Entstehen einer alle Teilperspektiven uberwolbenden einheitlichen Ordnung nicht mehr langer zulasst. Die Ausdifferenzierung in verschiedene Wertspharen (Weber), Teilsysteme (Parsons, Luhmann) oder Felder (Bourdieu) hat eine multiperspektivische Welt zur Konsequenz. Je nachdem, ob aus der Perspektive der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaft, des Rechts, der Familie oder der Erziehung beobachtet wird, ergeben sich nicht nur jeweils unterschiedliche Blicke auf die Dinge, sondern nebeneinander bestehende, untereinander oftmals vollig inkompatible Wirklichkeiten. Dieser umfassende Differenzierungsprozess transportiert die ebenso beunruhigende wie verlockende Botschaft, dass alles auch ganz anders sein konnte. „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmoglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders moglich ist" (Luhmann 1984: 152). In der nun nicht mehr langer als gottgewollt vorstellbaren gesellschaftlichen Ordnung wird das Ordnungs- und Sinnproblem als je individuell zu losendes Problem an den Einzelnen weitergereicht. Die Individuen sehen sich nun vor die Aufgabe gestellt, angesichts des sich seit dem Ende des Mittelalters vollziehenden „Ordnungsschwunds" je fur sich eine Ordnung wieder herzustellen, die auf gesamtgesellschaftlicher Ebene unwiederbringlich verloren ist (vgl. Waldenfels 1990: 17). Die Botschaft, dass alles auch ganz anders sein konnte, fuhrt zur Einsicht, dass nichts so bleiben muss, wie es ist. Das bringt sowohl Ideen revolutioMrer Umgestaltung als auch neue Moglichkeiten der Selbstreflexion hervor, die den Einzelnen mit alternativen Lebensentwtirfen konfrontieren. Doch worin der Einzelne attraktive Perspektiven erkennen mag, wirft fur die beharrenden Krafte gesellschaftlicher Ordnung Probleme auf. Derm mit der Einsicht, „dass es auch ganz anders sein konnte", 48

nimmt die Verbindlichkeit traditioneller Werte und Normen ab, die ihr Autoritat gerade der Tatsache verdanken, „dass es immer schon so war". Sieht man sich die modernen Individualists- und Identitatskonzepte an, so wird deutlich, dass offenbar die Angst vorherrscht, die Individuen konnten ihrerseits vom Virus der Differenzierung und Pluralisierung befallen werden, vor dem das Immunsystem der traditionellen Gesellschaftsstruktur langst kapituliert hat. Das Individuum soil mit aller Macht vor der (drohenden) Metamorphose zum Dividuum bewahrt werden. Den gesellschaftlichen Auflosungserscheinungen soil auf individueller Ebene getrotzt werden, indem ein Individuumsverstandnis konzeptualisiert wird, das besagt, dass das Individuum seine Integritat nur jenseits der gesellschaftlichen BezUge zu erhalten vermag. Das Ideal moderner Identitatsvorstellungen ist deshalb ein starkes, stabiles und einheitliches Selbst, das alien Herausforderungen und Gefahren seiner Fragmentierung oder gar Auflosung zum Trotz stets mit sich identisch bleibt. Diese stillschweigende Ubereinkunft im Ideal eines stabilen Selbst ist es, die so unterschiedliche Autoren wie Erik Erikson und Jtirgen Habermas eint und das immer wieder - zumindest in Anteilen - gegenuber postmodernen Herausforderungen in Stellung gebracht wird. In der klassisch-modernen Form gilt Identitat als ein zu erwerbendes Gut, das es aufrechtzuerhalten und zu bewahren gilt: „Das Gefuhl der Ich-Identitat ist (...) das angesammelte Vertrauen darauf, daB der Einheitlichkeit und Kontinuitat, die man in den Augen anderer hat, eine Fahigkeit entspricht, eine innere Einheit und Kontinuitat (...) aufrechtzuerhalten." (Erikson 1973: 107)2

Wenn die Entwicklung des Individuums gut verlauft, kommt es zur Ausbildung eines festen und bestandigen Identitatsgefuhls, wenn nicht, kommt es zu Identitatskrisen und Identitatsdiffusion. Vom Ideal des einheitlichen Selbst abweichende Identitatsformen werden als krisenhafte bis pathologische Falle beschrieben. Obwohl das Fragment als typischer Ausdruck der kulturellen Moderne gelten kann (vgl. Frisby 1989), wird ein fragmentiertes Selbst als unfertig und defizitar interpretiert. Der normative Bias dieses Identitatsbegriffs ist eindeutig. Ganz offensichtlich geht es darum, den Menschen zu formen, damit er zu einem funktionierenden Mitglied der Gesellschaft werden kann (vgl. Gergen 1996: 87). In den klassischen Versionen wird dabei stets vorausgesetzt, dass es sich bei der Erlangung von Identitat um etwas Positives handelt (vgl. Joas 1996: 361). Die Wahrung eines unveranderlichen und stabilen Kerns - dies ist die immer wieder betonte Basis moderner Identitatsvorstellungen. Kontinuitat,

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Bei Habermas klingt das so: „Die gelungene Ich-Identitat bedeutet jene eigentumliche Fahigkeit sprach- und handlungsf&higer Subjekte, auch noch in tiefgreifenden Veranderungen ihrer Personlichkeitsstruktur (...) mit sich identisch zu bleiben." (Habermas 1976: 93)

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Koharenz, Einheitlichkeit und Ganzheit lauten hier die entsprechenden Zauberworter. Schon bei Rousseau und Schiller geht es nach Lionel Trilling (1983: 96) darum, „daB der Mittelpunkt unverruckbar bleibt, die Oberflache des Selbst nicht zerreiBt und die Person ein Ganzes ist, undurchdringlich, bestandig und autonom in ihrem Sein und moglichst auch in ihrem Handeln."3 Die im klassischen Sinne zu errichtende Identitat findet typischerweise mit dem Ende der Adoleszenz ihren Abschluss. Ab jetzt gilt es, alle Neuerungen in das nunmehr erworbene Raster, in den Kern der Person einzuordnen und entsprechend anzupassen. Nicht zufallig enden zahlreiche Autobiografien mit dem Eintritt in das Erwachsenenalter (vgl. Neumann 1970: 22). Ab diesem Zeitpunkt gilt es nur noch die einmal erworbene Identitat zu bewahren und sich damit als verlassliches und berechenbares Mitglied einer Gesellschaft zu erweisen. Insofern geht es auch auf der individuellen Ebene um Bestandserhaltung. Die Parallele ist offensichtlich: Ebenso wie es auf makrostruktureller Ebene um Integration der Gesellschaft geht, also um das Bestreben, die einzelnen Teilsysteme zu einem Ganzen zusammenzufugen, so geht es auch auf individueller Ebene um die Integration der Teilselbste zu einer ganzheitlichen Person. Vor dem Hintergrund des Ideals der einheitlichen und ganzheitlichen Person ist es kein Zufall, dass die zunehmende Rollendifferenzierung des Einzelnen in der modernen Gesellschaft als „Aufsplitterung des Selbst" (Bell 1976: 118) kommentiert und beklagt wird. Selbst dort, wo man solch kulturkritisch motivierten Tone nicht vorfindet, wird das Problem der modernen Identitat darin gesehen, wie der Einzelne mit den verschiedenen Rollenanforderungen, die an ihn gestellt werden, umgeht. Denn der Einzelne muss tatsachlich, dies wird nicht geleugnet, gemaB der funktionalen Differenzierung in verschiedene Teilsysteme die verschiedensten Rollen ausfullen. Allerdings bestehen erhebliche Zweifel, ob der Einzelne sich dieser Herausforderung auch gewachsen zeigt. Die in verschiedenen Bereichen an ihn gerichteten Rollenerwartungen drohen in Rollenkonflikten zu mtinden, die sein als einheitlich gedachtes Selbst formlich auseinanderzureiBen drohen. Wie, so lautet deshalb die vorherrschende Frage der Identitatsforschung, gelingt es dem Einzelnen, die zahlreichen Rollen, in denen er sich bewegt, noch zu einem stimmigen Ganzen zu biindeln, so dass sein durchgangig als Einheit gedachtes Selbst nicht zunehmend ausfranst, um schliefllich in viele unzusammenhangende Teile zu zerfallen?

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In der Tat schreibt schon Friedrich Schiller im Jahre 1794: „Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der GenuB wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes Bruchstiick des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstiick aus." (Schiller 1980: 584)

Eine prominente und wirkungsmachtige Antwort auf diese Frage zielt auf eine von innen heraus gestaltete Lebensfuhrung, die sich vor den von auften kommenden Herausforderungen und Versuchungen durch Verzicht zu schiitzen weiB. In besonderer Auspragung finden wir dieses Ideal der innengeleiteten Lebensfuhrung (vgl. Riesman 1958) beim Puritaner vor, dessen unbedingter Verzicht auf Luxus und Genuss die entscheidende Basis fur den Siegeszug des Kapitalismus in der westlichen Welt geliefert hat, wie Max Weber in seiner Protestantismusstudie eindringlich beschrieben hat. Die protestantische Ethik ist auf Arbeit, Sparsamkeit, FleiB, Bescheidenheit, Geniigsamkeit und sexuelle Enthaltsamkeit gegrtindet. Die Pradestinationslehre des Protestantismus besagt, dass die Entscheidung tiber das Seelenheil zwar langst gefallen ist, die Erwahltheit aber in der Alltagspraxis mittels der methodischen Lebensfuhrung immer wieder aufs Neue bestatigt werden muss. Das Prinzip der methodischen Lebensfuhrung verwandelte den Alltag damit in eine permanente Prufung, in der jede Handlung auf ihre innere Koharenz und Zweckdienlichkeit fiir die Erlangung des Seelenheils befragt wird. An die Stelle vormoderner Schicksalsglaubigkeit tritt die Uberzeugung der Planbarkeit des Lebens. Dies verlangt von den Individuen eine auflerordentliche Disziplin und systematische Selbstkontrolle, die jegliche Form von Unbeschwertheit und Unbektimmertheit bereits im Keim erstickt. Die Selbsterforschung wird hier zum Mittel der Selbstkontrolle, die Entdeckung des Selbst schlagt in „Selbstverleugnung" (Giddens 1996: 134), ja in „Selbstausloschung" (Wagner 1995: 240) um, die mit der Moderne eingeleitete Entdeckung des Selbst fiihrt schliefilich zum „Verzicht auf das Selbst" (Foucault 1993: 46): „Wir sind Erben der christlichen Moraltradition, die in der Selbstlosigkeit die Vorbedingung des Heils erblickt - sich selbst zu erkennen erschien paradoxerweise als der Weg, auf dem man zur Selbstlosigkeit gelangte." (Foucault 1993: 31)

Entscheidend fur unseren Zusammenhang ist, dass das Leben als dauernde Selbsterforschung, Selbsterkundung und Selbstpriifung zur Konstitution und Verbreitung einer institutionalisierten Form systematischer Selbstbefragung und Selbstthematisierung geftihrt hat, die in Max Webers Arbeit iiber die protestantische Ethik kaum eine Rolle spielt (Hahn 2000: 220): dem Tagebuch. Es hat den Anschein, so notieren Miller/ Johnson (zitiert nach Taylor 1996: 329), als ob ,jeder Puritaner, der lesen und schreiben kann, eine Art Tagebuch fuhrt". Daruber hinaus hat die protestantische Ethik einen kaum zu unterschatzenden Einfluss auf die Entwicklung der Literatur gehabt (vgl. Taylor 1996: 328 f; Hahn 2000: 220 ff.). Der moderne Roman ist ohne die durch den Protestantismus geforderte kontrollierte Selbstbeobachtung kaum vorstellbar. Die Medien der

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Selbsterkundung in der Moderne also sind Tagebuch, Autobiografie, Roman. Welche sind es in der Postmoderne?

1.3 Postmoderne Gesellschaften: Vom einheitlichen zum offenen und multiplen Selbst - und zuriick? In den postmodernen Auffassungen vom Individuum, von Identitat und dem Selbst werden zentrale Momente einer modernen Identitat kritisiert und zuriickgewiesen. Die postmodernen Theorien der Identitat sind nicht mehr langer auf die Errichtung bzw. Erlangung, sondern letztlich eher auf die Flucht vor Identitat ausgerichtet, wenn man Identitat wie in der klassischen Moderne als eine Instanz versteht, die fur Stabilitat und Berechenbarkeit sorgen soil.4 1st Identitat im klassischen Sinne etwas, was man erreichen und aufbauen soil, gilt sie im postmodernen Sinne als etwas einschntirendes und zwanghaftes - ein Korsett, das schnell zu eng wird und deshalb abgestreift gehort. Eine postmoderne Identitat zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass sie erst gar nicht mehr zu jener Festigkeit gerinnen soil, die „Ausbruchsversuche" (Cohen/ Taylor 1977) auf den Plan ruft. Der Ubergang von der modernen zu einer postmodernen Identitat lasst sich insofern als Ablosung des stabilen durch ein veranderbares und offenes Selbst beschreiben (vgl. Zurcher 1977), das als „Bastelexistenz" (Hitzer/ Honer 1994), „Patchworkidentitat" (Keupp 1993), „multiple Identitat" (Turkle 1999: 419 ff; Welsch 1990) oder „proteanisches Selbst" (Lifton 1993) Einlass in die Forschungsliteratur gefunden hat. Anders als die modernen Identitatsvorstellungen kennt die postmoderne weder einen zeitlichen Abschluss noch eine endgultige Form. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich um ein lebenslanges Projekt der Selbstorganisation und Selbstreflexivit&t handelt. Wir haben es nicht mit einer zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossenen Bildung eines Selbst zu tun, das sich gewissermafien nachtraglich befragt und erkundet, sondern mit einem Selbst, das sich durch Selbstbefragung und Selbststilisierung in einem kontinuierlichen, nie abschlieBbaren Prozess immer wieder neu hervorbringt. Selbstbefragung und Selbstthematisierung werden somit gewissermafien auf Dauer gestellt. Dabei ist jedes Individuum einer Vielzahl von Einflussen ausgesetzt, die sein Selbstbild be4

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Michel Foucault wehrt sich anhand der Vorstellung eines Autors gegen die Koharenz- und Konstanzerwartung moderner Identitat: „Man frage mich nicht, wer ich bin, und man sage mir nicht, ich solle der gleiche bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papiere. Sie soil uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben." (Foucault 1973: 30)

stimmen konnen. Die postmoderne Variante unterliegt dabei nicht mehr langer der Vorstellung, dass die Kriterien fur einen gehmgenen Identitatsaufbau aus dem Inneren des zur Personlichkeit herangereiften Individuums geschopft werden konnten. Dem Einzelnen stehen vielmehr kaum mehr zu uberblickende Deutungsangebote, Sinnlieferanten und Weltbilder gegeniiber, aus denen er seine Identitat beziehen konnen soil. Immer wieder kann man dann erleben, dass die exklusiv geglaubte Identitat einem Muster folgt, das langst auch von anderen adaptiert worden ist. Deshalb mtissen immer wieder neue Feinjustierungen vorgenommen werden, damit aus den, seien es noch so ahnliche, Vorgaben etwas Einmaliges und Unwiederholbares entsteht, denn Identitat entsteht nie allein iiber die Suche nach einer moglichst groBen Ubereinstimmung mit anderen, sondern immer auch durch die Suche nach dem Unterscheidungsmerkmal, das das jeweilige Selbst zu einem besonderen macht. Die Rede von Moderne versus Postmoderne, moderne versus postmoderne IdentMt verftihrt nun leicht dazu (wie dies in der Literatur oft geschieht), sie als zwei miteinander unvereinbare, vollig entgegengesetzte Modelle gegentiberzustellen. Damit diese, allenfalls fur heuristische Zwecke taugliche Dichotomisierung gelingen kann, werden jedoch vor allem die modernen Konzepte oftmals auBerst verktirzt wiedergegeben. Ubersehen wird vor allem, dass die Auseinandersetzung zwischen zwei verschiedenen Selbst- bzw. Identitatskonzepten schon innerhalb der Moderne beobachtet werden kann. So findet man etwa schon bei David Hume Zweifel an der Vorstellung einer einheitlichen Person, die durch alle Wandlungen und Veranderungen hinweg stets mit sich identisch bleibt (vgl. Elias 1991: 156). Auch in Nietzsches und Montaignes Schriften finden sich quasi postmoderne Vorstellungen tiber die multiple Zusammensetzung des Individuums: „Ich habe von mir selbst nichts Ganzes, Einheitliches und Festes, ohne Verworrenheit und in einem Guss auszusagen. (...) Wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen uns so kunterbunt unfbrmlich zusammengesetzt, dafi jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt. Und es findet sich ebensoviel Verschiedenheit zwischen uns und uns selber wie zwischen uns und anderen." (Montaigne 1953: 324; nach Keupp 1993:243)

Wie in vielen anderen Bereichen, zeigt sich damit auch im Falle der Identitat, dass die Postmoderne nicht als historische Epoche konzeptualisiert werden kann, die die Moderne ablost, sondern als ein standiger Begleiter der Moderne anzusehen ist, der gewissermaBen gegeniiber den jeweils dominant werdenden Modellen alternative Modelle bereit halt (vgl. Schroer 1994). An den Beschreibungen postmoderner Identitatsformen fallt auf, dass sie sich von manch modernen Formen oft kaum unterscheiden. Der Unterschied scheint sehr viel starker in der Bewertung und dem Umgang mit gesellschaftlichen Herausforde53

rungen der Moderne zu liegen. Wahrend die Moderne beispielsweise gegen Ambivalenzen, Kontingenz und Ungewissheit ankampft, versucht die postmoderne Haltung, diesen Merkmalen des modernen Lebens eine positive Wendung zu geben, indem sie auf die damit verbundenen Chancen verweist, statt nur die Gefahren in den Blick zu nehmen (vgl. Bauman 1995). Wahrend man im modernen Kontext auf ein Selbst festgelegt wird, was die anderen Anteile in einem verleugnet, ausgrenzt und unterdrtickt, wird in postmodernen Konzepten die MGglichkeit des Auslebens unterschiedlicher Selbste angestrebt, so dass wir es mit einem multiplen Selbst zu tun bekommen.5 Bei Luhmann heiBt es dazu lapidar: „Das In-dividuum wird durch Teilbarkeit definiert. Es benotigt ein musikalisches Selbst fur die Oper, ein strebsames Selbst fur den Beruf, ein geduldiges Selbst fur die Familie. Was ihm fur sich selbst bleibt, ist das Problem seiner Identitat." (Luhmann 1993: 223)

Auch Luhmann geht damit davon aus, dass wir uns in verschiedene Selbste aufteilen mussen, um den vielfaltigen (Rollen)anforderungen, die in der modernen Gesellschaft an uns gestellt werden, gerecht werden zu konnen. Er betont im zweiten Satz jedoch das Entscheidende: Jedem Einzelnen ist es aufgegeben, aus den verschiedenen Teilselbsten ein Gesamtselbst zu Schmieden. Der Idee vollig unvereinbar und unvermittelt nebeneinanderher bestehender Identitaten ohne eine Instanz, die sie miteinander zu btindeln in der Lage ware, wird damit eine klare Absage erteilt. Und damit steht Luhmann nicht allein. Es scheint mir vielmehr der kleinste gemeinsame Nenner der aktuellen soziologischen Identitatsbegriffe zu sein, dass eine vollige Diffusion und Auflosung des Selbst in durch nichts mehr zusammengehaltene Fragmente zurtickgewiesen wird6, die

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Wenn man davon ausgeht, dass auch Gesellschaften sich selbst thematisieren, so haben auch diese ein multiples Selbst bekommen, thematisieren sich nicht mehr eindeutig als Klassengesellschaft, sondern mal als Risiko-, mal als Erlebnis-, mal als Medien- und Informationsgesellsehaft usw. Eher niichtern ist die Idee vom multiplen Selbst innerhalb der Soziologie auch deshalb aufgenommen worden, weil sie sich bereits bei einem der Klassiker der Soziologie, bei George Herbert Mead, findet: „Wir haben verschiedene Beziehungen zu verschiedenen Menschen. Fur den einen Menschen bedeuten wir dieses, fur den anderen jenes. Es gibt Teile der Identitat, die nur im Verhaltnis der Identitat zu ihr selbst existieren. Wir spalten uns in die verschiedensten Identitaten auf, wenn wir zu unseren Bekannten sprechen. Mit dem einen diskutieren wir Politik, mit einem anderen Religion. Es gibt die verschiedensten Identitaten, die den verschiedensten gesellschaftlichen Reaktionen entspringen." (Mead 1973: 184) Fur pathologisch halt Mead eine „Spaltung der PersOnlichkeit" (ebd.: 185) dann, wenn ein Individuum bei der Ubernahme einer Identitat z.B. als Holzf&ller, seine Identitat als Padagoge vollstandig vergessen hat, nicht also mehr die verschiedenen Identitaten je nach Situation annimmt und wieder abstreift, sondern die Identitat vollstandig wechselt, zu einer ganzlich anderen Person wird, quasi ein neues Leben beginnt, ohne Erinnerung an das vorherige.

eher von philosophischer Seite aus vertreten, manchmal auch regelrecht gefeiert wird (vgl. Schmidt 1996; Welsch 1990). Auch Psychologen tun sich erkennbar und verstandlicherweise eher schwer damit, das multiple Selbst als Idealform postmoderner Identitat auszurufen, haben sie doch das spezifische Krankheitsbild des multiplen Selbst vor Augen, das zur Verallgemeinerung wenig empfehlenswert erscheint. Dieser kleinste gemeinsame Nenner beinhaltet aber auch, dass ebenso ausgemacht zu sein scheint, dass es kein Zuriick zur normativ stark aufgeladenen Identitatsfigur Erikson'scher Provenienz geben kann. Und dies nicht, weil es in die Beliebigkeit eines jeden Forschers gestellt ware, welches Modell er vertreten will, sondern aus Einsicht in den spezifischen Kontext der Entstehung dieser Identitatsauffassung (vgl. Bohme 1996), der nicht mehr der unsere ist.7 Als paradigmatisch fur unsere Gegenwart kann vielmehr eine Auffassung von Identitat stehen, die Stuart Hall wie folgt formuliert: „Das postmoderne Subjekt (...) nimmt zu verschiedenen Zeiten verschiedene Identitaten an, die nicht um ein koharentes 'Ich' herum vereinheitlicht worden sind. In uns wirken widerspriichliche Identitaten, die in verschiedene Richtungen drangen, so daB unsere Identifikationen bestandig wechseln. Wenn wir meinen, eine einheitliche Identitat von der Geburt bis zum Tod zu haben, dann bloB, weil wir eine trostliche Geschichte oder 'Erzahlung unseres Ich' iiber uns selbst konstruieren. Die vollig vereinheitlichte, vervollkommnete, sichere und koharente Identitat ist eine Illusion. In dem MaBe, in dem sich die Systeme der Bedeutung und der kulturellen Reprasentation vervielf<igen, werden wir mit einer verwirrenden, flieBenden Vielfalt moglicher Identitaten konfrontiert, von denen wir uns zumindest zeitweilig mit jeder identifizieren konnten." (Hall 1994: 183)

Hall betont, dass die Vorstellung von der einheitlichen Identitat im Grunde ein Trostgedanke ist, der uns nachts ruhiger schlafen lassen soil (vgl. ebd.: 67). Mit der Durchsetzung postmoderner Identitat ergibt sich insofern kein lustvolles Ausleben verschiedener Selbste, sondern ein auch von Angst und Ungewissheit bestimmtes Leben, was auch von Zygmunt Bauman betont wird. Dabei ist es gerade die Annahme der fur die Individuen unertraglichen Ungewissheit, die eine gewisse Renaissance der klassischen Identitatsmodelle eingeleitet hat. Ab-

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Clifford Geertz weist zudem auf die geographisch-kulturelle Begrenztheit des Modells hin, wenn er schreibt: „Die abendlandische Vorstellung von der Person als einem fest umrissenen, einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven Universum, einem dynamischen Zentrum des BewuBtseins, Fuhlens, Urteilens und Handelns, das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl von anderen solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und einem nattlrlichen Hintergrund abhebt, erweist sich, wie richtig sie uns auch scheinen mag, im Kontext der anderen Weltkulturen als eine recht sonderbare Idee." (Geertz 1983: 294) Schon in den 1970er Jahren urteilt Kracauer (1973: 171): „Die integrierte Personlichkeit zahlt zweifellos zum Lieblingsaberglauben moderner Psychologic"

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lesen lasst sich dies beispielsweise an den Schriften Richard Sennetts, der noch vor wenigen Jahren kritisiert, dass es eine moderne Angewohnheit sei, „soziale Instabilitat und personliche Unzulanglichkeit rein negativ aufzufassen" (Sennett 1995), aktuell aber an der Postmoderne moniert, dass sie „die Vorstellung eines einheitlichen menschlichen 'Ichs'" (Sennett 1998) negiere (vgl. Schroer 2005). Keine Rede ist nun mehr davon, dass die Entwicklung einer stabilen und koharenten Identitat nicht nur Halt zu geben vermochte in einer zunehmend pluralisierten und entzauberten Welt, sondern auch welchen Zwang sich der Einzelne antun musste, um Konsistenz und Kontinuitat der Person zu erreichen. Das dadurch immer auch bedingte Leid hat schon Adorno dazu veranlasst, statt Identitat Nichtidentitat als Ziel auszugeben - eine Argumentation, die die postmodernen Verabschiedungen des modernen Identitatsmodells untibersehbar inspiriert hat. Der Wechsel der Position bei Sennett scheint mir jedoch signifikant fur die derzeitige Lage der Soziologie zu sein, in der Positionen und Modelle der letzten Jahre (etwa: Postmoderne, Individualisierung, Erlebnisorientierung) mit viel Skepsis betrachtet, altere Konzepte jedoch an neuer Attraktivitat zu gewinnen scheinen (vor allem: Klasse und Klassengesellschaft). Zwar wird in der Soziologie immer wieder betont, dass dem Einzelnen seine Identitat als Aufgabe zufallt, doch fallt es ihr offenbar schwer, die Individuen bei der Bewaltigung dieser Aufgabe schlicht zu beobachten. Aus der immer wieder artikulierten Uberzeugung heraus, dass dies letztlich eine Uberforderung des Einzelnen darstelle,8 wird stattdessen nach Institutionen und Instanzen gefahndet, die dem Einzelnen seine Aufgabe erleichtern konnten. Beschreitet man diesen Weg nicht, dann stellt sich die Frage nach individuellen Bewaltigungsstrategien, die sich nicht auf die Flucht vor Kontingenz, Uneindeutigkeit, Ambivalenz und Unsicherheit begeben, sondern damit zu leben versuchen. Drei dieser Strategien werden im Folgenden naher vorgestellt. Dabei geht es vor allem auch darum, die Frage zu klaren, welche Institutionen als typisch fur postmoderne Selbstthematisierungen gelten kdnnen, wenn die typisch modernen durch das Tagebuch, die Autobiografie und den Roman reprasentiert werden. Dabei kann man 8

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Bis heute lebt die Soziologie von der Unterstellung, dass die Individuen mit der Ungewissheit und Inkoharenz des modernen Lebens nicht umgehen k5nnen. Dabei hat schon Paul Val6ry darauf hingewiesen, dass der moderne Mensch die „Inkoharenz" und die „mentalen Unordnung", in der er lebt, durchaus ertragt. Denn „schlie61ich sind wir doch intim an sie gewohnt, wir leben von ihr, wir atmen sie, wir schuren sie, und es kommt vor, dafi sie uns ein echtes Bedurfnis ist. Wir finden sie ebenso um uns herum, wie in uns selbst" (zitiert nach Makropoulos 1997: 124) Mit Inkoharenz, Unordnung und Uneindeutigkeit leben zu kOnnen, halt man gern fur ein Privileg von Intellektuellen, das nicht auf die Massen iibertragen werden kann. Dabei handelt es sich jedoch womoglich selbst um ein typisches intellektuelles Missverstandnis. Was man den anderen nicht zutraut, nimmt man fur sich selbst wie selbstverstandlich in Anspruch.

zum einen auf Wandlungen innerhalb der genannten Formen selbst verweisen, also etwa auf die Veranderungen der Erzahlstrukturen im Roman und die Transformation des Tagebuchs in das im Internet offentlich gefuhrte Weblog. Stehen fur den klassisch modernen Roman vor allem James Joyce, Robert Musil und Marcel Proust, liefle sich fur die postmoderne Form etwa Italo Calvino, Umberto Eco und Julio Cortazar anfiihren, wobei die Grenzen zum Teil flieBend sind, etwa wenn fur die Postmoderne typisches bereits bei Musil vorgefunden wird (vgl. Schroer 1994). Uber diese Veranderungen innerhalb des Mediums hinaus aber, haben sich zum anderen auch neue Institutionen der Selbstthematisierung herausgebildet, die zeigen, dass die - wenn man so will - postmodernen Individuen vor allem bewegt, wie sie das Interesse anderer auf sich ziehen konnen.

2. Selbstthematisierung in der visuellen Kultur Der gegenw£rtige Individualisierungsprozess, der nicht nur einige wenige Eliten erfasst hat, sondern als gesamtgesellschaftlicher Trend wirkt, hat ohne Frage auch zu einer Intensivierung der Selbstthematisierung, der Selbstbeobachtung und Selbstdarstellung beigetragen. In den aktuellen Formen der Selbstthematisierung zeigt sich eine Betonung der Einzigartigkeit des Individuums und eine Intensivierung der Selbstbeziehungen, also eine Verbindung des ersten und dritten Trends in der oben vorgestellten Unterscheidung nach Foucault. Die Funktion der Selbstthematisierung scheint dabei allerdings immer weniger darin zu bestehen, „sich selbst zum Erkenntnisgegenstand" zu machen, „um sich umzubilden, zu verbessern, zu lautern, sein Heil zu schaffen" (Foucault 1989b: 59), sondern darin, sein Selbst zum offentlichen Gegenstand zu machen, auf sich aufmerksam zu machen, sich zu zeigen und damit das Gefuhl zu verschaffen, existent zu sein - woran sonst offensichtlich Zweifel zu bestehen scheinen. In den gegenwartig zu beobachtenden Formen der Selbstthematisierung geht es nicht mehr in erster Linie um die Frage, wer man ist oder sein will, ob man mit seinen LebensauBerungen und Entscheidungen ein gottgefalliges oder doch zumindest moralisch hochwertiges Leben fuhrt. Der Schwerpunkt hat sich vielmehr verlagert zu Fragen der Selbstprasentation, der Selbstdarstellung und Selbstinszenierung. Die entscheidende Frage ist, wie man wirkt, wie man 'riiberkommt', wie man gesehen werden will und gesehen wird. Betont wird also vor allem der expressive Aspekt der Selbstthematisierung. Auf diese Frage geben inzwischen Ratgeber eine Antwort, die nicht mehr Wege zur Selbstfindung vorgeben, sondern Tipps zur gelungenen Selbstdarstellung verbreiten. An die Stelle der klassischen Identitatsfrage: „Wer bin ich?" tritt die Frage: „Wie kann ich mich so darstellen, dass Notiz von mir genommen wird?" 57

Als Beispiele fur die neuen Formen der Selbstthematisierung mochte ich im Folgenden Talk-Shows (1), private Homepages (2) und private Filme von Handy- oder Digitalkameras (3) diskutieren.

2.1 Selbstthematisierung und Selbstdarstellung in Talk-Shows „Ich habe Orgasmusprobleme und ich will, daB die Offentlichkeit davon Kenntnis nimmt." Wenn man sich die Entwicklung der in den 1990er Jahren aus dem Boden sprieftenden Talk-Shows wie etwa „Hans Meiser", „Kerner", „Fliege", „Barbel Schafer", „Ilona Christen" u.v.a. ansieht, dann scheint der artikulierten Forderung eines Kommunarden aus der Zeit der Studentenbewegung (vgl. Berger/ Berger/ Kellner 1987: 180) inzwischen auf breiter Basis nachgekommen zu werden. Kein noch so privates Thema ist hier mehr langer Tabu. Das Angebot reicht von „Ich hasse meinen Korper" uber „Ich brauche mehrere Manner" bis „Ich wurde von einem Ufo entfiihrt". Es geht um Kriminalitat und Gewalt, Gesundheit und Schonheit, Arbeit und Freizeit, Esoterisches und Sexualitat. Der Kommunarde erscheint insofern gleichsam als Avantgardist der heutigen Bekenntnis- und Gestandnispraxis, die taglich auf dem Bildschirm, bevorzugt zu nachmittaglicher Stunde, zu besichtigen ist. Bei alien vorhandenen Unterschieden der verschiedenen Sendungen und den zahlreichen Themen, die dort verhandelt werden, ist doch alien gemeinsam, dass ein Studiogast etwas AuBergewfthnliches zu berichten hat, das ihm selbst widerfahren ist. Dabei konnen auch besonders ausgefallene Vorlieben das Thema sein. Das entscheidend Neue an diesen Formaten ist, dass wir es hier nicht mit dem gepflegten Abendtalk zu tun haben, mit Sendungen, in denen Prominente tiber sich und ihre Arbeit im Plauderton Auskunft erteilen, sondern mit 'ganz normalen Menschen', die sich zu speziellen Themen aufiern und zwar nicht abstrakt, sondern aus eigener Erfahrung (vgl. Keppler 1998; Mikos 1998; Palke 1999). Ganz anders als in der klassischen Selbstthematisierung geht es vielen TalkshowTeilnehmern nicht darum, eine neue Sicht auf ihr Selbst zu erlangen (vgl. Plake 1999: 79), sondern darum, davon zu „iiberzeugen, daB sie eine spezifische Eigenart aufweisen, im tibrigen aber so sind wie alle anderen auch".9 9

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Treffend heiBt es dazu bei Sennett (1985: 119): „Wir stehen unter dem Druck, aus einem Zustand herauszutreten, der uns beschamend erscheint, dem Zustand der Unauf&lligkeit." Wir versuchen „etwas zu erlangen, woran in der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaft Mangel herrscht: das Geflihl, von anderen respektiert zu werden, obschon man ein 'gewfthnliches Leben' fiiihrt. Die Selbstbehauptung hat fur uns moralisches Gewicht, und beachtet zu werden bedeutet etwas fiir unseren Platz in der sozialen Hierarchic"

Die Talkshow erscheint als „Forum der Selbstdarstellung" (Mikos 1998: 444) par excellence. Entscheidend fur die dort freiwillig auftretenden Protagonisten scheint vor allem zu sein, dass ihnen in diesen Sendungen jemand zuhort, dass sie ernst genommen werden, ja, dass sie sogar im Mittelpunkt stehen und ihr Wort Gewicht hat. Nicht wenige verbinden mit ihrem Auftritt die Hoffhung, dass sie zu weiteren Shows eingeladen werden, selber eine Sendung angeboten bekommen, als Schauspieler, Moderator oder Modell entdeckt und tiber kurz oder lang zum Star werden. Obwohl diese Erwartungen regelmaflig bitter enttauscht werden, wird mit dem Fernsehauftritt - auch wenn er, wie in den meisten Fallen, einmalig bleibt - doch immerhin der Warhol'schen Devise nachgekommen, dass jeder zumindest fur einen Augenblick ein Star sein konne. Dabei kann man dartiber streiten, ob die Bekenntnistalkshows als Schulen der Toleranz angesehen werden konnen, wie Barbara Sichtermann meint, Schulen der Selbstreflexion sind sie ganz sicher. Sie machen deutlich, dass von jedem Einzelnen in der postmodernen Gesellschaft verlangt wird, eine autonome, in sich reflektierte Personlichkeit zu sein (vgl. Bohme 1996). Der jeweilige Gast wird oftmals vom Moderator, von Personen aus dem Publikum oder den anderen Gasten zur Reflexion seiner Taten oder geauBerten Ansichten aufgefordert, sodass man gleichsam einem Identitatsfindungsprozess vor laufenden Kameras beiwohnen kann, der sich just in der Weise vollzieht, wie schon Mead ihn beschrieben hat: als an den Einzelnen herangetragene Zumutung, sich als selbstverantwortliches Individuum aufzufuhren, das nicht beliebig zwischen unterschiedlichen Identitaten switchen oder ungeliebte Anteile der eigenen Identitat einfach leugnen kann: Identitat als Aushandlungsprozess - komprimiert auf die Dauer einer Sendung. Wahrscheinlich aber ist, dass es sich dabei um eine eher situativ angenommene Identitat handelt, der auBerhalb des Kontexts der Sendung keine Bedeutung zukommt. Dies mag zugleich Fluch und Segen dieser Art Talkshows sein: Die Rolle, die der Einzelne dort spielt, wird von Bekannten oder Nachbarn des Showgasts als einmalige Inszenierung ohne Wahrheitsgehalt aufgefasst (Segen) oder der Betreffende wird von ihnen an diesem Auftritt gemessen und auf das dort Gesagte hin festgelegt (Fluch). Beides ist moglich und zeigt, dass es bei den Folgen, die ein Fernsehauftritt fur den Einzelnen haben kann, nicht zuletzt auf die Identitatsauffassung der Zuschauer ankommt.

2.2 Selbstthematisierung und Selbstdarstellung aufprivaten Homepages Allein in Deutschland werden mittlerweile ca. 1 Million privater Homepages gezahlt. Eine Homepage (eine Wortkombination aus engl. Haus, Heimat und Seite) ist nach Auskunft des Fremdworterbuch-Dudens eine „uber das Internet 59

als grafische Darstellung abrufbare Datei, die als Ausgangspunkt zu den angebotenen Informationen einer Person, Firma od. Institution dient". Sie fungiert als Start- und BegrtiBungsseite, die verschiedene Rubriken auflistet, die jeder Netzuser anklicken kann, um so auf weitere, verwandte Seiten im WorldWideWeb (www) zu gelangen. Private Homepages fungieren als Btihnen der Selbstdarstellung und Selbstinszenierung. In einer Mischung aus Text- und Bildanteilen (zumeist Fotos, z.T. aber auch Videomaterial) stellt sich eine Person auf seiner Homepage einem anonymen Publikum vor, das gezielt oder zufallig auf seiner/ihrer Seite gelandet ist. Mitgeteilt werden biograflsche Daten, Interessen und Hobbys, personliche Meinungen usw. Dabei zeigt sich der Besitzer der Homepage auf Fotos in den verschiedensten Situationen und Kontexten: im Kreise von Freunden, Familie und Haustieren, im Urlaub und bei der Austibung diverser Hobbys; zudem wird oft das eigene Haus, der Wohnort und die Umgebung vorgestellt. Auf der Seite flnden sich dariiber hinaus Links zu anderen Websites, zu den Homepages von Freunden und Bekannten etwa, oder auch zu bestimmten Themenhomepages, sowie zu kommerziell-gewerblichen Firmenhomepages. Wird mit dieser 'Verlinkung' der Seite der Hypertextualitat des Mediums Rechnung getragen, so garantieren die stets zu findenden Gastebticher, in denen die Besucher sich mit Anregungen, Lob und Kritik eintragen konnen, die Interaktivitat des Mediums.10 Viele Homepages verfugen auch tiber ein Zahlwerk (Counter), das die Anzahl der Besucher auf ihrer Seite registriert. Selbst als unvoreingenommenen Beobachter dieser stetig ansteigenden Anzahl von Homepages muss einen das Darstellungs- und Mitteilungsbedtirfhis von Privatpersonen verbliiffen. Trotz der zumeist wenig spektakularen Inhalte besteht offenbar die Hoffhung, dass sich im Internet Menschen finden werden, die sich ftir ihr, sei es noch so normales, Leben interessieren. Das Internet ist das einzige Medium, das es jedem, der will, ermoglicht, sich und alles, was ihn ausmacht, zu veroffentlichen. Allein die Moglichkeit, dass nicht nur ausgesuchte Personen wie bei einem Fotoalbum, sondern ein Publikum unbekannter GroBe das eigene Leben betrachten kann, so wie man will, dass es gesehen wird, scheint jedem Einzelnen einen, und sei es noch so geringen, prominenten Stellenwert einzuraumen. Wie groB der Sog zur Selbstdarstellung ist, vermag man daran zu ermessen, dass selbst bei denjenigen, ftir die das Prinzip de nobis ipsis silemus ('won uns selber schweigen wir') gilt, die Selbstdarstellung FuB gefasst hat: bei den Wissenschaftlern. Auf ihren Homepages stoBt man zwar oftmals auf institutionell vorgegebene Formate, die nur die notigsten Informationen preisgeben. Aber es gibt

10 Zu detaillierten Informationen tiber Aufbau, Funktion und Verwendungsweisen von privaten Homepages vgl. Misoch (2004).

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auch unter Wissenschaftlern wahre „Virtuosen der Selbstthematisierung" (Burkart 2004), die ftir sich und ihre Arbeit vehement werben. Wahrend die einen selbst ein Passbild generell verweigern, stellen andere immer neue Fotos von sich ins Netz.

2.3 Selbstthematisierung und Selbstdarstellung inprivaten Filmen - die Kamera als Aufmerksamkeitsgenerator Das Leben in unserer Gegenwart wird langst nicht mehr nur erzahlt, sondern vor allem auch fotografiert und gefilmt. Die Verbreitung von Digitalkameras und Fotohandys ermoglicht eine ebenso unaufwendige wie unauffallige Dokumentation alltaglicher Begebenheiten und fliichtiger Eindrticke. So wie nicht mehr nur zu herausragenden biografischen Ereignissen das Leben narrativ bilanziert wird, sondern kleinste Anlasse gentigen, um eine Selbstthematisierung in Gang zu bringen, so gibt es jetzt auch nicht mehr nur das inszenierte Foto anlasslich der entscheidenden biografischen Ubergange (Geburt, erster Schultag, Kommunion, die erste Freundin, Abiturfeier, Hochzeit usw.). Moglich wird vielmehr eine nahezu liickenlose filmische Erfassung unseres Lebens: 'Life Caching' nennen das die Trendforscher. Das Fotoalbum, in dem die einzelnen Stationen eines gesamten Lebens erfasst sind, weicht den unzahligen Filmen, die auf Kassetten oder Festplatten von Computern gespeichert sind: tiber die Geburt, den ersten Tag im Krankenhaus, den ersten Tag Zuhause, den ersten Ausflug, das erste Bad, die ersten Gehversuche usw. Allein die Filme tiber den ersten Lebensabschnitt fiillen schnell ganze Regale. „Leben heiflt fotografiert werden und Aufzeichnungen vom eigenen Leben zu besitzen", schreibt deshalb vollig zu Recht Susan Sontag (2004: 13). Ohne deren visuelle Dokumentation trauen wir unseren eigenen Erlebnissen nicht mehr. Als wahr - im Sinne von: wirklich geschehen - gilt etwas offenbar nur dann, wenn es auf einem Monitor erscheint. Deshalb gibt es eine wahre Dokumentationswut des eigenen Lebens. Mit Hilfe von Digitalkameras zeichnen immer mehr Menschen ihren ganz gewohnlichen Tagesablauf auf und verleihen ihm auf diese Weise Bedeutung und vielleicht auch eine Art Wurde. Zahlreiche Sendungen aus dem Bereich Reality-TV und Doku-Soap machen deutlich, dass das ganz normale Leben, ohne spektakulare Aktionen und besondere Ereignisse, Aufmerksamkeit auf sich Ziehen kann, wenn es nur gefilmt und tiber Fernsehsender verbreitet wird. Die Kamera erscheint insofern als Aufmerksamkeitsgarant und -generator par excellence. Und selbst wenn sich kein Sender dafur interessiert, konnen die Sequenzen aus dem eigenen Leben dennoch eine gewisse Verbreitung finden, indem sie auf Homepages abrufbar sind oder per E-Mail verschickt werden. Jeder ist sein eigener 61

Fotograf und jeder kann sich mit Hilfe der neuesten Kommunikationstechniken eine eigene kleine Offentlichkeit schaffen. Wenn Walter Benjamin bereits in den 1930er Jahren notiert: „Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden" (Benjamin 1977: 155), so lasst sich heute sagen, dass diesem Anspruch langst massenhaft entsprochen wird. Doch statt wie bei Benjamin nur als Objekt der Kamera zu fiingieren, sind wir heute oftmals beides zugleich: Filmer und Gefilmte, Produzenten und Konsumenten unzahliger Fotos und Filme, die noch von den scheinbar belanglosesten Ereignissen und Begebenheiten angefertigt werden, aber auch - zur richtigen Zeit am richtigen Ort bemerkenswerte bis sensationelle Ereignisse festhalten konnen.11 Auch bei den Folterbildern aus dem Abu-Ghraib-Gefangnis handelt es sich nicht um Produkte des investigativen Journalismus, sondern um Erinnerungsbilder von Soldaten, die ihre Taten wahrend des Krieges festgehalten und verbreitet haben. Sie inszenierten Folterbilder fur ihre Kameras. Sich auf diese Weise darzustellen, ist nicht Nebeneffekt, sondern Ziel der Aktion. Ebenso verhalt es sich mit dem Phanomen des 'Happy Slapping' (frohliches Schlagen), das derzeit in GroBbritannien zu grassieren scheint (vgl. Honigsbaum 2005; Papilloud 2005): Eine Gruppe von Jugendlichen iiberfallt grundlos eine einzelne, wahllos ausgesuchte Person und lasst sich dabei von einem Gruppenmitglied filmen. Der Film wird umgehend weiter verschickt oder auf Websites prasentiert. SchlieBlich gibt es Falle, bei denen Schiiler ihre Mitschuler qualen und dies ebenfalls aufhehmen und zumeist auch verbreiten - und dies ohne Rucksicht auf die Folgen. Denn auf den entsprechenden Filmen sind zumeist nicht nur die Opfer, sondern auch die Tater gut erkennbar. Die Angst vor strafrechtlicher Verfolgung vermag gegen den 'Kick', im Mittelpunkt eines Films zu stehen, eine Tat zu begehen und sich dabei filmen zu lassen, offenbar nicht anzukommen.

3. Selbstthematisierung im Kampf um Aufmerksamkeit Allen drei Formen der Selbstthematisierung ist gemeinsam, dass mit ihnen Aufmerksamkeit erzielt werden soil. Warum sonst stellt man sich auf eigens errichteten Homepages aus, berichtet tiber Leben und Vorlieben? Warum sonst begibt man sich in Talk-Shows, um vor Millionenpublikum tiber private Beziehungsprobleme zu reden? Warum sonst stellt man Filme mit strafbaren Handlungen von sich ins Netz oder verschickt sie per E-Mail oder Fotohandy, wohl wissend, dass dies strafrechtliche Konsequenzen haben kann? Hinter all diesen

11 Die Amateurfilmerei hat dabei eine Bedeutung erlangt, die den klassischen Fotojournalismus in arge Bedrangnis zu bringen scheint (vgl. Caujolle 2005).

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Aktivitaten steht der Wille, wahrgenommen und nicht ignoriert zu werden. Ob Auftritte in Talkshows, auf der eigenen Homepage oder in selbsthergestellten Mini-Movies, vermittelt wird immer wieder die eine Botschaft: „Schaut mich an!", „Nehmt mich wahr!", „Ich bin wichtig!". Die Thematisierung des Selbst bezieht sich in diesen Fallen nicht nur auf eine solipsistische Thematisierung des eigenen Selbst und auch nicht auf eine auf ein spezifisches Gegentiber gerichtete Thematisierung, sondern auf eine Thematisierung des Selbst vor moglichst grofiem Publikum. Wem die Kanale zu einer Beschaftigung mit dem Selbst vor Publikum nicht offen stehen, der versucht sich auf andere Weise bemerkbar zu machen. Wie das Beispiel des 'Happy Slapping' zeigt, geht es dabei weniger um selbstreflexive Deutungsarbeit des eigenen Selbst als vielmehr um durch spektakulare Aktionen gesuchte Fremdthematisierung. Man will sich nicht so sehr selbst zum Thema machen, sondern sein Selbst zum Thema der anderen werden lassen; eine Selbstthematisierung, die nach Fremdthematisierung sucht bzw. dazu motivieren will. Die anderen so das Ziel - sollen formlich dazu gezwungen werden, sich mit einem zu beschaftigen, weil sie diese Taten (gewalttatige Angriffe auf Passanten) nicht ignorieren konnen. Abweichendem Verhalten scheint Aufmerksamkeit sicher. Das Beispiel der Bekenntnistalkshows zeigt, dass es nicht mehr um die Darlegung eines kompletten Lebens geht, das zur Beurteilung durch die anderen rechtfertigend vorgelegt wird, wie noch bei Rousseau. Vielmehr kommt es zur Darstellung einzelner Aspekte des Selbst bzw. einzelner Teil-Selbste, die nicht erklarend vorgestellt werden, sondern dem Publikum gewissermaiten zur Erklarung aufgegeben werden. Die nach innen gerichtete Selbstprufung und Selbstbetrachtung wie im Protestantismus, die penible Selbstbeobachtung bei Rousseau und Montaigne weicht einer expressiven Selbstdarstellung, der keine Selbstprufung und -erkenntnis mehr zwingend vorangehen muss. Insofern spricht viel fur die Vermutung von Norbert Elias, dass auf die Forderung der Philosophen: „Erkenne dich selbst" geantwortet werden konnte: „So genau wollen wir das ja gar nicht wissen!" (vgl. Elias 1991: 111). Nach dem Psycho-Boom der 70er und 80er Jahre - der in bestimmten Milieus noch immer gepflegt werden mag, nicht aber mehr als vorherrschender Trend gelten kann - haben wir es heute mit einem iiberaus expressiven Modell der Selbstdarstellung zu tun, das die Erkenntnis des eigenen Selbst dem anderen als Aufgabe aufbtirdet, nach dem Motto: Erkenne doch selbst, mit wem Du es zu tun hast. Wer ich bin? Halt dich an meiner Selbstdarstellung und finde es selbst heraus. Die heutige Funktion der Selbstthematisierung ist es insofern, die Aufmerksamkeit der anderen zu erlangen und die anderen zur Beschaftigung mit dem eigenen Selbst zu motivieren. Je nach Zusammenhang wird dabei ein verschiedenes Selbst prasentiert. Zwischen den verschiedenen Selbstprasentationen muss kein koharenter Zusam63

menhang bestehen. Spatestens dann aber, wenn Personen anwesend sind, die uns aus nur einem Kontext kennen und nun in einem anderen prasent sind, wird deutlich, dass wir mit der Diversitat unserer Rollen und Identitaten Probleme kommen - und zwar nicht deshalb, weil wir selbst darauf bestehen, ein einheitliches Selbst zu sein, sondern weil die anderen einen Ausschnitt von uns fur das Ganze halten bzw. von einem Ausschnitt auf den Rest der Person schlieBen - im positiven ebenso wie im negativen Fall. Dabei werden immer wieder in sich stimmige, widerspruchsfreie und koharente Bilder erzeugt, die nicht zulassen, dass ein Pastor zugleich auch ein Paderast sein kann, ein Massenmorder ein liebevoller Vater usw. In Fernsehreportagen wird immer wieder gern die Verbltiffung des nachsten Umfeldes gezeigt, wenn beispielsweise ein Massenmorder verhaftet wird, der von seinen Nachbarn stets als ruhig, hoflich und bescheiden beschrieben wurde. Trotz langst verbreiteter Einsicht in die Intransparenz eines anderen Bewusstseins, also gewissermaBen wider besseren Wissens, erwarten wir noch immer, einen Verbrecher an seinem auBeren Erscheinungsbild und seinem fur uns sichtbaren Verhalten erkennen zu konnen. Und noch immer ist die Uberraschung groB, wenn sich selbst der N&chste von einer Seite zeigt, die wir ihm nicht zugetraut hatten. Mit groBem Erstaunen wird dann immer wieder artikuliert: Da war wohl doch eine Seite an ihm/ ihr, von der niemand etwas geahnt hat. Mit anderen Worten: Trotz unzahliger Beispiele, die zeigen, dass sich hochst divergente Verhaltensmuster durchaus in einer Person vereinigen konnen, gehen wir im Alltag noch immer davon aus, dass es einander ausschlieBende Personlichkeitsmerkmale gibt, die unmoglich in einer Person vereinigt sein konnen. Und diese Erwartung erweist sich als erstaunlich hartnackig. Deutlich daran wird: Identitat ist in erster Linie eine von AuBen an uns herangetragene Zumutung. Wahrend wir selbst sehr viel groBziigiger damit sind, nicht passende Anteile in uns als nicht mehr langer zu uns gehorig auszublenden, besteht unsere Umwelt darauf, auch die ausgeblendeten Anteile als zu uns gehorig anzuerkennen. Insofern steht und fallt die Rede von den Patchworkidentitaten und ahnlich gebauter Identitatsmodelle mit der Akzeptanzbereitschaft der Umwelt, Diskontinuitat und Inkoharenz des Gegenubers zu tolerieren oder zu sanktionieren. Die Beispiele der Talkshows und des 'Happy Slapping' zeigen dartiber hinaus, dass sich Selbstthematisierung, Selbstdarstellung und Selbstinszenierung nicht mehr langer als Privileg gehobener Schichten verstehen lassen - die ablehnenden bis wiltenden Reaktionen von selbsternannten Sittenwachtern und professionellen Bedenkentragern auf den einschlagigen Nachmittagstalk sind wohl nicht zuletzt als Ausdruck der Emporung uber die Verletzung dieses Privilegs zu verstehen. Auch von wohlmeinenderer Seite wird gern tibersehen, dass die so geschmahten Talkshows gerade denjenigen eine Stimme verschaffen, 64

„die bisher in der btirgerlichen Offentlichkeit kaum zu Wort kamen" (Mikos 1998: 450). Und damit kommen sie - horribile dictu! - im Grunde einem Ziel nahe, das auf ganz andere Weise auch in Pierre Bourdieus Untersuchung uber „Das Elend der Welt" (Bourdieu et al. 1997) verfolgt wird (vgl. Schroer 2004). Man mag dariiber streiten, in welchen der beiden Formen - der Talkshow oder dem Interview - das Leben und die Lebensauffassungen der so genannten Unterschichten ungeschminkter zu Tage treten. Inszenierungsstrategien der Darsteller und Eingriffe der Moderatoren bzw. Interviewer wird man wohl auf beiden Seiten zu beriicksichtigen haben. Die Forderung nach Authentizitat an die Probanden scheint in beiden Fallen unangemessen. Die Sozialwissenschaften haben jedenfalls einen so groften Anteil an der Bekenntniskultur, dass Alois Hahn (2000: 197) nicht zu Unrecht von der „empirischen Sozialforschung als die nattirliche Tochter der Heiligen Inquisition" spricht. In seiner Studie uber das Elend der Welt hat sich Pierre Bourdieu ganz und gar der Aufgabe verschrieben, jene ins Licht zu rticken, die sonst im Dunkeln bleiben. Schon darin zeigt sich, dass auch die Soziologie selbst davon uberzeugt ist, dass das, was unsichtbar bleibt, dass derjenige, der nicht 6ffentlich tiber sich erzahlen kann, der Bedeutungslosigkeit ausgeliefert ist. Doch auch wenn man so weit nicht gehen will, wird an den drei Beispielen jedenfalls deutlich, dass der Kampf um Aufmerksamkeit, der mit alien Mitteln der Selbstdarstellung geftihrt wird, keineswegs nur unter Politikern, Ktinstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern tobt, sondern gerade auch unter den von Ausgrenzung bedrohten Bevolkerungsschichten (vgl. Funke/ Schroer 1998: 231 f). Denn die Sorge, als irrelevant ignoriert und ausgeschlossen zu werden, beherrscht gerade hier das Lebensgefuhl: „Der Ausgegrenzte empfindet sich als jemanden, dessen Wiirde verletzt wurde und dem man keine Beachtung mehr schenkt. Er ftihlt sich verachtet und wird es auch oft. Von den Jugendlichen der sozial benachteiligten Viertel ist immer wieder zu hOren: »Wir existieren nicht, man sieht uns nicht.'" (Lapeyronnie 1998: 308)

Um aus dieser Unsichtbarkeitsfalle zu entfliehen, kommt es zu einem ^ingen um das Gesehenwerden" (ebd.: 310), wobei die Gewalt ein bevorzugtes Mittel darstellt, um auf sich aufinerksam zu machen, worauf auch Pierre Bourdieu hinweist: Die vom Spiel Ausgeschlossenen, zumal die Jtingsten, konnen, so Bourdieu, „(...) auch in Gewaltakten, deren Eigenwert mehr oder ebensoviel zahlt wie der reale Gewinn, den sie bringen, ein verzweifeltes Mittel suchen, sich 'interessant' zu machen, vor den anderen, fur die anderen zu existieren, zu einer, in einem Wort, anerkannten Form sozialer Existenz zu gelangen." (Bourdieu 1997: 145)

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Bourdieu macht aber zugleich darauf aufmerksam, was die Soziologie daran hindert, dieses Phanomen wahrzunehmen: „AIs Professionelle der Deutung, deren sozialer Auftrag es ist, Sinn zu beschaffen, Erklarungen zu liefern, Ordnung zu stiften, haben es die Soziologen, vor allem, wenn sie bewuBte oder unbewuBte Anhanger einer apokalyptischen, auf entscheidende Briiche oder Veranderungen setzenden Geschichtsphilosophie sind, nicht leicht, diese Ausschreitung um nichts, wenn nicht um des SpaBes willen, zu verstehen, diese Aktionen, die nur vollfuhrt werden, damit etwas geschieht, um lieber irgendetwas als nichts zu tun, wenn es nichts zu tun gibt, um auf dramatische - und rituelle - Weise zu bekraftigen, daB man etwas tun kann, und sei es, indem man eine Ubertretung, eine Zuwiderhandlung begeht, von der sicher ist, daB sie jedenfalls, im Scheitern wie im Gelingen, 'Sensation macht'." (ebd.)

Wie richtig Bourdieu mit dieser Beobachtung liegt, lasst sich allein daran erkennen, dass jenseits dieser Motivation stets nach anderen Motiven gesucht wird, die die Tat erklaren konnen sollen. Dabei ist die Erleichterung nicht zu iiberhoren, wenn die Recherche einen verwahrlosten sozialen und/oder rechtsradikalen Hintergrund des Taters zu Tage fordert. Dass es allein um einen Kampf um Aufmerksamkeit gehen konnte, wobei Aufmerksamkeit nicht das Mittel ist, um etwas anderes zu erreichen, sondern selbst schon das Ziel angesehen werden muss, liegt tatsachlich auflerhalb der Logik ublicher sozialwissenschaftlicher Erklarungskategorien. Um die scheinbar sinnlosen und motivlosen Taten zu verstehen, ist es aber gerade unabdingbar, den Aufmerksamkeitsaspekt zu beriicksichtigen, geht es doch dabei um den Kampf um soziale Relevanz, der angesichts unseres „Antennenschicksal[s]" (Kracauer 1977: 323) offenbar immer vehementer geftihrt werden muss. Angesichts des „Zustand[s] dauernder Empfangnis, trachtig stets mit London, dem Eiffel-Turm und Berlin", der uns „zum Tummelplatz von Weltgerauschen" macht, die „in grenzenlosem Imperialismus von uns Besitz" ergreifen (ebd.), haben wir es mit einem verstarkten Kampf um Aufmerksamkeit zu tun, der angesichts der Knappheit der Ressource Aufmerksamkeit zu immer pointierter ausfallenden Selbstthematisierungen fiihrt, damit sie - angesichts der tiberwaltigenden Flut von konkurrierenden Selbstthematisierungen - uberhaupt wahrgenommen werden. Damit aus der „Besetzung des Selbst (Gergen 1990: 195) durch andere Einstellungen, Wertvorstellungen, Ideologien und Lebensweisen anderer Menschen keine vollstandige Annektierung wird, muss zudem eine umso intensivere und aufwendigere „Identitatsarbeit" (Keupp 1997: 16) betrieben werden, deren Resultat in der spat- bzw. postmodernen Gesellschaft allerdings immer nur eine vorlaufige sein kann.

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Herbert Willems / Sebastian Pranz Vom Beichtstuhl zum Chatroom. Strukturwandlungen institutioneller Selbstthematisierung1

Einleitung Die Formation des modernen Individuums ist bekanntlich ein langfristiger und komplexer historischer Prozess, der viele Dimensionen und Wurzeln hat (vgl. Hahn 1984; Willems/ Hahn 1999). Zentral ist nach allgemeiner soziologischer Auffassung die grundlegende Wandlung der Sozialstruktur, d.h. vor allem: der Prozess der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems. Im Verlauf dieses sich tiber vierhundert Jahre hinziehenden Prozesses sind die gesellschaftlichen Funktionsbereiche anhand ihres jeweiligen zentralen Bezugsproblems ausdifferenziert worden. Damit geraten die Individuen in eine strukturelle AuBenstellung zur Gesellschaft. Sie sind in alle Spharen der Gesellschaft eingelassen, jedoch jeweils nur in ftir sie selbst partiellen Engagements, z.B. als Kunden, Glaubiger, Arzte, Patienten, Verkehrsteilnehmer usw. Sie konnen nun nicht mehr nur einem Teilsystem der Gesellschaft angehoren, wie man nur einem Stand angehorte. Vielmehr muss jedermann Zugang zu alien funktionalen Teilsystemen der Gesellschaft erhalten kGnnen, ,je nach Bedarf, nach Situationslagen, nach funktionsrelevanten Fahigkeiten oder sonstigen Relevanzgesichtspunkten" (Luhmann 1989: 149 ff.). Die moderne Gesellschaft schlieBt den Einzelnen damit in seiner psychischen Totality aus. Das moderne Individuum ist ein Kosmos, der sich in keiner realen kommunikativen Situation mehr voll kommunizieren lasst, der in keines der Subsysteme als ganzes kommunikativ 'eingebracht' werden kann. Weil es an verschiedenen als Sinnspharen eigengesetzlichen und nicht aufeinander abgestimmten Funktionsbereichen partizipieren muss, kann das moderne Individuum seine Identitat nicht mehr auf soziale Inklusion grtinden. Es kann nur mehr durch soziale Exklusion bestimmt werden (Luhmann 1987: 158), und d.h.: es wird in gewisser Weise sich selbst (iberlas-

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Der folgende Aufsatz verdankt weit mehr als markierbar dem Werk von Alois Hahn, dem wir an dieser Stelle herzlich zu seinem 65. Geburtstag gratulieren. Wir versuchen Hahns wegweisende Theorie der Selbstthematisierung aufzugreifen und weiterzufuhren.

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sen und auf sich selbst gestellt. War in der vormodernen, primar stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft Identitat mit der Einordnung in die Gesellschaft, mit Familienzugehorigkeit, Stand, Geschlecht etc. relativ konkret gegeben und damit das Individuum fur andere wie fur sich selbst relativ eindeutig 'identifiziert', so wird in der modernen Gesellschaft jedermann zugemutet, jenseits seines jeweiligen Rollenensembles selbst seine Identitat zu 'finden' bzw. zu erfinden, sich selbst seine Identitat zu 'geben'. Friedrich Tenbruck beschreibt die modernisierungsimmanente Ausgangslage und Ausgangsproblematik der Selbstkonstruktion des Selbst, um die es hier geht, folgendermafien: „Er [der moderne Mensch, H.W., S.P.] verliert immer mehr die permanente soziale Gruppe, welche ihm der Spiegel seiner Identitat ist. Sein Handeln spielt sich weitgehend partiell in fluchtigen Begegnungen, gegeneinander isolierten und funktionsspezifischen Gruppen ab, die jeweils von dem Rest seiner Rollen und seines Daseins nichts wissen, nichts wissen wollen und nichts wissen konnen. Er wird deshalb von der sozialen Gruppe her nicht mehr zum Ausgleich und zur Harmonisierung seiner sozialen Rollen aufgefordert. (...) Das bedingt einen tiefgreifenden Wandel in dem Selbstverstandnis des Individuums. Weil ihm die Gesellschaft das Nachund Nebeneinander seines Handelns nicht mehr im sozialen Spiegel zur Identitat eines Selbst zusammenbindet, tritt ihm sein eigenes Handeln als ein blofies Bundel von Tatigkeiten gegeniiber, aus dem ihm weder die einheitliche Verfassung eines handelnden Selbst, noch die Empfindung einer eigentlichen Verantwortlichkeit dieses Selbst fur sein Handeln hervortreten kflnnen." (Tenbruck 1989: 330)

Mit den im 18. Jahrhundert voll durchschlagenden sozialstrukturellen Veranderungen entstehen also neue und erhohte Anforderungen an die Identitatskonstitution und Verhaltensorientierung, beginnt die Problematisierung von Identitat und der „Kampf um 'Identitat' und Autonomic" (Soeffher 1998). In ihm wird das Individuum - 'inhaltlich' in der Kontinuitat vonfreilichumgedeuteten religiosen Subjektivitatskonzepten (vgl. Hahn 1982) - selbst und sich selbst zum Zweck und Projekt. Vor diesem Hintergrund sind die Institutionen der Selbstthematisierung als historische Funktionskontexte zu verstehen (vgl. Hahn 1987). Als Formen und Verfahren der Idmtitatsreflexion, seien sie wie etwa das Tagebuch solitarer oder wie etwa die Psychotherapie interaktioneller Art, fimgieren diese Institutionen als (latente) Kompensative der gesamtgesellschaftlichen Desintegration und 'Identitatsproblematik' des Individuums. Das Individuum l&sst sich nur noch in solchen Spezialinstitutionen in seiner biografischen Totalitat und Idiosynkrasie thematisieren und 'behandeln'. Umgekehrt entspringt dann auch erst Identitat, z.B. als biografische 'Definition' des Individuums, den jeweiligen institutionellen Verfahrensbedingungen, Deutungsmustern und kommunikativen (Interaktions-)Geschichten. Man kann daher von Identitatsgeneratoren oder spezieller von „Biographiegeneratoren" (ebd.) sprechen (vgl. Bohn/ Hahn 1999). Diese reagieren aber eben zunachst auf Defizite, die mit der sozialen Differenzierung zu74

sammenhangen. Sie ist ein zentraler Resonanzboden dieser Institutionen und begriindet deren gesellschaftlichen Ort und deren Funktion. Vergleicht man nun die modernen Institutionen der Selbstthematisierung, dann zeigen sich neben universellen Prinzipien (bestimmte Relationen von Wissen und Nichtwissen, von Anonymitat und Intimitat, von Geheimnis und Enthtillung usw.) grundlegende Entwicklungsbesonderheiten und Transformationen ihrer Logik. Wir glauben, dass sich diese Wandlungen in wesentlichen Punkten auf den Begriff der Theatralisierung bringen lassen. Damit ist auch ein Subjektivismus gemeint, der schliefllich abhangig von der Evolution medialer Kommunikationsmodi Form und Gewicht gewinnt. Diese Uberlegung wollen wir im Folgenden ausfuhren. Es geht uns dabei vor allem um zwei zentrale Kontexte bzw. Felder der Selbstthematisierung, namlich die (interaktionsbasierte) Psychotherapie, die wir in der Tradition der Religion bzw. der Beichte verstehen, und das Internet bzw. den Internet-Chat. In Bezug auf die Psychotherapie wollen wir zeigen, dass die Differenz zwischen der klassischen Psychoanalyse und den neueren Gruppentherapien als ein spezifischer Theatralisierungsprozess zu beschreiben ist, namlich als ein Prozess der Theatralisierung von Praktiken und Deutungsmustern. Vor diesem Hintergrund wird die Analyse der Selbstthematisierung im Chat einen weiteren 'qualitativen Sprung' in dieser Entwicklungslogik feststellen.

1. Entwickhmgen moderner Institutionen der Selbstthematisierung /. 1 Von der Religion zur Psychotherapie Individualist kann sich nur als Abweichung vom Erwarteten thematisieren. Die Abweichung selbst kann entweder positiv oder negativ akzentuiert sein. Die negative Variante der Abweichung lasst sich binar kodieren: namlich als Schuld oder als Leid. Die Schuld bedarf der Verzeihung, das Leid des Mitleids oder der Therapie. Der neue Typus der Autobiografie, wie er durch Rousseau eingeleitet wird, knupft an der Generalisierbarkeit des Leids an. Das Leiden macht individuell. Aber nur der Autor als Schriftsteller kann es bei der Erzeugung von folgenlosem Lesermitleid belassen. Die 'demokratisierbare' Variante ist die therapeutische Behandlung als Alternative fur blofles Mitleid. Die seit dem 18. Jahrhundert einsetzende Sakularisierung der autobiografischen Thematisierung von Abweichung ubernimmt von der Beichte das Bekenntnis und die Lossprechung: aber sie ersetzt Schuld durch Leid und Krankheit und provoziert entsprechend statt Verzeihung Heilungs- und Mitleidshoffhung. Damit ist schliefllich auch eine andere Profession am Werk, um das Individuum zu betreuen: nicht mehr 75

Beichtvater oder theologische Lebensberater, sondern Psychiater, Psychologen und Therapeuten (Willems/ Hahn 1999: 24 f.; Luhmann 1994: 194). Die Psychoanalyse und alle spater entstandene Psychotherapie steht als Ensemble von Vorstellungen und Praktiken in einer komplexen, teils kontinuierlichen, teils diskontinuierlichen Nachfolge der Religion. Deren „Bearbeitungen der Seele" (Castel 1987: 174), speziell die Beichte, setzen sich fort in neuen Formen von Kontrolle, Sinngebung und Identitatsbildung, die auf Normalitat, Gesundheit und 'Selbstverwirklichung' zielen. Das impliziert den gesteigerten Einsatz von Bekenntnis- und Reflexionsformen, die besonders geeignet sind, Individualist zu berucksichtigen und zu 'spiegeln'. Eine zentral wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang spezifikationsfahige Deutungsschemata und Verfahrensprinzipien wie das Prinzip der situativen Patientenorientierung. So geht die Psychoanalyse davon aus, „(...) daB Analytiker und Patient eine gemeinsame Sprache sprechen mussen und daB speziell der Analytiker sich eng an der Sprach- und Erfahrungsform des Patienten orientieren sollte, wenn er eine Deutung formuliert." (Flader 1982: 177)

Uberhaupt sieht sich der Therapeut seit Freud als eine Art Moderator im Dienste eines 'Rezipientendesigns', das vermittelt zwischen individuellen (fallspezifischen) Bedingungen und Bedtirfhissen einerseits und therapiespezifischen Verfahrens- und Deutungsmustern andererseits (Berger/ Luckmann 1969: 122). Dank dieser gesteigerten Flexibility kann die Therapie unter modernen Bedingungen als ein effizientes Verfahren der Sinngebung fimgieren. Demgegentiber muss das kirchlich-religiose Sinn- bzw. Ritualangebot da den Funktions- und Resonanzboden verlieren, wo die Umstande der Einzelnen so differenziert und unvergleichbar werden, dass kollektiv bereitliegende rituelle Handlungsangebote keine hinlangliche Verbindung mit den Problemen der Sinnbedtirftigen behalten (vgl. Hahn 1977: 73). Als moderne Menschen finden diese in den Therapiepraxen (zunachst der Psychoanalyse) Verfahren, die eine den rites de passage analoge Wirkung erzielen, indem sie das Individuum als solches mit seiner jeweils einmaligen, u.U. ganz untypischen Biografie 'behandeln'. Diese (heilsame) Funktion impliziert und fundiert eine tendenziell totale Kontrolle des Patienten durch den Therapeuten und durch die Institution, fur die er steht. D.h., der Patient hat „keine Kontrolle tiber seine Situation und sich selbst, aber die Gesellschaft ubernimmt diese Kontrolle fur ihn, indem sie die Kontrolle uber ihn gewinnt" (Hahn 1977: 73). In der Psychoanalyse beruht die Kontrolle und 'Bildung' des Patienten auf zwei wesentlichen S&ulen. Zum einen ist dies - in seiner Beziehung zum Patienten - der Therapeut, den Foucault zu Recht als den „Schlussel der Psychoanaly-

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se" (Foucault 1973: 535) bezeichnet hat. Der Therapeut verfiigt qua Rolle liber eine aus vielen Quellen gespeiste Super-Autoritat. Ihm haftet seit jeher „(...) der Nimbus des Besonderen (...) an, er bekommt einen Allmachtsaspekt, der verkniipft ist mit dem ambivalenten Geftihl des Unheimlichen wie auch dem des Helfen- und SchiitzenkOnnenden, d.h., er riickt dicht an die Sphare des Gottlichen heran. Diese Aura von Macht, die den Deutenden umgibt, ist die Folge einer Asymmetrie, die zwischen ihm und seinem Publikum besteht: Er allein verfiigt uber die Mittel, Unverstandenes verstandlich und damit handhabbar zu machen". (Flader 1982: 141)

Die andere Saule der psychoanalytischen (Therapeuten-)Praxis ist das technische Reglement, insbesondere das Zentralpostulat der bedingungslosen Ehrlichkeit des Patienten. Diese „Grundregel" (Freud) bedeutet, und damit geht die Psychoanalyse entscheidend uber die religiose Beichte hinaus, nicht nur ehrliches Bekenntnis im Sinne von 'Sagen, was man meint', sondern 'Alles Sagen'.2 Zwar fungiert auch der Psychoanalytiker, wie Freud selbst bemerkt, als ,,'Beichthorer', der durch die Fortdauer seiner Teilnahme und seiner Achtung nach abgelegtem Gestandnisse gleichsam Absolution erteilt" (Freud 1975: 76), aber er gibt sich weder mit dem zufrieden, was der Patient zu 'gestehen' in der Lage ist, noch erkennt er es als sachlich voll giiltig an. Die 'Gestandnisse' des Analysanden sind nicht einmal die wichtigste Informationsquelle, auf die sich der Analytiker sttitzt. Dessen Anspruch auf fremde Selbstenthullung fallt vielmehr noch radikaler und totaler aus als der des Beichtvaters. Freud gibt ein Beispiel fur die Formulierung der „eigentlich (...) einzige[n]" Vorschrift, der der Analysand zu folgen hat: „Noch eines, ehe Sie beginnen. Ihre Erzahlung soil sich doch in einem Punkte von einer gewOhnlichen Konversation unterscheiden. Wahrend Sie sonst mit Recht versuchen, in Direr Darstellung den Faden des Zusammenhangs festzuhalten, und alle storenden Einffclle und Nebengedanken abweisen, um nicht, wie man sagt, aus dem Hundertsten ins Tausendste zu kommen, sollen Sie hier anders vorgehen. Sie werden beobachten, dafi Ihnen wahrend ihrer Erzahlung verschiedene Gedanken kommen, welche Sie mit gewissen kritischen Einwendungen zuruckweisen mOchten. Sie werden versucht sein, sich zu sagen: Dies oder jenes gehOrt nicht hierher, oder es ist ganz unwichtig, oder es ist unsinnig, man braucht es darum nicht zu sagen. Geben Sie dieser Kritik niemals nach und sagen Sie es trotzdem, ja gerade darum, weil Sie eine Abneigung dagegen verspiiren. Den Grund fiir diese Vorschrift - eigentlich die einzige, die Sie befolgen sollen - werden Sie spater erfahren und einsehen lernen: Sagen Sie also alles, was Ihnen durch den Sinn geht. Benehmen Sie sich so, wie zum Beispiel ein Reisender, der am Fensterplatze des Eisenbahnwagens sitzt und den im Inneren Untergebrachten beschreibt, wie sich vor seinen Blicken die Aussicht verandert. Endlich vergessen Sie nie, daB Sie voile Aufrichtigkeit versprochen haben, und gehen Sie nie iiber etwas hinweg, weil Ihnen dessen Mitteilung aus irgendeinem Grunde unangenehm ist." (Freud 1975: 194 f.)

2 Goffman hat von einer „Sag-Alles-Doktrin" gesprochen (Goffman 1973: 85).

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Wahrend also der Priester das Beichtkind zum prinzipiell (selbst-) verantwortlichen Diagnostiker seiner 'kranken Seele' und zum Subjekt entsprechender Mitteilungen macht, erklart der Analytiker den Analysanden zunachst fur selbstblind und depotenziert ihn entsprechend zum blofien Sender seiner Binnenzustande. Das Gestandnis, das in der Beichte zur Beseitigung des 'Ubels' fiihren soil, hat insofern in der Psychoanalyse keinen Sinn mehr, „(...) zumindest dann nicht mehr, wenn man darunter die Haltung eines Schuldigen versteht, der zuzugeben hat, daB er das, was er getan hat, nicht hatte tun dlirfen oder daB er etwas empfunden hat, was er nicht hatte empfinden dilrfen." (Castel 1987: 177)

Die „freie Assoziation" des Analysanden setzt also auf eine ganz neue Art eine Entwicklung fort, „(...) die begann mit der freiwilligen Selbstenthiillung des einzelnen vor dem zur Geheimhaltung verpflichteten Priester, der seinerseits den allwissenden Gott vertrat: Glasern soil der Mensch in der Beichte fur den Beichtvater werden, wie er es vor Gott ohnehin war". (Hahn 1982: 428)

Und glasern soil auch der Patient fur den Analytiker werden, so wie er es im Rahmen der vom Analytiker vertretenen und beanspruchten Wissenschaft zwar nicht als Individuum, wohl aber als 'System' (Ensemble von 'Strukturen') ohnehin ist. Ziel des therapeutischen Verfahrens ist schlieBlich eine Selbsterkenntnis, die zu einer inneren Selbstveranderung mit der Implikation einer gesteigerten Selbstkontrolle fiihren soil: Selbstkontrolle verweist hier also auf Selbsterkenntnis und Selbsterkenntnis verweist auf Ehrlichkeit der Selbstthematisierung.3 Diese Ehrlichkeit (rucksichtslose Selbstenthiillung) des Patienten und alle mit ihr verbundenen Bewusstseins- und Interaktionsprozesse (z.B. 'Ubertragungen') sind hoch voraussetzungsvoll. Eine wesentliche Rolle spielt die hybride, quasipersonliche Beziehung zum Therapeuten, die ihrerseits bedingt ist. Conditio sine qua non ist die dem Beichtarrangement analoge Vorkehrung des therapeutischen Settings. In ihm ist ein Maximum an Geheimnis mit einem Maximum an Offen-

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In der Psychoanalyse spielen mithin zwei Typen von Ehrlichkeit eine Rolle: zum einen - als Zweck des Verfahrens - Ehrlichkeit gegentiber sich selbst. Sie ist als Anerkennung eigener Vergangenheit und als Wiederherstellung eines entsprechenden Gedachtnisses gleichbedeutend mit Heilung und Authentizitat. Zum anderen geht es - als Mittel zu diesem Zweck - um Ehrlichkeit in der Selbstdarstellung gegenuber dem Therapeuten. Diese Ehrlichkeit grundet sich in der Kontinuitat der Rolle des Beichtkindes gegenuber dem religiOsen „Seelenlenker" (vgl. Hahn 1982: 424) wesentlich auf die persftnliche Beziehung des Patienten zum Therapeuten sowie auf dessen Rolle als lebensbegleitender (Er-)Kenner der individuellen Gesamtpersdnlichkeit

heit kombiniert.4 Geheimnis und Enthullung, Selbstthematisierung und Selbsterkenntnis erweisen sich also als zwei Seiten eines Prozesses, der von religiosen und therapeutischen Zielsetzungen ergriffen und gefordert wird. Immer dann, wenn „(..) Freiwilligkeit der Selbstoffenbarung angestrebt wird, finden sich Kombinationen von Bekenntnis und Geheimnis. Die Beichte und die Psychoanalyse sind als verhullte Enthtlllungen die Synthesis zwischen SelbstentbloBung und Selbstverdeckung". (Hahn 1982: 427)

Diese Synthesis kennzeichnet nicht nur das AuGenverhaltnis, sondern auch den Binnenraum des religiosen und des therapeutischen Selbstthematisierungsverfahrens. In beiden Rahmen steht der tendenziell totalen Selbstejtfhtilrung des Einen die tendenziell totale SelbstverhtiHung des Anderen gegentiber. Beichtvater und Therapeut sind mit autoritats- und machtbildenden Mystifikationseffekten5 systematisch anonymisiert. Dies gilt fur die Ebene der Kommunikation wie fur die der Wahrnehmung. Beichtstuhl und Coucharrangement sind „(...) asymmetrische Vorkehrungen (...) als Teil eines Rahmens, innerhalb dessen ein Beruf ausgeilbt wird. Psychoanalytiker oder auch Pfarrer z.B. beobachten ihre Klienten, ohne umgekehrt ebenso leicht beobachtet werden zu k5nnen". (Goffman 1971: 26)

Grundregel und Setting bilden in der Psychoanalyse den Rahmen nicht nur eines mehr oder weniger konzentrierten 'Problemberichts', wie ihn das Beichtkind abgibt, sondern einer „groBen Erzahlung" (Castel 1987: 177) des Analysanden. Sie wird mit der Konsequenz einer spezifisch dramatischen Selbst-Auffuhrung durch drei Bedingungen ermoglicht, gefordert und strukturiert: erstens die Garantie eines 'uneingeschrankten Horers', zweitens die Aufhebung aller sozialen Limitationen, sich und andere zum Thema zu machen, und drittens die Aufwertung des eigenen Innenlebens, aller Regungen und Phantasmen. Aus diesen Rahmenbedingungen ergibt sich flir den Analysanden typischerweise eine Neubewertung und Neuempfindung der Realitat seines Lebens: eine Dramatisierung

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Die medialen Bekenntnisorgien heutiger Talk Shows und „Fernsehtherapien" (Krabbe 1991) scheinen diese Logik umzukehren: Ein Maximum an Intimitat verbindet sich mit einem Maximum an Publizitat. Die Selbstenthullung in der gruppentherapeutischen 'Offentlichkeit' kann als Vorstufe dieser doppelten Entgrenzung verstanden werden. Den Verhaltensmodus, urn den es hier geht, hat Goffman in seiner beruhmten Analyse der „Selbstdarstellung" als Strategic beschrieben, die nicht nur in symbolisch anspruchsvollen Kontexten praktiziert wird: „Allgemein gilt Einschrankung des Kontakts, also die Wahrung der sozialen Distanz, als Methode, um beim Publikum Ehrfurcht zu erzeugen, eine Methode, wie Kenneth Burke es formulierte, um den Darsteller beim Publikum in einem Zustand der Mystifikation zu halten" (1976: 62 f.).

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der Therapieexistenz und eine Entdramatisierung des Alltagsdaseins. Das alltagliche „(...) Leben wird leblos, ein bloBer Schatten jenes wirklichen Abenteuers der menschlichen Existenz, das sich auf der Couch abspielt. Hier findet das Wesentliche start, in das man am meisten investiert". (ebd.)

Als „repressionsfreies Reservat" (Habermas) der Selbstthematisierung steht die Psychoanalyse zwischen den entsprechenden Verfahren der Beichte und der Psychiatrie (vgl. Castel 1987: 172 f.) einerseits und der Gruppentherapie andererseits. Die der Psychoanalyse nachfolgenden Gruppentherapieformen, Castel nennt sie „Bastarde der Psychoanalyse" (1987: 179), schlieflen an die Funktionslogik der Psychoanalyse als Raum der Selbstthematisierung modulierend und expandierend an. Die Gruppentherapien bieten einen Raum erweiterter Inklusion, in dem sich neben 'Erzahlungen', die ihr psychoanalytisches Urbild noch deutlich zu erkennen geben, andere Formen gratifizierender Aufteralltaglichkeit abspielen. Die Gruppentherapien tibernehmen von der Psychoanalyse das Prinzip der 'Repressionsfreiheit', aber sie ersetzen das Freud'sche „experimentale Dispositiv" (Castel 1987: 175), mit dem die Logik des Unbewussten reproduziert werden soil, zum einen durch einen tiber die Selbstthematisierungsebene hinausgehenden sozialen Spielraum und zum anderen durch einen eigentumlichen Gemeinschaftstyp. Die Grundregel ist der Hauptgenerator des Materials, aus dem die wesentlichen Identitatserzeugnisse der psychoanalytischen Therapie sind, ihre Biografisierungen. Sie sollen im Zuge einer vom Therapeuten angeleiteten Selbsterforschung, die an die Motivforschung der „Sundenanalyse" erinnert (vgl. Hahn 1987: 20 f.), zur Wahrheit des (kranken) Individuums flihren. Freud assoziiert diese Wahrheit (wie vor ihm die Beichtvater) aufs engste mit dem Thema der Sexualitat. Sie ist ftir ihn buchstablich der Stoff, aus dem die Leben und - als „Triebschicksale" - die Lebensgeschichten sind. Freud vergleicht die entsprechende Deutungsaktivitat des Analytikers mit der Arbeit des Archaologen, „der eine zerstorte oder verschtittete Wohnstatte oder ein Bauwerk der Vergangenheit ausgrabt" (1975: 397). Ziel der analytischen Deutung ist es, im Prozess der Aufdeckung seiner Lebensgeschichte ins Innerste des kranken Individuums vorzudringen, namlich „zum Kerne der pathogenen Organisation" (ebd.: 84). Die Heilung wird also in einer Reflexion versucht, die, indem sie beansprucht, wahr zu sein und gelebtes Leben abzubilden, zentralen Wert auf Konsistenz6 6

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Mit dem biographischen Konsistenzpostulat der Therapie entstehen auch erst eigentumliche Sinnlosigkeitseindriicke. Die Therapie erzeugt insofern ein Problem, fur dessen L5sung sie sich dann anbietet (vgl. Hahn 1987a).

legt. Sie ist das Prinzip der Beobachtung und Deutung des Analytikers, die schlieBlich in einem das Ratsel des Patienten losenden und damit erlosenden Gesamtbild der 'Bruchstucke' seines Lebens enden soil. Freud zieht einen aufschlussreichen Vergleich mit einem Puzzle: „Dort ist eine farbige Zeichnung, die auf ein Holzbrettchen geklebt ist und genau in einen Holzrahmen paBt, in viele Stiicke zerschnitten worden, die von den unregelmaBigen krummen Linien begrenzt werden. Gelingt es, den unordentlichen Hauf von Holzplattchen, deren jedes ein unverstandliches Stuck Zeichnung tragt, so zu ordnen, daB die Zeichnung sinnvoll wird, daB nirgends eine Liicke zwischen den Fugen bleibt und daB das Ganze den Rahmen ausftillt, sind alle diese Bedingungen erfullt, so weiB man, daB man die Losung des Puzzles gefunden hat und daB es keine andere gibt." (ebd.: 265)

Die Verfolgung dieses Ziels, das Freud mit dem Begriff „Psychosynthese" umschrieben hat (vgl. Nitzschke 1994: 28), ist allerdings nicht blofl dem konkreten und individuellen therapeutischen Prozess iiberlassen, sondern orientiert sich an einem vorgegebenen Schema. Diese „Karte fur die Seelenlandschaft" (Hahn 1987: 20), namlich das kanonisierte Wissen der psychoanalytischen „Metapsychologie", beinhaltet sozusagen als Muster „viele Geschichten mit vorhersehbaren alternativen Verlaufen" (Habermas 1979: 321). Die Individualist der analytischen Biografie - und damit der Identitat des Analysanden - ist insofera eine systematisch relative. Sie formiert sich als Variante eines Skripts in einem Diskursrahmen, der als Deutungsanleitung nicht zur Disposition steht und im therapeutischen Prozess subjektiv wahr wird. Wie die Stindenbiografie dem Beichtkind ins Gedachtnis gepflanzt wird, so wird dem Analysanden die Geschichte seiner 'Briiche' als seine Identitat gespiegelt.

1.2 Vom psychoanalytischen zum gruppentherapeutischen Dispositiv So wie die Psychoanalyse in vielen Punkten die religiose Beichte beerbt hat, so haben die heutigen Gruppentherapien die Psychoanalyse beerbt. Auf der Ebene des Verfahrens besteht die deutlichste Kontinuitat im aufleren Setting, das einen extraterritorialen Bezirk etabliert, vor storenden Wahrnehmungen schutzt, einen Geheimnisraum ermoglicht, Distanzen zum Alltag markiert. Wie die Psychoanalyse stellt die Gruppentherapie auch eine Art Spielkontext dar, der zusammen mit den raumlichen Schranken des Settings auBergewohnliche soziale Handlungsfreiheiten und Erlebnischancen generiert. Die besondere Systemform und Funktionalitat der Gruppentherapien resultiert aus der Verbindung von Therapiekontext (Setting und Therapierahmen) und Gruppe bzw. symmetrischer Gruppeninteraktion. In jeder (Funktions-)Hinsicht entscheidend ist, dass das 81

Gruppenmitglied „nicht nur in einer zweipolaren Arzt-Patient-Figuration, sondern wie im 'wirklichen' Leben in einer multipolaren [Figuration, H. W.; S.P.] ins Spiel kommt" (Elias 1972: 32). Unter den Vorzeichen des therapeutischen Kontextes (Rahmens) entsteht im Mikrokosmos der Gruppe ein gesellschaftlich einmaliger Kommunikations-, Erlebnis- und Lernraum. In ihm verbinden sich erweiterte und zugleich abgesicherte Kontingenzspielraume mit humanistischen Orientierungen (Ethos des 'blofi Menschlichen') und mit der Gemeinschaft. Wahrend die Psychoanalyse ihren kontextverdankten Spiel-Raum durch ihr technisches Reglement einschrankt, bzw. nur in den Grenzen ihres 'experimentalen Dispositivs' Gebrauch davon macht, tendieren die neueren Gruppentherapien dazu, die besonderen kommunikativen Moglichkeiten des therapeutischen Verfahrensrahmens praktisch auszuschopfen, d.h. eine Art Gegen-Alltagswelt zu realisieren. So sind die verschiedensten tJberschreitungen und Umbildungen der alltaglichen Interaktionsordnung vorgesehen, z.B. 'Regressionen' und lebenspraktische Trobelaufe'. Eine zentrale Rolle spielen theatrale und theatralische Aktionen wie das „Psychodrama", in dem das Gruppenmitglied „(...) seine Bedtirfnisse und Phantasien verwirklicht, unabhangig von anatomischen, physiologischen und psychologischen Bedingungen. Im psychodramatischen Kosmos kann der Mensch Tiere, Dinge, Konzepte verkftrpern. Es gibt keine Einschrankungen". (Schneider-Duker 1981: 36)

Die Biihne dieses psychologischen Theaters ist „(...) der Innenraum, der durch den Kreis der Gruppe entsteht. Hier findet die dramatische Handlung statt. Das Wort 'Protagonist' bezeichnete in der griechischen Tragodie den ersten Schauspieler, der dem Chor gegenubertrat Im Psychodrama ist es das Gruppenmitglied, das sich vor der Gruppe und mit Hilfe der Gruppe mit seinen Konflikten auseinandersetzt Es geht dabei nicht darum, daB er ein guter Schauspieler ist, sondern darum, dafi er (...) zeigt, wie er im 'wirklichen' Leben drauBen sich entweder nicht zeigen kann oder darf - oder will". (Barz 1993: 264; vgl. auch Hormann 1987: 182 ff.)7

In der Kontinuitat der Psychoanalyse herrscht also auch in der Therapiegruppe die Maxime und die Norm der Ehrlichkeit, aber diese Ehrlichkeit ist der Theorie und der Norm nach eine Ehrlichkeit von und zwischen Subjekten, die sich immer auch expressiv 'entfalten' und nach 'Entfaltung' trachten. Die Gruppentherapie bildet damit nicht nur ein 'repressionsfreies Reservat', in dem im Prinzip alle (Selbst-)Themen Platz haben, sondern auch ein spielerisch - asthetisches Ausdrucksfeld, mit einem entsprechend komplexen Erlebnis- und Erfahrungspo-

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Schmidbauer spricht treffend vom „Psychodrama" als „theatralischer Therapie" (1992: 55).

tential.8 Das bedeutet nicht, dass die Gruppentherapien ein sozialer Kontrollfreiraum waren. Im Gegenteil! Im Rahmen der therapeutischen Gruppe ist „die soziale Kontrolle allgegenwartig. (...) Es gibt keinen Kontrollschatten. Die Kontrolle, das Auge des kleinen GroBen Bruders ist tiberall" (Popitz 1987: 638), und es ist mit der moralischen Effektivitat der Gruppe gepaart, durch die das Individuum Modelle (z.B. von Normalitat) erfahrt und zugleich 'empirisch gehaltvoll' tiber sich selbst informiert wird. Es entfaltet sich typischerweise eine Art moralische Sogwirkung, die bewusste (motivierte) und unbewusste Selbstmodifikationen des Individuums nach sich zieht. Um die Akzeptanz und Anerkennung der Gruppe zu erreichen, muss das Mitglied seine Verhaltensstile an die Gruppennormen anpassen (Revenstorf 1993; Yalom 1995). Die Gruppentherapie ist also nicht nur ein Zentrum (wenn nicht der Inbegriff) des Marktes, den Richard Sennett den ,,Bekenntnis-Markt" (Sennett 1983: 142f.) nennt.9 Sie ist vielmehr Ort einer allseitigen Selbstauffiihrung und Selbstdramatisierung. Das Bekenntnis, das in der Psychoanalyse als das Vehikel der Selbsterforschung und Selbstfindung fungiert, wird damit in seiner Rolle und Wichtigkeit relativiert. Stattdessen tritt immer mehr die Theatralitat der Selbstdarstellung und (d.h.) der Korper als Erlebens-, Erlebnis- und Ausdruckskorper in den Mittelpunkt. So verwandelt sich der psychoanalytische „(...) Procrustes-Diwan (...) in eine multidimensionale Buhne (...), Raum und Freiheit fur Spontaneitat schaffend, Freiheit fur den KOrper und kOrperlichen Kontakt, Freiheit der Bewegung, der Handlung und des Zusammenspiels". (Moreno 1973: 81)

Der in der Psychoanalyse stillgelegte Korper wird nun umgekehrt zum sprechenden Korper, zum Subjekt und Objekt von 'Spielen', die nirgendwo sonst in der Gesellschaft gespielt werden (vgl. Ruitenbeek 1974: 141; Hofstatter 1986: 214 f.).10 8

So kommt es in Therapiegruppen ('hinter den Fassaden' der Gesellschaft) typischerweise zu der heilsamen Schlusselerfahrung der Normalitat und Ahnlichkeit des Elends 'hinter den Fassaden'. Derartige Erfahrungen sind nur mOglich (und unvermeidlich), weil man es in Therapiegruppen mit seinesgleichen zu tun hat, mit 'normalen' Anderen, die ebenso zur Ehrlichkeit verpflichtet und geneigt sind wie man selbst. 9 Auf ihm bieten sich diverse Beichtgemeinschaften Individuen an, die im Bekenntnis SelbstBestatigung suchen. „Der Bekenntnis-Markt hat seine eigene Logik in einer Gesellschaft, die von der Angst beherrscht wird, man habe kein eigenes Selbst, solange man nicht einem anderen davon erzahlt" (ebd.: 142 f.). 10 Diese 'Spiele' sind z.T. sehr weitgehend grenzuberschreitend und daher auch in Therapeutenkreisen umstritten. So schreibt Schmidbauer in Bezug auf „nonverbale Kontaktubungen": „Sie bis zu der Aufforderung zu steigern, die Kleider abzulegen und einander mit geschlossenen oder offenen Augen abzutasten, zu beriechen und zu umarmen, mag zwar logisch und konsequent erscheinen, ist aber psychologisch absurd." (1992: 133)

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Die Gruppentherapie bietet damit spezifische Chancen der direkten Kompensation jener 'Systemzwange', von denen eingangs die Rede war. Eingeschlossen sind dabei auch Emotionen bzw. Emotionsausdrticke. Das heiBt, in der Gruppentherapie konnen iebendige' Emotionen evoziert, ausagiert und voragiert werden, die gesellschaftlich sonst nirgendwo 'passen' bzw. die stigmatisiert wtirden, weil sie elementare Akzeptabilitatsniveaus unterschreiten. Die Therapiegruppe eignet sich damit besonders fur Katharsis, als „Sauna fiir die Seele" (Eckert 1998: 7), in der innerhalb gegebener normativer und habitueller Zivilisationsgrenzen11 Emotionspflege betrieben werden kann. Sie bietet Btihnen, Ausdrucksvokabeln, Requisiten und 'Spiegel', die es gestatten, jene „Homoclausus-Selbsterfahrung" zu kompensieren, die Norbert Elias als Signatur des modernen Bewusstseins beschrieben hat. So offerieren gruppentherapeutische „Nackt-Marathons" einen spezifisch theatralischen Weg aus dem „(...) Dschungel hoflicher Entfremdung, in dem der psychische und emotionale Kontakt durch Mauern, versperrte Tiiren, Bekleidetsein, gesellschaftliche Rollen und eine ganze Reihe anderer Masken verhindert wird". (Ruitenbeek 1974: 141)12

Vorausgesetzt und forciert wird mit solchen Methoden eine „neue Subjektivitat" (Dreitzel 1981: 192). Sie zeichnet sich aus durch einen „(...) reflexiven Gebrauch des KOrpers, der Gefuhle, der auBeren Natur und, allgemeiner, der realitatskonstruierenden Tatigkeiten in Interaktionen. Und damit ist beides gemeint, eine reflektierende Haltung, die bewuBt die Qualitat, die Intensitat und paradoxerweise sogar den Grad der Spontaneitat im Ausdruck k5rperlicher und emotionaler Bedurfhisse wahlt, ebenso wie die Selbstreflexivitat solcher Ausdrucksformen". (Dreitzel 1981: 192)

Dreitzel erkennt in diesem theatralen, theatralisierten und theatralischen Subjekt die Signatur einer sich „anbahnenden neuen Phase des Zivilisationsprozesses", die eine „reflexive Einstellung zur Sinnlichkeit erfordert, in der Distanz und Engagement, Planung und Spontaneitat sich einander bedingen und erganzen" 11 Als Spielraum auch eruptiver emotionaler Spontaneitat setzt die Gruppentherapie natiirlich nicht nur sozialsystemische Rahmenbedingungen, sondern auch Personlichkeiten voraus, die ihre Affekte kontrollieren kOnnen und die vor allem jene Affekte nicht haben, welche die Therapie und die Therapierten nicht verkraften kOnnten. Sexuelle oder physisch aggressive Ubergriffe z.B. dtirfen in der Therapie nicht vorkommen; und sie kommen normalerweise nicht vor. Die Akteure, die sich hier am Werk (ihrer selbst) befmden, haben es dank ihrer Habitusausstattung nicht oder kaum nOtig, sich zu 'beherrschen'. Die Automatik ihrer Selbstkontrolle macht den bewussten Verzicht auf Selbstkontrolle sozial tragbar und psychisch gratifizierend. 12 Ein eher repressives Verfahren, den „Homo clausus" zu 'offnen', ist die 'Marathon-Methode': „Die ErschOpfung durch den Schlafmangel tragt zweifellos zur Aufgabe sozialer Fassaden bei. Wie ein Marathon-Leiter sagte: Miide Leute sagen die Wahrheit; sie haben nicht die Kraft, um Spiele zu spielen. Eine 90 Minuten dauernde Sitzung ist nicht lang genug, um Menschen zu zwingen, ihre Masken abzunehmen." (Yalom 1974: 235)

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(ebd.: 194). Dariiber hinaus zeigt sich eine gesteigerte symbolische und biografische Beweglichkeit, eine Entwicklungstendenz weg von einer Fixierung an ein Selbst, das wie im Falle des Analysierten auf eine bestimmte Wahrheit, eine Moral, eine Vernunft festgelegt wird, hin zu einer Dynamisierung des Selbst. Das Selbst wird als explizites und reflexives Selbst unbestimmter und beweglicher. Es emanzipiert sich mehr oder weniger von seiner Vergangenheit und macht sich zum gegenwarts- und zukunftsorientierten Autor und 'Gegenstand der Fiktion'. Moglich wird so, was angesichts komplexer, individualisierter und veranderlicher Lebenslagen gesellschaftlich tatsachlich notig ist: fallweise und situativ pragmatische Stiftung von Existenzsinn. Dass damit auch die (Auto-) Biografisierung disponibilisiert wird, bedeutet allerdings nicht, dass sie an Relevanz und Beachtungswert verliert. Im Gegenteil! Die Erweiterung der Spielraume biografischer 'Poesie' zwingt und befreit zu entsprechendem Handeln, und das bedeutet: Individualisierung und Subjektivierung. Alois Hahn hat in diesem Zusammenhang einen interessanten Vergleich gezogen: „Was man von totalitaren Regimes behauptet hat, daB sie ihre Geschichte standig neu schrieben, das gilt auch fur das moderne Individuum und die Inhalte seiner Bekenntnisse. Dieser Wechsel der Selbstdefinition wird dann selbst als Teil der Autonomic des Individuums erfahren, das sein Leben (genauer: sein Privatlcbcn) schlechthin subjektiv interpretieren kann. In dem MaBe, wie unser Ich an objektiv verbindlicher Verpflichtung verliert, wird es fur uns zum narziBtisch empfiindenen Quellgrund immer neuer, stets interessanter Romane." (Hahn 1982: 439)

Man mag hier von einer symbolischen „Bastelexistenz" (Ronald Hitzler) oder auch von einer Identitatspoesie sprechen, deren Moglichkeiten sich durch die medientechnische Evolution enorm und spezifisch ausweiten.13 Das heiBt, die beschriebene Entwicklungslogik setzt sich mit dem Aufkommen neuer medialer Kommunikationspotentiale und schlieBlich mit der Etablierung des Internets fort. Das Individuum wird nun zum noch freieren Spiel-Subjekt seiner Identitat, die es im Medium spezifischer dramaturgischer Handlungstypen generiert.

2. Selbstthematisierung im Chat Die Theatralisierung der Selbstthematisierung und des Selbst erreicht in der Evolution der Medien (und damit der medialen 'Buhnen') mit dem Internet 13 Das biographische 'Basteln' ist naturlich auch jenseits des psychologisch-therapeutischen Kontextes eine verbreitete Beschaftigung. Handlungsfreiheit besteht dabei nicht nur in der aktuellen Definition von Vergangenheit, sondern auch im selektiven Festhalten an Kontinuitaten, wie z. B. der Identifikation mit einem FuBballverein. Selbstbindungen dieser Art dilrften heute einen erheblichen persOnlichen Identitatswert besitzen.

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einen vorlaufigen Hohepunkt. Die neuen Kommunikationsformen, die sich hier eroffhen, stellen die menschliche Interaktion in einen vollig neuen Rahmen und haben in kurzester Zeit nicht nur die Sprache den neuen Gegebenheiten entsprechend verandert, sondern daruber hinaus ganzlich neue Beziehungstypen und 'Gesellschaften' (communities) mit neuen Se/fotauffassungen und -konzeptionen entstehen lassen. Worum es geht, ist eine neue Qualitat, eine neue Dimension von Theatralitat, die nicht nur eine eigenttimliche soziale Realitat ist, sondern auch anfordert und hervorbringt. Raum und Korper miissen im ortlosen Digital-Medium textuell erschaffen und daruber hinaus immer auch theatral glaubhaft gemacht werden. Sie treten als Korper- und Rmmeindruck in die Leerstelle technischer Vermittlung und ermoglichen so Orientierung im und Navigation durch den virtuellen Raum.14 Theatrales Handeln findet damit in der direkten Interaktion des Chat nicht nur zu neuen Moglichkeiten, sondern ist immer auch an der Losung der medientechnisch aufgeworfenen Probleme beteiligt. Mit dem Chat thematisieren wir die wohl originarste kommunikative Gattung der so genannten neuen Medien. Die Chatkommunikation stellt einen bisher einzigartigen15 Hybrid aus schriftbasierter Distanzkommunikation und miindlicher Kommunikation unter physisch koprasenten Akteuren dar. Dabei bedient sie sich der Schrift, dem klassischen Medium der Interaktion raumlich getrennter Kommunikationsteilnehmer, ermoglicht aber einen synchronen 'Gesprachs'-Ablauf.16 Im Sprachbild amalgamieren daher Elemente, die sowohl auf schriftliche als auch auf mtindliche Praxisformen verweisen: verschriftlichte Dialekte und Endungsausfalle stehen neben annoncenformigen Gesprachsaufforderungen, ausformulierten 'Regieanweisungen' und in schriftsprachlichem Hochdeutsch verfassten Selbstbeschreibungen (vgl. Sassen 2000). Die Interaktion im Chat verlauft potentiell „wechselseitig anonym" (Gallery 2000: 75): Der nickname, also das vom Benutzer selbst gewahlte Pseudonym, 14 Dies gilt naturlich auch fiir die visuelle Dimension der neuen Medien. Man denke bspw. an die realistisch behandelbaren Raumeindrucke von Flugsimulatoren oder die Inszenierung von Korperlichkeit in bestimmten Videospielen, in denen „errechnete" (Fafiler 2002: 18) Bildwirklichkeiten diese Funktion ubernehmen. 15 Ein direkter Vorganger der Chatkommunikation diirfte das MUD (Multi User Dungeon) aus dem Jahre 1978 sein - ein interaktives Rollenspiel, das auf Textbasis stattfindet (vgl. Lischka 2002: 107). Synchrone Kommunikation auf dem Medium digitaler Kommunikationsschrift existiert im Internet neben dem Chat inzwischen in unterschiedlicher Form (z.B. als so genanntes Instant-Messaging) und wird bspw. auch in Live-Videospielen mit mehreren Spielergruppen dem grafisch animierten Spielgeschehen hinzugeschaltet. Wenn sich diese Auspragungen synchroner Textkommunikation auch hinsichtlich der durch sie konstituierten Spezialkulturen maBgeblich voneinander unterscheiden mOgen, so sind sie doch unter den hier relevanten Aspekten weitestgehend redundant. 16 Man kOnnte einen Vergleich mit der Telegrafenkommunikation des 19. Jh. Ziehen.

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camoufliert das hinter ihm stehende Subjekt prinzipiell so effizient, dass dieses in der Lage ist, jedwede 'Identitat' anzunehmen und glaubhaft zu verkorpern. Ob und wie sehr es sich hinter diese Maske blicken lasst (z.B. ob es anderen im Chat seinen 'richtigen' Namen verrat), ist immer die eigene Entscheidung und bietet ihm damit in seinen Handlungen jeden denkbaren Schutzraum. Der Handelnde ist insofern also ein technisch vollstandig verhtillter Akteur, dessen materieller Korper vollig in der textuellen Representation aufgeht und sich losgelost „vom Kontext und dem Kontakt mit dem Objekt" (Finter 2004: 313) dramaturgisch entfalten kann. Damit liegt auf der Hand, dass die kommunikative Situation des Chatrooms - auch als 'Setting' fllr Selbstthematisierung - den Handelnden sowohl vor vollig neue Moglichkeiten und Eventualitaten als auch vor neue Probleme, Anforderungen und Herausforderungen stellt. Diesen muss er begegnen, wenn er tiberhaupt sinnvoll kommunizieren will. Der strukturell erzeugte Kommunikationsraum ist also als Moglichkeitsraum zu begreifen, der sich zwischen medial bedingten Grenzen und Optionen aufspannt, wobei die Sprache, als „mediales Substrat" (Luhmann 1997a: 267) der stattfindenden Kommunikationen, immer der wichtigste Informant beztiglich der situativen Probleme und ihrer Losungen ist (vgl. Luckmann 1987). Wir wollen im Folgenden drei Teilaspekte ansprechen, die sowohl die Chatkommunikation in ihrer medialen Eigenart ausmachen als auch Kontinuitaten und Diskontinuitaten in der oben aufgezeigten Entwicklung implizieren. Den besagten Subjektivismus konkretisieren wir dabei anhand einer Untersuchung der moglichen Selbstthematisierungen. 2.1 Kommunikationsschrift17 Als ersten Teilaspekt betrachten wir das Medium der digitalen Schrift bzw. ihre einkanalige Vermittlung und die daraus resultierenden Konsequenzen fur die Selbstthematisierung und -auslegung. Fur den Medienverbund des Internets stellt die Schriftsprache, trotz der langsam zunehmenden auditiven18 bzw. audiovisuellen Kommunikationsformen, immer noch das primare Kommunikationsmittel dar: Private wie berufliche Kommunikation findet in Form von E-Mails, Inseraten in Foren oder Instant-Messengern19 in zeitlich versetzter oder nahezu synchroner Form tiber das Medium der Schrift statt. Fiir die Chatkommunikati-

17 Luhmann 1997a: 279. 18 Man denke an die Internettelefonie, wie sie durch Systeme wie Skype ermGglicht wird. 19 Messenger sind kleine Programme, mit denen kurze Text-Nachrichten ausgetauscht werden kOnnen.

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on gilt, dass sich in ihr und durch sie Gemeinschaften bilden, welche die Akteure sowohl zeitlich20 als auch in Bezug auf die Identification mit der online tibernommenen Rolle in beispielloser Weise einbinden. Chatten stellt eine Kommunikationsform dar, die trotz ihres kanalarmen Vermittlungsmodus funktionalen Absprachen21, informellen Gesprachen (also dem eigentlichen 'to chaf), experimentellen Rollenspielen und Live-Improvisationen22 ebenso gerecht wird wie erotisch getonten oder dezidiert sexuellen Interaktionen.23 Der Chat kann damit den unterschiedlichsten Aspekten des Selbst und der Selbstthematisierung als Biihne dienen. Im digitalen Medium lost sich der leibliche Korper der kommunikativen Akteure (und uberhaupt der materielle Raum ihrer Kommunikation) hinter seiner zeichenhaften Representation auf. So wie das digitale Bild nichts mehr abbildet - allein „fur sich" steht (Fafller 2002: 18) - , so fehlen auch der digitalen Schrift jegliche Hinweise auf die Korper ihrer Benutzer.24 Damit ist ein wesentlicher Unterschied zu alien anderen Formen der Schriftproduktion angesprochen, der sich am deutlichsten im Vergleich mit der Handschrift zeigt: Hier ist der Korper als schreibender Korper im Schriftdokument enthalten. Er hinterlasst in der Schrift eine „Korperspur" (Hahn 1993: 203, Fuflnote 3), die vom Leser als „K6rpGrsprache " (ebd.: 205, Hervorhebung im Original) zum Gegenstand der Interpretation gemacht werden kann.25 In der Handschrift, als einem Ausdruck des Habitus (vgl. Bourdieu 1982: 282), schwingt demnach immer eine eigene Bedeutungsebene oder sogar eine Metabedeutung mit, welche die textuell vermittelte Information tiberspannt - und zwar nicht nur, wenn mit dem eigenen Blut geschrieben wurde oder die Tinte von Tranen verwischt ist. Die digitale Schrift hingegen blendet den Korper sowohl als sozial positionierende und gewichtende Kraft als auch als dramaturgische Ressource vollig aus. Dass dies weit reichende Konsequenzen fur die kommunikative Situation hat, liegt auf der Hand und lasst sich anhand der Differenz Anwesenheit/ Abwe20 Laut Hahn/ Jerusalem verbringen Jugendliche zwischen 7,6 und 34,6 Stunden pro Woche im Internet, wobei Chats und Foren mit 19% an erster Stelle der genutzten Angebote stehen (Hahn/ Jerusalem 2001). 21 Z.B. Verabredungen zu Online-Spielen, wie es im Rahmen der so genannte e-sports, also professionell organisierter Videospiel-Ligen, der Fall ist. 22 Vgl. Beisswenger (2001): 130. 23 Vgl. Hamman (1998) sowie Kollmann (2001). 24 Der Prozess des Schreibens, als Abbildung von KOrperbewegungen (vgl. Hahn 1993: 202) mittels Tinte auf Papier, wird hier zu einem Prozess des Auswdhlens von Buchstaben auf der Tastatur. Digitale Zeichen sind damit allein auf ihre Zeichenhaftigkeit reduziert; ihnen liegt ein vollstandig eindeutiger Produktionscode zugrunde, den man ASCII oder auch eine Kombination binarer Schaltungen nennen kann. 25 Hahn gibt das Beispiel grafologischer Gutachten (ebd.).

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senheit verdeutlichen, wie sie Luhmann als Ordnungsfaktor fur die mundliche Kommunikation entworfen hat (Luhmann 1997a: 250 f.). Wer sich in den Chatroom einloggt, tragt sich damit in die Liste aller kommunikativ Verfiigbaren ein. Dass dies aber noch nicht Anwesenheit bedeutet, zeigen die vielfaltigen Formen von Abwesenheit, die damit vereinbar sind. In der Verschrankung von (virtuellem) Kommunikationsraum und (tatsachlichem) Produktionsraum26 sind sie letztlich ununterscheidbar: Der Kommunikationspartner, auf dessen Antwort man wartet, kann unaufinerksam, ablehnend, technisch abgeschnitten oder einfach qfk (away from keyboard) sein.27 Wahrend in der direkten Kommunikation physisch koprasenter Akteure Anwesenheit (in der Terminologie Luhmanns) „Form" ist - sich also in ihrer Differenz zu alien Abwesenden bezeichnen lasst (Luhmann 1997b: 814) -, fehlt hier eine klar unterscheidbare AuBenseite (vgl. Luhmann 2001: 244 f.). Der Empfangerkreis ist damit in beide Richtungen unbestimmt; er kann gerade die Akteure nicht enthalten, an die man sich richtete (also die eigentlichen Adressaten), dafur aber eine unbestimmte Menge an Empfangern, namlich die (unbeobachteten) Beobachter der Kommunikation, die dem 26 Vgl. Schmidt (2000) sowie Starrer (2001). 27 Dies zeigt das folgende Beispiel. Die Gesprachssituation wurde im Separ6e beobachtet - also einem 'intimen' Setting mit wenigen Gesprachspartnern (eingeloggt sind slurm, fry, lisa und lucy). Der Beobachter (slurm) erscheint im Gesprachsraum, verweigert sich aber jeglicher Kontaktaufiiahme durch die anderen Chatter und zieht gerade dadurch deren Aufmerksamkeit auf sich. Hier kommen Abwesenheit von der Tastatur (10b), technische StOrung, Mystifikation, Voyeurismus (1), soziale Ablehnung (11) etc. als Rahmung in Frage. Die kommunikative Situation bleibt letztlich ungeklart, was zum Beenden des Gesprachs fuhrt. [I] [2] [3]

was macht der slurm guckt der uns zu Belassen wier es beim chatten? he fry willst du meine handynummer??

C) [4] Ihr b5sen Madchen bleibt immer unter euch!!! [5] nein machen wir garnicht [6] Doch [6b] [von fry: w oder m] [7] hi slurm chatten??? [8] Gibt es hier einen SLURM [8b] [von fry: Aufwachen!!!!!!!!] [9] [10] hallo? [ 10b] [von fry: Hallo einer zu Hause?] [II] schOnen arsch, slurm [lisa verlasst den chat] [lucy verlasst den chat] [12] [13] HE SLURM (www.Kinder.de, 24.2.03, Namen geandert)

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kommunikativen Vollzug entweder unentdeckt beiwohnen oder seine Archivversion zu einem spateren Zeitpunkt einsehen. Die Kommunikation muss daher zu jedem Zeitpunkt storungsunanfalliger sein, als dies jede nicht vermittelte direkte Kommunikation je ware: Sie verliert mit der Differenz zwischen Anwesenheit und Abwesenheit nicht nur ihre Funktion als „Einfangvorrichtung" (Luhmann 1997b: 815), sondern muss dariiber hinaus jederzeit eine Vielzahl an moglichen Rahmungen einrechnen - die Negation der Frage, ob die Kommunikation uberhaupt zustande kam, sofern man diese ausgehend vom Verstehen des Empfangers stellt (Luhmann 1997a: 259), eingeschlossen. Wahrend die eine Seite der Form also letztlich nicht klar besetzt werden kann, lasst sich Anwesenheit im Chatroom mit der Produktion von Text gleichsetzen: In der linken Spalte des Bildschirms, wo die Konversation der anderen voranschreitet, erscheint der eigene nickname vor jedem erzeugten Turn. Die eigene Kommunikationsbereitschaft muss also permanent iiber die Emission von Text aktualisiert werden28 wenn er nicht aus dem oberen Bildschirmrand verschwinden will, muss der Handelnde performativ tatig werden.29 Gerade hinsichtlich der kommunikativen Situation, in welcher Chats stattfinden, wird leicht ubersehen, dass das digitale Tragermedium der Schrift neben seiner Funktion als Verbreitungsmedium, also als Garant fur die kommunikative Erreichbarkeit raumlich ferner Interaktionspartner - immer auch ein Archiv darstellt, das alle auf ihr basierenden Kommunikationen umfasst: Was in der Ungezwungenheit eines 'elektronischen Rendezvous' kommuniziert wird ist immer auch 'ins Archiv gesprochen'. Es fallt nicht dem „segensreiche[n, H.W.; S.P.] Sofort-wieder-Verschwinden des gesprochenen Wortes" (Luhmann 1997: 266 f.) anheim, sondern ist beliebig speicherbar und vervielfaltigbar. Die eigene Biografie wird damit in jeder 'Chatsitzung' nicht nur performativ ausgehandelt, sondern im eigentlichen Sinn des Wortes weitergeschrieben, wobei Vergangenes zu jedem Zeitpunkt „operativ verfugbar" (ebd.) bleibt und, z.B. als biografische Konsistenz, von den Gesprachspartnern eingeklagt werden kann. Die kommunikative Intimitat, die den Chat bisweilen auszeichnen mag, lasst dabei 28 Beisswenger spricht von „Melderoutinen" (Beisswenger 2001: 110). 29 Hierin liegt unseren Erachtens die Erklarung fur die haufig vorkommenden SPAM-Beitrage, die vor allem von Chat-Neulingen als Aufmerksamkeitsgeneratoren genutzt werden: kOrperliche Abwesenheit wird hier sozusagen durch Einnahme eines mOglich grofien Textabschnittes kompensiert: : wer will chaten der drtickt

@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@ @@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@@ (www. Kinder, de 20.2. OS)

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oft vergessen, dass die digitale Schrift ttber stark ausgebildete Schnittstellen zum Medienverbund des world wide web verfiigt und damit jeder Kommunikation immer auch eine potentiell totale Offentlichkeit innewohnt.30 Es ist eine interessante Frage, ob und wie die Tatsache, dass die Kommunikation im Chat in ihrem vollstandigen kommunikativen Abbild und synchron zum Prozess des Gesprachs einem kollektiven Gedachtnis zu Protokoll gegeben wird, die Situationsdefmition der Handelnden verandert.31 Ftir die Selbstthematisierung ist mindestens festzustellen, dass ihr die „Leichtigkeit des Vergessens" (ebd.), wie sie dem gesprochenen Wort eigen ist, abgeht. Dadurch dass der Text zum Tragermedium direkter Kommunikation wird, andern sich die prinzipiellen Rahmenbedingungen theatralen Handelns. Mit der materiellen Dimension des Kommunikationsraumes geht in der einkanaligen Vermittlung nicht nur ein wichtiger Bezugspunkt kommunikativer Ordnung, sondern eben auch jener fimdamentale theatrale Parameter verloren, den Fischer-Lichte mit dem Begriff der „Korporalitat" anzielt (Fischer-Lichte 2000: 11 ff.). Theatralitat muss im einkanaligen Medium ohne den Korper stattfinden und ist damit in einer ihrer Grunddimensionen irritiert: Verhiillen/Offenbaren ist ein fundamentaler Modus theatralen Handelns, der sich bereits in der Dramaturgic zeigt, die den Sinn eines Stuckes durch Erscheinen- und VerschwindenLassen von Korpern auf der Buhne interpunktiert. Indem der digitale Text den Korper des Handelnden vom kommunikativen Ubermittlungsprozess ausschlieGt, interferiert er also empflndlich mit der binaren Einheit von Ostentation" und „Geheimnis" (Rapp 1973: 183 f.): Bisweilen ist der Handelnde nicht ein dramaturgisch bedeutsam verborgener, sondern ein schlicht technisch ausgeblendeter Akteur. Sein Nichtantworten auf eine Frage mag Mystifikation sein oder einfach nur Folge einer technischen Stoning - diese Rahmenunsicherheit lasst sich in den sozialen 'Situationen' des Chat nie vollig ausschlieBen. Umgekehrt entsteht dem eigenen Auftritt im kanalarmen Medium zunachst ein Ausdrucksdefizit, welches durch theatrales Engagement und mit den Mitteln der Schriftsprache kompensiert werden will. In dem MaBe, wie sein K5rper technisch ausgeblendet ist, muss der Handelnde diesen im kommunikativen Vollzug

30 Dass sich hier v5llig neue Formen des Missbrauchs erOffhen, liegt auf der Hand. Hammans Beobachtungen belegen die Praxis mancher Chatter, ihre erotischen Interaktionen (so genannter Cybersex) aufzuzeichnen, um diese spater (gegen den Willen und/oder ohne das Wissen der Gesprachspartner/'Sexualpartner') auf der eigenen Homepage, im Chat oder per Kettenmail zu veroffentlichen (Hamman 1998). 31 Man denke an die Garfinkelschen Krisenexperimente mit Aufzeichnungen der Gesprache (vgl. Schneider 2002: 28 f.).

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'nachinszenieren', wobei Auskunfte uber „analoge Information"32 als formatspezifische Poesie in die Interaktion mit einfliefien.33

2.2Multimodale Selbstauslegungen Die obigen Uberlegungen zum Chat als kanalreduzierter Kommunikationsform machen bereits deutlich, dass Selbstthematisierung hier zwangslaufig mit §Q\bstkonstruktion gleichbedeutend ist. Im Chat beginnt die Selbstthematisierung mit dem Pseudonym, unter dem man auftritt, und dessen Wahl in den meisten Fallen ein autokratischer Akt ist.34 Es steht einerseits fur die uneingeschrankte MSglichkeit, selbst zu entscheiden, als 'wer' man von den anderen gesehen werden mochte. In dieser Hinsicht enthalt der nickname, als „only initial way of saying who we are, in literally one word or one expression" (Bechar-Israeli 1996), immer auch Spuren des (jeweils) zugrunde liegenden Selbstkonzeptes und nimmt im Chat oftmals das „topic of conversation" (ebd.) vorweg.35 Andererseits verdeutlicht sich an ihm die performative Verpflichtung des Handelnden: der theatrale Handlungs-Modus von Auswahlen und Zeigen (vgl. Eco 2002: 266 f), der hier aller Kommunikation - aller Sichtbarkeit - vorausgehen 32 Im Sinne von Watzlawicks „Axiom" (Watzlawick et. al. 1969: 62 f.). 33 Dafur gibt es zahlreiche Beispiele - begonnen mit den in *Asterisken* stehenden Stammverben (*knuddel*, *grins* etc.) uber die so genannten Emotikons ;-):-(und Synonyme wie lol (laughing out loud) bis hin zu uber den Zeichensatz erzeugten Visualisierungen:

Blaink: <^<(^J0>_<"> (www.kinder.de, 23.2.03) 34 Abgesehen davon gibt es Chatrooms, in denen die MOglichkeit besteht, fur die jeweilige Chatsession einen 'Einwegnamen' generieren zu lassen. 35 Folgendes Beispiel findet sich bei Beisswenger (2001: 118): (scharfesjuder) Hallo.:-) (Brassa) he scharfesjuder, komm her du geile sau Ein Beispiel fiir den nickname als systematischen Konfliktgenerator mag folgende Beobachtung darstellen: <SADDAM-HUSSEIN>:

(www.Kinder.de, 20.3.2003)

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ES LEBE DER IRAK ICH WILL DAS SICH DIE USA SELBST ZERBOMTWENN SIE NICHTS ANDERES ZU TUN HABEN!!!!!!!!ICH WILL ZEBOMBEN VORALLEM DEN AMERIKANER DIE SAU UND MIT BOMBEN SOGAR MIT VIELEN. (sic!)

muss. Das dramatische Subjekt entfaltet sich fortan in einem Prozess, der jederzeit eine prinzipiell vollstandige Informationskontrolle ermoglicht. Die Interaktionspartner wissen dabei (iiber jeden Vertrautheitsgrad der Beziehung hinweg) nie mehr iiber die Person, die sich hinter dem nickname verbirgt, als diese ihnen in Gesprachen selbst mitgeteilt hat. Wissen und Nichtwissen sind damit in eine im Vergleich zu den erwahnten Kontexten radikal neu konfigurierte Beziehung zueinander gebracht: Innerhalb eines Settings, das eine totale Kontrolle jeglicher „Informationsquellen" (Goffman 1976: 203) auf Seiten des Akteurs etabliert, indem es die 'Realitat' der Wahrnehmung des Interaktionspartners vollstandig entzieht (vgl. ebd.: 228), entwickelt sich das Selbst in erster Linie als dramaturgisch disponibles Selbst, das sich um einen empirischen 'Kern' herum aufbauen kann, aber nicht muss. Das schlieflt eine Bekenntniskultur im klassischen Sinne mehr oder weniger aus. Dennoch bietet sich gerade in diesem inszenatorischen Spielraum das vielleicht gr5i3te Potential der Exploration von Selbstkonzepten. Unter den spezifischen Rahmenbedingungen, die die digitale Kommunikationsschrift und ihre synchrone Vermittlung erzeugen, schlielien sich intime Kontakte zu anderen Akteuren und erfolgreicher Ruckzug in die Anonymitat nicht aus. Vielmehr konnen sie zu einem gefahrlosen Selbsterleben genutzt werden, das sich in anderen Kontexten nicht oder nur schwer realisieren lasst. Die wesentlichen Voraussetzungen dafur sind die Entlastung des Handelns von jeglichen Konsequenzen sowie die sich tiber verschiedene Pseudonyme erstreckende Multimodalitat des Selbst. Das heiBt, dass Handeln im Chat immer ein Probespielraum eigen ist36, dessen Abmessungen mit der vom Handelnden eingeraumten Distanz zur eigenen Figur zusammenfallen. Die Rollenkonzepte, denen hier Raum gegeben wird, variieren in ihrer Spielart von der auf Konfrontation angelegten 'Einwegfigur', die als Vehikel fur deviante kommunikative Bediirfiiisse genutzt werden kann37, iiber die in einen festen Freundeskreis eingebetteten regulars™ bis hin zur 'Charakterprothese', deren Plastizitat und Eigenleben Riickwirkungen auf das 'reale' Leben des Handelnden haben konnen. Miteinander konkurrierende oder sich wechselseitig exkludierende Selbstkonzepte und Rollen konnen im Chat demnach unter mehreren Imagekonten geflihrt werden, wobei es prinzipiell jederzeit moglich ist, Sanktionen und Gratifikationen getrennt voneinander zu verbuchen: romantische Treueschwiire stehen neben (virtueller) Promiskuitat, Harmoniestreben steht neben Konfliktsuche, Mannlichkeit neben Weiblichkeit. Vergleichbar mit der Gruppentherapie entsteht hier in der 36 Turkle spricht hier vom „Moratorium" (vgl. Turkle 1995: 204). 37 Z.B. das Beschimpfen anderer Chatter bzw. die gezielten Konfliktsuche (so genannten 'flaming' oder 'flamewar'). Beide sind als gangige Praxis im Chat bekannt (vgl. auch das zweite Logfile in FuBnote 35). 38 Also'Stammgaste'.

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Interaktion mit anderen Menschen ein expandierter Moglichkeitsraum realistischer 'Selbsterfahrungen' und ehrlicher Emotionen: „Virtuelle Selbstenthullungen umfassen (...) das gesamte Spektrum menschlicher Note und Sorgen..." (Doring 2000). Multipliziert man die Selbst- und Fremderfahrung, die sich durch die Chatfigur mit anderen Chattern aufbaut, mit den Erfahrungen, die man (gleichzeitig) in anderen Chatrooms unter anderen Pseudonymen und mit anderen Figurenkonzepten machen kann, dann lasst sich fur die Chatkommunikation ein Selbsterfahrungswert annehmen, der gegentiber nicht-medialen Settings um ein Vielfaches erweitert ist. Die Zeit „als knappe Lebens- und Erlebniszeit", in der sich das Selbst als „Projekt" entfalten kann (Willems 1999: 65), lasst sich im Multitasking verschiedener Identitaten bei weitem okonomischer nutzen als im ' wirklichen Leben'. Neben dem performativen Modus des Sich-Zeigens, der oben beschrieben wurde, erfordert das Format demnach einen virtuosen Umgang mit den unterschiedlichsten Rollenkonzepten, die nebeneinander aufgebaut, gestaltet und dauerhaft ausgefullt werden wollen: "I split my mind. I'm getting better at it. I can see myself as being two or three or more. And I just turn on one part of my mind and then another when I go from window to window. I'm in some kind of argument in one window and trying to come on a girl in another (...). And then I get a real-time message (...), and I guess that's RL [Real Life, H.W.; S.P.]. It's just one more window." (Turkle 1995: 13)

Damit ist die Chatkommunikation vor allem als 'Charakterexperimenf beschrieben. Ein Postulat der Ehrlichkeit, wie es Pramisse fur Beichte oder Therapie ist, weicht in der Selbstexploration des Chattens einer spielerischen Unehrlichkeit. An die Stelle der Frage, 'wer man ist', die sich seitens der Chatpartner ohnehin nie mit Sicherheit beantworten lasst, tritt die Frage, 'wen man vorgibt zusein'.

2.3 Konsistenz Betrachtet man die chatcommunity, dann fallt als erstes ein betrachtlicher Unterschied zwischen der kommunikativen Situation eines Chatneulings und der eines 'Stammgastes' auf. Die explorativen Freiraume, die sich daraus ableiten, dass man das aktuelle Konto jederzeit auflosen und mit einem anderen nickname ein neues Spiel anfangen kann, reduzieren sich nach erfolgreichem Anschluss an eine Gruppe. Umgekehrt werden aggressive Imagetechniken und Aufmerksam-

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keitsgeneratoren wie das Spammen (vgl. FuBnote 29 und 40) uberfliissig.39 Der regular darf sich gelassen geben und Chatneulinge belehren und sanktionieren.40 Jede zufallig gemachte Bekanntschaft - auch wenn sie sich nur auf Belanglosigkeiten stiitzt - kann auf diesem Hintergrund als soziales Kapital fungieren, denn man besitzt wechselseitig Informationen, an die man anschlieften kann: Technisch bedingte Unsicherheiten und Storungen in der Kommunikation lassen sich innerhalb der Gruppe weitestgehend durch ein reicheres Kontextwissen und ein gemeinsames Gedachtnis auffangen, die „Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation" (Luhmann 1997: 316) lasst sich mit personlichen Bindungen abfedern. Die Notwendigkeit, ein Selbstkonzept zu konstruieren, welches andere in der Kommunikation anzielen konnen, geht damit mehr und mehr tiber in die Notwendigkeit, wiedererkannt zu werden. Wie Beisswenger feststellt, haftet am nickname - als einzigem Anker von Identifizierbarkeit - nicht nur die Sanktion der Gruppe, sondern eben auch Jedwede Form sozialer Gratifikation" (Beisswenger 2001: 127). Die von Beisswenger beobachteten Falle belegen schltissig, dass, sofern die Wiedererkennung misslingt, der Gruppenanschluss fehlschlagt (Beisswenger 2002). In dem MaBe wie die Handlungen im virtuellen Raum an wiederidentifizierbare Andere rtickgebunden werden, andert sich auch die Form der SelbstmslGgung. Der Ubergang vom newby zum regular zeichnet sich v. a. dadurch aus, dass experimentelle Freiheiten nicht mehr in dem MaBe genutzt werden konnen, wie das vorher der Fall war. Unabhangig von der Frage, ob er in anderen Chatrooms noch unter weiteren Persona verkehrt, muss der Handeln39 Schlobinski et al. weisen darauf hin, dass Initialturns von newbys haufig ignoriert werden (Schlobinski et al. 1998: 92) - womit aggressivere Techniken zur Generierung von Aufmerksamkeit naheliegen. Innerhalb von bereits etablierten Gruppen sind hingegen aufwendige BegriiBungsrituale zu beobachten (ebenda), anhand derer sich erfolgreiches Wiedererkennen und gewahrter Anschluss an die Gruppe kommunizieren lassen (vgl. auch Goffman 1971: 48 f.). 40 Im folgenden Beispiel verbindet ein newby das Spammen mit der ebenfalls gangigen 'Gesprachs-Annonce', die in den meisten Fallen aus einer kurzen Zielgruppen-Beschreibung und einer 'Chiffre' besteht (also der Angabe einer speziellen Tastenkommunikation als Bestatigung der Gesprachsannahme). Beide Techniken sind im von uns beobachteten Raum Kinder.de charakteristisch fur das Verhalten von Chatneulingen und werden hier von einem regular sanktioniert: dodi: dodi: dodi:

Wer ist 12-13 w will chatten UND HAT EIN BILD VON SICH !!! dr. 23 [driicke, H.W.; S.P.] Wer ist 12-13 w will chatten UND HAT EIN BILD VON SICH !!! dr. 23 Wer ist 12-13 w will chatten UND HAT EIN BILD VON SICH !!! dr. 23

(...) JB007: LASS ES JB007: LASS DAS SPAMMEN (Kinder.de, 01.02.03)

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de damit rechnen, dass ihm in Bezug auf die laufende Vorstellung Inkonsistenzen in Selbstdarstellung und Selbstthematisierung von seinen Bekannten vorgehalten werden und sich negativ auf dem eigenen Imagekonto verbuchen.41 Unabhangig davon, ob sein erster Eindruck Teil einer „unwahren Darstellung" war (Goffman 1976: 54 ff.), muss der Handelnde nun, da es ein Publikum gibt, das weift und im Archiv nachlesen kann, wie er sich gestern 'gegeben' hat, Aufmerksamkeit darauf verwenden, seine Vorstellung aufrechtzuerhalten. Er steht unter dem Zwang seiner Geschichte im Gedachtnis seiner Beobachter. Mit der Gratifikation durch einen Kreis von Interaktionspartnern sieht sich der Handelnde also mehr und mehr an seinen (jeweiligen) Selbstentwurf gebunden. Die digitale Existenz lauft damit Gefahr, in 'zu reale' Bindungen zu geraten. Debatin beschreibt das frappierende Beispiel einer Chatterin, die als regular einer Gruppe von Chatfreunden angehort und dort auch romantische Beziehungen unterhalt. Letztere verstricken sie in Bindungen, die immer starker mit ihrer Real-Life-ExistQnz konfligieren (dort steckt sie in einer unglticklichen Ehe). Dies bringt sie schlieBlich dazu, im Chat ihren eigenen Leukamietod zu inszenieren, um sich von ihrer 'zu real' gewordenen Rolle zu befreien (vgl. Debatin 1998). Die inszenierte Figur gewinnt hier zu sehr an Plastizitat, und die an das Figurenkonzept gebundenen Selbstaspekte werden bedrohlich real, was die Handelnde zu einem doppelten Eskapismus veranlasst: der Flucht aus der Scheinwelt auf dem Weg der Luge. Der Auftritt wird dabei interessanterweise nicht einfach durch einen Ruckzug in die Anonymitat abgebrochen, also etwa durch Abschalten des Computers, sondern durch den inszenierten Tod konsequent bis zum Ende verfolgt und imagekonsistent ausagiert. Im Falle der multimodalen Selbstauslegungen des Chat geht es zwar weniger um 'Wahrheit', doch besteht innerhalb der einzelnen, in verschiedene Imagekonten zerfaserten Erfahrungsstrange, aus denen sich im Chat schlieBlich so etwas wie ein Selbstkonzept ergibt, ein gewisser biografischer Konsistenzzwang.

41 tiegerchen: bandit: tiegerchen:

gefalle ich dir im chat? maaaaaann ich bin in sandi verknallt und nicht in dich begreife es doch mal. du bisst voll suss

(...) bandit: hast du zu ralfi auch gesagt tiegerchen: der war nich so stiss wie du (www.kinder.de, 15.1.03)

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3. Schluss In diesem Aufsatz geht es vor allem urn eine Entwicklungs- bzw. Transformationslogik moderner Selbstthematisierungskontexte. Fokussiert werden spezifische Formen von Theatralitat und Theatralisierung bis hin zu einer Theatralisierung von Identitat. Eine zentrale historische Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Psychoanalyse in der Kontinuitat der Beichte. Die Psychoanalyse ist ein dramaturgisches Setting, das den Therapeuten zur Schlusselfigur des therapeutischen Prozesses macht. Der Analysand wird als korperliches Ausdruckssubjekt gleichsam stillgelegt und letztlich zum sprachlichen Sender und Reflektor seiner Binnenzustande gemacht. Als solcher ist er im Rahmen eines Deutungsmusters 'dramatisch dominant', das das Leben (nicht nur das des Analysanden) als Drama entwirft und die Therapie als Moglichkeit, dieses Drama heilsam zu wiederholen. Die Theatralitat der Analysandenrolle besteht also in einem 'dramatologischen' Selbstbegriff und darin, als dramatisch erlebender Erzahler eines dramatischen Lebens zu fungieren: In dessen Analyse wird das reflektierte Drama dem analysierten Selbstbewusstsein imputiert. In der der Psychoanalyse nachfolgenden Gruppentherapie tritt die Gruppe in spezifisch dramatischer und Dramatik lizensierender Weise an die Macht- und Funktionsstelle des Psychoanalytikers. Die Selbstausdrucks- und Selbstgestaltungsmoglichkeiten des einzelnen Patienten werden - im Rahmen des gruppentherapeutischen Verfahrens - systematisch erweitert. Der Patient selbst wird dramaturgischer Hauptakteur, dessen Agieren auch und gerade den korperlichen Ausdruck einschlieBt. In den korporalen 'performances' der Gruppentherapien werden spezifisch dramatische Erlebnisse und (Be-)Handlungen des Korpers und damit auch des Selbst herbeigeflihrt. Neben den Spiel-Raum der Selbstthematisierung tritt ein Raum, in dem der Korper zum Subjekt und zum Objekt von 'Spielen' wird, die ihn fundamental sozialer Zwange entheben und in denen er als situatives Identitatsmedium fungiert. Das Selbst ist hier also, wie in Bezug auf das Psychodrama detaillierter beschrieben, wesentlich durch seine dramaturgische Gestaltung bestimmt und viel weniger als in der Psychoanalyse an ein feststehendes und festgestelltes Selbstkonzept gebunden. Die Dramatik des Selbst liegt nun schwerpunktmaBig in seiner 'Rolle' im therapeutischen Prozess und damit in seiner Performance. Sie hat legitime und faktische Freiraume, die zur spielerischen Ausdeutung des eigenen Selbst mitsamt seiner Biografie einladen. Die Theatralisierung, um die es hier geht, betrifft also auch das Verstandnis und die Behandlung von Identitat selbst. Diese macht sich nicht mehr wie in Beichte und Psychoanalyse an der Vorstellung einer Wahrheit biografischen Inhalts fest. Die Biografisierung tritt vielmehr gegentiber gegenwarts- und zukunftsbezogenen Handlungen, bei denen mit 'Rollen' gespielt wird, in den Hin97

tergrund. Und wenn sie in der Form von Deutungen noch eine Rolle spielt, dann ist diese Rolle 'kreativ', und d.h. auch inszenatorisch, um dem Patienten heilsamen - und nicht unbedingt wahren - Sinn zu geben. Die 'alteuropaische' Bindung an ein Selbst, eine Biografie, eine Wahrheit lost sich auf. Das Selbst wird schon im therapeutischen Kontext tendenziell zu einer Konstruktion, die das Selbst selbst bestimmt und deren Selbstbestimmung es als Teil seiner Autonomic erfahrt. Mit dem Internet hat sich ein qualitativ neuer technischer und sozialer Raum der Selbstthematisierung entwickelt, der die skizzierte Entwicklungslogik tendenziell noch einmal forciert. In der Untersuchung der Chatkommunikation hat sich exemplarisch gezeigt, wie Selbstthematisierung in den durch neue Vermittlungsformen entstehenden Interaktionsrahmen des Internets ausfallen kann. Die fur die Interaktion maBgebenden strukturellen Rahmen werden hier durch das Medium der digitalen Schrift gebildet, das, bei volliger Ausblendung der korporalen Dimension, doch synchron ablaufende Interaktionen moglich macht. Es entsteht im direkten Kontakt zu anderen Chattern ein Raum fur Selbstthematisierung, der in unterschiedlichster Hinsicht auch Raum fur Selbsterfahrung ist. Bei gesteigerter Publizitat kann der Akteur das MaB seiner eigenen Anonymitat dennoch weitgehend selbst regulieren. Wissen und Nichtwissen des Publikums sind dabei so organisiert, dass seiner Selbstdarstellung ein weites Spektrum an Figurenkonzepten zur Verfugung steht, wobei ein empirischer 'Kern' berttcksichtigt werden kann, aber nicht notwendigerweise Teil des Auftritts ist. Fur theatrales Handeln gilt damit: es ist vor dem Hintergrund der formateigenen Spielraume, deren Grenzen standig zwischen „self and game, self and role, self and simulation" verschwimmen (Turkle 1995: 192), ein besonders nahe liegender Handlungstyp, der eine Anpassung sowohl an die technischen als auch an die sozialen Rahmenbedingungen des Mediums erleichtert. Das Selbst existiert dabei im Chat nur als der im performativen Akt des Schreibens entstehende SQlbsteindruck. Es tritt nur in dem MaBe in Erscheinung, wie es sich selbst auffuhrt. Gleichzeitig ist festzustellen, dass der 'Selbstauslegung' auch hier gewissermaBen nattirliche - Grenzen gesetzt sind. So bleibt bei einer multimodalen Nutzung verschiedener koexistenter Selbstaspekte eine gewisse Bindung an Selbstkontinuitaten. Insofern er durch sie die erwtinschte Gratifikation einer Gruppe erzielt, wird der im digitalen Raum Handelnde sich zunehmend an seine Figuren gebunden sehen und sich bemuhen, die auf den unterschiedlichen Buhnen laufenden Vorstellungen konsistent auszugestalten. Die Selbstexploration im digitalen Medium kristallisiert so zu einem heterogenen und entwicklungsoffenen Gefuge aus in sich weitgehend konsistenten Biografiefragmenten.

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Hannelore Bublitz 'Magic Mirrors'. Zur extensiven Ausleuchtung des Subjekts „Geht es den Anderen auch so, dass sie sich in ihrem AuBeren nicht wieder erkennen? DaB ihnen das Spiegelbild wie eine Kulisse voll plumper Verzerrung vorkommt? DaB sie mit Schrecken einen Abgrund bemerken zwischen der Wahrnehmung, die die Anderen von ihnen haben und der Art, wie sie sich selbst erleben?" (Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon. Mtinchen/Wien 2004: 99 f.)

Einleitung Globalisierungsprozesse ordnen nicht nur gesellschaftliche Krafteverhaltnisse, sondern auch individuelle Lebensformen neu. Mehr denn je ist das einzelne Subjekt abhangig von globalen - okonomischen, sozialen und politischen Machtstrukturen und dennoch, unausweichlich individualisiert, darauf verwiesen, Selbstkonzepte zu entwickeln. Diese spiegeln in sich die Heterogenic industriell verfertigter Stilmittel und die Pluralitat neuer Lebenskulturen. Deren Ikonen, Models und Superstars bringen die „Macht der Schonheit" gestylter Produkte, das Subjekt und seinen Korper eingeschlossen, auf globales Niveau. Sie sind die asthetischen Insignien expressiver „Selbst-Kulturen" (Beck/ Sopp 1997), deren Organisationszentrum das Individuum ist, und deren (Ausdrucks-) Kraft sich aus einem massenmedial inszenierten Individualismus speist, der sich exklusiv gibt. Globalisierte Konsumwelten sind gleichermaBen Topografien einer, wenn auch imaginaren, weltweiten Gemeinschaft wie auch Orte der exklusiven, ungestorten Selbstverwirklichung. Hier konstituiert sich 'die Internationale' auf Produktebene; Levis Jeans und Coca Cola bilden ebenso wie Madonna und Michael Jackson die Insignien einer weltweit homogenisierten Konsumgesellschaft. Die Colaflasche verkorpert gewissermaiten ein globales Selbstkonzept, dessen wichtigstes Element, neben dem Farbstoff, ein weltweit geteiltes Lebensgeftihl bildet. Sie symbolisiert den jugendlich-dynamischen, modernen Menschen und soil, zumindest werbestrategisch, Werte wie Gemeinsamkeit, Optimismus und Bewegung ausstrahlen. Auf der anderen Seite betreibt das Geschaft des 'kuratierten Konsums' exklusives Lifestyle-Consulting, wobei der Konsum, gerade in seiner Zirkularitat, zum immer wieder einmalig (re-)inszenierten Erlebnis wird. Hier wird, so etwa im Flagshipstore von Louis Vitton in Tokio, das Prinzip Begehren durch die

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Kunst der Verknappung perfektioniert1: Wer dazugehoren will, muss, von einem Mitglied vorgeschlagen und nach bestandenem Aufhahmetest, eine Aufhahmegeblihr von 2000 Dollar und 250 Dollar monatlich entrichten, urn teilzuhaben am markt- und kulturokonomisch begrtindeten 'savoir vivre'. Mit dem Eintritt in diese 'sakralen' Konsumwelten wird gleichsam garantiert, dass mit dem Produkt(design) ein Stuck exklusiver Lebenskultur erworben wird. Damit erfullt sich die Suche des Selbst, an konsumvermittelten (Selbst-)Genuss gebunden, im Konsumangebot der Selbsterfullung. In der Errichtung immer wieder neu figurierter, geschiitzter Innenraume der Gesellschaft fmdet das Subjekt zu sich - und anderen. Die Suche nach einem letzten heiligen Ort kommt, so scheint es wenigstens vorlaufig - in der Sakralisierung des Selbst zur Ruhe, das sich in guter Gesellschaft weiB: Anstelle vom Geschaft ist vom 'Haus' die Rede und die Umkleidekabinen sind (bei Vitton) nicht nur wohnzimmergroB, sondern stellen eine Art Gesellschaftssalon dar. Das Selbst wird zu einer Oase im Inneren der Gesellschaft, in der sich das individualisierte Subjekt hauslich einrichtet. Es bildet die Manifestation der Wohlfuhl-Gesellschaft, in der sich Fuhrung und Selbstflihrung in standig behandlungsbedtirftigen KGrpern und in „therapeutisierten Selbsten" (Maasen 1998) verschranken.2 In der wohnlichen Umgebung von Konsumparadiesen wahnt sich das Selbst in Sicherheit. Gleichzeitig wird das Konsumparadies, im Inneren des Subjekts errichtet, zum mentalen Paradies. Dieses ist nicht nur Refugium, sondern auch Widerlager und utopischer Ort. Es bildet eine Art Heterotopic, die aufgrund mobilisierter innerer Raume - und der dadurch bedingten Auflosung von Grenzen - zugleich einen realen Ort bildet.3

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Dabei handelt es sich zweifellos um 'Schlachtschiffe' im wortlichen Sinne der Kriegsfuhrung um die umfassende territoriale Inbesitznahme von Wunschterritorien, um Anreize zum umfassenden Mehr-Konsum. Hier kleidet sich das Mehr-Begehren in das Gewand der MehrVerausgabung. Die Frage ist aber, ob es dabei wirklich nur um eine territoriale Vereinnahmung oder vielmehr um neue Formen der Vergesellschaftung geht, die okonomische, technische und asthetische Ausdrucksformen im Inneren des Subjekts so anordnet, dass sie dort, ineinander verschrankt, wie mediale Apparate oszillieren. Vgl. dazu Bublitz 2005. Zu diesen sozialen Schutzraumen, in denen sich das Selbst einrichtet, gehoren zweifellos auch die Konsumparadiese der EinkaufsstraBen und Malls ebenso wie die Wellness-Oasen als Paradiese korperlichen und mentalen Wohlbefindens, die mehr als Gesundheitsvorsorge, namlich ein 'Well-Plus' versprechen. Hierher gehoren aber auch die unzahligen Beratungsstellen und Lebenshilfen; vgl. dazu aus einem ganz anderen Blickwinkel Bublitz/ Spreen 2004, wo davon ausgegangen wird, dass der Potsdamer Platz in Berlin als Heterotopic einer Geschlechterkonstruktion - im Sinne der Junggesellenmaschine von Marcel Duchamp - aufgefasst werden kann. Foucault bezieht die Heterotopien sowohl auf - magische - Orte als Gegenraume innerhalb der Gesellschaft, die dieser in gewisser Weise entzogen zu sein scheinen, sowie auf die - utopischen - Korper, die, maskiert, geschminkt, tatowiert, Teil eines imaginaren Raums bilden, die zugleich als wirkliche Orte in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind (vgl. Foucault 2005a).

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In dieser „Marktwirtschaft des Sozialen" (Neckel 2000: 37) wird nicht nur Geld gegen Kultur getauscht, sondern auch das „Gesamtkunstwerk Ich" (Beck 1998) kauflich erworben. Es ist allerdings fraglich, ob dabei tatsachlich „die ungeahnte Tiefe und Weite des eigenen Ich" (Neckel 2000: 39) an die Stelle von Gott tritt. Sicher ist dabei nur eins: Die Masse bleibt drauBen. Dabei ist die Masse der Konsumenten doch langst angeschlossen an die Arbeit, die das Leben zum Kunstwerk macht. Sie ist Bestandteil eines Selbstmanagements, bei dem es fiir das 'Selbst', eingebunden in Distinktionsmechanismen, darauf ankommt, sich an die Arbeit - am Selbst - zu machen, um herauszufinden, wie einen die anderen sehen, woraus man schlieBen kann, ob man sich optimal vermarktet, welchen PR-Wert man hat und welcher (Lebens-)Stil einen weiterbringt. Selbstvermarktung und Selbstkontrolle bilden langst die neuen Tugenden, neudeutsch: Schlusselqualifikationen, die fur die Einbindung in Arbeitsmarkt und Gesellschaft unabdingbar sind. In der Vermarktung der von sich selbst begeisterten Konsumenten spielen auch technische Medien eine nicht unerhebliche Rolle. Vor allem das Modelabel Prada setzt in der expressiven Selbstinszenierung neue Maftstabe: Hier wurden die Umkleidekabinen in den Flagshipstores in New York und Los Angeles mit „Magic Mirrors" ausgestattet, „Plasmabildschirme, die in den eigentlichen Spiegel integriert sind, damit man sich gleichzeitig von vorn und hinten sehen kann". AuBerdem wurde „(...) jedes Kleidungsstuck (...) mit einem RFID-Chip (Radio Frequency Identity) ausgestattet: Auf einem Extra-Bildschirm erscheint dann ein Video, in dem das entsprechende KleidungsstUck von einem Model prasentiert wird, dazu kOnnen Informationen tiber den Stoff, Stylingvorschlage sowie die Verfugbarkeit abgerufen werden. Gleichzeitig registriert die persftnliche 'Web-Kabine' im Netz, welche Artikel anprobiert wurden, so dass spater noch Sachen geordert werden konnen, die zunachst nicht gekauft wurden". (DIE WELT 4.9. 2005: 73)

Aber kaum waren die Bildschirme installiert, mussten die High-Tech-Kabinen im Prada-Store in Manhattan kurzfristig wieder abgeschaltet werden. „Die Kunden flihlten sich nicht angezogen, sondern verunsichert" (ebd.). Was bedeutet das? Entzieht sich das Subjekt hier lediglich seiner extensiven, allzu offensichtlichen Vermarktung? Oder verweist das Beispiel auch darauf, dass die Konstitution des Subjekts sich einem imaginierten, phantasmatisch aufgeladenen Blick (des Anderen) verdankt, der hier, in den Umkleidekabinen von Prada, nicht zum Zuge kommt, sich moglicherweise aber, so sollen die folgenden Ausfiihrungen zeigen, als die entscheidende Dimension der Subjektkonstitution erweisen konnte. Halten wir zunachst nur soviel fest: Im Augenblick seiner extensiven Ausleuchtung verschwindet das Subjekt aus dem Blickfeld; damit geht der Blick auf 107

das Subjekt ins Leere. Dabei verspricht doch gerade er im Moment buchstablich hochster (Bild-)Auflosung des Subjekts, dass es mit der Aufhahme nicht nur den zentralen Fokus des Spotlights bildet, sondern, mit Idealisierungen verwoben, perfekte Gestalt annimmt. Aber das Subjekt entzieht sich einem Spiegel, der es von alien Seiten auszuleuchten verspricht, ihm dabei aber jene „geschwatzige Identitat" (Foucault 1974: 44) aufdr&igt, die, erst recht im Gegenuber zu einem Model(l)subjekt, die Vielfalt der Sprachspiele und Lebensstile aufter Kraft setzt. Denn das verschwindende, dennoch immer wieder gesuchte - und gefundene Subjekt hat sich doch dahingehend gesteigert, dass es, auf nichts festgelegt, ohne zwanghafte Fixierung auf einen Lebensentwurf, „nach hartem Training in den pluralen Lebenswelten zu einem Patchwork von Identitaten bereit [ist], dessen Zentrum ein Ich ist, das gerade in seiner Variationsbreite innere Souveranitat und Einzigartigkeit demonstriert" (Neckel 2000: 4If.). Dieses Ich und seine Selbstfuhrung lassen sich nicht durch einen Spiegel abbilden, der mit seinem Abbildungsgeschehen die Viel-Seitigkeit des Subjekts verfehlen muss. Hier ist das Scheitern des Subjekts in den Entwurf, das Medium und das Model© bereits eingeschrieben. Die Plasmabildschirme installieren den bloB vorgestellten, imaginaren Blick der Anderen bloB technisch. Aber das ist, wie wir letztendlich sehen werden, noch keineswegs alles.

1. Marktgerechter Selbstbezug und gesteigerte SelbstkontroIIe als Vergesellschaftungsmodus Die vorlaufige Frage ist, ob es bei der umfassenden Vermarktung der Konsumenten und ihrer - marktgerechten - Selbstinszenierung eher um neue Muster der Vergesellschaftung und Individualisierung geht, die auf eine gesteigerte reflexive Selbstbeobachtung und Formen autonomer SelbstkontroIIe verweisen, oder ob es sich nicht vielmehr um neue Formen sozialer Kontrolle handelt, die in Selbstkontrollzwange des Subjekts verschoben sind. Fur eine neue Autonomic des Individuums spricht die Individualisierungsthese, wonach mit der „Befreiung vom stummen Zwang der Verhaltnisse und von sozialer Kontrolle" (Neckel 2000: 39) die Zunahme individueller (Wahl-) Freiheiten und Entscheidungsoptionen verbunden ist. Sie ist gekoppelt an die Entstandardisierung individueller Biografien: Anstatt durch soziale Herkunft, durch Konfession, Klasse und Geschlecht festgelegt zu sein, folgt die personliche Lebensform nun dem Modus der Wahl. Gegen eine neue Autonomic des Subjekts spricht dieselbe These. Denn aus ihr ergibt sich gleichermafien der Zwang, sich immer wieder neu entscheiden zu miissen, der zur Last wird. Selbstvermarktung und Anschluss des individuali108

sierten Einzelnen an vorgegebene Muster (des Massen- und Medienkonsums) kurz Standardisierung pluralisierter Lebensformen - bilden die Schattenseite der zunehmenden Individualisierung. Wie der gefugige Korper, eingebettet in panoptische Systeme, ware das Subjekt, so gesehen, unmittelbar an Schnittmuster asthetischer Moden und Methoden okonomischer Konkurrenzkampfe gebunden. Dann offenbarte sich in den Selbstregulierungsmechanismen des Subjekts lediglich seine enge Bindung an Machtstrukturen und seine Engfuhrung mit gesellschaftlichen Kontroll- und Abrichtungsprozeduren, was wiederum dazu fiihrte, dass es sich in seiner gesteigerten Selbstbeobachtung immer im - gefiihlsmaBigen - Einklang mit sich und einer kulturokonomisch operierenden Macht befindet. Allerdings schlieBen sich diese beiden Alternativen - Autonomie und Abhangigkeit - , wie ich meine, nicht aus, sondern ein. Dafur gibt es drei Griinde: Erstens. Kennzeichen eines gelungenen Selbstentwurfs ist nicht mehr die Autonomie eines Individuums, das in der Gestaltung einer vernunftigen Lebenspraxis scheinbar 'zeitlosen' inneren Werten folgt, sondern sein erfolgreicher und das heiBt auch: marktgerechter Selbstbezug, der, an der ganzen Person oder besser an der Gesamtpersonlichkeit orientiert, immer vorlaufig und jederzeit revidierbar ist. Da diese oft nur schwer fassbar ist, muss am Erscheinungsbild gearbeitet werden, das, stilsicher prSsentiert, zum Zeichen fur arbeitsmarktgerechte Qualifikationen wird. Zweitens. Der Begriff der Subjektivierung impliziert in modernen Gesellschaften sowohl Unterwerfiing unter soziale Normen und soziale Kontrolle als auch Selbstreflexivitat, Selbstregulierung und Selbstkontrolle. Das Prinzip der Unterwerfiing ist, so Michel Foucault und Judith Butler, geradezu eine Bedingung der Subjektwerdung; sie bezieht sich auf das Prinzip der Kontrolle, durch das ein Subjekt in seiner 'Identitat' formuliert oder produziert, aktiviert und geformt wird. Damit ist auch die Freiheit des Subjekts, die allerdings nie identisch ist mit einer inneren Wahrheit, Autonomie oder Authentizitat des Subjekts, eingerahmt von einer diskursiven Matrix. Die Formierung des Subjekts beruht also auf Unterordnung wie auch auf Anerkennung durch andere und damit auf Abhangigkeit (vgl. Butler 2001). Die Produktion des Subjekts beinhaltet, so Butler, die gefuhlsmaBige Bindung an das- oder diejenige(n), von denen das Subjekt abhangig ist, selbst wenn diese Bindung negativen Charakter hat. Aber zugleich 'verfehlt' das Subjekt die ihm - von anderen - zugeordneten Normen ebenso wie die ihm als Ideal gespiegelten (Vor-)Bilder und entwickelt flexible Dispositionen der Selbstregulierung, die sich nicht mehr auf normative Fixierungen festschreiben lassen. Und drittens verschranken sich die Individualist des Einzelnen und die Gleichheit der Vielen in einer offenen Matrix, die die Individuen untereinander differenziert und sie zugleich dem Zwang zur Einhaltung einer Konformitat unterwirft. Die perfor109

mative Paradoxic einer Menge, die sich darin gleicht, dass jeder einzigartig ist, geht zuriick auf eine machtformige Subjektivierung, die individualisierendunterscheidende und globalisierend-vereinheitlichende Aspekte ineinander verschrankt (vgl. dazu Bublitz 2003a). Aus einer individuellen Wahl wird eine soziale Lebensweise. Prozesse der Individualisierung, die sich auf den individuellen Korper als sichtbarem, evidentem Zeichen richten und solche der Normalisierung, der Homogenisierung individueller, heterogener Elemente des 'Gesellschaftskorpers' greifen ineinander. Bei alldem ist es nicht verwunderlich, dass das Subjekt, das sich in der performativen Selbstbeobachtung immer auf dem Laufsteg der Gesellschaft, im Spiegel der Anderen weiB und seine verschiedenen Seiten, gemaB den diversen Anforderungen ausleuchtet, sich dem Blick immer wieder entzieht und seine Radaranlage auf sich selbst richtet. Allerdings ist auch hier der Blick der Anderen immer prasent; aber bevor es, den Datennetzen ausgeliefert, zusammenbricht, aber auch, um zu verhindern, dass es zum 'Ego-Shooter' wird, schaltet es ab...

2. Das Subjekt und sein Begehren - ein Ensemble unbewusster Strukturen und Machtwirkungen „Und das Falsche ware (...) die Annahme, dass es da Wahrheiten zu entdecken gibt. Die Seele (...) sie ist eine pure Erfindung, unsere genialste Erfindung und ihre Genialitat liegt in der Suggestion (...), dass es an der Seele etwas zu entdecken gibt wie an einem wirklichen Stuck Welt." (Pascal Merrier, Nachtzug nach Lissabon. Munchen/Wien 2004: 385)

Das Subjekt, das sich im Spiegel des Anderen sucht und findet, sich gleichzeitig aber immer verfehlt, sich - iiber sich - selbst tauscht und auch in seinem Inneren keine Wahrheit iiber sich findet, ist Gegenstand einer poststrukturalistisch informierten 'Ausstreichung' des - souveranen - Subjekts, wodurch sich die Frage des authentischen Selbst nicht mehr oder anders stellt. Gleichwohl aber bleibt auch dieses durchgestrichene Subjekt der - gesellschaftlich angeordneten - Suche nach sich selbst verhaftet. Es handelt sich um ein Selbst, das sich in der performativen Veranderung bildet und formt. Insbesondere die idealistische Konstruktion des souveranen Subjekts, das sich als das unterschiedslos Menschliche eigen- und einzigartiger Individuen setzt, also in Anspruch nimmt, ftir 'den Menschen' zu sprechen und sich zum MaBstab aller Dinge erhebt, ist in poststrukturalistischen Debatten, die mit dem „Tod des Subjekts" (Foucault 1971) subjekttheoretische Annahmen erschuttert haben, in Verruf geraten. Die Infragestellung dieses Modells ist mit der De-

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zentrierung des Subjekts verbunden, was bedeutet, seine fundierende und ftihrende Rolle in Frage zu stellen. „Die Auflftsung der (...) Subjektivitat, ihre Zerstreuung in eine Sprache, die sie entmachtigt und im Raum ihrer Leere vervielfaltigt, ist (...) eine der grundlegenden Strukturen zeitgenOssischen Denkens." (Foucault 1978: 44)

Die humanistische Pr&nisse, dass das Subjekt, qua des in ihm etablierten Ortes der (Selbstbestimmung durch die) Vernunft der Garant von - sozialer - Ordnung ist, wird als Wille zur Macht sichtbar. Mit der Uberschreitung des SubjektParadigmas fallt der Gedanke eines weltkonstituierenden und mit sich identischen Subjekts dem Gedanken einer systematisch unkontrollierbaren Sinnveranderung zum Opfer, der den Akzent auf die Differenz, auf die Vielfalt der Sprachspiele und der damit zugleich mit gemeinten Lebensstile setzt. Ein vereinheitlichendes Prinzip, das die verschiedenen Praktiken des Subjekts bruchlos aufeinander bezieht und aufeinander abstimmt, wird damit zugunsten der Heterogenic aufgegeben; das Subjekt, das mit sich eins ist, weicht multiplen Subjekten (vgl. auch Bublitz 2003a und b). Bereits bei Marx erfuhr das Subjekt eine weitreichende Einschrankung; es verdankte seine 'Entsubjektivierung' - als 'entfremdetes' Objekt der Ausbeutung - auBeren, unmittelbar okonomischen Bedingungen, wahrend die Souveranitat des Subjekts bei Freud durch eine innere Okonomie des Unbewussten untergraben wurde. In beiden Fallen manifestieren sich im Subjekt die Gesetze einer spezifischen Okonomie, die sich dem bewussten Zugang des Subjekts versperrt. Das Gegenteil zur Rede von der Selbstbemachtigung des modernen Subjekts ist die Auffassung, das Subjekt sei eine konstitutive Machtwirkung von Diskursen, die dem Subjekt vorgangig sind und es gewissermaBen unbewusst, ohne sein Wissen hervorbringen.4 Subjektkritische Positionen gehen daher von einer Okonomie der Macht aus, durch die das Subjekt erst ins Leben gerufen und unterworfen wird (vgl. Foucault 1976a und b; 1977; 1987; 1993 und Butler 2001; 2005). Dabei ist die Implementierung des Subjekts in den Gefugen der Macht sichergestellt durch tiberwachende Registrierung des Korper-Subjekts und seine Unterwerfung unter eine Mikrophysik der Macht, die sich in den elementarsten Verrichtungen, Bewegungen und Gesten des Korpers - als innerer Zwang - manifestiert. Hier, im Innenleben des Subjekts, agiert die Verdoppelung der Macht durch ein „Unkorperliches", die Seele (vgl. Foucault 1976b: 41). Sie handelt als „Zahnradgetriebe, mittels dessen die Machtbeziehungen ein 4

Subjektivierung folgt demnach der Spur emergenter Prozesse, in denen sich ein positives Unbewusstes" historischer Wissenskonfigurationen durchsetzt. Es handelt sich um eine sozial hervorgebrachte - und nicht der Gesellschaft vorgangige - Formierung des Subjekts.

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Wissen ermoglichen und das Wissen die Machtbeziehungen verstarkt" (ebd.). Uber die „Verzahnung von Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand" (ebd.) wird die Seele ein „Werkzeug der Macht, durch welches der Korper herangezogen und geformt wird. In gewissem Sinne agiert sie als machtgeladenes Schema der Produktion und Verwirklichung des Korpers" (Butler 2001: 87).5 Dabei fungieren Korper und Seele nicht als ahistorische Universalien. Die Seele ist keine Substanz, sie ist vielmehr, wie der Korper, „Effekt und Instrument einer politischen Anatomie", die, „Gefangnis des Korpers" (Foucault 1976b: 42), „(..) zum normativen und normalisierenden Ideal [wird], nach dem der KOrper geschult, geformt, geziichtet und ausgestattet wird; sie ist ein historisch spezifiziertes, imaginares Ideal (id6al speculatif), unter welchem dem KOrper Gestalt gegeben wird" (Butler 2001: 87).

Es ist die Invasion des Korpers durch normierende Disziplinierungmechanismen und normalisierende Regulierungstechnologien, die Foucault als Implementierung von Machtstrukturen im Subjekt beschreibt. Sie bilden das Entstehungsszenario eines Subjekts, das sich in seiner „Unterwerfung", die vor allem als „eine Sicherstellung und Verortung des Subjekts, eine Subjektivation" (ebd.) gelesen werden kann, einer spezifischen Okonomie der MachtverMltnisse verdankt (vgl. Foucault 1987: 243 f.). Starken Subjektkonstellationen einer autonomen Subjektivitat, denen die Parameter des Zufalls der Ereignisse und die Turbulenzen postmoderner Subjekte als Parameter einer Verfallsgeschichte der Moderne erscheinen (vgl. Ebeling 1993; vgl. auch Habermas 1981; 1986), stehen nun Positionen gegenuber, denen das Subjekt eher als bloltes Produkt auBerer Umstande (Gesellschaft, Kultur, Diskurse) und als Zeichen der Kontingenz von Mensch und Gesellschaft denn als sinnstiftender Konstrukteur aller Dinge erscheint. Mit der Befreiung des Subjekts aus seinem metaphysischen Gehause, das ihm gleichsam einen uberhistorischen und einzigartigen Stellenwert zuordnet, ist die Dekonstruktion eines mit sich identischen und authentischen Subjekts verbunden, das die (Selbster-) Kenntnis seiner 'inneren Wahrheit' mithilfe von Wissens- und Reflexionsformen, Analysemethoden und (Selbst-)Fuhrungstechniken sicherstellt. Damit wird aber auch der Bereich der 'Innerlichkeit', der den genuinen Hoheitsbereich des Subjekts bildet und mit ihm identisch zu sein scheint, uber den es scheinbar auch autonom verfugt, aulier Kraft gesetzt. Anstatt sich selbst zu finden und einer suggestiven, inneren Wahrheit aufzusitzen, verschwindet das Subjekt in einem Ensemble von anonymen und unbewussten Strukturen, die es zwar den5

Foucaults Analyse der Disziplinargesellschaft liest sich als ein Stuck „Genealogie der modernen Seele" (Foucault 1976: 41), in der er der „KOrperlichkeit von Machtbeziehungen bis in ihre psychische Materialitat" (Lemke 1995: 32) nachgeht.

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ken und beschreiben kann, deren Urheber und souveranes Bewusstsein es jedoch nicht ist (vgl. Foucault 1978: 16). Ja, es ist gerade das Ereignis des Verschwindens des Menschen in subjektlos-anonymen Strukturen, die ihn als Objekt des Wissens erst hervorbringen. Eingebettet in Strukturen, die beschreibbaren Relationen unterworfen sind, hort der Mensch demnach auf, das totale, souverane Subjekt seiner selbst zu sein. Sie ermoglichen ihn erst in seiner Duplizitat: als Subjekt mit dem Drang nach grenzenloser Erkenntnis und als Objekt, das selbst (an)erkannt werden will. Diese Unverfugbarkeit des Subjekts weicht Strukturen, die dem Subjekt vorgangig sind, das rationale, bewusst handelnde Subjekt als solches ubersteigen, es als souveran handelndes auBer Kraft setzen und dem Subjekt (als Schopfer einer Ordnung der Dinge und als Regenten seiner selbst) eine strukturell begrimdete Krankung zufiigen. Sein Begehren ist aus dieser Perspektive kein Abbild der Freisetzung des Subjekts aus gesellschaftlichen Zwangen, sondern vielmehr ihre spezifische Machtwirkung, ihr Effekt und ihre Artikulation. In ihm verschranken sich komplexe Machttechnologien der Unterwerfiing und Pragung von Individuen, die das Subjekt zum Objekt machen mit Technologien des Selbst, „(...) die es dem Einzelnen ermoglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem KOrper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verandern, dass er einen gewissen Zustand des Glucks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt" (Foucault 1993a: 26).

Das bedeutet: Individuen mtissen sich als Begehrenssubjekte entziffern und anerkennen, sie mtissen ein Verhaltnis zu sich selbst ausbilden. In der Verbindung von Technologien der Macht und der Beherrschung anderer mit Selbsttechnologien entwickelt sich, so Foucault, eine „Kontrollmentalitat" (ebd.: 27). Foucault untersucht einerseits die Bedingungen, unter denen bestimmte historische Codes eine bestimmte Art von Subjektformierung hervorbringen. Andererseits wendet er sich den Bedingungen zu, „unter denen ein Selbst sich als Objekt der Reflexion und Kultivierung begreifen kann" (Butler 2003: 24). Die spezifischen psychischen Mechanismen der Subjektbildung, mit denen das Subjekt sowohl unterworfen als auch entworfen und erzeugt wird, bleiben damit jedoch noch weitgehend unerforscht (vgl. Butler 2001: 8). Im Dunkeln bleibt vor allem, welche psychische Form Macht annimmt und wie sich auBere Zwange in psychische Realitaten verwandeln. Judith Butler reklamiert daher eine machttheoretische Begrtindung des Subjekts, die die psychischen Dimensionen und Prozesse explizit mit einbezieht. Sie kntipft an Foucaults Subjektkonzeption an, wenn sie davon ausgeht, dass bereits die Einrichtung eines psychischen Raums im Inne113

ren des Subjekts sich dem formierenden Charakter von Machtoperationen verdankt, deren Niederschlag im Subjekt die Form des Psychischen, einer inneren Topografie annehmen. Sie nimmt an, dass die Innerlichkeit des Subjekts, dasjenige, was sozialen Prozessen als 'Natur' immer schon vorausgesetzt oder ihnen gegenuber zu stehen scheint, den Ort des Sozialen im Subjekt bildet, die als psychische Spur der Gesellschaftlichkeit des Subjekts im Subjekt gelesen werden kann. „Die Grenze zwischen AuBen und Innen entsteht ja erst durch die Reglementierung des Subjekts" (ebd.: 66). Subjektivitat ist dann erst mit der Errichtung einer Psyche konstituiert. Es entsteht ein Raum, in dem soziale Macht sich im Subjekt als psychische Instanz und Struktur installiert. Aber wie diese soziale Macht, von der Subjekte schon in ihrer Entstehung abhangen und von der sie geformt werden, zu einer psychischen Kraft wird, erschlieBt sich erst, wenn man fragt, welche Form Macht in der Psyche des Subjekts annimmt. Denn das Subjekt entwickelt sich zwar in Abhangigkeit von einer Macht, die das Subjekt errichtet. Diese erfahrt aber, indem sie sich im Subjekt einrichtet, eine - reflexive - Wendung durch das ins Leben gerufene Subjekt. Mit dieser Wendung transformiert sich Macht zur inneren Stimme und zum psychischen Werkzeug des Subjekts.6 In der Ausdehnung des inneren Macht-Raums, falschlicherweise mit dem Begriff des „Gewissens" belegt, liegt aber nicht bloft eine schlichte Verinnerlichung sozialer Normen vor. Das Subjekt ist nicht bloBer Effekt sozialer Normen; es ist nicht das Ergebnis einer bloBen Verkorperung der „Sklavenmoral", wie Nietzsche das „schlechte Gewissen", das sich im Gefolge sozialer Normen und Standards bildet, nennt. Vielmehr erscheint das Subjekt gewissermaBen als 'reflexive Machtwirkung'. Denn die Normen wirken keineswegs einseitig oder deterministisch auf ein soziales Subjekt ein. Vielmehr bereiten sie „die Buhne fur die Selbstformung des Subjekts, die sich immer in Bezug auf eine Menge verhangter Normen vollzieht (...) und seine Reflexivitat in Gang setzt" (Butler 2003: 28). Dabei bleibt ihm das Bewusstsein seiner Abhangigkeit (von der Macht, von den anderen) versperrt; es ist eine unbewusste Wirkung der Macht und entwickelt sich gemeinsam mit diesem Unbewussten der Macht. Das Subjekt ist also weder eine notwendige Wirkung der Normen noch steht es dem Subjekt vollig frei, sich zu formen und dabei die Norm zu

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Zur Beantwortung der Frage, wie soziale Macht im Subjekt funktioniert, greift Butler auf die bei Hegel und Nietzsche vorweggenommene - Denkfigur des auf sich selbst (zurilck)gewendeten, reflexiven Bewusstseins zuriick: Der Begriff der subjektiven Reflexivitat ist dann bei Butler als entstehende Subjektstruktur die Folge einer wiederholten Riickwendung (des Subjekts) auf und gegen sich, die mit einer kOrperlichen Disposition (zur Unterwerfung) einhergeht. Mit der Verinnerlichung gesellschaftlicher Moralvorstellungen und sozialer Reglementierungen entsteht eine mit der Selbstunterwerfung (des Subjekts) verbundene Subjektstruktur, ohne die Subjektivitat nicht denkbar ist.

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missachten; ,jede Handlungsfahigkeit, auch die der Freiheit, steht in Bezug zu einem ermoglichenden und begrenzenden Feld von Zwangen" (ebd.). Die Paradoxic besteht lediglich darin, dass Subjektivierung in Abhangigkeit von vorgegebenen Normen geschieht, die die soziale Existenz und die Handlungsfahigkeit des Subjekts erst ermoglichen, sie gleichzeitig aber auch eingrenzen und beschranken. Der Vorgang der Subjektivierung geschieht also unmittelbar verkntipft mit der disziplinierenden Form der Einkorperung von Machtformen und der sich fortwahrend steigernden Regulierung des Korpers als Objekt von Macht. Macht ist demnach nicht etwas dem Subjekt AuBerliches, das von auBen einseitig auf ein Subjekt einwirkt und Druck auf das Subjekt ausiibt, es erniedrigt und zur Unterordnung zwingt. Diese Vorstellung vernachlassigt, dass das Subjekt in seiner sozialen Existenz von den Bedingungen der Macht abhangt und es diese auch in seinem Inneren bewahrt, hegt und pflegt. Subjektivierung ist daher, so Butler, ohne die „leidenschaftliche" Bindung des Subjekts an die Macht nicht denkbar. Macht stellt also nicht nur die Moglichkeitsbedingung des - modernen - Subjekts dar, sondern sie ist auch zustandig fur die Einsetzung eines Subjekts, das zwar um seine begrenzte Abhangigkeit, aber auch um seine ebenso begrenzte Freiheit und Autonomie weiB. Die Freiheit des Subjekts und auch sein Widerstand sind nicht das Andere oder AuBen der Macht, das, was sich der Macht in einem imaginaren, machtfreien Raum entzieht; sie sind vielmehr eine Wirkung der Macht, die dem Subjekt vorausgeht und dieses in einem Feld sich widerstreitender Beziehungen und Krafteverhaltnisse hervorbringt. Auch ist das Subjekt, wie die Macht, die es hervorruft, nicht ein fur allemal gegeben, sondern es konstituiert sich selbst immer wieder, performativ. Die das Subjekt einsetzende Macht 'erzwingt' gewissermaBen die performative Selbsterzeugung und -gestaltung des Subjekts, das nun nicht mehr als souveranes, sondern als fragiles und fehlbares Subjekt skizziert werden kann. Subjektivierung setzt also einerseits die fundamentale Abhangigkeit von vorgegebenen Normen, Praktiken, Technologien voraus, aber sie implementiert die Umkehrung der Macht im Dienste der Lebenserhaltung des Subjekts und unterstellt deren Wendung gegen solche Normen, die eine lebbare soziale Existenz des Subjekts unterminieren und seine Selbstanerkennung verhindern.

3. Okonomien der Manifestation des Subjekts und des Selbstmanagements Diese Riickwendung des Subjekts auf sich selbst im Sinne von Selbsttechnologien, die seine performative, sprachlich-korperliche Selbstinszenierung und offentliche Selbst-Demonstration erforderlich machen, ist grundlegend fur die in globalisierten 'Selbststandigen-Gesellschaften' immer weiter um sich greifende 115

Form des Selbstmanagements, mit dem individualisierte Einzelne Charakterbildung betreiben, diese optimal vermarkten und dazu iibergehen, anhand von 'Soft-Skills' ihr Leben zu 'coachen'. Neoliberal verfasste und medial organisierte Gesellschaften entwickeln veranderte - medial und okonomisch regulierte Formen der Selbstkonstruktion, der Selbstdarstellung und -konstitution (Brockling/ Krasmann/ Lemke 2000). Aktuelle Diskurse zur Selbstkonstituierung spatmoderner Subjekte legen den Schluss nahe, dass es im Zuge der Generalisierung okonomischer Merkmale und ihrer Ausbreitung auf das gesamte gesellschaftliche Terrain zu neuen Szenarien der sprachlichen und korperlichen Selbst-Demonstration im Stile einer publikumswirksamen 'Selbstvermarktung' kommt. Dabei geht es um die Frage, inwieweit okonomische und mediale Prozesse nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene relevant werden, sondern auch im Subjekt wirksam und bei der Konstituierung individueller Identitaten von Bedeutung sind. Hierher gehCrt auch das Projekt einer 'Asthetisierung des Individuums', das sich selbst als gestaltbares Objekt, ja als Produkt begreift und sich - unter marktstrategischen Gesichtspunkten - immer schon im Spiegel eines verallgemeinerten Anderen wirksam zu inszenieren trachtet. Das Selbst muss erscheinen, es muss sich im Sprechakt offentlich machen und es muss sichtbar sein, um sich zu konstituieren. Diese fur die Manifestation des Selbst konstitutive Erscheinung ist nicht als blofler Schein auszulegen, ganz im Gegenteil, sie ist ein Akt der Selbst-Aussprache und Selbst-Inszenierung, die auf den Anderen bezogen ist. Das Subjekt kann sich als solches nur im Rahmen einer vorgegebenen Adressatenszene, innerhalb gesellschaftlicher Beziehungen konstituieren. In einer tiberwiegend marktformig regulierten Gesellschaft ist das verbunden mit Inszenierungs- und Offenbarungsstrategien, die in der SelbstVeroffentlichung, die immer auch Ztige einer Selbstoffenbarung tragt, Marktgesetze berucksichtigt. Damit geht nicht nur einher, dass das Subjekt zum (Dauer-) Beobachter seiner eigenen (Selbst-)Marketingstrategien wird. Mit der Freisetzung selbstregulativer Mechanismen konfigurieren sich im Subjekt dariiber hinaus Kontroll- und Beobachtungsmedien, die seiner Steuerung dienen. Mechanismen sozialer Kontrolle verlagern sich ins Subjekt. Zudem ergeben sich daraus soziale Konsequenzen: Nicht nur verlagern sich die Kontrollkreislaufe der Gesellschaft ins Subjekt, sondern die gesteigerte Selbstbeobachtung produziert wiederum mediale Effekte, die sich zu sozialen MaBstaben transformieren. Angeschlossen an 'psychische Apparate' konfiguriert sich das Soziale, die Gesellschaft immer neu, aber auch die Koordinaten des Ortes, der Individualist sichert, verschieben sich standig; sie unterliegen nun dynamischen Konfigurationen.

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Der soziale Austausch verschiebt sich von einer wechselseitigen, perstolichen Reziprozitat in eine zunehmend funktional zerstreute Interaktion.7 Dabei lassen sich die reziproken Relationen unter Bezugnahme auf okonomische Kategorien beschreiben, die wesentlich den Modus der Aufhahme und Inklusion des Individuums in die Gesellschaft bestimmen. Die Gesellschaft bringt mithin neue Formen der Codierung des Subjekts hervor. Beziehungen zwischen Menschen werden durch Technik codiert und auf Marketingstrategien begrundet. Dabei zeigt sich das Profil einer Gesellschaft, die nach dem Muster einer „sozialen Maschine" als generalisierte, soziale Kontrollgesellschaft funktioniert (Deleuze 1993: 245 f.). Diese ist durch sich selbst verformende Veranderungen und unerschopfliche Differenzierungen charakterisiert, indem sich auch das Subjekt unablassig entsprechend den Anforderungen des Marktes modelliert. Zur Disposition steht dabei nicht mehr lediglich die Optimierung von Arbeitsablaufen und die Herstellung eines Arbeitskorpers, sondern die vollstandige Einbeziehung des ehemals Individuellen, Organischen, Kreativen und Affektiven in den okonomischen Wertschopfimgsprozess, die Optimierung des Menschen, dessen Selbstoptimierung und interaktionelles Profil der fortwahrenden Modulation und der kontinuierlichen Bewertung und Kontrolle durch das sich selbst beobachtende Individuum sowie durch die Anderen unterworfen ist (vgl. Deleuze 1993; Papilloud 2000). SchlieGlich fuhrt die Ausweitung okonomischer Formen auf das Soziale, das ohnehin keinen unhintergehbaren Horizont unseres Denkens und keine zeitlose Existenzform menschlicher Sozialitat, sondern eher ein „politischideologisches Programm" (Luhmann 1997: 1030; vgl. auch Brockling u.a. 2000; Bublitz 2001) darstellt, zur Einebnung der Differenz des Okonomischen und des Sozialen. Die Frage ist, wie das Okonomische hier wirkt, um welche Art von Okonomie es sich handelt. Geht es um die Formung von Individuen als Arbeitskrafte und deren okonomisch profitablen Einsatz? Oder bilden sich hier vielmehr komplexe Okonomien heraus, die in betriebswirtschaftlichen Denkmustern nicht aufgehen? Denn auch im psychischen Apparat des Subjekts sind (Trieb-)Okonomien wirksam; das Okonomische fungiert dort als regulierendes, inneres Prinzip, das in einem komplexen Zusammenspiel mit Waren- und Zeichenokonomien steht (vgl. ausfuhrlicher dazu Bublitz 2005: 18f.). Wie schalten sich Produktions- und Trieb6konomie zusammen und wie verbinden sich diese

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Diesem Muster funktional zerstreuter Interaktion folgen sowohl die InteraktionsstrCme individualisierter Konsumenten in kiinstlich angeordneten, Dffentlichen Raumen stadtischer Architekturen und EinkaufsstraBen, wie z.B. dem Potsdamer Platz in Berlin, wo der Einzelne sich, in den Glasfassaden gespiegelt und dem anonymen Blick der Masse ausgesetzt, in dauernder Selbstprttfung befindet; aber auch vernetzte Interaktions- und KommunikationsstrOme multimedialer Raume, in denen der Austausch sich funktional zerstreut und - beinahe - zum Selbstzweck wird.

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mit Zeichenokonomien? Der hier zugrunde gelegte Begriff des Okonomischen (iberschreitet zweifellos die Logik Gkonomischer Austausch- und Verwertungsprozesse, wenn er erweitert wird auf Prozesse der Zirkulation von Zeichen und der Steuerung zirkularer Prozesse der Austauschprozesse psychischer Energien. Vorausgesetzt ist aber bei all dem eine 'Okonomie der Macht', die selbst in der Form und nach dem Vorbild der Okonomie ausgeiibt wird und die das Subjekt und seinen K5rper politisch besetzt. Sie unterwirft das Verhalten der Subjekte nach dem Muster eines permanenten okonomischen Tribunals einer andauernden Selbstthematisierung und Selbstrechtfertigung.8 Gleichzeitig entwickelt sich diese Machtform nicht unter Missachtung der Individuen, sondern im Gegenteil, durch deren Einbeziehung in eine „raffinierte Struktur", eine „Individualisierungs-Matrix" (Foucault 1987: 249), die den gesamten Gesellschaftskorper durchdringt und die Individuen auf eine neue Art und Weise zugleich individualisiert und in die Gesellschaft integriert. Dabei sind Herrschaftsund Selbsttechnologien ineinander verschrankt. „Der Kontaktpunkt, an dem die Form der Lenkung der Individuen durch andere mit der Weise ihrer Selbstfiihrung verknupft ist, kann nach meiner Auffassung Regierung [gouvernementalite] genannt werden. In der weiten Bedeutung des Wortes ist Regierung nicht eine Weise, Menschen zu zwingen, das zu tun, was der Regierende will; vielmehr ist sie immer ein bewegliches Gleichgewicht mit Erganzungen und Konflikten zwischen Techniken, die Zwang sicherstellen, und Prozessen, durch die das Selbst durch sich selbst konstruiert oder modifiziert wird." (Foucault 1993: 203 f; zit. n. BrOckling/ Krasmann/ Lemke 2000: 29)

Dadurch ergibt sich eine Beziehung zwischen Fremd- und Selbstkonstitution, durch die Prozesse der Selbstproduktion und -fuhrung mit solchen Techniken gekoppelt werden, die der globalen Menschenfuhrung im Sinne der Bevolkerungsregulierung dienen. Hier geht es also nicht primar um Unterdruckung, sondern um die „Erfindung und Forderung von Selbsttechnologien, die an Regierungsziele gekoppelt werden konnen" (ebd.). Macht wirkt hier vor allem auf das Moglichkeitsfeld subjektiven Handelns ein. Das Ergebnis ist die Durchsetzung einer 'autonomen Subjektivitat', die der Ausrichtung des Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkulen folgt. Individuelle Freiheit wird dabei einem Sicherheitskalktil unterstellt, das die zweckgerichtete Normalisierung der individuellen Interessen und der Dynamik des Begehrens garantiert. Durch ' Selbst-Adjustierung' erfolgt die individuelle 8

Foucault geht davon aus, dass die sakulare Verallgemeinerung der Pastoralmacht das Subjekt individualisierend auf eine Weise formt, die der „Fabrikation des Menschen" (Treiber/ Steinert 1980) in modernen industriekapitalistischen Gesellschaften entgegenkommt und diese untermauert: Sie tragt als moderne Gestandnis-, Beicht- und Bekenntniskultur alle ZUge einer aufgezwungenen Entlockung 'innerer Wahrheiten' des Subjekts und erscheint damit als (disziplinarische Gewalt der) Selbstkontrolle; vgl. Foucault 1976a und b; 1993a und b; 2005.

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Verortung im Spektrum eines flexiblen Koordinatensystems von Normalitat (vgl. Link 1997). Dies erfolgt bei gleichzeitiger Steigerung und Optimierung des eigenen Selbst- und Wohlbefindens. (Selbst-) Normalisierung und Individualisierung greifen ineinander. Folglich bildet die Freiheit nicht nur ein individuelles Recht, sondern auch ein unverzichtbares Element von Machtstrategien selbst. Sie stellt sich nicht zuletzt performativ tiber im weitesten Sinne 'unternehmerisches' Verhalten des Subjekts her. Techniken der Selbstthematisierung und der Introspektion bilden aber nicht nur alltagliche Techniken der Selbstinszenierung und -vergewisserung. Vielmehr manifestiert sich in der medial inszenierten, offentlichen Praxis der Selbstenthiillung und -offenbarung eine „gewisse performative Produktion des Subjekts innerhalb feststehender offentlicher Konventionen" (Butler 2003: 119), in deren Rahmen sich nicht zuletzt auch die Vorstellung auflost, das Subjekt manifestiere sich in (s)einer Innerlichkeit. Die mit dem Begriff der 'Selbstinzenierung' einhergehende Suggestion, dass es ein nicht-inszeniertes, authentisches Selbst gibt, wird vor diesem Hintergrund problematisiert. In der offentlichen Selbstbeobachtung und -thematisierung realisiert sich eine gesellschaftliche Beziehung auf das Subjekt, das sich in der offentlichen Manifestation des Selbst als solches erst ausweist. Die ritualisierten Formen der Selbstinszenierung erscheinen dann weniger als erzwungene Praxis im Dienste einer - medialen und sozialen - Ordnungsmacht, sondern als veranderte Praxis der Selbstkonstitution (vgl. Butler 2003: 118 f.). Darin besteht seine 'Selbstoffenbarung': In der korperlichen und sprachlichen Selbstdemonstration des Subjekts „spricht es sich selbst, wird dadurch aber erst, was es ista (ebd.). Die Beziehung zu sich selbst besteht in der permanenten Selbstprufimg und thematisierung; in ihr manifestiert und konstituiert sich das Selbst, beides in einem. Der psychische Raum und die Innerlichkeit des Subjekts sind dann Effekte dieser offentlichen Performativitat des Selbst, denn „(...) wenn ich frage, wer ich fur mich sein konnte, muss ich auch fragen, welchen Platz es in dem diskursiven Regime, in dem ich lebe, fur ein 'Ich' gibt. Ich bin nicht an schon feststehende Normen der Subjektbildung oder an vorgegebene Konventionen des Selbstbezugs gebunden, aber ich bin sehr wohl an die Gesellschaftlichkeit dieser mftglichen Beziehungen gebunden" (ebd.: 121).

Die performative 'Selbstfindung' gestaltet sich also als gesellschaftlichoffentliche Beziehung unvermeidlich im Kontext von Normen, die in der reflexiven, zuruckgewendeten Beziehung auf sich selbst regeln, „wie man zu erscheinen hat und erscheinen kann und welches Verh<nis man zu sich selbst an den Tag legen sollte" (ebd.). Das bedeutet nicht, dass das Subjekt den Rahmen 119

des Vorgegebenen nicht durchbrechen kann. Der hier verfolgte Ansatz geht lediglich davon aus, dass das, was als authentisch gilt, immer schon in narrativen und performativen Strategien der Selbst(er)findung des Subjekts und im Gelingen des performativen Aktes begrtindet ist. Das bedeutet: Die 'Authentizitat' des Selbst erweist sich nicht nur schon ihrerseits als Effekt inszenatorischer Praktiken, sondern sie unterliegt zudem einer permanenten Vergewisserung dessen, was als 'edit' gilt. Damit wird die Inszenierung aber nicht als Mittel der Maskierung, sondern als Medium der Selbstbeschreibung, des Selbst-Ausdrucks und der 'Selbst-Erfindung' verstanden. Es geht dabei weniger um die vermeintliche Alternative zwischen 'Echtheit' und Inszenierung. Die Inszenierung des Selbst ist dasjenige Mittel, mit dem es sich sozusagen selbst gegentibertritt, um ein Bild von sich zu entwerfen und zur Erscheinung zu bringen. Sie ist der Versuch, sich selbst performativ als 'authentisches' Selbst darzustellen und zu begegnen.

4. Imaginare und phantasmatische Mechanismen der Subjektbildung und Selbstmanifestation Das Subjekt hat keine authentische Korpererfahrung, von der es sich durch mediale Apparate entfremdet. Vielmehr schlieften sich diese in der wiederholten {Constitution des Korper-Subjekts mit psychischen Formationsweisen des Subjekts zusammen. Hier verkntipft sich die MaterialMt des Korpers mit der von Bildern und Korperpraxen. Das 'authentische' Selbst ist Effekt einer Spiegelung, die in einer Ubereinkunft miindet: dem glaubhaften Selbst. Dabei wird der Andere zum entscheidenden Medium, durch den das Subjekt Aufschluss tiber sich und seinen Korper gewinnt. Gleichzeitig aber bleibt dieses Spiegelbild (des Anderen vom Korper-Subjekt) immer imaginar, weil es dem uneinholbaren Blick des Anderen verhaftet ist. Darin ist die fundamental Nicht-Identitat des Subjekts begrtindet. Es entgleitet dem Rahmen medialer Apparate und Korperbilder insofern, als die Wahrnehmung des eigenen Korpers sich einem unbewussten Realen der eigenen (Korper-)Geschichte verdankt, die in die Morphologie des Korpers eingeschrieben ist. Die subjektive Wahrnehmung verfehlt den Standpunkt des Anderen, der sich als solches dem Ort des Sehens entzieht und der subjektiven Wahrnehmung letztlich unzuganglich bleibt. Das Bild zeigt immer nur die Perspektive des Blicks (des Anderen) auf das eigene Selbst, der vom Standort des Sehens nicht einsehbar ist, wobei dieser auf der ' Abbildung' immer fehlt. Beide verweisen in ihrer Differenz auf ein Phantasma, das seinerseits auf die Fiktionalitat der Representation des Subjekts im Spiegelbild, im Medium des 120

Anderen, niemals aber auf einen machtfreien Raum hinweist. Das Subjekt wird zum Symbol, dessen Bedeutung es in den Augen der anderen zu entziffern sucht. Dennoch ist das Subjekt unweigerlich auf den Spiegelvorgang, auf die Aufhahme seines Korpers in die symbolische Ordnung (der Representation, des Bildes, der Sprache) verwiesen. Dass diese mit Idealisierungen verbunden ist, schmeichelt zunachst dem immer wieder neu erzeugten Begehren, auch dem nach sozialer Anerkennung, dem Wunsch, zu gefallen, dem Verlangen, so zu werden, wie der Andere einen sieht. Es zeigt aber, dass das Subjekt von Anfang an auf einer imaginaren Basis, einer Einbildung und Illusion, wenn nicht gar Tauschung beruht. Wenn Lacans Modell des Spiegelstadiums von einer originaren Verkennung des Subjekts im Feld des Blicks ausgeht, dann setzt er dabei voraus, dass das Subjekt sich zwar durch den Blick des anderen/der symbolischen Ordnung erschlieflt, sich aber in diesem zugleich verfehlt. Vom Ort des - verallgemeinerten - Anderen erfahrt es keineswegs Wahrheiten iiber sich. Das Subjekt, das in standiger (Selbst-)Reflexion seine Identitat sucht und sich verfehlt, hat keine Wahrheit in sich. Die Metapher von der orthopddischen Funktion der Spiegelprothese bildet den Ankniipfiingspunkt eines in imaginaren, „spiegelartigen Anordnungen" begriindeten Subjekts (Lacan 1996), das sich gewissermaften immer nur als imaginare Gestalt auf der Grundlage eines Phantasmas zuganglich ist. Lacan entwirft das Konzept eines Subjekts, das sich wesentlich dadurch konstituiert, dass es die Gestalt des eigenen Korpers im Spiegel (im Blick des Anderen) erblickt. Diese Gestalt tritt an die Stelle des chaotischen und 'zersttickelten' Korpers, der in einzelne Glieder, in unkoordinierte BewegungsablSufe und unvollkommene Korperteile zerfallt. Die idealisierte Korpergestalt ist als perfekte Korpereinheit aber nur exzentrisch, vom Ort des Anderen sichtbar. In der glorifizierenden Geste des Spiegels, des Anderen, der symbolischen und sprachlichen Ordnung reflektieren sich der zerstuckelte Korper und das partielle Selbst als unversehrte Einheit. Dabei operiert das Spiegelbild gleichsam als Sttitze des Selbst(bilds). Zugleich bildet es den Ort einer imaginaren Spiegelung des Selbst. Diese Konstruktion stellt die Moglichkeit bereit, das Subjekt als Effekt imaginarer Spiegelbeziehungen zu denken, das, im Teufelskreis eines phantasmatischen Begehrens, dem vorgespiegelten Idealbild zu gentigen, gefangen ist. Dabei ist das Scheitern idealistischer Figuren bereits in den Spiegelungsvorgang selbst eingeschrieben - das Subjekt folgt dem Spiegelbild unablassig nach, dieses entzieht sich aber als unerreichbar wie auch das reale Subjekt vor dem Spiegel sich dem Spiegelbild, dem vom Medium gespiegelten Blick des Anderen entzieht. Zudem schreibt der Monitor, der das Modell als Ideal vorgibt, das Scheitern in den Spiegelvorgang selbst ein: Er stellt Subjektentwiirfe still, wo sie gesell121

schaftlich langst vervielfaltigt werden; er zerstSrt das imaginare Spiegelverhaltnis durch die apparative Anordnung. Der Korper entgleitet dem KGrperbild aber nicht zuletzt auch, weil der bewegte Korper raumliche Dimensionen annimmt, die den Rahmen des Bildes uberschreiten: Der Korper-In-Bewegung bewegt sich in einem Raum subjektiver Zeit, in dem Erinnerungspuren und Affekte angesiedelt sind und der gefullt ist mit Bildern, die sich in die Morphologie und Motorik des Korpers eingravieren, sich aber als gerahmtes 'Abbild' nicht erschlieflen lassen (vgl. Angerer 2000). Erst recht kann der imaginierte Blick des Anderen medial nicht dadurch abgebildet werden, dass man sich - scheinbar aus der Perspective des Anderen von alien Seiten sieht. Was bleibt, ist immer ein blinder Fleck. Die Dimension des imaginierten Anderen entgeht dem technischen Medium und dem durch ihn hergestellten, objektivierten Blick ebenso wie die des imaginaren Selbst. Immer mit dem - imaginierten - Blick des Anderen zusammengeschlossen, dessen Perspektive sich in die einer gesteigerten Selbstbeobachtung ubersetzt, verschlieBt sich das reale Subjekt seiner bloB technischen 'Abbildung'. Denn sie verfehlt nicht nur das Imaginare des gespiegelten Selbst(bilds), sondern sie setzt das Subjekt einer umfassenden Totalisierung und Objektivierung eines Imaginaren aus, die die Kunden aus den mit Plasmabildschirmen besttickten Umkleidekabinen vertreiben. Der Preis der Model(l)figuren ist zu offensichtlich: Im Zeitalter der Lifestyle-Identitat, wo auf den Monitoren eine ganze Bandbreite von Subjekt- und Lebensmodellen vorgeflihrt werden, zwischen denen die Zuschauer je nach Laune hin- und her switchen konnen, erscheint es nicht verlockend, sich in der Totale abbilden zu lassen. Genau in dem Augenblick, in dem alle Scheinwerfer auf das Subjekt gerichtet sind, schaltet es daher ab. Denn im - medialen - Spiegelbild (symbolischer Ordnungen) wird die Einbildungs- und Vorstellungskraft, werden das Imaginare und das Phantasmatische des Subjekts ausgeblendet. Eingeblendet wird nur ein Schema, ein Korperbild, das die Innenwelt des Subjekts und seine Phantasmen nicht sichtbar macht. Sie entgleiten, nicht greif- oder sichtbar, dem Bildschirm, der Ordnung des Symbolischen. Der nach innen gewendete Blick, der das Medium und den Beobachter imaginiert, schlieBt sich auf eine Weise mit psychischen Prozessen des Subjekts zusammen, die sich nicht technisch objektivieren und abbilden lassen. Die Apparatur der Plasmabildschirme zerstort ganz offensichtlich die in das Spiegelverhaltnis eingeschriebene Einbildungskraft, mit der das Selbstbild zu einem Stiick des eigenen Inneren wird. Und dennoch befindet sich das Subjekt, das abschaltet, immer vor, zwischen und auf den Monitoren. Angeschaltet an die Programme, die in Endlosschleifen 122

Muster und Taktiken des erfolgreichen Lifestyle-Daseins und spannende Formen der Selbstverwirklichung vorftihren und urn die Perfektionierung der Oberflachen vollendet geformter Korper kreisen, ist das Subjekt unablassig konfrontiert mit einem endlos wandelbaren Selbst, das sich in immer neuen Varianten grenzenlosen Wohlbefindens prasentiert.

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Undine Eberlein Serielle Einzigartigkeit und Eigensinn

1. Schattenseiten der Individualisierung Die Debatten der letzten Jahrzehnte um Bedingungen und Folgen der vielfach diagnostizierten Individualisierung der westlichen Gesellschaften haben auf die Selbstwahrnehmung und das Selbstverstandnis der Betroffenen zuriickgewirkt. Dabei fiihrte insbesondere die verkiirzte Rezeption der Individualisierungsthese in den Massenmedien gelegentlich zum Missverstandnis, hier werde ein neues 'Reich der Freiheit' und der bedingungslosen Selbstgestaltung angekiindigt. Je nach Standort wurde das damit verbundene Versprechen als Befreiung vom Zwang des Sozialen begriiBt oder als Triumph eines beziehungslosen Egoismus verdammt. Dagegen wurde sowohl von soziologischen Klassikern wie Durkheim, Simmel, Weber und Parsons, als auch in der von Beck und anderen angestoBenen neueren Individualisierungsdebatte der sozialstrukturelle Charakter und damit auch die Unentrinnbarkeit der modernen Individualisierungsprozesse betont: Diese galten immer auch als Zwang, nicht nur als Option, auch als Verhangnis, nicht nur als Chance. Neue Freiheiten und neue Zwange also. Heute, da 'Freiheit' und 'Eigenverantwortung' zu zentralen politischen Kampfbegriffen gegen den Sozialstaat geworden sind, erscheinen die mit der Individualisierungsthese verbundenen Erwartungen wiederum in einem neuen Licht: Bedeutet Individualisierung unter den Bedingungen fortschreitender Vermarktlichung und Globalisierung nicht letztlich eine totale Subsumtion der Menschen unter die Verwertungsimperative der kapitalistischen Okonomie? Fiihrt die Auflosung traditionaler Milieus nicht zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Entsolidarisierung, die jede zivilgesellschaftliche und politische Mobilisierung fur soziale Gerechtigkeit und eine zumindest partielle Angleichung der Lebenschancen stark erschwert? Bedeutet Individualisierung im Sinne der Auflosung traditionaler Wertorientierungen, sozialmora-

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lischer Milieus sowie der industriegesellschaftlichen Normalerwerbsbiografie nicht letztlich nur die Durchsetzung 'neoliberaler' okonomischer und politischer Praktiken? Waren die mit ihr vielfach verbundenen Hoffhungen auf ein freieres und selbstbestimmteres Leben somit immer schon illusionar, vielleicht nur pure Ideologic? Angesichts der zunehmenden Krise der sozialen Sicherungssysteme und der Normalbeschaftigung treten heute sicherlich die Schattenseiten der Individualisierung deutlicher hervor als noch vor einigen Jahren. Die Belastung der Einzelnen als „Reproduktionseinheit des Sozialen" (vgl. Beck 1986) wachst, und zwar nicht nur angesichts zunehmender Identitatsprobleme und Entscheidungsnotwendigkeiten, sondern auch und vor allem hinsichtlich der Sicherung des Lebensstandards. Heute verbinden sich Individualisierung und ein generalisiertes und radikalisiertes Leistungs- und Konkurrenzdenken, das durch die zunehmende Okonomisierung aller Lebensbereiche immer deutlicher zum Arbeit und Freizeit dominierenden soziokulturellen Imperativ wird. Die alltaglichen Distinktions- und Anerkennungskampfe pragen entscheidend die individuelle 'Marktgangigkeit' im Arbeits- wie im Beziehungsbereich. Dabei geht es bei dieser standigen Konkurrenz sowohl um okonomische und symbolische Gratifikationen, als auch um Sinnstiftung durch soziale Anerkennung von Status, Originalitat und Attraktivitat. Sogar die omniprasenten Versprechungen der Werbung und des Erlebnismarktes zielen heute keineswegs nur auf Gluck und Erfullung im Sinne eines konsumistischen Hedonismus, sondern sprechen kaum verdeckt von der standig notwendigen Anstrengung, die eigene Individuality leistungs- und marktfahig zu erhalten und standig zu optimieren. Folge des kontinuierlichen Kampfes um Marktwert und Selbstoptimierung ist ein verbreitetes Gefuhl der Uberforderung und Erschopfung. Entsprechend wird die einst uberwiegend begriiBte Individualisierung inzwischen angesichts ihrer real existierenden Formen und Konsequenzen von vielen Menschen eher als Bedrohung, denn als Chance erlebt. Den einen schwebt als Antwort eine Restauration der angeblich von den '68ern' mutwillig zerstorten 'guten alten Werte' vor, die offenbar nach amerikanischem Vorbild ein neues Bundnis von Christentum und Kapitalismus unterfuttern sollen. Anderen erscheint die Spatphase des 'fordistischen' Zeitalters bzw. der 'alten Bundesrepublik' neuerdings als eine Art Goldenes Zeitalter, das man sich zuruckwunscht, ohne doch eine praktikable politische Strategic dahin aufzeigen zu konnen. Wieder andere bejahen die Individualisierung, deuten sie aber einseitig im Sinne eines okonomischen Sozialdarwinismus und lassen

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keinen Zweifel daran, dass sie selbst alles tun werden, um zu den Siegern im verscharften Existenzkampf zu gehoren.

2. Das Konzept des 'romantischen Individualismus' 1st aber Individualisierung heute wirklich gleichbedeutend mit Anpassung an die neoliberale Okonomie und Ideologic? Oder lassen sich auch und gerade in den aktuellen Prozessen gesellschaftlicher Individualisierung und den mit ihnen verbundenen Formen des Welt- und Selbstverstandnisses vielleicht Ressourcen ausmachen, die dem entgegenstehen? Auf diese Frage mochte ich eine Antwort versuchen, die von meiner in Anlehnung an Georg Simmel entwickelten Theorie des „romantischen Jndividualismus" der Moderne (vgl. Eberlein 2000) ausgeht und die Ambivalenz gegenwartiger Tendenzen zwischen „serieller Einzigartigkeit" und „Eigensinn" betont. Gerade der in mancher Hinsicht fiktionale und illusionare Charakter des romantischen Individualismus, so meine These, kann eine Distanznahme zum Gegebenen und einen reflektierten Eigensinn der Einzelnen auch gegeniiber ubermachtigen okonomischen Zwangen ermoglichen und motivieren. Ahnlich wie in vielen religiosen Systemen der Weltdeutung wird eine 'Differenz' gegeniiber der Welt und ihren Zwangen konstituiert, die Freiraume des Wollens und Handelns eroffnen kann. In Verbindung mit einer Kultur der Selbstsorge und leibgebundenen Aufmerksamkeit liegt hier vielleicht eine Chance, der Reduktion von Individualist auf konsumistische Muster serieller Einzigartigkeit zu entgehen und an 'alteuropaische' Bildungsideale der Aufklarung und Romantik neu anzuknupfen. Die autozentrierte Gestaltung des eigenen Lebens und Entfaltung des privaten Lebensstils, die Sehnsucht nach individueller 'Selbstverwirklichung', das Ideal eines 'authentischen' und 'wahren', oder aber 'originell entworfenen' bzw. 'gebastelten' Selbst, die Insistenz auf unverwechselbare Besonderheit und Einzigartigkeit der eigenen Person - all dies sind konstitutive Elemente des romantischen Individualismus. Dieser bietet eine Form der Sinnstiftung, Selbstthematisierung und Lebensgestaltung, die Identitat, Orientierung und Motivation angesichts der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften gewahrleisten soil. Ich nenne dieses Individualitatskonzept 'romantisch', weil die historische Romantik, die in ihrer Nachfolge stehende Boheme, sowie spatere Kunstlergruppen und Alternativbewegungen des 19.

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und 20. Jahrhunderts eine zentrale Rolle fur seine Formulierung und Verbreitung gespielt haben (vgl. Hennig 1989). Dabei gehe ich von einer idealtypischen Bestimmung des romantischen Individualismus aus, die diesen mit dem „moralischen Individualismus" der Aufklarung kontrastiert (vgl. auch Simmel 1984). Letzterer formuliert einen Begriff moralischer Autonomic, der die Gleichheit aller Menschen unterstellt bzw. fordert und auf eine Struktur universaler Anerkennung und Gerechtigkeit zielt. Dagegen betont der romantische Individualismus die Besonderheit bzw. Einzigartigkeit jedes Menschen und fasst diese als Grundlage des jeweiligen Lebenssinns und der Aufgabe individueller 'Selbstverwirklichung'. Romantischer und moralischer Individualismus sind damit zwei Grundorientierungen der Moderne, die beide realhistorisch den okonomischen Individualismus des aufsteigenden Burgertums voraussetzen und doch zugleich in einem Spannungsverhaltnis zu diesem stehen. Letzteres auflert sich vor allem in der oft radikalen Kritik am okonomischen Individualismus und seinen Folgen, wie sie sowohl aus Sicht des romantischen, als auch des moralischen Individualismus immer wieder vorgebracht wurde. Als eine spezifisch moderne Form der Selbstthematisierung, des Selbstverhaltnisses sowie der Sinnstiftung und Lebensgestaltung pragt der romantische Individualismus heute vielfach die soziale Wirklichkeit. Dabei erklart sich seine seit der historischen Romantik zunehmende Verbreitung einerseits aus sozialstrukturellen Wandlungsprozessen, besonders der wachsenden funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaften, andererseits aus seiner Formulierung eines quasi-religiosen, unausschopfbaren und deshalb auch weitgehend enttauschungs-resistenten Sinns. Die massenhafte Sehnsucht, sich als einzigartiges Individuum 'zu verwirklichen', wird zu einer Art Ersatzreligion der Gegenwart. Als Folge sozialstruktureller Transformationen sowie eines zunehmenden Geltungsverlusts kollektiver Identitaten und Weltbilder bedarf der romantische Individualismus dabei eben jener funktionalen Differenzierung der Moderne, auf die er zugleich kompensatorisch reagiert. Der Wechsel des Primats von segmentarer oder stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung und die damit einhergehende Krise der Identitatszuweisung qua Inklusion in ein Segment der Gesellschaft notigt die Einzelnen, mit einer „exklusiven", a-sozialen Selbstdefinition zu reagieren (vgl. Luhmann 1997 u.a.). Diese liefert exemplarisch der romantische Individualismus mit seinem Ideal der Einzigartigkeit und individuellen Selbstverwirklichung. Er formuliert damit ein modernes Ethos, das eine abstrakte und gerade deswegen hochst offe-

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ne und leistungsfahige Form der Orientierung und Motivation ermoglicht. Seine Flexibility erweist sich nicht zuletzt daran, dass er sowohl „alternativen" Protest und die Versuche neuer 'authentischer' Lebensformen, als auch die konsumistische Erlebnissuche und die Karrieregestaltung auf dem individualisierten Arbeitsmarkt motivieren und anleiten kann. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung zwischen einem lange dominierenden Selbstfindungs- und einem dieses zunehmend ablosenden Selbstproduktionsmodell des romantischen Individualismus notwendig: Ersteres geht von der Annahme eines 'wahren Selbst' des Individuums aus, das es aufzufinden bzw. von den 'entfremdenden' gesellschaftlichen Uberformungen zu befreien und so zu 'verwirklichen' gilt. Dagegen fasst Letzteres Selbstverwirklichung als Prozess der 'Selbsterfindung', als schrittweise Kreation eines eigenen einzigartigen Selbst nach dem Vorbild kunstlerischer Produktion. Die tendenzielle Ersetzung des Selbstfindungs- durch das Selbstproduktionsmodell in den letzten Jahrzehnten ging einher mit einer zunehmenden Verbreitung des romantischen Individualismus und seines Selbstverwirklichungsanspruchs aus Kunstlerkreisen und verschiedenen Jugend- und Alternativkulturen bis in den Mainstream der Gesellschaft. Diese zunehmende Verbreitung war freilich nicht nur mit einem Wandel des Konzepts des 'eigenen Selbst', sondern auch mit einer zunehmenden Anpassung an die okonomischen und institutionellen Vorgaben der kapitalistischen Moderne verbunden: Ging es den Alternativbewegungen des 20. Jahrhunderts noch um Selbstfindung vor allem im Sinne einer Befreiung von gesellschaftlichen Zwangen, Institutionen und Rollen, so werden ab Anfang der 80er Jahre die heteronomen Momente der Institutionen- und Warenwelt zunehmend affirmiert und als Material vielfaltiger Selbstpraktiken zur einzigartigen Selbsterfindung der eigenen Lebenscollage integriert. Dabei wird freilich trotz aller Einsicht in die unlosbare Abhangigkeit des Einzelnen, seiner Selbstthematisierung und seines 'Innenlebens', von sozialen Bedingungen, Praktiken und Diskursen, der Anspruch auf Selbstverwirklichung nicht ganz aufgegeben, sondern in die Vorstellung eines flexiblen, unabschlieBbaren und immer wieder neu ansetzenden Lebensexperiments einer vor allem nach asthetischen Kriterien gewahlten Selbstgestaltung umgedeutet. Mit diesem Wechsel zum Selbstproduktionsmodell kommt es zu einer wachsenden Akzeptanz der kapitalistischen Rahmenbedingungen und zu einer weitgehenden Versohnung mit dem von ihnen erforderten Leistungs- und Konkurrenzdenken. Daraus resultiert eine Radikalisierung des sozialen Wettbewerbs, der gerade durch die

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Verbreitung des Strebens nach individueller Einzigartigkeit in neuer Weise zu einem Arbeit und Freizeit ubergreifenden soziokulturellen Imperativ wird. Deshalb kann der romantische Individualismus heute auch zur ideologischen Uberhohung des neoliberalen Kapitalismus dienen (vgl. dazu Boltanski/ Chiapello 2003). Zugleich aber geht er - wie ich noch zeigen will - keineswegs restlos darin auf, sondern stellt zugleich eine Ressource des Eigensinns und der moglichen Differenz gegeniiber den dominierenden kapitalistischen Verwertungsinteressen dar.

3. Gegentendenzen zur Dominanz des romantischen Individualismus Ich betrachte den romantischen Individualismus als nur eine, wenn auch besonders wirkmachtige Form moderner Identitat bzw. Individualist und der diese konstituierenden Selbstthematisierung - also nicht als Hohe- oder gar Endpunkt des Identitatswandels in der Moderne. Vielmehr sind gesellschaftliche Gegentendenzen zur Individualisierung und besonders zum romantischen Individualismus heute uniibersehbar: In vieler Hinsicht zeigen die letzten Jahre - wohl nicht zuletzt wegen der oben angedeuteten Enttauschungen und Erschopfungserfahrungen - eine Tendenz zu sozialer Konformitat und Anpassung, die sich etwa in der medial propagierten, aber auch empirisch nachweisbaren Wiederkehr vieler burgerlicher Konventionen auBert. Auch jenseits der im Kern konservativ motivierten Wertedebatten wird Abweichung heute vielfach als bedrohlich und Konformitat als entlastend empfunden. Die Sehnsucht 'dazu zu gehoren' scheint oft wieder starker zu sein, als jene nach Selbstverwirklichung und individueller Einzigartigkeit. Was bedeutet das fur die Individualisierungsthese und speziell flir meine Theorie des romantischen Individualismus? 1st dessen historischer Hohepunkt vielleicht schon Uberschritten? Wird er vielleicht zwischen den neoliberalen Praktiken von Wettbewerb und Bereicherung (bzw. Verarmung) und der neokonservativen Sehnsucht nach sicherem Status und legitimierenden Institutionen zerrieben? Wird er nur noch umgedeutet im Namen der neoliberalen Ideologic von Leistung und Eigenverantwortung und/oder bekampft als angeblich zentrale Ursache der Krise von Familie und Staat? Diese Tendenzen gibt es sicher, und sie sind gerade vor dem Hintergrund der sich heute zumindest als Sehnsucht und Forderung andeutenden Riickwendung zu Formen religios oder ethnisch bestimmter Identitat sehr ernst zu nehmen. Gleichwohl

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scheint mir ein Verschwinden oder auch nur radikales Zuruckdrangen des romantischen Individualismus selbst in Phasen wirtschaftlicher und sozialer Krisen auf absehbare Zeit eher unwahrscheinlich. Die Geschichte der Moderne zeigt, dass die Bedeutung des romantischen Individualismus trotz Wirtschaftskrisen und langer Phasen der Dominanz kollektiver, ja totalitarer Identitatsvorgaben 'in the long run' zugenommen hat. Damit ist naturlich noch nicht allzu viel uber die Zukunft gesagt. Es ist durchaus moglich, dass einmal riickblickend eine gliickliche Nachkriegsphase des 'keynesianischen' Klassenkompromisses und Massenwohlstands zu diagnostizieren sein wird, die eine kurze Bltitezeit eines uberschieBenden Individualismus und einer luxurierenden Suche nach Selbstverwirklichung ermoglichte, bis dann wieder 'hartere Zeiten' anbrachen. Dagegen spricht freilich die theoretische Grundannahme, die Verbreitung des romantischen Individualismus sei eine Konsequenz der zunehmenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft sowie der Krise einer weitgehend unhinterfragten Legitimation kollektiver Identitaten und Weltbilder. Trotz aller Widerspruche und Gegenbewegungen scheinen mir diese beiden Grundtendenzen der Moderne weiterhin wirksam und im Kern ungebrochen. Damit aber, so jedenfalls meine These, ist auch die Rolle des romatischen Individualismus als kulturelles Leitideal nicht gefahrdet. Zudem hat die Vorstellungswelt des romantischen Individualismus das moderne Bewusstsein langst tief durchdrungen: Auch der Kampf um okonomischen Erfolg oder die Sehnsucht nach Ubersichtlichkeit, Konformitat und stabilen Institutionen sind heute verknupft mit der als selbstverstandlich geltenden Pramisse, dass jeder sein spezifisch eigenes Leben zu fuhren und dieses selbst zu gestalten und zu verantworten habe. Die individualistische Grundausrichtung der modernen - vor allem, aber nicht nur, der westlichen - Gesellschaften wird daher von den diskutierten Gegentendenzen meiner Ansicht nach eher uberdeckt, als gebrochen. Ahnliches gilt auch fur den Kampf der vielen Modernisierungsverlierer um ihre okonomische Existenz: Naturlich setzt die Moglichkeit, das eigene Leben entsprechend den Vorstellungen des romantischen Individualismus zu gestalten, ein gewisses MaB an Verfiigung tiber okonomische und kulturelle Ressourcen - wie ubrigens auch uber soziale und politische Freiheiten - voraus. Aber die Orientierung an einem kulturellen Ideal kann unabhangig davon wirksam bleiben, ob seine tatsachliche Umsetzung jeweils konkret erreichbar scheint. Auch jene, fur die okonomische Notwendigkeiten faktisch den Alltag bestimmen, haben - nicht zuletzt durch die massenmedial vermittel-

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ten Wunschbilder - eine Vorstellung davon, wie sie besser leben wollten, wenn sie nur konnten. Und diese Vorstellungen sind heute vom romantischen Individualismus und seinem Ideal der Selbstverwirklichung zumindest mitgepragt.

4. Serielle Einzigartigkeit Aber auch wenn sich die Bedeutung der diskutierten Gegentendenzen relativiert, ist doch eine 'Dialektik' von Individualisierung und Standardisierung beobachtbar. Durch den romantischen Individualismus wird namlich ein soziokultureller Habitus konstituiert, der trotz aller Wertschatzung des 'Individuellen' und 'Einzigartigen' eine Fulle von formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten aufweist. Ein Grund dafur ist, dass die Bedingungen und Angebote der Arbeits-, Guter- und Erlebnismarkte faktisch weitgehend das fur die individuelle Selbstverwirklichung verfugbare Material bestimmen. So wird das Verhalten der romantischen Individualisten inhaltlich prafiguriert und es kommt zum paradox anmutenden Phanomen einer massenhaften und in vieler Hinsicht standardisierten, dabei oft von einer blolten Variation vorgefundener Elemente gepragten, 'Einzigartigkeit'. Dieses Phanomen nenne ich 'serielle Einzigartigkeit'. Es kennzeichnet heute meiner Meinung nach die Mehrzahl der romantischen Individualisten ebenso, wie viele der Guter, die sie flir ihre Selbstgestaltung nutzen. Dabei gehoren die romantischen Individualisten - also jene, deren Selbstthematisierung und Lebensfuhrung maBgeblich vom romantischen Individualitatskonzept gepragt ist - heute nicht mehr eindeutig zuordenbaren und umgrenzten sozialen Gruppen oder Milieus an. Mit der Diffusion des romantischen Individualismus in den Mainstream der Gesellschaft ist dieser vielmehr zu einem gesamtgesellschaftlich verbreiteten Modell der Selbstthematisierung und Lebensfuhrung geworden. Unter dem Stichwort des 'mass customizing' ist das Konzept der 'seriellen Einzigartigkeit' heute im Marketing gut bekannt: Immer mehr prominente Firmen etwa der Bekleidungsindustrie versuchen, das alte handwerkliche Prinzip der Fertigung von Einzelstiicken nach Kundenwunsch und konkreter Nachfrage mit der Effizienz industrieller Massenfertigung zu verbinden. Dabei soil aber die kundenbezogene Fertigung nicht etwa - wie bei der frtiher tiblichen Mafianfertigung - primar den praktischen Gebrauchswert erhohen, sondern sie soil durch Besonderheiten der auBeren

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Gestaltung die Einzigartigkeit des jeweiligen Produkts - und damit implizit auch seines Tragers bzw. Eigentiimers - erzeugen und designieren. Die Massenanfertigung mit individualisierten Designelementen soil also einen hoheren Preis und Gewinn ermoglichen, indem den Kunden ein besonders leistungsfahiges Mittel der sozialen Distinktion und Identitatsbildung geliefert wird. Dabei wird das Prinzip der renommierten Marke mit dem Einzigartigkeitsideal des romantischen Individualismus verbunden: Der Konsument soil einerseits an dem mit dem Markenlogo verbundenen Versprechen von Distinktion und Zugehorigkeit partizipieren, zugleich aber mit einer unverwechselbaren „personlichen Note" hervortreten konnen. Bekanntes Label, aber verbunden mit dem Anspruch individueller Einzigartigkeit des Produkts und also auch seines Besitzers - das scheint einer der zentralen Produktions- und Marketingtrends der Zukunft zu werden. Dabei geht es beim 'mass customizing' nicht eigentlich - wie manchmal noch im Hochstpreissegment von Waren - um den angesichts der hohen Kosten inzwischen mit handwerklicher Einzelanfertigung verbundenen Distinktionsgewinn. Klassische MaBanfertigung kann sich nur eine kleine Minderheit noch leisten, wogegen 'mass customizing' zu einem echten Massengeschaft werden soil. Die Konsumenten der individualisierten Massenware wissen sehr wohl, dass bei dieser von handwerklicher Gediegenheit oder dem Understatement alten Reichtums nicht die Rede sein kann und dass auch die anderen Konsumenten das wissen. Nicht die Distinktion durch Qualitat und Preis wird also gesucht. Vielmehr soil die individualisierte Massenware in ihrer seriellen Einzigartigkeit den Wunsch nach demonstrativer Inszenierung der Individualist der Konsumenten befriedigen. Damit wird das mit dem Selbstproduktionsmodell des romantischen Individualismus verbundene Prinzip der Aneignung fremden Materials und seiner Rekombination und Anverwandlung zum Ausdruck individueller Einzigartigkeit nunmehr zu einer Dienstleistung im Rahmen industrieller Produktion. Lange schon dienen Waren auch als Mittel zur Selbstinszenierung der Konsumenten, nun wird den Kunden diese Arbeit der Selbstgestaltung erleichtert und teilweise abgenommen. Das Prinzip der seriellen Einzigartigkeit durch Rekombination und Anverwandlung vorgegebener Elemente wird von der Ebene der Gesamtheit individueller Selbstgestaltung auf jene der einzelnen Ware herabgestuft. Wie etwa bei individuell bedruckten T-Shirts schon langer iiblich, werden damit die Spielraume der Selbstinszenierung vergroBert und zugleich neue diesbezugliche Marktsegmente erschlossen.

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Wahrend es etwa bei Autos, Mobeln oder Fertighausern schon lange die Moglichkeit einer Kombinationen vorgegebener 'Baukasten'-Elementen je nach individuellen Anforderungen und Vorlieben gibt, steht bei der neuen Welle des 'mass customizing' weniger die primar gebrauchsorientierte Variation des Gutes als dessen individualisiertes Design im Vordergrund. Die dafiir notwendige Einbeziehung des Kunden in den industriellen Produktionsprozess ist erst auf Basis der neuen Informationstechnologien und des Internets massenhaft moglich geworden. Indem der Konsument sich als Co-Designer betatigen darf, bekommt er das Gefiihl, nicht nur eine einzigartige Ware zu erwerben, sondern auch an ihrer Herstellung kreativ beteiligt gewesen zu sein. Die individualisierte Massenware wird so in besonderer Weise zum Gegenstand von Identifikation und Selbstdarstellung. Neben dem im hedonistischen Genuss liegenden - und diesen dabei je schon transzendierenden (vgl. Campbell 1987) - Gliicksversprechen war das Bediirfhis nach sozialer Anerkennung und Distinktion immer schon eine wichtige Triebkraft des modernen Konsumismus. Entsprechend ist auch Identitatsbildung im letzten Jahrhundert nicht nur an Berufsarbeit, Familie und Gruppenzugehorigkeiten, sondern zunehmend massenhaft auch an den Konsum von Giitern, Dienstleistungen und Erlebnissen gekoppelt worden. Die Inszenierung eigener Besonderheit und Einzigartigkeit mit den Mitteln des 'mass customizing' radikalisiert diese Tendenz und macht zugleich die Anspruche des romantischen Individualismus in besonders konsequenter Weise mit den okonomischen Verwertungsinteressen kompatibel.

5. Die 'Dialektik' von Individualisierung und Standardisierung 'Serielle Einzigartigkeit' beschreibt aber nicht nur einen neuen Trend der Warenwelt, sondern auch ein haufiges Schicksal der romantischen Individualisten: Sie wollen sich von der Masse unterscheiden und ganz nach eigenen Vorstellungen ihr Leben gestalten - und werden oft dabei doch einander sehr ahnlich. Womit ist dies zu erklaren? Teilweise sicher durch die Herkunft der vermeintlich ganz eigenen, in der Regel aber den Massenmedien oder der Peergroup abgeschauten und allenfalls etwas variierten Vor- und Einstellungen. Dazu kommen die meist medialen Vorbildern entliehenen Moden, Eigenheiten und Ritualisierungen des Verhaltens, wie sie in zahlreichen Varianten ein oft erst aus einer gewissen Distanz deutlich wahrnehmbares Lokal- und Zeitkolorit konturieren.

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Das Konzept des romantischen Individualismus von Selbstverwirklichung durch finden bzw. entwickeln der je ganz 'eigenen', ja 'einzigartigen' Formgebungen und Inhalte trifft ja auf die praktische Notwendigkeit, irgendwie zu diesen auch kommen zu miissen. Die tatsachliche Kreativitat der Einzelnen kann den daraus resultierenden Anspriichen selten genugen, so dass die Selbstgestaltung meist auf eine Rekombination und Variation vorgefundener Formen und Inhalte hinauslauft. Daher auch der sich aufdrangende Eindruck einer 'seriellen Einzigartigkeit', bei der die meisten romantischen Individualisten, bei allem Willen sich zu unterscheiden und 'ganz sie selbst'zu sein, einander sehr ahnlich werden. Hinzu kommen die trotz aller Individualisierung weiterhin wirksamen Mechanismen sozialer Zugehorigkeit. Auch die gegenwartigen Formen der Gruppen- und Milieubildung sind ja keineswegs nur von der Sehnsucht nach individueller Originalitat gepragt, sondern ebenso von mimetischen Prozessen der Anahnelung und kollektiven Abgrenzung, deren Zeichen und Dynamiken ihrerseits sehr von Moden, Trends und massenmedial vermittelten Idealbildern abhangen. Ziel ist dabei weiterhin auch die Bestatigung von Zugehorigkeit durch den jeweils 'richtigen' Habitus und Zeichencode, wobei diese Zugehorigkeit und die entsprechenden Lebensstile und Zeichen aber nicht wie fruher als oft selbstverstandliche Konsequenz iiberkommener Identitat, sondern als mehr oder weniger bewusst gewahlte Alternativen erscheinen. Das Bedurfhis nach individueller Distinktion bei gleichzeitigem Ausdruck von Zugehorigkeit hat eine flexible und von standiger Innovation und Neuartikulation gepragte Form angenommen, bei der das kreative Spiel mit Zeichen und Stilen weniger durch soziokulturell verbindliche Regeln, als durch die okonomischen Kosten ihrer Verfugbarkeit begrenzt wird. Dabei sind die alltaglichen Inszenierungen der Selbstgestaltung im Rahmen der okonomischen Moglichkeiten von massenmedial vermittelten Moden, Idealbildern und Lebensstilentwurfen beeinflusst, die eine inhaltliche Standardisierung erzeugen. Die hier wirkenden mimetische Prozesse kommen ahnlich wohl in alien Gesellschaften vor, nehmen aber heute eine neue, weitgehend enttraditionalisierte und individualisierte Form an: Die Einzelnen werden mit einem standigen Strom neuer Bilder, Codes und Anreize aus einem schier unendlichen globalen kulturellen Reservoir konfrontiert, aus dem sie in eigener Regie und Verantwortung eine immer wieder neue Auswahl von Elementen zur Nachahmung und Aneignung treffen (sollen). Diese mimetischen Prozesse und die bei aller Variation doch stark ausgepragte Stan-

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dardisierung des massenmedialen Angebots an Ausdrucksformen und Stilentwurfen lassen die heutigen romantischen Individualisten oft eigentumlich uniform wirken. Von dieser leicht wahrnehmbaren inhaltlichen, sozusagen 'materialen' Standardisierung ist eine abstraktere und zugleich tiefer gehende 'formale' Standardisierung zu unterscheiden. Diese wird durch die Orientierung des Denkens und Handelns am Konzept der Selbstverwirklichung im Sinne einer einzigartigen Selbstfindung oder Selbstgestaltung bewirkt: Wahrend die inhaltliche Bestimmung der zu findenden oder zu produzierenden authentischen Einzigartigkeit des je eigenen Lebens trotz aller massenmedial bedingten Moden und Standardisierungen recht unterschiedlich ausfallen kann, wird die individualistische Orientierung als solche weitgehend geteilt: Wenn (fast) alle (auch) nach individueller Selbstverwirklichung streben, ist dies eine bedeutsame, sowohl fur das Sozialverhalten als auch fur die Integration der Gesellschaft zentrale Gemeinsamkeit. So entspricht der - zumindest oberflachlich gesehen - unendlichen Pluralitat und Variability der individuellen Lebensentwurfe trotz aller inhaltlichen Verschiedenheit eine weitgehende Gleichartigkeit hinsichtlich \hrer formalen Bestimmung durch das heute vielen Menschen insbesondere der westlichen Welt gemeinsame kulturelle Leitideal des romantischen Individualismus. Daraus folgt aber eine Vielzahl das Denken und Handeln pragender, dabei aber eher abstrakter Gemeinsamkeiten, wie etwa der Primat des Selbstbezugs und der individuellen Sinnstiftung, das Ideal der Einzigartigkeit, die Unendlichkeit der Such- oder Produktionsbewegungen usw., aber auch damit verkniipfter Wertorientierungen wie Unabhangigkeit, Selbstandigkeit, Kreativitat, Flexibility, Toleranz, Ironie, aber auch Egoismus und Rucksichtslosigkeit. Dass ausgerechnet das Ideal individueller Einzigartigkeit zum Kern einer neuen Form sozialer Habitualisierung und Standardisierung werden kann, ist also weniger paradox, als es zuerst scheinen mag. Genau hierin bestatigt sich, so meine ich, die Bedeutung des romantischen Individualismus als spezifisch moderner Form des Selbstthematisierung, Sinnstiftung und Lebensgestaltung: Er liefert den Einzelnen einen jenseits rein utilitaristischer Motive liegenden Sinn und eine - wenn auch abstrakte und inhaltlich vorerst weitgehend unbestimmte - Aufgabe fur ihr individuelles Lebensprojekt. Er motiviert sie, die sowieso mehr oder weniger unfreiwillig zu Managern ihres eigenen Lebens werden, dem Ensemble von Planungen und Entscheidungen, Ereignissen und Riickschlagen, Karrierespriingen und Lebenskrisen einen ganz allein von ihnen zu verantwortenden Sinn zu geben. So wird, jenseits

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aller inhaltlichen Diversitat der Einstellungen, Prioritaten und Lebenslaufe, eine gemeinsame Lebenshaltung erzeugt. Damit wirkt der romantische Individualismus paradoxerweise, wenn man seine Betonung der Besonderheit bzw. Einzigartigkeit der Einzelnen bedenkt - als eine auch sozialpsychologisch wirksame Form der Standardisierung, die das Denken und Handeln der Einzelnen in vieler Hinsicht berechenbar macht: etwa hinsichtlich des Primats der Selbstverwirklichung, der Ablehnung auBeren Zwangs und traditioneller Lebenseinstellungen, der inneren Distanz zu Institutionen und kollektiven Identitaten usw. usf. Der romantische Individualismus hat somit einen entscheidenden Anteil an der modernen „Dialektik" von Individualisierung und Standardisierung.

6. Ressourcen des Eigensinns Die These einer Tendenz zu 'serieller Einzigartigkeit' lasst freilich die Frage noch drangender werden, ob der Prozess fortschreitender Individualisierung nur die Anpassung an okonomische Imperative befordert oder Spielraume eines freieren und selbstbestimmteren Lebens gegebenenfalls auch gegen diese eroffhet. Anders gefragt: Ermoglicht oder fordert das heute dominierende Selbstproduktionsmodell auch neue Formen des Eigensinns und moglichen Widerstands? Mit 'Eigensinn' ist dabei zunachst nur gemeint, dass in der jeweiligen Selbstthematisierung Momente eines 'Eigenen' der Individuen aufgedeckt oder konstituiert werden, die einer restlosen Anpassung an die Erfordernisse der gesellschaftlichen Subsysteme und speziell der Okonomie entgegenstehen und eine eigenstandige motivationale Kraft entfalten konnen. Zu den Bedingungen der Moglichkeit eines solchen Eigensinns gehort offenbar neben einer gewissen Distanzierungs- und Reflexionsfahigkeit auch eine Vorstellung des 'Eigenen' und eine damit verknupfte Koharenz, die vor Dissoziation und Aufgehen in relationalen Beziigen bewahrt. Eine solche 'postmoderne' Koharenz des in Praktiken der Selbstthematisierung konstituierten 'Selbst' und der spezifischen Formen des mit ihm verbundenen Lebensentwurfs und -vollzugs ist besonders fur die heute dominierende BastelexistenzVariante des Selbstproduktionsmodells durchaus ungesichert: Um den Zwangen und Angeboten der Arbeits-, Giiter- und Erlebnismarkte nicht riickhaltlos ausgeliefert zu sein und eine gewisse 'Regie' iiber die eigene Lebenscollage zu behalten, mussen Kriterien der Auswahl und Adaptation des heterogenen Materials existieren. Woher

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aber konnen solche Kriterien kommen, womit konnen sie begriindet werden? Was also bewahrt die 'Bastelexistenz' vor einer Diffusion ihrer Identitat bzw. Individualis t , wie kann sie ein 'eigenes Selbst' entwickeln, so dass sie ihre Lebenscollage uberhaupt als ihre eigene und einzigartige Kreation konstruieren und gegen andere behaupten kann? Das Ideal individueller Einzigartigkeit ist fur die romantischen Individualisten der entscheidende Fokus der Selbstthematisierung. Es kann aber die geforderte Koharenz allein nicht hinreichend gewahrleisten, zumal aus ihm keine inhaltlichen Kriterien abgeleitet werden konnen, welche Moglichkeiten des Arbeitsmarktes und welche Angebote des Guter- und Erlebnismarktes nun zur eigenen Lebenscollage 'passen' wiirden und welche nicht. Die konkreten inhaltlichen Kriterien der Auswahl der Optionen, Guter und Erlebnisse bleiben vielmehr dem Einzelnen und seinem aus der individuellen Lebensgeschichte mit ihren Erfahrungen, Bindungen, Zufallen und Einflussen wohl teilweise psychologisch erklarbaren, aus sozialtheoretischer Perspective aber weitgehend kontingenten Willen iiberlassen. Die Aufgabe der Gestaltung der eigenen Einzigartigkeit wirkt nur als eine Art Metakriterium, das die jeweilige Auswahl grundsatzlich legitimiert. Welche Auswahl getroffen wird und wie sehr sie und ihr Resultat den oben beschriebenen Prozessen der Standardisierung unterliegen, ist aber vom Einzelfall abhangig. Dabei fungiert fur die Einzelnen ein irreduzibel subjektives Gefuhl der 'Stimmigkeit' und 'Authentizitaf als wichtigster Hinweis darauf, ob das jeweilige Element sich zur Aneignung in die eigene Lebenscollage eignet oder nicht. Die dabei wirksamen, nur teilweise der individuellen Reflexion zuganglichen emotionalen und lebensgeschichtlichen Hintergrunde konkretisieren das formale Ziel der Eigenheit bzw. Einzigartigkeit in jeweils individueller Weise, ohne dass diese inhaltliche Bestimmung des jeweiligen Einzelfalls sozialtheoretisch erklarbar ware. Als Richtschnur fur eine Asthetik und Pragmatik der Selbstgestaltung liefert der romantische Individualismus nur das Ideal des eigenen und einzigartigen Lebens und damit letztlich eine Fiktion, die aber Koharenz und Lebenssinn stiften kann. Dabei liegt in der Betonung, dass jeder sein eigenes Zentrum sein konne und seinen eigenen Sinn zu finden bzw. zu produzieren habe, eine Chance auf Kultivierung des Eigensinns. Diese ist mit dem formalen Imperativ des romantischen Individualismus 'Lebe Dein eigenes, moglichst selbstbestimmtes, moglichst einzigartiges Leben!' verkniipft. Ausgehend davon werden die Einzelnen immer wieder im Laufe ihres Lebens auf Fragen wie 'Was will ich eigentlich selber?', 'Was kann ich ver-

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antworten?', Tasst das zu mir?', 'Wiirde ich mir damit untreu?', '1st dies das Leben, das ich fuhren will?' gestofien. Diese Formen der Selbstbefragung aber markieren mogliche Bruch- und Wendepunkte der Selbstthematisierung, aber auch der jeweiligen Biographic Zudem verweisen sie auf neue Perspektiven und Moglichkeiten, die in Widerspruch zu den okonomischen und sozialen Anforderungen treten konnen (nicht miissen). In ihnen ist trotz aller empirisch beobachtbarer Standardisierung und bloB serieller Einzigartigkeit ein bleibendes Potential des Eigensinns und moglichen Widerstands enthalten. Dieses Potential verdankt sich einem wesentlich fiktionalen Element der Selbstthematisierung: der mit dem Konzept des romantischen Individualismus historisch erstmals systematisch hervorgetretenen und zum Kern der Selbst- und Weltdeutung gewordenen Behauptung einer normativ bedeutsamen Einzigartigkeit jedes Menschen. Sowenig wie die Behauptung einer Gleichheit aller Menschen, die dem moralischen Individualismus und der modernen Auffassung von Moralitat und Menschenrechten zugrundeliegt, ist diese Behauptung als im Kern empirische zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um eine grundlegende normative Setzung, die - im Wortsinne - als eine 'Fiktion', als etwas von uns 'Gemachtes' zu verstehen ist. Ahnlich wie viele religiose Systeme und Uberzeugungen ermoglicht diese Fiktion eine Art konstitutive 'Differenz' und damit eine Distanznahme zur Wirklichkeit und ihren iibermachtigen (heute insbesondere okonomischen) Zwangen. Diese beiden, den moralischen und den romantischen Individualismus der Moderne kennzeichnenden, Fiktionen der normativ gemeinten Gleichheit und Einzigartigkeit jedes Menschen bilden wesentliche Hintergrundannahmen der modernen Praktiken der Selbstthematisierung. Sie tragen dazu bei, einen reflektierten Eigensinn der Einzelnen zu ermoglichen und zu motivieren. Die eigentliche Pointe dabei ist, dass diese Fiktionen nicht nur uberhaupt soziale Wirksamkeit entfalten, sondern durch die mit ihnen verkntipfte Selbstbestimmung und Selbstbindung des Denkens und Handelns der Einzelnen tatsachlich Formen jener Gleichheit und Einzigartigkeit hervorgebracht werden, die von ihnen postuliert wurden. Anders gesagt: Ein wesentlich fiktionaler Entwurf der eigenen Identitat und ihres Sinns ermoglicht durch entsprechende Formen der Selbstthematisierung eine zumindest teilweise ihm und seinen realitatsfernen Pramissen entsprechende Lebenspraxis. Allerdings ist Skepsis hinsichtlich der praktisch-politischen Wirkmachtigkeit des Eigensinns geboten - zumal jede inhaltliche Ausfullung des 'Eigenen' heute auf die uberwaltigenden Angebote der Waren- und Erlebnismarkte verwiesen ist. Indem alle

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Inhalte zu Waren dieser Markte werden konnen, wird ihre potentielle Widerstandigkeit neutralisiert und zugleich ihre Funktionalitat fur die Okonomie gesichert. Eine alte Einsicht: Der Kapitalismus macht auch die Formen und Zeichen der Kritik an ihm und des Widerstands gegen ihn zu Waren, an denen verdient werden kann, und neutralisiert damit zugleich deren Wirkung. Dennoch kann, wie ich meine, der Imperativ des romantischen Individualismus gerade wegen seines formalen Charakters eine Ressource des Widerstands gegen die Forderungen des Marktes, gegen eine rein utilitaristische Lebensfuhrung und gegen einen Neotraditionalismus der Anpassung bieten. Gerade wegen seiner inhaltlichen Unbestimmtheit, der darin angelegten Flexibility sowie der Betonung der Moglichkeit gegenuber der Wirklichkeit ist mit diesem Imperativ - und folglich mit alien Formen des romantischen Individualismus - eine Tendenz zur Uberschreitung alles Gegebenen verbunden. Diese Tendenz ist freilich ihrerseits zwiespaltig und kann ebenso die Pleonexie des Erlebniskonsums, wie eine kritische Distanz gegenuber gesellschaftlichen Anforderungen und Verhaltnissen motivieren. Auch das quasireligiose Moment des romantischen Individualismus, sein Versuch einer Stiftung letzten Sinns mittels einer Transzendierung alles Gegebenen, bleibt so in seinen gesellschaftspolitischen Folgen ambivalent. Empirische Indizien fur ein mit dem romantischen Individualismus verknupftes Potential an Eigensinn lassen sich finden: Vielen 'Bastelexistenzlern' ist es letztlich wichtiger, in ihrer Lebenscollage ihren vermeintlich einzigartigen Stil und Sinn des Erlebens zu produzieren, als sich primar um beruflichen Erfolg oder soziale Anerkennung zu bemuhen. Nicht selten werden von ihnen deutliche EinbuBen an okonomischem und sozialem Kapital hingenommen, um das spezifisch 'eigene Leben' weiterzuftihren. Um allerdings wirklich ein gelingendes Leben ftihren zu konnen, sind die Bastelexistenzler heute mehr denn je auch auf soziale Vernetzung angewiesen. Insgesamt ist auch mit dieser Form des romantischen Individualismus eine Dimension des Eigensinns der Einzelnen verbunden, die nicht in den sozialen und okonomischen Anforderungen aufgeht und damit auch die Moglichkeit einer bleibenden Differenz zu ihnen festhalt. (Dabei kann naturlich dieser Eigensinn aus der Perspective gesellschaftlicher Integration, aber auch aus moralischer Sicht, seinerseits problematisch sein.)

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7. Resiimee Ahnlich wie der moralische Individualismus mit seinen Forderungen nach moralischer Autonomic, universaler Anerkennung und gleicher Gerechtigkeit, pragt auch der romantische Individualismus unseren Anspruch auf und unsere Vorstellung von einem 'guten' und 'selbstbestimmten' Leben. Beide Formen des Individualismus markieren wichtige Hintergrundannahmen und Zielbestimmungen moderner Selbstthematisierung. Sie formulieren dabei Kriterien des Handelns und Erlebens, die in Widerspruch zu den sozialstrukturellen und okonomischen Prozessen treten konnen, durch die sie hervorgebracht wurden. Die Moglichkeit eines daraus sich ableitenden Eigensinns, wie er auch empirisch beobachtbar ist, zeigt, dass es nicht zu einem Aufgehen der heutigen Formen radikaler Individualisierung in den Zwangen des flexibilisierten und globalisierten Kapitalismus kommen muss. Diese Widerstandigkeit wird vor allem durch die in den beiden Individualitatskonzepten enthaltenen Ideale von Autonomic und Einzigartigkeit ermoglicht, die gegen alle Tendenzen zur Anpassung einen subjektzentrierten Selbstbezug schaffen. Gerade mittels ihrer fiktionalen Elemente konnen sie ein Potential des individuellen Eigensinns entfalten, das somit letztlich aus den immanenten Widerspruchen der Moderne hervorgeht und deren weitere Entwicklung mit vorantreibt.

Literatur Adorno, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Boltanski, Luc/ Eve Chiapello (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK. Campbell, Colin (1987): The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism. Oxford: Blackwell. Eberlein, Undine (2000): Einzigartigkeit. Frankfurt am Main: Campus. Hennig, Christoph (1989): Die Entfesselung der Seele. Frankfurt am Main: Campus. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Simmel, Georg (1984): Das Individuum und die Freiheit. Berlin: Wagenbach.

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Jeffrey Stepnisky Transformationen des Selbst im spatmodernen Raum. Relational, vereinzelt oder hyperreal? (Ubersetzung: Kornelia Hahn)

Einleitung Aktuelle Veranderungen der Struktur und Organisation des sozialen Lebens haben die Analyse von Raum in den Mittelpunkt der Sozialtheorie gertickt. Raum/Zeit-Konfigurationen, die fur das Zeitalter der Moderne als selbstverstandlich genommen wurden, sind durch die Globalisierung des Kapitals, den Aufstieg weit reichender Fernsehsender, die Ausbreitung der Konsumkultur sowie durch Touristen, Immigranten und Fltichtlinge, die iiber die internationalen Grenzen stromen, ins Wanken gebracht worden. Nach Edward Soja (1989) markiert die Betonung von Raumlichkeit des sozialen und kulturellen Lebens eine bemerkenswerte Abkehr von einer modernen Sozialtheorie, die in erster Linie am gesellschaftlichen Wandel im Zeitverlauf interessiert war. Dies beschreibt Michel Foucault folgendermaBen: „Raum wurde als das Tote, Starre, Undialektische, Unveranderbare behandelt. Im Gegensatz dazu war Zeit Ftille, Fruchtbarkeit, Leben, Dialektik" (1980: 70). Trotz ihres neuerlichen Interesses am Raum hat die Sozialtheorie bisher jedoch kaum etwas zum Verhaltnis von Raum und dem Selbst in spatmodernen Gesellschaften beigetragen. Einige Forscher haben zwar die Beziehung zwischen Identitat und Raum (Appadurai 1996; Castells 1997; Morley/ Robins 1995), Korper und Raum (Grosz 1995) oder Geschlecht und Raum (Young 2005) behandelt. Die Tiefenstrukturen des Selbst - sein psychisches Vermogen, seine Fahigkeit mit anderen in Beziehung zu treten, seine innere Verfasstheit und seine Fahigkeit iiber eine Zukunft zu reflektieren, diese zu erinnern und sich vorzustellen - sind bisher jedoch unbeachtet geblieben. Deshalb wird in der neueren Sozialtheorie gemeinhin angenommen, dass a) das Selbst mit instrumenteller Rationalitat operiert und sein grundlegendes psychisches Vermogen iiber Raum und Zeit gleich bleibt, oder b) dass das Selbst eine Leerstelle ist: eine soziale Konstruktion aus Sprache, Symbolen oder, wie Foucaultianer sagen

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wtirden, die Verkorperung disziplinierender Machtausiibung.! Beide Ansatze vernachlassigen die Moglichkeit, dass materialer Strukturwandel wie etwa die Organisation von offentlichen Raumen, einige fundamentale Merkmale des Selbst hervorbringt. In mochte in diesem Aufsatz argumentieren, dass Transformationen des spatmodernen Raumes wesentlich ftir das Verstandnis des Wandels der Strukturen des Selbst und seiner Fahigkeit zur Selbstreflexion sind. Ich vertrete den Standpunkt, dass Selbstreflexion ein zentrales und geschatztes Merkmal des modernen Selbst ist. Sobald die Raume, die das moderne Selbst konstituiert, transformiert sind, andert sich auch sein Vermogen zur Selbstreflexion und seine privilegierte Rolle im sozialen Leben. Um das Problem naher zu untersuchen, werde ich die Arbeiten zweier Theoretiker, des Sozialpsychologen Kenneth Gergen (1994, 1991, 1982) und des Anthropologen Marc Auge (2002, 1995), die die Beziehung zwischen Raum und Selbst betont haben, gegentiberstellen. Gergen (1991) untersucht in seinem einflussreichen Buch The Saturated Self die Beziehung zwischen den Systemen der Telekommunikation als den elektronischen Raumen, die sie schaffen, und des postmodernen, oder in seinen Worten „relationalen", Selbst. Obwohl Gergen eine vielversprechende und interessante Theorie entwickelt, werden innerhalb seines Schwerpunktes der Systeme der Telekommunikation materiale Aspekte des Selbst nicht beriicksichtigt. Auge gleicht diese Schwachstelle durch seine Studie iiber „Nicht-Orte" aus: Flughafenhallen, Einkaufszentren und U-Bahnen, die zunehmend als Kulisse des Alltags dienen. Durch Rationalisierungsprozesse und soziale Kontrolle konfrontieren Nicht-Orte Individuen mit einer Anonymitat, die das Selbst noch weiter zum Rtickzug ins Innere treibt. An Nicht-Orten sind die Selbste beziehungslos, vereinzelt und allein. Der Vergleich zwischen Gergen und Auge zeigt die offenbaren Dilemmata des heutigen Selbst. Lange Zeit haben Sozialpsychologen argumentiert, dass Menschen ihre Lebendigkeit und Tiefe durch Spontaneitat und zwischenmenschliche Beziehungen gewinnen (Cooley 1964 [1902]; Gergen 1994; Goffman 1967; Holstein/ Gubrium 2000; Shotter 1993a, 1993b). Interaktive face-toface Situationen, das standige Gefiihl Gestaltungsprojekt zu sein und die Teilnahme an den Sprachspielen des Alltags sind fur die Ausbildung eines reichen und bedeutungsvollen Selbst zentral. John Shotter beschreibt dies folgenderma1

Dies fasst jiingst Callero beispielhaft zusammen: „Das Prinzip der sozialen Konstruktion ist in den neueren und traditionellen soziologischen Ansatze des Selbst gelaufig und leitet auch die neuesten empirischen Analysen" (2003: 117). Es gibt sicher Ausnahmen hierzu. Psychoanalytische und phanomenologische Theorien wollen ausdriicklich zu den Tiefenstrukturen des Selbst vordringen, wenngleich ihr Einfluss in der zeitgenossischen Forschung begrenzt ist.

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Ben: „Es ist der unbestimmte Strom fortlaufender kommunikativer Interaktion zwischen Menschen, dem die standige Aufinerksamkeit gewidmet wird: eine Selbst-Andere Dimension der Interaktion" (1993a: 12). Dies ist eine Handlung, die das Tohuwabohu' lebendiger, sinnlicher Beziehungen auf das Tableau des taglichen Lebens bringt (ebd.). Sie konstituiert eine Beziehungsstruktur mit der Umwelt und stellt die Basis zur Herausbildung des Selbst dar. In der Moderne dienten die spontanen Beziehungen zwischen dem Selbst und den anderen als die Grundlage fur den Vorgang der Selbstreflexion. Wie symbolische Interaktionisten annehmen, lernt das Selbst sich nur durch die Vorstellung von sich mit den Augen der anderen kennen und als Objekt betrachten. In diesem Kontext war Selbstreflexion einerseits durch die Beziehungsstruktur moglich, andererseits aber auch ein Mittel um Beziehungen anzukntipfen. Indem sie reflektieren und sagen 'wer sie sind', konnten sich Personen anderen als ein spezieller Typ von Selbst verfligbar machen. Nun aber verschwinden die Raume, in denen solche Beziehungsstrukturen einst gedeihen konnten. Sie werden durch Raume ersetzt, in denen physische Bewegung und Interaktionen kontrolliert, vorgetextet und von oben bestimmt werden. Informelle Treffpunkte sind durch Megaplex-Entertainment-Center (Putnam 2000) ersetzt worden; gut eingefuhrte Kneipen, Restaurants und Cafes sind in rationalisierte Raume verwandelt worden, die in Konzernen entworfen wurden (Oldenburg 1999; Ritzer 2004); Einfamilienhauser sind uppig mit Fernseh- und Computergeraten ausgestattet. Sogar der psychotherapeutische Raum der fur die Definition des modernen westlichen Selbst so wichtig ist - wird von der weitgehenden Akzeptanz der Selbstmedikation mit Psychopharmaka bedroht, die keinen Interaktionsraum voraussetzen, an dem die Tatigkeit durchgefiihrt werden kann (Metzl 2003). Entscheidend ist aber, dass die Abschwachung der alteren Raume und das Auftreten der neuen Arten von Raum das Selbst radikal umbauen, so dass sein Vermogen, mit anderen tiber sich selbst und seine Lebenswelt zu sprechen, unterlaufen wird. Dies evoziert einige Fragen: Wie wird die Struktur des Selbst durch die Strukturveranderungen des Raumes transformiert? Wird dadurch das Vermogen des Selbst zur Selbstreflexion verandert? Und wenn das Vermogen zur Selbstreflexion betroffen ist, stellt dies ein Problem fur das Selbst dar?

1. Raum und Selbst. Theoretische Voriiberlegungen Die Soziologische Forschung neigt dazu, zeitliche und entkorperlichte Aspekte des Selbst zu betonen. Zweifellos haben Soziologen in Anbetracht ihrer Wurzeln im Pragmatismus, Symbolischen Interaktionismus und jiingst der postmo147

dernen Theorie die Sprache ins Zentrum ihrer Theorien des Selbst gestellt. Die Struktur (z. B. Meads „I" und „Me") und der Gehalt (z.B. Personlichkeitsmerkmale, Identitat, Gedachtnis) des Selbst wird liber die Zeitdimension konstituiert, durch die Teilnahme an interpersonalen Sprachspielen, durch die Kenntnis kulturspezifischer Erzahlungen sowie Praktiken der Selbstdarstellung und des Zeigens. Der Raum dagegen wird auf eine bloBe Umgebung, in der das Selbst sich konstruiert, reduziert. In der Theorie der Moderne dominiert die Vorstellung des Selbst durch ein selbsterftilltes, selbstgesteuertes und psychisch koharentes Individuum, das sich im Raum bewegt. Trotz des Ubergewichts von zeitlich orientierten Theorien des Selbst gibt es Vorlaufer raumlich orientierter Theorien des Selbst. Marx kritisierte den Hegel'schen Idealismus und behauptete, zumindest implizit, dass das Selbst durch seine Stellung innerhalb der okonomisch-materiellen Struktur verstanden werden kann. Sozialpsychologen der Chicagoer Schule haben den Blick auf die Organisation des urbanen Raumes und Identitat gelenkt (Short 1971), Erving Goffman (1961) und Michel Foucault (1977) beschreiben das Verhaltnis zwischen physischen Strukturen totaler Institutionen und dem Selbst. Besonders ist jedoch der Beitrag Georg Simmels hervorzuheben (1950 [1903]; 1997 [1903]), der die Beziehung zwischen der Stadt und dem Selbst untersucht hat. Obwohl Simmel davon ausgeht, dass der Raum eine Konstruktion des menschlichen Geistes ist (1997 [1903]: 138), hat er auch hervorgehoben, dass Raume formale Merkmale besitzen, die auf die Gruppenzusammensetzung und das Selbst wirken. So schranken zum Beispiel geografische Grenzen wie Berge die Interaktionen zwischen Menschen ein und konnen psychologischen Konservatismus beglinstigen (Simmel 1997: 142), das Eintauchen in eine dichte Menge kann zu einer „Erhohung des Machtgefuhls" im Selbst fuhren (1997: 145), und die Wechselbeziehung zwischen physischer Nahe und Distanz unter Menschen formt die intellektuellen, emotionalen und kognitiven Fahigkeiten des Individuums(1997: 152). Diese theoretischen Vorreiter haben den Blick auf drei besonders relevante Aspekte des Verhaltnisses zwischen Raum und Selbst gelenkt. Erstens sind Selbste sowohl auf sozial-strukturellen als auch materiellen Faktoren gegriindet. Natiirlich ist das Selbst, wie der Symbolische Interaktionismus und die Theorie der Postmoderne auch annimmt, durch sprachliche und symbolische Bedeutungen, die sich in Interaktionsbeziehungen konstituieren, produziert. Es ist aber auch klar, dass die Moglichkeit des symbolischen Austauschs durch die Organisation von Raum, der Positionierung des Korpers alsjeweiliges Gegenuber und dessen physikalische Umwelt vermittelt ist. Dies ergibt sich aus Simmels Arbeit von 1903 (1997) tiber Nahe und Distanz. Das Thema wird auch in Erving Goffmans Studie tiber Asyle (1961) behandelt. Die Zerstorung des Selbst und 148

die nachfolgende Herausbildung der institutionellen Identitat des Psychiatriepatienten wird durch die Organisation des Raumes produziert. Die monotone Bewegung durch individuell bedeutungslose und rigide kontrollierte Flure, Cafeterien und Aufenthaltsraume wird fur die Aushohlung der Personlichkeit zentral. Dariiber hinaus sorgt die Einrichtung der Psychiatrieabteilungen dafur, dass Patienten unter Patienten bleiben und ihr Verhalten von Pflegern und Arzten aus der Distanz beobachtet wird. Die soziale Distinktion zwischen Personal und Patienten wird raumlich reproduziert, indem einige Raume zu 'Personalraumen' (die Schreibtische der Pfleger, die Buros der Arzte) und andere zu 'Patientenraumen' (Schlafraume, Ruheecken, Cafeterien) werden. Das heiBt, dass durch die Organisation des Raumes Korper in physischer Beziehung zueinander gehalten werden und die Chance spontanen symbolischen Austauschs behindert wird. Zweitens ist die Organisation des Raumes mit Macht- und Dominanzbeziehungen durchwirkt. Nach Henri Lefebvre (1991 [1974]) ist die Wende zur Produktion des Raumes die entscheidende Entwicklung im 20. Jahrhundert. Raum ist nicht einfach der Hintergrund des sozialen und kulturellen Lebens - das materielle Behaltnis fur menschliche Handlungen. Der Raum wird vielmehr durch menschliche Handlungen erst aufgebaut. In einer sich selbst antreibenden Kreisbewegung erneuert sich der Raum und reflektiert menschliche Bedingungen und Mythen. Er wird dadurch zur Grundlage, auf der das Alltagsleben gelebt wird, und zur Basis fur die weitere Produktion dieser Art von Raumen. In vormodernen Gesellschaften stand die Raumstruktur starker mit gruppenspezifischen Bedingungen, Lebensformen und Machthierarchien in Verbindung. In kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften wird der Raum nach der Kapitallogik strukturiert. SchlieBlich hat die Organisation des Raumes wesentlichen Einfluss auf die interne Organisation des Selbst. Georg Simmel (1950 [1903]) beriicksichtigte dies in seiner Analyse des stadtischen Lebens, vor alien Dingen in seinem Essay „Die GroBstadt und das Geistesleben". Einerseits flihrt die moderne Stadt zu einem Wandel der sozialen Struktur, von der landlichen zu einer urbanen, und gleichzeitig wird das Selbst dadurch individualisiert. Sie lost Menschen aus ihren traditionellen Beziehungen heraus und offhet das Selbst fur den Vergleich mit der groBen Masse der anderen, die in der modernen Stadt zu sehen sind. Simmel zeigte namlich zeitgleich zu Sigmund Freuds Untersuchungen des psychischen Aufbaus des Selbst, dass gerade die GroBstadt die Chance zur individuellen Identitat mit alien ihren Hoffhungen, Problemen und Widerspruchen bietet. Mehr noch, flihrt der urbane Raum zu Abtrennungen und Unterteilungen innerhalb des Selbst. Simmel beschreibt die Scheidung von Emotion und Intellect. In der Stadt ist das Individuum einer groBen Anzahl neuer Waren, Erfahrungen und imaginierten Selbsten ausgesetzt. Dies fuhrt zu einer Situation, in 149

der die Sinne und Emotionen tiberstimuliert werden und der Geist als ein Abwehrmechanismus hervortritt (Simmel 1950: 410). Das Individuum entwickelt daraufhin zwei Teilselbste - ein nach auBen gerichtetes (das durch den Intellekt und sein Rollen- und Gestaltungsrepertoire geleitet wird) - das anderen nach innen gerichtet (oder innerlich angefullt, durch nicht geauBerte oder ruhende Emotionen geformt). Nunmehr sollte klar sein, dass der Strukturwandel des Selbst auch sein Selbstreflexionsvermogen betrifft. Tatsachlich konstituiert die moderne Stadt, wahrend sie Raume fur neue Formen des sozialen Vergleichs eroffhet, Strukturen, in denen Menschen standig gefordert werden, im Sinne George Herbert Meads (1962 [1934]), die Position der anderen einzunehmen und sich selbst als Objekt der Beobachtung und Untersuchung zu betrachten. Obwohl Augustinus (1998) autobiografische Selbstreflexion oft als der Ursprung der modernen Wende zur Innerlichkeit (Taylor 1989: 129) angesehen wird, wird diese Struktur erst mit dem Aufkommen des modernen sozialen Raumes Teil alltaglicher Praxis und somit als Mittel ftir einen zunehmend groBer werdenden Personenkreis demokratisiert. Innerhalb dieser Struktur ist das Selbst nicht nur das Objekt seiner eigenen Bedingungen, sondern es wird auch von Fragen des SelbstVerstehens und des Selbst-Wissens heimgesucht (Baumeister 1987). Innerhalb dieser Struktur ist es moglich, ein authentisches Selbst (z.B. aufrichtig zu sich selbst) zu sein, es ist moglich, neue Potentiale des Selbst zu entdecken und es ist moglich, sich selbst zu tauschen. Es ist in der Tat so, dass innerhalb dieser Struktur Selbstreflexion und Selbsterkenntnis Werte an sich werden - Formen des Daseins fur andere. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die moderne Organisation durch populare Ideen und Technologien ausgebaut und gesttitzt, die ein besseres Leben durch einen Zuwachs des Wissens iiber sich selbst versprachen. Als ein Aspekt der Wende zur Postmoderne und der Transformation der Beziehung zwischen Raum und Zeit wurde erst in jtingerer Zeit das Ideal der reflexiven Selbst-Einschatzung kritisiert und, zumindest potentiell, verandert. Seitdem gibt es eine sehr enge Beziehung zwischen dem Raum und dem Selbst. Die Selbsterfahrung ist nicht nur ein Produkt der kulturellen und sprachlichen Praktiken, sondern begrtindet sich auch in den derzeitigen physikalischen Raumen. Die Organisation des Raumes hat Konsequenzen flir die Identitat, da Menschen durch ihre Positionierung im Raum in bestimmte Beziehungsmuster zu anderen Menschen und zu Objekten gebracht werden. In der totalen Institution sind dies routinisierte, unpersonliche Beziehungen. In den europaischen GroBstadten des 19. Jahrhunderts sind es individualisierte und intellektuelle Beziehungen. Wesentlich ist nun, dass die Organisation des physikalischen Raumes und die Beziehungen, die in diesem konstituiert werden konnen, das Selbst beeinflussen und verandern. Naturlich ist das Selbst kein Ding, das vor 150

seiner Positionierung im Raum existiert. Im Gegensatz zu den Annahmen vieler zeitgenossischer Forscher sind Personen keine in sich geschlossenen Einheiten, die unverandert durch unterschiedliche Raume und Umgebungen lediglich hindurchschreiten. Vielmehr organisiert und konstituiert die Raumstruktur das Selbst auf das Grundlegenste. Wie Goffinan (1961) zeigt, kann sie das Selbst zu einer „kleinen offenen Stadt" (1961: 165) machen, die gegenuber Angriffen und der Ausbeutung durch andere schwach und verletzlich ist. Sie kann das Selbst auch in bedeutsame, produktive Beziehungen zu anderen bringen; sie kann das Selbst tiber sich hinauswachsen lassen oder unter Umstanden das Selbst in zwei Teile spalten. Sie kann dariiber hinaus das Selbst zu neuen Formen der Selbstreflexion und des Selbst-Verstehens befahigen. Um zu verstehen, wie die Struktur des Selbst und sein Vermogen zur Selbstreflexion im spatmodernen Raum verandert wird, werde ich Gergen und Auge nun analysieren und vergleichen.

2. Das relational Selbst im elektronischen Raum Wahrend Simmel und seine Zeitgenossen noch annahmen, dass die GroBstadt die Struktur des Selbst formt, sind sich heutige Theoretiker weitgehend einig, dass die umfangreiche Entwicklung der Telekommunikation wie Mobiltelefon, Fernsehen, Internet und E-Mail die Voraussetzungen fur eine radikale Restrukturierung des Selbst schaffte. Elektronische Raume, virtuelle Realitaten und Online-Gemeinschaften eroffhen einen neuen Bereich des Selbst, hinterfragen enge moderne Strukturen des Selbst und transformieren den Charakter der Selbstreflexion. Fur Kenneth Gergen sind die wichtigsten Merkmale des zeitgenossischen Selbst die Produkte seines Eintauchens in Telekommunikationskanale und anderen „Technologien der sozialen Sattigung" (1991: 49). Hier liegt sowohl das Vielversprechende als auch die Gefahr der Theorie. Gergen ladt zu einem postmodernen Verstandnis des Selbst ein. Er nimmt an, dass das Selbst in der Interaktion aktiv durch den Gebrauch von Sprache und Symbolen konstruiert wird. Da Kommunikation im elektronischen Raum von der Handhabung von Sprache und Symbolen abhangt, ist hier der ideale Ort, um die Potentiale der aktiven, tatigen Selbst-Konstruktion zu verwirklichen. Gleichzeitig fuhrt Gergens Blick auf die sprachliche Konstruktion und die elektronischen Netzwerke dazu, dass er die dunkleren Aspekte des modernen Selbst ubersieht. Gergen sagt kaum etwas tiber die Art, in der das Selbst durch passive Teilnahme in den entleerten Nicht-Orten, die von Auge beschrieben werden, strukturiert wird. Trotz ihrer Schwerpunkte Sprache und soziale Konstruktion beriicksichtigt Gergens Theorie die Bedeutung der Beziehung zwischen physikalischem Raum, 151

elektronischem Raum und dem Selbst. Das moderne Selbst war stabil und konsistent. Man glaubte, dass es ein Wesen besitzt, eine Personlichkeit, die alien Individuen inharent ist und sich im Verlauf des Lebens nicht andert. Diese angenommenen Eigenschaften und Ideale bildeten sich zum einen sicher in und durch Printmedien und persdnliche Diskurse, in unserem Zusammenhang aber wesentlicher ist, dass die Stabilitat des Selbst von der Stabilitat der raumlichen Beziehungen abhing. Fur das moderne Individuum war das sichere Wissen um die eigene Identitat durch die alltaglichen Routinen und Tatigkeiten moglich, die sich in einem unveranderten Raum, der durch ein Ensemble sich nicht verandernder anderer konstituiert wurde, entfalten. Gergen schreibt hierzu: „Vor einem Jahrhundert wurden die sozialen Beziehungen durch die Distanz, die zu Fu8 zuriickgelegt werden konnte, begrenzt. Die meisten ergaben sich auf personlicher Ebene innerhalb kleiner Gemeinschaften: Familien, Nachbarschaften, Stadteinwohner... Wenn jemand aus der Gemeinschaft umzog, endeten die Beziehungen wahrscheinlich. Von der Geburt bis zum Tod konnte man auf relativ gleich strukturierte Umstande vertrauen. Worte, Gesichter, Gesten und Umstande waren relativ konsistent, koharent und anderten sich langsam." (1991: 61)

Das moderne Selbst erwarb seine spezifische Form durch seine Verwurzelung in den materialen Medien des ihn umgebenden Raumes. Der Raum des Alltags bot feste Bedeutungsstrukturen - Aufbewahrungsorte geteilter Kultur und Geschichte - , die das soziale Leben organisierten, Beziehungen bestimmten und als konsistente Referenzpunkte des Selbst dienten (siehe auch Simmel 1997 [1903]; Auge 1995). Das Wohnhaus, die Kirchengemeinde und die Eckkneipe sorgten fur unverwechselbare Pragungen in der personlichen Entwicklung. In diesem Zusammenhang konnte das Selbst und seine Bestimmung in der Tat ein Objekt der Betrachtung fur sich selbst werden, sei es als Quelle der Erftillung oder als eine Identitat, die abgelegt werden sollte. Diese Charakteristik wird vor allem im Vergleich mit elektronischen Raumen, wie sie sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts bildeten, offensichtlich. Diese Technologien haben das Selbst aus seiner unmittelbaren Umgebung herausgehoben, so dass sich zunehmend Beziehungen tiber weite Entfernungen hinweg entwickeln, was fur die Identitatsbildung und das Wissen um die eigene Identitat relevant ist. Mit anderen Worten, das Selbst wird aus seiner unmittelbaren lokalen Verankerung herausgezogen und innerhalb des elektronischen Raumes, der durch Mobiltelefone, Fernsehen und das Internet eroffhet wird, neu verortet. Diese neue Sphare unterscheidet sich von den modernen Raumen des Selbst in mindestens zwei Aspekten. Erstens, im Vergleich zur 'Gebundenheit'

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und sogar 'Schwere' des modernen Selbst2, ist das Selbst des elektronischen Raumes leicht und spielerisch. Die elektronischen Raume haben etwas Schwereloses an sich. Je mehr Zeit man in diesen Raumen verbringt, desto ephemerer wird auch die eigene Identitat. Die Selbste sind hier nicht geerdet, sondern sie fliegen durch Raume, die, wie Gergen meint, nur durch die Phantasie und die Fahigkeit, neue Identitaten auszuhandeln, beschrankt werden. Zweitens ist dort, wo der physikalische Raum um die Fixpunkte kollektiver Bedeutungen organisiert war, der elektronische Raum ein heterogenes Netzwerk von potentiell unbegrenzten Beziehungen, personlichen Begegnungen und Identitatsvisionen. In diesem Raum werden vielfaltige Beziehungen tiber einen riesigen Raum hinweg kurzfristig hergestellt. Diese Beziehungen konnen sich verfestigen und ihre eigenen einzigartigen Muster bilden - es konnen „anschwellende" Gemeinschaften werden (2003: 234), die durch „abwesende Anwesenheit" gekennzeichnet sind: „den wachsenden Bereich zerstreuten und fragmentierten BewuBtseins, den die Kommunikationstechnologie, alien voran das Mobiltelefon, ermoglicht. Man ist physisch prasent, aber von einer technologischen Medienwelt des 'Anderswo' gefangen genommen" (2003: 227). Je mehr sich das Selbst im elektronischen Raum bewegt und andere in den flieBenden Gemeinschaften trifft, desto mehr werden der Korper, seine unmittelbare Umgebung und seine Beziehungen im physikalischen Raum als konstitutive Merkmale des Selbst und als Objekte der Selbstreflexion an Bedeutung verlieren. Dies hat weitreichende Implikationen fur die Struktur des Selbst. Zum einen wird das Selbst zunehmend ein sprachliches Wesen, das von abstrakten AuBerungen und Reprasentationen abhangig ist. Wenn angenommen wird, dass die imaginierten Raume eine groBere Gewichtigkeit im Leben erlangen, wird die Bedeutung des physischen Korpers, seine Ausstafflerung, seine Gertiche und seine konkrete Position im Raum in Bezug auf ein Geftihl fur die Erfahrung einer Gruppenidentitat geringer. Zum anderen wird die Stabilitat und Autonomic, die fur die moderne Selbsterfahrung zentral ist, durch ein postmodernes oder 'relationales' Selbst ersetzt. Einmal in einen elektronischen Raum integriert, sind die Akteure mit Rollen, von denen erwartet wird, dass sie sie spielen, mit Werten, die sie versucht sind anzunehmen, und Lebensstilen, mit denen sie experimentieren konnen, ausgefullt. Im Hinblick auf alle diese Moglichkeiten verliert sich die Idee, dass das Selbst eine Wesenheit oder stabile Personlichkeit besitzt, in der Erfahrung von Beziehungen, in denen „Personen sich im Zustand standiger Konstruktion und

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Das moderne Selbst ist in Routinen, die im physikalischen Raum ablaufen, eingebunden. Da die Raume des alltaglichen Lebens mit Bedeutungen, die sich hier tiber die Zeit angesammelt haben, belastet sind, wird auch das Selbst in seinem Raum verankert oder belastet.

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Rekonstruktion befinden: in einer Welt", wie Gergen hofft, „in der alles moglich ist, das verhandelbar ist" (1991: 7). Daraus folgt, dass das erfullte Selbst einer Innerlichkeit, wie sie fur die moderne Identitat konstitutiv war, beraubt ist. Insoweit nun alles tiber die eigene Person durch Sprache und symbolische Representation im elektronischen Raum mitgeteilt werden muss, verschwinden die Anteile des Selbst, die fur sich und vor anderen zurtickgehalten wurden. Wenn Personen multiple Rollen spielen und multiple Identitaten annehmen, verlieren sie das Gefuhl dafiir, dass es Personlichkeitsmerkmale gibt, die 'ich durchgehend besitze' und die 'irgendwo in mir angesiedelt sind'. Die Unterscheidung zwischen inneren und auBeren Aspekten des Selbst verschwimmt und lost sich schlieBlich auf. Wenn das Selbst am Ende von einer individuellen zu einer relationalen Entitat transformiert ist, ist auch das psychologische Vermogen transformiert. So ist das Gedachtnis nicht langer ein individueller Besitz, der sich in einem inneren Raum verbirgt. Das Gedachtnis ist nun vielmehr eine kollektive Konstruktion, die im intersubjektiven Raum verhandelt wird, um situativen Bedtirfhissen gerecht zu werden. Gleichfalls sind Emotionen kein Ausdruck tiefgehender personlicher Bedurfhisse, Angste oder Wtinsche mehr, sondern Inszenierungen auf „Gefuhlsschauplatzen"(1991: 166). Die Fahigkeit zur Selbstreflexion andert sich ebenfalls. In der modernen Ordnung war das Konzept der Selbstreflexion eng an die Ideale von Stabilitat und Authentizitat angebunden. Die selbstreflexive Handlung wurde durch ein stabiles und koharentes Selbst ermoglicht, und dieses besaB Eigenheiten, die als einzigartige Aspekte der eigenen Personlichkeit entdeckt, kultiviert und kunstvoll vorgezeigt werden konnten (Baumeister 1987; Taylor 1989). Jedoch unterlauft das Verschwinden von Raumen, die stabile und konsistente Kommunikationschancen oder gemeinsame kulturelle Merkmale boten, die Idee, dass es ein konsistentes Selbst gibt, das es fur andere zu entdecken gilt. In elektronischen Raumen fordert vielmehr die Selbstreflexion, falls man sie noch so nennen kann, die pragmatische Festlegung darauf, wie man sich im elektronischen Raum darstellen will. In diesen Raumen ist Selbstreflexion eine Sache des praktischen Wissens und des kompetenten Gebrauchs von elektronischen Kommunikationstechnologien. Die Handlung des In-sich-Schauens um des wahren Selbst willen ist durch die Suche nach Beziehungen und Identitat ersetzt worden - das Selbst, das man sein konnte. Deshalb hat fur Gergen das Aufkommen von elektronischen Raumen tiefgreifende Auswirkungen auf die Struktur des Selbst. Wenn das Selbst zur relationalen Einheit wird, verliert es seine Tiefe und Innerlichkeit. Langsam verschwindet die Grenze zwischen dem Selbst und den anderen und, auf die Spitze getrieben, treten wir in ein Zeitalter ein, in dem es „ein Selbst tiberhaupt nicht mehr gibt" (1991: 7). Vielmehr kommen und gehen die Identita154

ten, je nachdem, wie es der elektronische Raum, in dem Personen aufeinander treffen und wieder auseinander gehen, zulasst. Dies ist eine ekstatische Sicht, in der Identitat mit der unaufhorlichen Bewegung durch elektronische Raume und der Moglichkeit der immer erneuerbaren Verbindung zu andern gleichgesetzt wird (s. Abbildung l). 3 Hier wird Selbstreflexion standig sowohl zur moglichen Beziehung zum Selbst als auch zu einer wertvollen Fahigkeit des Selbst verschoben. Wie jedoch nichtsdestotrotz viele Kritiker angemerkt haben, ubersieht Gergens leichte und spielerische postmoderne Idee des sich standig wandelnden relationalen Selbst die materiale Basis der Identitat. Phanomenologen wtirden argumentieren, dass Gergen vernachlassigt, wie der menschliche Korper und seine Beziehung zur gebauten Umgebung immer diese Beziehung und das Selbstkonzept in Einklang bringt. FoucaultSchtiler meinen dagegen, dass Gergen ubersieht, dass das Selbst (und der Korper) durch allgegenwartige Technologie uberwacht und diszipliniert wird (Danziger 1997). Marxisten und Neo-Marxisten stellen heraus, dass Gergens Theorie die wirtschaftspolitischen Krafte und ideologischen Programme, die die Ubertragungstechnologie bestimmen, nicht berticksichtigt (Tolman et al. 1996). Ich wtirde hinzufugen, dass Gergen durch die Betonung der Technologie nur die Halfte der Geschichte des aktuellen Selbst erzahlt. Auch als Handynutzer, Internetsurfer oder Fernsehzuschauer, der Beziehungen mit einem physisch abwesenden Freund, einem Fremden oder einer Figur unterhalt, bleibt man doch an einem physikalischen Ort verhaftet, der von physikalischen Objekten (der gebauten Umgebung), Passanten und Mitreisenden bevolkert ist. Gergens Theorie entsteht also aus einer Uberschatzung der Bedeutung des elektronischen Netzwerkes und seiner aktiven symbolischen Kommunikation fiir die Struktur des Selbst. Auch wenn Teile des Selbst aus der modernen Gemeinschaft und ihrem Raum herausgelost sind, bleibt die physikalische Umgebung immer noch fur das Verstandnis des Charakters des Selbst in unserer Welt zentral.

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Dies ist eine verbreitete postmoderne Interpretation der Konsequenzen der Kommunikationstechnologien in Bezug auf Identitat und das Selbst. Sherry Turkle, die mit ihrer Untersuchung von online-Gemeinschaften bekannt worden ist, beschreibt dies folgendermafien: „Nicht nur sind MUDs (multi-user-dimensions) Orte, an denen das Selbst vielfaltig und durch Sprache konstruiert ist, es sind auch Orte, an denen Personen und Maschinen in eine neue Beziehung zueinander eintreten, sogar miteinander verwechselt werden kOnnen. Deshalb sind MUDs erschreckende Anschauungsobjekte fur das Denken uber menschliche Identitat und, allgemeiner, (iber das Ideengebaude, das als „postmodern" bekannt geworden ist." (2002: 457)

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3. Das Selbst am Nicht-Ort Sowenig Gergen die Bedeutung des physischen Raumes beachtet, so mehr Beachtung schenkt Auge der gebauten Umgebung, die durch die Schaffimg elektronischer Raume vernachlassigt wird. Ob wir nun eine Person vor dem Computerbildschirm, ein Handy nutzend, in einem Mega-Einkaufszentrum oder im UBahn Labyrinth betrachten - Auge fuhrt vor, dass die gebaute Umgebung niemals nur ein Restbestandteil im taglichen Leben ist. Vielmehr organisieren diese Raume sozialen Wandel, unterwerfen unter offentliche Rituale, vermitteln menschliche Beziehungen und in diesem Verlauf strukturieren sie das Selbst. Das Konzept der Nicht-Orte ist wesentlich, um die Implikationen von Auges Arbeit auf die Identitatstheorie zu verstehen. Beispiele fur Nicht-Orte sind Einkaufszentren, Supermarkte, Fast-Food-Restaurants, U-Bahnstationen, Flughafen oder Autobahnen. Im Gegensatz zu Orten, die lokale Lebensbedingungen verkorpern und einen Sinn fur die Grenzen der Gemeinschaft und des Selbst vermitteln, entstehen Nicht-Orte aufgrund der globalen Beschleunigung des sozialen Lebens. Sie sind in Bezug auf Ziele wie Transport, Transit, Handel und Freizeit geformt und erlauben die massenhafte Bewegung von Personen und Gutern (Aug£ 1995: 94). Es sind rationalisierte Raume, die auf Effizienz, Kalkulierbarkeit, Vorhersehbarkeit und Steuerung ausgerichtet sind und die eine zunehmende Prasenz in der alltaglichen Lebensfuhrung einnehmen (Ritzer 2000). Insgesamt reflektieren sie die Interessen des Kapitals und seines Drangs, Menschen und Waren zirkulieren zu lassen. Aug6 fasst dies so mit einer Definition zusammen: „wenn der Ort als relational, historisch und verbunden mit Identitat bezeichnet werden kann, dann ist ein Raum, der nicht als relational, historisch und verbunden mit Identitat bezeichnet werden kann, ein Nicht-Ort" (1995: 78). Auch wenn Nicht-Orte nicht mit Beziehungen, Geschichte und Identitat in Verbindung gebracht werden konnen, haben sie dennoch einen groBen Einfluss auf die Struktur des Selbst und seine Fahigkeit zur Selbstreflexion. Der Nicht-Ort anonymisiert und individualisiert Personen. Simmel und spater die Soziologen der Chicagoer Schule haben ahnliches tiber die GroBstadt festgestellt. Wie der Nicht-Ort bewirkte die moderne Stadt mit ihrer sich ausdehnenden und anwachsenden Bevolkerung, dass sich die Menschen unsichtbar und allein fuhlten. Es gibt jedoch Unterschiede zwischen der GroBstadt und den Nicht-Orten. Mit einem kurzen Vergleich werden einige relevante Merkmale des Nicht-Ortes nachgezeichnet. Erstens entwickelte sich die GroBstadt aus einer organischen Beziehung zwischen Personen und Ort (Oldenburg 1999). Lokale Nachbarschaften erwarben ein unverwechselbares Flair und konnten nicht an einem anderen Ort reproduziert werden. Die GroBstadt schaffte eine Vielzahl von Orten, Nahrungsmitteln und exotischen Waren. Nicht-Orte sind 156

dagegen nach rationalisierten Kriterien durch Unternehmer und Planer von oben geschaffen (Ritzer 2004). Nicht-Orte verlieren die unverwechselbare Qualitat, die in Nachbarschaften verkorpert war und tendieren dazu, sich weltweit zu gleichen. Zweitens sind Nicht-Orte oft aus der GroBstadt herausgehoben und werden zu Raumen, an denen zunehmend Zeit verbracht wird. Der Lebensmittelpunkt verlagert sich von der StraBe und den Nachbarschaften zu den Autobahnen, Einkaufszentren und Unterhaltungsstatten, die die GroBstadt durchschneiden. Deshalb wird auch die Spontaneitat, Unvorhersehbarkeit und Fremdheit der GroBstadt durch Vorhersehbarkeit und funktionale Kontakte an NichtOrten ersetzt. SchlieBlich weist Simmel darauf hin, dass die GroBstadt, obwohl die Menschen oft uberwaltigt und desorientiert durch die neuen Reize waren, die Geburtsstatte einzigartiger Formen der Freiheit, des Individualismus und der Moglichkeit zur Selbstreflexion war. Individuen sehen sich mit den Augen des partikularen und generalisierten Anderen und entwickeln ganz individuelle Identitaten und Lebensentwtirfe. Deshalb leben nach Simmel trotz der Anonymitat der GroBstadt die Menschen in einer aktiven und kreativen Beziehung zu dem sie umgebenden Raum. Mit anderen Worten, die GroBstadt bot eine Gelegenheit flir Aktivitaten und zog das Individuum in einen Interaktionsraum mit anderen. Im Gegensatz zur GroBstadt ist die Anonymitat und Individualist am NichtOrt ein Erfordernis und eine Zuflucht fur das Selbst. Er verspricht keine Freiheit und neue Chancen fur das Selbst, sondern entfernt das Selbst vielmehr von anderen und von seinen eigenen Moglichkeiten. Insoweit Selbstreflexion von der Vorstellungskraft, sich selbst mit den Augen anderer zu sehen, abhangt, unterlaufen Nicht-Orte moderne Formen der Selbstreflexion. Am Nicht-Ort treten die Individuen in einen 'Sozialvertrag' ein, mit dem ihre Bewegungen, ihre Beziehungen zu anderen und ihre Fahigkeit zu spontanen symbolischen Handlungen durch auBerhalb liegende Krafte geregelt sind. In seiner Studie tiber die Pariser Metro beschreibt Auge (2002) das Regulierungssystem: Es ist ziemlich eindeutig, dass wenn alle ihr Leben in der Metro verbringen wtirden, sie kein freies Leben hatten, nicht nur weil ein Leben in totaler Freiheit nie moglich ist, sondern genauer, weil der festgelegte und regulierende Untergrundverkehr jedem Verhaltensregeln aufburdet, die nicht ohne das Risiko von Sanktionen, entweder durch Aufsichtspersonal oder durch die Missbilligung anderer Fahrgaste uberschritten werden konnen (2002: 29). Die spontane Bewegung im Raum wird aufgegeben sobald man vereinbart, sich an die Standardregeln und Umgangsformen zu halten. Diejenigen, die mit Nicht-Orten vertraut sind, wissen wie das geht: seine Berechtigungskarte beim Einstieg zeigen, im Schnellrestaurant in der Schlange stehen, in einem Supermarkt nach den Nahrungsmitteln suchen und in einem Laden fur den Einkauf bezahlen. Das vorausgesetzte Wis157

sen des Eintritts, Austritts und der Bewegung ist fur die Erfahrung, ein Selbst innerhalb eines Nicht-Ortes TAX sein, grundlegend. Dariiber hinaus durchlaufen Individuen Nicht-Orte ohne Augenkontakt oder ohne sich mit anderen zu unterhalten. Beziehungen, die einst personlich waren, werden nun von Maschinen ubernommen. Das Aufsuchen von Nicht-Orten ftihrt heute zur Erfahrung von einsamer Individualist in Verbindung mit unpersonlicher Vermittlung (alles basiert auf einem Hinweis auf einem Bildschirm) zwischen Individuen und Offentlichkeit, eine Erfahrung, die eigentlich keine historischen Vorlaufer hat (Augel995: 118). Der Nicht-Ort enthebt Personen von den gewohnlichen sozialen Anforderungen, Interesse fUr die Belange des Lebens der anderen zu zeigen. Der Beziehungsaustausch, bei dem jemand vordringt, beeinflusst und selbst durch die Worte und Taten des interessierten Anderen verandert wird, greift hier nicht. Dennoch teilen Reisende an Nicht-Orten ein 'rituelles' Wissen, wie Dinge zusammen zu tun sind. Viele Individuen stehen beieinander, bewegen sich gleichzeitig und bedienen Maschinen (Geld-, Fahrkartenautomaten). An Nicht-Orten dienen diese Rituale, die die Masse bewegen, als die wichtigste Art des Kontaktes und der Beziehung. Das Gefuhl fur andere entsteht durch diese geteilte, stumme Bewegung. Es ersetzt die kreative und imaginative Aktivitat innerhalb der Stadt, die Simmel beschreibt, und widersetzt sich der aktiven symbolischen Manipulation durch Sprache, die so zentral fur Gergens Theorie des Selbst ist. Nicht-Orte sind auch reiche Zeichenwelten. Trotz der Armut an aktiven personlichen Kontakten ist der Nicht-Ort mit Werbung, Unterhaltung und spektakularen Anzeigetafeln gefullt. Diese lenken ab von der Leere des Nicht-Ortes und steuern die Reisenden hin zu Phantasie-Wirklichkeiten: exotische Reiseorte, zuktinftige Selbste, die durch Kosmetik, Bekleidung oder eine neue Karriere verbessert wurden, stimulierende Beziehungen zu attraktiven Partnern. Der Nicht-Ort ist Heimstatte der Bilder, die den Wunsch und das Verlangen, das so wichtig fur die Identitatsbildung innerhalb einer Konsumgesellschaft ist, herbeiflihren (Featherstone 1995, Ritzer 2005). Tatsachlich sind Nicht-Orte untereinander durch ein Gewebe von Bildern, Werbung und des Zur-Schau-Stellens verbunden, so dass etwas Hyperreales iiber den Alltagspraktiken schwebt. Diese beiden Aspekte des Nicht-Ortes - die rituelle Bewegung und die phantastische Schau - haben Auswirkungen auf die Struktur des Selbst. Erstens sind Nicht-Orte durch die stummen Rituale beherrscht, die das Selbst isolieren und der Einsamkeit aussetzen. Wahrend im elektronischen Raum das Selbst zum relationalen Sein wird, wird es am Nicht-Ort zum einsamen Sein. Diese Einsamkeit ist der Inbegriff des Gefuhls des 'Alleinseins inmitten vieler anderer' und enthullt sich in der Erfahrung unausdruckbarer Traurigkeit und Verlassen-

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heit, die eine erstaunliche Anzahl Menschen der westlichen Welt erfasst.4 Einsamkeit beschreibt die Leere des Selbst, die sich aus den verwirrenden Bedingungen, in denen wir als eine „Gemeinschaft ohne Gemeinschaftsleben" existieren und „einer Einsamkeit ohne Isolation" ausgesetzt sind, ergibt (Auge 2002: 30). Am Nicht-Ort werden Leute, trotz der immer prasenten Chance, eine Beziehung einzugehen, oft allein und ohne Gesprachskontakte gelassen. Das Konzept der Einsamkeit schlieGt auch das Geftihl ein, dass viele sich in dieser Situation befinden, dies aber nicht artikuliert werden kann. In Bezug auf die U-Bahn besteht die unartikulierte Erfahrung darin, dass sich viele gemeinsam mit hoher Geschwindigkeit durch den Raum bewegen. Im Einkaufszentrum macht die unartikulierte Erfahrung die schwindelerregende GroBe des Raumes und die unglaubliche Anzahl an Waren und Dienstleistungen, die zum Verkauf stehen, aus (Baudrillard 1998 [1970]; Ritzer 2005). Im Schnellrestaurant ist die Fahigkeit, auszudrucken, was zusammen getan wird, durch das gierige Verlangen, sich mit Essen vollzustopfen, uberschattet. In alien Fallen tiberdeckt die endlose Monotonie des Uberflusses und des Anreizes die Fahigkeit, auszudriicken was wir miteinander tun und erfahren. Das Selbst adressiert weder die anderen noch die Welt, die alle zusammen umgibt, und zwar nicht, weil andere nicht anwesend sind, sondern weil an Nicht-Orten das Mittel zum persftnlichen symbolischen Austausch nicht zur Verftigung steht - es ist kurzgeschlossen oder abgestorben. Nicht-Orte fuhren das Selbst in die Einsamkeit, aber sie fuhren es auch in eine Art Beziehung zu anderen. Da das Selbst von Natur aus von anderen in Bezug auf seine Definition und Bedeutung abhangt, fmdet es einen Weg, auch an Nicht-Orten mit anderen zusammen zu sein. Aug£ schreibt: „Etwas des Anderen verbleibt im Selbst und was zum Selbst gehOrt und im anderen ist, ist unverzichtbar fiir die Definition des sozialen Selbst, das Einzige, das ausgedriickt und ergriindet werden kann." (2002: 39)

Gegen die Leere der Einsamkeit bemuht sich das Selbst an Nicht-Orten sich selbst und die anderen, mit denen es den Raum teilt, sichtbar zu machen. Die Beziehung zu anderen ist jedoch durch die Konsumphantasien, die tiber dem Nicht-Ort schweben, vermittelt. Diese Bilder spielen mit den modernen Idealen der Identitat: Authentizitat, Freiheit und dem asthetischen Vergniigen des Kon-

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Das American National Institute of Mental Health (NIMH) sagt, dass Jedes Jahr ungefahr 18,8 Millionen erwachsene Amerikaner oder mehr als 9,5 Prozent der US-Bev5lkerung tiber 18 Jahren an Depression erkrankt (www.nimh.nih.gov/publicat/numbers.cfm). Wahrend NIMH Depression als biologische StOrung benennt, sehe ich eher eine Beziehung zwischen den aktuellen sozialen Lebensumstanden in westlichen Gesellschaften und dem Zustand des Selbst.

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sums. An Nicht-Orten setzen diese Ideale jedoch ein anderes Verhaltnis zur Identitat voraus als dies frtther der Fall war. Sie tauchen aus der Mitte der sozialen Beziehung auf, um die Notwendigkeiten und Bedingungen von Intersubjektivitat anzusprechen. Sie sind vielmehr durch Kommunikationstechnologien vermittelt und durch die Logik der „Leere" und des „Mangels" strukturiert (Cushman 1999; Knorr-Cetina 2001). Personen, die keine Beziehungen zu anderen eingehen konnen, sind gezwungen, die Leere mit Bildern von dem „was sie sein konnen" oder „sein konnten" zu fiillen. Trotz der Unzufriedenheit, die diese Konsumbilder und Waren mit sich bringen, stimulieren sie tatsachlich Beziehungen und eine Identitat, die sich ttber das entleerte Gebiet des Nicht-Ortes legt. Im Sinne Baudrillards sind es hyperreale Selbste. Sie haben das Gefiihl, realer als die Realitat zu sein, lassen aber naturgemaB die Individuen im Gefiihl mehr zu wollen, ohne ein Verstandnis daftir von was. Auges Untersuchung des Nicht-Ortes enthiillt deshalb zwei Aspekte des Selbst - ein vereinzeltes Selbst und ein hyperreales Selbst (s. Abbildung 2). An Nicht-Orten ist das Selbst sofort in zwei Teile gespalten. Ein Teil ist auf sich selbst gestellt (in der Stille schmachtend und ohne ein Mittel, grundlegende Erfahrungen anzusprechen) und der andere Teil ist in die phantastischen Wirklichkeiten der Werbung und der Warenprasentation hineingezogen. Dies hat Auswirkungen auf die Selbstreflexion. Im Verlauf dieses Essays habe ich behauptet, dass die Selbstreflexion ein Merkmal der modernen Identitat ist und von der Stabilitat und Konsistenz des Selbst abhangt. Diese Stabilitat erlaubt es Personen, sich selbst als Objekt der Beobachtung zu sehen. Diese Auffassung von Selbstreflexion hangt auch von der Idee ab, dass Selbstreflexion ein Resultat von Beziehungen ist. Personen sind in der Lage, sich selbst als Objekt zu betrachten, wenn sie sich mit den Augen anderer sehen. In dieser Hinsicht ist Selbstreflexion nicht unbedingt eine individualistische oder narzisstische Praktik, mit der sich Individuen von der Welt zuriickziehen. Sie ist vielmehr die wichtigste Art, in der sich moderne Selbste anderen zuganglich machen. Selbstreflexion ist sowohl ein Moment der individuellen Distinktion als auch vertiefter Beziehung. Die Struktur des Selbst - das Verhaltnis zwischen Selbst, anderen und der Selbstreflexion - ist an Nicht-Orten transformiert. Zunachst insofern als die Selbste in Einsamkeit existieren und von anderen Personen abgeschnitten sind. Da Selbstreflexion auf dem aktiven symbolischen Austausch mit anderen basiert, gefahrdet die Einsamkeit des Nicht-Ortes die Selbstreflexion. Das Selbst ist als Objekt der Selbstbetrachtung auf sich gestellt, aber als Leerstelle, die nichts zu sich selbst oder ttber sich selbst sagen kann. Im Versuch, dem Selbst etwas an Bedeutung und Befriedigung zu bieten, wird die Leere mit Konsumbildern und -Objekten gefullt. Diese Bilder appellieren haufig an modernistische Werte und 160

Ideale wie Authentizitat, Wissen tiber sich selbst und Personlichkeitsentwicklung, aber sie widersetzen sich der Selbstreflexion. Es sind Bilder, die das Selbst und seine eigenen Moglichkeiten in Schach halten. Diese Moglichkeiten liegen nun auBerhalb der Unmittelbarkeit und Spontaneitat einer Beziehung. Tatsachlich werden Menschen regelmaBig aufgefordert, sich selbst als etwas vorzustellen, das sie nicht sind: sportlicher, besser aussehend, in einer anderen Beziehung, gliicklicher oder gebildeter. Wenn es eine Selbstreflexion innerhalb von Nicht-Orten gibt, dann hier. Der Konsument gibt die Fahigkeit, sein Wissen liber das Hier und Jetzt zu vertiefen auf - das Selbst, „das ich bin" - und imaginiert das Selbst, das „ich nicht bin". In dieser Hinsicht scheinen sogar Bilderwelten, die mit hyperrealer Identitat assoziiert werden, die Moglichkeit der Selbstreflexion wiederherzustellen und die Fragen: „Wer bin ich?" und „Wie kann ich fur andere in der Welt sein?" zu beantworten; tatsachlich wird das Selbst so auch von sich selbst und anderen auf Distanz gehalten. Personen sind in die praktisch moglichen Aktivitaten mit anderen verstrickt und haben keine Zeit sich klar zu machen, dass das Selbst immer schon mit und fur andere in der Welt ist.

4. Fazit. Das Selbst im spatmodernen Raum In diesem Artikel habe ich zwei Arten von Raumen (den elektronischen Raum und den Nicht-Ort) und drei Arten von Beziehung zwischen Raum und dem Selbst (relational, vereinzelt, hyperreal) beschrieben. In seiner Beschreibung von Nicht-Orten hat Auge gezeigt, dass das Selbst a) auf sein isoliertes Inneres zurtickgedrangt ist, aber b) auch aufgerufen ist, an Bilderwelten und simulierten Beziehungen teilzuhaben. In beiden Fallen sind Menschen ohne spontane Beziehungen, was, wie ich argumentiert habe, wesentlich fur die Bildung eines reichen und bedeutungsvollen Selbst ist. Das vereinzelte Selbst ist in der stummen Stille ohne den Kontakt zu anderen sich selbst uberlassen und es ist unfahig, sich selbst als Reflexionsobjekt anzunehmen. Das hyperreale Selbst imaginiert andere, aber diese Imaginationen sind durch den kollektiven Drang, der die individuellen Erzahlungen und das Selbstverstandnis in der Konsumkultur formt, belastet. Hyperreale Selbste entwickeln sich nicht aus dem unmittelbaren Austausch personlicher Beziehungen und die Selbste sind nicht durch die Interaktion mit anderen gespiegelt. Sie sind stattdessen als Teil eines Massenpublikums angesprochen und ihre Identitat bestimmt sich im Lichte ihrer Kommunikationspartner. Das Selbst und die Beziehungen sind hier durch rationalisierte Schemata, die von Kapitalisten und Unternehmern entworfen werden, strukturiert. 161

Gergen beschreibt einen viel hoffhungsvolleren elektronischen Raum. Das relationale Selbst verwirklicht das Ideal des spontanen personlichen Austauschs. Das relationale Selbst verhandelt seine Identitat sprachlich und mit Unterstutzung anderer kann es sich immer zu etwas Neuem und Interessantem machen. Wie wir jedoch gesehen haben, hangt die Vision von der Nicht-Anerkennung des materiellen Selbst ab und deshalb reproduziert sich hier ein GeistKorper Dualismus. Gergen trennt versehentlich das Selbst in zwei Halften und lasst die Erfahrung, sich an einem Nicht-Ort zu befinden oder tiberhaupt an irgendeinem Ort zu sein, unausgesprochen. Mit anderen Worten, gewinnt das relationale Selbst seine Freiheit nur durch die Nichtbeachtung von Teilen seiner selbst und Teilen der Welt, in der es lebt. 1st der Zustand des Selbst wirklich so ernst? Gibt es einen Raum fur das Selbst in der gegenwartigen Welt? Welche Rolle spielt Selbstreflexion, wenn uberhaupt, in diesen Raumen? Um mogliche Kritik an den Argumenten, die ich hier entwickelt habe, vorweg zu nehmen, arbeite ich die Bedeutung dieser Darstellung des Selbst heraus und zeige, wie das Konzept der Selbstreflexion Probleme des spatmodernen Raumes losen kann. Es wurde angenommen, dass die Kritik von Raum und Selbst, wie sie hier entwickelt wurde, zu eng an modernen Konzeptionen und Idealen der Identitat festhalt. Dieses Argument basiert hauptsachlich auf zwei Schltisselannahmen: a) Identitaten sollten aus spontanen, personlichen Beziehungen heraus entstehen alles, was sich dieser Art von Beziehungen entgegen stellt, wird zur Bedrohung des Selbst und b) eine Theorie des Selbst sollte gegen den Geist-Korper Dualismus angehen; es sollten sowohl die k6rperlichen als auch die versprachlichten Elemente des Selbst beachtet werden. Dartiber hinaus sind im Verlauf der Analyse verschiedene weitere Ideale angenommen worden: als Selbste sollten Personen einen Ausgleich zwischen Emotion und Intellekt schaffen und sie sollten nicht fragmentiert oder in Teile aufgespalten werden. Damit ist eng die Idee verbunden, dass Personen ganzheitliche und erfullte Selbste werden konnen, wenn sie in der Lage sind, ihre gemeinsame physikalische Welt zu beschreiben. In diesem Sinne sind Nicht-Orte (ebenso wie die elektronischen Raume, die Gergen beschreibt) in wenigstens zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens kultivieren Nicht-Orte Einsamkeit und machen Personen unfahig, sich liber ihre geteilte Lebenssituation zu verstandigen. An Nicht-Orten konnen Individuen nicht tiber ihre gemeinsamen Lebensbedingungen sowohl als Selbst als auch als Teilnehmer an einem gemeinsamen Raum reflektieren. Alltagspraktiken und die Welt, in denen solche Praktiken entstehen, bleiben aufierhalb des Gesagten und deshalb auBerhalb der anerkannten Gemeinschaft. Dies ist auch die Ursache einer problematischen Trennung zwischen dem vereinzelten und dem hyperrea-

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len Selbst. An der Wurzel des Problems liegen die spezifischen Raume - NichtOrte - die sich spontanen und personlichen Beziehungen widersetzen. Fur viele Kritiker verkorpert diese Argumentationslinie jedoch eine moderne Auffassung. Gergen, zum Beispiel, als postmoderner Theoretiker, erkennt die Bedeutung der Sprache und ihres spontanen Gebrauchs, aber erfasst nicht, dass Personen ein gespaltenes Selbst uberwinden konnen oder einen gewissen Halt in ihren materiellen Lebensumstanden finden. Diese Punkte gelten hier als modernistische Uberbleibsel, die nicht mehr zu der Art von Selbst, dass im elektronischen Raum frei flottiert, passt. Fragmentierung und die Auflosung des Selbst sind Meilensteine in der postmodernen Welt, die eher begriiBt werden als dass dagegen angegangen wird. Nehmen wir etwa die Arbeit des Soziologen Michel Maffesoli (1996). In seinem Werk wenden sich Nicht-Orte nicht unbedingt gegen die Identitat, sondern fuhren vielmehr zu einer Art Offhung, in der neue Praktiken der Subjektivitat und Gemeinschaft realisiert werden konnen. Die Entleerung von Traditionen und der Verlust der Verbundenheit mit historischen Orten ist hier eine Chance, das Selbst seines modernen Individualismus und seiner Intellektualitat zu berauben. Das Selbst ist nicht durch seine Verhaftung an Gemeinschaften oder uralter Identitatsideale abgelenkt. Die einzige Beziehung zwischen Personen ist der unausgesprochene physische Korperkontakt. Dies totet nicht das Selbst, sondern lasst es innerhalb einer sinnlichen Asthetik der Gruppe wieder erstehen. Hier ist Maffesoli in der Tat noch radikaler als Gergen. Es konzentriert sich nur auf die Krafte geftihlter Prasenz und bricht mit abstrakten sprachlichen und symbolischen Kommunikationsmedien. In dieser Sicht sollte das Vergnugen des Gruppenkorpers in seiner Vielfalt und leidenschaftlichen Energie gefeiert und die Knauserigkeit und die Vorsicht des sprechenden Selbst aufgegeben werden. In diesem Zusammenhang steht die praktizierte Selbstreflexion und der Versuch, sich seiner Identitat zu versichern, den Moglichkeiten im Wege, die sich aus der sinnlichen Aktivitat des GruppenkSrpers ergeben. Es gibt also gute Grunde, anzunehmen, dass Nicht-Orte zu Unbehagen fuhren, und dass weder Gergens elektronische Raume noch Maffesolis Kollektivkorper einige sehr tiefe Verletzungen heilen konnen. Zum einen gibt es die psychologische Auswirkungen dessen, was hier betrachtet wurde. Erstens habe ich einige Fragmentierungen des Selbst beschrieben. Dies sind nicht einfach verschiedene Rollen, die das Selbst in spielerischer, postmoderner Manier annimmt. Es sind Widersprtiche, die unertragliche Spannungen in Individuen hervorrufen. An Nicht-Orten existiert das Selbst in Einsamkeit. Trotz seines Verlangens mit anderen zusammen zu sein, findet es sich in oberflachlicher Art und Weise getrostet. Die hyperreale Geselligkeit heilt das Selbst durch ihre

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Konsumphantasien nur zeitweilig. Da das Hyperreale nur der Lack tiber einem tiefen strukturellen Bruch ist, bleibt das Selbst isoliert und allein. Zweitens habe ich argumentiert, dass Individuen keine Verbindung zu NichtOrten aufbauen konnen, weil sie nicht fahig sind, ihre Beziehung zu diesen Nicht-Orten auszudriicken. Die Erfahrung des Seins an einem Nicht-Ort, gemeinsam mit anderen, ist nicht artikulierbar oder zumindestens selten artikuliert. Dies lasst das Individuum mit seiner unmittelbaren Umgebung unverbunden und frei schwimmend in virtuellen und elektronischen Raumen, die keine physikalische Basis haben. Das fUhrt zur Desorientiertheit im Alltag und zur Unfahigkeit, sein eigenes Fundament zu finden, zur Unfahigkeit zu wissen, wo man selbst steht und zur Unfahigkeit zu sagen, was man fur andere ist. Charles Taylor schreibt: „Es gibt Anzeichen dafiir, dass die Verbindung zur raumlichen Orientierung tief in der menschlichen Psyche liegt. In einigen extremen Fallen, die als narzisstische Pers5nlichkeitsst5rung bezeichnet werden und die Form radikaler Unsicherheit uber sich selbst und ttber das, was fur einen selbst bedeutungsvoll ist, aufweisen, zeigen Patienten Zeichen raumlicher Desorientiertheit als auch das Moment einer akuten Krise. Die Desorientiertheit und Unsicherheit daruber, wo man als Person steht, scheint in den Verlust des Verankerung im physikalischen Raum tiberzugehen." (1989: 28)

In ahnlicher Weise fordert Frederic Jameson (1984) in Anerkennung der desorientierenden Qualitat der postmodernen Stadt eine „cognitive map", die sowohl ein existentielles als auch kritisches Fundament fur das zeitgenossische Subjekt bieten wiirde (1984: 91). Tatsachlich bedroht die Ausweitung der Nicht-Orte die psychologische Stabilitat des Selbst, hinterlasst aber auch Selbste, die Kraften, die Identitat, die Gemeinschaft und die Spontaneitat personlicher Beziehungen zu zerstoren, nichts entgegenzusetzen haben. Ich habe in diesem Beitrag nun versucht, die Bedeutung der Raumes fur das Verstandnis des gegenwartigen Selbst aufzuzeigen. Dies sollte nicht als alternative Perspective zu zeitlichen und sprachlichen Aspekten des Selbst gesehen werden, sondern vielmehr als erganzende oder notwendige Komponente zum Verstandnis des Selbst. Insoweit Raume - physikalische und elektronische Personen und KSrper anordnen, symbolischen Austausch regulieren und bestimmte Formen der Bewegung einfordern, schaffen sie Beziehungschancen und strukturieren das Selbst. Ich habe daraus geschlossen, dass die aktuellen Raume zumindest drei Arten des Selbst kreieren: relational, vereinzelt und hyperreal. Keine dieser Moglichkeiten sind befriedigend fur das Selbst, da keine von ihnen eine Chance zur Entfaltung des Selbst innerhalb von korperbezogenen, spontanen, personlichen Beziehungen bietet. Das Selbst ist im Zustand des Unbehagens und unfahig, den Grund seines Unwohlseins auszusprechen und zu verstehen. 164

Gibt es Losungen ftir dieses Problem? Eine sehr ambitionierte Losung basiert auf einem Wandel des Verhaltnisses von Kapitalismus und Raum. NichtOrte entstehen aus dem Kapitalfluss und seiner Sorge um vorhersehbare Bewegungen der Massen an Personen und Gtitern. Elektronische und hyperreale Raume kompensieren haufig den Verlust des physikalischen Raumes, ebenfalls vom Kapital gesteuert und reguliert. Diese Art kritischer Ansatz ist naturlich von marxistischen und neo-marxistischen Denkern entwickelt worden, unter ihnen vor allem von Henri Lefebvre. Ich favorisiere dagegen einen Ansatz, der sich unmittelbarer aus diesem Essay ergibt. Ein Aspekt der Argumentation, die ich hier entwickelt habe, ist, dass das Verhaltnis von Raum und Selbst zum Problem wird, wenn Individuen unfahig sind, tiber die sie umgebenden Raume zu kommunizieren. Der Raum des geteilten Alltags ist auBer Reichweite und bleibt der intersubjektiven Bedeutungsbildung unzuganglich. In diesem Zusammenhang verlieren Individuen ihre Fahigkeit, iiber ihr Leben und ihre Umwelt nachzudenken. Sie verlieren das Vermogen zu sagen, wer sie sind, aber genau so wichtig ist, dass sie das Vermogen verlieren zu sagen, wer sie in einer geteilten Welt fur andere sind. Eben weil Selbstreflexion durch das Auftreten elektronischer Raume und Nicht-Orte bedroht ist, erkennen wir, dass der Raum, die Struktur des Selbst und Selbstreflexion notwendig miteinander verbunden sind. Es wttrde jedoch schwer fallen, zu lernen, iiber den gemeinsamen Raum zu sprechen. In diesem Kontext nimmt Selbstreflexion eine wesentliche neue Dimension an, die in den modernen Theorien des Selbst, die die Raumbezogenheit des Selbst fur selbstverstandlich nahmen, noch nicht gesehen wird. Uber die gemeinsamen Raume zu sprechen ist ein Akt der Selbstreflexion, der es Personen erlaubt zu sagen „Hier befinde ich mich in Bezug zu dir." und „Hier befmden wir uns in Bezug zu anderen.". Reflexionen iiber die Raumbezogenheit des Selbst dienen als Chance, die in der Spatmoderne verlorenen intersubjektiven Aspekte der Identitat wieder herzustellen. Dadurch stehen Individuen sowohl flir sich selbst als auch ftir andere als Objekte der Selbstreflexion zur Verfugung, eine vorher unerkannte Ressource.

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untereinander verbundene Identitaten im elektronischen Raum / / \ \ / '

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Abb. 1: Relationales Selbst im elektronischen Raum

vereinzeltes Selbst

eine geteilte, aber nicht verbalisierte Bedingung

vereinzeltes Selbst

Abb. 2: Hyperreales Selbst und vereinzeltes Selbst an Nicht-Orten

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Jan D. Reinhardt Massenmedien im und als Spiegel der Person

Massenkommunikation, personale Identitatszuschreibungen und Selbstwahrnehmungen sind auf vielen verschiedenen Dimensionen mehr oder weniger komplex miteinander verflochten, so dass ich an dieser Stelle nur einen skizzenhaften Einblick in die Thematik geben kann (fur einen umfassenden Uberblick siehe Reinhardt 2006). Dabei konzentriere ich mich auf eine von vielen moglichen Perspektiven, die an die klassische soziologische Identitatstheorie, die Theorie des sozialen Selbst oder Spiegelselbst ankniipft.

l.Theorie des Spiegelselbst und moderne Identitatsproblematik Bei der Theorie des Spiegelselbst handelt es sich wohl um eine der altesten sozialwissenschaftlichen Theorien. Obgleich noch nicht auf die von John Locke (1976 [1690]) zuerst philosophisch exponierte Problematik der Identitat des Selbst und der Person bezogen, sondern auf moralisches Verhalten, findet sich bereits bei David Hume (und ebenso bei dessen Freund Adam Smith 1979 [1759]) eine entsprechende Formulierung: „In general we may remark, that the minds of men are mirrors to one another, not only because they reflect each other's emotions, but also because those rays of passion, sentiments and opinions, may be often reverberated, and may decay away by insensible degrees." (Hume 1968: II.ii.5: 83)

Systematisiert wurde dieses Konzept dann etwa 150 Jahre spater von William James (1950 [1890]), der das „social self neben dem „material self und dem spiritual self als eine Komponente von Selbstvorstellungen ansah. James versucht hier die verschiedenen philosophischen Identitatsdiskurse seiner Zeit zusammenzubringen. „Spiritual self meint dabei etwa das, wofiir bei Descartes die Erkenntnis des „cogito" oder bei Locke der Begriff der „personal identity" steht: die Reflektion des Bewusstseins auf sich selbst als Einheit des Gedankenstroms; „material self steht dagegen fur die Einheit des Korpers, aber auch fur

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die Selbstthematisierungsfunktion von Kleidung, Familie und Eigentum, wahrend „social self die Reflexion der Person durch andere meint: „A man's Social Self is the recognition which he gets from his mates. We are not only gregarious animals, liking to be in sight of our fellows, but we have an innate propensity to get ourselves noticed, and noticed favourably, by our kind",

schreibt James in den principles of Psychology" (1950 [1890]: 294). Dabei fallt zunachst auf, dass die Komponente des materiellen Selbst so deutlich auf zumindest vorgestellte andere, soziale Attraktivitatsvorstellungen, Mode, Eigentumssemantiken usw. verweist, dass es nahe liegt, sie als Subkomponente des sozialen Selbst anzusehen. Zudem sei daran erinnert, dass es vor Descartes keineswegs eine Selbstverstandlichkeit war, den Korper als eine dem Geist entgegengesetzte Einheit zu begreifen (vgl. Hahn 2000). Gleiches gilt im Ubrigen fur das Bewusstsein. Formulieren wir es differenztheoretisch: Was soil einem primordialen Bewusstsein in seiner Selbstbeobachtung anderes auffallen als die Differenz der aneinander anschlieBenden 'cogitaniones'? Wie soil es ohne kommunikative Identitatsmarker (wie z.B. Personlichkeitssemantiken) und Intersubjektivitatsunterstellungen darauf kommen, eine Einheit darzustellen? So hatte noch Fichte geschrieben: „Die meisten Menschen wtirden leichter dazu zu bringen sein, sich fur ein Sttick Lava im Monde, als fur ein Ich zu halten" (zit. nach Schmidt 1991: 13). Kurz: Ich-Identitat ist nicht etwas nattirlicherweise Vorfindbares, sondern ein Sinnphanomen, eine Realitatskonstruktion, die der kommunikativen Abstutzung und der kommunikativen Tradierung entsprechender Beobachtungsschemata bedarf. So ist es nur konsequent, dass Charles Horton Cooley und George Herbert Mead, die tibrigens lange vor Luhmann „den gesellschaftlichen Prozess als im Wesentlichen durch Kommunikation bestimmt" vorstellen - wie Mead (1993: 119) es ungefahr formuliert - die Entstehung von Selbstvorstellungen als untrennbar verflochten mit Interaktions- bzw. Kommunikationsprozessen denken. Bezogen auf Selbstvorstellungen impliziert dies die beruhmte Theorie des looking glass self. Die klassische Stelle bei Cooley aus „Human Nature and the Social Order" von 1902 lautet so: „In a very large and interesting class of cases the social reference takes the form of a somewhat definite imagination of how one's self- that is any idea he appropriates - appears in a particular mind, and the kind of self-feeling one has is determined by the attitude toward this attributed to that other mind. A social self of this sort might be called the reflected or looking glass self (...) A self-idea of this sort seems to have three principal elements: the imagination of our appearance to that other person; the imagination of his judgement of that appearance, and some sort of self-feeling, such as pride or mortification" (Cooley 1956: 183 f).

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George Herbert Mead hat diese Uberlegung in seiner Theorie des Selbst bekanntlich ungleich systematischer dargestellt. Das Selbst wird hier in zwei Komponenten zerlegt: Das „I" reprasentiert gewissermaBen ein personales Aktzentrum, steht ftir Spontaneitat und Kreativitat, wahrend das „me" ftir die iiber „role taking" vorgestellten Haltungen der anderen gegenuber der eigenen Person steht, die sich letztlich in deren Reaktionen bestatigen oder nicht bestatigen, was wiederum zu Modifikationen der „me"-Komponente ftlhrt usw. Was dabei haufig unterschlagen wird ist Folgendes: Leistungen des „I" sind nur als Reaktionen auf die vorgestellten „mes" denkbar, nehmen diese gewissermaBen als Ausgangsbasis. Das „I" taucht in der Erfahrung des Bewusstseins nur als Komponente eines „me's" auf. Es geht um nicht weniger als den Primat des Sozialen. Wie Mead es formuliert: „Wenn man also fragt, wo das T in der eigenen Erfahrung auftritt, lautet die Antwort: als historische Figur. Was man eine Sekunde vorher war, das ist das T des 'me'. Es ist ein anderes 'me' das diese Rolle ubernehmen muB. Man kann die unmittelbare Reaktion des T nicht in den Prozefi hereinbekommen." (Mead 1993: 218)

Mead hebt nun des Weiteren einen sozialisationstheoretischen Aspekt dieses Sachverhalts hervor. Zunachst ubernehmen Kinder in so genannten „plays" die Rollen konkreter, so genannter signifikanter Anderer, aus deren Perspektive sie lernen, auf sich und andere Bezugspersonen der signifikanten Anderen zu reflektieren. Im Zuge der weiteren Enkulturation wird dann die situations- und personenunabhangige Konstanz bestimmter Perspektiven und Erwartungen der anderen gelernt, die infolge dessen zu einem „generalisierten Anderen" objektiviert werden. Zuerst geschieht dies nach Mead in der so genannten „gamestage". Vor der Folie des „generalisierten Anderen" wird dann auch das eigene Selbst objektiviert, was freilich weder auf Konformitat, noch auf Abweichung festlegt. Die eigene Person wird als Personlichkeit zur „Institution in einem Fall" wie es bei Gehlen (1957: 118) heifit Nun betonen die Pragmatisten zumeist das eigene Eingebundensein in Interaktionen bzw. das Adressieren und Adressiertwerden in Kommunikationsprozessen. Mindestens ebenso wichtig ist - so meine These - aber das 'unbeteiligte' Beobachten von Kommunikation und damit die Beobachtung, wie andere dort als Adressen fungieren, vor allem aber wie andere und man selbst dort thematisiert werden und ebenso wie andere sich selbst thematisieren. Erst in der kommunikativen Thematisierung erlangen Personen gewissermaBen Objektstatus. Ebenso deutlich werden in der kommunikativen Personenthematisierung Personenerwartungen, Identitatswerte (Goffinan 1975: 159), Semantiken der Personenbeschreibung und Normen der Selbstdarstellung, ohne die Selbstthe-

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matisierung sowohl im Bewusstsein als auch in der Kommunikation unmoglich ware. Wenn Identitat ferner kein ontologisches Wesensmerkmal, sondern ein Sinnphanomen ist, so ist sie paradoxerweise, nur durch Differenz zu gewinnen. Die Beobachtung der Thematisierung von Personen in der Kommunikation und die kommunikativen Personensemantiken erzeugen in dieser Hinsicht einen Kontingenzhorizont, ohne den eigenes Personsein, also Selbstvorstellungen, nicht moglich waren. Denn jede Sinnaktualitat - das hatte Husserl (1995 [1931]) festgestellt verweist auf einen Horizont von Potentialitaten, die im nachsten Moment ebenso aktuell werden konnten. Sinn ist ein Uberschuss-, ein Selektionsphanomen, das daher immer auch andere Moglichkeiten mitfuhren muss (siehe auch z.B. Luhmannl997:44ff.). Unter einem personalen Kontingenzhorizont verstehe ich nun einen mit Hilfe von Personensemantiken aufgemachten Moglichkeitsbereich von Eigenschaften, die man nicht hat, die einem aber ebenso zugeschrieben werden konnten: Man ist zum Beispiel klug und nicht dumm, ausgeflippt und nicht spieBig usw.; wie gleichzeitig einen Wirklichkeits'horizont anderer Personen, von denen man sich unterscheidet bzw. unterschieden wird. Solche 'Wirklichkeits'horizonte konnen nicht nur von lebenden, sondern auch von bereits verstorbenen oder fiktionalen Personen bevolkert sein (daher die Anfuhrungszeichen). Wie Cooley fur Hamlet bemerkt: „It is worth noting here that there is no separation between real and imaginary persons; indeed, to be imagined is to become real, in a social sense, as I shall presently point out." (Cooley 1956: 95)

Die Einheit von personaler Aktualitat und Kontingenzhorizont hat Luhmann (1995) im Ubrigen als ,JForm Person" bezeichnet. Zusammenfassend konnte man also sagen: Die drei Dimensionen der Selbstthematisierung, die Gtinter Burkart (2004) ausmacht, Selbsterkenntnis, Selbstkontrolle und Selbstdarstellung, implizieren ein permanentes Oszillieren zwischen Fremd- und Selbstreferenz, oder: Ein Selbst lasst sich nur iiber den Umweg tiber die anderen erzeugen. Das Ganze ist nun solange unproblematisch, wie Gesellschaftsstrukturen auf InklusionsindividualMt (vgl. dazu sowie zu Folgendem vor allem Luhmann 1998) abstellen und darauf geachtet wird, dass soziale Kreise konzentrisch und nicht sich kreuzend organisiert sind, um das bekannte Bild von Simmel (1992 [1890]) zu verwenden. In hierarchisch bzw. stratifikatorisch organisierten Gesellschaften kommt ein Individuum bzw. die Person genau einmal vor: als Mitglied einer Familie mit einer bestimmten Stellung in der Standeshierarchie. 174

Das andert sich - so bekanntlich eine weitgehend unumstrittene Kernthese der Soziologie der Moderne - wenn Gesellschaftsstrukturen auf ein Primat funktionaler Differenzierung umstellen, womit zugleich traditionelle hierarchische Ordnungen unterhohlt werden. Das Individuum verliert seinen sozialen Ort, wird zum Exklusionsindividuum und kommt als Person mit individuell attribuierten Verhaltensmoglichkeiten innerhalb verschiedenster Rollentragerschaften mehrfach und je nach Funktionsgesichtspunkt anders vor: als Kunde, Arbeitnehmer, Liebhaber, Medienkonsument usw. Dabei gehe ich mit z.B. Dreitzel (1972), Krappmann (2000) oder Goffman (1973) davon aus, dass die verschiedensten Rollen in unterschiedlichem MaBe Spielraume flir individuelle Rollenperformanz und -distanz lassen. Das kann im Ubrigen tiberhaupt erst jetzt auffallen, da aufgrund multipler fur einander undurchsichtiger personaler Inklusionszusammenhange Rollentragerschaften und Individualist auseinanderdividiert werden, und das Individuum jetzt auBerhalb der Gesellschaft gedacht wird. Die Goffman'sche (1975) Differenz von personaler und sozialer Identitat wird erst in der Moderne augenfallig; wobei die Formulierung freilich etwas unglticklich ist, da Goffman auch person a l Identitat als sozial zugeschriebene denkt (vgl. Willems/ Hahn 1999: 15; Fn. 5). Jedenfalls konnen wir sagen: Es findet gewissermaBen eine Multiplikation des 'generalisierten Anderen' oder eine Multiplikation der Spiegel statt, die nun orthogonal zueinander stehen, so dass das Spiegelbild des einen Spiegels in einem anderen nicht mehr mitreflektiert wird. Infolge einer Uberlagerung von in der Philosophie entstandener Subjektsemantik und Geniesemantik aus dem Kunstbereich (vgl. Bohn 2003, Ruppert 2000: 225 ff.) kommt es zusatzlich dazu, dass Individualist nunmehr als steigerbar vorgestellt wird und Personen mit der Forderung konfrontiert werden, sich zu individualisieren und ihre Individualist darzustellen. Inklusions-Identitat wird zur Exklusions-Identitat. Die Selbstverstandlichkeit, sich als Individuum an einem festen Platz der Gesellschaft vorzufinden, wird in eine Suche nach dem Selbst im Innenbereich transformiert. Damit werden Individuen mit einer zunachst unstrukturierten Reflexionslast konfrontiert, wie Luhmann (1995: 132) es ausdruckt, und gleichzeitig eben mit der Forderung oder Identitatsnorm, Individualist insbesondere in geselligen Interaktionen in Verhalten und Kommunikation darzustellen oder zumindest aufblitzen zu lassen. Zu dem gesellt sich ein generalisierter Inszenierungsverdacht und damit die Forderung nach Authentizitat. Die Beweislast, ein Individuum zu sein, wird gewissermaBen dem Angeklagten zugeschoben. Diesem stehen fur diesen Zweck aber nur paradoxe

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Mittel wie erwartete Normabweichungen oder Kopien individualisierender Elemente1 zur Verfugung. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass personale Identitat erst bei Locke zu einem philosophischen Problem wird und sich weder die mittelalterliche, noch die antike Philosophic damit beschaftigt hatten. Individualitat und Identitat der Person waren hier (z.B. bei Boethius) als Unteilbarkeit der rationalen Seelensubstanz verstanden worden (vgl. Kobusch 1976), gedeckt durch das soziale Modell von Inklusionsindividualitat. Zum literarischen Thema werden Identitat und Authentizitat der Person erst bei Shakespeare, wie Aleida Assmann (2003) eindrucksvoll fur den Hamlet gezeigt hat. Dabei wird personale Identitat als nur negativ (durch Abzug der Rollentragerschaften) bestimmbare Leerstelle vorgefuhrt. Das Innenleben bleibt merkwtirdig inkommensurabel und die Selbstthematisierungsversuche von Hamlet fuhren dazu, dass man ihn fur nicht bei Verstande halt.2 Was tritt nun im Zuge der Modernisierung an diese Leerstelle? Auf diese Frage wird es sicher nicht nur eine Antwort geben, obgleich ich im Folgenden nur eine Antwort vorstellen mochte.

2. Massenmedien als generalisierte Andere Meine These ist in diesem Zusammenhang, dass sich die Massenmedien als besonders prominente Kandidaten eines generalisierten Anderen, der genau diese Leerstelle besetzt, anbieten. Und es ist ja sicherlich nicht von der Hand zu weisen, dass eine der ersten Formen der Massenkommunikation iiberhaupt, der moderne Roman (fur das Scheitern von Individualisierung durch Kopie z.B. Don Quichotte oder Madame Bovary), genau um diese Leerstelle kreist. Diese These mochte ich nun im Folgenden in zwei Schritten prazisieren: Zunachst mochte ich Massenmedien als eigentumliche Personenspiegel vorfiihren und zweitens mochte ich zeigen, wie Massenkommunikation auch in ande1 2

So lasst David Lynch seinen Helden Sailor in dem Film „Wild at Heart" z.B. sagen, seine Schlangenlederjacke sei ein Zeichen seiner Individualitat. Dabei handelt es sich bei der Jacke um ein Zitat bzw. eine Kopie des Marlon Brando Films „The Wild One". Auch hat in dem Stuck Theorie und Problematik des Spiegelselbst einen bedeutsamen Platz. Die Spiegelungen werden hier allerdings von den Gespiegelten zu ignorieren versucht (wie im Falle des StUcks im Stuck) oder mit Entsetzen beantwortet: Hamlets Mutter reagiert auf seine Ankundigung „You go not till I set you up a glass/Where you may see the inmost part of you" mit den Worten „What wilt thou do? Thou wilt not murder me?/Help, Ho!" (Ill, iv, 18-21; zit. nach Assmann 2003: 13). Besser funktionieren dagegen fur die Beziehungsstiftung die durch Oberons Idee und Puks Verwechselung ausgelOsten Uberkreuzspiegelungen im Sommernachtstraum.

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ren Spiegelungen der Person mitreflektiert wird. Kurz: Ich halte Massenmedien flir bedeutsame Identitatsgeneratoren einer modern strukturierten Gesellschaft. Dabei ist ja das Besondere an Massenkommunikation nicht nur, dass sie massenhaft stattfindet bzw. sich, wie Maletzke (1963) es formuliert, an ein disperses Publikum richtet, und damit die Unwahrscheinlichkeit des Erreichens von Empfangern von Mitteilungen in Wahrscheinlichkeit transformiert (Luhmann 1988), sondern dass zudem dieser Sachverhalt dem Publikum bekannt ist. Man weiB, dass das was man sieht, hort, liest usw., eben viele oder doch mindestens einige andere auch sehen, horen, lesen bzw. in der Vergangenheit gesehen, gehort, gelesen haben. Nicht umsonst hatte Luhmann (1996) dem Mediensystem die Funktion der Konstruktion gesamtgesellschaftlicher Realitat zugeschrieben, wobei der konstruktive Charakter, das Vorliegen einer medienspezifischen Selektionslogik bekannt ist. Aber fur wie auch immer manipulationsverdachtig man die Realitatskonstruktionen der Medien halt, man weift, dass die anderen sie ebenso wahrnehmen und kann daher ihre Bekanntheit voraussetzen. Die Nahe zu Meads Konzept des generalized other" ist offensichtlich. Bedenkt man zudem, dass das Mediensystem segmentar in Organisationen differenziert ist, die zwischen Publikationswiirdigkeit oder Nicht-Publikationswiirdigkeit mindestens zum Teil im Hinblick auf ein regional bzw. national gedachtes Publikum entscheiden, was dem Publikum ebenso bekannt ist, dann sieht man auf einen Blick, dass Massenkommunikationen Generatoren kollektiver Gedachtnisse und Unterstellungen kollektiver Identitaten par excellence (vgl. Reinhardt/ Jackel 2005) sind. Im Mediensport z.B. geht es eben nicht nur um Leistungsexzellenz, sondern um Leistung plus Nationalist oder Regionalitat, und selbst bei Flugzeugabstiirzen erfahrt man die Zahl der deutschen Opfer, nicht aber die der nigerianischen usw.; in Bayern ist im Ubrigen gar von bayrischen Opfern, Goldmedaillen usw. die Rede. Derartige, hier nur kurz skizzierte AnstoBe fur kollektive Identitatszuschreibungen werden im Folgenden gleichsam als Rahmen (im Goffman'schen Sinne) personaler Identitatsbildungsprozesse vorausgesetzt. Zunachst sei die Spiegelung von Personen in den Massenmedien betrachtet.

177

3.

Massenmedien als Spiegel der Person

Ich kann hier aufgrund des begrenzten Rahmens nur einige Punkte anfuhren, die mir besonders wichtig erscheinen, und verweise darauf, dass sich die Liste beinahe beliebig erweitern lieBe (vgl. Reinhardt 2006). Erstens: Fur Individuen, die selbst in den Medien, sei es als Autoren im weitesten Sinne, sei es als Themen, vorkommen, ist die Spiegelungsfunktion der Medien so offensichtlich, dass sie kaum einer Erwahnung bedarf. Ftir wie verzerrt auch immer man die Spiegelung halten mag, man muss - wiederum in den Medien - reagieren, und zumindest sagen, dass einen sein Geschwatz von gestern nicht kiimmere. Es scheint sogar eine Reihe von Berufsprominenten, man denke z.B. an Jenny Elvers, zu geben, deren Haupt-Einkommensquelle darin besteht, sich von den Medien auf mehr oder weniger skandalose Art spiegeln zu lassen und sich iiber den Anschluss von Dementis und neuen Skandalen im Gesprach zu halten. Das ist sicherlich ein Typus des modernen „Selbstthematisierungsvirtuosen" (Burkart 2004). Zweitens: Wir 'normal Sterbliche' kommen dagegen in der Regel eher selten als Themen der Massenkommunikation vor. Die Medien spiegeln in ihren fiktionalen und non-fiktionalen Beitragen stellvertretend andere fur uns und uberziehen deren Handlungsweisen und nattirlich deren Korper permanent mit Bewertungsprozessen. Der Spiegel steht gewissermafien oblique zu uns. Es werden Situationen - z.B. in Liebesbeziehungen - durchgespielt, die wir kennen und die daher Schlusse auf die Grtinde eigener Enttauschungen oder Erfolge zulassen und uns kopierbare Strategien der Selbstprasentation an die Hand geben. Vor allem aber zeigen uns die Massenmedien drittens: wie wir nicht sind, aber sein konnten, wenn wir eben anders waren. In dieser Hinsicht sind die Medien eher Zauberspiegeln aus Marchen vergleichbar. Durch die Teilhabe an Massenkommunikation kommt es so zu einer enormen Erweiterung personaler Kontingenzhorizonte, die zu phantasierendem Kreuzen oder auch zum Ausprobieren eines Andersseins einladen mogen, die vor allem aber die multidimensionale Verortung eigener personaler Aktualitat ermoglichen. Zudem ist bekannt, dass diese Kontingenzhorizonte mit denen unserer alltaglichen Kommunikationspartner mindestens partiell deckungsgleich sind. Das ermoglicht Selbst- und Fremdfestlegungen - z.B. in Komplimenten - durch weitgehend gefahrlose soziale Vergleichsprozesse. Man weiB zum Beispiel, dass man auf der Dimension korperlicher Schonheit irgendwo zwischen den medialen Bestien und Beauties angesiedelt ist. Viertens: Ebensolches gilt im Ubrigen fur die Einordnung des Ortes, an dem man lebt, sowie entsprechend fur die je gegenwartige Zeitepoche. Wie Joshua Meyrowitz (1998) von einem „generalisierten Anderswo" gesprochen hatte, so 178

konnte man auch von einer „generalisierten anderen Zeit" (Reinhardt/ Jackel 2005) reden, vor der Gegenwart als historische Epoche erst Konturen gewinnt. Fiinftens: Gelegentlich kommt es auch zu den von Horton und Wohl (1956) so genannten parasozialen Interaktionen, in denen Medienfiguren als Interaktionspartner missverstanden werden. Hier lasst sich schon sehen, dass der Spiegel vom verstehenden System auch kontrafaktisch vorgestellt werden kann. Neuerdings haben Schramm und Kollegen (2002) auch von parasozialen Beziehungen gesprochen. So selten, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist dieses Phanomen gar nicht. Zumindest unter pubertierenden, weiblichen Teenagern ist es gang und gabe, sich in Medienstars, insbesondere aus eigens fur die Auslosung solcher Emotionen geschaffenen so genannten 'Boygroups', zu verlieben. Sechstens: Des Weiteren sind Massenmedien die wichtigsten Transporteure der Identitatswerte, von denen Goffman (1975: 159) z.B. in Stigma gesprochen hat. Hiermit sind kulturelle Vorstellungen idealer Personality bzw. Identitat gemeint: Insbesondere sind dies, zumindest im abendlandischen Kulturkreis, Jugendlichkeit, Sportlichkeit, anspruchsvolle und abwechslungsreiche Berufstatigkeit und natiirlich korperliche Attraktivitat (vgl. dazu Koppetsch 2002). Dabei sind die Manipulationen der Medienkorper angefangen von Beleuchtungseffekten, tiber Make Up usw. bis hin zu Kftrper- und Korperteildoubles so ausgefeilt, dass sie aulterhalb der medialen Aufhahmeszenarios tatsachlich kaum zu erreichen sind und gewissermaBen einen asymptotischen Charakter erhalten. Das macht sich bekanntlich wiederum die Werbung zu Nutze, indem sie eine Korperkapitalisierung vorantreibt, die Investitionszwange bzgl. korperlicher Schonheit betont. Die Steigerbarkeit der Kapitalisierung des Korpers lasst sich gut daran ablesen, wie unverhohlen Medienstars mittlerweile tiber Schonheits-Ops usw. reden. Auch haben bekanntlich entsprechende Reality-Shows (The Swann) Konjunktur. Siebentens: Alles in allem stabilisieren bzw. - systemtheoretisch formuliert - kondensieren und konfirmieren Massenkommunikationen durch ihre Personendarstellungen Personensemantiken und korrespondierende Selbstthematisierungsnormen wie daruber liegend tiber ihre Selektionslogiken Relevanzhierarchien von Personeneigenschaften. Achtens: Nichtsdestoweniger bleibt vieles widerspnichlich. So mag uns ein Film oder eine Serie vielleicht suggerieren, dass Liebe nicht durch okonomisches Kapital gewonnen werden kann, wahrend wir in der Werbepause das Gegenteil erfahren. Solche Widerspriichlichkeiten, die sich durch die Vielfalt des medialen Materials, durch die Unterschiedlichkeit der medialen Programme wie auch durch den inharenten Neuheitsfetischismus des Mediensystems quasi automatisch einstellen, mogen auf Seiten des Publikums zu einer Steigerung von Ambiguitatstoleranz ftihren. Diese hatte Krappman (2000) als besonders wichtig 179

fur moderne balancierende Ich-Identitat gehalten. Jedenfalls konnen sich die Inklusionszusammenhange der Funktionssysteme Ambiguitatstoleranz als personale Ressource wiederum zu Nutze machen. Im Folgenden sei der Spiegelungs-Zusammenhang von Medien und Identitat von der anderen Seite betrachtet.

4. Medien in Personenspiegeln Medienvorlieben sind, so meine letzte These, bedeutsame Selbstthematisierungsressourcen. Dabei ist zu beachten, dass sich diese Perspektive von vorangegangener gleichsam nur analytisch trennen lasst. Denn die Massenmedien thematisieren eben auch die Medienvorlieben von Personen. Das Mediensystem ist eben nicht nur basal, sondern teils auch reflexiv selbstreferenziell gestrickt; und das nicht nur in Sendungen wie TV-Total oder Kalkofes Mattscheibe. Hinter der FAZ steckt eben immer ein kluger Kopf, wie wir aus der Werbung wissen. Damit bin ich auch direkt beim ersten Punkt einer wiederum nicht erschopfenden Liste angelangt. Erstens: Die expressive Nutzung bestimmter Medien, Genres oder Medienformate kann der Markierung von Habitus dienen, die von den Spiegelungen der anderen reflektiert werden und von denen man gewisse Wirkungen erwartet. Man setzt sich z.B. in die Universitats-Cafeteria, um gut sichtbar Prousts Recherche zu lesen und erwartet bewundernde Blicke der studentischen Damenwelt. Das Beispiel macht zugleich deutlich, dass der Inszenierungscharakter solcher Unternehmungen freilich recht augenf&llig sein kann und irgendwie zu verschleiern ist. Zweitens: Auch der expressiven Nicht-Nutzung bestimmter Medien und Formate kann diese Funktion der Markierung identitatsstiftender Haltungen innewohnen. Friedrich Tenbruck schreibt z.B. in einem Artikel iiber die Bedeutung der Medien in der Moderne: „Mir jedenfalls scheint es nicht nur eine Pflicht der seelischen Gesundheit, im eigenen Haus auf Distanz zum Fernsehen zu halten, sondern auch eine soziale Pflicht, diese Haltung im Umgang mit anderen still zu markieren." (Tenbruck 1990: 76)

Es gibt nattirlich auch den umgekehrten Habitus, der die Nicht-Nutzung anspruchsvoller Formate markiert. Gerhard Schulze (1996) hat dafur den Begriff des Unterhaltungsmilieus gepragt. Drittens: Bestimmte Formen der Mediennutzung konnen auBerdem Rollenattribute darstellen. Ein Politiker, der keine Zeitung liest, ist bspw. kaum vor-

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stellbar. Ebenso ging vor ca. einem Jahr ein Aufschrei durch die Presse, als man erfuhr, dass die Deutsche Bank dem mittleren Management den Bezug bestimmter Zeitungen streichen wollte (vgl. Ankenbrand 2003). Viertens: Auf einer anderen Ebene lasst sich ferner beobachten, dass die Nutzung bestimmter Medieninhalte die Voraussetzung des Zugangs zu Selbstthematisierungskontexten, z.B. zu Peer Groups, sein kann. Das Stichwort ist hier Anschlusskommunikation. Man muss eben mitreden konnen, um dazuzugehoren. G5ttlich und Nieland (2002) haben das z.B. fur die Schulhofkommunikation tiber die Sendung Big Brother festgestellt. Ftinftens: Damit hangt zusammen, dass sich tiber Mediengesprache, in denen die Beteiligten wechselseitig als Stichwortgeber im Nachspielen von Medieninteraktionen fungieren (vgl. Bergmann/ Ulmer 1993), sowie iiber kollektive Nutzungen von evtl. auBergewohnlichen Medienformaten kollektive Identitaten mobilisieren lassen. Waldemar Vogelgesang (1991) hat dies z.B. fur jugendliche Horror-Video-Cliquen untersucht. SchlieBlich eignet sich die Kommunikation tiber Medienvorlieben hervorragend fur Selbstthematisierungen zum Zwecke der Anbahnung von Intimitat unter Unbekannten, z.B. auf Partys. Man erzahlt sich, welche Musik man gerne hort, welche neueren Filme man gut oder schlecht fand, welche Lieblingsschauspieler man hat usw. Das funktioniert deswegen so gut, weil einerseits sowohl das Gesprachsformat, als auch die dort thematisierten Medienpersonen und inhalte als bekannt vorausgesetzt werden konnen. Andererseits scheinen hier Identifikations- und Abgrenzungszonen innerhalb der personalen Kontingenzhorizonte der Interaktionspartner auf, was deren Einordnung im Sinne der individuellen Fixierung von VerhaltensmOglichkeiten und Moglichkeiten des Wahrgenommenwerdens, kurz: als Person, erleichtert. Diese und viele weitere Grtinde (vgl. Reinhardt 2006) sprechen dafur in den Massenmedien die modemen Identit&tsgeneratoren schlechthin zu sehen. Daruber hinaus ist die moderne Identitatsproblematik selbst immer wieder zentrales Thema von Romanen (wie Frischs Stiller), Filmen (wie Orson Welles' Citizen Kane) und anderen Medienerzeugnissen.

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Bruno Hildenbrand Dissensfiktionen bei Paaren

1. Dissensfiktionen und ihr Stellenwert in der Dialektik von Bezogenheit und Individuation in Paarbeziehungen. Einleitung in die Fragestellung Wahrend eines Workshops, auf dem das Protokoll eines Gesprachs mit zwei Paaren analysiert wurde, stieBen wir auf eine Interaktionsfigur, die uns spontan auf die Idee brachte, dem von Alois Hahn gepragten Begriff der „Konsensfiktionen" (Hahn 1983) den Begriff der Dissensfiktionen an die Seite zu stellen bzw. diesem von Hahn selbst bereits angedeuteten, aber nicht weiter vertieften Begriff starker Geltung zu verschaffen. Die hier angestellten Uberlegungen sind daher aus der Beschaftigung mit empirischem Material entstanden und von dort aus in die Theoriebildung hineingetragen worden, anders ausgedruckt: Hier suchen Daten ihre Theorie, nicht umgekehrt. Wir werden zunachst Hahns Beitrag zum Begriff der Konsensfiktion bzw. der Dissensfiktion aufhehmen, danach den Begriff der Fiktion behandeln, sodann anhand eines Fallbeispiels rekonstruieren, welchen Stellenwert Dissensfiktionen in Paarbeziehungen haben konnen, um schlieBlich diese Thematik auf die theoretische Konzeption von Paarbeziehungen aus soziologischer Sicht zu beziehen. Hier wird das Ergebnis sein, dass Paarbeziehungen grundsatzlich als widerspruchliche Einheit von Bezogenheit und Individuation verfasst sind, die sich im Alltag u.a. via Konsens- bzw. Dissensfiktionen zu reproduzieren pflegt. Dieser widerspriichlichen Einheit werden wir im Hinblick auf die Diskussion um Veranderungen von Liebes- und Paarbeziehung in der 'Zweiten Moderne' weiter nachgehen. Mit diesem Beitrag verfolgen wir drei Ziele: Zunachst dient uns das empirische Beispiel von Dissensfiktionen dazu, uns des Stellenwerts von Fiktionen in der Lebenspraxis zu versichern. Zweitens mochten wir mit der Analyse von Dissensfiktionen der Annahme nachgehen, dass Paare nicht nur unter dem Blick von Verschmelzung, sondern auch unter dem Blick von Distanz wahrzunehmen sind, und dass Distanz gerade dort zu erwarten ist, wo die Verschmelzung im Vordergrund steht. Und schlieBlich m5chten wir die Diagnosetauglichkeit des

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Begriffs 'Zweite Moderne' in Bezug auf Paarbeziehungen auf den Priifstand stellen.

2. Liebe und Partnerschaft als zwei miteinander verbundene Modi des Zusammenlebens als Paar Zunachst soil der hier zugrunde gelegte Begriff einer Paarbeziehung expliziert werden. In Orientierung an Herman Schmalenbach schlagt Aron Gurwitsch zur Bestimmung gefuhlsbetonter Formen mitmenschlicher Begegnungen in der Milieuwelt den Begriff der Verschmelzung vor: „Wo (...) Gefuhlserlebnisse eine derartige konstitutive Bedeutung haben, wo erst durch sie und wesentlich in ihnen Menschen zusammenkommen, und wo ihr Zusammensein darin seinen Sinn hat, dass sie sich in Gefuhlen (...) einander zuwenden und aufeinander beziehen, - da liegt in der Tat eine neue und eigenstandige Form mitmenschlichen Zusammenlebens vor." (Gurwitsch 1977: 197)

Dem gegeniiber stehen die Strukturmerkmale von Partnerschaft, die sich (nicht nur, aber auch) auf Distanz beziehen: „Wie der Partner in der aktuellen Situation aufgeht und sein konkretes Sein nur als die Rolle hat, die er in der Situation darstellt, so besteht - wesentlich und notwendig - jederzeit die M5glichkeit, dass er in seiner Freiheit zum Vorschein kommt: als einer, der noch auBerhalb der Situation etwas ist." (Gurwitsch 1977: 167)

Im Unterschied zu Gurwitsch, der beide Modi getrennt behandelt, sind wir mit Burkart und Koppetsch (2001) der Auffassung, dass beide Modi zwei verbundene Perspektiven auf ein Identisches, Mmlich auf die Paarbeziehung, bilden. Burkart und Koppetsch ordnen Liebe und Partnerschaft je unterschiedlichen Gestaltungsformen paarweisen Zusammenlebens an. Partnerschaft betone die Individualist, setze auf rationale Begrundungspflicht sowie auf die Tauschokonomie der Gerechtigkeit, wahrend die Liebesbeziehung die „Verschmelzung in einer Privatwelt der romantischen Liebe" betone. Aus diesen unterschiedlichen Bestimmungsmomenten leiten sie Spannungsverhaltnisse ab. Aber dennoch sind sie der Ansicht, dass Paarbeziehungen im Modus der Partnerschaft auf den Modus der Liebe angewiesen sind und keinesfalls unterschiedliche Stufen einer historischen Entwicklung darstellen.1

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Von diesen Uberlegungen aus lassen sich weitere zum Langzeitverlauf von Paarbeziehungen anschlieBen. Was z.B. geschieht in Paarbeziehungen, die das Initialstadium der „Hochstrelevanz" (Tyrell 1987), womit jene Phase gemeint ist, in der alles andere nicht mehr, nur die Liebe

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Dies mag zur begrifflichen Bestimmung von Paarbeziehungen vorerst gentigen. Wir werden weiter unten darauf zuruckkommen.

3. Der Begriff der „Konsensfiktion" bei Alois Hahn In Orientierung an der phanomenologisch gepragten Soziologie, beispielsweise der von Alfred Schiitz, stellt Hahn zunachst fest, dass das Alltagsleben (das Leben in der „nattirlichen Einstellung") deshalb weitgehend unproblematisch ablaufen kann, weil ein groUer Teil unbefragt hingenommen wird bzw. die Differenzen zwischen den Akteuren durch „zwei grundlegende Idealisierungen" (Schiitz 1971: 13) iiberbriickt werden: durch die „Idealisierung der Vertauschbarkeit der Standpunkte" und durch die „Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme" (Schiitz 1971: 13). Beide Idealisierungen zusammen genommen bilden die „Generalthese der Reziprozitat der Perspektiven" (Schiitz 1971: 14). In der Paarbeziehung jedoch, so fahrt Hahn fort, „(..) wird nicht nur verlangt, dass eine 'normale' Ubereinstimmung hergestellt werden kann, sondern die Gemeinsamkeit zentraler Welt- und Lebensauffassungen, Erinnerungen, Normen, Werte, Einstellungen, Gefuhle gilt als eigentliche Basis und Bedingung der Beziehung." (Hahn 1983:211)

Hahn bezieht sich hier auf den Klassiker der phanomenologisch orientierten Paarsoziologie, den Aufsatz von Berger und Kellner iiber die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit (Berger/ Kellner 1965). Dort heiBt es, dass die Ehe in Form eines „nomischen Bruchs" konstituiert wird: „Die Ehe lost hinsichtlich der Einzelbiographien der beiden Partner einen neuen nomischen Prozess aus" (Berger/ Kellner 1965: 226). Dies fuhrt dazu, dass „die Ehe (...) eine neue Wirklichkeit begrtindet" (Berger/ Kellner 1965: 227). Bewerkstelligt wird dies vor allem im Gesprach. Das Gesprach „(...) bestatigt immer von neuem die grundsatzlichen Defmitionen der Realitat, in die man sich begab, weniger durch ausdriickliche Formulierung als durch stillschweigende Ubernahme vorgesehener Defmitionen und mittels des Gesprachs iiber alle vorstellbaren Fragen auf der Grundlage dieser als Selbstverstandlichkeit vorgegebenen Basis." (Berger/ Kellner 1965: 222)

gilt, hinter sich gelassen haben und die nicht dem Modell des „Liebespaares auf Zeit" folgen, das insbesondere im groBstadtischen alternativen Milieu zu finden ist (Burkart/ Kohli 1992)? Dieses Thema kann hier nicht weiter verfolgt werden; wir verweisen stattdessen auf die Studie von Rosmarie Welter-Enderlin zu „Leidenschaft und lange Weile" in Paarbeziehungen (WelterEnderlin 2003).

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Hahn hat weniger Vertrauen in die Macht des Gesprachs, als dies bei Berger und Kellner der Fall ist. Die Frage, wie Ehen (oder, wie man heute sagen wiirde: Paarbeziehungen) sich integrieren konnen, beantwortet er milieuspezifisch: Die Integration kann durch vorgangige Rollenverstandnisse bewerkstelligt werden. Dies gelte vor allem fur: „Zweierbeziehungen, die eingebettet sind in grofiere Gruppen, mit diesen gemeinsame Erfahrungen machen und Erinnerungen ansammeln." Sie seien „deshalb viel eher im genannten Sinne 'traditionelP rollenmaflig zu organisieren als solche, die hochgradig isoliert ihre Welt aufbauen" (Hahn 1983: 213). Gemeint sind hier offenbar Paarbeziehungen in erweiterten Verwandtschaftssystemen, die erst seit einigen Jahren verstarkt soziologisch beobachtet werden (Bertram 2000; Kohli/ Szydlik 2000), aber schon langer im Fokus der Volkskunde und der Sozialgeschichte der Familie stehen (Ilien/ Jeggle 1981; Hareven 1999; Segalen 1990). Aber auch fur diese Paare gilt, was fur Ehen in der Moderne generell gilt, dass der Partner nicht in einer reduzierten Rollenbeziehung, sondern als ganze Person wahrgenommen wird. Auch im schwabischen Realteilungsgebiet, in welchem der Familienstand, die Einbettung in ein Verwandtschaftssystem und die Zugehorigkeit zur im Dorf dominierenden Konfession die zentralen Merkmale der Person ausmachen (Ilien/ Jeggle 1981: 41), differenzieren sich Paare aus und formen eine Grenze gegenuber ihrer sozialen Umwelt, und in dem so gebildeten intimen bzw. privaten Raum begegnen sich die Partner als ganze Personen. Dieser Raum ist definiert durch die Kriterien der Solidaritat des gemeinsamen Lebenswegs, der Nichtaustauschbarkeit der Personen, der erotischen und der affektiven Solidaritat sowie schlieBlich der unbedingten Solidaritat (Parsons 1981: 77-79; Oevermann 2001). Die beispielsweise bei Hareven (Hareven 1999: 88), aber auch andernorts vorzufindende Tendenz, die Logik des Verwandtschaftssystems auszuspielen gegen die Logik der von Parsons so genannten (strukturell) „isolierten Kernfamilie" und letztere als „Mythos" zu bezeichnen, geht am Sachverhalt vorbei, weil die Paarbeziehung eben beides ist: eingebettet in ein Verwandtschaftsmilieu und, im Binnenraum der Paarbeziehung, aufeinander bezogen als ganze Personen (vgl. Parsons 1981: 80). Allenfalls beim Grenzfall der von Burkart und Kohli (1992) beschriebenen Versorgungsehe kann ein solches rollenmaBiges, die Auspragung eines ehelichen Binnenmilieus vermeidendes Muster der Paarbeziehung vermutet werden. Sie stellt aber gerade auch im landlichen Raum zunehmend eine Anomalie dar. Selbst in Gesellschaften, in denen festgelegte Heiratsarrangements bestehen, wie auf der Insel Flores in Indonesien, und bei denen uber 90 % der Ehen den Regeln der Vorschriftsheirat folgen, in denen also eine freie Partnerwahl tiberhaupt nicht vorgesehen ist, bestehen Mythen, die den Topos der romantischen 188

Liebe propagieren, sowie sprachliche Vorkehrungen, die den fraglichen Personenkreis mit einschlagigen Begriffen aus der Liebessemantik belegen (Kohl 2001). Insofern kann Hahns Frage nach der Integration moderner Paarbeziehungen, die bei ihm auf den zweiten von ihm behandelten Ehetyp eingeschrankt werden, also auf Ehebeziehungen, die nicht durch ein Rollenverstandnis strukturiert sind, verallgemeinert werden. Einfacher gesprochen: Hahns Unterscheidung zwischen rollengepragten und nicht rollengepragten Ehen halten wir fur hinfallig. Wir sehen die Ehe generell als eine Privatwelt an, deren Wirklichkeitskonstruktionen 'primar Resultat wechselseitiger Konsensleistungen der Partner' sind. Was dann fUr Hahn, der prinzipiell skeptisch einer solchen auf die Gemeinsamkeit von Wirklichkeitskonstruktionen aufgebauten Ehebeziehung gegeniibersteht, was ihre Stabilitat anbelangt, die Frage nach sich zieht, „worauf denn die Partner ihre Hoffiiung griinden, mit einem zunachst fremden Partner eine gemeinsame Welt aufbauen zu konnen" (Hahn 1983: 214). Hahns These lautet, „(..) dass alle Kleingruppen einen hohen Konsensbedarf haben. Sichtbarer Dissens bedroht die Existenz dieser Gruppen umso mehr, als es keine jenseits der persOnlichen Beziehungen liegenden Griinde gibt, Mitglied zu bleiben". (Hahn 1983: 214)

Einschrankend ware jedoch zu bedenken, dass Partner flir gewohnlich die Risiken fur den Aufbau einer gemeinsamen Wirklichkeit, die nur auf der personlichen Beziehung gegrtindet ist, reduzieren. Sie schaffen dies dadurch, dass sie der Gefahr einer Milieufremdheit und damit die Gefahr, weit auseinander liegende Wirklichkeitsvorstellungen von Paarbeziehungen in einem Akt gemeinsamer Gestaltung miteinander verbinden zu mtissen, zu entgehen versuchen. Weniger kompliziert ausgedrtickt: Die unbeschrankte Freiheit der Partnerwahl in (post-)modernen Gesellschaften ist eine gerade auch von Soziologen gern gepflegte Fiktion. Wahrend in dem oben erwahnten indonesischen Ort mit 1.200 Einwohnern der Kreis moglicher Heiratspartner sich auf 30 beschrankt, geht man auch in Deutschland davon aus, dass die Lebenspartnerin bzw. der Lebenspartner vorwiegend im gleichen sozialen Milieu gesucht wird, und daher die Zahl der in Frage kommenden Personen sich auf 100 bis 150 Personen belauft (Wirth/ Ltittinger 1998; vgl. dazu auch Teckenberg 2000). Ein weiterer empirischer Beleg zur Milieuhomogenitat bei der Partnerwahl: In einem Dorf in Hessen haben nach der Spaltung des lokalen Sangervereins in zwei Vereine iiber 100 Jahr hinweg, bis in die jiingste Gegenwart, keine Heiraten iiber die Vereinsgrenzen hinweg stattgefunden (Hiiwelmeier 1997). Umgekehrt weisen binationale Ehen gegeniiber anderen Ehepaartypen die hochste Scheidungsrate auf. 1995 liegen die Scheidungsraten bei binationalen Ehen mit Griechen, Italienern, Jugoslawen, Spaniern und Ttirken, bei denen die Frau Deutsche ist, zwischen 189

19,2 und 63,8 je 1000 Ehen. Bei Ehen, bei denen der Mann Deutscher ist, liegen sie zwischen (in der Reihenfolge der o. g. Nationalitaten) 26,3 und 31,2 je 1000 Ehen (zum Vergleich: Bei 'rein' deutschen Ehen werden 1995 9 von Tausend geschieden) (Roloff 1998: 332 f.). Unbeschadet dessen, dass demnach aus soziologischer, empirisch gut belegter Sicht die Partnerwahl vorrangig eine milieugesteuerte Wahl darstellt, wodurch allgemein der Konsensbedarf reduziert wird, stellt sich fur jede Paarbeziehung die Frage, wie es zwei Menschen, die einander bis anhin vollig fremd waren, gelingt, miteinander „Tisch, Bett und Leib" (Grathoff 1989) zu teilen. Dies wird, folgen wir Hahn, uber die Konsensfrage geregelt. Anhand einer empirischen Studie hat Hahn herausgefunden, dass bei den untersuchten Paaren nicht nur ein hoher Konsensanspruch besteht, sondern auch die Erwartung vorhanden ist, „den anderen ganzlich zu verstehen und von ihm verstanden zu werden" (Hahn 1983: 217). Hahn weist auf das Problem der Unerftillbarkeit beider Erwartungen hin und bezieht sich dann vor allem auf den Anspruch vollstandigen Verstandenwerdens. Er flihrt Simmels These ins Feld: „Es ist uberhaupt kein andrer Verkehr und keine andre Gesellschaft denkbar, als die auf diesem teleologisch bestimmten Nichtwissen des einen um den anderen beruht" (Simmel 1983: 259). Da mithin Gemeinsamkeit ohne Differenz nicht realisierbar ist, entsttinden die Konsensfiktionen, schreibt Hahn. Er argumentiert wie folgt: Divergenzen in der Wahrnehmung von Paaren entstehen durch die Differenz der Perspektive, der Aufmerksamkeit, der Differenzen der jeweiligen Relevanzstrukturen etc. „Der Grund fiir die Entstehung von Divergenzen ist zugleich auch die Basis fur ihr Latentbleiben" (Hahn 1983: 223). Dass der Andere ratselhaft ist (man nicht alles uber ihn wissen kann, er ein ganz anderer ist, als man meint, die Gemeinsamkeit daher brilchig ist), wird bei Paaren nur in Grenzsituationen erfahren: „Die Konsensunterstellung (bzw. in bestimmten Situationen: die Dissensunterstellung) ersetzt den realen Konsens (bzw. den realen Dissens). Dabei ist - so unsere These - die Verstandnisunterstellung, die sowohl der Konsens- wie der Dissensfiktion zugrunde liegt, nicht nur vermeintlich, sondern auch tatsachlich - jedenfalls in gewissen Grenzen, die nicht einfach zu bestimmen sind - unverzichtbar." (Hahn 1983: 224)

Konsens- und Dissensfiktion werden hier in eins gesetzt: „Misstrauen wie Vertrauen sind insofern funktional aquivalent. Sie iiberspringen beide jenes Problem, das sich bei konsequentem Ernstnehmen der Ratselhaftigkeit von Alter Ego ergabe: Die Situation ware absurd." (Hahn 1983: 224)

Fiir unser Thema interessant ist, dass Hahn hier zwar Konsensfiktionen und Dissensfiktionen auf derselben kategorialen Ebene ansiedelt, im weiteren Ver190

lauf jedoch ausschlieBlich die Konsensfiktionen behandelt. Uber die Ursache dieser Entscheidung kann hier nur spekuliert werden; eine mogliche Erklarung dafur ware, dass Hahn die Behandlung der Konsensbeschaffung in Paarbeziehungen als weitaus dringlicher ansieht als die der Dissensbeschaffung. Insofern konnte man von einem Bias in der Hahn'schen Theorie in Bezug auf die Integration von Paarbeziehungen ausgehen: „Die Bedeutung von Konsens fur das Bewusstsein des Paares (...) macht es in hohem MaBe wahrscheinlich, dass bei Knappheit realer Ubereinstimmung Konsensfiktionen als funktionale Aquivalente eintreten." (Hahn 1983: 226)

In der weiteren Ausdifferenzierung des Begriffs der Konsensfiktion kommt Hahn auf „Niveaus der Fiktionsbildung" zu sprechen. Auf dem kognitiven Niveau etwa entsteht Fiktionsbildung da, „(•••) wo einer oder beide Partner den fiktiven Charakter der Fiktion durchschauen. Hier wird aus der Fiktion ein bewusstes 'Als-Ob', das etwa aus Bequemlichkeit, aus Rucksichtnahme oder auch zu einseitiger oder beidseitiger Ausbeutung strategisch in eine Interaktion eingebaut werden kann" (Hahn 1983: 226). Allerdings seien „viele Konsensfiktionen solchen drastischen kognitiven Proben keineswegs ausgesetzt, folglich eine kognitive Spannung im oben beschriebenen Sinne gar nicht entsteht". (Hahn 1983: 227)

Ein anderes Niveau ist das emotionale. Fiktionen seien u.U. auch emotionalem Druck ausgesetzt. In einem solchen Falle „muss der Schein gewahrt werden, ohne dass der Schein als Schein sichtbar wird. Aber davon, dass dies gelingt, kann das Sein der Beziehung abhangen" (Hahn 1983: 228). SchlieBlich das moralische Niveau der Konsensbildung, auf welchem Offenheit und Ehrlichkeit als unverzichtbar angesehen werden, das Vertrauen in die konsensbildende Kraft des Gesprachs sich zwar als Fiktion erweise, gleichwohl aber weit verbreitet sei.

4. Exkurs: Der Status des 'Als Ob' im menschlichen Handeln. Zur theoretischen Begriindung des Begriffs 'Fiktion' Wir finden bei Hahn keine Definition des Begriffs „Fiktion", offenbar unterstellt Hahn ein Alltagsverstandnis dieses Begriffs. Demnach ist Fiktion „etwas, was nur in der Vorstellung existiert; etwas Vorgestelltes, Erdachtes" (Duden). Brockhaus' Enzyklopadie schlieBt sich dem wortlich an. In den Sozialwissenschaften wie auch in der Philosophic findet dieser Begriff allerdings groflere Beachtung.

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Eine klassische Konzeption des Begriffs der Fiktion finden wir bei Hans Vaihinger (Vaihinger 1924). Fiktionen weisen demnach vier Hauptmerkmale auf: „Eine willkurliche Abweichung von der Wirklichkeit, also ein Widerspruch mit derselben." (Vaihinger 1924: 102) Die Fiktion wird „(...) provisorisch gebraucht (...), bis die Erfahrungen bereichert sind, oder bis die Denkmethoden so gescharft sind, dass jene provisorischen Methoden durch definitive ersetzt werden konnen." (Vaihinger 1924: 103) „Das Hauptmerkmal einer normalen Fiktion ist das ausdrucklich ausgesprochene Bewusstsein, dass die Fiktion eben eine Fiktion sei, also das Bewusstsein der Fiktionalitat, ohne den Anspruch auf Faktizitat." (Vaihinger 1924: 103)

Hier weist nun Vaihinger, der seine Beispiele meist der Philosophie oder den Wissenschaften oder dem professionellen Handeln entnimmt (vgl. etwa die heute hochst aktuelle Bemerkung zum fiktiven Status von 'Freiheit' in der Jurisprudenz, die manche aktuell von Hirnforschern angestoBene Kontroverse entscharfen wtirde; ebd.: 118 f.), darauf hin, dass dort zwischen Fiktion und Tatsache gern einmal kein Unterschied gemacht werde, da „der natiirliche Mensch das Gesagte unmittelbar fur nattirlich und wirklich nimmt" (Vaihinger 1924: 103). Das vierte Hauptmerkmal bezieht sich darauf, dass Fiktionen „Mittel zu bestimmten Zwecken sind". (Vaihinger 1924: 104)

Fiktionen dienen somit dazu, das Handeln und damit die Lebenspraxis zu ermoglichen (Vaihinger 1924: 66). Fiktionen haben dariiber hinaus einen passageren Status: „Der Fehler muss rttckgangig gemacht werden, indem das fiktiv eingeflihrte Gebilde einfach wieder hinausgeworfen wird" (Vaihinger 1924: 118). Dies bedeutet, dass letztlich die Fiktionen eine doppelte Gestalt annehmen, je nach dem, an welcher Stelle sie im Prozess des Handelns auftreten: Einerseits dienen sie der Rationalitat der Lebenspraxis, aber da sie irrational sind, werden sie aus dieser ausgeschlossen, wenn sie ihre Funktion erflillt haben.2 Diese Konzeption der Fiktion ist als Philosophie des Als Ob bekannt geworden; Anfang des 20. Jahrhunderts erfreute sie sich groBer Popularitat. Konsens- und Dissensfiktionen dienen dazu, folgen wir der Philosophie des Als Ob, eine alltagliche Lebenspraxis dadurch aufrechtzuerhalten, dass vorubergehend so gehandelt wird, als ob ein gewisser Sachverhalt gegeben sei, also ein 2

Sie haben damit den Status des 18. Kamels aus jener Geschichte, die uber Heinz v. Foerster bekannt geworden ist (Segal 1988: 9). Diese Geschichte kann aber, sofern Fragen der Lebenspraxis betroffen sind, nur metaphorisch verwendet werden, da sie ursprunglich dazu gedacht war, ein Grundlagenproblem der Mathematik zu verdeutlichen. Schon gar nicht ist sie als Beleg fur die Behauptung geeignet, dass die Welt eine Erfindung sei.

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Konsens oder ein Dissens, ohne dass es (im Augenblick des Handelns) daflir konkrete Anhaltspunkte gibt. Der Status des Passageren bedeutet demnach, dass bei den Handelnden die Erwartung besteht, dass in der Zukunft ein Zustand eingetreten sein wird, in welchem die Fiktion entfallen kann. Handeln im Modus des Als Ob setzt somit Vertrauen in eine vorerst offene Zukunft voraus, nimmt aber fiktiv diese Zukunft als festlegbare vorweg. Von Vaihingers Philosophie des Als Ob ist in der Folge vielfach in den Sozialwissenschaften Gebrauch gemacht worden, ohne dass immer explizit auf die Quelle Bezug genommen worden ist. Dies mag damit zu tun haben, dass der Begriff des Als Ob seinerzeit so popular war, dass jedermann ihn mit Vaihingers Namen assoziierte, auch wenn er nicht genannt wurde; wahrscheinlicher aber ist, dass es sich Vaihingers Popularitat wegen einfach nicht schickte, ihm Eingang in die eigenen Texte zu gewahren. Max Weber beispielsweise verwendet expressis verbis den Begriff des Als Ob im Zusammenhang mit seiner Behandlung von Rechtsordnung, Brauch und Sitte oder mit Herrschaft in Wirtschaft und Gesellschaft (Weber 2005: 247 bzw. 695, beachte hier vor allem die diskret distanzierende FuBnote), zitiert Vaihinger aber nicht. Alfred Schtitz zieht in seiner Analyse der mannigfaltigen Wirklichkeiten ebenso wie in seiner Don Quichotte-Studie zum „Problem der Realitat" (Schutz 1971, 1972) den Begriff des Als Ob heran, ebenfalls ohne Verweis auf Vaihinger. Schtitz' Behandlung des Als 06-Themas bringt uns hier entgegen aller Erwartungen nicht weiter, weil Schutz die Alltagswirklichkeit der Als <9fc-Welt des Traums und der Phantasie gegenuberstellt (v. a. in Schutz 1972), wahrend es uns um den Stellenwert der Fiktion innerhalb der „ausgezeichneten Wirklichkeit des Alltags" (Schutz) selbst geht. - Neuerdings ist nicht mehr von Als Ob, stattdessen nur noch von Fiktion die Rede. In der an Schutz angelehnten wissenssoziologischen Perspektive der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik etwa wird die Position bezogen, dass „(...) tendenziell jeder Kommunikationsakt durch metakommunikative Beigaben eine fiktionale Qualitat erhalt: Ich muss anzeigen, dass etwas so und nicht anders gemeint ist, weil es auch anders gedeutet werden kOnnte; und indem ich dies anzeige, verweise ich auf das sonst noch Mogliche, dem hier der Wirklichkeitsakzent entzogen wird, den es an anderer Stelle erhalten k6nnte"(Soeffner2004: 170 f.).

Und schlieBlich, um diese Aufzahlung zu einem Ende, wenn auch nicht zur Vervollstandigung zu bringen, sei die radikal konstruktivistische Variante der Systemtheorie erwahnt. Fur Niklas Luhmann stellt im schulischen Erziehungsprozess „taktvolle Kommunikation" als Kommunikation, „die nicht ganz so gemeint ist, wie sie sich darstellt" (Luhmann 2004: 248), einen Ausweg aus der Paradoxie des Erziehungswesens dar, die durch den Widerspruch von Einfluss193

nahme auf den Schtiler und dessen individueller Autonomic gebildet wird. Paul Watzlawick, der sich explizit auf Vaihinger bezieht, nennt seine therapeutische Praxis der paradoxen Verschreibung von Symptomen an Patienten neuerdings die „Therapie des Als Ob" (Watzlawick 1998).

5. Dissensfiktionen in Paarbeziehungen Kommen wir zuriick zur Frage nach der Paarbeziehung, die wir als Einheit von Liebe (=Nahe) und Partnerschaft (=Distanz) behandeln. Fiktionen, so Hahn, haben wirklichkeitserzeugenden Charakter, ohne sie konne eine Gesellschaft bzw., bezogen auf das hier verhandelte Thema: eine Paarbeziehung, nicht bestehen. Es ist eben, um auf Berger und Kellner und deren Auffassung, es sei das Gesprach, das nomosbildenden Charakter in der Paarbeziehung hat, zuriickzukommen, mit dem Reden nicht getan. Dieses Reden muss auch auf einer Vertrauensbasis stehen, die im Wesentlichen auf Fiktionen beruht. Dass die Paarbeziehung noch eines weiteren Strukturelements, der leiblichen Fundierung, bedarf, wird sowohl bei Berger und Kellner als auch bei Hahn nicht erwahnt, soil uns aber, tiber die einleitenden Bemerkungen in diesem Beitrag hinaus, noch beschaftigen. Oben haben wir bereits darauf hingewiesen, dass fur Hahn Dissensfiktionen fur den Erhalt der Stabilitat einer Paarbeziehung ebenso wichtig sind wie Konsensfiktionen. Allerdings hat Hahn diesen Gedanken nicht weiter verfolgt. Wir halten dies jedoch fur unverzichtbar, da wir, wie wir im einleitenden Abschnitt unter Ruckgriff auf Aron Gurwitsch sowie auf den Ansatz von Gtxnter Burkart und Cornelia Koppetsch bereits angedeutet haben, der Auffassung sind, dass Paarbeziehungen ein soziales Gebilde darstellen, das aus zwei Strukturmerkmalen besteht, die zusammengehoren, aber nicht ineinander aufgehen konnen. Zum einen besteht eine Paarbeziehung aus der Liebesbeziehung, die auf Verschmelzung angelegt ist. Zum Zweiten besteht sie aus der partnerschaftlichen Beziehung zweier Individuen, die in freier LFbereinkunft zustande gekommen ist. Wir konzentrieren uns im Folgenden anhand eines Fallbeispiels auf Dissensfiktionen in Paarbeziehungen und andern zunachst ein Zitat Hahns, in welchem er von Konsensfiktionen spricht, in geeigneter Form ab: „Die Bedeutung von Dissens fur das Bewusstsein des Paares (...) macht es in hohem MaBe wahrscheinlich, dass bei Knappheit realer Unterscheidung Dissensfiktionen als funktionale Aquivalente eintreten."

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Anders formuliert: „Der Bedarf an Dissensfiktionen ergibt sich aus der Differenz von Dissensnachfrage und Dissensangebot". Man kann dies auch einfacher formulieren: Wo Dissens knapp ist, weil die Verschmelzung dominant geworden ist, miissen Fiktionen einspringen. Und genau hier kommt die Als ObTheorie zum Tragen: Wenn die kritische Situation gelost ist, wird die Fiktion entbehrlich, sie kann herausfallen, sagt Vaihinger.

Fallbeispiel: Ein Interview mit zwei Paaren zum Thema Treue Im Rahmen einer Gruppendiskussion stellen wir zwei Paaren die Ergebnisse unserer computergestutzten reprasentativen Telefonumfrage zum Zusammenleben in Paarbeziehungen vor.3 Das erste Paar ist verheiratet. Der Mann ist von Beruf Ingenieur4 und befmdet sich derzeit im Erziehungsurlaub, um flir den gemeinsamen seinerzeit knapp einjahrigen Sohn zu sorgen. Seine Frau ist medizinisch-technische Assistentin und an einer Klinik in Basel beschaftigt. Auch das zweite Paar ist verheiratet. Es soil hier genauer vorgestellt werden, da das von uns herangezogene Material sich auf dieses Paar bezieht. Dr. Scott ist Hautarzt in eigener Praxis, wahrend Frau Dr. Scott-Bornemann als Arztin am Gesundheitsamt angestellt ist. Sie haben sich vor ca. 10 Jahren im Medizinstudium kennen gelernt. Herr Scott, der noch drei Brttder hat und zum Zeitpunkt des Interviews 36 Jahre alt ist, stammt aus einer Familie aus dem Wirtschaftsburgertum einer oberrheinischen Industriestadt, die einige Turbulenzen hinsichtlich Trennungen hinter sich, diese aber sehr gut gemeistert hat und heute eine sehr hohe KoMsion aufweist, die sich insbesondere im extensiven gemeinsamen Feiern von Familienfesten (insbesondere Weihnachten) ausdriickt, sehr zum Missfallen von Frau Scott-Bornemann. Frau Scott-Bornemann ist zwei Jahre jtinger als ihr Mann und hat noch einen jtingeren, unverheirateten Bruder. Sie stammt aus einer badischen Weingegend, hat nach dem Abitur zunachst eine Ausbildung als medizinisch-technische Assistentin gemacht und dann Medizin studiert. Ihre Eltern verfugen beide tiber eine akademische Ausbildung (die Mutter arbeitet als Vorschulpadagogin, der Vater als Wirtschaftsprufer). Frau Scott-Bornemann beschreibt ihr Elternhaus eher als rigide und wenig flexibel, was das Miteinander anbelangt. 3

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Es handelt sich um das Projekt „Junge Paare zwischen 18 und 38 in Siidwestdeutschland, Deutschschweiz und Vorarlberg", durchgefuhrt im Auftrag des Ausbildungsinstituts fur systemische Therapie in Meilen/Zurich von Ulrike Borst, Silvia Dinkel-Sieber, Bruno Hildenbrand, Andrea Schedle und Rosmarie Welter-Enderlin mit Unterstiitzung von Christopher Hausmann. Das Interview fand 2004 start und wurde von Ulrike Borst und Bruno Hildenbrand gefuhrt. Personenbezogene Daten geandert.

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Das Paar ist kinderlos, was beide mit ihrer anspruchsvollen Berufstatigkeit begriinden. Ein Kind sei zwar geplant, jedoch habe bisher kein Zeitpunkt fur Schwangerschaft und Geburt gefimden werden konnen, der sich mit den ktinftigen beruflichen Interessen insbesondere von Frau Scott-Bornemann in Einklang bringen lieBe. Im folgenden Gesprachsauszug, der nun herangezogen wird, um ein Beispiel fur Dissensfiktionen in Paarbeziehungen zu geben, spricht vorrangig das zweite Paar. Die fragliche Interviewpassage5 beginnt mit einer Feststellung des Interviewers: H: „Treue ist ein zentraler Wert bei siebzig Prozent der Befragten, je junger sie sind, desto mehr, wenn Kinder da sind, desto unproblematischer ist das Thema. Wie sehen Sie das?" (2)

Auf diese Frage nach Treue in Paarbeziehungen und damit nach den elementaren Strukturmerkmalen6 der Solidaritat des gemeinsamen Lebenswegs und der Nichtaustauschbarkeit von Personen erfolgt nach einer zweisekiindigen Pause eine Rtickfrage des Ingenieurs sowie ein „mhm" seiner Frau, gefolgt von einem viersekiindigen Schweigen. Das Thema wird offenbar nicht leicht angenommen. (In anderen Gesprachspassagen in diesem Interview kamen keine Pausen vor, die so lange dauerten; lediglich die Frage nach dem Kinderwunsch bei Paar 2, dem kinderlosen Paar, zog eine dreisektindige Pause nach sich.) Dann aber antwortet die Arztin mit einer grundsatzlichen Feststellung: FS: „Grundvoraussetzung der Beziehung. Also wir sind beide keine eifer-siichtigen Menschen im Sinne von misstrauisch was machst du was hast du gemacht wer ist die Frau die da standig riiber guckt, also, kenn ich nicht kennt er auch nicht also, da (ist) ganz normaler Umgang aber (-) also fur mich ist Treue Grundvoraussetzung ah der Beziehung (,) ah eine Voraussetzung fiir mich ist ah ja (!) wenn der Seitensprung passieren wtirde (,) dass ich es erfahre (,) und die Konsequenz ware fur mich die Beendigung der Beziehung."

Die Sprecherin fiihrt zunachst einen Rahmen des unbedingten Vertrauens innerhalb ihrer Paarbeziehung ein, um dann, nach einem „aber", die AusschlieBlichkeit der Paarbeziehung ohne Wenn und Aber zu konstatieren. Zentral ist dabei die Formulierung „der" Seitensprung, also nicht irgendeiner, sondern der Sei5 6

Transkriptionszeichen: Kursiv = betont; (.) kurze Pause; (2) Pause, Lange in Sekunden; (ist) unklare Transkription; (-) Stimme in der Schwebe; (,) Stimme senken; (!) Stimme heben; ((lacht)) Kommentar; [ Unterbrechung; Wir betonen: StrukturmQrkmalQn. Diese sind zu trennen von empirisch vorfindbaren Sachverhalten und haben den Status von elementaren Orientierungsmustern, denen man folgen bzw. gegen die man verstoBen kann. Entscheidet sich jemand fur letzteres, besteht lebenspraktisch gesehen Begrundungspflicht, wahrend es (noch) nicht begrundungspflichtig ist, sich fiir diese Muster zu entschieden.

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tensprung an und fur sich. Allerdings folgt hier eine signifikante Einschrankung: „Wenn ich es erfahre". Dies lasst demnach eine Hintertiir offen: 'Was ich nicht weiB, macht mich nicht heiB'. An dieser Hintertiir setzt der Interviewer an, indem er als nachstes auBert: H: „Manche Leute differenzieren ja zwischen sozusagen es kam iiber ihn (,) oder sie und es war ein Ausrutscher oder (,) man halt es fur eine ernsthaftere Geschichte und je nach dem wird der einmalige Ausrutscher akzeptiert."

Darauf die Arztin: FS: „Das wiirde bei mir Misstrauen verursachen also ich glaube dass das schwerste Problem was ich damit hatte ware das ich mein Vertrauen verlieren wiirde einfach das ist einmal ein Ausrutscher kann wieder ein Ausrutscher passieren." HS: „dann ist der Bruch schon geschehen"

In konsequenter Orientierung an ihrer Formulierung von „dem" Seitensprung verfolgt damit die Arztin eine Logik des Dammbruchs, die sich aus ihrer vorigen Formulierung eines „Seitensprungs an sich" zwanglos anschlieBt, und sie wird bestatigt von ihrem Mann. Daraufhin wendet sich der Interviewer an den Ehemann der Arztin und fragt ihn: H: „Also mit dieser Bemerkung habe ich das Gefuhl (,) sind Sie mit ihrer Frau einig (!)" HS: „Ja (!) also (-)"

Dieses „Also" mit folgender Stimme in der Schwebe, das einem „Ja" folgt, dessen gehobene Stimmlage uneingeschrankte Zustimmung signalisiert, weist daraufhin, dass die Zustimmung so uneingeschrankt nicht sein kann. Es entsteht damit eine Uneindeutigkeit. Herr Scott fahrt fort: HS: „erstens bietet sich nicht die Gelegenheit (ist fur mich wirklich ein abstraktes) Thema das ich (mir) kaum vorstellen kann (,)" FS: „Gott sei Dank (!) ((lacht))"

Nun folgt eine Reihe von Begriindungen, weshalb fur Herrn Scott ein Seitensprung, besser gesagt, „der" Seitensprung, nicht in Betracht kommt. Unter „erstens" werden zwei Begriindungen geliefert: die mangelnde Gelegenheit und die Abstraktheit des Themas. Beide weisen auf Anderungen hin, falls die Bedingungen fur diese Grtinde entfallen. Bedingung 1 ware, dass es Gelegenheit gibt, Bedingung 2 ware, dass eine Bewegung vom Abstrakten zum Konkreten stattfmdet. Diese Ambivalenz wird von Frau Scott-Bornemann aufgenommen in dem erleichterten „Gott sei Dank", das sofort konterkariert wird in einem Lachen, derm die gelieferten Begriindungen fur den nicht erfolgenden Seiten197

sprung beziehen sich auf nicht vorhandene Moglichkeiten und nicht auf ein uneingeschranktes Nichtinfragekommen eines Seitensprungs. Da kann man auf die zweite Begriindung gespannt sein. HS: „(...) und ((lauter)) zweitens ist es so wenn (-) wenn man so (eine) extreme Erwartung hat wie sie" FS: ((lacht)) HS: „(...) jetzt und man ganz genau weiB (,) was ware wenn, ((leiser)) stellt sich ftlr mich das auch nicht"

Die zweite Begriindung von Herrn Scott geht dahin, dass der Seitensprung aufgrund der kompromisslosen Haltung seiner Frau nicht in Frage kommt - wiirde sie sich flexibler zeigen, wiirde er sich die Sache anders iiberlegen. Das aber heiBt, dass Herr Scott seiner Frau zuliebe und nicht aus eigener Uberzeugung uneingeschrankt „den" Seitensprung ablehnt. Der Arzt hat aber noch eine dritte Begriindung gegen „den" Seitensprung zu liefern: HS: „Und drittens aahm (1,5) gebe ich zu (da bin) ich auch relativ konservativ. Also eine offene Beziehung, wo jeder machen kann, was er gerade mag ist ((sehr leise)) (...)"

Jetzt klinkt sich Herr Scott wieder auf die Position seiner Frau ein. Aber erst, nachdem er zunachst einmal unter der Fahne des Einverstandnisses mit seiner Frau einen Dissens formuliert hat, der gleichwohl als Ambivalenz daherkommt, die von seiner Frau als solche erkannt wird. Auf diese Weise wird ein Konsens mitgeteilt, nachdem fiktiv ein Dissens erzeugt worden ist. Dieser Konsens wird jedoch fast unhorbar vorgetragen, im Gegensatz zu dem im zweiten Grund lautstark angefuhrten pragmatischen Argument, dass bei dieser Ehefrau der Ehemann gut daran tut, ihren kompromisslosen Ansatz nicht auf die Probe zu stellen. In dieser Textstelle zeigt sich also zum Thema Dissensfiktionen Folgendes: Die Dissensfiktion dient dem Ehemann dazu, eine Ubereinstimmung (einen Konsens) mit seiner Ehefrau so zu formulieren, dass die mit der Ehefrau tibereinstimmende Position als eigene Position ausgewiesen werden kann. Die Dissensfiktion dient also der Aufrechterhaltung von Distanz im Kontext einer unbefragten Nahe. Die Dissensfiktion ist nicht explizit ausgesprochen. Sie ist versteckt in einer ambivalenten Formulierung, wird aber gleichwohl von der Ehefrau bemerkt. Dazu passt schlieBlich, dass die Dissensfiktion lauter vorgetragen wird als der offene Konsens, der somit wiederum versteckt wird. Damit bekommt der Dissens ein groBeres Gewicht als der Konsens.

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7. Dissens- und Konsensfiktionen und ihre Rolle bei den Modi des Paarlebens von Liebe und Partnerschaft Konsens- und Dissensfiktionen operieren in je unterschiedlichen Modi des Zusammenlebens als Paar. Wir greifen hier die oben angestellten Uberlegungen zur Einheit von Liebesbeziehung und Partnerschaft in der Paarbeziehung auf, die sich an Aron Gurwitsch einerseits, Burkart und Koppetsch andererseits anschlieBen. Da sich das Modell der auf erotischer Solidaritat (= Liebe) gegrundeten Paarbeziehung historisch durchgesetzt hat, konnen wir davon ausgehen, dass die beiden Modi Liebe und Partnerschaft nicht einander ausschlieBende Modi des paarweisen Zusammenlebens sind, sondern je unterschiedliche Perspektiven auf das Paar ausmachen. In der Liebesbeziehung steht die Nahe, in der Partnerschaft steht die Distanz im Vordergrund. Beide zusammen bilden eine Einheit und konstituieren das Paar seit der fruhen Moderne. Wo die Perspektive der Liebe im Vordergrund steht, entfalten Dissensfiktionen ihre Wirkung. Sie garantieren fur jenes MaB an Distanz, auf das das moderne Subjekt angewiesen ist, soil es in der Paarbeziehung nicht untergehen. Wo die Perspektive der Partnerschaft im Vordergrund steht, spielen Konsensfiktionen eine Rolle, denn Partnerschaft gestaltet sich aus der Distanz und ihrem Gegensttick, der Ubereinkunft bzw. dem Vertrag. Die jeweils dominante Form der Fiktion kann daher als Indikator fur das jeweilige (situative) Vorherrschen des Liebes- oder des Partnerschaftsmodus dienen. Wichtig dabei ist, dass sich Dissensfiktionen (und vermutlich auch Konsensfiktionen, die wir hier nicht untersucht haben) unbemerkt, oder besser gesagt: im Vorpradikativen und nicht im Pradikativen ereignen. Dem raschen Horen entgehen sie, entsprechend entfalten sie ihre Wirkung im Untergrund. Der Sozialwissenschaftler erkennt sie dann, wenn er sie sequenzanalytisch erschlieflt. Unsere Feststellung vom Zusammenhang von Dissensfiktionen mit der Perspektive der Liebesbeziehung, von Konsensfiktionen mit der Perspektive der Partnerschaft muss im Hypothetischen verbleiben, weil soziologisch zwar problemlos die partnerschaftliche Seite von Paarbeziehungen untersucht werden kann, methodisch aber die Soziologie mit leeren Handen dasteht, wenn es um die Seite der Liebe (der Verschmelzung) geht. Mit der Rekonstruktion entsprechender Semantiken (Luhmann 1982) im Stil postmoderner Kopfgeburten ist es hier nicht getan; bei Liebe und Intimitat geht es korperlich zur Sache, und wo dies passiert (im Badezimmer etwa, vgl. Burkart/ Koppetsch 2004, S. 86), hat der empirische Sozialforscher nichts zu suchen. Auf festerem Grund bewegen wir uns, wenn wir uns dem Status der Fiktion im Definitionsprozess von Paarbeziehungen zuwenden. Das Mittel der Fiktion garantiert, dass die Aushandlung des jeweiligen Modus, in anderen Worten: die 199

Selbstthematisierung (Hahn 1987), entfallen kann. Rainer Winter hat zu Recht darauf hingewiesen, „dass die Familie keine effektive Institution der Selbstthematisierung sein kann, da die schonungslose Selbstenthtillung unweigerlich zur Zerstorung der personlichen Beziehungen fuhrt" (Winter 1990: 251). Wir wollen in diesem Zitat das Wort „Familie" durch das Wort „Paar" ersetzen und folgende These formulieren: Eine Paarpraxis, die durch einen reflexiven Dauerdiskurs gepragt ist, zerstort sich letztlich selbst. Die Fiktion garantiert ihren Erhalt - bis auf weiteres. Diese These konnen wir gedankenexperimentell weiter verfolgen, indem wir uns fragen, was gewesen ware, wenn in der analysierten Gesprachssequenz die Ehefrau auf die von ihrem Mann erzeugte Dissensfiktion eingestiegen, d.h. reflexiv thematisiert und damit aus dem Reich des Vorpradikativen herausgezogen hatte. Und was wurde es fur diese Paarbeziehung bedeuten, wenn es sich dabei nicht nur um ein einmaliges Ereignis, sondern um eine habitualisierte Disposition handeln wtirde? Es wiirde sich um einen Fall von Paarbeziehung handeln, die, folgt man den Theoretikerinnen und Theoretikern der 'reflexiven Moderne', sich in einer generalisierten Situation der Dauerreflexion befmdet - wobei 'Dauer' relativ zu sehen ware, derm auf lange Sicht ist ein solcher Alltag paarweisen Zusammenlebens nicht auszuhalten. Die steigenden Scheidungsziffern sowie der Rtickgang der Verheiratetenquote (bei gleich bleibend hoher Bindungsquote von ca. 80 %, vgl. Klein 1999) scheinen daflir zu sprechen. Zygmunt Bauman hat fur diese Entwicklung die Formel gefunden, dass in der „Fliichtigen Moderne" „(...) Partnerschaften und soziale Bindungen wie Dinge behandelt und wahrgenommen [werden], die man konsumieren kann (...) nicht wie ein Projekt, an dem man fortwahrend arbeiten muss und das gelegentlich Opfer erfordert". (Bauman 2003: 193)

Die Frage ist, was „fortwahrend arbeiten" heiBt. Theoretiker der 'Zweiten' (oder eben „fluchtigen") Moderne wie Ulrich Beck und Anthony Giddens legen nahe, dass dieses Arbeiten im reflexiven Diskurs besteht, der sich von der situativen Bewaltigung von Interaktions- und Sinnkrisen der Paarbeziehung gelost hat und im Dienste einer kontinuierlichen Selbstdarstellung steht. Das oben vorgestellte Paar ware, folgen wir dieser Diagnose, ein Vertreter der 'ersten Moderne', die dadurch gekennzeichnet ist, dass Reflexivitat phasenweise und in Krisen erforderlich wird und, wenn die Krise gelost ist, wieder vergeht, wahrend die Routine durch Konsens- und Dissensfiktionen langfristig gesichert wird. Dieses Paar ware, so gesehen, nicht mehr 'up to date' und insofern fur eine Zeitdiagnostik der Situation von Paaren nicht tauglich. Wir halten dem gegentiber daran fest, dass Baumans kulturpessimistische Diagnose in dem MaBe einer empirischen Uberpriifung nicht standhalt, in dem 200

sie als Beschreibung eines schon bestehenden oder in Kurze eintretenden 'Normalfalls' herangezogen wird. An zwei BefUnden werden wir dies belegen. Erstens Ziehen wir unsere bereits (in FuBnote 4) erwahnte Studie iiber junge Paare in Stidwestdeutschland, Deutschschweiz und Vorarlberg heran. Diese Studie, die reprasentativ ist und sowohl die stadtischen als auch die landlichen Bereiche der Untersuchungsgebiete erfasst, zeigt, dass die Befimde einer „reflexiven Moderne" milieuspezifisch zu gewichten sind und keinesfalls als Aussage iiber Zustandlichkeiten oder als Trendaussage postindustrieller Gesellschaften taugen7: Die vorliegende Studie spiegelt den ambivalenten Charakter der untersuchten Partnerschaften bei Menschen zwischen 18 und 39 Jahren wider. Auf der einen Seite zeigt sich auf der Einstellungsebene, dass Paare heutzutage moderne und an weitgehender Gleichberechtigung orientierte Denkmuster besitzen. Auf der anderen Seite zeigt sich, dass die Zeiten traditionellen Rollenverstandnisses von Mann und Frau noch nicht vorbei sind. Das MaB dieser Traditionalis t und des Strukturkonservatismus, vor allem bei der Geschlechtsrollenorientierung, ist dabei erstaunlich hoch, auch bei Frauen. Generell zeigen sich in dieser Untersuchung Frauen deutlich starker auf die gemeinsame Beziehung, das 'Wir' hin orientiert. Manner dagegen entwickeln dazu eine erkennbar groBere Distanz und Unverbindlichkeit. Frauen erfahren eine weitaus hohere Diskrepanz zwischen intendierter und faktischer Gleichberechtigung. Sie investieren wesentlich mehr, um die Familienstruktur aufrecht zu erhalten, als dies die Manner zu tun bereit sind. Die Geburt leiblicher Kinder bildet fur Partnerschaften einen gewissen Wendepunkt, ab dem sich spatestens die traditionellen Strukturen wieder revitalisieren und die Paarbeziehung bestimmen. Neben einer starken Orientierung an eher pragmatischen Erfordernissen zeigt sich in der Untersuchung ebenso, dass es die traumerischen Paarbeziehungen als Modell 'idealer Liebe' noch gibt. Geborgenheit, Liebe und der Wunsch nach Kindern sind starke Gemeinsamkeiten der untersuchten Personen, und dies quer zu sozialstrukturellen Merkmalen oder landsmannschaftlichen Zugehorigkeiten. Der Partner oder die Partnerin werden als weitgehend konkurrenzlos und einzigartig wahrgenommen, insbesondere zu Beginn der Partnerschaft, die Verbindung durch Treue und gegenseitigen Respekt gesichert. Prinzipiell erscheint

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Wir beziehen uns hier auf den Endbericht zur computergesttitzten Umfrage (Hausmann 2002). Auswahlverfahren: dreifaches Zufallsverfahren auf der Ebene der Sample-Points (Kreise bzw. Kantone; random dial mit last two digits-Methode), Haushalte und der Zielpersonen mit lastbirthday-Methode; disproportionale StichprobengrOBen. Befragte: 801 Personen zwischen 18 und 39 Jahren (deutschsprachige Schweiz: 400, Vorarlberg: 80, Baden-Wurttemberg: 321), die in einer Partnerschaft leben, ungewichteter Datensatz. Fehlertoleranzen: bei 50 % ± 5%; bei 5 % ± 2,0 %. Die Auswertung der qualitativen Daten steht noch aus.

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die aktuelle Partnerschaft unbegrenzt, solange die Partner gliicklich miteinander sind. Kinder sind dabei kein dominanter Grund, um jeden Preis beieinander zu bleiben. Die Ehe ist nach wie vor die wichtigste Organisationsform der Partnerschaft. Sie steht auch fur den Wechsel des grundlegenden Charakters einer Partnerschaft, die zu Beginn noch starker auf korperliche Attraktivitat und Affekte gebaut ist. Mit zunehmender Dauer der Partnerschaft steigt die Bedeutung von Bindung, Zuverlassigkeit und Kontinuitat. Die abnehmende Bedeutung korperlicher und sexueller Reize wird dabei als unvermeidlich akzeptiert. Eine stabile und lange Beziehung kann daher auch ein gewisses MaB an Untreue oder Neuorientierung durch einen der Partner ertragen, ohne dass sie als solche nachhaltig gefahrdet erscheint. Die landsmannschaftlichen Unterschiede zwischen deutschsprachigen Schweizern, Vorarlbergern und Befragten aus Baden-Wurttemberg sind insgesamt recht schwach ausgepragt. Lediglich bei einigen wenigen Punkten, wie z.B. der Frage nach der Ablosung aus der Herkunftsfamilie, zeigen sich signifikante Unterschiede. Dabei fallt auf, dass die Befragten aus Vorarlberg sehr traditionell denken und insgesamt eher den deutschen Befragten ahneln als den Schweizern (Hausmann 2002: 4). Ein zweiter Beleg fur die These, dass die Verbindlichkeit von Paarbeziehungen nicht einer Disposition gewichen ist, die Paarbeziehung selbst als voriibergehende, von standiger Selbstreflexion gepragte Veranstaltung zu halten, zeigt eine Rekonstruktion der Vorgehensweise von Experten der Krisenbewaltigung in Paarbeziehungen. Hier zeigt sich, dass Paartherapeutinnen und Paartherapeuten den soziologischerseits konstatierten reflexiven Beziehungs-Dauerdiskurs nicht fur einen modernisierungsbedingten Sachverhalt ansehen, der zu respektieren ist. Dies ist insbesondere deshalb bemerkenswert, weil Paartherapeuten erfahrungsgemafl, sofern wir uns auf das (in diesem Feld bedeutende) Segment der systemisch Arbeitenden beschranken, sensitiv gegenuber sozialwissenschaftlichen Perspektiven sind. Folgerichtig gehen sie von einem Paarkonzept sozusagen der 'ersten Moderne' aus, demzufolge Nahe und Distanz immer ein prekare Balance sind, die es aufrechtzuerhalten gilt. Entsprechend entwickeln sie Mittel und Wege, Paare dabei zu unterstiitzen, diese Balance herzustellen. Dabei ist die Erfahrung auf ihrer Seite. Therapeuten haben den Vorteil des ungefilterten Zugangs zu Situationen von Paaren in der Krise. Und weil Paartherapien Zeit brauchen, erhebungstechnisch gesprochen also mehrere Messzeitpunkte vorliegen, im gtinstigen Fall sogar Katamnesen durchgefuhrt werden (WelterEnderlin 2003), konnen hier Entwicklungen beobachtet werden. Damit wird ein Erfahrungsfundus begriindet, der in hervorragender Weise dazu geeignet ist, die

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im Lehnstuhl bequem zu formulierenden „post-modernen" Hypothesen in der rauen Wirklichkeit zu testen. Hans Jellouschek und Rosmarie Welter-Enderlin beispielsweise schlagen folgendes „Prozessmodell paartherapeutischen Handelns" vor: „Auf konkrete Entscheidungen hinarbeiten; Lebensthemen erschlieBen, unerledigte Geschichten zu Ende bringen; Stress reduzieren (oder induzieren) durch erweiterte Problembeschreibung ('Symptome sind Vorboten von Wandel'); Konkrete Regeln und Handlungsschritte vereinbaren; Affektive Rahmung und Erhaltung einer sicheren Basis in der Begegnung." (Welter-Enderlin und Jellouschek 2002: 207)

So tritt an die Stelle einer therapeutisch begleiteten Dauerreflexion, die den Bereich des Vorreflexiven verlassen und sich verselbstandigt hat, die Induktion handlungsorientierter Strukturveranderungen in Situationen einer konkret vorliegenden Krise. Jellouschek und Welter-Enderlin, deren Klientel auch aus jenen Bevolkerungsgruppen stammt, die in besonderer Weise Trendsetter der 'reflexiven Moderne' sind, fallen nicht auf die Einladung ihrer Klienten herein, in ihren Chor einzustimmen, sondern setzen dem die Konzepte von Paarbeziehungen aus der 'ersten Moderne' entgegen. Sie ftihren keineswegs einen Sisyphos-Kampf gegen den unaufhaltsamen Strom der 'reflexiv gewordenen Moderne', die sich von alien Traditionen gelost hat und nur noch frei schwebende, zunehmend bindungsunfahige Individuen hervorbringt, sondern halten daran fest, dass bei jedem Paar unterschiedliche Zeitstrukturen (universelle Strukturen von Bindung und Autonomic, historische Strukturen der Regulierung von Paarbeziehungen, Milieustrukturen mit je eigenen Auspragungen von Individualist, vgl. dazu auch Hondrich 2000) sich wechselseitig durchdringen. In ihrem Vorgehen bestatigen sie die Kritiker der 'Zweiten Moderne', von denen einer schreibt: „Die Rede von einer ganz neuen, eben reflexiven Moderne ist nur auf der Basis einer doppelten Ahnungslosigkeit oder Amnesie" (WeiB 1998: 417) eben dieser Vielschichtigkeit von Strukturen gegentiber moglich. Abschlieflend sei eine Prognose gewagt: Unsere Auffassung ist, dass die Tendenz zur reflexiven Selbstthematisierung insbesondere bei der urbanen Mittelschicht gegeben ist. Jedoch hebelt diese Tendenz auf lange Sicht die Balance von Nahe und Distanz als einem der zentralen Strukturmerkmale von Paarbeziehungen in der Moderne nicht aus. Eine dauerhafte Destabilisierung dieser Balance fflhrt zu einer Einschrankung der personlichen Autonomic der Akteure sowie der Autonomic des Paares, die krisentrachtig und gegebenenfalls, ein therapeutisches Arbeitsbundnis vorausgesetzt, behandelbar ist.

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Holger Herma Das erzahlte Ich in der Liebe. Biografische Selbstthematisierung und Generationswandel in einem modernen Kulturmuster

1. Einleitung „Fiir die meisten Gefuhle haben wir keinen passenden Ausdruck mehr. Wir haben Hunger und sagen, dass wir arbeiten wollen. Wir frieren und sagen, dass wir ein Haus besitzen wollen. Wir sehnen uns nach Solidaritat und sagen, dass wir verliebt sind. Die Liebe ist nur ein Trummerhaufen der Geftihle und die Familie eine Neurosenkuche. Der Mann unterdriickt die Frau, die Frau racht sich am Kind, das Kind ist eifersiichtig auf den Vater, der Vater hat ein schlechtes Gewissen vor der Mutter. Die Mutter erdriickt das Kind mit Liebe. Das Kind versucht zu fliehen. Der Vater gibt der Mutter die Schuld. Die Mutter erinnert an die Pflicht. Der Vater vertritt den Staat. Das Kind revoltiert. Die Mutter weint, der Vater schlagt zu. Es gibt einen Faschismus der Gefuhle. Wir sprechen diese Wahrheit aus. Danach ist nichts mehr so, wie es vorher war." (Reitz 1993: 896)

Die hier zitierte Textpassage entstammt der Filmchronik „Die zweite Heimat" von Edgar Reitz. In der ausgewahlten Szene liest der Protagonist 'Hermann' in einer Ausgabe der Illustrierten 'Stern' aus dem Jahre 1968 von einer, wie es dort heiBt: „Deutung der Liebe", zu der sich eine Kommunardin 'Katrin' bekenne. Der Artikel ist uberschrieben mit: „Das ist die Liebe der Kommune". Es handelt sich dabei zwar um eine reale Ausgabe der Illustrierten aus dem Spatherbst 1968 mit dem Titel „Deutschlands schonste Kommunardin", in der ein Interview mit Uschi Obermaier ('Kommune I') abgedruckt ist. Allerdings ist dieser Text in der Originalausgabe nicht zu finden, und Edgar Reitz lieG auf Anfrage verlautbaren, er habe sich lediglich am ikonografischen Frame der Darstellung orientiert und dazu schliefllich einen eigenen Text verfasst. Auch wenn - oder vielleicht gerade weil - es sich damit um eine kollektive Selbstbeschreibung aus 'zweiter Hand' handelt und die Textpassage insgesamt stilisiert und tiberzeichnet wirkt, werden darin Regeln der Selbstpositionierung im historisch Sozialen sichtbar. Ganz auffallend ist im Zitat von einem 'Wir' die Rede. Dieses 'Wir' trifft Aussagen iiber sich selbst und setzt sich dabei in ein Verhaltnis zur Gesellschaft, von der es umgeben ist. Kurz: Es wird eine Art Gegenwartsdiagnose getroffen. 207

Drei Deutungsaspekte stehen dabei im Zentrum: Eine Kulturdiagnose ('Es gibt einen Faschismus der Gefuhle'), eine Selbstbeschreibung kollektiver Inkompetenz ('keinen passenden Ausdruck fur eigene Gefuhle finden konnen') und schlieBlich eine Losungsstrategie (bzw. eine Handlungslogik) als Reaktionsweise auf die wahrgenommene Problemlage, also das 'Aussprechen von Wahrheit'. Folgt man nun der Logik von Katrins Deutung der Liebe, ist die Suche nach einer 'passenden Form' fur 'Gefuhle' im Wertesystem der restaurativen Nachkriegszeit nicht mehr erfolgreich, hier ist gewissermaBen kein passender, kein widerspruchsfreier Selbstentwurf in der Liebe moglich. Die burgerliche Familie wird als Quelle sozialer Pathologie wahrgenommen, deren Welt der Liebe erscheint als Trugbild und als Maske fllr sich dahinter vollziehende Entfremdung und Zerstorung. Die regulative Idee, die darin das Bild der Liebe bestimmt, ist die Idee der Entlarvung des Falschen und der Forderung nach Selbstaufklarung tiber ein noch zu findendes 'Wahrhaftiges'. Es handelt sich bei der Passage damit um eine Konfigurationsbeschreibung einer bestimmten (Jugend-)Generation, die von gewissen Theorieangeboten sozialpsychologischer Provenienz von Wilhelm Reich bis hin zu den klassischen Vertretern der Kritischen Theorie Ende der 1960er Jahre gepragt ist. Deutungsmuster in Bezug auf die Liebe, wie sie hier sichtbar werden, sind Gegenstand des vorliegenden Beitrags.1 Mit zeitlichem und raumlichem Bezug zur Geschichte der alten Bundesrepublik Deutschland frage ich nach der historisch-biografischen Situierung solcher Uberzeugungen. Hintergrund ist die generelle Frage nach dem Bedeutungswandel der Liebe seit der Nachkriegszeit. Dazu greife ich Karl Mannheims (1928) wissenssoziologisches Konzept der „historischen Generation" auf und argumentiere fur diese Frage mit generationsspezifischen Mustern der Selbstthematisierung in der Liebe. Anschlussreich ist dies ftir die soziologische Theoriebildung, da das Kulturmuster Liebe nicht nur eine wichtige EinflussgroBe fur moderne Paar- und Familienbeziehungen und fur die Entwicklung privater Lebensfuhrung darstellt, sondern die jeweilige Codierung, Diskursivierung und (Be-)Deutung der Liebe zugleich uber moderne Konstruktionen von Individualist und Subjektivitat in deren jeweiliger lebensweltlichen Einbettung informiert. Insbesondere die romantische Liebe ist heute eines der elaboriertesten Medien des „romantischen Individualismus" (Eberlein 2000), hier treffen zwei Individuen als 'Hochstpersonliche' aufeinander, und zwar genau deshalb und dafur. Ftir die Untersuchungsfrage wird auf Selbstbeschreibungen von Personen der Geburtsjahrgange zwischen 1940 und 1980 zuruckgegriffen. Biografien dieser Jahrgange fallen in eine Zeitspanne erheblichen Wandels privater Lebens1

Fur Ratschlage und Hinweise danke ich Gunter Burkart, Michael Corsten und Andreas Hirseland.

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formen. Wenn auch nicht milieuiibergreifend (vgl. hierzu Burkart/ Kohli 1992), sind doch traditionelle Gewissheiten innerhalb der Handlungsfelder Paar, Ehe und Familie insgesamt deutlich erodiert, vielfaltige kulturelle Alternativhorizonte sind hinzugetreten. Romantische Liebe als Kulturmuster ist jedoch nicht verschwunden und auch nicht ganzlich vom Partnerschaftsleitbild ersetzt worden. Liebe ubt noch immer spezifische Ordnungsfunktionen aus: Ob als Leitbild bei der Beziehungsanbahnung, als Legitimation fur Sexualitat und Treue oder als Vermittlerin spezifischer Geschlechterordnung(en). Die Forschung hat dies nicht iibersehen und bemuht sich gerade in jtingerer Zeit verstarkt um die Analyse des Zusammenwirkens des Liebescodes mit anderen Codierungen personlicher Beziehungen, wie auch um das 'Doing Gender' in der Liebe. Allerdings ist die Frage, wie sich das 'individuelle Ich' in seinem Selbstentwurf in der romantischen Liebe auch als 'historisches Ich' entauBert, bislang kaum erschlossen worden. Fur diese Verbindung zwischen Individualgeschichte und Kollektivgeschichte bieten biografische Selbstthematisierungen eine ausgezeichnete Basis. Der Beitrag ist damit im Bereich einer empirisch angelegten Wissenssoziologie verankert, die - um diesen etwas veralteten Begriff von Karl Mannheim zu verwenden - die 'Seinsverbundenheit' von Denkformen und Lebensweisen erforscht. Zunachst gehe ich auf den sozialen Konnex zwischen romantischer Liebe und der modernen Individualitatssemantik ein (2). Im Anschluss (3) werden die Argumente fur eine (historische) Generationsanalyse des Wandels der Liebe erortert. Nach der Beschreibung des Samples, der methodischen Vorgehensweise (4) und des historischen Kontexts (5) dienen ausgewahlte Fallvignetten als Belege der dargestellten Thesen (6). AbschlieBend werden die Ergebnisse historisch systematisiert und nach ihrem theoretischen Ertrag hinterfragt (7).

2. Der soziale Konnex zwischen romantischer Liebe und Individualisierung Das Thema Liebe wird im Folgenden als ein symbolisch konstituierter Prozess des Bedeutungsgebrauchs, genauer: als ein sprachgeregeltes Repertoire sozialen Wissens in den Blick genommen (Corsten 1993). Sprachpragmatisch gedacht: Man braucht nicht erst in die Psyche der Liebenden hineinzuschauen, um zu verstehen, welches Sprachspiel (L. Wittgenstein) 'gespielt' wird. Die Herausbildung der modernen romantischen Liebessemantik ist eng verschrankt mit der Ausdifferenzierung des modernen Kommunikationstypus 'Individuality (vgl. Luhmann 1982; A. Hahn 1987; Beck/ Beck-Gernsheim 1990; Burkart 1997, 1998; Willems/ Willems 1999), oder pointierter formuliert: Romantische Liebe 209

und moderne Individualisierung sind koevolutiv. Doch was heiBt eigentlich 'moderne Liebessemantik'? Gemeint ist jenes (Liebes-)Leitbild, das gegenwartig das popularste Motiv der Partnerwahl und damit zentrales 'ideologisches' Fundament moderner Paarbeziehungen darstellt (Lenz 2003b). Kern der romantischen Liebesbeziehung ist das Prinzip der individuellen Hochstrelevanz des (geliebten) Anderen um seiner selbst willen (vgl. Burkart 1997, 1998; Burkart/ Koppetsch 2001; Corsten 1993; Giddens 1993; Ivanyi/ Reichertz 2002; Lenz 2003b), d.h. in der Liebe ist das Individuum als ganze Person einbezogen und nicht als Trager von Rollen oder spezieller Eigenschaften. Ftir Tyrell (1987) ist Liebe daher kein blotter Zufall, sondern ein aktiver Selektionsprozess mit dem Ziel, eine ganz „bestimmte individuelle Person" (ebd.: 571) zu praferieren, woflir es quasi keinerlei Begrtindung gibt, die mit etwas anderem zusammenhangt als genau mit der Individualitat dieser Person. Diese Logik macht die Liebe zu einem eigenstandigen Systemtypus personlicher Beziehungen (vgl. Leupold 1983; Koppetsch 1998; Lenz 2003b).2 In ihrer historischen Genese hat sich die moderne Liebessemantik als fimktionales Aquivalent des sich seit dem 18. Jahrhundert verbreitenden btirgerlichen Eheideals herausgebildet, griindend auf einem normativ abgestutzten Regime komplementar gedachter Charaktereigenschaften von Frauen und Mannern. Dass sie als kulturelles Ideal den Funktionswandel personlicher und familiarer Beziehungen seither hartnackig tiberdauert hat, also bemerkenswert persistent ist, hangt mit ihrem kulturellen Bedeutungskern in Form eines Identitatsversprechens der biirgerlichen Gesellschaft zusammen: Liebe verheiBt, moderne Diffusionserfahrungen abmildern zu konnen. Als Medium moderner Subjektivitatserfahrung in personlichen Nahbeziehungen verspricht Liebe, das Auseinanderdriften moderner Lebensweltbeztige quasi institutionell 'zahmen' zu konnen.3 Aus dieser modernisierungstheoretischen Perspektive konstatiert Niklas Luhmann (1982), das moderne, „sozial ortlos" (ebd.: 16) gewordene Subjekt suche in der Liebe mittels „hochstpersonlicher Kommunikation" - als Bestati2

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Mit der Einschrankung auf den Typus 'romantische' Liebe sind andere Liebes-Typen bewusst ausgeklammert, etwa die Eltern-, Geschwister- oder die christliche Liebe. Diese folgen anderen kulturellen Imperatives wie auch der moderne Partnerschaftscode: Wahrend sich Partnerschaften an der Maximierung individueller Gewinne orientieren und in diesem Sinne egalitdren Charakter haben (vgl. Giddens 1993; Leupold 1983; Koppetsch 1998), entzieht sich die Liebesbeziehung den auf EntwicklungsfOrderung beruhenden Ansprilchen der partnerschaftlichen Beziehung tendenziell durch ihre Eigenlogik der (Sich-)Selbst-Gerechtigkeit. Unterschiedlich akzentuiert argumentieren bereits Max Weber und Georg Simmel mit der Ausdifferenzierung von Wertspharen und der Entstehung der Individualitatssemantik als eine der konstitutiven Bestimmung moderner Gesellschaften. In den Worten von Herbert und Marianne Willems (1999: 345 ff.) werden dabei moderne Liebe ebenso wie Kunst und Religion zu „Korrespondenzraumen" als „Begegnung mit dem Gottlichen; diese Begegnung bedeutet aber jetzt: Begegnung mit dem eigenen Selbst".

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gung seines individuellen Welterlebens - nach einer „Validierung der Selbstdarstellung" (ebd.: 208). So wie die moderne Individualitatssemantik eine sozial valide Definition des Selbst voraussetzt, erfordert somit auch die moderne Liebessemantik ein (dem eigenen und dem Anderen gerecht werdendes) 'sozial valides Selbst in der Liebe'. Derm in Kontrast zu den unpersonlichen Kommunikationen einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft verheiBt Liebe 'Ganzheit des eigenen Selbst', sie verspricht einen sozialen Ort, das Ich als 'echt', als 'authentisch', kurz: als widerspruchsfrei zu erleben. Dies erscheint als direkte Konsequenz davon, dass die moderne Individualitatssemantik tiberhaupt die Suche nach personlicher 'Authentizitat' und 'Identitat' in das Zentrum moderner Selbstentwtirfe gestellt hat.4 Demzufolge beschreibt Luhmann die Gegenwartssemantik der Liebe mit dem Code der „Problemorientierung", der die Funktion habe, „Reflexion von Autonomie bzw. Selbstreferenz" zur Geltung zu bringen (ebd.: 51). „Problem" heiBt an dieser Stelle: Das 'Valide' in der Liebe zu bestimmen, wird zunehmend zur Aufgabe der Einzelnen, die Tradition hat als Ratifizierungsinstanz an Wert verloren. Als Konsequenz wird die Liebe 'innerlicher', es entsteht eine Art Logik des reflexiven 'Sich-Verstehens', oder in Luhmanns Worten eine „Internalisierung des subjektiv systematisierten Weltbezugs eines anderen" (ebd.: 30), was soviel bedeutet wie das Versenken des psychischen Ichs in das psychische Ich des jeweils Anderen. Das Postulat der 'Problemorientierung' bringt damit die zentrale Problematik der modernen Individualitatssemantik ganz prinzipiell zum Ausdruck. Das 'Problem' lautet namlich: Wie komme ich zu einem 'wahren Selbst' (Turner 1976)? Und: Welche Kriterien kann ich hierzu geltend machen? Es kann also behauptet werden, ein solches Muster zu erkennen, heiBt, ein Denk- bzw. Rationalitatsmodell von Individualist zu beherrschen. So wie der historische Wandel unterschiedliche Bildungsgeschichten von Individuality hervorbringt, sind im historischen Ablauf damit auch in Bezug auf die Liebe unterschiedliche Denk- bzw. Rationalitatsmodelle erwartbar. Die Ausgangslage ist im Grunde also einfach: Der Hochstrelevanzanspruch im modernen Liebescode erzeugt quasi aus sich heraus einen Bedarf nach Techniken der Selbstreflexion. In der einen oder anderen Weise geht es immer um das Problem, wann Liebe 'authentisch' ist, wann bloB 'behauptet', und: Welche Handlungen sind zu ihrer Entstehung und Aufrechterhaltung erforderlich? Dass die Vergewisserung daruber nicht an objektiven Regeln abmessbar ist, vielmehr kulturspezifisch variiert, ist unmittelbar evident. In diesem Sinne bestimmt Giinter Burkart (1997: 7) Liebe und Paar als 'historisch variable(s) Kulturmuster', 4

Vgl. hierzu Bohn/ Hahn (1999: 50 ff), die aufzeigen, wie der Authentizitatsbegriff im Verlauf der Moderne an Innerlichkeit, Individualist und Einzigartigkeit und damit an die Idee einer „inneren Natur" des Subjekts gekoppelt wird.

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mit dem zwei wesentliche Merkmale angezeigt sind: Intersubjektivitat und Historizitat. So 'liebf das Individuum zwar immer in (s)einer 'hochstpersonlichen' Weise (jedenfalls ist diese Originalitatsfiktion fur den modernen Liebescode geradezu konstitutiv), jedes gehegte Authentizitatsmuster ist jedoch zugleich historisch geformt, es gibt somit immer eine iiberindividuelle (Wissens-)Komponente im Liebesbegehren.

3. Argumente fiir eine Generationsanalyse zum Wandel der Liebe Es gibt gute Griinde, zur Klarung der biografischen Ausbildung solcher kollektiven Pragungen auf die Adoleszenzphase zurtickzugreifen. Folgt man Karl Mannheims (1928) Modell einer besonderen 'Erlebnisschichtung' adoleszenter Lebensphasen, sind hierbei Orientierungs- und Kommunikationsfelder angesprochen, in denen eine besondere Sensibilitat fur Individualitatsentwurfe besteht (vgl. Corsten 2001). Setzt man voraus, dass sich in dieser Passage wichtige Aspekte sozialer Identitat konstituieren, wird der Eintritt in Jugend und Adoleszenz gleichzeitig der Eintritt in das Thema der Liebe in seiner jeweiligen historischen Ausformung. Die gesellschaftlichen Problemstellungen, die zeitlich und raumlich dort gegeben sind, sind daher generationspragend, die adoleszente Liebeserfahrung wird zur generationsspezifischen Erfahrung. Sofern kann vorausgesetzt werden, dass in Liebesbeziehungen in der Adoleszenz kollektiv gtiltige Kriterien der Selbstzuschreibung produziert werden. Obwohl zentrale Aspekte der Personlichkeitsentwicklung auf einer offenen Struktur der Biografie beruhen, gibt es doch ein Alter, in dem es zur Sattigung basaler Orientierungsanspruche kommt und elementare Deutungsroutinen biografisch dauerhaft etabliert werden. Verlauft dieser Prozess kollektiv, endet hier praktisch die 'formative' Phase der Generationsbildung (vgl. Corsten 2001). Man befmdet sich trotz anderweitiger sozialer Differenzen in der gleichen historischen Situation, es kommt zur Schematisierung des Erlebens historischer Ereignisse, und das nach Orientierung und Abgrenzung suchende Individuum wird zum Angehorigen einer historischen Generation.5 Diese Grundtiberlegung hat Karl Mannheim (1928) im Blick, wenn es ihm um die gemeinsame, „Arten und Weisen des Erlebens, Denkens, Ftihlens und Handelns" (ebd.: 41) beschrankende soziale Lagerung benachbarter Geburtsjahrgange geht. Die Pointe seines Generationskonzepts besteht nun gerade darin, dass auch in spateren Lebens5

Auf einer solchen Basis gemeinsamer Erfahrungsaufschichtung und Wirklichkeitsdeutung kOnnen sich Generationen gegeneinander profilieren, sie kOnnen aber auch intern differieren, dort, wo die Verarbeitung des bindenden Generationszusammenhangs in verschiedene „Generationseinheiten" (Mannheim 1928) streut.

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phasen ein ungefahr gleicher Bezugshorizont bindend bleibe. Das Selbst versuche seiner Zeit gerecht zu werden, auch und gerade dann, wenn es sich explizit gegen die herrschenden Normen wende.6 Es ist darin aber nicht deterministisch festgelegt, sondern erwirbt sich wahrend der Phase der Adoleszenz Autonomie, um die Losungsofferten der herrschenden Kultur am eigenen Lebensentwurf zu (iberpriifen und gegebenenfalls zu modifizieren. Dadurch kann sozialer Wandel entstehen, da dieser Prozess durch das standige Neu-Hinzutreten von 'Kulturtragern' (ebd.) in den historischen Raum fortwahrend ablauft. Der historische setzt sich damit gegen den familiar en Generationsbegriff (vgl. Rosenthal 1997) ab, letzterer adressiert primar vertikale Beziehungs- und Interaktionsmuster verwandtschaftlicher Verhaltnisse. Mit Mannheim verfolgt man jedoch das Interesse der (historischen) Konfiguriertheit von Wissensbestanden, sein Ansatz der historischen Generation lasst sich verstehen als Existenz relationaler (historisch gebundener) 'Kraftfelder der Deutung'. Aus diesem Grund hangt das Bestehen einer historischen Generation nicht notwendig von einem 'expliziten' Kollektivbewusstsein ab. Das Gemeinsame einer Generation lasst sich vielmehr als 'implizit' sinnstiftender Bezugshorizont begreifen, die Abfolge historischer Generationen ist gemaB dieser Sichtweise eine Abfolge unterschiedlicher (kollektiv) sinnstiftender Bezugshorizonte. Bei der Beschaftigung mit biografischen Erfahrungen in der Liebe, stellt sich die Frage, wie Verknupfungen von personaler Identitat und historischkultureller Identitat empirisch verfolgt werden konnen, die sich sowohl in Auffassungen von Liebe als auch in darauf bezogenen Selbstentwtirfen ausfmdig machen lassen.7 Denn: Uber Liebe kann man vieles erzahlen, hier interessiert aber im Besonderen das Moment der Selbsthistorisierung. Fur Heinz Bude zum Beispiel (vgl. allein 1995) stellt dies ein Phanomen (eine „OrdnungsgroBe") moderner Selbstthematisierungen tiberhaupt dar. Immer starker wtirden sich die Einzelnen als Experten der schicksalhaften Verstrickung der eigenen Biografie mit 'auBeren' geschichtlichen Ablaufen tiben. Die generelle Zunahme biografischer Reflexivitat kann zwar als eine der Hauptfolgen gesellschaftlicher Individualisierung auf der Subjektebene betrachtet werden (vgl. Burkart 2004), 6

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Zu Recht bemangelt Gabriele Rosenthal (1997) an Mannheims Generationskonzept eine zu starke Fixierung auf die Adoleszenzphase. Einerseits halt sie seinen Jugendbegriff fur zu hermetisch, andererseits pladiert sie fur ein Konzept, wonach Generationsbildung mittels intergenerationeller Kommunikation in verschiedenen Lebensaltern moglich sei. Mannheim scheint (aufgrund einiger vager, jedoch nicht systematisch ausgearbeiteter Verweise beispielsweise zu friihkindlichen Dispositionen) selbst im Blick gehabt zu haben, dass sich Generationen nicht allein in der Adoleszenz konstituieren. Die hier vorgenommene Auslegung des Mannheim'schen Generationskonzepts im Sinne speziflscher historischer 'Kraftfelder der Deutung' erscheint mir jedoch in Bezug auf die Untersuchungsfrage hinlanglich anschlussf&hig. Identitat fasse ich in Anlehnung an Bonn/ Hahn, A. (1999: 36) als „Beschreibung von Individualitat", also immer als kommunikative Praxis.

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versteht man Individualisierung in einem engen Sinne als Freisetzimg aus traditionellen Weltiiberzeugungen. Ob und warum man sich heute gegebenenfalls auch in der Liebe verstarkt mit geschichtlichen Kategorien uber individuelles Gluck oder Ungluck informiert, ist sicherlich eine interessante Fragestellung, der jedoch an anderer Stelle eingehender nachgegangen werden miisste. Blickt man in die Literatur, ist der Forschungsstand zum (Bedeutungs-)Wandel der Liebe in kleinen Zeitformaten vergleichsweise schmal. Trotz oder gerade wegen der Vielzahl historisch-deskriptiv weit gespannter Studien besteht noch wenig Klarheit darttber, wie dieser Wandel mit 'historischen Tragergruppen', d.h. mit der biografischen Erfahrung konkreter sozialer Akteure korreliert. Die Ebene des realitatsverarbeitenden Subjekts in der Liebe tiberhaupt wirkt vernachlassigt. Das Defizit besteht meist darin, nicht aufzuzeigen zu konnen, wie die historische Zeiterfahrung in der individuell-biografischen Entwicklung im (expliziten oder impliziten) Kollektivbewusstsein eines Generationszusammenhangs kulminiert. Es fehlen daher noch gesattigte empirische Befunde, urn strukturelle Gemeinsamkeiten in der Zuschreibungslogik des Gelingens von Intimitat in historisch kollektiv verankerten Lebensverlaufen ermitteln zu konnen. Auch Luhmanns Theorem der „Problemorientierung" (vgl. oben) ist dazu wenig tiefenscharf. Es bleibt der zeithistorisch geringen Auflosung in Jahrhundert-Epochen verhaftet, und es ist zu vermuten, dass dabei eine ganze Reihe historischer Variationen und Bruche der 'Problem-Semantik' unter den Tisch fallen. Es fehlt ein konzeptioneller Zugriff auf kiirzere Zeitrhythmen, und offen bleibt die Frage nach der Selbstthematisierung in der Liebe bei Personen, die in unterschiedlichen historischen Abschnitten des 20. Jahrhunderts aufgewachsen sind und damit unterschiedlich an Modernisierung und Individualisierung partizipiert haben. Kritik ist auch geboten, wenn Individualisierung 'unilinear' gedacht wird: Vielmehr ist von mitunter raschen sozialisationsgeschichtlichen Bruchen auszugehen, die quer zur Annahme groBer Epochenbruche stehen (oder sie zumindest relativieren), wie etwa das Modell des Ubergangs von einer 'einfachen' zu einer 'reflexiven' Moderne (vgl. Beck/ BonB 2001). Damit ist es lohnend, Erzahlkonstruktionen im Verhaltnis von 'Ich' und ('auBerer') Geschichte naher zu betrachten, denn hierbei handelt es sich um eine bislang wenig beachtete spezielle Form des Selbstbezugs, dem Ich in der Liebe eine konsistente narrative Form zu verleihen. Meine Uberlegungen zielen daher auf die innerhalb der Soziologie der Liebe durchaus vernachlassigte zeitdiagnostische Perspektive in kleinen Zeitformaten.

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4. Sample und methodisches Vorgehen Meine Datenbasis sind 28 Interviews (offen, halbstandardisiert) mit Personen der Geburtsjahrgange 1940-1980. Samtliche Personen sind in der Bundesrepublik Deutschland geboren und gehoren mittleren sowie hoheren Bildungsschichten an. Die jeweils ein- bis dreistiindigen Gesprache, in denen die Befragten gebeten wurden, biografische Erfahrungen zu Liebe und Paarbeziehung zu schildern, wurden zwischen 1996 und 2003 durchgefiihrt.8 Ziel der vorgenommenen (Deutungsmuster-)Analyse ist die Rekonstruktion einer inneren Regelhaftigkeit, d.h. einer Koharenz des Bildes der Liebe bzw. ihrer 'regulativen Idee' (Corsten 1993: 321) vor dem Hintergrund von Normalitat und Krise. Fallvergleichend wurde nach gemeinsamen Sinnstiftungen und Basisiiberzeugungen mit dem Ziel gesucht, die 'Grenzen' einer Generation zu bestimmen. Deutungsmuster konnen allerdings nicht mit Einstellungsvariablen oder statistischen Massendaten entfaltet werden, vielmehr zwang die Untersuchungsfrage zu einer hermeneutischen, sinnrekonstruktiven Vorgehensweise, um Raum fur die innere Entfaltung von Sinnstrukturierungsprozessen zu gewahrleisten. Das heiBt, in narrativen Selbstbeschreibungen sind Personen dazu gezwungen, eine Programmatik ihrer Subjekthaftigkeit zu entwerfen. Die Selbstbeschreibung in biografischen Texten erlaubt somit den (inhaltlichen) Nachvollzug der Selbstthematisierung als Sprechen uber die eigene Erfahrungsgeschichte wie auch Zugang zur formalen Struktur der Selbstdarstellung im Entwurf von Individualis t . Im Zentrum der Analyse stand daher die Suche nach einem impliziten und insofern diskursiv wenig zuganglichen Regelwissen der Subjekte, welches aber die Wahrnehmung von Problemfeldern strukturiert und in seiner Ordnungsfunktion von Erfahrung unmittelbaren Praxisbezug hat (Meuser/ Sackmann 1992). Insofern haben Deutungsmuster zur sozialen Wirklichkeit an der lebenspraktischen Konstitution der selben Wirklichkeit ordnend teil, sie stellen immer ein Korrelat sozialer Wissensformen dar.9 8

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Eine besondere Aufgabe stellte sich, die unterschiedliche Erlebnisaufschichtung von im Durchschnitt etwa dreiBig Jahre auseinander liegenden Geburtsjahrgangen methodisch plausibel einzubeziehen. Die Altersabhangigkeit der Erzahlperspektiven wie auch die unterschiedlich groBen biografischen Erfahrungsschichtungen mussten in Kontrast gesetzt werden. Zudem wurde eine raumliche Einschrankung auf Biografien der alten Bundesrepublik vorgenommen. Die Voraussetzungen der Geschichte der privaten Beziehungen in der DDR und der alten Bundesrepublik sind nicht umstandslos vergleichbar: Zum Beispiel befOrderte die primar staatlich pradisponierte Ordnung der Lebensverlaufe in der DDR (ohne legitimen Raum fur biografische Alternativhorizonte abseits subkultureller Nischen) deutlich andere biografische Sinnhorizonte als in der Bundesrepublik. Hier ist eine diese Differenzen konzeptionell berticksichtigende Vergleichsstudie erforderlich. Dem Deutungsmuster liegt so gesehen ein abgeschwachter Praxis-, genauer: ein sprachpragmatischer Begriffvon Praxis zugrunde. Ein solcher Ansatz eignet sich auch als LQsungs-Variante

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5. Synopse historischer Rahmenbedingungen beim 'erzahlten Ich in der Liebe' Wie sehen die zeithistorischen Kontextbedingungen fur Erzahlungen in der Liebe aus? Einige zentrale Koordinaten sollen hierzu skizziert werden. Die im Folgenden vorgenommene (idealtypische) Dreier-Schematik ftihrt dabei bereits zu meiner Kernthese: Vor der Folie des historischen Zuschnitts des Samples behaupte ich drei zentrale, sinnstiftende Bezugshorizonte der Erfahrung, die das erzahlte Ich in der Liebe pragen. Bei dmfruhen Jahrgangen des Samples - den etwa um 1940 bis in die friihen 1950er Jahre Geborenen - fallt die Adoleszenz in die Zeit eines restaurativen Nachkriegsklimas mit dem Primat des Muslich-privaten Sektors, das bewahrungsstrategisch Konformitat mit den Normen einer vergleichsweise alternativlosen Normalbiografie oder im Gegenzug eine Auflehnung gegen diese Normen einfordert. Die wenigen Nachkriegsjahre unkontrollierter Libertinage waren zu Ende gegangen, und die progressiven Stromungen der 20er Jahre wurden von der restriktiven Familienpolitik der fruhen Bundesrepublik nicht wieder aufgenommen. Die fruhe Erwachsenenphase, als Gelegenheitsstruktur und zugleich als SchlieBung der Formgestalt dieses Generationszusammenhangs, fallt aber bereits in die Zeit der Liberalisierung und damit der Uberkommenheit dieser Normenvorgaben. Die Eroffiiung von Chancen autonomer Selbstentwiirfe auf der Grundlage der Abwagung ihrer Legitimitat oder Illegitimitat wird dabei sinnstiftend. Erst die Option zu postmateriellen Wertbindungen - dort, wo die Losung „Partnerschaft als Lebenskampf (Schelsky 1957) nicht mehr zog - schuf die Moglichkeit zu biografischen Alternativhorizonten. Die restaurativen Sozialvorgaben werden fragwiirdig, auch wenn sich dies noch nicht an der 'faktischen' Lebensftihrung dieser Kohorte ablesen lasst (vgl. Corsten 2001). Die Liberalisierung der Sexualmoral und die rasche Verbreitung der 'Pille' - als maBgebliche Voraussetzung fur einen Einstellungswandel zum vorehelichen Geschlechtsverkehr - entzog der Ehe jedoch sukzessiv das Privileg zur Intimitat. Der die Vorstellungen der 50er Jahre noch kennzeichnende 'TriebMoral-Konflikt' wird damit nicht einfach auBer Kraft gesetzt, sondern zunachst umgekehrt: So heiBt es beispielsweise in einer Vergleichsstudie der Zeitpunkte 1966 und 1981 bei Ulrich Clement (1986: 39 ff.), das moralische Motiv bleibe erhalten, das in Ideologieverdacht geratene, weil 'freie Liebe' verhindernde btirgerliche Liebesideal werde aber subversiv zugunsten des „Du sollst" - Motivs gewendet. In Gang kommt auch die feministisch motivierte Entlarvung gangiger Weiblichkeitsmythen, die darauf zielte, eine defizitare Autonomic im mit Bezug auf Giinter Burkarts (1998) Diagnose eines bislang innerhalb der Soziologie der Liebe noch nicht befriedigend gewonnenen Begriffs der „Praxis".

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Liebesleben von Frauen aufzuzeigen und das Gelingen von Liebe an gleichberechtigte sexuelle Erfullung zu binden. Kritisiert wurde auch, dass die sich aus dem Ehe- und Familienregime allmahlich herauslosende Liebe seitens der Manner immer unverdeckter durch die Warenformigkeit der Sexualitat ersetzt wurde (vgl. Baackmann 1995).10 Es ist jedoch bekanntlich nicht die vollkommene Umwalzung personlicher Lebensverhaltnisse, welche die 68er-Revolte hervorgebracht hat, eher ware zu sprechen von einer im Modus gesteigerter Subjektivitat verkorperten neuen Kultur der Selbstvergewisserung und Selbstthematisierung. Keine Handlung im Privaten ist nunmehr selbstverstandlich, sondern verlangt nach reflexiver Begnindung (vgl. Bude 1995). In den Worten von Ralph Turner (1976): Die Suche nach dem „wahren Selbst" ist nun nicht mehr „institutionell", sondern „impulsiv" gebunden. Bei den mittleren Geburtsjahrgangen, den ungefahr Mitte der 1950er Jahre bis etwa Mitte der 1960er Jahre Geborenen fallt die Adoleszenz in eine sich bereits liberalisierende und pluralisierende Wohlstandgesellschaft hinein, in der alternative Lebensentwtirfe tolerabel geworden sind. Angesprochen ist die Jugendgeneration der Zeit sozialliberal gepragter Bildungseuphorie, bzw. die Angehorigen der 'Angstgeneration', die in eine Risikogesellschaft (U. Beck) mit postmateriellen Sinnanspriichen, gesellschaftlichen Krisendeutungen und der Ausweitung postadoleszenter Moratorien hineinwachsen (vgl. Corsten 2001). Mit der breiten Verfugbarkeit und Akzeptanz von Verhutungsmitteln sind Liebesbeziehungen anders als bei den Jahrgangen davor nicht mehr unmittelbar verkntipft mit Fragen nach den sozialen und materiellen Folgebedingungen fur Elternschaft, wodurch auch der Zusammenhang von Liebe und Elternschaft eine andere, sich Freiraume verschaffende Qualitat erfahrt. Auch die fortschreitende Verrechtlichung von Lebensverhaltnissen im Familien-, Schul- oder Kinderrecht seit den 60er Jahren entbindet die Einzelnen zunehmend von externer sozialer Kontrolle durch Eltern und Staat. In der formativen Phase dieser Generation wird die Infragestellung patriarchalischer Leitbilder als Folge der allmahlichen Etablierung feministischer Diskurse 'normaler', und die Frage nach Gleichbe10 Die Trager des Diskurses der 'sexuellen Revolution' - die linksintellektuelle '68er'-Studentenbewegung - ist als (avantgardistische) Generationseinheit und damit als spezifischer Typus der Bewaltigung ihrer Generationserfahrung zu werten. Mit ihrer emphatischen Uberbetonung des subversiven Potentials 'befreiter' Sexualitat haben sie aber diese Erfahrung in besonderer Weise ftffentlich mediatisieren und in einem gewissen Sinn auch dominieren kOnnen. Hierzu Petersen (1930: 40): „In jeder Generation mOgen die verschiedenen Typen in der gleichen Mischung vorhanden sein, aber einem bestimmten Typus ist es vorbehalten, zur Zeit seines Hervortretens in eine gespannte Zeitlage hinein das ziindende Wort zu schleudern, das als Gebot der Stunde, als eine neuen Parole, die junge Generation einigt." Das dem utopischen Charakter der Idee der 'Sexuellen Revolution' zugrunde liegende Befreiungs-Theorem scheint jedoch einem Begriff vom lebenspraktisch konstitutiven Realitats-Ich in der Sinnlichkeit schuldig geblieben zu sein (vgl. auch Herma 2001).

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rechtigung der Geschlechter stellt keine Sonderfrage subkultureller Frauenzirkel mehr dar. Insgesamt weicht die Orientierung an konventionellen Sittlichkeitsnormen einer „Psychologisierung" des Intimitatsdiskurses (Clement 1986). Die spdten Geburtsjahrgange, die etwa ab Ende der 1960er bis Ende der 1970er Jahre Geborenen, haben bereits Eltern der friihen oder auch mittleren Jahrgange des Samples, und sie wachsen in eine hochindividualisierte, multioptionale Gesellschaft hinein. Emanzipatorische Leitideale sind bereits Standard ihres generationsspezifischen Bildungswissens, und der akademischen Generationseinheit sind dariiber hinaus die radikalkonstruktivistischen Pramissen der Gender/Sex-Debatte vertraut. Die neue Qualitat des gemeinsamen Bezugshorizontes besteht gegeniiber den mittleren Jahrgangen darin, eigene Identitatsentwtirfe gegen eine Lebenswelt zu behaupten, die permanent variabel, optional und kontingent erscheint.

6. Fallvignetten aus drei Generationen Die nachfolgenden Vignetten illustrieren fallspezifische Schemata der Deutung, mittels derer die Befragten ihre individuell wahrgenommene Problemkonstellation in der Liebe an eine historische Zeittypik binden. Vor der Folie der oben skizzierten historischen Rahmungen informieren sie zugleich tiber die individuelle Verarbeitung jeweiliger Zeiterfahrung. Nicht maximale intragenerationelle Kontraste stehen im Zentrum des Fallvergleichs, sondern die Suche nach den Spuren einer Generationstypik und damit nach den Konturen von Generationsdifferenzen. Auf der Inhaltsebene ist mitunter in einem Fall biografisch schon eine Entwicklung weiter fortgeschritten als in einem anderen, alle Befragten orientieren sich jedoch an den Imperativen der romantischen Liebe.

6.1 Die friihen Jahrgange: Ingeborg S.: Ausweg aus der 'Harmonie auf alien Kanalen' Die 1942 in einem bildungsbiirgerlichen Elternhaus aufgewachsene Ingeborg S. ist Leiterin einer Werbeagentur und gehort der Generationslagerung dGrfiktiven Kommunardin 'Katrin' an. Ingeborg S. war 15 Jahre verheiratet, hat zwei Tochter und lebt seit Scheidung der Ehe in den 80er Jahren allein. Zu Beginn des Interviews wird sie nach ihren ersten biografischen Erinnerungen in Bezug auf romantische Liebe gefragt:

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„Sagen wir mal, ich bin also eher mit den Schattenseiten als allererstes in Beruhrung gekommen, dazu muss ich insofern etwas ausholen, meine Mutter und ich wir waren wahrend des Krieges evakuiert auf ein Dorf und lebten dort alleine, mein Vater war in Kriegsgefangenschaft und ging dann, als er daraus entlassen wurde nach X-Stadt und baute einen Verlag auf und ah hat also dann diese ersten Jahre hier in X-Stadt verbracht bis 1950. Und meine Mutter und ich wir lebten wie gesagt noch mit anderen Verwandten auf einem Dorf, insofern ahm hab ich also eheliche Liebe nicht, in jungen Jahren vor Augen gehabt, wir kamen dann 1950 auch nach XStadt und da hatte sich durch diese Kriegssituation hatten sich also meine Eltern bereits auseinanderdividiert. Und insofern hab ich eigentlich als Beispiel fur Ehe eigentlich nur Unangenehmes in Erinnerung. Mein Vater der hier also schon mitten im Aufbau war, meine Mutter die vom Lande kam, das ging uberhaupt nicht gut, und ah so meine Vorstellung von Liebe von Liebe war eben keine realistische sondern ein sondern eine die ich aus Biichern hatte. Insgesamt war das mit Liebe bei meinen Eltern Harmonie auf alien Kanalen nach auBen, aber drinnen hohl, nich realistisch. Ich wollte nur nich so werden wie meine Eltern, Hauptsache unabhangig, das war zu alien Zeiten das Allerwichtigste. Und das hab ich spater auch so gemacht."

Das Leitmotiv in Ingeborg S.s Erzahlrahmung sind „Schattenseiten" der Liebe. Der Gegenstand ist fur sie zweischneidig, es gibt eine Vorder- und eine Hinterbiihne, es gibt Licht und Schatten. Sie flihrt dies als fundamental Biografieerfahrung ein und unterstreicht dies mit einer argumentierenden Selbsthistorisierung („insofern etwas ausholen"): Alleine mit der Mutter auf einem Dorf aufgewachsen, der Vater in Kriegsgefangenschaft, und das daraus resultierende Scheitern eines frtihen gemeinsames Ehelebens habe dazu gefuhrt, dass sie die „realistische" Liebe bloB aus Biichern kannte. Im Zentrum der Selbstdarstellung steht die Kriegserfahrung und die dadurch in Unordnung gebrachten Lebensverhaltnisse von Kindheit und Familie. Der rhetorische Nexus besteht somit in der Figur der zerrutteten Familie bis Beginn der 50er Jahre. Mit Heinz Bude (1995) gesprochen, entlarvt sich an dieser Stelle die groBe Nachkriegserzahlung der '68er'-Generation: Krieg, Zwang zur familiarer Improvisation, verschmiedet mit einem alien individuellen Befmdlichkeiten vorangestellten und Subjektivitat kaum Raum bietenden Drang nach materiellem Aufbau. Damit hat Ingeborg S. ihr Ich in einen historischen Rahmen gestellt und dessen biografische Determinierung behauptet. Die Bedeutung dieser Selbsthistorisierung fur ihre Gesamterzahlung besteht in dem durch die Defizite der familiaren Nachkriegsdiffiision gepragten (zugeschriebenen) Unvermogen, an einer heilen Familie, damit an 'geordneten' Nahbeziehungen partizipieren zu konnen (wozu z. B. „realistische" Liebe gehort hatte). In dieser Textpassage fallt also auf, dass immer eine normative Folie von Wiinschen und Bedtirfhissen existierte, aufgrund der Nachkriegsumstande habe sich dieses Ideal bei Ingeborg S. jedoch nicht einholen lassen. Es blieb die perspektivierte Erfahrung iibrig, dass 'realistische' Liebe unter anderen Umstanden praktisch einholbar gewesen ware. Obwohl ihre Lekttireerfahrungen bloB Fiktionen produzieren konnten, bleibt dies fur sie daher keine Utopie, derm sie zieht daraus konkret-praktische Schlussfolgerungen: „Unabhangigkeit", also

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Emanzipierung von Rollenkonformitat (wie das 'schattenhafte' Beispiel ihre Mutter) und Subjektivierung (um dem verdeckt 'Hohlen' in intimen Nahbeziehungen entgehen zu konnen). Das Generationstypische dieses Narrativs der Liebe ist somit einerseits zwar die tragische Ummantelung des Ortes der eigenen Biografie, andererseits die kreativ-praxisgewendete Umdeutung dieses Schicksals als Individualisierungschance.

6.2 Die mittleren Jahrgdnge (1): Gisela T.: Reziproke Reflexivitat - die Suche nach 'emanzipierter Hingabe' Die 1961 und damit fast 20 Jahre spater als 'Katrin' und Ingeborg S. geborene Sozialtherapeutin Gisela T. ist verheiratet und hat zwei Kinder. Sie formuliert gleich zu Beginn des Interviews: „Wahre Erftillung" in der Liebe sei „unmoglich". Fur sie bestehe eine grundlegende Wesensdifferenz zwischen Frauen und Mannern, eine Deutung, die sie am Beispiel des eigenen Ehemannes objektiviert: Bei ihm herrsche eine grundsatzlich andere Ebene „gefuhlter Beriihrung", wie sie sich ausdriickt. Sie prazisiert dies als „geistige Ebene", an anderer Stelle auch als „Goethe-Ebene", denn ihr Ehemann sei Literaturliebhaber und „fuhle" sich in der Liebe nur auf dieser Ebene „angenommen" und „erreichbar". In diesem Zuge kommt sie auf eine Talkshow im Fernsehen zu sprechen, bei der die 1929 geborene Schauspielerin Liselotte Pulver zu Gast war. Mit Bezug darauf revidiert Gisela T. ihre Eingangsdeutung: Dort sei ihr eine „gelungene" Hingabe vor Augen gefiihrt worden. Denn Frau Pulver sprach davon, ihren Ehemann ,,vergottert" zu haben, zugleich druckte sie ihr Bedauern gegenuber spateren Frauen-Generationen aus, welche sich nicht in adaquater Weise einem Mann „hingeben" konnten. Mit diesem Bekenntnis polarisierte die Schauspielerin das anwesende Publikum in eine Gruppe sich emporender Frauen, die Gisela T. als die alteren, „emanzipierten" etikettiert, sowie eine Gruppe spontan Beifall klatschender Junger Frauen". Mit Bezug auf das eigene Lebensalter positioniert sie sich selbst als „dazwischen stehend" und fuhrt aus: G. T.: „Das hat groBe Qualitaten, 'ne bedingungslose Hingabe, wurde ich sagen. Und mit dem kritischen Geist, in dem wir auch aufgewachsen sind, sag' ich jetzt mal, auch gerade im Emanzipatorischen, ist einem davon n' Stiickchen verlorengegangen vielleicht auch." I: „Ist es denn ein Widerspruch, also Hingabe und Emanzipation? Steht das irgendwie unvereinbar nebeneinander oder" G. T.: „Scheint mir so. Ja. So als wenn, also Emanzipation heifit, seiner eigenen Frau zu stehen, das heifit also aufjeden Fall auch unabhangig sein zu kOnnen von dem Mann, und das andere ist das Gegenteil, also sich in die Abhangigkeit begeben zu konnen, sozusagen, was auch 'ne groBe innere Stabilitat eigentlich voraussetzt, ja, dass man iiberhaupt in der Lage ist, sich in so 'ne Abhangigkeit zu begeben, ohne Angst zu haben, sich zu zerstoren, wenn das mal... sowas."

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Mit dem Verweis auf einen „kritischen Geist" verortet sich Gisela T. in einer historischen Zeit, der Zeit ihres Aufwachsens. Dabei fallt ihre Wahrnehmung emanzipatorischer Ideale auf: Ihrer Zeitdiagnose zufolge scheint eine prekare Diskrepanz zwischen dem Wert selbstgewahlter Hingabe und dem Wert der Emanzipation zu herrschen. Ein geistiges Prinzip steht hier offenkundig einem affektuellen Prinzip im Wege. Emanzipation wird dabei jedoch weder als Gleichberechtigungsimperativ noch als Machtthema gerahmt. Vielmehr nimmt die Befragte psychologisierte Kriterien der Stabilisierung einer Ich-Identitat in Anspruch, in deren Zentrum die Sorge steht, in der Hingebung „zerstort" werden zu konnen. Hingabe wird verstanden als innenorientiertes Experiment des Versenkens des psychischen Ichs in das Ich des Anderen, eine Deutung, die mit folgender Passage unterstrichen wird, wo Gisela T. auf ihr Liebesideal zu sprechen kommt: „Es hat was mit dem ganzen Ankommen zu tun, mit dem Ankommen als ganzer, als ganzes Wesen, also mit alien Facetten irgendwie. Mit all seinen Facetten angenommen zu werden und gesehen zu werden und nichts verstecken zu mussen, weder vor sich noch vor anderen. Sowas, dass man sich tief in der Seele verbunden filhlt, verstanden, angekommen, gesehen. So. Gefiihlt. Das ist. (3) Ich glaube, das ist so das Entscheidende. Sich gefiihlt zu fuhlen. Im Urgrund seines Seins gefuhlt zu fuhlen."

Insofern beim eigenen Ehepartner eine andere „Ebene" der Beruhrung dominiere, fmden die unterschiedlichen Prinzipien intimer Interaktion in der Dyade keine Anschlussmoglichkeiten und laufen quasi ieer\ Gisela T. kntipft dieses Scheitern eines erftillenden Austauschs zwischen den Ehepartnern also an eine geschlechterpsychologische Theorie, womit sie flir sich einen akzeptablen Verarbeitungsmodus von Enttauschung findet. Darin, „sich gefuhlt zu fuhlen", das also, was sie abschlieBend als das „Entscheidende" bezeichnet, entfaltet sich nun das Denkmodell einer reziproken Reflexivitat. Indem man fuhlen will, wie der Andere fuhlt, liegt die Betonung auf der Kontrollebene des eigenen Gefiihls. Das driickt eine besondere Idee des Verstehens in der Liebe aus, die sich als 'Gebildetheit der Affekte' oder auch 'reflexive Affektualitaf benennen lasst. Obwohl Gisela T.s Beziehungspartner nur auf der 'geistigen Ebene' erreichbar sei, bleibt fur sie aber die Reflexion durch Emotionalitat gtiltig. Da sich ihr Partner zufolge dieser Deutung bemerkenswerter Weise selbst noch auf der geistigen Ebene 'gefiihlt flihlen' konne, wird das Fuhlen flir sie zur universellen Idee noch uber den Geist. Die dabei zugrunde liegende regulative Idee in der Liebe lasst sich folgendermaBen formulieren: Das Emanzipatorische nimmt Gisela T. als Form wahr, sich nicht zu verlieren, die absolute Hingabe wird dennoch affirmativ in Anspruch genommen. Ihr individuelles Arrangement in diesem Spannungsfeld zeigt sich gewissermaBen als emanzipatorische Emotio221

nalitat, die beide Prinzipien integrieren kann. Die Sorge um Identitatsverlust durch das Begeben in Abhangigkeit ftihrt damit nicht zur Entsagung von Leidenschaft. Hier stand zwar zunachst die Misere eines kritischen Geistes im Wege, Gisela T. hat aber einen Ausweg in der Innerlichkeit gefunden, und damit die integrierende Beherrschung von Hingabe und Emanzipation: Die Emotion ist ftir sie dann legitim, sofern sie als 'gebildete Aufmerksamkeit' zum Ausdruck kommt. Dazu ein Vergleichsfall:

6.3 Die mittIer en Jahrgdnge (2): Rainer K. und der 'gefesselte' Generations habitus Rainer K. ist 1958 geboren, er ist Statistiker und lebt allein. An zahlreichen Beispielen verdeutlicht er eine Defizitwahrnehmung seiner selbst in der Intimitat: Er sehe sich nicht in der Lage, Liebes- und Lustempfindungen spontan, und, wie er selbst formuliert, „ehrlich einzugestehen". Er schreibt dies schlieBlich generationstypisch zu und nimmt dabei Bezug auf eine historische (Jugend-) Zeit, die nach der eigenen liege: „Also ich finde zum Beispiel heut, diese Techno-Szene, da muss ich ehrlich sagen, da bin ich echt, da ist es genau anders. Die probiern eigentlich schon mehr, die Leute so kennenzulernen, wie sie sind, und auch so zu nehmen, wie sie sind, ja? Und ich weiB nicht, ob et stimmt, aber, vielleicht ist in meinem Kopf auch einfach dann alles mit Sexualitat verbunden, dat Ganze irgendwie, ja, da stimmt irgendwie wat nicht, habe ich immer dat Gefuhl, als wenn ich damit nicht natiirlich umgehen kann. Also mit ner Frau kann ich ja auch n' Einbruch machen, so jetzt vollig ubertrieben, oder FuBballspielen, aber et ist irgendwie anders. Ich blick da auch nicht so richtig durch, ich probier mich auch dagegen zu wehren, ne Frau anders zu sehen wie nen Typen, aber irgendwie kann ich's nicht. Ich kann's nicht. Da ist irgendwie noch immer so diese, ja, da schwebt irgendwie die Sexualitat immer mit, ja?"

Das Heute der Techno-Szene scheint nicht mehr das Heute von Rainer K.. Seine Zeit kollektiver Adoleszenzerfahrung ist durch die Anhanger einer aktuellen Jugendkultur bereits abgelost. Aber auch damit, dass dort etwas „genau anders" sei als bei ihm selbst, nimmt er Bestimmungen von Authentizitat vor. Die Figur seiner Authentizitatsidee kommt mit der Einbindung des Themas Sexualitat auf einen Punkt: Rainer K. antizipiert ein Modell von Nattirlichkeit, gemessen an dem er die eigene Sexualitat als unnaturlich dominant erlebt. Gerade darin kann er aber nicht an die habituelle Praxis von Personen der genannten Jugendszene anschlieBen, dort also, wo er meint, dass die an affektuelle Aspekte gebundene Geschlechterbegegnung nicht - wie noch der eigenen Generation zugeschrieben - legitimationsbedtirftig ist. Aus seiner Sicht gehore es bei der jtingeren Generation zur Praxis einfach dazu. Im Versuch, gerade nicht „ne Frau anders zu sehen als nen Typen" scheitert er an (s)einer eigentumlich verqueren Interpretation 222

von Geschlechteregalitat. Rainer K. kann praktisch seine selbstgedeutete Affektdisposition nicht von sich streifen, denn die Generationsdifferenz zeigt sich fur ihn als ein Schema von Geschlechteranlagen: Vermutete Egalitat innerhalb der Techno-Szene einerseits und Uberfrachtung der sexuellen Aspekte des eigenen Geschleehts-Habitus andererseits, worin er sich selbst als nicht mehr veranderbar begreift. Rainer K. kntipft daran ein Schema von Generationsbeziehungen: „Ich finde die gehen heute viel, also viel natiirlicher miteinander um. Also Madels und Jungens, die Techno-Szene, sag ich einfach so. Ich wiirde sagen, die ham halt Eltern gehabt, die halt 68er waren. Ich glaube einfach, dass jede Nachfolgegeneration n' Gegenpol aufbaut zu, ja, zu der vorherigen Generation. Fur mich ist halt die Techno, oder der Inhalt dieser Techno-Szene ist fur mich identisch. Ich bin da so zwischen diesen 68ern, Joan Baez, pipapo und so, dieser ganze Kram. Die Techno-Szene, die sind lockerer, die machen sich nicht mehr so den Kopf um alles, und halt dieses von mir aus nach, straight nach vorne. Ich finde, dat hat ziemlich viel damit zu tun. Und denen fallt's auch viel einfacher, ah, zartlich miteinander umzugehen. Natiirlicher, sagen wir mal so. Die denken da nicht druber nach. Dat is einfach bei denen so."

Rainer K.s Deutung zufolge lost sich das von ihm als generationstypisch erlebte Ringen um Nattirlichkeit in der Nachfolgegeneration quasi in faktischer Gegebenheit auf. Fur ihn befinden sich die ihn umgebenden Generationen damit im 'Echten'. Rainer K. selbst glaubt sich nicht im Echten. Diese Problematik erklart er sich generationsspezifisch. So wie er sexuelle Aspekte in der Geschlechterbegegnung an sich selbst „unnaturlich" dominant erfahrt, wird der Eindruck erweckt, er mochte eine Disposition an sich 'loswerden'. 'Blumenkinder' ('68er') und heutige Jugendkultur werden dabei zur Projektionsebene der Aufhebung an sich selbst erlebter Verkrampfung, eine Unmittelbarkeit, die ihm selbst durch seine generationsspezifische Reflexivitat verbaut scheint. Rainer K. scheint somit gefangen im reflexiven Weltbild: Der reflexive Habitus seiner Generation wird von ihm als Fessel des Selbst-Seins empfunden, er fiirilt sich aber umgeben von der kollektiven Auflosung seines Generationsschicksals. In dem er selbst nur unter groBen Mtihen bzw. gar nicht aus der 'Haut' der eigenen Generation heraustreten kann, stoflt in diesem Beispiel der „reflexive Subjektivismus" (Schimank 1985) - als permanenter Versuch, das wirkliche Ich dem Ideellen anzupassen - gewissermaflen an die Grenze der eigenen Faktizitat. Zwar findet Rainer K. einen rationalisierten Erklarungsrahmen fur seine individuellen Dispositionen, nimmt aber passiv die Verstricktheit ins eigene Generationsschicksalhin.11 11 In den Untersuchungen von Michael Meuser (1998) zum mannlichen Geschlechtshabitus spiegelt sich Ahnliches wider: Vor dem Hintergrund tiefer Verunsicherung einer bestimmten Mannergeneration fiihre die Suche nach der ersehnten „ostentativ kOrperlichen Virilitat" (ebd.: 121) zur biografisch paradoxen Vorstellung, den eigenen Geschlechtshabitus praktisch 'umbauen' zu

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Als gemeinsame Strukturregel im Fallvergleich von Gisela T. und Rainer K. kann von einer spezifischen Risikokommunikation in der Intimitat gesprochen werden. Die Typik offenbart sich einerseits im Muster affektiv-reflexiver Kontrollorientierung (in einer generationstypischen Farbung), andererseits im zutage tretenden Schema von Generationsbeziehungen und der damit verbundenen Idee des 'Dazwischenfallens' der eigenen Generation. Beide verorten sich im historischen Raum tiber Entfremdungsmuster, zugleich zeigt sich das Unvermogen, in Strategieraume anderer Generationen vordringen zu konnen. Als Kristallisationspunkt der daraufbezogenen Interpretation zeigt sich die Ubersteigerung kritisch-distanzierter Reflexion eigener Handlungspraxis. In Bezug auf die Geschlechterbilder ahneln sich beide Falle zudem durch eine von Bedrohung bestimmte Angstkommunikation: Rainer K. verbietet sich gleichsam eigenes sexuelles Begehren, um mithilfe einer zwanghaft auferlegten Askese seiner Interpretation „unnattirlicher" Bediirfhisregungen zu entgehen. Gisela T. hingegen furchtet, grundsatzlich keinen Zugang zum „geistigen" Prinzip des anderen Geschlechts herstellen zu konnen. Trotz geschlechtsspezifischer Heterogenitat steht in beiden Fallen ein gemeinsames Sinnmuster des Gelingens von Intimitat im Vordergrund: Die Ambivalenz zwischen Rationalisierung und der Sehnsucht, sich unverdeckt zu verhalten. Die Generationstypik zeigt sich damit im strukturahnlichen Ringen um das Thema des emotionalen Durchbruchs und der Legitimitat von Affekten iiberhaupt.

6.4Die 'spdten' Jahrgange: Bastian L. und Carola M : Liebe und Abwdgungsrationalitdt Der 1975 geborene Student der Skandinavistik, Bastian L., kommt beim Thema Liebe darauf zu sprechen, dass ihm in Bezug darauf seine bereits sieben Jahre andauernde Paarbeziehung legitimationsbedurftig vorkommt: „Aber, also ich, erstens mal interessiere ich mich fur das was, ich will wissen, warum ich so bin wie ich bin, warum ich so handle wie ich handle und das finde ich komisch, wenn ah, ein Typ, der erst 25 Jahre alt ist schon seit sieben Jahren die gleiche Freundin hat, das is irgendwie komisch. In meinem Freundeskreis sind die meisten Falle, sind anders. Also da is doch klar, das ich mir dann dariiber Gedanken machen muss, bin ich irgendwie total (lacht) komisch oder anders wie die anderen. Na ich selber muss mir das so vor mir selber so n bisschen legitimieren, weil ich ja wirklich kein SpieBer sein will. Und wirklich irgendwie auch offen und modern und so und da kommt es mir dann eben nich so richtig offen und modern vor, ah, aber ich will es eigentlich so."

Worin besteht fur Bastian L. an dieser Stelle das 'Komische' in seinem Selbstmiissen.

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entwurf? Es scheint das Unbehagen an der eigenen Identitat, an dem, was er an sich als das wahrnimmt, was er ist („wie ich bin") und wie er handelt („wie ich handle"). Dabei weist die Frage nach dem 'Warum' auf die NichtSelbstverstandlichkeit der selbst zugeschriebenen Identitat - das macht sie „komisch" - eben erklarungsbedtirftig. Das Erklarungsbedtirftige scheint ihm nun der durch die Lange der Beziehung entstandene Eindruck einer Alternativlosigkeit des Partners. Fur Bastian L. ist also ein Handlungsrahmen selbstverstandlich, der eine unbestimmte Zahl von Alternativen in der Liebe nicht nur erlaubt, sondern auch als konkrete Erfahrung (z. B. die Beziehungsmuster seiner Freunde) faktisch enthalt. Vor diesem Hintergrund erscheint ihm das Alternativlose seiner Beziehung irgendwie defizitar. Uberspitzt paraphrasiert: Wer im Alltag, von dem es 'Nichts ist unmoglich' heiBt, Gelegenheiten verstreichen lasst und im sicheren Hafen der Langzeitbeziehung bleibt, erregt den Verdacht, 'unzeitgemaB' zu sein. Gegen diesen Selbstverdacht, ein „SpieBer" zu sein, stellt Bastian L. nun ein Entscheidungsmodell in der Liebe: „Deswegen is Liebe eben fur mich so was wie Entscheidung plus ahm, dieses Gefiihl von irgendwie zu Hause sein, von Ruhe, von kein Stress, man kennt sich, weil man muss sich nich erst kennen lernen, man kennt sich schon, man hat schon so viel Geschichte zusammen. Ich mach mir jetzt nich da die ganze Zeit, wenn ich mal da eine sexy Frau auf der Strafie rumlaufen sehen, den Kopf, ob ich vielleicht meine Beziehung mit der Janine beenden soil."

Bastian L. lost die eingangs geschilderte Ambivalenzerfahrung schlieBlich so auf, indem er das Entscheidungsprinzip in der Liebe als letzten MaBstab flir gultig erklftrt. Denn alleine zu 'fiihlen', so Bastian L., sei prinzipiell vage, und informiere noch nicht dartiber, welchem Gefiihl man wie folgen solle. Mit seiner Favorisierung des Entscheidungs- bzw. Vertragsmodells in der Liebe hat er gleichsam einen Losungsmodus gefunden, sich nicht standig in einer 'SpaBgesellschaft' erklaren zu mtissen. Von daher verweist der Selbstwert, „schon so viel Geschichte zusammen" zu haben, nicht nur auf das Ideal einer langandauernden Paarbeziehung, er verspricht zugleich lebenspraktische Gewissheiten: Die (Lebens-)Geschichte muss nicht standig neu entworfen werden, sie tragt sich gewissermaBen kumulativ und pfadabhangig allein fort. In diesem Sinne steht im Zentrum der Orientierung von Bastian L. die Kontingenz biografischer Normalitaten, zu der er sich auf der Grundlage des Entscheidungsprinzips entwirft und dabei das 'Komische' in seinem Selbstentwurf loswird. Variierend kommt dieses Narrativ bei der 1977 geborenen und kurz vor Abschluss eines Politologiestudiums stehenden Carola M. zum Ausdruck. Der inhaltliche Bezug der Passage besteht in einer Erzahlung zum Ideal der lebenslangen Liebesbeziehung ihrer eigenen Eltern:

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„Ich glaub die Vorstellung ewige Liebe gibt's einfach nich mehr, weil's viel schwieriger geworden is. Ich mein diese Vorstellung von bis ans Lebensende konnte ja auch immer nur so sein, weil einfach ganz krasse Strukturen da geherrscht ham, also funfziger, da hat ham noch absolute gesellschaftliche Konstruktionen, Strukturen gelebt, wo man uberhaupt nich die freie Wahl hatte in dem Sinne. Wo die Elterngeneration vielleicht eher fruher gedacht hat, das halt gefunden zu haben, dieses Ideal, wahrscheinlich eher auch angenommen wurde und dachte, das is das Richtige fur mich, wenn man einfach keine anderen Erfahrungen machen konnte. Also da ham wir uns ja schon in ne ganz andere Richtung entwickelt. Das viel differenzierter betrachtet und viel viel anspruchsvoller geworden is, wo man einfach viel freier wahlen kann. Diese Vorstellung mit einem Menschen irgendwie 30, 40, 50 Jahre zusammen zu sein, den so lang zu lieben, und ich weiB nicht, warum es so schwer ist, sich das vorstellen zu kOnnen. Vielleicht is man selber da schon irgendwie von diesen Strukturen schon wieder so beeinflusst, dass es auf einen selber schon so wirkt, dass man sich das nich vorstellen kann. Weil ich frag mich immer noch, warum ich mir das nich vorstellen kann."

Fur Carola M. war das Selbst in der Liebe der 50er Jahre quasi ein 'getauschtes': Beherrscht von und verstrickt in „ganz krasse", „absolute gesellschaftliche Konstruktionen" und „Strukturen" konnte es faktisch nicht zu sich finden. Das Perfide an diesen Strukturen war der Deutung der Befragten zufolge jedoch, dies damals gar nicht zu bemerken. Das Mogliche wurde kurzerhand als das „Richtige" (Carola M.) gesetzt und als solches „angenommen". Die eigene Generationserfahrung markiert sie anschlieBend mit einer Kollektivbestimmung: („da ham wir uns ...")• * n einer bemiihten versozialwissenschaftlichten Rhetorik unterscheidet sie zwischen 'Unfreiheit' (fruher) und 'Freiheit' (heute) als Differenz von Verwirklichungschancen und adaptiert dabei ein gelaufiges Individualisierungstheorem. Ihre Gegenwartsdiagnose hat aber einen pessimistischen Anstrich, denn die von ihr zum Signum ihrer Generationszeit erklarten, hohen Wahlmoglichkeiten, erweisen sich unter der Hand als biografische 'Fallstricke': In Bezug auf den eigenen Lebensentwurf laboriert Carola M. an einem (psychologisierten) Selbstverdacht, ahnlich wie die Eltern von unbekannten Strukturen 'hinterrticks' „beeinflusst" zu sein, eben dann, wenn sie sich keine jahrzehntelange Partnerschaft vorstellen kann. Im Grunde wird sie damit selbst von ihrer Generationstheorie eingeholt, denn es gibt eine Defizitwahrnehmung, d.h. fur das eigene Selbst in der Liebe findet sie keinen Begriff. Im Wege steht die (noch) nicht auf eine (lebenspraktische) Linie gebrachte Optionsflut in einer Lebenswelt hochindividualisierter „Anspruche" - also der sich selbst zugerechneten Generationserfahrung. Als Vergleichsdimension der zwei Falle der spdten Jahrgange konnen die aus den Gegenwartsdiagnosen gezogenen, lebenspraktischen Schltisse herangezogen werden. Kristallisationspunkt der Selbstthematisierung ist das Abwagen von Alternativen in einer generationstypischen Pragung: Das Narrativ in der Liebe ist beherrscht vom Problem der richtigen SchlieBung von (als generationstypisch wahrgenommenen) Kontingenzerfahrungen in einer Welt permanenter 226

Anfechtungen (die 'Alternativen der Liebe' bei Bastian L.) und 'Anspruche' (bei Carola M.). 7. Diskussion. Generationsdynamik im Kulturmuster 'romantische Liebe' Auf einen idealtypischen Nenner gebracht: In den Narrationen der friihen Jahrgange schillert das Problem eines generellen Subjektivitatsdefizits in der Liebe auf. So beim Faschismusverdacht der Liebe bei der fiktiven Kommunardin Katrin, deren 'Manifest' sich als darauf bezugnehmende Losungsvariante lesen lasst: Die Uberprtifung des eigenen Generationsschicksals an politischen Kategorien, hier im Spiegel eines Befreiungstheorems. Die regulative Idee der Liebe zeigt sich dabei als Versuch der Selbstfindung gegen die herrschenden Privatheits-Mythologeme der Elterngeneration und gegen die Versprechungen der Normalbiografie. Als Gegenentwurf wird ein radikaler Subjektivismus errichtet. Ahnlich Ingeborg S.: Auch sie bettet die biografische Genese ihres Bildes der Liebe in eine erkldrende historische GroBrahmung: Die von Nachkriegsumstanden gepragte 'Sachehe' der Eltern ohne 'innere' Liebe wird zur Negativfigur erklart, gegen die sie sich selbst mit emanzipatorischer Absicht individualisierend entwirft. Das generationstypische Kraftfeld der Deutung scheint sofern bloft unterschiedlich akzentuiert, verbindend ist die Basistiberzeugung des entfremdeten und verhinderten Ichs in der Liebe (dies mag fur Manner dieser Jahrgange allerdings eine andere Farbung haben, sofern das Schlagwort von der 'verhinderten Individualisierungschance' von Frauen (z. B. bei Beck/ BeckGernsheim 1990) gerade fur weibliche Erfahrungszusammenhange dieser Jahrgange als Generationsmotiv implizit eine Rolle spielen dtirfte). Wahrend 'Katrin' als Bewaltigungsstrategie die rituelle Praktik des revoltierenden Befreiungsakts favorisiert, sich also in destruierender Absicht auf das Bestehende richtet, nimmt auch Ingeborg S. nicht nur passiv Bezug auf ihre Jugendpragung, sondern findet biografische Optionsraume („Unabhangigkeit"). Bei den mittleren Jahrgangen ist der Bezugshorizont der Gefahr von Entfremdung bereits deutlich nach innen gewendet, er ist quasi individualisiert, etwa bei der Interpretation von Geschlechterdifferenzen im Fall Gisela T.: Sie bezieht sich mit ihrem Verweis auf den „kritischen Geist" als Behauptung des Allgemeinguts ihrer Generationserfahrung ja gerade auf die eben geschilderten Problemdeutungen der fruhen Jahrgange. Deren 'Geist' flieBt jedoch weniger als Chance, vielmehr als potentielle Gefahr in die Selbstdeutung ein. Auf der Ebene der Selbstkontrolle stemmt sich Gisela T. dagegen, indem sie das Ftihlen zum letzten Bezugspunkt der Selbstvergewisserung erhebt. Sofern ist das 'Gefuhls'-Narrativ bei der „Validierung der Selbstdarstellung" (Luhmann 1982: 227

208) in der Liebe nun neu: Die Ich-Konstruktionen in der Liebe der mittleren Jahrgange sind starker an sensualistischen Authentizitatsprinzipien ausgerichtet, es etabliert sich ein von Innerlichkeit getragener 'emotionaler' Individualismus. Begiinstigt wird ein therapeutischer Diskurs der Intimitat, ein bis in die Gegenwart vor allem von bestimmten psychotherapeutischen und esoterischen Subkulturen institutionell tradiertes 'Expertentum der Gefuhle', worin Emotionalitat zum Selbstwert erklart wird, quasi zu einem Patentrezept des Humanen tiberhaupt. So gesehen herrscht bei diesen Jahrgangen eine affirmative Kontextsensibilitat, die Reflexivitat bleibt basal-affektbezogen, d.h. der Authentizitatsbezug grtindet primar auf affektiver Evidenz. Und dies gilt auch im Fall Rainer K., der seine Generationsschematik ja gerade auf der Grundlage affektiver 'Stile' entwirft. Diese quasi ins 'Innere' horchende Selbstvergewisserung scheint mit Bezug auf die Falle der spaten Jahrgange gerade nicht mehr evident zu sein. Salopp gesagt, finden diese im Inneren keine Losung mehr flir ihre spezifischen Fragen an die Echtheit in der Liebe (es geht hier ausdriicklich nur um einen spezifischen Diskurs der (Selbst-)Vergewisserung in der Liebe, nicht um den Kern modernen, individuellen Liebens, dessen Grundbausteine gerade Affektivitat und Innerlichkeit darstellen - die genannte Behauptung ware sonst absurd). Das Authentizitatsproblem scheint starker die Form eines Abwagungsproblems anzunehmen. So gesehen rtickt vor dem Hintergrund erhohter Kontingenzerfahrung nun die Begrundungsverpflichtung ins Zentrum, erklaren zu konnen, weshalb man mit einem bestimmten Partner zusammen ist. Zum Beispiel Carola M.: Eine solche BegrUndung ist ftir sie nicht mehr wie bei den Eltern gegeben, wo es diese von 'auBen' gab. Zwar sucht auch sie im 'Innen', nicht aber in der Emotion, sondern in der richtigen Erklarung, mit genau der einen speziellen Person eine (Liebes-)bindung einzugehen, frei nach dem Motto: muss ich denn in der Liebe wirklich mich selbst, oder nicht einfach nur den Anderen finden? Auch bei Bastian L. schafft das Ftihlen keine Evidenzen mehr, auf dem Impulsgeleiteten allein will er keine stabile Partnerschaft griinden. Man braucht diese Befunde nun gar nicht uberstrapazieren, um dennoch festhalten zu konnen, dass bei diesen Jahrgangen mit dem Entscheidungs-, bzw. Abwagungsprinzip (im Ubrigen semantisch etwas ganz anderes als das Rational Choice-Modell) - zumindest diskursiv - das Affektive in der Liebe zuriickgedrangt zu werden scheint. Was dies fur den Stellenwert des Kulturmusters romantische Liebe als Ordnungsprinzip intimer Beziehungen auf der verlangerten Zeitachse bedeuten konnte, bietet zumindest Stoff flir Anschlussiiberlegungen.

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8. Schlussbemerkung Die gegenwartige Debatte, ob 'Partnerschaft' als modernes Prinzip der Gestaltung von Paarbeziehungen in Konkurrenz zur 'romantischen Liebe' tritt, damit die soziale Integrations- und Solidaritatswirkung der Liebe gegebenenfalls relativiert oder modifiziert wird, konnte und sollte hier nicht an zentraler Stelle behandelt werden. Im Zentrum des Beitrags stand primar die Frage nach dem Wandel von Deutungsmustern der Liebe und deren gesellschaftliche Vermitteltheit.12 Auch wenn die Geschlechterdifferenz in der Liebe noch immer erheblich sein mag, kann doch von einem Grundkonsens zwischen den Geschlechtern dariiber ausgegangen werden, worum es in der Liebe gehen kann, d.h. was man wie in einer Liebesbeziehung realisieren konnte. Und in Bezug auf Zeitwandel: Karl Mannheims Generationskonzept liefert hierzu ein probates Instrument zur Bestimmung historischer Scharniere abseits von Theorien langer Dauer. Der Generationsansatz erklart jedoch nicht alles, sondern bestenfalls speziflsche Entwicklungen im Wandel der Liebe. Beispielsweise bleibt das Verhaltnis zwischen dem Diskursivem und dem Nicht-Diskursivem in der Liebe weiter zu beleuchten. SchlieBlich mussen die zeithistorischen 'Rander' kollektiver Deutungsmuster sowie dafur in Betracht zu ziehenden sozialisationsgeschichtlichen Bruchstellen starker plausibilisiert werden. Weitere Fragen stellen sich hinsichtlich der Zukunft des 'institutionellen Settings' der Liebe als Vermittlungsinstanz zwischen Paar, Familie und Geschlechterverhaltnis. Wie wichtig beispielsweise ist das dauerhafte Paar fur die Liebe in der Zukunft? Gewinnbringend ware hierzu auch ein Kulturvergleich mit ahnlich modernisierten Gesellschaften. Offen bleibt auch die Frage, in welchem Fall die Differenz zwischen Generationen groBer ist als die zwischen sozialen Milieus oder umgekehrt (vgl. Burkart/ Kohli 1992). Nicht zuletzt ist der Zusammenhang zwischen biografischer Selbstthematisierung und geschlechtsspezifischer Erfahrung intensiver auszubuchstabieren, derm der Wandel des Geschlechterverhaltnisses als 'roter Faden' des Generationswandels in der Liebe ist hoch einzuschatzen (vgl. Herma 2003). Von einer homogenen Generationsgeschichte der Geschlechter in der Liebe

12 Im Ubrigen ist auch der Sektor der popularen Medien voll von kulturellen Erzeugnissen, wo kritische Generationsubergange verarbeiten werden. Letztlich zeigt ihr Publikumserfolg katalysatorisch auf, wie sie den 'Nerv' krisenhafter kollektiver Stimmungen als Ausdruck einer Generationswende trafen. Eine solche Schmerzschwelle (speziell aus feministischer Perspektive) besetzt beispielsweise Verena Stefans autobiografischer Roman 'Hautungert (1975), wo die Zumutungen des traditionell 'weiblichen' Geschlechts-'Charakters' blofi noch als Identitatszwang empfunden, quasi leiblich ausgetragen werden und biografisch aufbrechen. Ahnlich Ingmar Bergmanns Film 'Szenen einer Ehe' von 1972/3, wo die Krise des 'Ichs' in der Liebe innerhalb der Transformation einer Ehebeziehung vorgefuhrt wird (wie auch unzahlige andere Beispiele).

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kann ohnehin nur unter Vorbehalt gesprochen werden. Fur die Theoriebildung zu den Verschrankungen von Intimsystem und moderner Individualisierung kann es jedoch ein lohnendes Unterfangen darstellen, dem Verhaltnis zwischen Selbstthematisierung in der Liebe und ihren historischen Randbedingungen auf der Spur zu bleiben.

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Wolfgang Kraus Die Veralltaglichung der Patchwork-Identitat. Veranderungen normativer Konstruktionen in Ratgebern fiir autobiografisches Schreiben „Life is not a drama, I despaired; it is haphazard, unstructured, especially mine." (Tristine Rainer) „De toute facon, parler de soi ne va pas de soi." (Philippe Lejeune)

Einleitung Das Schreiben iiber sich selbst geht nicht von selbst, konstatiert Philippe Lejeune (2004: 49). Auch wenn auf den ersten Blick der Eindruck entstehen mag, dass doch jede und jeder ein Leben fiihrt und es daher erzahlen konnen muss, so ist der Akt des autobiografischen Schreibens sehr voraussetzungsvoll. Das merkt man spatestens dann, wenn man es tatsachlich versucht. Die Vielfalt eines Lebens in eine Form zu bringen, wirft konstruktive Fragen auf, der Umgang mit der Wahrheit moralische; ein muhsamer Konstruktionsprozess also im Spannungsfeld von Leben und Sinn, Genauigkeit und Ehrlichkeit. Hilfe ist moglich, auch wenn dies merkwtirdig erscheinen mag. Wie bitte, soil denn in so einem ganz personlichen, einmaligen Unternehmen Hilfe aussehen? Die eine Hilfe ist die Rezeption anderer Autobiografien, die Ubernahme - oder Ablehnung - der Darstellungsweise Dritter. Die zweite Strategic stiitzt sich auf die angeleitete Einiibung des autobiografischen Schreibens als einer 'Technik des Selbst'. Mogliche Orte dafur sind Kurse iiber autobiografisches Schreiben, wie sie mittlerweile an vielen Volkshochschulen angeboten werden. Zur Rezeption von Modellen der Selbstprasentation kommen hier die direkte Ruckmeldung zu eigenen Versuchen und die Gemeinschaft Motivierter. Die dritte Strategic schlieBlich besteht in der Lekttire von Ratgeberliteratur. Solche Manuale helfen, indem sie vorschreiben; indem sie vorschreiben, beschreiben sie aber auch, namlich den - popularisierten - Stand des Nachdenkens iiber diese Form der Selbstthematisierung. Ratgeberliteratur, so meine These, leistet aber noch mehr als das. Sie eignet sich auch zur Untersuchung von Veranderungen in der normativen Konstruktion von Autobiografien. An den Ratgebern kann man ablesen, wie Autobiografie gedacht und gemacht werden soil, an ihrem Vergleich, welche normativen Spannungen und welche Veranderungsprozesse erkennbar sind.

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Die Selbstinszenierung in einer Autobiografie, so die Ausgangsthese dieses Artikels, ist ein normativ unterlegtes Modell der Identitatsarbeit. Setn Leben in der Form einer Autobiografie darzustellen ist in zweifacher Weise sozial determiniert. Zum einen in dem subjektiv empfimdenen Wunsch und der gewahlten Begrtindung, dieses zu tun und zum anderen in der narrativen Form, die dafiir gewahlt wird. Die Frage, die ich hier untersuchen mochte, ist, inwiefern diese normative Rahmung, also die 'guten' Grande, eine Autobiografie zu schreiben und die 'gute' Form dafur, einer Veranderungsdynamik unterliegen. Denn wenn Identitatsarbeit sich verandert, mtissten sich auch die Formen und Begriindungsstrukturen ihrer reflexiven Darstellung verandern. Als empirischen Gegenstand habe ich dazu Anleitungen zum autobiografischen Schreiben gewahlt.

1. Autobiografie als voraussetzungsvolle Form der Selbstthematisierung Nicht jedes Schreiben liber sich selbst erfullt die Kriterien einer Autobiografie. Die Defmitionsvorschlage gehen von einem weit gefassten Verstandnis (etwa Misch 1998) bis zu einer sehr engen, anspruchsvollen Definition (z.B. Aichinger 1977). Ich orientiere mich hier an der Definition von Philippe Lejeune1 (2004: 10), die 'im Mittelfeld' liegt. Sie beschrankt einerseits den Korpus von schriftlichen Selbstthematisierungen, die als Autobiografie verstanden werden sollen; andererseits stellt sie keine so hohen formalen und stilistischen Anforderungen, dass nur literarisch 'hochwertige' Produkte Beachtung fanden. Fiir meine Zwecke ist sie deshalb so gut geeignet, weil sie die Gattung in einer Weise definiert, die fur sozialwissenschaftliche Fragestellungen nach der Subjektreprasentation und ihrer Veranderung anschlussfahig ist. Im Ubrigen durften seine Kriterien weitgehend konsensfahig sein, insbesondere wenn man sie nicht als Vorschrift versteht, sondern als Normen, die eine Orientierung fur die Analyse geben, ohne in jedem empirischen Fall zwingend eingehalten werden zu mtissen (Folkenflik 1993: 13). Autobiografien sind danach bilanzierend, stehen also am Ende des aktiven Lebens. Sie sind in der Regel in der ersten Person geschrieben und beschreiben die innere Entwicklung einer Person. Sie bleiben also nicht beim 1

Philippe Lejeune ist eine der pragendsten PersOnlichkeiten in der Autobiographieforschung, auch wenn sein Werk aufierhalb Frankreichs nur rudimentar wahrgenommen wird. Auf deutsch ist lediglich seine, von ihm selbst mittlerweile wesentlich weiterentwickelte, Arbeit „Der autobiographische Pakt" (1994) erschienen, die im Original immerhin aus dem Jahre 1975 datiert. Lejeunes Blick auf das Thema bleibt nicht akademisch: Er ist Initiator eines Archivs von „Nobody"-Biographien in Amb6rieu-en-Bugey (Frankreich). Die Bandbreite der Arbeit Lejeunes stellt seine Website dar: http://www.autopacte.org/. Dort findet sich auch eine Liste aller europaischen Sammlungen von „Nobody"-Autobiographien.

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Aufzahlen auBerer Fakten stehen, sondern erzahlen vom Innenleben einer Person im Verhaltnis zu diesen Fakten. Natiirlich erzahlt eine Autobiografie nicht alles aus diesem inneren Leben, aber fur das, was sie erzahlt, wird der Anspruch der Wahrheit erhoben. Das ist denn auch das zentrale Kriterium der Autobiografie: der „pacte autobiographique" (Lejeune 1994), d.h. die Versicherung des Autors gegenuber den Lesern, dass seine Erzahlung wahr sei. Der Pakt wird in der Regel schon im Titel und im Vorwort eingegangen. Lejeune betont dessen zentrale Bedeutung, denn innertextlich gibt es seiner Auffassung nach kein Distinktionskriterium von autobiografischen Texten gegenuber anderen (fiktionalen) Erzahlformen. Ja, die Stilmittel der Autobiografie sind alte Bekannte literarischer Produktion. Die Merkmale der Autobiografie leitet Lejeune aus der Geschichte der Subjektreprasentation ab. Hier lassen sich mit Lejeune, dem ich zunachst folge, drei Blickwinkel unterscheiden: -

Der reprasentationstheoretische Fokus stellt zunachst allgemein die Frage nach der Mimesis, der Spiegelung des Menschen in seinen Werken. Konkreter geht es in unserem Fall hier um die Weisen der Presentation des Selbst in fiktionalen und nichtfiktionalen Texten und ihre historischen Veranderungen. - Der subjekthistorische Fokus blickt auf historische Veranderungen im Subjektbegriff. Grundsatzlich geht es hier darum, dass, um anders zu schreiben auch anders geftihlt und gedacht werden muss. - Der rezeptionstheoretische Fokus schlieBlich verdeutlicht, dass ein literarisches Werk, ob fiktional oder nicht, in der Regel gelesen werden mochte. Der Prozess des Lesens konstituiert in gewisser Weise erst das Werk, denn der Leser rezipiert es; d.h. dass jeder Leser es neu konstruiert und mit Sinn versieht. Literarische Veranderungen in der Representation des (Autoren-) Selbst konnen also durch die Frage nach der Leserschaft daraufhin iiberpruft werden, wie sehr solche Vorstellungen normalisiert sind.

1.1 Reprdsentationstheoretischer Fokus Die Autobiografie ist eine „ecriture seconde" (Lejeune 2004: 36) und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen weil sie in ihrem darstellerischem Repertoire abhangt vom etablierten Kanon der Romanschreibung und den dort gefundenen Konstruktionsformen der Echtheit und des Ich-Erzahlers. Und zum anderen, weil sie gegen Ende des gelebten Lebens kommt: sie ist eine Formbildung mit dem Material einer personlichen Selbstverwirklichung, die weitgehend bereits stattgefimden hat. Sie bildet Leben also nicht ab, sondern sie (re-)konstruiert 237

erzahlerisch das, was sich zuvor schon im Handeln ausgedruckt hat. Die „fiktionale Kodierung des Faktischen ist eines der groBen Probleme der Autobiographic" (Folkenflik 1993: 15). Die Representation von Wirklichkeit im Geschriebenen ist ein komplexer Gestaltungs- und Veranderungsprozess. Konstruktion von „Authentizitat" wie Gestaltung der Stimme des „Ich" verlangen spezifische Stilmittel. Lejeune betont, dass die mimetische Konstruktion von Authentizitat zunachst im Roman entwickelt und erprobt worden war, bevor sie von den Autobiografen (ibernommen und verinnerlicht wurde (2004: 32). Die ersten autobiografischen Erzahler im 18. Jahrhundert waren nur moglich, weil andere vor ihnen sich schon vorgestellt hatten, was es heiBen konnte, ein solcher zu sein und diese Vorstellung narrativ erprobt hatten. Oskar Wilde kleidete, gut 150 Jahre spater, die Anstrengung der Konstruktion von Authentizitat ironisch in den Aphorismus: „Echtheit ist die schwierigste Pose, die man einnehmen kann". Ein mimetisches Spiel, das zeigt, dass man die narrative Konstruktion von Ernsthaftigkeit und Echtheit lernen muss. Und sie konnte nur gelernt werden, weil ihr eine allgemeine Transformation des Begriffs der Person zugrunde lag, gespiegelt im Auftauchen eines neuen Erzahltypus. Vormoderne Autobiografien waren demgegentiber, so Lejeune (ebd.), dadurch gekennzeichnet, dass sie geschrieben waren, als ob das „Ich" ein anderer ware. In einem solchen Erzahlmodell verandert die Identitat von Erzahler und Hauptprotagonist nichts an der Perspective. Autobiografien werden also in traditionellen Erzahlmodellen formuliert, an die man so gewohnt ist, dass man sie nicht mehr als Konstruktionen wahrnimmt, sondern als Spiegelung der Wirklichkeit. Der autobiografische Pakt tragt dazu bei, dass die Konstruiertheit in den Hintergrund tritt. Auf der expliziten Ebene tibersetzt er sich, wie gesagt, in einen moralischen Pakt der 'Ernsthaftigkeit'. Innerhalb des Textes wird er dadurch bestarkt, dass der Autor nahe am Erzahltypus des 'plausiblen Lebens' bleibt. Alles wird so gestaltet, als wenn per definitionem die Autobiografie darauf ausgerichtet ware, nur traditionelle Erzahlformen zu verwenden, bzw. einen Erzahltypus erst dann zu verwenden, nachdem er traditionell geworden ist. Im Umkehrschluss heiBt das, dass die langsame Ubernahme von neuen Erzahlformen die Autobiografie auch besonders wertvoll macht als Indikator fur Veranderungen der Ich-Konstruktion. Denn wenn sie dort auftauchen, sind sie wohl schon in erheblichem Umfang 'normal' geworden.

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1.2 Subjekthistorischer Fokus Der subjekthistorische Fokus behauptet eine historische Entwicklung, in deren Verlauf das Bewusstsein entstanden ist, das es dem Autobiografen ermoglicht hat, nicht nur einen quasi vorgefertigten Fragebogen iiber sein Leben auszufullen, sondern eine neue Form der Selbstbefragung und der Sinnkonstruktion fur sein Leben zu entwickeln. Erst jetzt hort Autobiografie auf, eine Variante der Biografie zu sein und stellt sich ihr in gewisser Weise gegentiber. In dieser spezifischen Epoche der fruhen Moderne beginnt man, sich des Werts und der Singularity der Erfahrung jedes Einzelnen bewusst zu werden. Die Autobiografie erlaubt, den Reichtum des singularen inneren Lebens zu erforschen. Gleichzeitig erfullt sie noch eine andere Funktion: Sie verwandelt subjektive Selbsterfahrung in einen sozialen Wert, sie verauBerlicht die Innerlichkeit und stellt sie anderen gegentiber dar. Indem sich das Individuum in seiner Geschichte spiegelt, sucht es nicht seine Kontingenz zu zeigen, sondern seine Notwendigkeit. Die Autobiografie manifestiert also eine neue Situation der Person und bietet eine Losung fur das Gefuhl der Auflosung. Damit ubernimmt sie eine Funktion der Stabilisierung. Solche Uberlegungen decken sich mit denen, die auch in der Identitatsforschung angestellt werden. Das Thema der Identitat ist zwar schon uralt, die einzelnen Subjekte betrifft es indes erst seit dem Beginn der so genannten 'gesellschaftlichen Moderne'. Erst dann wird Identitat zu einer Aufgabe des Subjekts in der spezifischen historischen Situation der Moderne. In der Vormoderne war Identitat dagegen „(...) eine Funktion von festgelegten Rollen und eines traditionalen Systems von Mythen, die Orientierung und religiose Sanktionen boten. Identitat war unproblematisch und nicht Gegenstand von Reflexion oder Diskussion. Individuen durchlebten keine Identitatskrisen, noch anderten sie radikal ihre Identitat". (Kellner 1992: 141)

Der Terminus 'Identitat' wurde erst dann und in dem MaB bekannt, wie die Bildung von personaler Identitat massenhaft zu einem Problem wurde. „Identitat kann nur als ein Problem existieren, sie war von Geburt an ein Problem, wurde als Problem geboren." (Bauman 1997: 134) Der mit den sozialen Rollen „gegebenen" und kaum veranderbaren Identitat gegentiber steht die moderne Identitat. Sie wird „mobiler, multipler, selbstreflexiver und Gegenstand von Veranderung und Innovation" (Kellner ebd.). Die allgemeine Idee der Konstruierbarkeit der eigenen Identitat ist also kein Novum der letzten Jahrzehnte, sondern der grundlegende Gedanke der gesellschaftlichen Moderne, die grob den Zeitraum der letzten 250 Jahre umfasst.

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1.3 Rezeptionstheoretischer Fokus Die Entstehung der modernen Autobiografie, so meine Uberlegung, hat, wie das Auftauchen der Identitats frage, etwas zu tun mit einem veranderten Subjektverstandnis in der Moderne. Die Frage ist allerdings, wie sich eine solche Veranderung in einer Gesellschaft durchsetzt. Aus rezeptionstheoretischer Sicht ist also zu klaren, in welchem Umfang die autobiografie- wie die identitatstheoretischen Entwicklungen iiberhaupt ihren Niederschlag auf der Ebene der Selbst-Diskurse der Individuen gefunden haben. Ungleichzeitigkeiten sind zu vermuten. Zudem miissen verschiedene Diskurswelten nicht notwendig in Kontakt miteinander stehen. Neue, avantgardistische Modelle der Autobiografiekonstruktion mogen ja literaturtheoretisch interessant sein, aber ob sie fur die Selbstkonstruktion der Subjekte Belang haben, ist damit noch lange nicht ausgemacht. Empirisch konnen wir nicht davon ausgehen, dass eine Gesellschaft in homogener Weise „durchindividualisiert" ist (Wagner 1995). Zu erwarten ist vielmehr die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: „Schematisierend (...) kann man sagen, dass im Innern jedes nationalen Raums Individuen und Gruppen koexistieren, die sich nach der Geschichte ihrer Individualisierung unterscheiden." (Singly 2003: 238) Peter Wagner (1995) hat flir Veranderungen in der Identitatskonstruktion ein Modell vorgestellt, das hilft, die Veranderungsdynamik von gesellschaftlichen Subjektmodellen zu strukturieren. Er stellt sich die Frage, wie sehr die Idee der Gestaltbarkeit der eigenen Identitat in einer Gesellschaft FuB fassen und zum realen Referenzpunkt fur die Subjektentwicklung werden kann. Denn die Frage der „sozialen Durchdringung einer Konfiguration mit diesem Gedanken" (Wagner 1995: 232) ist flir eine Analyse einer veranderten Identitatsentwicklung entscheidend. Zur Unterscheidung der einzelnen epochalen Konstruktionen von Identitat in der Moderne schlagt er die drei Kriterien der sozialen Durchdringung, der Wahl und der Stabilitat vor. Erstens ist danach zu differenzieren, wie sehr die Idee einer eigenen Identitat die Gesellschaft durchdrungen hat, wie sehr also alle Mitglieder einer Gesellschaft an diesem Diskurs teilhaben. Zweitens ist zu priifen, inwiefern die eigene Identitat als eine Frage der tatsdchlichen Wahl gedacht wird, wie radikal dieses Verstandnis ist und in welcher Beziehung es zur realen Praxis der Subjekte steht. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass in manchen sozialen Kontexten quasi selbstverstandlich vorgegebene Identitaten ubernommen werden, obwohl die reale Moglichkeit der Wahl besteht. Die Wahl einer Identitat wird zwar gedacht, aber nicht praktiziert, allenfalls mit einem sehr engen Verstandnis des Begriffs der Wahl. Drittes Kriterium flir die Untersuchung von modernen Identitatsmodellen ist das subjektive Verstandnis der Stabilitat einer Identitatskonstruktion. Stabilitat kann flir die einen eine lebenslange Festschreibung bedeuten, flir andere eine Festlegung, die standig offen ist 240

ftir einen Identitatsumbau. Dieses Modell darf keinesfalls im Sinne einer linearen Hoherentwicklung gelesen werden, denn die Entwicklung der Moderne ist im Gegenteil gepragt von komplexen sozialen Prozessen der Entwurzelung und Wiederverwurzelung, des Herauslosens der Subjekte aus sozialen Praxen und Zusammenhangen und ihrer Einbindung in neu entstehende. Erst die subjektive Ubernahme der Idee der freien Wahl, verbunden mit der Praxis des Wahlens und der Um- und Neuentscheidung, schafft das biografische Material, mit dem die narrative Konstruktion eines autonom sich entscheidenden und entwickelnden Subjekts moglich wird. Das Auftreten der Autobiografie als narrative Selbstkonstruktion mit dem Anspruch der Wahrhaftigkeit und einer inneren Entwicklungsgeschichte setzt einen veranderten Begriff der Person voraus. Aus der Sicht der Autobiografieforschung kann die Wagner'sche Frage der Durchdringung mit Blick auf die Entstehung einer europaischen Rezeptionsoffentlichkeit fur Autobiografien beantwortet werden. Es mussten also nicht nur Autobiografien geschrieben werden, damit man zumindest von einer beginnenden Durchdringung der Gesellschaft mit der Idee der Selbstkonstruktion sprechen konnte; sie mussten auch als interessant und lesenswert betrachtet werden. Das, so die These, ware der Beleg fur einen gesellschaftlichen Konsens dariiber, dass das individuelle Leben berichtens- und lesenswert geworden war. Diesen Zeitpunkt datiert Lejeune auf die Jahre nach 1760 (vgl. Folkenflik 1993: 1 ff). Auch wenn es also schon vorher Autobiografien gegeben haben mag, so wurden sie doch erst danach publiziert. Die Existenz der Autobiografie als sozialer Form der individuellen Selbstthematisierung hangt also nicht nur von ihren Produzenten ab, sondern auch von einer rezeptionsbereiten Offentlichkeit. Und im Weiteren ist dann, in Anlehnung an Wagner (1995), bedeutsam, ob die Rezeptionsbereitschaft als Symptom fur verandertes Denken auch umschlagt in eine massenhafte Veranderung individueller Praxis.

2. Verdachtsmomente fur einen Normenwandel Peters Wagners oben dargestellte Uberlegungen fordern eine historische Sicht auf die empirischen Formen der Subjektkonstruktion. Auch wenn die Autobiografieproduktion, formal betrachtet, Veranderungen in der Subjektkonstruktion und ihrer Mimesis nur verzogert aufhimmt, so ist es dennoch sinnvoll, zu fragen, ob sich in diesem Bereich die von Wagner konstatierte Dynamik abbildet. Das verzogerte Ansprechen des Indikators der Formbestimmtheit der Autobiografie auf gesellschaftliche Veranderungen hat diagnostisch namlich eine positive Qualitat. Wenn sich hier Veranderungen feststellen lassen, dann kann man in der Tat davon ausgehen, dass es sich um mehr als Formexperimente einer kultu241

rellen Avantgarde handelt. Die Frage ist also, ob das Modell eines autonomen, sich selbst entwerfenden und autobiografisch stabilisierenden Individuums, wie es Lejeune in seiner Definition ausgestellt hat, heute noch tragt fur eine normative Orientierung des spat-/ postmodernen Autobiografen.

2.1 Empirische Verdachtsmomente Zwei empirische Veranderungen in der autobiografischen Produktion lassen sich in den letzten Jahrzehnten beobachten. Zum ersten zeigt sich an der veroffentlichten Autobiografieproduktion eine erhebliche Zunahme der „NobodyAutobiographien" (Adams 2002) oder „plebejischen Autobiographien" (Johnstone, zit. in Rainer 1997), geschrieben von Leuten wie „dir und mir". „This is the age of memoir (...) Everyone has a story to tell, and everyone is telling it." (Zinsser, zit. in Adams 2002: 1) Die Entwicklung ist mittlerweile so machtig geworden, dass sie bereits fur parodiewiirdig empfimden wird, wie etwa Daniel Harris (2003) schon im Titel seiner Autobiografie-Parodie deutlich macht: „A memoir of no one in particular: In which our author indulges in naive indiscretions, a self-aggrandized solipsism, and an off-putting infatuation with his own bodily functions." Eine solche Entwicklung ist allerdings nicht notwendig ein Indiz daftir, dass sich die normative Konstruktion verandert. Vielmehr kann sie auch einfach darauf hindeuten, dass sich die von Lejeune beschriebene Veranderung der Subjektkonstruktion in einer individualisierten Gesellschaft allmahlich 'normalisiert', also breite Gesellschaftsschichten erfasst. Das Programm der Moderne: ein Selbstentwurf des Individuums jenseits vorgangiger Bindungen, wtirde aus dieser Perspektive vom Privileg der wenigen zunehmend zur Realitat der vielen. Andererseits konnte sich hier durchaus auch eine Veranderung der Subjektkonstruktion abzeichnen, also nicht nur eine Veranderung der Quantitat, sondern der Qualitat. Sie bestiinde darin, dass der gesellschaftliche Vorrat an Ready Mades fur subjektive Koharenzkonstruktionen schrumpft. Die individualisierte Moderne ermoglicht den Einzelnen eine individuelle Sinnkonstruktion, sie fordert sie aber auch, weil sie immer weniger Normalformtypisierungen dazu bietet. Die subjektive Konstruktion von Koharenz wird fur die Einzelnen immer schwerer. Autobiografische Konstruktionen werden also aus der Not heraus betrieben, mit der Vielheit des Lebens umzugehen. Subjektive Koharenzerfahrung wird in der Einheit einer Geschichte noch moglich. Eine solche Diagnose mtisste allerdings auch auf die Kostenseite einer solchen mimetisch induzierten Trostung stoBen, namlich die Reduktion heteronomer Erfahrungswelten auf die Homogenitat einer Geschichte. 242

Die zweite empirische Feststellung stiitzt diese Uberlegung einer Veranderung in der Grundkonzeption der Autobiografie: So zeigt sich, dass die Vorstellung der Autobiografie als narrative Formgebung fur gelebtes Leben am Ende der vita activa nicht mehr uneingeschrankt stimmt. Es gibt zunehmend Autobiografien, die von vergleichsweise jungen Erwachsenen verfasst sind, oft am Ende eines signifikanten Lebensabschnittes, wofur sich in der amerikanischen Literatur der Begriff des 'Memoir' eingeburgert hat. Zumindest tendenziell wird damit der Anspruch aufgegeben, einem ganzen Leben eine Form zu geben. Gleichzeitig werden aber die anderen Kriterien: Wahrhaftigkeit, personliche Sinnkonstruktion beibehalten. Insofern geht es nicht um eine andere Form der Selbstthematisierung, sondern um eine Reduzierung des Koharenzanspruches als Sinnstiftung fur ein ganzes Leben: Aus dem Erzahlprogramm 'mein Leben' wird das Programm '(m)ein Lebensabschnitt'.

2.2 Theoretische Verdachtsmomente Aus theoretischer Sicht lasst sich Lejeunes Merkmalskatalog der Autobiografie als normative Beschreibung fur die Subjektkonstruktion einer rationalen Moderne lesen: Das autonome Subjekt zieht das Fazit seiner inneren Entwicklung. Kein Zweifel scheint auf, dass dies noch gelingen kann. Selbstkonzept und Lebenswerk konnen in der Tat bilanzierend in einen Zusammenhang gebracht werden. Das heiBt nicht, dass das einfach ware, aber doch, dass es machbar ist. Die Skepsis gegenuber einem solches Subjektmodell ist heute offensichtlich. Fur die Artikulation dieser Skepsis gibt es viele Stimmen. Ich konzentriere mich hier auf identitats- und narrationstheoretische Uberlegungen.

2.2.1 Die Skepsis der Identitdtstheorie Sie liegt in der Feststellung, dass die „Tendenz der Subjekte wachst, ein Mehr an inneren Identitatsmoglichkeiten zuzulassen" (Honneth 2000: 1087). Fur das Individuum ist es unmoglich geworden, seine Identitat als Einheit zu artikulieren. Es kann sich identitar nur noch in Spezialkontexten als Ganzes beschreiben und so eine strategische Haushaltung seiner Krafte gegenuber den unterschiedlichen Systemanforderungen sicherstellen. Der Ansatz einer „PatchworkIdentitat" (Keupp et al. 2002) kann hier als Stellvertreter fur eine ganze Reihe von ahnlichen Uberlegungen stehen. Alasdar Maclntyre (1997: 241) betont in gleicher Weise, dass jeder Versuch, ein menschliches Leben als ein Ganzes zu

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sehen, heute scheitern muss. Die gesellschaftlichen Hindernisse ftir eine solche ganzheitliche Sicht resultieren „(...) aus der Art und Weise, in der die Moderne jedes menschliche Leben in eine Vielfalt von Segmenten zerteilt, jedes von ihnen mit seinen eigenen Normen und Verhaltensmodi. (...) Und alle diese Scheidungen sind in einem AusmaB erreicht, dass es ihre jeweilige Besonderheiten sind, nicht die Einheit des Lebens der Person, in denen wir zu denken und zu fuhlen gelehrt werden". (Maclntyre ebd.)

Die Vielfalt der Lebenswelten, die Myriade von Selbsterfahrungen, die Kiirze der Zeitperspektiven und ihre Asynchronizitat: Wie ist es in einem so beschriebenen Selbsterfahrungsraum noch moglich, sich in der Einheit einer Person zu erfahren mit einer Kontinuitat tiber die Zeit? Muss eine so zersplitterte Erfahrungswelt nicht wiederum zu einem zersplitterten Subjekt fuhren? Die Vorstellung von einem autonomen, von den anderen abgegrenzten Subjekt, das vom Teldherrnhuger seine Identitatsentwicklung steuert, muss notwendigerweise in Schwierigkeiten geraten, wenn der Einzelne mehr erlebt, als er erfahren, das heiBt fur sich verarbeiten kann. Die Uberlegung, dass die Gesellschaft die Selbsterfahrung als koharentes Selbst einfach nicht mehr ermoglicht, zumindest aber sehr erschwert, wird auch von anderen gestutzt. Nach Levi-Strauss (1977: 11) ist in traditionalen Gesellschaften die Inkoharenz des Subjekts nicht etwa nicht vorhanden, sie stellt vielmehr kein Problem dar, und zwar deswegen, weil der gesellschaftliche Kode in hohem MaBe umfassend und stabil ist. Pointiert gesagt, braucht das Individuum in vormodernen Gesellschaften keinen inneren Zusammenhang zu produzieren, weil die Gesellschaft ihn bietet. Die Dissoziation, die Aufsplitterung des Subjekts wird also erst in dem MaBe ein Problem, wie die Gesellschaft selbst sich dissoziiert und damit die Koharenzzumutung an das Individuum weitergibt. Die Garantieleistung fur das koharente Subjekt als Grundlage gesellschaftlicher Kodes und Transaktionen geht also von der Gesellschaft auf das Subjekt in dem MaBe iiber, wie die in den Lebensverhaltnissen eingelagerten gesellschaftlichen Koharenzgarantien wegschmelzen. Und selbst die Kernbestande unserer Identitatskonstruktionen - nationale und ethnische Identitat, Geschlechts- und Korperidentitat - haben ihre quasi „naturliche" Qualitat als Identitatsgaranten verloren. Denn der Nationalstaat als Ausdruck sprachlicher geographischer und kultureller Identitat ist keine Naturgegebenheit, sondern eine „sehr spate Erfindung" des 19. Jahrhunderts, ein Paradebeispiel fur die „Erfmdung von Tradition" (Hobsbawm 1996). Gleiches lasst sich tiber die soziale Konstruktion von Ethnizitat sagen (Barth 1998). Auch das Vertrauen in die Stabilitat der Geschlechtsidentitat ist uns abhanden gekommen. Die feministische Forschung betont die soziale Konstruktion der Geschlechtsidentitat, verweist auf den Un244

terschied zwischen Sexus und Gender und hebt die besondere - machtgepragte Form von Alteritat in der Beziehung der Geschlechter hervor (Rommelspacher 1995). Und sie verweist - wichtig fur die Frage der Relevanz von Autobiografiemodellen - darauf, dass weibliche Leben schon immer anders verlaufen seien, denn „die Frauen haben immer diskontinuierliche und kontingente Leben gelebt" (Bateson 1989: 13). Nicht einmal unser Korper taugt mehr uneingeschrankt als unverrtickbares Referenzschema, das in seiner Stabilitat als Einheit und Grenze unauflosbar scheint. Er ist nicht mehr bloB materiale Hiille fur Identitat, sondern ein gestaltbares Referenz-Schema daftir; er wird „gestaltet, dekoriert und trainiert als Ausdruck der Identitat eines Individuums" (Shilling 1993: 200). Solche Basissicherheiten der Identitat scheinen zwar oft noch durchaus zu halten; aber die Einzelnen mtissen sich doch deren Qualitat als soziale Konstruktionen und damit ihrer Gestaltbarkeit bewusst werden. Das Festhalten an den Residualbestanden oder die Rtickkehr zu verlorenen Glaubenssystemen2 sind keine echte Option. „Solche Anstrengungen bewirken letztendlich das Gegenteil, denn Kampagnen fur die Wahl eines bestimmten Wert- und Glaubenssystems haben tendenziell den subversiven Effekt, die Menschen dariiber zu informieren, dass sie Wert- und Glaubenssysteme frei wahlen konnen. Allzu oft erweisen sich Indoktrinationen, selbst solche in traditionale Grundsatze, de facto als Kurse ftir postmodernes Denken." (Anderson 1990: 5)

Identitatsarbeit ist das Projekt, in diesen Unsicherheiten Selbstpositionen zu entwickeln. Nach Hahn & Bohn (1999) erfolgt die Beschreibung der Individualitat zum einen im Modus der „partizipativen Identitat", zum anderen im Modus einer „biographischen Identitat". Weil die gruppenspezifischen Merkmale nicht eindimensional sind und sich lediglich in Teilaspekten artikulieren, bedarf es wiederum der Biografie mittels narrativer Synthese zur Konstruktion einer Gesamtidentitat, die das Individuum als ganze und einzigartige Person beschreibt. Die Biografisierung ist also notwendiger Bestandteil von Identitatsarbeit. Aus der skeptischen Sicht einer konstruktivistischen Identitatstheorie ist die Frage, wie ein narrativer Organisationsprozess ftir dieses Erlebensmaterial heute beschaffen sein muss, um angesichts der zersplitterten Welterfahrung eine solche Syntheseleistung noch erbringen zu konnen. Ist nicht zu befurchten, dass die Kosten hoher sind als der Nutzen, dass das Abschneiden von gelebter Vielfalt in einem koharenzfixierten Gewaltakt, das Ausblenden alles Inkommensurablen, gerade diese Funktion der Synthese nicht mehr erfiillen kann?

2

Dazu rechne ich auch die Rebiologisierung im Korper- und Geschlechtsdiskurs, wie im Ubrigen auch in der klinischen Psychologie (vgl. Scull 2005).

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2.2.2 Die Skepsis der postmodernen Narratologie Untersttitzt wird die Skepsis von den Positionen postmoderner Literaturproduktion. Die narratologische Forschung hat ihre Charakteristika herausgearbeitet (vgl. McHale 1987; Currie 1998). Eine ganze Reihe ihrer Kennzeichnungen sind identitatstheoretisch anschlussfahig (Kraus 2000). So ist etwa der Verzicht auf den unitaren Autor und Handlungstrager ein zentrales Kennzeichen. Es geht hier nicht um ein einheitliches Gegenmodell zum zentralen Autor, sondern um eine Vielfalt von Experimenten in der Beziehung von Autor, Handlungstrager und Geschichte. Der allwissende Autor wird dekonstruiert und in vielen Lesarten und Wirkformen - im wortlichen wie im ubertragenen Sinne - vorgeftihrt. Dies geschieht etwa durch die Presentation pluraler Erzahlwelten mit je unterschiedlichen Positionierungen des Handlungstragers. Postmoderne Selbsterzahlungen verweigern sich einer Integration aller Lebenswelten. Das Subjekt insistiert auf der Vielzahl moglicher Selbst-Diskurse und auf ihrer Unverbundenheit. Und es tut dies nicht aus einer Verlustperspektive heraus, sondern in einem Ausloten der Moglichkeiten. Denn die grofle, geschlossene Erzahlung ist, wie Louis Marin (1978) sagt, eine „Falle". „Sie macht glauben und sie veranlasst zum Tun, sie nimmt dies auf und ignoriert jenes, sie klassifiziert. Auf der anderen Seite produziert sie Vergessenheit, sie verhangt Schweigen uber das, wortiber sie nicht spricht. Und weil sie immer 'ganz' und geschlossen ist, macht sie sogar vergessen, dass sie etwas zuriickhalt." (Certeau 1978: 83)

Auch der lineare Zeitbegriff als narrativer Organisator wird aufgegeben. Der Glaube an die Planbarkeit, an den Entwurf der eigenen Identitat in die feme Zukunft ist verschwunden. Planen findet allenfalls noch als ironische Geste statt. Der Erzahlbogen ist reduziert. Die Selbsterzahlung verzichtet auf eine Sinn-Stiftung uber ein ganzes Leben bzw. lange Lebensabschnitte hinweg. Zeitlogiken werden revidiert, durchbrochen, konterkariert. Die Erzahlungen situieren sich im Hier und Jetzt. Und sie 'spielen' mit der Erzahl-Situation, indem sie die Rolle des glaubwtirdigen Erzahlers unterminieren. Hinzu kommt die Betonung von Kontingenz. Die Handlungstragerschaft des Einzelnen wird ebenso bezweifelt, wie die Wirkung tibergreifender Sinnstifter und Schicksalsmachte. Das unitare Selbst lost sich auf in eine Polyphonie von Stimmen. Der Zweifel an der Haltbarkeit von Projekt-Entwtirfen zeigt sich im reflexiven Zitieren 'klassischer Selbsterzahlungen' als Versatzstticke, Ready Mades, in den situativen Selbsterzahlungen. Nicht das Leben erzahlt sich, sondern ein Autor verwendet, situativ bestimmt, Erzahlformen. Dies verdeutlicht er nicht zuletzt dadurch, dass er sich der Finalisierung der Erzahlung, der Konstruktion eines 'guten Endes' verweigert. Der Erzahler kann nicht mehr darauf hoffen, 246

dass alles gut wird, noch, dass er die Sache im Griff haben kann. Er verzichtet, darauf, die Erzahlung 'rund' zu machen, alle Faden zu verkniipfen. Gepragt ist die Erzahlung zudem von einem hohen MaB an Reflexivitat, die sich haufig in einem ironischen Gestus zeigt. Wie lustvoll der Gestus allerdings ausfallt, hangt ganz wesentlich von den Ressourcen der Einzelnen ab. Aus der Sicht einer narrativen Identitat werden also in postmodernen Erzahlungen die Elemente des Inkommensurablen, UnabschlieBbaren, Disparaten betont gegentiber der hegemonialen Form einer „wohlgeformten Narration" (Gergen/ Gergen 1988), welche die Ideale der Moderne: Koharenz, Integration, Autonomie hypostasiert. Hinzu kommt das dialogische Moment des Erzahlens, auf dem Gergen (2000) insistiert, die Frage nach der Ko-Konstruktion von Selbsterzahlungen. Im Moment der Dialogizitat steckt auch die Kritik an der Vorstellung eines autonomen Werkbegriffes, wie sie in der Identitatstheorie als Kritik an der Idee eines autonomen, singularen Selbst formuliert worden ist. Es fmden also komplexe und keinesfalls eindeutige Prozesse der Selbstpositionierung statt (Langenhove/ Harre 1999). Eine weitere Anfrage an das Modell einer wohlgeformten Narration bezieht sich auf die Frage der Macht, die im Bereich der 'Identity Politics'-Ansatze im Zentrum steht: Wie ist innerhalb der Narration die Machtbestimmtheit lokalisiert und wie wird in der diskursiven Konstruktion der Erzahlung die Frage der Macht verhandelt. Denn beides ist wichtig, die Einschreibung der Macht in das narrative - situative - Resultat, wie auch ihr Einfluss auf seine dialogische Genese. Auch auf die Frage der Alltaglichkeit narrativer Identitatsbildung stoBen uns postmoderne Erzahlpraktiken. Kann man Identitatsbildung begreifen als dem Alltag entriicktes Nachdenken tiber sich? Ist es nicht vielmehr so, dass subjektive Sinnbildung standig stattfindet, vor wechselnden Auditorien, in wechselnden Kontexten, in unterschiedlichen Machtkonstellationen. Sinn kame dann ins individuelle Leben nicht nur in der groBen Selbsterzahlung Uber 'mein' Leben, sondern immer dann, wenn jemand von sich - situativ bestimmt - und seiner Welt redet. Denn dass unsere Lebensgeschichte vollstandig reprasentiert wtirde, ist doch, wie Charlotte Linde (1993: 6) feststellt, ein hochst seltener Fall. Wir erleben mehr als wir erzahlen und wir erzahlen anders vor jeweils anderen. Je nachdem, mit wem wir sprechen und welches Selbstbild wir prasentieren wollen, geben wir 'unseren' Geschichten unterschiedliche Farbungen, wir lassen das eine aus und betonen das andere. Insofern sind die Selbsterzahlungen in der Tat ein 'work in progress', dessen Teile und Varianten sich immer wieder verandern, je nachdem, wie die Zuhorerschaft darauf reagiert und je nachdem, wie wir aktuelles Leben integrieren mtissen. Identitatsbildung ist dann keine narrative GroBtat, sondern ein kontinuierlicher Prozess, der sich in der Formulierung von Myriaden von „minimal narratives" (Prince 1999) vollzieht. 247

3. Autobiografie-Ratgeber als Forderer und Indikatoren des Normenwandels Was kann ein Ratgeber jemandem empfehlen, der sich dieser narrativen GroBtat, dem Verfassen einer Autobiografie stellen mochte? Kann er die postmoderne Diskussion ausklammern, einfach die Scheuklappen aufsetzen und sich auf seine Rolle als Textexperte beschranken: Der Textexperte hilft dem AutorAspiranten als dem 'Experten ftlr sein eigenes Leben', dieses in eine kanonisierte Textsorte zu transportieren. Punkt. Kann er den Autor in spe in seinem theorieblinden Stolz belassen, ein Selbstprasentationsmodell durchexerzieren zu wollen, das fruher den 'groBen Leben' vorbehalten war? Soil er ihn vorsichtig unterstiitzen mit der aufklarerischen Erlauterung, dass er sich hier einer kompensatorischen Identitatsstrategie bedient, die sich am Problem fehlender Koharenz abarbeitet, ohne jemals mehr als eine fiktive Losung daflir finden zu konnen; oder soil er ihm vielleicht gar raten, sich einen anderen Zeitvertreib zu suchen, weil schon vor geraumer Zeit das „Ende der Autobiographie" ausgerufen worden ist (Sprinker 1980)? So oder ahnlich: Autoren von Ratgeberliteratur fur autobiografisches Schreiben mlissen fur sich die Frage beantworten, wie sie sich in ihrem eigenen (Ratgeber-) Text positionieren, welches 'Skript' sie also verwenden und welche Sprecherposition sie darin einnehmen. Sie tun dies aus einer Vielzahl von Uberlegungen heraus, die wiederum mit ihrer eigenen Identitat und ihrer Position gegentiber den Diskurswelten der Leser, der autobiografischen Theorie und Lebenskunst zu tun haben. Insofern lassen sie sich auf ein komplexes Manover ein, das ein stillgestelltes Ergebnis hat: den Ratgebertext. Als Ratgeber hat dieser Text eine normative Seite: Er behauptet zu wissen, was gut und richtig ist. Er gibt also Auskunft iiber Normen fur ein solches Produkt und vermittelt den Sinn solchen Tuns. Ein so verfasster Ratgebertext wird gekauft oder auch nicht, als ntitzlich empfunden oder auch nicht. Naturlich ist die Verwertung des Textes nicht tiber seine Analyse zu erfassen. Implizit gibt es aber zuweilen durchaus Hinweise daflir. Manche solcher Bticher sind namlich schon in mehreren Auflagen erschienen, andere aus Seminaren hervorgegangen, welche die Autoren selbst abhalten. Insofern sind die Reaktionen der Leser im Text implizit prasent. Die Reaktion der Leser gibt Auskunft dariiber, ob die normative Botschaft mit der Lebenswirklichkeit der Leser in Einklang zu bringen ist oder nicht. Daher kann man die Ratgeberliteratur fur autobiografisches Schreiben als Indikatoren daflir betrachten, ob das individualisierte Individuum die Probleme der biografischen Selbstkonstruktion erfahrt, die ihm die postmoderne Diskussion zuschreibt, ob der Theoriediskurs mit dem Ratgeberdiskurs in Verbindung steht, welche Uberlegungen also Eingang finden in diesen Praxisdiskurs. 248

3.1 Die Ratgeber Ratgeber geben einen Rat, beanspruchen also eine gewisse Autoritat und transportieren notwendig eine normative Vorstellung. Indem sie Autoritat beanspruchen, versprechen sie, zu einem Positionierungsvorteil zu verhelfen, der gesellschaftliche Anerkennung sichert. Indem sie eine normative Vorstellung vermitteln, geben sie einen Zielkorridor an, in den hinein sich der Ratsuchende bewegen soil. Die normative Vorstellung umfasst letztlich alle Aspekte eines solchen Projektes: Warum schreiben, wie schreiben, was schreiben, was nicht schreiben? Die Frage ist, wie solche Ratgeber aussehen, was sie empfehlen, welche Probleme sie als solche identifizieren, mit welchen Diskursraumen sie in Verbindung stehen. Lejeune (2000) hat eine Analyse dieser Literatur vorgelegt und festgestellt, dass sie zum allergrofiten Teil US-amerikanischen Ursprungs ist. Die ihm vorliegenden Manuale entstanden alle nach 1975. Zwei Gruppen lassen sich unterscheiden. Zum ersten die Bucher der j o u r nal Therapy", die alle, in Anlehnung an C. G. Jung, von ihrem Begrtinder Ira Progoff (1992) inspiriert sind. Die Journal Therapy hat als Herzstuck Schreibiibungen, die auf eine innere Entwicklung zielen. Die Schreibaufgaben sind unterschiedlich: autobiografisch, tagebuchformig, phantasiebezogen, zukunftsorientiert. Das Ergebnis ist nicht fur Dritte bestimmt. Von daher haben wir hier keine Triade von Autor, Text und - zunachst imaginiertem - Leser, sondern eine Dyade zwischen Autor und Text. Ziel der Methode ist es, den Kontakt mit dem eigenen „true self herzustellen und seinem Leben eine spirituelle Dimension zu geben. „You become immersed in your own growth, drawing forth your unique potential and unfolding life process", verspricht die Website des „Progoff Intensive Journal Program for Self-Development" (Progoff 2005). Sie bietet Seminare an, in denen diese Methode eingetibt wird und versichert, dass die seit 1966 abgehaltenen Seminare mittlerweile 175000 Teilnehmern geholfen hatten, „ein erfullteres Leben zu fuhren" (ebd.). Ich konzentriere mich im Weiteren auf die zweite Gruppe der Manuale. Das sind die Autobiografiefuhrer im eigentlichen Sinne: Sie begrtinden, warum man sein Leben erzahlen soil, wie man die Fakten zusammensammelt, wie man Szenarien des Lebens (wieder) findet, einen Plan macht, den richtigen Ton und die richtige Stimme findet. Aus diesem Kontext kommt im iibrigen eine erhebliche Skepsis gegenuber einer therapeutischen Wirkung des autobiografischen Schreibens, wie sie Progoff zumindest nahe legt. Denn anders als - im ubertragenen Sinne - der Therapeut „verlasst der Text niemals das Papier, um die Rolle, die wir ihn spielen lassen, zu prazisieren oder zu verdeutlichen!" (Tisseron 2004: 32). Technik des Selbst' ware wohl eine bessere Kennzeichnung fur

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solche „writing cures"3 im Sinne Progoffs. In der zweiten Gruppe von Manualen ist jedoch nicht nur der Text als intimer Partner das Gegentiber des Autors, sondern auch die 'Anderen' sind es. Denn sie werden als zumindest potentielle Leser immer mitgedacht. Wir haben also einen triadischen Bezug von Autor, Text und Leser. Entsprechend spielt die Publikationsfrage in den Ratgebern eine prominente Rolle. Auch wenn solche Manuale in aller Regel konventionelle Autobiografie-Konstruktionen vorschlagen, so sind, wie Lejeune feststellt, die damit adressierten Probleme doch unbestreitbar. Sein Fazit nach der Analyse einer ganzen Reihe solcher Manuale ist kritisch positiv: „Ja, die Manuale sind ideologisch gepragt. Fast alle sind optimistisch (Ihr Leben hat einen Wert, finden Sie die Schatze wieder, die in Ihnen verborgen sind), betonen die persOnliche Entwicklung. Sie sind fast alle sozialkonformistisch (richten sich eher an die GroBmtitter, als an arbeitslose Schwule). Und sie gehOren nicht zur literarischen Avantgarde." (Lejeune 2000: 46)

Drei Manuale stelle ich naher vor. Ich werde mich insbesondere auf mein drittes Beispiel konzentrieren, das Manual von Tristine Rainer. Der Grund dafiir ist, dass es aus meiner Sicht in der Tat Veranderungsprozesse in der didaktischen Vermittlung von Autobiografiemodellen zeigt. Das erste Beispiel ist zwar erst jiingst erschienen, aber sehr konventionell: ^Comment ecrire ses memoir es?" von Marianne Mazars (2005). Die Autorin betont zunachst einmal das Schreiben als quasi anthropologische Grundkonstante des Menschen, das Buch als kulturelles Symbol des Menschseins. „Jedes menschliche Wesen ist geboren, um ein Buch zu schreiben", zitiert sie die ungarische Autorin Agotha Kristof zu Beginn ihrer Einleitung. Jeder Mensch ein zukiinftiger Autor. Diesem hohen Einstieg entsprechend, werden wir erst einmal auf drei Seiten iiber viele Jahrtausende hinweg durch die Entwicklung der Schreibkultur gefiihrt. Es folgt eine kiirzere Geschichte der Autobiografie mit einem Zitat von Rousseau, das exemplarisch fur das gelten kann, was Lejeune (1994) den „pacte autobiographique" genannt hat: Die auBertextliche Versicherung der Wahrheit, und die programmatische Anktindigung des Autors, das zu sagen, was er getan und gedacht hat und weder das Gute hervorzuheben, noch das Schlechte zu schonen. Daran kntipft sich, so die Autorin, aber auch ein rechtliches Problem, denn die Wahrheitsversicherung verpflichtet den Autor nicht nur gegentiber den Rezipienten, sondern setzt ihn auch moglicherweise in Konflikt gegentiber den in seiner Autobiografie auftretenden Personen. Die mogen ihn belangen wegen Diffamierung oder Verletzung ihrer Intimsphare.

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Vgl. Lepore & Smyth (2003) als umfassende Stellungnahme aus der Sicht der akademischen Psychologie zur Frage der „writing cures".

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Grundsatzliche Zweifel iiber den Sinn eines solchen Unternehmens, versucht Mazars zu zerstreuen, indem sie versichert, dass jedes Leben es wert sei, erzahlt zu werden. Weitere Argumente sind, dass auf diese Weise schwierige Momente eines Lebens innerlich abgeschlossen werden konnen: eine Seite zu schreiben, heiBt, sie danach auch umblattern zu konnen. Auch bei der kontinuierlichen und unabschlieBbaren Aufgabe der subjektiven Sinnkonstruktion, des „Meaning Making" im Sinne Jerome Bruners (1997), hilft die Autobiografie. Und schlieBlich hinterlasst man so auch eine untilgbare Spur fur die Nachwelt und fordert den Dialog der Generationen. Die Strukturvorschlage Mazars orientieren sich an klassischen Etappen bzw. Lebenswelten: Kindheit, Jugend, Arbeit, Familie, Hobbies usw. Als Grundstrategie wird die Orientierung an Handeln, Denken und Empfmden vorgeschlagen. Ein Drittel des Buches schlieBlich beschaftigt sich mit dem Bildungskanon: mit Stilkunde, Grammatik und Orthographie, derm es ist wichtig, so die Autorin, dass die Autobiografie in einem „bon Francais" geschrieben ist. Mazars Ratschlage sind, mit franzosischen Eigenheiten, aus dem normativen Konzept einer ersten Moderne zu verstehen: Sinnkonstruktion als Aufgabe, innere Entwicklung als Reprasentationsprogramm, Orientierung an der Normalform eines Lebenslaufes als Strukturvorschlag. Die Frage der Wahrheit ist kein Reprasentationsproblem, sondern ein juristisches. „How to write your own life story. The classic guide for the non-professional writer<( von Lois Daniel, mein zweites Beispiel, ist 1980 zum ersten mal erschienen und mittlerweile in der vierten Auflage (Daniel 1997). Das Manual steht fur den Fall, dass die Erfahrungen des Autors in Seminaren und personlichen Gesprachen mit Autobiografieschreibern Einfluss gefunden haben. Dabei kommt Daniel nicht von einer theoretischen Position her, sondern versucht einfach Antworten auf Probleme zu finden, die sich ihm empirisch stellen. Besonders bemerkenswert erscheint mir seine Feststellung, dass sich zunehmend junge Leute fur das Schreiben iiber ihr Leben bzw. einen zentralen Lebensabschnitt interessieren. Autobiografie also nicht mehr am Ende der vita activa, sondern als kontinuierliche bzw. periodisch zu aktivierende reflexivmimetische Sinnproduktion. Auch seine erfahrungsgetrankte Feststellung, dass es schwer fallt, einem ganzen Leben einen Sinn zu geben, deutet in die oben theoretisch skizzierte Veranderungsrichtung. Die rhetorische Figur, in die er seine Erkenntnis kleidet, ist die Erzahlung von Kursteilnehmern, die an „groBen Geschichten" gescheitert sind und ftir sich „Not-L6sungen" gefunden haben, etwa das Schreiben kleiner Geschichten, kurzer Episoden, manche nicht langer als eine Viertelseite. Andere wahlten die Form von Beschreibungen, ohne Handlung, um Gefuhlslagen, Empfmdungen zu verdeutlichen (Daniel 1997: 163 ff). Aus einem theoretischen Fokus erscheint die Position Daniels als eine, in der die Sinnhaftigkeit des autobiografischen Projekts aufrechterhalten wird gleichzeitig 251

aber auf jeden normativen Reprasentationskode verzichtet wird. Die Muhsal der Selbstkonstruktion fordert Erfindungskraft. Alle Losungen, die dabei helfen sind auch legitim. Tristine Rainer (1997), mein drittes Beispiel, geht am weitesten mit der Popularisierung eines postmodern informierten Verstandnisses von autobiografischem Schreiben. Schon der Titel ihres Buches, „Your life as story. Discovering the 'New Autobiography' and writing memoir as literature", betont das Neue an ihrem Ansatz. Rainer beginnt mit einem Zitat von Anai's Nin: „Was die Menschen verzweifeln lasst, ist, dass sie versuchen einen universellen Sinn im Leben zu finden, und sie kommen schlieBlich dahin, zu sagen, dass es absurd, unlogisch, sinnlos ist. Es gibt keinen groBen kosmischen Sinn fur alle, es gibt nur den Sinn, den jeder von uns seinem Leben gibt, ein individueller Sinn, ein individueller Plot, wie ein individueller Roman, ein Buch fur jede Person." (Nin zit. in Rainer, 1997: 1)

Rainer betont, dass der groBe Erzahlbogen, die saubere biografische Ordnung fair sie persOnlich keinen Sinn gemacht habe. Sie habe ihr bisheriges Leben vielmehr als ungeordnetes Patchwork erlebt. Ein Sinn war fur sie nicht zu finden. Resonanz fur diese Sichtweise bietet, so Rainer, die feministische Autobiografie-Kritik. Mary Bateson (1989) etwa bezweifelt, dass die lineare Erzahlstruktur der heroischen Suche auf die „Stop-and-Start-Lives" der Gegenwart anwendbar ist. Andere beobachten, dass Frauenleben fragmentierter sind, dass die autobiografischen Erzahlungen von Frauen weniger eindeutig strukturiert sind. Frauen, so Rainer, werden weniger ermuntert, ihre Wtinsche zielstrebig zu verfolgen. Daher ergeben sich Unterbrechungen, Gabelungen, Verschlingungen in deren Verfolgung ttber ein Leben hinweg - eine weitere Erschwernis fur eine klar strukturierte Erzahlung. Das Erzahlkonzept (a) des Ziels und (b) des Wegs dahin, mit einer Krise und einer Klimax am Ende, wird ebenfalls als mannliches Konstrukt decouvriert. Die dramatische Reise des Helden mag flir Manner funktionieren, die das Leben linear denken. In welchem Denkmodell also konnen sich diejenigen aufgehoben fuhlen, die mit einem linearen Erzahlkonzept nicht zurecht kommen? Rainer empfiehlt ihren Ansatz der „New Autobiography". In einem emphatischen Absatz wirbt sie daftir: „Die 'New Autobiography' ist ein kraftvoll demokratischer und sehr persOnlicher Typ des erzahlenden Schreibens, der, wenn auch wenig verstanden, in unserer Kultur zunehmend popular wird. Sie ist neu, weil sie mit neuen Stimmen geschrieben wird, nicht nur denen, welche die offizielle und dominante Sicht von oben reprasentieren. Sie ist neu, weil sie mehr als Selbstentdeckung denn als Selbstbeforderung geschrieben wird. Sie ist neu, weil sie individuelles Leben weder unter der puritanischen Perspektive moralischer Erbauung, noch dem Credo materiellen Erfolgs des 19. Jh., noch den Mustern reduktionischer Psychologie des 20. Jh. betrachtet, sondern liber die Verbindung von Literatur und Mythos. Stilistisch ist sie neu, weil sie Erzahltech-

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niken verwendet, wie Szenen und Dialoge, die der fiktionalen Erzahlung entliehen sind." (Rainer 1997: 10)

Rainer beruft sich dabei auf den „New Journalism", ein von Tom Wolfe (1975) entwickeltes Konzept journalistischen Schreibens, das ebenfalls mit Erzahltechniken aus dem fiktionalen Schreiben operiert und die Person des Journalisten in die Darstellung mit einbezieht. „Finding one's voice", die eigene, bislang unterdriickte Stimme finden, das ist ein Leitmotiv in diesem Ansatz. Rainer sieht den Bedarf dafiir bestatigt in der wachsenden Zahl von Autobiografien liber bislang „unsichtbare Leben" wie von Frauen, Minoritaten, Immigranten, Homosexuelle. Empirisch finden sich, so die Autorin, alte und neue Formen der Biografieschreibung nebeneinander. Das macht es so schwer, sich ein Bild zu machen. Ein wesentlicher Unterschied ist der Umgang mit der Wahrheit, hier verstanden als die Aufhebung der Demarkationslinie zwischen Fakt und Fiktion, wie sie durch den „pacte autobiographique" gezogen worden ist. Rainer wehrt sich gegen die alarmistische Warnung, dass „(••) die AuflSsung der Unterscheidung von Genres symptomatisch ist fur den Zusammenbruch von Gesellschaft tiberhaupt, verbunden mit der Panik, dass das Mischen von wahren Geschichten und fiktionalen Techniken, das gleiche ist wie die Mischung der Rassen (...) es ist unrein." (Rainer 1997: 34)

Denn nach ihrer Einschatzung ist die Autobiografie so unrein wie das Leben selbst. Gemeint ist damit, dass es keine journalistische Objektivitat in der Autobiografie gibt und dass es darum hier auch nicht geht. Es geht vielmehr um tiefere „psychologische, poetische Wahrheiten". In diesem Sinn kann eine erfundene Szene, ein erfundener Dialog wahrer sein als jede faktenschwere Erzahlung. Ein weiterer Punkt der Veranderung betrifft die Frage der Erzahlung in der ersten Person. Das kann so sein, muss aber nicht. Rainer beschreibt dies am Beispiel eines Memoirs, das nur aus der Zusammenstellung von Briefen an den Autor besteht. Der Autor hat also lediglich die Briefe zusammengestellt. Er taucht nur als Adressat der Briefe auf und wird genau dadurch umso sichtbarer (Rainer 1997: 63). Wie wichtig diese poetische Form von Wahrheit ist, zeigt sich, so Rainer, wenn die Autoren versuchen, uber ihre Sexualitat zu schreiben. Das gelingt nach ihrer Erfahrung nur, wenn die Autoren „eigentlich" tiber Intimitdt sprechen. Wird Wahrheit als Faktizitat verstanden, gleiten solche Darstellung ab ins Pornographische (ebd.: 208 f). Ein weiterer zentraler Punkt fur die New Autobiography ist die Betonung der Stimme („voice") (ebd.: 123). Die eigene Stimme fmden, verweist auf ein grundlegendes Gestaltungsmerkmal von Erzahlungen. Dabei geht es zum einen

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darum, die Polyvokalitat, die Vielzahl der inneren Stimmen jedes Einzelnen von uns zumindest grundsatzlich horbar zu machen, zum anderen urn die eigene Identitat, um das Ablegen einer uns aufoktroyierten Stimme. „Der Begriff 'finding your voice' legt nahe, dass sie verloren gegangen ist. Und ich vermute, dass dies bei vielen gebildeten Menschen der Fall ist. Sie haben gelernt in 'King's English' zu schreiben, aber weil sie nicht der 'King' sind, ist es eine Art von Bauchrednerei. Es kann sein, dass sie noch nie in Ihrer naturlichen Stimme geschrieben haben, sondern in einer Stimme, die Tom Wolfe 'die beige Stimme' genannt hat, wie sie in Geschaftsbriefen, juristischen Schriftsatzen, Zeitungsartikeln, und im akademischen und institutionellen Schreiben verwendet wird. Auch wenig gebildete Menschen mit ganz eigenen Sprechstimmen kOnnen zum Schreiben in die beige Stimme abgleiten, wenn sie ihren Stil zu andern versuchen." (Rainer 1997: 124)

4. Die reflexive Konstruktion von Identitat: Manuale als Wegbereiter reflexiver Selbstthematisierung Auf den ersten Blick konnte man meinen, das von manchen Autoren konstatierte 'Ende der Autobiografie' habe sich noch nicht herumgesprochen. Denn vieles spricht dafur, dass heute mehr Autobiografien denn je entstehen. Und nicht nur die Produktion nimmt zu, auch in den Literaturwissenschaften ist das Nachdenken ttber Autobiografie en vogue (vgl. etwa Holdenried 2000; Wagner-Egelhaff 2000). Auf den zweiten Blick ist es vielmehr eine spezifische Art der Autobiografie und des dahinter liegenden Subjektbegriffs, die zu Ende kommt, namlich die Idee einer Autobiografie als paradigmatischer „Ausdruck des autonomen Selbst als Souveran des Wissens von sich und seiner Welt" (Finck 1999: 11). Indem die postmoderne Autobiografietheorie und ihre Popularisierung in Manualen den hybriden Charakter der Autobiografie zwischen Fakt und Fiktion offen legt, erledigt sie dieses Genre gerade nicht, sondern eroffhet ihm neue formale und funktionale Moglichkeiten. Ihre Nutzung lauft zweifellos parallel zur traditionellen Autobiografieproduktion, die es ja in groBem Umfang nach wie vor gibt. Die 'Schwalbe' Tristine Rainer macht vielleicht noch keinen Sommer, aber sie konnte ihn anktindigen. Denn es lassen sich zweifellos Anzeichen fiir normative Veranderungen konstatieren. Die 'guten Grande' fur das Schreiben einer Autobiografie verlagern sich vom Resumee der vita activa hin zu einer identitaren Koharenzarbeit, die nicht mehr im Kanon von Kindheit, Jugend, Erwachsensein verlauft, sondern vielfaltige Formen und Facetten gelebten Lebens darstellt. Das weist auf eine Schwachung der Kanonisierung von Lebenswegen hin. Insbesondere die Erwachsenenphase ist davon betroffen. Sie hat weit mehr als die Jugendphase normative Modelle verloren und gerat daher besonders unter identitare Spannungen (Cote 2000). Narrative Koharenz ist insofern nicht mehr etwas, was unhinterfragt 254

konstruiert werden kann und muss. Sie ist nur noch ein diskursiver Zielpunkt, der in reflexiven Prasentationsmanovern angepeilt, nicht jedoch: erreicht, wird. Zu einer solchen Entwicklung passt die Beobachtung, dass Autobiografien zunehmend auch von jiingeren Erwachsenen geschrieben werden bzw. dass sie sich nur auf bestimmte Lebensabschnitte beziehen. Folkenflik (1993) spricht von „serial biographies" und meint damit ktinstlerische Produktionen (etwa Bilder), die nach Auskunft der Kunstler ftir einen jeweiligen Lebensabschnitt stehen. Ahnlich konnte man von solchen Lebensabschnitts-Autobiografien als 'seriellen Autobiografien' sprechen. Solches autobiografisches Schreiben kann als Identitatsarbeit bezeichnet werden. Sie unternimmt die subjektive Konstruktion von Sinn durch einen reflexiven Prozess, der mimetisch eine koharente Lebens(abschnitts-)gestalt erzeugt. Der Text als Gegentiber soil das leisten, was das Leben selber kaum noch bieten kann, die Erfahrung von Koharenz und Sinn. Und er kann es leisten, weil sich unser Erzahlinstrumentarium weiterentwickelt hat. Narrative Koharenz ist, genauso wenig wie das Leben, einfach da, sondern sie wird reflexiv erzeugt, so wie Leben reflexiv seine Form gewinnt. Kleine Geschichten, Beschreibungen, fiktive Dialoge, Arbeit an der Positionierungsvielfalt des Ich-Erzahlers, Aufgabe einer faktischen zugunsten einer 'inneren' oder 'poetischen' Wahrheit, all dies sind Stilmittel, um Komplexitat darzustellen und Leben in einer Weise abzubilden, die Koharenz nicht erzwingt, aber Sinn erzeugt. Solche Stilmittel werden uns durch postmoderne fiktionale Erzahlweisen, insbesondere auch in Film und Fernsehen, immer vertrauter. Auch die Ubertragung solcher Techniken in nichtfiktionale Darstellungen ist langst alltaglich geworden (z.B. in 'Doku-Fictions'). „Ich beharre auf dem Gedanken, dass die Autobiografie eher eine Ausweitung der Fiktion als umgekehrt, dass die Form des Lebens zuerst aus der Imagination als aus der Erfahrung kommt", schreibt Jerome Bruner (1993: 55). Diese Pramisse, so ware aus postmoderner Sicht zu konstatieren, ist erftillt. Wenn dem so ist, mtisste Rainers Manual einer 'Neuen Autobiografie' breites Interesse finden. Das Versprechen ist, dass die Einflihrung dieser neuen fiktionalen Mittel hilft, diejenigen Bereiche unseres Selbst, in denen wir uns selber fremd zu werden drohen, bewusstseinsmachtig zu machen (Pfotenhauer 1987: 27). Das individualisierte Individuum gewinnt also aus einer Kritik der Autobiografie neue Optionen der Selbstthematisierung, die den Grad der Selbstreflexivitat erweitern. Darin besteht das kritische Potential einer Selbstreflexion textueller Prozesse, wie sie Rainer anregt. „Textualitat vermag iiber sich hinauszuweisen, indem sie sich zu erkennen gibt, denn damit legt sie die diskursiven Dispositive unserer gesellschaftlich und kulturell sanktionierten Werte und Leitbilder bloB, die durch die Behauptung, sie verdankten sich pradiskursiver Selbstevidenz, nur verdeckt werden. So lauft die Selbstreflexion der textuellen Prozesse von Subjektkonstitution

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auf die Entmystifizierung von Identitatskonzepten mit universellem, transhistorischem und transkulturellem Geltungsanspruch hinaus." (Finck 2000: 53)

Die Offenlegung der Konstruiertheit und der fiktionalen Qualitat von Autobiografien ermoglicht, sie flir die Aufgabe der identitaren Selbstkonstruktion kreativer und funktionaler nutzbar zu machen, als dies fruhere Formen vermochten. Und sie lasst sich gleichzeitig fur herrschafts- und ideologiekritische Selbstzwecke nutzen, stellt also neue Stimmen zur Verfugung. Der identitatspraktische Gebrauchswert der autobiografischen Erzahlform ist aus dieser Sicht keineswegs erschopft, denn die narrative Darstellung der nichtfiktionalen Person beweist eine grofle Kapazitat zur Adaptation an kulturelle Veranderungen. „Im Laufe des letzten Jahrhunderts, veranderte sich die Idee der Entwicklung des Selbst in der Literatur wie im Leben bis zur Unkenntlichkeit. Aber ob das Selbst als ganz oder fragmentiert, real oder fremd, intim oder unbekannt behauptet wird, die nichtfiktionale persona - wie die persona in Romanen und Gedichten - hat nie aufgehOrt, sich hochst eindrucksvoll mit einer Kraft und einem Reichtum an Ressourcen immer wieder neu zu erfinden. Wie immer die Geschichte gewesen war, gab es eine Erzahlsituation, um sie zu fassen und einen Wahrheits-Sprecher [truth speaker], um sie zu interpretieren." (Gornick 2001: 26)

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Bettina Volter Die Herstellung von Biografie(n). Lebensgeschichtliche Selbstprasentationen und ihre produktive Wirkung1 „Die eigenen Erfahrungen sind das Wertvollste, was ein Mensch besitzt. Sie sollten weitergegeben werden. Deshalb bieten wir all jenen Hilfe, die ihre Geschichte bewahren mochten. Wir fertigen das Buch Hires Lebens. Egal, ob Sie Ihre Geschichte erzahlen oder selbst schon Erinnerungen aufgeschrieben haben: Das Buch entsteht ganz nach Ihren Vorstellungen. Gut gestaltet und gebunden in Leinen oder Leder wird es die Zeiten uberdauern."

Einleitung Hier wirbt die Firma Rohnstock Biografien auf ihrer Homepage fur ihre Dienstleistung.2 Sie bietet an, aus autobiografischen Erinnerungen Bucher herzustellen: „Eine Idee fur alle, die sich wieder einmal den Kopf liber ein sinnvolles Geschenk zerbrochen und doch nicht das Richtige gefunden haben: Machen Sie sich unsterblich! Schenken Sie IHR LEBEN ALS BUCH™! Denn warum sollen sich nur Prominente in Memoiren verewigen? Ihr Leben ist genauso interessant!"

1998/99 hat Katrin Rohnstock begonnen, Biografien von Menschen wie 'Du und ich' festzuhalten und zu veroffentlichen; in geringer Auflage, zum familieninternen Gebrauch und gegen Bezahlung - versteht sich. Heute, im Fruhjahr 2006, beschaftigt ihr Unternehmen sieben hauptamtliche Mitarbeiterlnnen, die

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Der erste Teil des Aufsatzes basiert auf mehreren Expertengespraxhen, ausfuhrlichen Internetund Zeitungsrecherchen sowie auf einer schriftlichen Umfrage. An letzterer beteiligten sich die folgenden Autobiografie-Dienstleister, ihnen sei hiermit herzlich gedankt: AFO-Verlag/ Anka Fey-Oeder; Autobiografieservice Matthias BrOmmelhaus; Biographien Henning Brims; Die Biographen/ Gaby Sikorski; Hinterlassen Sie Ihre Spur - Lebensgeschichten erzahlt und aufgeschrieben/ Steffen Jacob; Kirstin Hartmann - Lebensdokumentationen; Lebenshorbuch/ Rainer Koch; Mein Leben GbR, Werkstatt und Verlag ftir Memoiren/ Louis T. Lau, Ellen SchOnfelder; Schreib-Geist/ Ulrike Leibing. Vgl.: http://www.katrin-rohnstock.de

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fur die Organisation der Geschafte sorgen. Auch weitere, in Intensivkursen geschulte Kolleglnnen, 'Rohnstock-Autobiografiker' genannt, betreiben das Zuhoren und Aufzeichnen von Lebens-, Familien- und Firmengeschichten als Dienstleistung; und dies alles unter dem Dach des Mutter-Unternehmens und im Rahmen eines auch international auf den deutschsprachigen Raum und die deutschsprachige community ausgerichteten Franchisesystems. Die Geschaftsidee sprach sich herum. Inzwischen hat das Unternehmen Konkurrenz bekommen. Manche Konkurrentlnnen kamen auch durch private Anfragen von Menschen, die sich beim Schreiben ihrer Lebensgeschichte helfen lassen wollten, oder durch personliche Erfahrungen, wie etwa durch den Tod von Angehorigen oder die Beschaftigung mit der eigenen Familien- und Lebensgeschichte darauf, dass es eine sinnerfullte Aufgabe und zudem auch ein Geschaft sein kann, einen Biografieservice anzubieten. Sie nennen sich „Autoren" oder „(Auto-)Biografen", sind in einem Alter zwischen Mitte dreiBig und Ende funfzig und kommen aus unterschiedlichen beruflichen Richtungen, die allerdings meist etwas mit Zuhoren und Texten zu tun haben. Bevor sie Memoiren fur Privatpersonen schrieben, waren die Einzelnen bereits Journalistln oder Autorln, haben eine Psychotherapie-Ausbildung absolviert, waren Erwachsenenbildnerln oder Beraterln, arbeiteten in der Offentlichkeitsarbeit oder in der Werbebranche. Manche haben vor ihrer Berufstatigkeit Psychologie oder Germanistik, Publizistik, Literaturwissenschaften, Philosophic oder Sozialwissenschaften studiert. Das Feld hat sich vor allem seit 2001 und dann noch einmal seit 2003 stark erweitert und auch differenziert. So gibt es inzwischen Anbieterlnnen, die auf Anfrage HOrbticher oder biografische Filme herstellen, solche, die ein spezielles Angebot auch an die Gruppe der Krebspatientlnnen oder an Alzheimer erkrankte Menschen (im ersten Stadium) richten3, und andere, die sich besonders fur Grunderbiografien4, Kunstler oder Intellektuelle5 interessieren. Sie bieten den Auftragnehmerlnnen nicht nur an, deren Biografie zu schreiben, sondern betreuen als Lektorlnnen auch den biografischen Schreibprozess ihrer Klientlnnen, eroffiien Schreibgruppen, Erzahlkreise oder animieren in Seminaren zum gegenseitigen Kennenlernen und zum Erfahrungsaustausch. Von der Branche wird ein sich vielfaltig ausdifferenzierender, expandierender Markt erwartet und damit einhergehend eine noch weiter steigende Nachfrage nach biografischer Verewigung. Eine neue-alte Form medialer Selbstinszenierung hat Hochkonjunktur: Anders als die traditionelle, schriftlich festgehaltene Autobiografie erreicht diese

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Vgl. LebenshOrbuch. Vgl. Autobiografieservice BrOmmelhaus. Vgl. Mein Leben GbR.

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Form nicht nur Menschen mit besonderen Geschichten, besonderer Begabung oder Berufung, sondern spricht bewusst alle an, ihre Lebensgeschichte mitzuteilen. Insofern findet sich hier ein nahezu unerschopflicher Markt von potenziell Erzahlbereiten, sieht man davon ab, dass es sich langst nicht alle moglicherweise Interessierten leisten konnen, mindestens 8000 Euro fur die Veroffentlichung der eigenen Lebensgeschichte auszugeben.6 Und davon, dass es durchaus nicht unproblematisch zu sein scheint, den allgemein geteilten Wunsch nach Erinnerung und biografischer Dokumenation tatsachlich umzusetzen.7 Grundsatzlich gibt es aber ein weit verbreitetes Interesse am Angebot von Biografieservice-Dienstleistern. Dafiir sprechen zum einen das bisherige Profil der Klientlnnen als auch deren Motive: Ihre Biografie in Auftrag gegeben haben nach Auskunft der Anbieterlnnen bisher etwas mehr Manner als Frauen, Menschen vor allem im hoheren Lebensalter, aber auch vereinzelt jtingere von Mitte dreiBig und vierzig Jahren, meist in besonderen Lebenssituationen. Einen beachtlichen Teil der Auftraggeberlnnen stellten Kinder und Enkellnnen dar, die ihre Eltern und Grosseltern motivieren wollen, ihre Lebensgeschichte festhalten zu lassen. Der berufliche Hintergrund der alteren Auftraggeberlnnen reichte von der Arbeiterln bis zur Konzernchefln. Viele wollen die eigene Geschichte und Familiengeschichte 'weitergeben' und damit den Kindern und Enkellnnen eine Freude machen. Weitere Motive sind, eine Ordnung in ein reiches, vielfaltiges Leben zu bringen, ein Andenken an verstorbene Angehorige zu schaffen oder eine Trennung, einen Verlust zu verarbeiten. Und es liegt auf der Hand, dass es Menschen in einer Welt, in der Zeit zum knappen Gut geworden ist, gut tut, tiber viele Stunden Gehor zu finden und ein Gegentiber mit echtem Interesse an den eigenen Erinnerungen. Der Wunsch, die eigene Lebensleistung festzuhalten, etwas zu hinterlassen, um nicht vergessen zu werden, ist verbreitet. Manche der Kundlnnen scheinen sich, nach der Beobachtung von einigen BiografieserviceAnbieterlnnen, auch rechtfertigen oder nach Versohnung und innerem Frieden streben zu wollen. In einer Gesellschaft, in der alte Menschen zwar oft 'alles haben' aber alleine, entfernt von ihren Kindern leben, erweist sich die langer andauernde Biografiearbeit mit einem professionellen Gegentiber schlieBlich auch als sinnvolles Geschenk der jungeren an die altere Generation. Die jtingeren Familienmitglieder erhoffen sich von der Geschichte ihrer Eltern und GroB6 7

Vgl. Berliner Zeitung vom 24725726. Dezember 2005. Es gibt allerdings auch Anbieter, die die Lebensgeschichte stark kondensieren und in einer Kurzfassung darstellen. Sie konnen insofern auch wesentlich schneller und preisgiinstiger arbeiten (vgl. etwa www.lebensdokumentationen.de). Denn viele potentielle Klientlnnen mussen offenbar zunachst die eigene Scheu oder ihre Angste uberwinden, sich der Vergangenheit zu stellen. Bei manchen sind Geheimnisse, Tabus oder Unstimmigkeiten in der Familie so groB, dass sie weiteren Konfliktstoff durch eine Veroffentlichung ihrer Lebensgeschichte erwarten und deshalb davor zuruckschrecken.

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eltern mehr Bewusstsein iiber die eigene Identitat. Manche Familien nutzen das biografische Dokument gleichzeitig als Kommunikationsmittel iiber weite raumliche Distanzen hinweg. Es spricht also alles dafur, dass es ein verbreitetes Bedurfhis gibt, Lebensgeschichten festzuhalten und zu kommunizieren, und dass die Dienstleistung des biografischen Ghostwritings deshalb ein Berufsfeld mit erfolgversprechender Zukunft ist. Das 'Business rund um die Biografie' greift in der Tat eine Tendenz auf, die sich in unserer individualisierten Gesellschaft seit langem abzeichnet: „Selbst- und Weltversicherung gestaltet sich seit der Aufklarung zunehmend als lebenslanger Prozess biographischer Arbeit; primar geschieht sie im fortgesetzten Miteinander-Sprechen." (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 134)

Man konnte also sagen, ein Phanomen wie das der Biografie-Dienstleistung entsteht deshalb, weil es diese Praxis und das Bedurfhis nach „biografischer Arbeit" in unserer Gesellschaft in wachsendem MaBe gibt.8 Meine These ist jedoch auch, dass Einrichtungen, die organisiert und mit einem bestimmten Ziel Biografien erheben und veroffentlichen, zur Herstellung von Biografie(n) aktiv beitragen. Bettina Dausien und Helga Kelle (2005) haben dafur das Stichwort „doing biography" in die biografietheoretische Diskussion gebracht. Sie meinen damit zweierlei: Zum einen soil der Begriff den Aspekt des interaktiven Tuns bei der Formung einer Biografie hervorheben; zum anderen betonen sie damit die konstruktivistische Basisannahme, „dass man eine 'Biographie' (ebensowenig wie ein 'Geschlechf oder einen sozialen Status) nicht einfach 'hat', sondern sie immer erst interaktiv 'herstellt'" (ebd.: 207). Biografie-Unternehmen stellen hierbei eine neue und marktwirtschaftlich gesehen innovative Form der Biografie-Herstellung dar. An ihrem Beispiel lasst sich besonders deutlich zeigen, dass dieser Vorgang der „biografischen Arbeit" in der Regel von Produktionsbedingungen, einem Produktionsprozess unter Beteiligung unterschiedlicher Arbeitskrafte sowie von Produktionsmitteln begleitet wird. Ein weiterer besonders ausdifferenzierter gesellschaftlicher Spezialbereich, der Biografien im oben genannten Sinne herstellt, ist die wissenschafltliche Biografieforschung. Auch sie erhebt und produziert gleichermaBen Biografien. Sie erscheint allerdings auf den ersten Blick weit weniger dazu angetan, etwas her-

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Unter „biografischer Arbeit" soil hier der Prozess mehr oder weniger bewusster Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte verstanden werden oder Ereignisse in der Lebensgeschichte, die zu Veranderungen im eigenen Leben gefiihrt haben (Riemann/ Schutze 1991; Fischer-Rosenthal 1995).

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zustellen, denn sie schreibt sich selbst ja eigentlich die Funktion zu, Biografien und Aktivitaten, die zu Biografien fuhren, als gesellschaftliche Phanomene zu untersuchen. Aber auch sie tragt dazu bei, eine Form der Selbstthematisierung hervorzubringen, die vorher in dieser Form noch nicht existierte. Im zweiten Teil meines Beitrags werde ich genauer darauf eingehen. Mit 'Herstellung von Biografien' meine ich nun nicht nur, dass Biografien als materielle, sichtbare Produkte geschaffen werden. Biografien haben dariiber hinaus sowohl im Herstellungsprozess als auch als fertige, les-, hor- oder ansehbare Produkte Effekte, im Sinne von Rtickwirkungen, auf die Biograflnnen selbst, ihre Bezugspersonen bzw. auch allgemein auf die Rezipientlnnen der biografischen Darstellung. Diese Effekte konnte man etwa mit der Herstellung eines neuen Blicks auf Lebensgeschichte(n) beschreiben. Dieser ermoglicht wieder neue (z.B. innerfamiliale) Interaktionsdynamiken und wirkt insofern gestaltend auf Lebensgeschichten ein. Diese Art von Effekten erzeugen sowohl die Arbeiten der Biografie-Dienstleistung wie auch die der Biografieforschung.

1. „Doing biography" als Dienstleistung Die positive Markteinschatzung von Biografieservice-Anbieterlnnen deutet also einerseits auf eine Konjunktur des Interesses an Lebensgeschichten hin. Dies soil andererseits jedoch nicht dariiber hinwegtauschen, dass - nach Aussage der Anbieterlnnen selbst - derzeit nur ein kleiner Teil der Kolleglnnen allein von ihren Einktinften aus diesem Bereich leben kann.9 Auch deshalb haben sich Anfang 2005 rund 30 Autobiografie-Ghostwriter und -Lektorlnnen zum 'Biographiezentrum' zusammengeschlossen, einem Netzwerk, das im Sinne eines Berufsverbandes oder Vereins Kolleglnnen zusammenfuhrt. Eine der Koordinatorlnnen, Almut Walch, beschreibt die Marktlage wie folgt: „Es ist noch nicht so, dass die Menschen sich selbst so wichtig nehmen, dass sie ihre eigene Biografie schreiben wollen. Wir mtissen dies nach und nach erst zu einem Breitensport machen und uns den Markt schaffen. Es dauert sicher noch eine Weile bis viele zu der Selbsteinschatzung kommen, sie hatten etwas zu sagen."10

Diese Erfahrung lasst schlussfolgern, dass das Bediirfhis, das eigene Leben in einem biografischen Text fixieren zu lassen, in seiner Breitendimension erst

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Von den von mir per Expertengesprach oder per Fragebogen befragten zehn Anbietern kftnnen allerdings bereits vier von ihren Einnahmen leben, bei dreien davon sind sogar mehrere Mitarbeiterlnnen beteiligt. 10 Telefonisches Expertengesprach vom 4. 1.2006.

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geweckt werden muss. Insofern konnte man sagen, die Geschaftsidee reagiert nicht nur auf einen Biografie-Bedarf, sondern muss ihn erst hervorbringen, wie dies ja auch fiir jeden anderen Artikel zutrifft, der in groBerem Stil vertrieben werden soil. Den spezifischen Hintergrund dafiir stellen die Produktionsbedingungen einer Dienstleistungsgesellschaft dar, die im Zeichen der umgekehrten Alterspyramide funktioniert und mit hohen Mobilitatserwartungen an ihre Arbeitskrafte operiert. In dieser Gesellschaft leben bekanntlich verhaltnismaBig immer mehr alte Menschen, die iiber eine andere Zeit erzahlen konnen. Und es gibt darin auch immer mehr Menschen, die im mittleren und hoheren Berufsalter bereit sein miissen und bereit sind, sich neu zu orientieren. Der Beruf des/der Biografie-Autorln erweist sich als ideal fur Menschen mit einer gewissen 'Reife', mit Berufs- und Lebenserfahrung. Er spricht so Menschen an, die in anderen wirtschaftlichen Bereichen vielleicht weniger Chancen fur eine Umorientierung hatten. Die Anbieterlnnen versuchen nun durch gezielte Werbung, Lust auf den Erinnerungsprozess und einen tiefen Wunsch zu wecken, die eigene Lebensgeschichte in reprasentativer Form zu 'besitzen'. Dabei entwerfen sie Vorstellungen dariiber, was Biografie sein und zu was sie nutzen kann. So wird etwa in Werbetexten wie dem anfangs zitierten betont, dass ein Buch tiber sein eigenes Leben zu besitzen, nicht nur den wenigen vorbehalten sein sollte, die prominent sind. Dagegen wird die Biografie eines jeden gewertschatzt und beschrieben als ein uberaus groBer (immaterieller) Wert, den es lohnt, in ein materielles Gut verwandeln zu lassen, weil so die Erfahrungen als „wertvollster" Besitz „weitergegeben" werden konnen. Dies macht nicht nur Sinn in einer Gesellschaft, die letztendlich durch Kommunikation zusammengehalten wird. Es schafft auch ein Bewusstsein von Biografie als einem Gut, das man sich leisten konnen soil, wie einen Volkswagen im 20. Jahrhundert. Die in manchen Werbetexten transportierte Vorstellung, das eigene Leben aufzuschreiben, verhelfe zur Unsterblichkeit, besetzt biografische Arbeit ebenfalls mit einer Hoffhung und Erwartung, die eher in die Zukunft als in die Gegenwart gerichtet ist. Dazu passt, dass es im Prozess des Ghostwritings oft darum geht, aus den vom Kunden dargestellten Erinnerungen eine gleichermafien authentische wie spannend erzahlte Geschichte tiber ein 'gut gemeistertes' Leben zu schreiben: „Wir verwandeln Ihr erzahltes Leben in einen mitreiBenden Text und ein traumhaftes Buch. Durch und durch Sie", verspricht die Homepage eines Anbieters.11 Das Erlebte soil im Produktionsprozess12 also zu seiner scheinbar optimalen Gestalt verdichtet wer11 http://www.wienand-koeln.de/lebensartkoeln/20051/page/3623.asp?Mein%20Leben.%20Agentur%20f%C3%BCr%20Memoiren 12 Unter Produktionsprozess verstehe ich den gesamten (zwangslaufig effizient und deshalb auch einigermaBen standardisiert zu gestaltenden) Ablauf von der Werbung, ttber die Phase des ge-

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den; und zwar nicht nur von demjenigen allein, der diese Lebensgeschichte selbst erlebt hat. Statt im inneren Dialog mit realen oder imaginaren Gegentibern, im Selbstgesprach, am Schreibtisch, wie sie der Autobiograf fruherer Zeiten entwickelt und selbst aufgeschrieben hat, wird hier die Geschichte eines jeden Auftraggebers im systematischen Dialog mit einem professionellen Gegenuber erzeugt. Obgleich die Anbieterlnnen sich alle weitestgehend auf die Wunsche ihrer Klientlnnen einlassen mtissen und mochten, kommen sie schon allein aus Kostengrtinden nicht umhin, ihre Arbeitsablaufe und mithin auch das Produkt auf spezifische Weise zu strukturieren und zu standardisieren. In vielen Fallen wird schon bei der Befragung strukturierend vorgegangen. In meiner Umfrage wurde deutlich, dass professionelle AutobiografieAutorlnnen sich bereits im Frage- und Erzahlprozess als 'Geburtshelfer' und Mitgestalter von Erinnerungs- und Erzahlprozessen verstehen. Zu den Produktionsmitteln gehort bei den meisten von mir befragten Anbietern ein Leitfaden. Sie halten, zumindest im Hinterkopf, eine „Fragereihe" bereit und lenken das Gesprach, wenn sie feststellen, „der Erzahler kommt vom Kurs ab".13 Auch neigen die meisten dazu, Tabus zu akzeptieren: „Grundsatz ist: Dem Kunden nichts zu entlocken, was er nicht wirklich sagen will."14 Und wenn Familiengeheimnisse erzahlt werden, werden diese in der Regel in der Autobiografle ausgespart. Spannung, Dichte, roter Faden und Respekt vor heiklen Themen sind Kriterien, die die Interaktion wahrend des lebensgeschichtlichen Gesprachs zumindest latent zu steuern scheinen. Biografieservice-Dienstleister stellen Biografien also nicht nur her, indem sie autobiografische Bucher produzieren. Sie erzeugen des Weiteren ein spezifisches gesellschaftliches Verstandnis der Bedeutung von Biografie, sie schaffen ein verbreitetes Interesse an biografischen (Selbst-)Darstellungen, sie produzieren eine Lebensgeschichte im Dialog mit ihren Kundlnnen und sie fabrizieren im Austausch mit denselben einen gut les- oder horbaren Text, mit dem Ziel, den/die Autobiografin in vorteilhaftem Licht erscheinen zu lassen. Wenn es um die Frage der Herstellung von Biografien geht, scheint mir, wie erwahnt, schlieBlich ein weiterer Punkt bedenkenswert: die Effekte einer autobiografischen Veroffentlichung. Welche Folgen fur die Lebensgeschichten hat es eigentlich, wenn den Klientlnnen die eigene Lebensgeschichte in Form eines gestalteten Buches, eines Horbuches oder eines Films wieder begegnet? Rohnstock Biografien beispielsweise organisiert auch unter dem Aspekt, dass Autogenseitigen Kennenlernens und der Vertragsgestaltung, iiber die Phase des Erzahlens, Verdichtens bis hin zur Niederschrift, zur (auch bildlichen und asthetischen) Bearbeitung und zur Herstellung einer Biografie. 13 Vgl. Kirstin Hartmann. 14 Vgl. Fragebogen Rainer Koch.

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biografien eine starke Wirkung auf den Lebenszusammenhang ihrer Autorlnnen haben, den Akt der Ubergabe als feierliches Ritual: „Dieses Ritual ist wichtig, weil das Leben mit dem Buch ein anderes ist als vorher".15 Die von mir eingehender zum Thema befragten Anbieterlnnen berichten von vielfaltigen Veranderungen: So hatten sich bei manchen ihrer Klientlnnen Familien-Beziehungen klaren konnen. Es habe aber in einigen Familien auch zunehmende Spannungen und Konflikte durch das Buch gegeben. Eine fertiggestellte Autobiografie gebe die Chance zu neuen Betrachtungsweisen der Vergangenheit. Und die meisten Autorlnnen gewannen Selbstbewusstsein und von ihrer Familie Achtung und Respekt: „Es entsteht eine neue Form der Kommunikation", meint Gaby Sikorski. Und Monica H., die 49jahrige Tochter einer Klientin von Steffen Jacob, schrieb: „Ich habe oft die Erzahlungen meiner Mutter gehort, trotzdem war es interessant, durch das Geschriebene die Gesamtgestalt ihrer Lebensgeschichte bis zur Gegenwart zu realisieren. Noch interessanter fur mich war zu sehen, wie viele Parallelen es in ihrer Geschichte mit denjenigen anderer Familienmitglieder gibt und sie so nicht nur als Individuen, sondern als Menschen zu verstehen, die in die Geschichte hineingerissen und von ihr gepragt wurden. Ich bin froh, diese Texte zu haben fur meine eigenen Kinder; sie helfen uns alien, uns in der Zeit, der Geschichte zu verorten, sie geben uns einen Bezugspunkt, etwas, an dem wir uns orientieren kOnnen."

Die Tochter erfahrt durch die Lekttire der Autobiografie ihrer Mutter offenbar erstmals deren gesamte Lebensgeschichte. Und sie erlebt eine Art Objektivierung bzw. Vergleichbarkeit der erlebten Geschichte mit derjenigen anderer Menschen der gleichen Generation. Fur sie entsteht das Bild einer handelnden „Geschichte", die Menschen „hineinreiBt" und sie pragt. Sie verspricht sich von der Biografie ihrer Mutter Orientierung, d.h. eine Kontextualisierung der eigenen Lebensgeschichte im Raum der transgenerationellen Erinnerung. Insgesamt lasst sich die Herstellung einer Biografie gegen Bezahlung als ein anspruchsvoller Vorgang beschreiben, in dem unterschiedliche Anforderungen balanciert werden mtissen: Wenn in der Phase des biografischen Erzahlens auch unbedingt Raum ftir die Relevanzen der Interviewpartner gelassen wird, so ist er doch abhangig von den Regeln der Wirtschaftlichkeit und des Marktes: Ftir den Anbieter muss er rationell verlaufen, doch ohne die Investition von Zeit, Idealismus und Einfuhlungsvermogen geht es nicht. Ftir den/die Kundln muss er zu einem begehrenswerten Produkt mit positivem Effekt fiihren, dessen Kosten sich subjektiv gesehen gelohnt haben. Doch ohne dass er oder sie auch zu einer anstrengenden oder gar phasenweise schmerzhaften biografischen Arbeit bereit ist, wird das Produkt nur halb so glaubhaft und gut.

15 In: Katrin Rohnstock: Berliner Zeitung vom 24./25V26.12.2006.

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Dennoch liegt in der notwendigen Effizienz des Herstellungsprozesses die Gefahr, dass die Zielvorstellung, in nicht allzu langer Zeit ein fertiges Buch zu produzieren, die gemeinsame Handlung und den Erinnerungsprozess dominiert. Wenn dieses Buch ein bezahlbares und ansprechendes Erbe, ein schones Geschenk und ein gern gelesenes Erinnerungsstuck sein soil, dann haben langwierige Auseinandersetzungen mit der eigenen Lebensgeschichte oder auch das Aufspiiren von komplexen Zusammenhangen im Produktionsprozess sowie unangenehme Erinnerungen im Text moglicherweise keinen Raum.

2. „Doing biography" als wissenschaftliche Aktivitat Ich mochte nun zu einem zweiten Bereich kommen, der seinerseits auf die wissenschaftliche Untersuchung von Biografien spezialisiert ist: die sozialwissenschaftliche Biografleforschung. Deren Ursprunge reichen zunick zum Beginn des letzten Jahrhunderts, wo in Chicago durch William I. Thomas und Florian Znaniecki erstmals Biografien als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung interessierten, mit der Intention, die gesellschaftlichen Umbrtiche der Zeit besser zu verstehen. In Deutschland gewann die Biografleforschung seit den 1970er Jahren an Bedeutung, zunachst in der Soziologie und in der Geschichtswissenschaft (Oral History). Ein Kontext war die Suche nach Alternativen zum positivistischen Forschungsbetrieb der empirischen Sozialforschung bzw. der Wunsch, der 'Geschichte der groBen Manner' die Alltagsgeschichte aus der Perspektive der Arbeiterlnnen und 'kleinen Leute' entgegenzusetzen. Heute ist die Biografleforschung eine multidisziplinare Forschungsrichtung mit einer (tiberschaubaren) Vielfalt an Erhebungs- und Auswertungsmethoden. Im Folgenden beziehe ich mich in erster Linie auf die rekonstruktiv arbeitende Biografleforschung, die mit dem Material von narrativ erhobenen Selbstprasentationen arbeitet (vgl. zum Uberblick Apitzsch 2003). Meine These ist, dass auch diese wissenschaftliche Forschung dazu beitragt, Biografien herzustellen. Auf den ersten Blick scheint es auch bei der Biografleforschung naher zu liegen, sie als Reaktion auf die soziale Tatsache der Biografisierung in der Moderne zu verstehen. Diese Tendenz zu einem gesteigerten Interesse an Biografie sowie vor allem die biografische Arbeit der Alltagsmenschen gilt es ja als eine „soziale Praxis", gerade mit Methoden der Wissenschaft zu beschreiben, zu rekonstruieren und zu erklaren (Fischer-Rosenthal 1995). Ich meine allerdings, dass daneben die wissenschaftliche Beschaftigung mit Biografien ebenfalls als ein Prozess des „doing biography" zu verstehen ist. Mit anderen Worten: Wenn, wie Bettina Dausien und Helga Kelle schreiben, „Prozesse des 'doing biography' systematisch in die Agenda der Biographiefor269

schung geschrieben werden [sollten]" (Dausien/ Kelle 2005: 208), dann ware es sinnvoll, diese Reflexion auch auf die eigene Disziplin anzuwenden. So konnten etwa in diskurskritischen oder auch ethnographischen Analysen die spezifischen Produktionsbedingungen, der Produktionsprozess unter Beteiligung unterschiedlicher Arbeitskrafte, die Produktionsmittel sowie die Effekte der wissenschaftlichen Herstellung von Biografie untersucht werden. Unter Produktionsbedingungen verstehe ich z.B. zeithistorische oder wissenschaftliche Konjunkturen bzw. Auseinandersetzungen, die zu Marginalitat oder Akzeptanz der Disziplin beitragen; mit Produktionsprozess meine ich den Prozess von der Entwicklung einer biografieorientierten Forschungsfrage, iiber die Herstellung biografischer Selbstprasentationen, die Auswertung und Produktion einer biografischen Fallrekonstruktion bis hin zur Veroffentlichung und ggf. Ruckmeldung an die beteiligten Subjekte; als Produktionsmittel konnte man die Forschungsmethoden sowie deren technische Hilfsmittel verstehen; und Effekte der wissenschaftlichen 'Herstellung' von Biografie sind die Folgen der Rezeption sowie im engeren Sinne die Folgen einer eventuellen Ruckmeldung von Ergebnissen an die Befragten bzw. an die untersuchte Gruppe. Mit Effekten meine ich auch die Ubersetzung von Ergebnissen in Handlungsempfehlungen, die Einfluss auf Lebensgeschichten oder die biografischen Konstruktionen konkreter Subjekte haben. Ich kann hier nur einige Aspekte dessen benennen, wie Biografieforschung zur Herstellung von Biografien beitragt. Eingehender werde ich mich dann mit dem narrativ-biografischen Interview als Instrument oder Mittel biografischer Produktion beschaftigen.

3. Herstellung von 'Biografie' durch die Biografieforschung - ftinf Aspekte Ahnlich wie Biografieservice-Dienstleisterlnnen sind also m.E. auch Biografieforscherlnnen nicht nur Beobachter und Sachwalter des groBen gesellschaftlichen Interesses an Lebensgeschichten. So sind sie z.B. erstens mit ihren Aussagen und ihrer Praxis am gesellschaftlichen Diskurs iiber 'Subjekt' und 'Biografie' aktiv beteiligt. Das heiBt, sie formieren auf einer allgemein-sprachlichen Ebene mit, was unter Subjekt und Biografie zu verstehen ist. So geht z.B. in den Diskurs ein, ob eher die Rede von einem „mit sich selbst identischen Subjekt" ist oder vielmehr von einer Vielfalt subjektiver Handlungs- und Deutungsstrukturen ausgegangen wird, die auch nebeneinander oder moglicherweise unabhangig voneinander existieren konnen (vgl. Schafer/ Volter 2005). Wie auch immer, die Biografie wird als eigener, wissenschaftlich zu untersuchender Gegenstand 270

durch sprachliche Beschreibung sowie in praxi profiliert und macht Biografieforscherlnnen zu Biografie-Expertlnnen. Dies produziert nicht nur Wissen und ein spezifisches Vokabular, sondern zweitens auch gesellschaftliche Aufmerksamkeit rund um die Biografie. So konnte es zum Beispiel sein, dass die Oral History und die sozialwissenschaftliche Biografieforschung neben anderen, sich gegenseitig bedingenden und vermutlich noch wirksameren Faktoren16 zum 'kulturhistorischen Boden' gehoren, der das breite Interesse an biografischen Erzahlungen mit hervorbrachte und bringt. Biografieforschung stellt beispielsweise Untersuchungen, theoretische Uberlegungen und methodisches Handwerkszeug zur Verfugung, die zur Herstellung von Biografien im oben genannten Sinne eingesetzt werden oder zumindest anregen. Meine Untersuchung von Biografie-Unternehmen zeigt immerhin, dass die Pioniere dieses Berufszweigs von den Arbeiten und Methoden der Biografieforschung beeinflusst sind.17 Biografieforschung ist drittens auch insofern an der Herstellung von Biografischem beteiligt, als dass sie erlebte Lebensgeschichten und biografische Selbstprasentationen rekonstruiert, deren Strukturen und Typik herausarbeitet und diese ergebnisorientiert in Fallrekonstruktionen darstellt. Bei diesen Darstellungen handelt es sich um Ko-Konstruktionen der im Alltag vorgefundenen oder in biografischen Interviews erzeugten biografischen Selbst-Konstruktionen. Biografische Fallrekonstruktionen werden unter Anwendung wissenschaftlicher Kriterien erarbeitet, ihre Darstellung erfolgt jedoch oft auch unter schriftstellerischen Gesichtspunkten. Insofern ist eine Biografieanalyse auch immer eine kreative Eigenleistung des/der Biografieforscherln und weit mehr als die bloBe Wiedergabe einer im Feld 'aufgefundenen' Lebensgeschichte. Der Unterschied zu Veroffentlichungen, die aus der Arbeit von Biografieservice-Dienstleister hervorgehen, ist allerdings, dass Biografieforschung nicht zum Ziel hat, 'traumhafte' Geschichten zu erzahlen. Die als schwierig oder ambivalent erlebten Lebensphasen einer Biografin, die u.U. auftretenden Widerspriiche zwischen 16 Zu nennen ist etwa die Ausweitung der biografischen Erzahlkultur in den Medien (z.B. im Dokfilm) oder auch in der Erwachsenenbildung. Vor allem erstere basiert sicher u.a. auf einem Generationenwechsel in der Gesellschaft. Durch die zeitliche Distanz von der Zeit des Nationalsozialismus, durch den Untergang der DDR und die Devise, die Menschen miissten sich ihre Biografien erzahlen, damit sie sich verstehen (Thierse) sowie durch die Ablosung der Weimarer Jugendgeneration durch die HJ-Generation als altester noch lebender Generation, ist z.B. eine erhohte Bereitschaft der alteren Generationen bemerkbar, von ihrer lebensgeschichtlichen Vergangenheit zu erzahlen. 17 Ansonsten ist jedoch eine eher sparliche direkte Rezeption fur die praktische Anwendung zu beobachten: So berichtete die Halfte der von mir per Fragebogen oder mundlich befragten Anbieterlnnen, dass sie Arbeiten der Biografieforschung zur Kenntnis nahmen, vier davon hatten sich intensiver mit einzelnen Ansatzen, wie dem von Schiitze, Rosenthal, Niethammer oder Bourdieu auseinandergesetzt, arbeiten aber nicht unbedingt damit.

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erlebter Lebensgeschichte und Selbstprasentation sowie Tabus oder Familiengeheimnisse werden aus den Falldarstellungen nicht ausgeklammert. Im Gegenteil: Es wird daran gearbeitet, ihnen sowohl bei der Erhebung als auch bei der Textanalyse eine Sprache zu verleihen. Ziel ist es, dass die im Alltag (z.B. im intergenerationellen familialen Dialog oder in einem sozialhistorischen Kontext) marginalisierten, weil sozial unerwunschten oder aus Scham und Schuldgeftihlen heraus tabuisierten Themen potenziell kommunizierbar werden. Damit soil ein ganzheitliches Bild der Wechselwirkung von sozialhistorischen, institutionellen, familialen Kontexten und lebensgeschichtlichtlichen Entwicklungs- und Verarbeitungsprozessen entstehen. Ebenso wie die biografischen Produkte von Biografieservice-Dienstleistern haben auch wissenschaftlich produzierte Fallrekonstruktionen Effekte. Sie stellen also neben Biografie-Diskursen, Biografie-Konjunkturen, biografischen KoKonstruktionen viertens u.U. neue Sichtweisen auf Biografien her und konnen somit lebensgeschichtliche Verlaufe mit beeinflussen. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Biografieforschung flieBen zwar in der Regel weitaus anonymer und indirekter in das Bewusstsein der Betroffenen und nicht-betroffenen Interessierten wieder ein, als dies bei in Auftrag gegebenen Memoiren der Fall ist. Jedoch wirken auch die Fallrekonstruktionen der biografischen Forschung auf eine Lebenspraxis zuriick, selbst wenn Menschen nicht Texte iiber die eigene Biografie lesen, sondern als typisch erachtete Fallgeschichten zu einem sie interessierenden Thema. D.h. Fallgeschichten konstruieren auch soziale Wirklichkeit und bilden sie nicht nur ab. Und sie konnen orientierend fur Lebenskonstruktionen und Lebensverlaufe sein. Dies gilt insbesondere fur die biografische Forschung, die in den letzten Jahren den Anschluss an die Praxis sucht und damit auch dazu beitragt, neue Formen der Selbstthematisierung zu etablieren. So hat beispielsweise die „narrativbiographische Diagnostik" in der sozialen Arbeit mit Jugendlichen den Anspruch, „fur die Re-Strukturierung von als nicht forderlich angesehenen Orientierungen handlungsrelevant" zu werden (Fischer-Rosenthal/ Goblirsch 2004: 73). Mittels biografischer Fallrekonstruktionen werden problematische biografische wie institutionelle Verlaufe, aber auch Ressourcen der Biograflnnen herausgearbeitet. Auf dieser Basis werden im Prozess der narrativ-biografischen Diagnostik dann gemeinsam mit den Professionellen sozialpadagogische Empfehlungen (Gutachten) erarbeitet. Die Ergebnisse flieBen unter kommunikativer Einbeziehung der jeweiligen Klientlnnen sowie der sie betreuenden Institution in die sozialpadagogische Arbeit mit verhaltensauffalligen Jugendlichen ein. Es handelt sich also bei dieser Variante der Biografieforschung um eine bewusst vollzogene Intervention in die Lebensgeschichten der Untersuchten.

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Hier zeigt sich, dass Biografieforschung, und mithin jede Herstellung von Biografie(n), zur Gratwanderung werden kann. Auf der einen Seite kann eine die Subjekte emanzipierende biografische Reflexion angestoiten und ggf. im Prozess begleitet werden. Im Unterschied zur herkommlichen Diagnostik, die die Tendenz hat, Falle aufgrund einzelner Merkmale auf der Basis theoretischen und praktischen Vorwissens zu kategorisieren, werden im oben genannten Beispiel komplexe Wirkzusammenhange in ihrem lebensgeschichtlichen (Entstehungs-)Zusammenhang verstanden. Dabei konnen z.B. alternative Handlungsmoglichkeiten erschlossen werden, die bisher nicht im Blick des/der Biografln waren. In der narrativ orientierten rekonstruktiven Sozialarbeitsforschung18 wird aktuell zu Recht das groBe Potenzial hervorgehoben, dass die anwendungsorientierte Arbeit mit biografischen Fallrekonstruktionen ftir eine lebenswelt- und alltagsorientierte Soziale Arbeit entfalten kann: „Diese grundlegende paradigmatische Veranderung gegeniiber den Adressatlnnen gesundheitsbezogener Dienstleistungen lost die Forderung nach einer partizipativen und dialogischen Diagnostik (vgl. Staub-Bernasconi) ein, nach einer maeutischen Haltung, nach einer Autonomisierung in einer entautonomisierenden sozialen Praxis des Gesundheitswesens (vgl. Hanses/ Richter), nach einer gesellschaftlichen Dimensionierung des Psychischen (vgl. Schulze) und dem 'heilenden Erzahlen' (Rosenthal). Sie leistet eine Kontextualisierung im Gegenzug zu einer 'entkontextualisierenden' und 'entpolitisierenden Diagnostik' (Becker)." (Schulze 2005: 24)

Auf der anderen Seite muss sich gerade eine solchermaBen praxisorientierte Biografieforschung immer auch die Frage gefallen lassen, inwieweit ihre Art und Weise der Herstellung von Biografien ein potenziell machtvoller Akt der Konstruktion sozialer Wirklichkeit ist (sowohl auf einer diskursiven Ebene als auch bei der Erarbeitung ihrer Fallrekonstruktionen sowie in der Anwendung und Kommunikation ihrer Ergebnisse). Diese Frage gilt es, selbst-reflexiv in die eigene Praxis einzubeziehen. So wird nicht umsonst in der Biografieforschung diskutiert, dass die direkte Konfrontation einer Klientin mit einer Fallanalyse oder gar ihrer 'Fallstruktur', also mit der unter den Bedingungen der Wissenschaft hergestellten Ko-Konstruktion der Biografie, eine stark befremdende Wirkung hatte. Ohne Einbettung in einen therapeutischen Prozess wirkt sie zu massiv und nur als „schlechte therapeutische Intervention" (Loch/ Schulze 2005: 573; vgl. auch Hildenbrand 1999; Miethe 2003). Gleichzeitig kann die hermeneutische Durchdringung eines Einzelfalls mit dem Ziel, dessen „Lebensgesetzlichkeit" (Haupert 2006) herauszuarbeiten und z.B. fUr die sozialpadago18 Die narrativ orientierte rekonstruktive Sozialarbeit(sforschung) entwickelt ihr eigenes Profil seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland. In den letzten Jahren hat sich diese Richtung zunehmend verbreitet und institutionalisiert (vgl. die ersten bundesweiten Tagungen des Netzwerks fur rekonstruktive Sozialarbeitsforschung und Biografie in Bielefeld 2004 und Darmstadt 2006).

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gische Fallarbeit nutzbar zu machen, auch zu einer „Hierarchie der Wissensarten" tiber das Subjekt ftihren. Dies ware z.B. dann der Fall, wenn biografische Interviews mit Klientlnnen, die den Modus des Vertrauens etablieren, systematisch von Forscherlnnen ausgewertet wurden, die sie dann als Wissen fiber die Betroffenen in erster Linie den sie betreuenden Institutionen (etwa einem sozialpadagogischen Team oder dem Jugendamt) zur Verfugung stellen, ohne dass die Biograflnnen selbst Mitinitiatorlnnen und Teilnehmerlnnen der Ergebnisfindung und dieser Verhandlungen uber ihren 'Fall' sind.19 Ich mochte nun explizit zu einem funften Aspekt kommen, der bereits angeklungen ist: Bereits die Phase der Erhebung biograflscher Selbstprdsentationen stellt einen Akt der Herstellung von Biografie(n) dar. Ich mochte mich im Folgenden auf das Instrument des narrativ-biografischen Interviews konzentrieren, um diese These we iter zu verdeutlichen.

4. Das narrative Interview als „Biografiegenerator" Das narrativ-biografische Interview nach Schiitze versteht man unter Biografieforscherlnnen gemeinhin als Technik, die sich der einsozialisierten Alltagskompetenz des Erzahlens bedient (Loch/ Rosenthal 2002: 222). Man konnte sie noch weitergehend als Methode bezeichnen, die etwas aufgreift, was in der ein oder anderen Form vorher schon da war: formal als Erzahl- und Selbstreflexionskompetenz, inhaltlich als Fulle von erinnerbaren Erlebnissen, als (reflektierte) Erfahrungen und praktisch als Routine, der bereits im Alltag kommunizierten Selbstverstandnisse. Zu Zwecken der eigenen Selbstreflexion als Biografieforscherin mochte ich diese Sichtweise anreichern und nun genauer zeigen, inwiefern auch das narrativ-biografische Interview nicht nur als neutrales Instrument der bloBen Erhebung von Lebensgeschichten verstanden werden kann. Es ist, so meine These, 19 Wie dies gehen kann, zeigt im Ansatz die Idee der „dialogischen Biografiearbeit" (Kottig/ RatzHeinisch 2005). Die Autorinnen empfehlen, in der Praxis mithilfe des methodischen Repertoires der Biografieforschung einen konstanten biografieorientierten Dialog zwischen Klientlnnen und den in rekonstruktiver Biografiearbeit geschulten Professionellen zu ftihren. Dabei miissen letztere auch offen daftir sein, Bekanntes zu befremden und selbst bestandig aus der Arbeit mit den Klientlnnen sowie den neu auftretenden Phanomenen zu lernen. So ist z.B. das Ziel einer emanzipativen, ressourcen- und biografieorientierten Sozialarbeit, das Selbstverstehen der Klientlnnen zu fordern und gemeinsam mit ihnen herauszufinden, was im Sinne eines „gelingenderen Alltags" (Thiersch) unterstutzend fiir sie sein k5nnte. Denn oft wissen weniger die Professionellen, was fiir ihre Klientlnnen hilfreich ist, als vielmehr die Betroffenen selbst (Ratz-Heinisch 2005).

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auch ein „Biografiegenerator" (Hahn 1987: 12). So kommt es gewissermaBen zu dem Paradox, dass wir als Biografieforscherlnnen etwas erforschen, was wir selbst helfen, mit hervorzubringen. Jedes narrative Interview generiert eine Biografie; allerdings nicht dadurch, dass es eine biografische Strukturierung vorgibt. Derm narrative Interviews sind bekanntlich bewusst so konzipiert, dass nicht die Relevanzen des/der Interviewerln dominieren, sondern zu allererst die Relevanzen der Interviewpartnerlnnen. In einer mehr oder weniger ungesteuerten Selbstprasentation kann von der Biografln zunachst selbst die eigene Lebensgeschichte entworfen werden. Die an dieser Struktur orientierten Nachfragen vervollstandigen und verdichten das Gesagte. Gleichzeitig bringen sie nicht nur eine biografische Selbstprasentation, sondern dabei auch eine Gesamtsicht auf die Lebensgeschichte hervor, die vorher in dieser Form noch nicht existierte. Im Alltag erzahlen wir - schon allein aus Zeitgriinden - in der Regel nur kleine Teile unserer Lebensgeschichte. Durch die Eingangsfrage „Erzahlen Sie mir bitte Ihre Lebensgeschichte!" werden die Menschen nun im Interview dazu aufgefordert, ihre gesamte Lebensgeschichte oder ihre Familien- und Lebensgeschichte kondensiert darzustellen. Dies fuhrt zu einer in der Regel auf Tonband festgehaltenen, je spezifisch ausgestalteten mehr oder weniger umfassenden Selbstprasentation. Eine biografische Gesamtdarstellung, mithin eine Kontinuitat und eine innere Koharenz in der Lebensgeschichte werden dabei nicht natiirlicherweise oder als naturliche Form der Selbstprasentation von den Biograflnnen angestrebt. Koharenz und Gesamtdarstellung sind sowohl Folge von sozialen Erwartungen als auch - ganz konkret - eine Folge der Frage nach der „Lebensgeschichte", die die kognitive Figur der „Gesamtgestalt der Lebensgeschichte" (Schtitze 1984) aktiviert bzw. sozialisiert. Durch die implizit wirkenden „Zugzwange des Erzahlens" (Kallmeyer/ Schtitze 1977) werden die Biograflnnen dazu angehalten, eine in sich einigermafien stimmige, glaubwtirdige Ganzheit detailliert und kondensiert zu prasentieren und spater Darstellungslticken auf Nachfrage zu schlieBen.20 Interviewer und Interviewee produzieren in der narrativ-biografischen Interaktion daruber hinaus aber gleichzeitig dreierlei: In Sprache und parasprachliche AuBerungen transformierte Erinnerungen, zum zweiten Authentizitatserwartungen und damit die erhohte Wahrscheinlichkeit der Selbst- und Fremdzuschreibung der Biografie und schlieBlich Orientierung. 20 Um dies naher zu beleuchten, musste man unter dem Produktionsaspekt systematisch vergleichen, zu welchen Ergebnissen die Erzahlaufforderung „Erzahl mal!" oder „Erzahl von Dir!" nach der obligaten Nennung des Forschungsthemas, im Vergleich zu „Erzahl mir bitte Deine Lebensgeschichte" fuhrt. Dies ware dann umso wichtiger, wenn man innere Koharenz fur einen wesentlichen MaBstab der Beurteilung von biografischen Texten halt, - als Alternative zum unhaltbaren Kriterium der Faktizitat-, wie dies etwa Charlotte Linde (1993: 12) tut.

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Darauf mochte ich im Folgenden etwas naher eingehen: Die Herstellung von Biografischem im narrativen Gesprach findet also erstens start, indem komplexe Innenwelten in eine sprachliche Artikulation transformiert werden. Die Autobiografm rahmt, vereindeutigt, fokussiert, formt und identifiziert ihre Geftihle und ihre Erinnerungen an eigene Erlebnisse, ihre Beobachtungen sozialer Welt, ihr je spezifisches Erleben und Bearbeiten heteronomer Systembedingungen, ihr Orientierungswissen und ihr leibliches Empfinden. Dies geschieht angesichts ihres Gegeniibers sowie vor dem Hintergrund eines aktuellen Prasentationsinteresses; und zwar mittels eines spezifischen Vokabulars21. Dieses wurde zwar u.U. vielfach zuvor zur Darstellung von Biografischem entwickelt und angewandt. Im Interview aber erhalt es erst im Kontext einer gesamten sich im Prozess nach und nach entwickelnden Lebensgeschichte seine Bedeutung und wird so auch verstehbar. Bisher Fremdes, von sich selbst Unbekanntes oder auch Bedrohliches (wie etwa eine als briichig erlebte Lebensgeschichte) wird in der Erzahlung in Sprache gefasst, in einen lebensgeschichtlichen Gesamtkontext integriert und dem Erzahler selbst wie dem interviewenden Gegenuber bekannt und verstehbar gemacht (Matthes 1985: 313; Schutze 1976).22 Mit Michel Foucault konnte man diese Beobachtung zuspitzen und sagen: Durch seine Sprechakte teilt das Individuum nicht einem Gegenuber etwas tiber sein Selbst, seine bereits existierende innere „Wahrheit" mit, sondern es gerat im Erzahlen in einen (performativen) Prozess, in dem die Gegenstande der Darstellung, erst durch ihre sprachliche Aufierung „profiliert", „dramatisiert", „intensiviert", „beseelt" und „fixiert" werden (vgl. Foucault 1977: 59 ff.).23 Dass man sich bzw. anderen etwas biografisch mitteilt, ist als die immer wieder neue Erschaffung eines Selbstbildes zu beschreiben, an dem im Rahmen des Interviews auch der/ die Biografieforscherln interaktiv beteiligt ist. Nun kommt es im Akt der Artikulation nicht nur zu einer 'Erschaffung' der Biografie im Sinne der Produktion eines Ganzheitsbewusstseins sowie im Sinne 21 Dieses Vokabular ist nicht nur eine rein pers5nliche, uber viele Jahre auf der Basis von Erfahrungen entwickelte biografieorientierte Sprache, sondern z.B. auch sozialisiert in gesellschaftlichen Diskursen, also Denk-, Rede- und Deutungsweisen, die sowohl unser Erleben, unsere Erinnerungen als auch unsere Erzahlungen durchdringen (wie eine typische Art und Weise der Erinnerung und Versprachlichung historisch relevanter Erlebnisse, z.B. der antifaschistische Diskurs oder wie ein Sauberkeitsdiskurs oder der biologistische Diskurs). 22 Diese Uberlegung versteht sich als Erganzung zu der unter Biografieforscherlnnen geteilten Feststellung, Biografien wiirden in narrativen Interviews aus der Gegenwart qua Selektionsprozess konstruiert. Gemeint ist dabei oft lediglich, dass Autobiograflnnen die dargestellten Erinnerungen aus einer Fiille von Moglichkeiten selegieren miissen. M.E. gilt es also ebenso zu betonen, dass Biografien im narrativ-biografischen Interview in einem performativen Akt zu allererst produziert werden. 23 Zu einer ausfiihrlichen Auseinandersetzung mit der Bedeutung Foucaults fiir die Biografieforschung vgl. Schafer/ Volter 2005.

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einer sprachlichen Transformation subjektiver Innenwelten. Vielmehr kann dabei auch eine Identifikation der Sprechenden mit dem in der biografischen Darstellung expressiv GeauBerten stattfmden: Die Autobiograflnnen konnen sich selbst zuhoren und sich die sprachliche Objektivierung des Erinnerten im Akt oder im Nachklang des Sprechens aneignen. Nicht nur fur die Interviewerlnnen, sondern auch fur die Erzahlerlnnen selbst werden durch die Moglichkeit, sich auf narrative Weise zu artikulieren, Prozesse des (Selbst-)Verstehens angestoBen. Befordert wird eine solche Selbstzuschreibung des Erlebten und seiner biografischen Bedeutung durch den wechselseitig erwarteten und interaktiv hergestellten Authentizitatscharakter der Darstellung. Authentizitat wird hier im Sinne von Echtheit, Glaubwtirdigkeit oder zuverlassiger Verbiirgtheit der Aussagen verwendet, und die Autorin geht davon aus, dass das narrative Interview nicht ohne Authentizitatserwartungen auskommt. Der Begriff der Authentizitat ist allerdings zu Recht vielfach als Naivitat verworfen worden, da er in einer gangigen Form der Begriffsauslegung den Trugschluss transportiert, es gabe so etwas wie den Ausdruck des 'Eigenen', womoglich des 'Wahren', das einer Sache oder dem Handeln einer Person innewohnt. Ich mochte hingegen betonen, dass Authentizitat im narrativen Interview zunachst nur eine wechselseitige Erwartung oder Erwartungserwartung sein kann, die interaktiv ausgehandelt wird. Auch das 'Eigene' gibt es im starken Sinne per se nicht; es hat eine Sozialisationsgeschichte und wird situationsbezogen in Abgrenzung zum Tremden' interaktiv hergestellt. Die Erwartung und die Vorstellung einer vorhandenen Authentizitat im so eingegrenzten Sinne kann im narrativen Interview nun in dreierlei Hinsicht produziert werden: Zum einen hinsichtlich der Begegnung zwischen Interviewer und Interviewee sowie der wechselseitigen Erwartung, dass beide in der Interaktion glaubwtirdig handeln, was m.E. in Bezug auf die Authentizitatskritik am unproblematischsten ist, da dies zu den Basisregeln gelungener Kommunikation gehort. Daruber hinaus kann es eine Authentizitatserwartung hinsichtlich dessen geben, wie sich der/die Interviewte ihrer Lebensgeschichte zuwendet. Diese Zuwendung wird allerdings in praxi auch interaktiv gestaltet, namlich z.B. gerahmt und begleitet, also vom professionellen Gegentiber mit konstituiert. So kann etwa mittels des aktiven Zuhorens und der narrativen Fragetechniken so etwas wie dem Interviewee bzw. dessen Relevanzsystem als 'eigen' erscheinende Verbindung zur selbst erlebten Vergangenheit, zu den Handlungsmustern oder zu den Prozessen seiner bisherigen biografischen Reflexion hergestellt werden. Dies heiBt jedoch nicht, dass generell angenommen werde, die Narration oder die Aufforderung zur Narration konne eine „authentische Bedeutungs-

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generierung garantieren", wie Armin Nassehi und Irmhild Saake (2002: 71) in ihrer Kritik am narrativen Interview formulierten. Es heiBt vielmehr, dass vom narrativ Interviewenden Raum fur die Relevanzen des Interviewpartners und flir die eventuell entstehenden Widerspruchlichkeiten zwischen Deutung und Handlung gegeben wird. Es geht also nicht darum, bestimmte Prasentationsformen, wie etwa Selbstprasentationen mit vielen narrativen Anteilen, als authentischer ('echter') als andere zu bewerten und damit auch als glaubwiirdiger ('wahrer'), sondern darum, offen daftir zu sein, was sich durch die Rede des Interviewees wie herstellt. Ein Kriterium fur ein gelungenes narratives Interview konnte also sein, dass sich der Interviewte von seinen/ihren eigenen Erinnerungen auch tiberraschen lasst. Dies gelingt jedoch in der Regel nur, wenn sich auch der/die Interviewerln selbst glaubwiirdig empathisch auf ihr Gegeniiber einlasst und ihrer-/seinerseits empfanglich fur Uberraschungen bleibt, mithin bereit zur Ergebnisoffenheit ist. Der Akt der biografischen Selbstartikulation im narrativen Interview bringt also nur partiell eine /teproduktion der Lebensgeschichte hervor, und produziert, formt und orientiert ansonsten die grofte Vielfalt des durchlebten Lebens zu einer Geschichte. Diese Produktion von Biografie ist allerdings nicht gleichzusetzen mit einer Identitatsfixierung, denn biografisch-narrative Interviews ermoglichen mittels ihrer prinzipiellen Offenheit des Zugangs eine Ftille von Detaillierungen, Differenzierungen und Widerspruchlichkeiten von Lebensgeschichten und wirken insofern „ent-identifizierend" (Riemann 1986: 151). Gerade die Moglichkeit, im Interview mit Untersttitzung durch ein fremdes Gegeniiber eine Gesamtsicht auf die eigene Geschichte herzustellen, beinhaltet auch die Chance der Umdeutung oder Reorganisation von bisherigen Mustern biografischer Selbstdarstellung. Diese Erfahrung greift etwa der „narrative Ansatz" in der systemischen Therapie auf (White/ Epston 2002), indem er Erinnerungen als Stoff flir narrative Umdeutungen nutzt, die erfahrungsgemaB im Effekt handlungsverandernd wirken, da sie neue Perspektivitat und Orientierung vorgeben. Im oben erwahnten dreistufigen Produktionsprozess einer biografischen Selbstdarstellung kommt es also (neben der Transformation der Erinnerung in Sprache sowie der Identifikation des Sprechenden mit dem in der biografischen Darstellung expressiv GeauBerten) drittens zu einer Herstellung von biografischem Orientierungswissen, das seinerseits nachhaltig auf das Selbstverstandnis, das Handeln und das (autobiografische) Sprechen wirken kann: „Im 'Als ob' einer erzahlten Lebensgeschichte entsteht Konsistenz und Erwartungssicherheit, die gleichzeitig revidierbar bleibt" (Fischer-Rosenthal 1999:157). Der/die Interviewte kann vor dem Hintergrund der eigenen Biografie Zukunftshorizonte entwickeln, die einen sinnvollen Anschluss an das bisher Erlebte oder aber eine Veranderung bedeuten wiirden. Im Interview ganz unmittelbar 278

sichtbar ist dies in der thematischen Aufschichtung der selbststrukturierten Eingangsprasentation; d.h. das bereits Ausgesprochene bestimmt immer auch das mit, was folgt, zumindest solange, bis es revidiert wird. Aber auch im Alltag wirkt die sprachliche Fassung des Selbsterlebten orientierend.24 Insofern kann jedes narrativ-lebensgeschichtliche Interview auch eine „heilende" (Rosenthal 1995: 167-185; 2002) oder „therapeutische" (Schiitze 1984: 108) Wirkung haben. Schon allein deshalb, da im Alltag zwar punktuell biografisch gesprochen wird, es aber keine Selbstverstandlichkeit ist, seine gesamte Lebensgeschichte zu prasentieren. Das Vermogen, seine eigene Lebensgeschichte darzustellen, stellt vielmehr eine soziale Kompetenz dar, die erst in praxi gewonnen oder bewiesen werden muss. Dies wird besonders deutlich, wenn die Unbeschwertheit, sich einem solchen Experiment auszusetzen, nachhaltig verletzt wurde, wie etwa das Beispiel traumatisierter Menschen zeigt (Loch 2002). Der Verlust der Moglichkeit, sich selbst unbefangen und spontan zu erzahlen, bzw. die Angst davor, dabei an Bereiche des Nicht-Erzahlbaren zu kommen, kann als sehr schmerzhaft erlebt werden und z.B. zu Gefuhlen der Entfremdung und Nichtzugehorigkeit, zum Verhaftetbleiben im Erleben, zu weniger Mitgefuhl durch andere und insgesamt u.U. zu einer Verstarkung der Traumatisierung fuhren (Rosenthal 1995: 172). Ganz generell und besonders dann, wenn sich Menschen aufgrund eines problematischen Erlebens oder ihrer Sozialisation und Erfahrung auf Anhieb nicht allein zutrauen, eine Geschichte uber ihr Leben zu produzieren, kann ein narratives Interview eine „sanfte Intervention" (Loch/ Schulze 2002: 573) darstellen und eine Veranderung einleiten. So konnen die Interviewerlnnen mit narrativen Nachfragen dabei behilflich sein, diffuse oder verschtittete Erinnerungen in Sprache zu fassen. Wie eine solche konsequent narrative Gesprachsftihrung zur (Wieder-)Herstellung der sozialen Kompetenz fuhren kann, sich liber die eigene Lebensgeschichte selbst zu verstandigen und sich anderen mitzuteilen, beschreibt eindrucklich auch ein Projekt zu biografischen Fallstudien von Jugendlichen in berufsvorbereitenden MaBnahmen (Rosenthal u.a. 2005). Die zunachst sehr stockenden knappen Antworten der Jugendlichen wurden durch empathisches Zuhoren und beharrliches narratives Nachfragen 24 Dieser Punkt ahnelt den bereits von Mead (1995 [1934]: 100-107) ausgefuhrten Beobachtungen zur vokalen Geste: Mead, dem es in erster Linie um das Phanomen der Nachahmung sowie der Kommunikation geht, erklart, dass wir uns selbst sprechen horen, wobei die Bedeutung des Gesagten fur uns die gleiche ist wie fur andere. Auch er betont, dass durch das Gesagte eine Reaktion bei dem/r Sprecherln selbst ausgelOst wird und das diese eine Wirkung auf die eigene Identitat zeitigt: „Der Mechanismus ist der eines Individuums, das in sich selbst die Reaktion auslOst, die es in anderen hervorruft, und damit diesen Reaktionen gr56eres Gewicht als anderen Reaktionen gibt und diese Gruppe von Reaktionen langsam zu einem dominierenden Ganzen aufbaut." (ebd.: 106)

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nach und nach zu Erzahlungen mit hohem Detaillierungsgrad. Die Jugendlichen merkten, dass sie nicht sprachlos sind, was ihre eigene Geschichte angeht, sondern sich verstandlich machen und dabei uber sich selbst lernen konnen. An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich, erstens, dass die Interviewerlnnen in einem interaktiven Prozess mit beteiligt sind, eine lebensgeschichtliche Erzahlung zu ermoglichen. Und zweitens, dass die Uberwindung von Sprachlosigkeit in der Regel zu einer positiven Ruckwirkung auf den/die Erzahlerlnnen ftihrt, die gestarkt und selbst-bewusster aus einem solchen Gesprach herausgehen. Dies liegt u.a. daran, dass der Erzahler lernt, sich nicht als seinem Leben passiv Ausgelieferter zu sehen, sondern seine Fahigkeit zur (Aus-)Gestaltung seiner Lebensgeschichte wahrnimmt. Es ware interessant, empirisch zu verfolgen, ob und welche nachhaltigen Wirkungen solche Prozesse von Selbstverstandigung im narrativen Interview im Alltag unserer Interviewpartnerlnnen haben.

5. Fazit Bei alien Unterschieden zwischen marktorientierter Biografie-Dienstleistung und wissenschaftlicher Biografieforschung, auf die ich hier im Einzelnen nicht eingehen konnte, gibt es doch eine wesentliche Gemeinsamkeit: Sowohl Biografieservice-Unternehmen als auch die sozialwissenschaftliche Biografieforschung stellen relativ neue, organisierte Formen biografischer Selbstthematisierung dar. Dabei bilden sie nicht nur einen Rahmen dafiir, dass Menschen uber ihre Lebensgeschichte sprechen konnen, sondern sind selbst aktiv an der Herstellung von Biografie(n) beteiligt. Erstens, indem ihre Denk- und Redeweise Teil des gesellschaftlichen Diskurses tiber 'Subjekt' und 'Biografie' ist. D.h. sie bringen beide eine je spezifische Denk- und Redeweise uber den Gegenstand 'Biografie' und seine Bedeutung hervor. Zweitens, indem sie das Interesse an Biografien steigern und das Bedurfiiis wecken, eine eigene Biografie zu 'besitzen' oder zu erzahlen. Drittens, indem sie die soziale Kompetenz fordern, dass Menschen ihre Biografie tiberhaupt erzahlen und vermitteln konnen. Viertens, indem sie die in Interviews hervorgebrachten Selbstkonstruktionen festhalten, aufbereiten und in Form von Texten als „Ko-Konstruktionen" veroffentlichen. Ftinftens stellen sie Biografie(n) mit her, indem sie durch ihre Tatigkeit und deren Ergebnisse Effekte produzieren. Wenn im Fluss gelebtes und erlebtes Leben zu einem „eingefrorenen Lebenszusammenhang" (Hildenbrand 1999) wird, der uns vielleicht sogar als Spiegel - gegeniibertritt, dann kann das seinerseits wiederum Einfluss auf das Selbst- und Fremdbild aller Rezipientlnnen haben, wenn nicht sogar auf deren ktinftiges Leben gestaltend einwirken.

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Diese vielschichtigen Prozesse der Herstellung forschend, selbst-reflexiv und ggf. selbst-verandernd zu begleiten, erscheint mir eine wichtige Aufgabe beider beschriebener Biografie-Unternehmungen zu sein. Dies wiirde konsequenterweise einen sowohl diskurskritischen als auch ethnographischen Blick auf das eigene Tun erfordern. Besonders relevant erscheint es mir, die Effekte, die die Herstellung von Biografien nach sich Ziehen, genauer, d.h. auch empirisch zu untersuchen: Welche Wirkungen haben lebensgeschichtliche Interviews auf die Beteiligten und welche Folgen hat ggf. die Lektiire der eigenen in Schrift gefassten Biografie fur die Betroffenen und ihre Angehorigen? Eine selbst-reflexive Beschaftigung in diesem Sinne ware jedenfalls eine Moglichkeit, sich weiter fur die Grenzbereiche zwischen der intendierten Ermachtigung und der ungewollten Bemachtigung von Subjekten zu sensibilisieren.

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Carl Sasse Eine Romantische Arbeitsethik? Die neuen Ideale in der Arbeitswelt „I don't like work - no man does - but I like what is in work the chance to find yourself. Your own reality (...)" (Joseph Conrad)

1. Einleitung Kreativitat, Flexibility und Autonomic sind auf dem besten Wege, die wichtigsten Arbeitstugenden der westlichen Industriegesellschaften zu werden. Sie gelten heute als Minimalvoraussetzung fur eine erfolgreiche Karriere und haben die alten Ideale von Pflichtergebenheit und Treue teilweise abgelost. Arbeitgeberverbande fordern von den Mitarbeitern bestandig mehr Mut zum Wechsel, Weiterbildungsaktivitaten und Entschlussfreudigkeit. Die Anforderungen der modernen Arbeitswelt ahneln dabei auf verbltiffende Weise den Idealen, die ab den sechziger Jahren von denjenigen in Anspruch genommen wurden, die sich als antikapitalistisch und revolutionar verstanden. Wie konnten die vormals kritischen Ideale der '68er-Revolution' mit den Interessen der Unternehmen verkniipft werden und wie entstand daraus das, was in der soziologischen Literatur als der 'Neue Kapitalismus' behandelt wird? Sowohl die Ideen der 68er Revolution als auch die neuen Arbeitstugenden konnten auf individualistischen Idealen romantischer Pragung basieren. Die Romantik, so ist zu vermuten, hat tiber Mechanismen, die bisher kaum erforscht sind, einen starken kulturellen Einfluss auf die Gestalt der wirtschaftlichen Ordnung in den westlichen Industrielandern ausgeubt. Dass kulturelle Ideale bestimmte Entwicklungen in der Okonomie mit auslosen konnen, hat Max Weber in seinen Studien zum Protestantismus beispielhaft gezeigt. Der flexible Mensch (Sennett 1998) ist womoglich nicht allein Folge, sondern auch Wegbereiter des neuen Kapitalismus. Dahinter steht die Annahme, dass eine Wirtschaftsordnung die Menschen zwar erziehen, selbst aber keine eigenen (in diesem Fall romantischen) Ideen produzieren kann. Diese Ideen werden jedoch seit den 1980er Jahren auf breiter Front von Managementliteratur, Erfolgsratgebern und sogar ftir die Entwicklung von Unternehmensidentitaten verwendet.

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Die kulturellen Einfliisse der Romantik auf den Kapitalismus sind Gegenstand einiger Studien, die sich zumeist mit der Rolle des Konsums auseinandersetzten, nachdem Bell die kulturellen Widerspriiche zwischen Konsum und Askese auf den Punkt gebracht und das Ende der protestantischen Tugenden prognostiziert hatte (Bell 1991; Campbell 1995; Illouz 2003). Der Aufstieg romantischer Ideale in der Arbeitswelt signalisiert aber moglicherweise eher eine Erneuerung der protestantischen Ethik als deren Uberwindung. Zur Illustration schildere ich hier einen Fall aus meinem Bekanntenkreis: Vor einiger Zeit kam ich mit einer langjahrigen Nachbarin ins Gesprach. Susanne verrichtete gerade, wahrend sie das zweite Tochterchen auf dem Arm hielt, die tagliche Kiichenarbeit. Eigentlich wollte sie schon auf dem Weg in ihre neue Praxis fur alternative Heilkunde sein und wartete nun auf das Eintreffen des Babysitters. Zwischen Tur und Angel plauderten wir uber unsere jeweiligen Projekte und wie es uns damit erginge. Sensibilisiert fur das Thema Arbeitsethik fragte ich Susanne, ob sie den Alltag zwischen Haushalt, Kindern, Praxis und ihren anderen Projekten nicht auch als belastend empfinde. „Nein", antwortete sie mit einer Geste der Verwunderung, „das bin doch ich!" Susanne hat in ihrem Leben schon ein paar Jahre studiert, arbeitet unregelmaBig als freiberufliche Trainerin in einem Fitnessstudio und ist verheiratet mit dem Ingenieur Thomas, der ebenfalls zum Teil selbststandig ist. Susannes Eltern sind beide Akademiker und untersttitzen die junge Familie in finanziellen Krisenzeiten. Momentan geht es Susanne und ihrer Familie fmanziell gut, sie bauen ein zweites Haus. Seitdem ich Susanne und Thomas kenne, haben die beiden einige Katastrophen durchlebt, die sie an den Rand der Trennung und des Ruins brachten. Susanne besteht darauf, dass das alles wichtige Erfahrungen waren, die sie auf ihrem Weg machen musste. Wegen eines Bandscheibenvorfalls hat sie die neue Fitnesstechnik XY erlernt, die nun der aktuelle Renner im Studio ist. Dadurch sind ihre Kurse immer voll belegt, und sie verdient damit so gut, dass sie nebenher eine eigene Praxis fur Naturheilkunde eroffhen konnte. Alles hat seinen Sinn. Alle Hohen und Tiefen ihres personlichen Weges sind ftir Susanne ein wichtiger Teil ihrer selbst. Nichts davon mochte sie missen, denn auch das schlimmste Erlebnis war ftir sie eine Aufgabe, an der sie wachsen konnte oder ein wichtiger Hinweis darauf, dass sie sich auf dem falschen Weg befand. Die Uberschneidungen zwischen Privatleben und Arbeitsleben sind bei Susanne vielfaltig. Ich habe Susanne auch schon liber Monate hinweg verzweifelt und am Boden zerstort erlebt und es sah nicht so aus, als wiirde sie sich erholen. Bisher hat sie sich immer wieder aufgerappelt. Wie elektrisiert ist sie dann von einer neuen 286

Sache, und alle Depressionen sind wie weggewischt. Es muss nicht immer gleich eine neue Praxis sein, manchmal ist es auch eine Fitnesstechnik oder ein Selbsterfahrungsbuch, welches sie gerade begeistert liest. Sie steigert sich dermaBen schnell und intensiv in neue Therapieformen oder andere 'Lebenstechniken' hinein, dass sie schon bald Kurse darin gibt und wenn die Mode wieder abebbt, verfolgt sie schon ein neues Projekt. Susannes Eltern sind in ihrem Berufsleben beide recht erfolgreich gewesen. Ihr Vater Michael, als Mediziner und hoherer Beamter, Theresa, ihre Mutter, als Kinderarztin. Theresa und Michael hatten sich an der Universitat kennen gelernt. Als Theresa schwanger wurde, arbeitete sie bereits auf der Kinderstation eines Krankenhauses, wohin sie nach einigen Jahren hausmutterlichen Daseins auch wieder zuruckkehrte. Michael kletterte stetig die Karriereleiter hinauf und war oft nur am Wochenende zu Hause. Beide betrachten ihr Leben als erfiillt. Sowohl Theresa als auch Michael leisteten ihre unzahligen Uberstunden in dem Bewusstsein, im Dienst des Allgemeinwohls zu stehen. Fur beide war die Arbeit oft zermtirbend eintonig und hoffhungslos. Nichtsdestotrotz musste sie bewaltigt werden. Immer waren sie sich ihrer privilegierten Stellung bewusst, aus der sie auch einen Teil ihres Pflichtgefuhls ableiteten. Das Privileg bestand in den Entscheidungsspielraumen und der Komplexitat ihrer Tatigkeiten und natiirlich in der guten Bezahlung und dem Ansehen, welches diese Berufe mit sich brachten. Beide strahlen eine gewisse Wurde aus, wenn sie ihre Geschichte erzahlen. Sie haben getan, was getan werden musste, tagein, tagaus, jahrein, jahraus: Das ganze Leben in geregelten Bahnen verbringen, die Aufgaben abarbeiten, die auf einen zukommen, Entscheidungen treffen, zuverlassig, kontinuierlich und erhobenen Hauptes alles Angefangene zu Ende bringen. Wenn Michael damals nach Hause kam und sich die Kinder von seinem Arm gelost hatten, begannen die kurzen und gliicklichen Wochenenden, an denen alle beisammen waren. Bei Susannes Erzahlungen spiegelt sich in ihren leuchtenden Augen noch die Intensitat dieser Familienerlebnisse wider. Theresa und Michael haben im Laufe ihres Lebens ein ansehnliches Vermogen angehauft, von dem sie schon jetzt einiges an ihre Kinder verteilen. Ich erzahle diese Geschichte von Susanne und ihren Eltern, weil sie alle auf ganz unterschiedliche Art eine Eigenschaft besitzen, die Thema dieses Aufsatzes ist: Sie arbeiten gerne. Das ist historisch betrachtet eine Seltenheit bzw. ein relativ neues Phanomen. Arbeit gait in tausenden von Jahren Menschheitsgeschichte als ein Zeichen von Unfreiheit, Btirde und Strafe (vgl. Arendt 1981). Vom Bau der Pyramiden bis zum Frondienst des Mittelalters haben die Menschen nicht unbedingt gern gearbeitet. Und dennoch verkundete eine besorgte Elisabeth

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Noelle-Neumann, langjahrige Direktorin des renommierten Allensbacher Meinungsforschungsinstituts: „Der Verfall der Arbeitsfreude, seit Mitte der 60er Jahre beobachtet, setzt sich fort. (...) Die Frage: 'Glauben Sie, es ware am schOnsten zu leben, ohne arbeiten zu milssen?' wurde 1962 von 18 Prozent der Arbeiter und Arbeiterinnen, 1975 von 27 Prozent und 1976 von 31 Prozent bejaht. (...) Wir konnen nicht mehr annehmen, dass es sich um eine voriibergehende Veranderung bei uns handelt." (Noelle-Neumann 1979: 59) „(•••) die Arbeitsmoral ist gesunken, in Deutschland sogar in einem unfassbaren AusmaB." (Noelle-Neumann 1983: 19)

Die Befurchtung Daniel Bells, wonach der Kapitalismus seinen Wirtschaftssubjekten durch Dauerkonsum die Lust am Arbeiten nehme, schien sich zu bewahrheiten. Angesichts eines nie da gewesenen Wohlstands breiter Bevolkerungsschichten und annahernder Vollbeschaftigung begannen immer mehr Arbeitnehmer, sich fur ihre Freizeit mehr zu interessieren als fiir das Btiro oder die Fabrik. So jedenfalls die einhellige Interpretation konservativer Wissenschaftler und Wirtschaftsverbande. Die Okonomen und Experten fiir Mitarbeiterftihrung Dyllick und Probst urteilten Anfang der 1980er Jahre: „Das Niveau eines historisch einmalig hohen Lebensstandards kontrastiert auf paradoxe Weise mit den Phanomenen einer geistigen AuflOsung. (...) Im Bereich der Wirtschaft und der Arbeitswelt kommt diese Auflosung in wachsender Wirtschaftsfeindlichkeit, abnehmender Leistungsbereitschaft, Abwertung des Berufs, Dominanz einer instrumentellen Motivation und allgemein einer zunehmenden Arbeitsentfremdung zum Ausdruck." (Dyllick/ Probst 1983: 18)

Ein Verfall der deutschen Arbeitsmoral, diagnostiziert seit den siebziger Jahren, setzt voraus, dass es eine Arbeitsmoral gibt, die friiher anders oder starker ausgepragt war. Die Arbeitsmoral spielt nicht nur eine groBe Rolle in der westlichen Gesellschaft, seit Hannah Arendt (1981) sprechen wir sogar von einer Arbeitsgesellschaft. Wer gut und erfolgreich arbeitet, ist in der Arbeitsgesellschaft hoch geachtet, wer nicht gut arbeitet, oder womoglich uberhaupt nicht arbeitet, genieBt weniger Achtung. Wenn wir verstehen wollen, was geschehen sein konnte, damit die Arbeitsmoral einer ganzen Nation „sogar in unfassbarem AusmaB" absinken kann, dann liegt es nahe, zunachst nach der Entstehung dieser Arbeitsmoral zu fragen. Welche Mechanismen haben dazu gefiihrt, dass die westlichen Industriegesellschaften Arbeitsgesellschaften geworden sind, deren Mitglieder mehrheitlich die Arbeit fiir eine wtinschenswerte Form der Lebensfuhrung halten? Bereitschaft zum Verzicht auf personliche Bedtirfhisse zugunsten der Arbeit ist die Voraussetzung flir eine hohe Arbeitsmoral. Am besten ist die Arbeitsmoral, wenn der hohe Wert der Arbeit so verinnerlicht ist, dass ihre Austibung zum personlichen Bedtirfhis wird. Hier zeigt sich, dass personliche Bedtirfhisse morali288

schen Ursprungs sein konnen. Wer so eine Arbeitsmoral in seiner Personlichkeitsstruktur verankert hat, wird gerne arbeiten, auch wenn es Qualerei bedeutet.

2. Die Protestantische Arbeitsethik Max Weber war Ende des 19. Jahrhunderts auf einen Zusammenhang zwischen „Konfession und sozialer Schichtung" (Weber 1981: 29) aufmerksam geworden. Studien Webers und seiner Schiiler hatten ergeben, dass Protestanten uberdurchschnittlich erfolgreich und motiviert arbeiteten. Bei seiner Suche nach den religiosen Ursachen fur die hohe protestantische Arbeitsmoral beschaftigte sich Weber eingehend mit der religiosen Lehre Calvins. Hier fand Weber eine bis heute faszinierende Erklarung fur die Entstehung der protestantischen Arbeitsmoral, oder Arbeitsethik, wie er sie nannte. Webers Theorie von der protestantischen Ethik ist aus verschiedenen Griinden eine der wichtigsten Arbeiten der Soziologiegeschichte. Erstens lieferte Weber mit der Protestantischen Ethik eine Theorie, die den Kapitalismus auch als kulturelles Phanomen behandelt. Zweitens entwickelte Weber mit seiner Theorie ein Modell des normativen Wandels. Drittens ist Webers Theorie auch ein Modell ftir die Entstehung nicht intendierter Handlungsfolgen. Weber weist dem Calvinismus eine Schlusselrolle in der Entstehungsgeschichte des westlichen Kapitalismus zu, obgleich kapitalistisches Gewinnstreben nicht auf Calvins Agenda gestanden hatte, im Gegenteil: Bescheidenheit und die personliche Bereitschaft zum Verzicht, zwei Charaktereigenschaften, die sich mit dem Kapitalismus auf den ersten Blick nicht vertragen, waren zentrale Tugenden der Lehren Calvins. Kern der calvinistischen Weltanschauung ist die Pradestinationslehre, die Webers Theorie als religiose Ursache fur die Entstehung der protestantischen Arbeitsmoral ausmacht. Sie sei der urspriingliche Grund dafur, dass Protestanten noch heute so gern und effizient arbeiten. Anders als im Katholizismus war es unter Calvin weder moglich, irgendetwas dafur zu tun, dass man in den Himmel komme (Gott lasst sich nicht zwingen), noch konne irgendjemand vorher wissen ob er zu den Auserwahlten gehore (Gott lasst sich nicht in die Karten schauen). Der calvinistische Gott ist erbarmungslos, er hat sich von Anbeginn entschieden, wer in die Holle kommt und wer zu den „Electi" gehorend das ewige Leben empfangt. Weber vermutet in der Verzweiflung der calvinistischen Seelen den Ausloser fur Arbeitsethos und Askese. Des Erlosungsversprechens beraubt, ohne jede Moglichkeit der rasenden Angst vor der Verdammnis entgegenzuwirken, hatten 289

die ratlosen Glaubigen ihre geistlichen Fiihrer um Rat angefleht. Die Hirten der calvinistischen Gemeinden hatten zu dieser Zeit Schwierigkeiten, ihre gequalten Schafchen wieder zu beruhigen. Als Reaktion darauf wurde es kurzerhand: „(...) zur Pflicht gemacht, sich fiir erwahlt zu halten [und], um jene Selbstgewissheit zu erlangen, als hervorragendes Mittel rastlose Berufsarbeit eingescharft. Sie und sie allein verscheuche den religiOsen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes." (Weber 1981: 129)

Max Weber untersuchte, was angesichts der Berahmtheit der Protestantischen Ethik leicht in Vergessenheit gerat, in erster Linie die strukturellen Bedingungen, unter denen sich der moderne Kapitalismus hatte entwickeln konnen. In der westlichen Welt sei zunachst eine spezifisch westliche Rationalitat entstanden, welche fur die Genese des Kapitalismus notwendig gewesen sei. Die westliche Form der Rationalitat manifestiere sich in den Bereichen Wissenschaft, Kunst, Architektur, Biirokratie, „Fachmenschentum" und dem Staat in seiner westlichen Auspragung. Dennoch sei eine weitere Komponente notwendig gewesen, damit es zum kapitalistischen „take-off' habe kommen konnen: Ein zum Kapitalismus passender Lebensstil. Das kapitalistische Wirtschaftssystem habe sich namlich nur so gut entwickeln konnen, weil ein bestimmter Menschentypus aufgetaucht sei, der die Motivation und die Fahigkeiten besessen habe, den kapitalistischen Zug auch gegen Widerstande ins Rollen zu bringen. Es waren, so Weber, die protestantischen Sekten, alien voran die Calvinisten, aus deren spezifischer Form von Religiositat sich eine bestimmte sakulare Lebenshaltung zu entwickeln begann: Der Geist des Kapitalismus.1 Die Lebenshaltung des Protestanten hat sich, folgt man Weber, im Verlauf der Geschichte verselbststandigt, indem sie tiber mehrere Transformationsschritte hinweg zunachst den okonomischen Traditionalismus und spater auch ihre religiosen Wurzeln abgestreift hat. Aus der religios motivierten, asketischprotestantischen Rationalitat des 17. Jahrhunderts, die in der diesseitigen Pflichterfullung einen Ausdruck inneren Gnadenstands sah, habe sich der Geist des Kapitalismus entwickelt. Der kapitalistische Zug sei durch eine religiose Idee und die damit verbundene Geisteshaltung der Individuen ins Rollen gebracht worden. Ohne diese kulturelle, genauer: religiose Initialztindung ware das so nicht moglich gewesen. Wer hatte dann mit der rationalen Betriebsfuhrung begonnen? Wer ware dann auf die Idee gekommen, sein Geld weder aus1

„Geist bzw. Habitus steht fur eine spezifische psychische Disposition, die sich der einzelne im Laufe seines Lebens aneignet, und die sich in Verhaltens- und Orientierungsmustern niederschlagt. (...) 'Geist' bzw. 'Habitus' sind also relativ selbstandig zwischen einerseits den Ideen und andererseits den Institutionen, in denen das Handeln sich bewegt, zu situieren. Kapitalismus kann sowohl als Geist wie auch als System auftreten." (Guttandin 1998: 30)

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zugeben, noch zu spenden und auch nicht zu horten? Wer hatte einen Sinn darin gesehen, wie wahnsinnig zu arbeiten, obwohl man sich langst bequem hatte zur Ruhe setzen konnen? Wer wollte nicht den Lohn seiner Arbeit genieBen, anstatt, aus Angst vor UnmaBigkeit als sicherem Zeichen der Verdammnis, jeden Pfennig zweimal umzudrehen? Auch bedarf es flir die rationale Betriebsfiihrung einer bestimmten Charakterfestigkeit, Pedanterie und Fahigkeit zur Zukunftsplanung. Diese Schliisselkompetenzen des modernen Kapitalismus habe der Calvinist auch ohne okonomischen Druck - schon verinnerlicht, weil er standig auf der Hut vor Verfehlungen sein musste. Die Genese dieses neuen Menschentypus habe sich gegen die Ablehnung und Verachtung durch die zeitgenossische Gesellschaft durchsetzen konnen. Dies sei nur durch die religiosen Gruppen, die protestantischen Sekten, moglich gewesen. Eine solche Entwicklung konne zwar von einem einzelnen „Charismatiker" wie Calvin ausgelost werden, die lebenspraktische Umsetzung sei aber an Tragergruppen gebunden. Diese mussten ihre Lebensmaximen in ihr alltagliches Handeln einflieBen lassen. Erst dadurch entstiinde das kulturelle Fundament einer Lebenseinstellung, die dann an die Folgegenerationen weitergegeben werde. Der Idealtypus des fruhkapitalistischen Unternehmers habe sich, so Weber, ganz ohne Kapitalismus aus vollig anderen Grunden entwickelt. Charaktere vom Schlage eines Benjamin Franklin, laut Weber aufgewachsen in einer eher antikapitalistischen Umgebung, hatten fur den kapitalistischen „take-off gegen Mitte des 18. Jahrhunderts gesorgt. In Webers Beschreibung des zwanzigsten Jahrhunderts sind die Glaubenssatze eines Johannes Calvin, wie auch die Lebensmaximen von Benjamin Franklin in Vergessenheit geraten. Was bleibe, sei der unhinterfragbare, innere Zwang zu arbeiten. Es seien nun die kapitalistischen Strukturen, nach denen sich das Leben ausrichte. Berufspflicht empfinde in der Kultur des Kapitalismus jede 'normale' erwachsene Person, egal worin ihre Tatigkeit bestiinde. Der einmal erstarkte Kapitalismus brauche die religiose Starthilfe nicht mehr, sie sei ihm eher lastig, genauso wie Benjamin Franklins skurrile Tugendhaftigkeit. Eine sich alles und jeden dienstbar machende Maschinerie degradiere den Einzelnen zum bloBen Radchen im Getriebe. LFbrig blieben „Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz", die sich in „mechanisierter Versteinerung krampfhaft wichtig nehmen" (Weber 1988: 204). Fachmenschen ohne Geist sind diejenigen, die ihre rastlose Berufsarbeit nicht mehr mit Sinn auffullen konnen, der Geist ist ihnen abhanden gekommen. Gleichzeitig sind sie Genussmenschen ohne Herz, da sie die Freigiebigkeit vergangener Zeiten nicht kennen und die Sinnlosigkeit ihres Daseins in ebenso sinnlosem, egoistischem Konsum ertranken. Ein vager innerer Zwang, bestenfalls getarnt als hehres 291

Pflichtgefuhl, treibe den westlichen Erwerbsmenschen des zwanzigsten Jahrhunderts zu immer neuen Hochstleistungen an. Allein das disziplinierte Individuum konne sich dem Moloch Kapitalismus erfolgreich entgegenstellen, so Webers Hoffhung. Ein kultureller Wandlungsprozess, an dessen Ende ein neuartiger Menschentypus steht, scheint bei Weber nicht moglich zu sein. Einige Entwicklungen in der Arbeitswelt der 1970er Jahre sprechen da eine andere Sprache. Offensichtlich ist in der Kultur des spaten Kapitalismus viel mehr in Bewegung, als Weber vorhergesehen hatte. Gerade in der Arbeitsethik zeichnet sich, wie beschrieben, eine Bewegung weg von traditionellen protestantischen Tugenden der Pflichterfullung hin in Richtung Selbstentfaltung ab. Womoglich ist das „eherne Gehause" gar nicht das Ende der protestantischen Ethik, wie Weber vermutete? Richard Sennett halt Webers Entstehungsgeschichte des Kapitalismus fur fehlerhaft, auch weil dieser die Rolle des Konsums kaum berucksichtigt habe (vgl. Sennett 1998: 141). Die Entstehung des „getriebenen Menschen" sei aber von Weber richtig erkannt worden. Weber liefere eine schliissige Theorie zumindest zur religiosen Genese eines Menschentypus, der aus einem inneren Bedurfhis heraus gern arbeitet. Es deutet manches darauf hin, dass Max Weber im protestantischen Menschentypus nur einen historisch einmaligen, von strukturellen Prozessen eingerahmten Fall kultureller Wirkungen auf die Geschichte sah (vgl. Weber 1981: 269). Vermutlich dachte Weber gar nicht so weberianisch, wie wir heute zum Teil annehmen. Die Macht der kapitalistischen Strukturen tiber den Menschen, so eine mogliche Interpretation, sptilte alle unbenotigten Komponenten der protestantischen Ethik, darunter auch die Askese, einfach hinweg. Von daher kann man sich vorstellen, dass die reichen Kaufleute des 19. Jahrhunderts ihren Geiz vergaBen und sich dann doch irgendwann die schicke Grtinderzeitvilla gegonnt haben. Der Geist war eben entwichen. Der englische Soziologe Colin Campbell gibt sich mit dieser Interpretation nicht zufrieden. Weber habe es sich da zu einfach gemacht und sei hinter die Qualitat der eigenen Analyse zuriickgefallen, indem er das asketische Ethos einfach der Erosion durch die Strukturen uberlassen habe. Moral konne nicht ersatzlos gestrichen werden (vgl. Campbell 1995: 299). In Analogie zu Webers Protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus proklamiert Campbell eine romantische Ethik, um dann ganz im Stile Webers ihre historische Wendung in den Geist des modern consumerism zu vollziehen. Die Protestantische Ethik habe bei Weber im Kleinformat als Ethik der reinen Pflichterfullung und im burgerlichen Berufsideal uberlebt, wahrend die Konsumzurtickhaltung aufgegeben worden sei. Das stimmt nicht ganz, so Camp292

bells These: Von 1600 bis 1800 habe sich liber mehrere Transformationsschritte hinweg aus der protestantischen die romantisehe Ethik entwickelt, wobei die protestantischen Tugenden in die Arbeitswelt abgedrangt worden seien. Die protestantische Ethik, so Campbell, sei nicht aus dem Privatleben verschwunden, sondern habe sich weiterentwickelt, eben in Richtung Romantik. Ausgehend vom biirgerlichen Rationalismus entwickelte sich, so Campbell, tiber die Romantik ein aufgeklarter Charaktertyp, der als Hedonist seine Aktivitaten nicht auf die Gesellschaft, sondern auf sich selbst bezieht. Diese Personlichkeitseigenschaft bestimme maBgeblich das Verhaltnis des modernen Menschen zum Konsum. Indem Campbell den autonomen Hedonismus des modernen Menschen in den Vordergrund stellt, verliert er - wie Max Weber, nur umgekehrt - die andere Seite der Medaille aus dem Blick: Das Arbeitssubjekt. Auch bei Campbell fehlt eine eingehende Analyse der letzten Transformationsschritte, mithilfe derer die romantischen Selbstentfaltungsideale Eingang in die Arbeitswelt gefunden haben. Max Weber hat uns mit der traurigen Geschichte des modernen Erwerbsmenschen auch eine komplexe Theorie des sozialen Wandels zur Verftigung gestellt. Vielleicht hilft diese uns dabei, zu verstehen, warum meine Nachbarin Susanne so gern arbeitet, und welche Geschichte dahinter steht. Erinnern wir uns an Susanne und ihre Eltern, die beiden Mediziner Theresa und Michael. Letztere tragen noch deutliche Ziige protestantischer Tugendhaftigkeit in sich. Susanne dagegen fmdet in ihrer Arbeit etwas anderes. „Das bin ich" hat sie aus dem Bauch heraus gerufen, als es um ihre Arbeit ging. Das hort sich nicht an wie ein sinnentleertes Gehause der Horigkeit. Susanne fiihlt sich auch nicht irgendwem verpflichtet, bis tief in den Abend hinein zu arbeiten, hochstens sich selbst gegentiber. Sie schopft ihre starke Motivation aus inneren Quellen, genau wie der Puritaner, doch verbindet sie ganz andere Werte mit ihrer Arbeitstatigkeit. Werte, die eher an diejenigen des romantischen Ktinstlers erinnern. Wenigstens die Personlichkeitsideale Autonomic, Ganzheitlichkeit, Innenschau und affektive Sinnlichkeit treffen sowohl auf das Selbstbild des deutschen Romantikers um 1800 (vgl. Hennig 1989: 144) als auch auf meine Nachbarin Susanne zu. Es sieht so aus, als hatte Susanne eine neue Form der Arbeitsethik flir sich entdeckt und, so meine Vermutung: Sie ist damit nicht die Einzige. Warum Susannes Eltern gerne arbeiten, darauf hat uns Max Weber eine Antwort gegeben, tiber die sich gewiss streiten lasst. Trotz aller Zweifel fmden sich bei Theresas und Michaels Lebenseinstellung doch solide Ankntipfungspunkte zu den protestantischen Tugenden, die Weber beschrieben hatte. Susanne selbst passt da nur teilweise ins Bild. Sie hat eine sehr lebendige Arbeitsethik, 293

sie kann viel iiber den Sinn ihrer Arbeit erzahlen und das, ohne sich auf vage Pflichten berufen zu mtissen. Sie verbindet die Arbeit direkt mit ihrer Personlichkeit, mehr noch: Sie und ihre Arbeit sind eins. Eine solche Lebenshaltung konnte auf eine hohe Arbeitsmoral hinweisen. Davon sollten die Personalabteilungen der Unternehmen nur traumen. Im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts hat tatsachlich ein Wertewandel stattgefunden, in dessen Mittelpunkt neue Werte des Selbst und ein verandertes Selbstverstandnis in der Arbeit stehen. Konnte der Traum der Personalchefs in Erfullung gegangen sein?

3. Kultureller und struktureller Wandel der Arbeitswelt Was sich ab den 1970er Jahren in den Groflunternehmen abspielte, war zunachst eher ein Albtraum fur die Personalverantwortlichen: Nicht nur offene Kritik und Rebellion, sondern auch die massenhafte 'innere Ktindigung' von Mitarbeitern machten den Unternehmen Sorgen. Sinkende Arbeitsmoral und eine verstarkte Hinwendung zu Freizeitaktivitaten schienen das nahende Ende der Leistungsgesellschaft anzuktindigen. Bei naherem Hinsehen wurde aber offensichtlich, dass nicht das grundlegende Interesse an Arbeit, sondern eine zunehmende Unzufriedenheit mit den Selbstentfaltungsmoglichkeiten in der Arbeitswelt fur das Nachlassen der Leistungsbereitschaft verantwortlich war. Die Arbeit wurde als zu langweilig empfunden. Die These vom Werteverfall ersetzte man durch die der Wertesubstitution (vgl. Pawlowski 1986). Intrinsische Motivationen gerieten in den Mittelpunkt des personalwirtschaftlichen Interesses. Der intrinsisch motivierte Mitarbeiter findet eine innere Belohnung in der Arbeit. Er ist ohne Murren bereit, Uberstunden zu leisten. Er denkt vielleicht auch nach der Arbeit noch iiber Verbesserungen nach. Er tibernimmt Verantwortung. Kurzum: intrinsisch motivierte Mitarbeiter sind mit ganzem Herzen bei der Sache, wahrend extrinsisch motivierte Mitarbeiter sich sofort eine Zigarette anstecken und Pause machen, wenn keiner guckt, oder auch nur so tun, als wtirden sie arbeiten. Es liegt auf der Hand, dass Arbeitgeber, sobald sie iiber dieses psychologische Wissen verfiigen, alles daran setzen, die intrinsischen Motivationen der Belegschaft zu fordern bzw. intrinsisch motivierte Mitarbeiter zu rekrutieren. Das Schone an intrinsischen Motivationen ist auch, dass sie kaum Geld kosten - wenn man sie zu wecken versteht. Extrinsische Motivation muss dagegen teuer erkauft oder erzwungen werden. Im Sinne der Wertsubstitutionsthese (Inglehart 1977) zeigt diese Entwicklung eine Absattigung materieller und Sicherheitsbediirfiiisse und einen damit verbundenen „Uberdruss" an.

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Fur die Personalentwickler war das Motivationsproblem damit geklart. Die Leute brauchen nicht mehr Geld, sondern weniger Monotonie und 'humanere' Arbeitsbedingungen. Insgesamt zeigen die Befunde aus den siebziger Jahren an, dass Arbeitnehmer ihre Aktivitat von der Arbeit weg in die Freizeit hinein verlagern. Unzufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen fuhrte offensichtlich dazu, dass die Leute begannen, sich in anderen Lebensbereichen mehr zu engagieren. Das heiBt nicht unbedingt, dass die Arbeit kulturell an Bedeutung eingebtiBt hatte, sondern die Arbeitsbedingungen unattraktiver geworden waren. Die schichtspezifische Ausdifferenzierung dieser Werteverschiebungen urn die siebziger Jahre herum stellt sich wie folgt dar: „Wahrend die Arbeitnehmer auf der unteren Ebene der beruflichen Hierarchie mehr Abwechslung, weniger Routine fordern und sensibler fur sozial bezogene kommunikative Aspekte der Arbeitssituation wurden, sind es auf der mittleren Hierarchieebene Forderungen nach Selbstverwirklichungschancen und verstarkten PartizipationsmOglichkeiten." (Pawlowsky 1986: 180)

Untere Berufsgruppen buBten ihr proletarisches Selbstbewusstsein ein. Offensichtlich wurde das heldenhafte Arbeiterethos der Vergangenheit durch eine neue Form der Sinnzuschreibung ersetzt. Anstelle der alten Werte wie FleiB, korperliche Leistung und Pflichtergebenheit wurde es nun immer wichtiger, sich auch in der Arbeitswelt als 'ganzer Mensch' begreifen zu konnen. Das traditionelle Berufsethos findet sich weiterhin bei den leitenden Angestellten, Beamten und Freiberuflern. Sie betrachten ihren Beruf als Berufung. Wenn sich die Identitat zum groBen Teil aus dem ausgetlbten Beruf speist, dann ist die Ausubung unschwer als Selbstverwirklichung zu erleben. Pessimistische Diagnosen vom Verfall der Arbeitswerte waren schon zu Beginn der achtziger Jahre empirisch widerlegt. Der subjektive Sinn der Arbeit hatte sich nicht aufgelost, sondern verandert. Das Arbeitsleben begann sich mit neuem Sinn zu ftillen oder wenigstens gab es verstarkten Bedarf nach sinnvoller Arbeitstatigkeit. An die Stelle des verloren gegangenen Pflichtbewusstseins traten Werte des Selbst. Die letzte Wahrheit Gottes, so konnte man meinen, wurde ersetzt durch die Wahrheit des eigenen Erlebens. Gut ist nicht, was gottgefallig ist, sondern das, was sich gut anftihlt und SpaB macht. Schon Jahre bevor Meinungsforscher auf das Phanomen Wertewandel aufmerksam wurden, erschienen in der deutschsprachigen betriebswirtschaftlichen Literatur Titel wie z.B. „Verhaltenspsychologie im Betrieb" (Blake/ Moutan 1968).2 Der Okonom und Motivationsexperte August Sahm konstatierte 1977:

2

Bereits in den 1920er Jahren waren die negativen Folgen von Monotonie und autoritarem Fiihrungsstil in der Wirtschaft bekannt. Messer 1928: „Der Arbeiter muss das Gefiihl bekommen,

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„Das Leistungsverhalten von fachlich qualifizierten und damit selbststandigeren Mitarbeitern lasst sich immer weniger mit einer traditionellen AuBensteuerung (d.h. mit 'unter Druck setzen' oder mit 'Belohnungen') optimieren. Es muss 'innengesteuert' sein, d.h. die Beweggriinde zur Leistungssteigerung mussen aus den Bediirfnissen der Mitarbeiter selbst kommen. Motivation heiBt heute immer mehr, die Mitarbeiter dahin zu bringen, dass sie sich mit den Leistungszielen identifizieren und dafilr aus eigenem Antrieb ihr Bestes geben. D.h. der Fuhrende muss erkennen, dass, uber die materiellen und sozialen Bediirfnisse des Mitarbeiters hinaus, die Bediirfnisse der Selbstbestatigung und Selbsterfiillung immer mehr zu anspornenden Beweggrtinden der Leistungssteigerung werden." (Sahm 1977: 32)

Im Anschluss an Sahms Ausftihrungen findet der Leser bereits Anleitungen und Beispiele fur psychologisch und padagogisch versierte Rollenspiele und Selbsterfahrungsubungen, unter anderem auch zu „Herzensangelegenheiten" der Mitarbeiter. Sozialwissenschaftliche Studien iiber den Wertewandel wurden von Wirtschaftswissenschaftlern ebenso aufinerksam gelesen wie verhaltenspsychologische Arbeiten aus den sechziger Jahren oder Autoren der kritischen Theorie.3 Seit Mitte der siebziger Jahre begann in Deutschland die Suche nach einem „angepassten Fuhrungsstil" (Dyllick/ Probst 1983: 34). „Die veranderten Werthaltungen scheinen nach einem neuen Typ des idealen Filhrers zu verlangen, dem es gelingt, die Oberlebensbedurmisse der Unternehmungen mit den Selbsterfiillungsbediirfnissen der heutigen Mitarbeiter zu verknupfen." (ebd.: 35)

Plotzlich betonten Wirtschaftswissenschaftler und Personalberater, wie ungesund und unmenschlich die monotone Arbeit in herkommlichen Organisationen sei. Mit der 'netten' Gestaltung von Arbeitsbedingungen hatten die Unternehmen ein wirksames Instrument, der nachlassenden Arbeitsfreude entgegenzuwirken. Die Losung des Motivationsproblems war damit gefimden. Das neue Bild vom selbstverantwortlichen Arbeitnehmer passte auch hervorragend in eine strukturelle Entwicklung hinein, deren Auswirkung ein erhohter Bedarf an Engagement und Kreativitat im Beruf war. Das Erscheinungsbild des idealen Mitarbeiters

3

dass er als besonderer Mensch in seiner qualitativen Eigenart und - wenn auch noch so bescheidenen - Wert-Einzigkeit - gesehen und als Vollstrecker einer eigenen Lebensaufgabe geachtet wird". (Zitiert nach Breisig 1990: 79) August Sahm beruft sich auf Herbert Marcuse und Karl Marx, wenn er von der Notwendigkeit spricht, der „Entfremdung" (!) der Arbeit entgegenzuwirken. Emil von Brauchlin, BWLProfessor in St. Gallen, verweist auf die Dialektik der Aufklarung, um seine These von der Notwendigkeit eines „Rationalen Humanismus" zu untermauern. (Brauchlin 1984: 64) Schon hier zeichnet sich die beginnende Vereinnahmung kritischer Positionen fur die Zwecke der Gewinnmaximierung in Unternehmen ab.

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verschob sich in eine Richtung, die gut mit den neuen Selbstentfaltungswtinschen des Burgers der Wertewandelszeit harmonierte. Neben den unter der Uberschrift Wertewandel gefuhrten kulturellen Veranderungen sah sich die Wirtschaft der friihen siebziger Jahre auch mit weitreichenden Neustrukturierungen der Markte und Produktionstechnologien konfrontiert. Innovationsfahigkeit ist seitdem zu einem Uberlebensfaktor fiir Unternehmen geworden. Als entscheidende Ressource fur Innovationen trat die Kreativitat des einzelnen Mitarbeiters in den Vordergrund. Ebenfalls schon in den siebziger Jahren bildeten sich in 'Qualitatszirkeln' freiwillige Gruppen von Arbeitnehmern, deren Auftrag die Findung neuer Ideen fur die Qualitatssicherung war. Kreativitat wurde zur Schltisselqualifikation und schlug sich als zentrale Anforderung in einer Ftille von Managementratgebern nieder. Ein friihes Beispiel ist der Titel „Kreativitat und Unternehmensorganisation" von Peter Bendixen (1976). Bendixen sah eines der groBten Probleme bezuglich der Kreativitat in Unternehmen in der Paradoxic von individueller Autonomic des kreativen Individuums bei gleichzeitiger Wahrung der Unternehmensinteressen (vgl. Bendixen 1976: 29). Harald Wolf vermutet aus gleichem Grund: „Die Forderung nach Autonomic muss deshalb an den Kapitalismus nicht von auBen - etwa durch eine Kiinstlerkritik4 - herangetragen werden. Sie taucht in seinem Inneren auf, induziert durch widerspruchliche Zielsetzungen und immanente Organisationsprobleme. Beherrschung und Autonomic zugleich, Beherrschung und Autonomic in wechselnden Mischungsverhaltnissen, das Schwanken zwischen Beherrschung und Autonomic kennzeichnen das kapitalistische Unternehmen." (Wolf 2004: 5)

In der Arbeitswelt treffen der innerbetriebliche Wertewandel, ausgelost durch die okonomisch-technische Entwicklung und der gesellschaftliche Wertewandel aufeinander. Organisationen mit neuen Anforderungen und Strukturen treffen auf Individuen mit ebenso neuen Forderungen und Personlichkeitsmerkmalen. Die Kompatibilitat der beiden ist so frappierend, dass Zusammenhange zu vermuten sind. Der „take-off' des modernen Kapitalismus nach Max Weber basierte auch auf einem Zusammentreffen von strukturellen (westliche Rationalitat) und kulturellen Merkmalen (Geist des Kapitalismus bzw. Habitus des protestantischen Erwerbsmenschen). In der aktuellen Dynamik konnte es ein Zusammenfallen von technisch-okonomischen Strukturen und der neuen Selbstentfaltungskultur (neuer Habitus) sein. Wie aber ist der Wertewandel in den siebziger Jahren entstanden?

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Wolf spielt mit dem Begriff „Kunstlerkritik" auf die Thesen von Boltanski/ Chiapello an.

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Im gesellschaftlichen Wertewandel der 1960er und 1970er Jahre formieren sich in der Bundesrepublik bei den Beamten und leitenden Angestellten, die als Tragergruppe eines romantischen Arbeitsethos in Frage kommen, steigende Selbstentfaltungsanspruche an die Arbeit. Im Hinblick auf meinen Tall' Susanne konnte das bedeuten, dass romantische Ideale, auf welchem Wege auch immer, Besitz von der Arbeitswelt ergreifen und die protestantische Ethik tiberlagern. Wenn so etwas wie eine romantische Arbeitsethik entsteht, konnte es auch sein, dass sich ein, im Weber' schen Sinne, Idealtypus des spatmodernen Erwerbsmenschen erst noch entwickelt. Dazu ware eine endgultige Transformation der Pflichtethik in eine Ethik der Selbstverpflichtung notwendig. Susanne arbeitet fur sich selbst. Sie empfindet das nicht nur als nicht verwerflich, sondern als ihre Pflicht. Alles andere ware aus ihrer Sicht unehrlich und sogar ungesund. Susanne ist fur mich ein greifbarer Einzelfall, beispielhaft fur eine typische Haltung, die bei immer mehr Angehorigen kreativer Berufsfelder zu finden ist (vgl. Koppetsch 2005). Dabei ist sie keineswegs Opfer kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen oder manipulativer Motivationstechniken. Sie hat ihr Ethos, ganz wie der Protestant, unabhangig von wirtschaftlichem Erwerbsdruck ausgebildet. Susannes Arbeitsethos basiert auf Glaubenssatzen und Idealen, die zunachst nichts mit dem Kapitalismus zu tun haben.

4. Tragergruppen Ahnlich wie Campbell vermuten auch Boltanski und Chiapello, dass der Kapitalismus zu seiner Legitimation weiterhin auf kulturelle Sinnmuster angewiesen ist. Der Glaube an die kapitalistische Wirtschaftsweise als die beste und dem Allgemeinwohl dienlichste, musse fortwahrend in der Kultur reproduziert und aktualisiert werden. Die okonomischen Zwange allein reichten nicht aus, um die Akteure dem Wirtschaftssystem zu unterwerfen. Ohne eine allgemeine Zustimmung konne der Kapitalismus nicht die ihm eigene Dynamik entfalten. Wie auch Max Weber fur die Zeit der Industrialisierung, vermuten Boltanski und Chiapello, dass bestimmte Personenkreise den Kapitalismus seit den 1970er Jahren mit neuen Glaubenssatzen versorgten. Es seien gerade diejenigen Gruppen gewesen, so die Autoren, die den Kapitalismus so treffend kritisiert hatten. Die Kunstler und Intellektuellen. Max Weber hatte mit den Calvinisten ein gutes Beispiel daflir gefimden, wie sich Lebenseinstellungen andern konnen: Die Pradestinationslehre sttirzt Menschen in Verzweiflung, Arbeit und Entsagung bilden die einzige Chance auf Erlosung. Das alles funktionierte, so Weber, ganz ohne Kapitalismus. Spater habe 298

sich der Kapitalismus diese neue Lebenshaltung (Variation) nach seinem Bedarf weitergezuchtet (Selektion) (vgl. Weber 1981: 45 f.). Wahrend Weber die Arbeitswut bis ins zwanzigste Jahrhundert fortschrieb, blieb das Schicksal der Askese vollig im Dunkeln. Wie konnte, bei Beibehaltung der wie auch immer gearteten Arbeitsmoral, aus dem Geizhals ein Hedonist werden? Konsum war etwas Verwerfliches, gerade innerhalb des Btirgertums. Und doch waren es zunachst die Burger, nicht die Arbeiter oder der Adel, die zu Genussmenschen wurden. Max Weber machte daflir im Wesentlichen die 6konomische Entwicklung verantwortlich. Anders das Wandlungsmodell von Boltanski und Chiapello: Sie vermuten, dass sich der Kapitalismus an den Idealen der Kritik hat bewahren miissen. Nur so hatte ein allgemeiner Legitimationsverlust fur das kapitalistische System vermieden werden konnen. Die von der Kunstlerkritik vertretenen Ideale seien Authentizitat, Autonomie und Individualist. Die Kritik hatte diese Trends in den offentlichen Diskurs eingebracht und sei dadurch handlungswirksam geworden. „Die Kritik kommt in Streiks und Gewalttaten zum Ausdruck, die die Desorganisation der Produktion zur Folge haben, die die Qualitat industrieller Produkte senken und nach einigen Einschatzungen auch die Lohnkosten verdoppeln." (Boltanski/ Chiapello 2001: 468)

Sind die Fabrikarbeiter von ein paar Studenten, Hippies und Intellektuellen angestiftet auf die Barrikaden gegangen und haben den Kapitalismus bedroht? Solche Kausalannahmen sind schwer zu belegen und von den Autoren auch nicht beabsichtigt. Die Arbeiter waren von jeher kritisch gegentiber dem Kapitalismus eingestellt5 - im Gegensatz zu den btirgerlichen Mittelschichten, der Tragergruppe der Kunstlerkritik. Es stellt sich daher die Frage, wie sich die romantisch individualistischen Ideale der Kunstlerkritik in ihrem Ursprungsmilieu, dem stockkonservativen, rigiden Klein- und Bildungsbiirgertum uberhaupt entwickeln und festsetzen konnten. Die Ideale der Kunstlerkritik entspringen der Romantik, soviel scheint klar. Wie sind diese Ideen handlungsrelevant geworden? Wie gelingt die Neuverknupfung der ehemals kritischen Ideen mit dem Kapitalismus? Der romantische Individualismus (Eberlein 2000) geht auf Simmels Begriff vom qualitativen Individualismus zuriick, welcher seinerseits auf dem romantischen Ideal des einzigartigen Individuums basiert (Simmel 1993). Die Entfaltung des individuell einzigartigen Lebensplans sei nicht mehr nur das Recht, sondern auch die Pflicht eines jeden Menschen. Die individuelle Einzigartigkeit ist in dieser Vorstellung eine verborgene, von der Gesellschaft verschiittete Pra-

5

Diese Form der Kritik bezeichnen Boltanski und Chiapello als Sozialkritik.

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destination des Individuums, deren Verwirklichung allein Ziel alien Freiheitsstrebens sein mtisse (vgl. Eberlein 2000). Wenn hier in diesem Sinne von romantischem Individualismus die Rede sein wird, dann immer unter der Pramisse, dass es sich urn eine Art der Selbstdeutung handelt und keinesfalls um eine philosophische Betrachtung des 'Menschseins'. Kern dieser 'Erfindung' ist die Vorstellung, jeder Mensch sei einzigartig. Das klingt zunachst banal und unanfechtbar, aber gerade daran lasst sich ablesen, wie verbreitet der romantische Individualismus in unserer Kultur und wie tief er in unser modernes Weltbild eingeschrieben ist. Der mittelalterliche Mensch fand seine Identitat in vorgegebenen Strukturen. Uns wird dieser Service nicht mehr geboten. Im Gegenteil muss der moderne Mensch sich selbst-standig neu in die Gesellschaft einpassen. Uwe Schimank formuliert das so: „Wenn die Person zum Individuum wird, und das, um ein gesellschaftlicher Ordnungsgarant sein zu kOnnen, auch durchhalten muss, kann sie den Sinn des eigenen Lebens nicht langer so finden wie der mittelalterliche Mensch. Dessen Identitat war eine substantiell-teleologische in dem Sinne, dass ihm Inhalt und Ziel seines Lebens mit der absolut gultigen Weltdeutung der christlichen Religion von auBen vorgegeben war. Die fiinktionale Differenzierung der Gesellschaft bringt nun nicht nur die Individualitat der Person hervor, sondern zerstort damit auch unwiderruflich den Absolutheitscharakter der religiosen Weltdeutung." (Schimank 2003: 9 f.)

Es ist allgemeiner soziologischer Konsens, dass der Individualismus in funktional differenzierten Gesellschaften die Aufgabe quasi-religioser Sinnstiftung tibernommen hat. In der pluralistischen Gesellschaft der westlichen Industrielander muss sich das Individuum als einzigartiges und autonomes Selbst begreifen, sich standig neu erfinden und seine verschiedenen Rollen „authentisch" miteinander in Einklang und zur Selbstdarstellung bringen (vgl. ebd.: 28). Von dieser Analyseebene aus erscheint der Individualismus als Bewaltigungsstrategie gesellschaftlicher Komplexitat. LFberspitzt formuliert machen die Individuen aus der Not eine Tugend. Anstatt unter den Zumutungen der funktional differenzierten Gesellschaft zusammenzubrechen, reden sie sich ein, sie seien Individualisten und wollten ab sofort selbst tiber sich entscheiden. Der romantische Individualismus ist - wenn man so will - eine der elegantesten Strategien, die sich Menschen zur Bewaltigung der gesellschaftlichen Komplexitat ausgedacht haben. Prototyp dieser Lebenseinstellung ist der romantische Kiinstler mitsamt seiner sprichwortlichen Verachtung der btirgerlichen Pflichtergebenheit. Undine Eberlein macht als die neueste und sich am starksten ausbreitende Variante des romantischen Individualismus die Bastelexistenz aus: 300

„Die metaphysische Annahme eines vorgegebenen 'wahren Ich' wird verabschiedet und damit zugleich die veraltet wirkende Terminologie der Selbstfindung: zumindest in den Metropolen ist die Karawane weiter gezogen; nicht Identitatssuche, sondern ironisch-spielerische, manchmal auch zynisch-aggressive Maskerade und Brechung aller Identitatssetzungen ist angesagt." (Eberlein 2000: 298)

Wir konnen uns jetzt jeden Tag neu erfinden, wenn wir es aushalten. Der Ubergang zum Selbstproduktionsmodell hat sich in Deutschland zwischen den siebziger und achtziger Jahren vollzogen, also im Anschluss an den Wertewandel, so Eberlein. Was meinen 'Fall' Susanne betrifft, ist zu vermuten, dass ihre OberschichtEltern nicht nur im Beruf, sondern zunehmend auch in ihrer Freizeit ein Ethos der Selbstverwirklichung entwickelten, welches Susanne nun auch auf ihr Arbeitsleben ubertragt. Ich nehme an, dass in der Sphere der Freizeit sich in weiten Teilen der Mittelschicht bestimmte Personlichkeitseigenschaften herausgebildet haben, die unter gtinstigen Bedingungen auf die Arbeitswelt tibertragbar sind. Weberianisch inspiriert konnte man im romantischen Individualismus eine Struktur suchen, die - ahnlich der Pradestinationslehre - sich auf die Lebensfuhrung auswirkt oder auswirkte. Dann hatte man eine Verbindung zwischen Idee und Lebensfuhrung geschaffen, die bis heute in Bezug auf den neuen Kapitalismus fehlt. Warum arbeiten Susanne und der Projektmensch so gern, obwohl sie offensichtlich kein protestantisches Pflichtgefuhl empfmden? Boltanski und Chiapello vertreten die Ansicht, dass das „eherne Gehause" standig mit Sinn gefullt sein muss, damit die Akteure mitmachen. Harald Wolf fligt hinzu: Das Individuum wird bei steigender sozialer Komplexitat zunehmend selbst mit der eigenen Integration in die Gesellschaft beauftragt. Dazu muss das Individuum zunachst die Fahigkeit erwerben, uber sich nachzudenken; damit es sich selbst managen kann. Steckt nicht hinter den romantischen Idealen der ktinstlerischen Kritik - ebenso wie hinter dem modernen Hedonismus - eine quasireligiose Lehre, namlich der romantische Individualismus? Wer sind die Trager des Selbsterfrndungsmodells oder des modern consumerism (Campbell 1995: 25)? Als Ursprungsmilieu kommen romantische Ktinstler, Schriftsteller und die Konsumenten ihrer Produkte in Frage. Aufgegriffen wurden die romantischen Motive im Wesentlichen von der Mittelklasse (vgl. Campbell 1995: 25) Campbell verlegt den Beginn der Konsumrevolution in deren Gefolge die romantischen Selbstentfaltungsideale Breitenwirkung erreichten im Vergleich zu anderen Autoren um hundert Jahre zurtick. Illouz dagegen verortet die Entstehung der „romantischen Formel der Mittelschicht" in den amerikanischen Met-

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ropolen der 1920er Jahre, wenngleich auch sie deren Ursprunge im neunzehnten Jahrhundert sieht. In dieser Zeit also, in den 1920er Jahren, so Illouz, sei der „Normalverbraucheru entstanden. Damit habe sich die neue Mittelschicht iiber den Lebensstil neu positioniert, vor allem als Abgrenzung gegeniiber der Arbeiterschicht (Illouz 2003). Kennzeichnend ftir eine nochmals verstarkte Hinwendung zur Freizeitsphare in den 1970er Jahren sei, so der amerikanische Sozialforscher Ronald Inglehart, der Postmaterialismus. Ingleharts Konzept des Postmaterialismus unterstellt, dass bei zunehmender Absattigung materieller Bedtirfiiisse nun immaterielle Bediirfiiisse in den Vordergrund drangten. Wegweisend in diesem Trend seien, so vermutet Mike Featherstone, die Berufsgruppe der neuen Kulturvermittler. Als Trendsetter, sowohl in der Produktion als auch im Konsum, verkorperten sie eine neue Klasse von Spezialisten fur symbolische Produktion. Sie fanden sich in den gestalterischen und erzieherischen Berufen wieder, die im Zuge der Postmodernisierung urbanen Lebensstils aufgewertet worden seien (vgl. Featherstone 1990: 220 f.). Eder macht als Trager des Postmaterialismus das neue Kleinbtirgertum aus. Bedingt durch seine Mittellage, sei das Kleinbtirgertum gleichzeitig Vermittler und Austibender der postmodernen Spielarten von Massenkonsum und Lifestyle. In seiner kleinbtirgerlichen Lebenswelt, so Eder, erschaffe sich das Kleinbtirgertum einen neuartigen sozialen Raum, in dem es sein Ethos der Selbstverwirklichung pflege. Als Gegenbewegung zum Materialismus des alten Kleinbtirgertums hatte mit dem Umschwung zum Postmaterialismus eine „Umkehrung der alten kleinbtirgerlichen Askesehaltung, die den Sinn des Lebens in Arbeit gesucht hat" (Eder 1989: 363), stattgefunden. Der Sinn des Lebens sei jetzt nicht in der Arbeit, sondern vielmehr im „Spal3 haben", im Genuss zu finden.6 Der Wandel in der Arbeitswelt hat, so konnte man annehmen, seinen Ursprung in derjenigen Sphare genommen, die sich gerade dadurch definiert, dass sie nicht Arbeit ist: Die Freizeit. Eder untersucht, wie das neue Kleinbtirgertum sich mit seinem Lifestyle von der Arbeiterklasse abgrenzt. Ein verfeinerter Lebensstil der Selbstverwirklichung und der kultivierten Freuden ist eine Form kulturellen Kapitals im Sinne Bourdieus (vgl. Bourdieu 1983: 184 f.). Lebensstil lasst sich nicht direkt in Geld ausdrticken, aber bei manchen Gelegenheiten gewinnbringend einsetzen. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von den „neuen Intellektuellen". Featherstone bescheinigt den neuen Intellektuellen einen Hang zum lebenslangen Lernen und der Suche nach standig neuer Erfahrung. Dies auBere sich auch 6

Ahnliches bescheinigt Schulze dem „Selbstverwirklichungsmilieu" (1995: 312).

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in der Weigerung, klassifiziert zu werden. Reckwitz diagnostiziert eine Verbindung zwischen Konsumstil und Arbeitswelt der neuen Klasse: „Als Tragergruppe dieses neuen Konsumstils kommt die postindustrielle Dienstleistungsklasse in Frage, die selber mit der Produktion symbolischer Guter beschaftigt ist und in der erstmals das ebenfalls aus den asthetischen Gegenbewegungen stammende Modell des Kreativen zum Subjektideal wird - die klassische Angestelltenkultur muss nun in der neuen Distinktion als konformistisch und unauthentisch erscheinen." (Reckwitz 2004a: 7)

Die Begriffe „neues Kleinburgertum" und „die neuen Kulturvermittler" gehen auf Bourdieus beruhmte Studie „Die feinen Unterschiede" aus dem Jahr 1979 zuriick. Bourdieu sah im neuen Kleinburgertum in erster Linie soziale Absteiger, die in kulturnahen Berufen ihr kulturelles Kapital zur Geltung bringen konnten, welches ihnen aus dem Elternhaus mitgegeben worden sei. Die neuen Kleinburger hatten ihr Studium abgebrochen, wie meine Nachbarin, oder ihr Bildungstitel konne angesichts der Bildungsexpansion den Sozialstatus nicht mehr in dem MaBe absichern, wie das noch eine Generation fruher der Fall gewesen ware. Das hohe kulturelle Kapital pradestiniere diese Gruppe ftir die neuen Berufe in der Kulturindustrie, den erzieherisch-pflegerischen Tatigkeiten und der alternativen Okonomie (Bourdieu 1979). Bourdieu hat, worauf auch Behrens verweist (1984 S.119), sehr frtih erkannt, dass der Habitus der Selbstverwirklichung nur den Angehorigen bestimmter Gesellschaftsgruppen zur Verfugung steht. Sein Selbst verwirklichen zu konnen, sei Teil des kulturellen Kapitals, welches die neuen Kleinbiirger in die Mittelschicht transferierten.

5. Erfolg durch Selbstverwirklichung Ich fasse zusammen: Innerhalb der urbanen Mittelschicht der westlichen Industriestaaten etablierte sich spatestens Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ein konsumorientierter Lebensstil. Neben der Berufsarbeit bekommt die Freizeit als Sphare des Massenkonsums eine immer groBere Bedeutung. Nicht nur als Konsumenten, sondern auch bei der Produktion von Konsumgiitern und deren Vermarktung ist diese Mittelschicht federfuhrend. Kennzeichnend fur die Freizeitgestaltung der neuen Mittelschicht ist der kreative Umgang mit Konsumgiitern zum Zweck der Selbstverwirklichung und des individuellen, hedonistischen Genusses. Durch den standigen Bedeutungszuwachs symbolischer Produktion (Kulturindustrie, Werbung, Design, Beratung) auf Kosten der materiellen Produktion, entstehen neue Berufe: Die typischen Berufe der neuen Mittelschicht. Die Praxis des modernen Hedonismus (Campbell) bzw. das kulturelle Kapital der 303

sozialen Absteiger (Bourdieu) verschaffen dem Selbstverwirklichungsmilieu (Schulze) die Personlichkeitsmerkmale, die in den neuen Berufen und tendenziell auf dem gesamten Arbeitsmarkt gefordert und pramiert werden. Der Schwachpunkt dieser Hypothesen ist die Unmoglichkeit der Eingrenzung des Wandels auf eine Tragergruppe, wie das bei Weber moglich war. Weber hatte die Calvinisten. Wir haben als Personengruppe die Mittelschicht, bestenfalls die neue Klasse der Kulturvermittler, die sich aber gerade daruber definieren, dass sie sich jeder Definition entziehen. Wenn wir im Sinne Webers eine Evolution des Arbeitsethos7 unterstellen, an dessen Anfang protestantische Pflicht und an dessen Ende hedonistische Selbstentfaltungswerte stehen, dann ist die Entstehung der neuen Mittelschichten die Variation. Die Mittelschicht, als Tragergruppe der protestantischen Tugenden, variiert ihren Lebensstil in Richtung Selbstentfaltung. Damit sich diese Variation des Habitus in der Berufswelt durchsetzen kann, muss eine entsprechende Selektion folgen. Mit anderen Worten: Wenn sich das Modell der Selbstentfaltung durchsetzen soil, dann muss es in der Arbeitswelt erfolgreicher sein als das pflichtethische Modell der Biirokraten. Das Modell der Selbstentfaltung konnte, obwohl es an die kleinbtirgerliche, private Lebenswelt gebunden ist (Eder), als „inkorporiertes Kapital" (Bourdieu) den beruflichen Erfolg fordern. Behrens bemerkte schon 1984, der Habitus der Selbstverwirklichung avanciere zum neuen Einstellungskriterium. Gerade die Fahigkeit, das eigene Leben als Prozess der Selbstverwirklichung zu begreifen und glaubwiirdig darzustellen, konnte zum wichtigen Qualifikationsmerkmal geworden sein. Flexible, kreative und autonome Menschen sind eben nicht jene pflichtbewussten Biirokraten, die niemand mehr haben will. Pflichtethische Motivation geht in den Umfragen der siebziger Jahre auf breiter Front zuruck. Was aber zunimmt, und davon wissen auch die Unternehmen, sind die Selbstentfaltungswerte. Das Management, durch die strukturellen Entwicklungen zur Suche sowohl nach Arbeitskraften, die mitdenken als auch nach neuen Moglichkeiten der Motivation angehalten, begann ein neues Bild vom 'idealen Mitarbeiter' zu entwickeln. Die Bedtirfhisse nach Loyalitat und Motivation tiberstiegen, so Hohn und Windolf, sogar die nach formaler Qualifikation: „In unserer Studie wurde hingegen deutlich, dass in der betrieblichen Rekrutierungspraxis die Arbeitsorientierungen und die erwartete Loyalitat der Bewerber zur Organisation anhand von

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„Damit jene der Eigenart des Kapitalismus angepasste Art der Lebensfiihrung und Berufsauffassung 'ausgelesen' werden, d.h.: ttber andere den Sieg davontragen konnte, musste sie offenbar zunaxhst entstanden sein, und zwar nicht nur in einzelnen isolierten Individuen, sondern als Anschauungsweise, die von Menschengrw/?/?e« getragen wurde." (Weber 1983: 46)

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Signalen der persGnlichen Lebensfuhrung und des Biografieverlaufs zu 'Qualifikationen' umgedeutet werden." (Hohn/ Windolf 1989: 205)

Durchweg habe man die Arbeitsmotivation als zentrale „Produktivkraft" entdeckt und versuche im Privatleben der potentiellen Angestellten, Signale fur eine geeignete Motivationslage zu finden. Dahinter konnte folgende Logik stehen: Wer im Privaten den Habitus der Selbstverwirklichung pflegt, kann das im Prinzip auch in der Arbeit. Boltanski und Chiapello gehen davon aus, dass die Arbeitgeber den Forderungen der Kunstlerkritik nach „individueller Autonomic und Freiheit (...) Einzigartigkeit und Authentizitat" (Boltanski/ Chiapello 2001: 468) notgedrungen entgegenkommen mussten. Wir sollten die These zumindest (iberprUfen, ob nicht im Gegenteil entsprechende Personlichkeitseigenschaften schon ab 1970 gefordert wurden, bzw. den Tragern dieser Eigenschaften einen Vorteil auf dem Arbeitsmarkt brachten. Die Uberfuhrung des Habitus der Selbstverwirklichung in die Arbeitswelt ist einerseits durch Veranderungen der Arbeitsbedingungen erleichtert worden, unabhangig davon lieferte andererseits die 'neue Mittelschicht' Menschen, die potentiell in der Lage waren, Arbeit als Selbstverwirklichung zu interpretieren. Selbstverwirklichung im Beruf ist die schonste intrinsische Motivation, die sich ein Personalchef nur wiinschen kann. Der Habitus der Selbstverwirklichung ist nicht nur ein Garant fur Motivation, sondern auch dazu geeignet, jede biografische Mischung von Tatigkeiten und Vorlieben unter einen Hut zu bringen, bzw. das was ist, als Selbstverwirklichung zu aktualisieren. Zum gelebten Leben wird womoglich das passende Selbst erfunden. Sowohl im Selbstverstandnis als auch in der Selbstdarstellung nach auBen ist es angesichts der Flexibilitatserwartungen der Arbeitswelt nicht ratsam, ein unveranderliches wahres Selbst zu 'haben'. Dennoch ist eine authentische Selbstdarstellung verpflichtend. So etwas konnen nur Selbsterfinder leisten, die ihre Arbeit als willkommene Erweiterung der eigenen Moglichkeiten zur Selbstproduktion verstehen. Beim Bewerbungsgesprach kommt es nicht nur auf formale Qualifikationen und eine kreative Personlichkeit an. Der erfolgreiche Bewerber muss auch eine konsistente Selbstdarstellung abliefern. Scheinbar zufallig konnte sich im Gesprach herausstellen, dass gerade dieser Job, dieses Projekt genau das ist, worauf die eigene Biografie in diesem Moment hinauslauft. Luhmann betont die Bedeutung solcher Selbstdarstellungen: „Es [das Individuum C. S.] braucht dann eine notfalls fingierte, oder doch erganzte Biografie, um in der Gesellschaft leben zu konnen. Es muss eine eingeiibte Selbstbeschreibung mit sich herumtragen, um bei Bedarf iiber sich Auskunft geben zu konnen." (Luhmann 1993: 251)

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„Sei authentisch!", flustert augenzwinkernd jeder Bewerbungsratgeber. Authentisch, ja nicht aufgesetzt wirken, das sei der Schlussel zum Erfolg. Authentizitat und Flexibility werden zwar allseits gefordert, widersprechen sich aber anscheinend. Wie soil jemand, der sich standig anpasst authentisch bleiben? Sennett: „Die Verwirklichung der Flexibilitat konzentriert sich jedoch vor allem auf die Krafte, die die Menschen verbiegen." (Sennett 2000: 57) Der „flexible" Mensch hat es in seiner Not zuwege gebracht, so konnte man Richard Sennetts bedrtickende Botschaft auf die Spitze treiben, den Prozess des Verbogen-Werdens auch noch als Selbstverwirklichung zu interpretieren. Eine nicht minder dtistere Interpretation der flexiblen Arbeitswelt liefern Boltanski und Chiapello: „Der ungebundene Mensch opfert einen gewissen Aspekt seines Seelenlebens, seiner Bestandigkeit sich selbst gegenuber (...) In Anbetracht dessen kann der ungebundene Mensch nur noch in sich selbst ('Selbst GmbH') - der einzigen Instanz, die in einer komplexen, unsicheren, veranderbaren Welt iiber eine gewisse Dauerhaftigkeit verfiigt - Wurzeln schlagen." (Boltanski/ Chiapello 2003: 171 f.)

Vielleicht haben Boltanski und Chiapello ein Stuck weit recht mit ihrer Vermutung, dass die neuen Arbeitsformen zunachst wirklich mehr SpaB und Freiheiten moglich gemacht haben, mit der Zeit aber vom Kapitalismus vereinnahmt und zu einer neuen Form der Ausbeutung mutiert seien (Boltanski Chiapello 2001: 168 f.). Das ware auch im Sinne Webers, derm nach der kulturellen Variation durch die neuen Individualisten und Selbsterfmder kommen - pessimistisch gedeutet wieder die eisigen Skeletthande des Kapitalismus zum Zuge. Das „eherne Gehause" ist nur ein wenig flexibler geworden. Der Charakter ist endgiiltig erodiert (Sennett), der Geist entwichen, standiger Wechsel produziert am Ende Selbstverwirklicher ohne Selbst und zwar in der Arbeit genauso wie im Privatleben, derm der Unterschied zwischen beidem verschwindet immer mehr. Die spatkapitalistische Arbeits- und Konsumgesellschaft - eine gigantische Gummizelle fur Selbstbesessene? Die neue Mittelschicht der Kulturvermittler hat entscheidenden Anteil an der Durchsetzung der Konsumgesellschaft und ihrer Erhaltung. Heere von Designern, Werbefachleuten und anderen Kreativen sind damit beschaftigt, die Produkte ihrer Auftraggeber mit symbolischen Inhalten aufzuladen. Selbstverwirklichung und Konsum sind eng miteinander verknupft. Campbell hat gezeigt, dass moderner Konsum gerade keine passive Befriedigung ist, sondern als Akt der symbolischen Aneignung verstanden werden muss. Die alte Vorstellung vom Konsum bezieht sich auf die Aspekte der Sattigung, Passivitat, ja Lahmung jeglicher Aktivitat. Campbells moderner Hedonist hingegen ist in seiner Fantasie

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schon der kreative Designer. Die aktive Seite des Konsums bewirkt im Lebensstil eine starke Annaherung an die Sphare der (kreativen) Arbeit. Historisch erstmalig trat die auf das authentische Erleben (und spater Erschaffen) des eigenen Selbst basierende Arbeitshaltung beim romantischen Kunstler auf. Der Aufstieg der „Kreativen und Flexiblen" zu den neuen Helden der Arbeitswelt der 1990er Jahre ist, auch wenn sie noch so schwer zu klassifizieren sind, gut als Evolution zu begreifen: Konsumkultur schafft kreative Selbsterfinder, Arbeitsmarkt selektiert. Meine Nachbarin Susanne arbeitet gern, mit Leib und Seele. Sie ist das, was sie tut. Ihre Eltern verstanden ihre Arbeit als Pflichterfullung, die zwar die eigene Personlichkeit formte, aber damit nicht identisch war. Neben der Arbeit gab es noch Familie und Freizeit. Susanne trennt das nicht. Ihr Arbeitsethos kann auch als Totalisierung der protestantischen Tugenden ihrer Eltern, die immerhin ein von der Arbeit getrenntes Privatleben vorzuweisen hatten, gelesen werden. Insofern hat sich die puritanische Ethik nun erst in alien Lebensbereichen durchgesetzt. Wir arbeiten nun nicht mehr nur im Beruf, sondern auch an uns selbst. Die Arbeitssoziologen VoB und Pongratz sorgten 1998 mit ihrem Aufsatz „Der Arbeitskraftunternehmer" far einiges Aufsehen innerhalb der Soziologie. Die Schlusselqualifikationen des Arbeitskraftunternehmers seien unter anderem „flexibles Identitatsmanagement, Ich-stabilisierung und Autonomisierung" und alle Formen des Selbstmanagements. Das alles sei ein „(...) genuin bilrgerliches Modell von Person und Arbeitskraft. Ein Modell, das perfekt zu einer entwickelten MarktOkonomie passt (wie sie sich jetzt erst voll durchzusetzen scheint), ja, das eine der entscheidenden Bedingungen fur deren Entfaltung ist." (VoB/ Pongratz 1998: 155)

Die von Bourdieu inspirierte Aktualisierung eines beriihrnten Satzes von Max Weber konnte demnach lauten: „Der neue Kleinbtirger wollte Arbeitskraftunternehmer sein, wir mtissen es." Nach wie vor steht aber die Arbeitsmotivation hoch im Kurs. Zwang allein reicht nicht aus, um aus den Arbeitskraften das Beste herauszuholen. Der hollandische Unternehmensberater Salem Samhoud im Hamburger Abendblatt vom 6.8.05: „Nur Unternehmen, in denen es SpaB macht zu arbeiten, werden in Zukunft Erfolg haben." Noch immer konkurrieren Unternehmen um die besten Mitarbeiter. Die bekommen sie nur, wenn sie attraktive Arbeitsbedingungen schaffen. Das macht sich nicht ausschlieBlich an Geld und Prestige fest, sondern auch daran, ob es SpaB macht, dort zu arbeiten. Dass sich viele Menschen vorstellen konnen, Arbeit konne SpaB machen, ist eine kulturelle Innovation, an deren Breitenwirkung die Akteure der 68er Bewegung maBgeblich beteiligt waren. „To have fan" ist eine Qualitat, die zunachst in der Freizeit und speziell im Konsum kultiviert 307

wurde. Jetzt findet sie sich auch in der Arbeit wieder. Die Arbeitsmarktstrukturen mogen noch so viel Zwang ausiiben, kulturelle Innovationen konnen sie nicht hervorzaubern. Aber sie konnen, das was da ist, selektieren.

6. Schluss Die Trager der 68er Bewegung verfolgten oppositionelle, romantische Ideale. Feindbild dieser Bewegung war die materialistische und disziplinierte Burgerlichkeit. Die Verinnerlichung und Praktizierung dieser Ideale im Alltag, bzw. in der Freizeit fuhrte zu bestimmten Verhaltensmustern. Die Folge war, genau wie bei Weber, unintendiert. Die 'befreiten' 68er erwiesen sich als virtuose Konsumenten und als die idealen neuen Kulturvermittler in einem beschleunigten Konsumkapitalismus. Die Folge war eine neue Bliitezeit des Kapitalismus und die nie da gewesene Innigkeit der Verbindung zwischen Kultur und Okonomie. Das vorlaufige Endprodukt des restaurierten „ehernen Gehauses" ist der Arbeitskraftunternehmer. Als vollendete Verschmelzung von Person und Unternehmen tiberstrahlt er alle bisherigen Visionen verinnerlichten Erwerbsstrebens. Die romantischen Ideale sind abgestreift. Was bleibt ist der innere Zwang zur Selbstoptimierung. Der Wirtschaftsbtirger des 21. Jahrhunderts muss sich bis auf weiteres in seinem neuen Kafig namens Selbst-GmbH einrichten. Das ist der „Neue Geist des Kapitalismus". Wir haben gesehen, dass die Veranderungen in der Arbeitswelt sowohl strukturell als auch kulturell motiviert sind. Neue Marktbedingungen und die allgemeinen Komplexitatssteigerungen zwangen die Unternehmen zu neuen Formen des Managements und der Ressourcenmobilisierung. Es ist im Verlauf dieses Aufsatzes auch klar geworden, dass die Unternehmen auf Grund von verhaltenspsychologischen Erkenntnissen schon in den sechziger Jahren begannen, nach neuen Ftihrungstechniken zu suchen. Veranderte okonomische Strukturen und Wissen haben den kulturellen Neuerungen, die im Kielwasser der 68erBewegung tiber uns hereingebrochen sind, die Tore geoffhet. Was aus heutiger Sicht immer noch schleierhaft bleibt, ist, wie es dem Kapitalismus unbemerkt gelang, die Protagonisten der kulturellen Revolution und ihre Ideale nicht nur zu integrieren, sondern auch noch erfolgreich vor den eigenen Karren zu spannen.

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Gilnter Burkart, Melanie Frohlich, Marlene Heidel, Vanessa Watkins Gibt es Virtuosen der Selbstthematisierung?

1. Einleitung Max Weber sprach in seiner Religionssoziologie von religiosen „ Virtuosen" - er meinte damit religios besonders „qualifizierte" und sozial hervorgehobene, „ihre Erlosung methodisch erarbeitende" Individuen, denen oft besondere soziale Ehre zukam.1 In Anlehnung an Weber verstehen wir unter Virtuosen der Selbstthematisierung eine Personengruppe, zu deren Starken die Selbstreflexion gehort. An die Stelle von „Erlosung" tritt 'Selbstfindung' oder 'Selbstverwirklichung'. Virtuosen der Selbstthematisierung sind in besonderer Weise geschult, uber sich selbst nachzudenken, sich zu beobachten und auf das eigene Selbst zu achten, das eigene Leben kontinuierlich zu thematisieren; Personen also, die in der Lage sein sollten, auch im sozialwissenschaftlichen Interview eine komplexe Selbstprasentation bzw. -darstellung zu liefern. Die Hintergrundthese der folgenden Ausfuhrungen ist, dass die Intensivierung einer Kultur der Selbstthematisierung ein solches Virtuosentum gefordert hat. In diesem Beitrag geht es darum, einige Aspekte dieses Virtuosentums mittels biografischer Interviews herauszufmden. Selbstthematisierung soil hier heiBen: sich selbst (als individuelle Person) zum Thema zu machen, uber sich sprechen, angefangen von einfachen Kommentierungen eigener Handlungen („Das war nicht beabsichtigt") bis zur erzahlten Konstruktion der eigenen Identitat („Ich verstehe mich ja primar als philosophisch informierter Zeitgenosse."). Selbstthematisierung heiBt im ersten Schritt, sich selbst zum Objekt der Erkenntnis zu machen (Selbstanalyse); sich zu fragen, wer man ist (Identitat). Im zweiten Schritt geht es um die Frage der Mitteilung solcher Erkenntnisse gegentiber anderen, um Selbstdarstellung in einer Geschichte/Erzahlung tiber sich selbst. Selbstthematisierung bezieht sich

1

Weber 1972: 327 (dort auch Beispiele aus verschiedenen Religionen) - Zum religiosen Virtuosentum gehort auch ein gewisses Bewusstsein von Auserwahltheit. Selbstthematisierung kann auch heiBen: Versuch der Selbstvervollkommnung; Verbesserung der Techniken der Lebensfiihrung im Sinne von Selbstverwirklichung.

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auf die eigene Individuality. Von daher stellen sich Fragen dieser Art: Wie konstruieren Individuen ihre Einzigartigkeit, wie sehen sie ihre Autonomie? Welche Vorstellungen und Bilder entwickeln sie von sich, wie beschreiben sie ihre Identitat? 1st die personliche Identitat schon angelegt und muss nur gesehen und gefunden werden, oder kann man sich selbst erschaffen? Wie kann man Antworten auf diese Fragen linden? Geht das allein ('selbst'), durch Selbstreflexion) oder braucht man Anleitung und Hilfe - durch 'Beichtvater', Therapeuten oder Berater? Fragen dieser Art richteten wir an Einzelpersonen in Interviews - und insofern beschaftigen wir uns (implizit) mit einer neuen Form der Selbstthematisierung: dem sozialwissenschaftlichen (biografischen oder narrativen) Interview, in dem Personen aufgefordert werden, iiber sich nachzudenken und zu erzahlen. Es geht also um Techniken der Selbsterkenntnis und Selbstdarstellung, soweit sie im Interview zum Ausdruck kommen. Die Ausweitung einer sakularen Bekenntniskultur hatte ja auch zur Folge, dass es fur die Sozialforschung (einschlieBlich Intimforschung) weniger Miihe bereitet, dieses Phanomen zu untersuchen. Es ist kein Zufall, dass die qualitative Sozialforschung mit ihren biografischen Intensivbefragungen einen groflen Aufschwung erlebt hat. Es gelingt heute leichter, von bestimmten Gruppen Bekenntnisse iiber ihr Privatleben, ihre Sehnstichte und Probleme, zu erhalten (vgl. Kaufmann 1999). Das Interview ist aus dieser Perspektive nicht in erster Linie eine Methode, mit deren Hilfe die Selbstthematisierung im Alltag erforscht werden soil. Vielmehr ist das Interview selbst ein Generator der Selbstthematisierung, Das sozialwissenschaftliche Interview stellt, wie andere Formen der Selbstthematisierung, eine „Methode der geregelten Konfrontation des Ich mit sich selbst" zur Verfugung (Hahn/ Kapp 1987: 7). Das Ich wird aufgefordert, eine Geschichte iiber sich selbst zu erzahlen oder zu sagen, was es unter seinem 'Selbst' versteht oder ob es auf der Suche danach ist.2 Beim narrativen Interview kann es um die ganze Lebensgeschichte gehen und die Nahe zur Autobiografie ist offenkundig. Ahnliche Formen gibt es auch in den medialen Interviews. In diesem Sinn haben wir in einer explorativen Studie einige narrative Interviews durchgefuhrt. Die Studie umfasste zwei Phasen: ein Erstinterview und ein Zweitinterview. Die Fragen des Erstinterviews konzentrierten sich auf Techniken der Selbstthematisierung der Interviewpartner sowie Metaphern, mit denen sie ihr 'Selbst' (oder ihr 'Ich-Sein') beschreiben. Als Einstieg in die meist in 2

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Wenn das Ich iiber sich selbst nachdenkt („explizites Selbst", Hahn), tut es das nicht einfach „aus sich selbst heraus"; es stehen ihm Mittel und Techniken zur Verfugung, dies zu tun. „Menschen neigen nicht von Natur aus dazu, sich iiber ihr Leben Rechenschaft abzulegen". (Hahn 1987: 18)

privater Atmosphare gefiihrten Interviews (z.B. beim Wein im Garten) dienten Zitate, die die Selbsthematisierung sozusagen mittels eines indirekten Angebotes von Metaphern des Selbst und ohne ein direktes Fragen 'anregen' sollten. Hier drei Beispiele solcher Zitate: „Michelangelo wurde einmal gefragt, wie es kame, dass er so wunderbare Werke schaffen k(3nne (...) Der Meister sagt: 'In jedem von uns steckt ein Werk, das darauf wartet, geschaffen zu werden. Es ist der Mittelpunkt unseres Lebens, und wenn wir uns auch noch so sehr betriigen, so wissen wir doch, wie wichtig es fur unser Glucklichsein ist." (Coehlo 1998, 97-98) „Ich halte es nicht fiir erforderlich, genau zu wissen, was ich bin. Das Wichtigste im Leben und in der Arbeit ist, etwas zu werden, das man am Anfang nicht war." (Foucault 2005: 960) „Jeder sucht sein Ich, seine Identitat und sein Gltick (und muss es alleine finden) (...) Es ist als hatte jeder von uns ein schftnes, groBes Haus mit weitlaufigem Garten geschenkt bekommen. Einzige Bedingung: Es ist zu warten und zu pflegen, dass es seinen Wert behalt." (Ernst 1996: 28)

In der ersten Interviewphase ging es darum, eine Typisierung im Hinblick auf die verschiedenen Formen des Selbst auf der Grundlage des Interviewmaterials zu erstellen. Die auf dieser Basis angefertigten Typenportraits (2) waren Ausgangspunkt fur ein zweites Interview mit unseren Interviewpartnern, in dem sich die Fragen dann speziell auf Spannungsverhaltnisse der einzelnen Typen, die sich nach der ersten Analyse abzeichneten, konzentrierten. Die Fragen der zweiten Phase bezogen sich demzufolge auf Spannungsverhaltnisse zwischen Selbst und Gesellschaft, Selbst- und Fremdbestimmung, personliche Identitat und Berufsrolle sowie Selbst und Korper (3). Dabei konnte im Hinblick auf die Typisierung des Selbst und die in den ersten Interviews vermuteten Spannungsverhaltnisse kein bedeutender Unterschied zwischen dem Erst- und Zweitinterviewmaterial, die eine Zeitspanne von einem Jahr trennte, ausgemacht werden. Vielmehr bestatigte das Material der zweiten Phase die Ergebnisse und Vermutungen der ersten Phase. Mit anderen Worten: das aus dem Interviewmaterial gedeutete Selbst (auch wenn es ein kreatives-flexibles ist) blieb als solches bei den Interviewees relativ konstant. Bis zu diesem Schritt analysierten wir sozusagen die Tiefenstruktur hinter der Sprache des Interviewpartners, erst in einem nachsten Schritt ging es um das, was wir hier als Selbstthematisierung verstehen, namlich die Analyse der im Interview sichtbar werdenden Techniken der Selbstthematisierung - verstanden als Techniken der Selbsterkenntnis und der Selbstdarstellung (4). Dazu befragten wir das Interviewmaterial zu Metaphoriken des Selbst, Techniken der Selbsterkenntnis und Selbstoffenbarung und fokussierten das Interview als Forum der Selbstthematisierung.

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Das narrative Interview ist also selbst als ein wichtiges Instrument oder eine wichtige Form der Selbstthematisierung zu verstehen, die an Formen aus der kulturellen Tradition ankniipft. Wer es gelernt hat, iiber sich nachzudenken, weil sie oder er Romane oder therapeutische Literatur gelesen hat, in einer Therapie oder einer anderen Selbstreflexionsschulung war, der hat auch eher als andere eine Sprache gefunden, mit der er oder sie im Interview den Eindruck von reflexiver Virtuositat erzeugen kann. Andere in unserer kleinen Stichprobe, ohne entsprechendes kulturelles Kapital, hatten demgegentiber groBere Schwierigkeiten, auf Fragen nach ihrer Identitat zu antworten. Wie wir noch zeigen werden, hat zum Beispiel eine junge Arzthelferin im Interview Schwierigkeiten, auf unsere Frage direkt einzugehen. Allerdings zeigte sich auch, dass diejenigen, die auf den ersten Blick virtuos iiber sich selbst reden konnen, dazu neigen, eine individualistische Ideologic zu vertreten, etwa im Sinne des Genie-Kultes. Oder sie verfallen in einen PsychoJargon, sprechen nicht 'authentisch' iiber sich selbst, sondern aus einer distanzierten, theorielastigen Perspektive iiber ihr 'Selbst'. Auch wenn diese beiden Beispiele andeuten, dass sich das Interview fur bestimmte praktische Formen der Selbstthematisierung nur bedingt eignet, fand - wenn auch auf verschiedene Weise - in jedem Interview eine Selbstthematisierung statt. Noch ein Wort zur Terminologie. Der Sprachgebrauch in diesem Begriffsfeld ist auBerst verwirrend: Individuum, Person, Personlichkeit, Subjekt; Individuality, Subjektivitat, autonomes Subjekt; Selbst, Identitat - um nur die gebrauchlichsten Termini zu nennen, die haufig nicht klar unterschieden werden. Selbst und Identitat werden oft als Equivalent behandelt, auch Subjektivitat und Individualist scheinen manchmal austauschbare Begriffe zu sein, ebenso Subjekt und autonomes Individuum. Wenn von Selbstverwirklichung oder Selbstfindung die Rede ist, ist haufig eine biografische Dimension gemeint, also das, was sonst Identitat oder Biografie heiBt. Wir wollen an dieser Stelle gar nicht erst versuchen, die hinter dieser Verwirrung steckenden begrifflichen Probleme zu klaren. Aber es soil wenigstens eine pragmatische Definition der wichtigsten Begriffe vorgenommen werden. Das Individuum oder auch die individuelle Person mit ihrer Individualitat bezeichnet als struktureller Begriff die AuBenperspektive. Auch wenn man natiirlich sagen kann: „Ich bin ein Individuum", ist doch die Fremdzuschreibung gemeint, die aber nicht auf die Bewusstseinsebene der Person abzielt, sondern nur auf ihre Individualitat als adressierbare Person. Individualitat in diesem Sinn bezieht sich auf die Unverwechselbarkeit der Person, auf ihre Einzigartigkeit, aber auch auf ihre Autonomic Vom Subjekt und von Subjektivitat soil hier nur dann die Rede sein, wenn die Eigenperspektive der Person im Sinne eines Ich-Bewusst-

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seins gemeint ist. Das Individuum erfahrt sich als Subjekt. Mit dem Selbst soil die reflexive Seite des Ich der Person bezeichnet sein, das Selbst-Bewusstsein, die Reflexion der Subjektivitat oder des Ich-Seins. Hier ist also an eine Trennung in zwei Instanzen gedacht, das Ich und sein Selbst.3 Die substantialistische Rede von dem Selbst der Person ist nicht unproblematisch.4 Gemeint ist aber immer, dass die Person sich selbst zum Thema macht. 'Das Ich und sein Selbst' ist also nur eine metaphorische Redeweise, 'das Selbst' ist nattirlich nicht ein Ding, welches das Ich besitzt oder hat. Schwierig ist auch die Abgrenzung zum Begriff der Identitdt. Zwischen 'Selbst' und 'Identitat' gibt es haufig Gleichsetzungen, man denke nur an die deutsche Ubersetzung des Buchtitels von G.H. Meads bekanntestem Werk.5 Ob von Identitat oder Selbst die Rede ist, hangt vor allem vom Diskurs-Kontext ab (je nach Richtung in Philosophic, Psychologie oder Sozialpsychologie). Wir wollen hier Selbst und Identitat vor allem durch die Zeitperspektive unterscheiden. Identitdt soil sich auf die Lebenszeit beziehen (etwa in dem Sinn der Frage: Bin ich heute noch derselbe wie vor zehn Jahren?), wahrend das Selbst zwar auch eine Art Identifizierung des eigenen Selbstverstandnisses ist, aber eher zeitlos oder gegenwartsbezogen gemeint ist: Wer bin ich eigentlich? Wie schon erwahnt erfolgen Selbstthematisierungen auf zwei Ebenen: zunachst die Analyse (Selbstreflexion bzw. Selbsterkenntnis), dann die Offenbarung oder Mitteilung solcher Erkenntnisse, die manchmal Selbstprasentation genannt wird, manchmal auch Selbstdarstellung. Wir reservieren hier den zweiten Begriff fur die Selbstdarstellung im Interview, in einer Erzdhlung oder all-

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Uber sich selbst nachdenken zu konnen, setzt eine Zweiteilung der Personlichkeit voraus (etwa wie I/Me bei G.H. Mead), eine reflexive Distanzierung ('Spiegel-Selbst', role-taking, aus sich selbst heraustreten konnen - wie das Gewissen in der alten Lenor-Werbung). Indem hier unter dem Selbst die reflexive Seite des Ich-Seins verstanden wird, wiirde Selbstthematisierung genau genommen eine Thematisierung des Selbst bedeuten, fur die eine Art Beobachtung des reflexiven Selbst durch eine Art zweites reflexives Selbst nOtig ware. Selbstthematisierung bezieht sich dann vor allem auf die Uberkontrolle und Uberreflexivitat, bzw. auf die Theoretisierung der Selbstreflexion und -analyse. Auch wenn beim theoretisch und therapeutisch geschulten Selbst von Selbstthematisierung im wortwortlichen Sinne gesprochen werden kann, befinden wir uns in unseren Interviews meist auf der Ebene der 'Ich'-Thematisierung, in der eigentlich uber das 'Ich' und nicht das 'Selbst' gesprochen wird. Zur Vermeidung von Neologismen verbleiben wir jedoch dabei, auch fur die 'Ich'-Thematisierung den Terminus Selbstthematisierung zu verwenden. Um diesen gewissen Unterschied zwischen Selbst- und Ich-Thematisierung zu vernachlassigen, konnte man auch argumentieren, dass unser Verstandnis von Selbstthematisierung sich nicht von der Substantivierung 'Thematisierung des Selbst', sondern vom reflexiven Verb 'sich selbst thematisieren' ableitet. Letzter Ausdruck kann sich im Gegensatz zur Substantivierung sowohl auf die Thematisierung des 'Ich' als auch des 'Selbst' beziehen und umfasst somit beide Varianten der Thematisierung. Mind, Self and Society wurde mit Geist, Identitdt und Gesellschaft tibersetzt (Mead 1968).

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gemein im Diskurs. Wenn dagegen von Selbstprasentation die Rede ist, geht es um die Lebenspraxis, um offentlich sichtbare Selbstprasentation, dramaturgisches Handeln (Habermas 1981 im Anschluss an Goffman), theatralische Praxis, bis hin zur Inszenierung (Goffman 1959; Reckwitz 2000). Es folgen drei kurze Portraits von Personen, mit denen Interviews gefuhrt wurden. Diese Portraits sind keine psychologischen Personlichkeitsstudien, sondern sie reprasentieren verschiedene Typen von Selbstthematisierung (2.). Aus bestimmten Problemen, die in den biografischen Erzahlungen zum Ausdruck kommen, lassen sich Spannungsverhaltnisse ableiten (3). Daran anschlieBend geht es dann spezifisch um die Techniken der Selbstthematisierung (4).

2. Typenportraits. Pragmatiker und Virtuosen der Selbstthematisierung 2.1 Das sozial eingebundene Selbst Beate ist 24 Jahre alt und arbeitet als Arzthelferin in einer niedersachsischen Kleinstadt. Sie stammt aus einfachen Verhaltnissen, wuchs in einem brandenburgischen Dorf auf, in einer christlichen Arbeiterfamilie mit festen Familienstrukturen, die durch Eltern, Bruder und die mit im Haus lebende GroBmutter gepragt waren. Sie lebt seit vier Jahren mit ihrem Freund zusammen, den sie auch heiraten mochte. Der Freund arbeitet als Zimmermann und kommt aus einer Kleinstadt unweit von Beates Heimatdorf. Neben der stabilen Einbindung in die Partnerschaft, in der es weniger um die Ausgestaltung der individuellen Interessen eines jeden Partners geht, sondern eher um die Ausformung einer paarkonzentrierten Beziehung, steht Beate im engen Kontakt zu ihrer Familie, der durch fast tagliche Telefonate und regelmaBigen Besuch des Elternhauses aufrechterhalten wird. Wenn sie im Interview von sich selbst spricht, setzt sie sich fast durchweg mit den Personen ihrer sozialen Realitat in Verbindung. Es gilt nicht das Muster: Situationen, Ereignisse und ich selbst, sondern: Situationen, Ereignisse und wir (bzw. die anderen und ich). Wahrend im ersten Muster Ereignisse primar zur Selbstverwirklichung dienen konnen, funktionieren sie im zweiten Muster als integrative Verbindung des Ich mit den anderen. Mit anderen Worten: Bei Beate ist nicht eine mittels Reflexion erreichte Integration verschiedener Identitaten des Selbst zu vermuten, sondern eine durch Ereignisinterpretation erreichte Integration ihrer Person in ihre entsprechende Lebenswelt, die durch die einzelnen Familienmitglieder gepragt ist.

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Interessant ist in diesem Zusammenhang ihre Antwort auf die von uns gestellte Identifizierungsfrage.6 Beate spricht hier von einem Platz in einem „Orchester", und dass dabei flir sie vielleicht das Akkordeon das richtige Instrument ware. Dabei geht es auch um die Verortung in einer Hierarchie und die Moglichkeit, sich einen Platz zu erarbeiten, sich vielleicht hochzuarbeiten. Es geht aber nicht um Selbstverwirklichung. Die Verortungsfrage verweist auf sozialen Status. Das 'Selbst' ist sozial bestimmt, eingebunden in eine Statusstruktur und in soziale Beziehungen. Im Unterschied zu Studierenden mit Therapieerfahrung klingen flir Beate Formeln wie „auf der Suche nach sich selbst" eher seltsam. „Es war schon komisch", wenn jemand sie fragen wlirde, ob sie auf der Suche nach sich selbst sei. Das ist etwas fur den Elfenbeinturm, aber nicht furs normale Leben. „Tiefgrtindig" tiber alles nachzudenken, wie sie mit ironischem Unterton sagt, hat flir sie etwas Pathologisches. Das ist allenfalls etwas fur Krisenzeiten - auBerhalb des normalen, geregelten Lebens, das durch Beziehungen zu anderen, nicht zu sich selbst, gekennzeichnet ist. Und die Formel „Zeit fur mich selbst" assoziiert sie mit „nutzlos rumsitzen, nur dosen, vor sich hinstarren". Das widerspricht den sozialen Pflichten. Auch im Berufsleben gibt es wenig Gelegenheit zur Selbstthematisierung. Berufs- und Privatleben sind durch die verschiedenen Orte (Arztpraxis, Wohnung) und die unterschiedlichen Strukturen getrennt. In der Arztpraxis existieren eindeutige Hierarchien, feste Aufgabenverteilungen und Ablaufe der Arbeit sowie eine relative Verantwortlichkeit gegentiber dem eigenen Arbeitsgebiet. Da es auf die Integration des eigenen berufsbestimmten Handelns in den Praxisablauf und die Praxishierarchie ankommt, wird somit eher ein berufliches Individuum, das stark in die hierarchischen Strukturen und Praxisfunktionen eingebunden ist, als ein reflexives Selbst thematisiert. Ebenso wie im Beruf bestehen auch im Privatleben klare Strukturen, die sich aus der Konzentration auf die Paarbeziehung und die Einbindung in einen weiteren festen Familienkontext ergeben. Diese relativ klaren Strukturen werden auch durch die geschlechtsspezifischen Berufe (er Zimmermann, sie Arzthelferin) produziert und reproduziert. Beate gehort offenbar nicht zu der von uns gesuchten Gruppe von Virtuosen der Selbstthematisierung. In ihrer privaten und beruflichen Lebenswelt existieren keine Praktiken und Strukturen, die ein ausgepragtes Verhaltnis zu einem 'Selbst' und somit die Konstruktion eines bestimmten reflexiven Selbst auf besondere Weise herausbilden und schulen. Die Beschaftigung mit 'dem Selbst' gilt flir Beate als Abweichung von der alltaglichen Lebenswelt, wird mit kleine-

6

Womit identifizierst du sich, was gehOrt zu dir?

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ren Lebenskrisen in Zusammenhang gebracht, in denen bestimmte soziale Einbindungen bruchig werden. Diese Phasen des Uber-Sich-Nachdenkens gilt es, so schnell wie moglich zu uberwinden, was durch die Ruckkopplung des Ich an die sozialen Bindungen vollzogen wird. Die Verortung in feste soziale Strukturen und der gesamte Verlauf der beiden Interviews erlauben uns, Beate als ein sozial eingebundenes Selbst zu typisieren, das weitgehend ohne explizite bzw. nur in Krisensituationen stattfindende Selbstreflexion auskommt.

2.1 Das korperlich fundierte Selbst Die Studentin Sara, 25, arbeitet ftir das Hochschulsportburo ihrer Universitat im Bereich Offentlichkeitsarbeit. Sie wollte zunachst Sport studieren (auf Grund einer Verletzung scheiterten diese Plane), nun steht sie kurz vor dem Abschluss eines Studiums der Kulturwissenschaften. Sie befindet sich zwischen Studium und Beruf. Sie lebt allein, ist Single. Sara ist ein sportlicher Typ, liebt es locker und lustig, schatzt Offenheit, Direktheit und Natiirlichkeit. . Sport - und iiber den Sport der Korper - nehmen im Leben Saras eine herausragende Rolle ein. Sport ist nicht nur eine Konstante im Leben (seit fruhester Kindheit hat Sara viel Zeit mit Sport verbracht), sondern strukturiert auch ihr gegenwartiges Leben auf verschiedensten Ebenen (Arbeit, Freizeit, Freundeskreis). Sport erfullt fur sie vielfaltige Funktionen, insbesondere findet Sara Gleichgewicht und Entspannung durch sportliche Aktivitaten. Die grundsatzliche Stabilitat der Personlichkeit Saras fuBt in der sportlichen Praxis, ihr Selbst so die These - ist ein korperlich fundiertes Selbst. Die Korpererfahrung wahrend der sportlichen Praxis bildet die Basis fur die Welt- und Selbsterfahrung Saras. Das Selbst wird also nicht so sehr uber Reflexion erfahren bzw. erschlossen, als vielmehr uber die unmittelbare Korpererfahrung, insbesondere beim Sport. Am intensivsten erweist sich die Selbsterfahrung als Korpererfahrung beim Schwimmen. Auch Sara - ahnlich wie Beate - distanziert sich von als „problematisch" empfundenen Versuchen der Selbstsuche. Sara lehnt den „groBen" SelbstEntwurf, die „gewichtigen" Diskurse der Selbstfindung als „esoterisch" ab. Der Versuch, immer „tiefer zu schurfen", wird eher negativ bewertet, u.a. weil damit die Gefahr verbunden ist, die Spontaneitat zu verlieren. Der unmittelbare Moment und das Erleben sind ftir Saras Selbst-Entdeckung bzw. -Erfahrung zentral. Eine dem Handeln vor- oder nachgelagerte Selbstanalyse wird nicht praktiziert, sie wird sogar mit der Gefahr gleichgesetzt, zu Verfestigung oder Fixierung beizutragen und dadurch die Handlungsfahigkeit einzuschranken. Wichtiger 320

erscheint, das Leben unverstellt annehmen zu konnen und spontan und offen zu reagieren. Sara ist eingebunden in eine Art Sportfamilie, die Stabilitat und Orientierung garantiert und mit einem Gefuhl der Zugehorigkeit verbunden ist. So verortet sich Sara, ohne groft uberlegen zu miissen, im Sport. Der Sport ist wie ein Dach, unter dem sie Unterschlupf findet, gewissermaBen allumfassend, denn sie arbeitet im Sportbereich, verbringt ihre Freizeit mit Sport, und auch viele ihrer Freundschaften hangen mit der Sportwelt zusammen. Einerseits ist Sport Konstante im Leben, andererseits stehen die Werte der Sportwelt, die Sara teilt, wie Lockerheit, spielerisch leichter Umgang mit dem Leben, Offenheit, Spontaneitat aber fur eine prinzipielle Dynamik oder Beweglichkeit. Sport kann daher eine Art Doppelfunktion erfullen, indem er Halt gibt und zugleich Beweglichkeit ermoglicht. Alles Problematische ist ihr eher fremd. Einer Selbstsuche und einem Leben nach festem Ziel zieht sie das Erleben und Agieren im Moment vor. Dem unmittelbaren Korpergefuhl kommt eine besondere Bedeutung zu. Sie liefert ein gutes Beispiel fur Selbstthematisierung, die nicht so sehr auf kognitive Techniken (Diskurse der Selbstreflexion) zuruckgreift, sondern eher auf eine Art leibliche Praxis. Auch Sara ist keine typische Virtuosin der Selbstthematisierung. SelbstErfahrung meint hier Korper-Erfahrung, eine reflexive Selbstanalyse wird nicht praktiziert. Eine reflexive Auseinandersetzung mit dem Selbst erscheint „verkopft", indem sie das unmittelbare Erleben einschrankt und steuert. Wenn Beate die als Krisen erlebten Phasen des Uber-sich-selbst-Nachdenkens durch schnellstmogliche Rtickkopplungen an soziale Bindungen iiberwindet, dann uberwindet Sara Krisen - angesprochen sind hiermit Phasen der Unausgeglichenheit - durch schnellstmogliche Riickkopplung an sportliche Aktivitaten. Eine Stoning wird so gleichermaBen durch bekannte Muster geglattet. Die Selbstthematisierung ist auch hier weniger eine kognitiv-rationale Reflexion, sondern eher ein Gefuhl (bzw. Fuhlen) des Bei-sich-selbst-Seins. Das Selbst ist nicht als reflexives Subjekt gedacht, sondern als korperlich fiindiert oder leib-basiert, die Selbstverwirklichung stellt sich etwa beim Schwimmen oder Laufen ein. Es geht weniger um die Frage „Wer bin ich wirklich?", sondern es geht eher darum, sich selbst zu ersptiren, wie Phanomenologen sagen wtirden. Wir haben es hier mit einer Variante des Selbstverwirklichungsdiskurses zu tun, in der es darum geht, iiber den Korper 4zu sich selbst' zu finden; den Korper 'sprechen' zu lassen. Selbstthematisierung wird zur leiblichen Praxis.

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2.3 Das kreative, flexible Selbst Mark ist 28 Jahre alt, hat sich friih selbststandig gemacht und leitet mit Freunden seit einigen Jahren zwei kleine Unternehmen. Nach dem Abitur hat er ein Studium der Elektrotechnik abgebrochen und stattdessen seine „Talente" in Eigeninitiative ausgebaut. Mit zweien davon (Computer- und Theatertechnikwissen) kann er inzwischen seinen Lebensunterhalt bestreiten. Dariiber hinaus spielt er in seiner Freizeit Theater und singt in einer lokal bekannten Band. Er lebt alleine, ist seit einigen Jahren Single und in einen groBen Freundeskreis eingebunden. Mark ist ein geiibter Selbstdarsteller und beschreibt sich wahrend des Interviews als talentierten Grenzganger und verkorpert den Typus des kreativ-flexiblen Selbst.7 Schon seine integrierte Wohn- und Arbeitssituation verdeutlicht, inwiefern Selbstbestimmung zur Grundausstattung seines Lebens gehoren muss: Mark lebt in einem Biirogebaude am Rande eines Industriegebietes, sein Biiro ist auch gleichzeitig sein Wohnzimmer. Umringt von Computern, Waschestandern und Kabeln leitet er zwei Unternehmen, schaut seine Lieblingsserien im Fernsehen oder bewirtet seine Theatergruppe mit Tiramisu. Mark hat keinen geregelten Arbeitsrhythmus, beide Unternehmen funktionieren iiber Projektarbeit und er leitet sie jeweils gemeinsam mit einem guten Freund. Arbeit und Leben gehen bei Mark flieBend ineinander iiber. Obwohl Mark standig neue Geschaftsideen entwickelt, geht es ihm bei seinem Tun nicht primar um Gelderwerb. Mit Programmieren und Veranstaltungstechnik verdient er gerade das, was er zum Leben braucht. Er konnte jedoch viel mehr verdienen, wenn er nicht einen GroBteil seiner Zeit in Projekte investieren wiirde, fur die er kein Geld bekommt. Mark traumt davon die Trennung zwischen Privat- und Berufsleben vollkommen aufzuheben und immer nur das zu tun, was ihm entspricht. Moglich wiirde dieser Traum, seiner Meinung nach, wenn es ihm gelange alle seine privaten Interessen in sein Berufsleben gewinnbringend einzubinden. Marks Lebens- und Arbeitsform fordert von ihm ein hohes MaB an Motivation, Eigeninitiative, Selbstkontrolle. Er muss sich hinsichtlich seiner eigenen Effizienz, Kreativitat und Leistung standig selbst iiberpriifen, wobei ihn seine unsichere fmanzielle Situation stark unter Druck setzt. Jede seiner Tatigkeiten wirkt sich direkt oder indirekt auf den Erfolg seines Unternehmens aus und jeder Misserfolg bedroht gleich seine Existenzsicherung. Gleichzeitig ist es 7

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Das Interview fand in guter Gesprachsatmosphare start, entspannt beim Wein. Vielleicht ist das ein modernes Ritual der Selbstthematisierung im Sinne von confession: zusammen Wein trinken, entspannt im Sommergarten, und es - als Mann - zulassen zu kftnnen, mit einer Frau liber sich selbst zu reden.

unerlasslich, dass er ein hohes MaB an Anpassungsfahigkeit an den Tag legt, denn er ist abhangig von seinen Auftraggebern und muss sich immer neues Wissen aneignen, um nicht den Anschluss an sich schnell wandelnde technische und kulturelle Trends zu verlieren. Diese widrigen Umstande unterstreichen Marks Bediirfhis nach einem moglichst hohen Identifikationsgrad mit seiner jeweiligen Tatigkeit. Er mochte in der Lage sein, seine Tatigkeiten auf sich selbst zu beziehen. In Marks Interviewaussagen stehen sich Sehnsucht nach Authentizitat und Streben nach Anpassungsfahigkeit diametral gegeniiber. Diese zwei Perspektiven spiegeln sich auch in seiner Selbstthematisierung wider und auBern sich in zwei zentralen, miteinander verkntipften Motiven: Selbstoptimierung vs. Selbstverwirklichung. Die Verkntipfung dieser beiden Selbstansprtiche - so die These - ist typisch fur das kreativ-flexible Selbst. Das Ideal der Selbstoptimierung SuBert sich bei Mark in einem Bestreben, immer vielseitiger zu werden und das bereits Angeeignete stetig auszubauen, zu reflektieren und zu iiberarbeiten. Sprachlich fmdet dieses Selbstideal seine Entsprechung in einem bunten Sammelsurium aus Zitaten, Metaphern und Vergleichen. Seine Selbstthematisierung - eher im Sinne von Selbstdarstellung - setzt sich aus einer Vielzahl aufgeschnappter Fragmente zusammen, wobei er Widerspriiche selbst hervorhebt und scheinbar keinen Wert darauf legt, ein koharentes Bild von sich zu zeichnen. Die Frage ob er sich selbst suche, beantwortet er z.B. mit Ausschweifungen iiber die Frage, ob der Weg das Ziel sei, und beschreibt seine Selbst-Suche dabei als Auffacherung, in der es darum geht, in moglichst verschiedenen Richtungen das eigene Talentpotential zu verorten.8 Er fiihlt zwar, dass „da irgendetwas in [ihm] schlummert", begibt sich jedoch nicht auf Tiefengrabung, da dieses Etwas nichts ist, „woran du aktiv arbeiten kannst". Wenn es jedoch genauer um Selbstreflexion und -analyse geht, ist seine Erzahlung nicht nur von einem Patchwork von Zitaten, Bildern und Anekdoten iiber beruhmte Personen gepragt, sondern auch von einer Dichotomie zwischen den Geschlechtern. Die Moglichkeit zu Selbstreflexion sieht Mark zunachst eher im Gesprach mit Frauen, mit denen man besser als mit Mannern iiber Gefuhle sprechen konne. Sich selbst reflektieren ist fur Mark gleichbedeutend mit „angreifbar sein, und ein echter Mann macht das nichtfreiwillig".Doch auch mit Frauen scheint sich Mark nicht 'tiefgriindig' selbst zu reflektieren, sondern lediglich iiber andere Frauen zu sprechen. Marks Vorstellung von sich scheint offen und auf Wachsen ausgerichtet, ohne dass er ein konkretes Ziel oder einen Idealzustand vor Augen hatte. Er sieht 8

Wahrend z.B. das therapeutische Selbst von Marie-Sophie und Saskia in den eigenen Tiefen nach sich sucht, fahndet Mark horizontal und flachendeckend.

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sich eher in einem selbstreferenziellen Wachstumsprozess: je besser er seinen aktuellen Gegebenheiten entsprechen kann, desto mehr potentielle Erfahrungsmarkte eroffiien sich wiederum fur die Optimierung seines zuktinftigen Selbst. Seine Anpassungsfahigkeit wird so zum Schliissel zu seinem niemals greifbaren aber immer weiter optimierbaren Selbst. Der Bezug zu Marks Arbeitsalltag drangt sich auf, denn auch hier ist standiger Wandel und kontinuierliches Wachstum seine Existenzsicherung. So wie man Anpassungsfahigkeit als den Schliissel zu Marks Selbstoptimierung beschreiben konnte, ist das Streben nach Authentizitat sein Weg zu einer moglichen Selbstverwirklichung. Es ist fur Mark unverzichtbar einmalig, herausragend und unverwechselbar zu sein. Mark verweist im Interview immer wieder auf geniale Personlichkeiten und Grenzganger, wie Einstein oder Hitchcock, und setzt sich selbst zu ihnen in Beziehung. Ganz in der Tradition der Kunstlerkritik der Boheme ist Grenztiberschreitung und die Freiheit unabhangig von auBeren Zwangen wie Herkunft oder Ausbildung die ur-eigene Bestimmung zu finden, ftir Mark ein zentrales Thema. Er habe schon immer den inneren Drang verspiirt, „sein eigenes Ding" zu machen und an anderer Stelle im Interview sagt er: „Ich habe schon immer das Verlangen gehabt etwas zu verandern, etwas anders zu machen." Das Geftihl eine authentische und einmalige Personlichkeit zu sein, gewinnt er aus einer moglichst intensiven Identifikation mit all seinen Tatigkeiten, denn das ist ihm gemein mit den von ihm aufgeftihrten Genies: Arbeit, Leben und Berufung sollen ftir ihn eins sein. Die ftir das kreativ-flexible Selbst typische Kombination von Selbstoptimierungs- und Selbstverwirklichungsanspruchen ftihrt dazu, dass Mark sich stark mit selbstbeziiglichen Themen identifiziert, gerne tiber sich selbst redet und nachdenkt, seinen Ausftihrungen aber immer eine gewisse Unverbindlichkeit anhaftet und vor allem nicht in der Tiefe des Ichs fahnden. Selbstthematisierungen auf der Ebene der Selbstdarstellungen werden von ihm zwar virtuos vorgetragen, aber sie bleiben leicht flexibel und improvisiert. Er nimmt sich schnell verschiedenen Themen, Aussagen und Ansichten an, verwirft viele dann im Laufe des Gesprachs wieder oder verkntipft sie mit eigenen Anekdoten und gesammelten Zitaten. Er greift das Thema Selbst eher in spielerischer als in konfrontativer Reflexion bzw. Form auf und liefert im Interview eher eine Darstellung als eine Reflexion iiber dieses Selbst. Somit ist Mark ein Virtuose der Selbstthematisierung in Bezug auf Selbstdarstellung, ein Virtuose der Selbstreflexion bzw. Selbstanalyse, wie die im folgenden Kapitel vorgestellte MariaSophie und Saskia, hingegen ist er nicht.

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2.3 Das therapeutisch geschulte Selbst Wenn von virtuoser Selbstthematisierung die Rede ist, scheint es naheliegend, an Therapie zu denken. Wir skizzieren einen solchen Typus, fur den wir auf zwei Falle in unserer Stichprobe zuriickgreifen konnen. Marie-Sophie, 24, Studentin der Kulturwissenschaften, ist seit zwei Jahren in Therapie. Sie ist davon tiberzeugt, dass die Therapie-Erfahrung wichtig ist, um sich selbst besser zu kennen, weil das mehr Sicherheit und Selbst-Kontrolle bringt. Die Therapie starkt das Ich und sorgt fur mehr Autonomie, indem es sich selbst besser kennt, besser akzeptiert, und auch indem das Ich - durch Kenntnis und Akzeptanz der geheimen Wtinsche - 'sein Es' besser kennt und es so unter Kontrolle halten kann. Marie-Sophie sagt, sie habe in der Therapie ihr „Bedtirfnis anerkannt, dass ich liber mich nachdenken muss, dass ich das brauche, um ich sein zu konnen, um leben zu konnen". Im Unterschied zu fruher sei sie heute „ehrlicher", sie habe fruher „oberflachlich" gelebt, sie habe eigentlich „gar nicht so ne richtige Beziehung zu [sich]" gehabt. Es fehlte ihr an Authentizitat und Tiefe. Allgemein liegt der Gewinn der Therapie darin, bessere Kenntnis der eigenen Starken und Schwachen gewonnen zu haben. Das gibt mehr Sicherheit, „weil ich dariiber ganz viel nachdenke und es mich nicht einfach so iiberkommt, ich gar nicht weiB, was es eigentlich ist (...)". Es geht darum, nicht so sehr dem 'Es' ausgeliefert zu sein, mehr Selbst-Kontrolle zu haben. Selbst-Erkenntnis dient als Basis von Selbst-Kontrolle im Sinne auch von Handlungsautonomie oder self-reliance, im Sinne von selbstbestimmt start fremdbestimmt. Das wiederum hilft ,,rauszufinden wo stehe ich eigentlich, wo bin ich, um mich verorten zu konnen, in das groBe Ganze, meinen Platz zu finden, nicht so verloren zu sein". Auch Saskia (Studentin der Kulturwissenschaften, 22 Jahre) hat therapeutische Erfahrung. In einem gewissen Kontrast zu Marie-Sophie bewertet Saskia die Selbstreflexion nicht durchgangig positiv. Es gibt dabei zumindest eine Gefahr: „zu viel" tiber sich selbst nachzudenken, „selbstgrublerisch" zu sein, „um sich selbst zu kreisen" usw. Demgegentiber sei es manchmal besser, sich treiben lassen zu konnen, sich (von sich selbst) uberraschen lassen zu konnen, „sich den Dingen zu tiberlassen, es auf sich zukommen zu lassen". Die wahre Starke gewinnt das Ich erst dann, wenn es sozusagen die permanente Selbstreflexion nicht mehr braucht. Das ideale Ich-Selbst-Sein ware dann ein Schweben zwischen Sich-Selbst-(Er-)Kennen und Sich-immer-wieder-selbst-Uberraschen. Selbstthematisierung ist dann nicht so sehr als Suche nach „sich selbst" zu verstehen, sondern eher als Suche nach einer Synthese zwischen zwei unter-

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schiedlichen Welten: der Welt der Gemeinschaft/Kollektiv (soziale Herkunft, Familie) und der Welt des Individualismus (studentisches Milieu). Die Beispiele Marie-Sophie und Saskia erlauben uns, zwei Stufen der Entwicklung eines therapeutisch geschulten Selbst zu unterscheiden: eine 'tiberreflektierte' und eine 'spontane' Form. Die erste befindet sich gewissermaBen noch in der Schulungsphase und hat das therapeutische Ziel der Gelassenheit und Spontaneitat noch nicht erreicht. Die Selbstreflexion hat noch zu sehr den Charakter einer auBeralltaglichen, kontrollierten Selbstbeobachtung, einer Art therapeutischer overprotection. Das 'spontane' Selbst dagegen entgeht der Gefahr, „zu viel" tiber sich selbst nachzudenken, „selbstgrublerisch" zu sein, „um sich selbst zu kreisen". Es kann sich auch mal „treiben lassen", sich (von sich selbst) uberraschen lassen, „sich den Dingen iiberlassen, es auf sich zukommen lassen". Die wahre Starke gewinnt das Ich erst dann, wenn es die permanente, kontrollierte Selbstreflexion nicht mehr braucht. Das „Selbst" wird nicht „gefunden", sondern es entwickelt sich ohne explizite Selbstaufmerksamkeit. Das wahre therapeutisch geschulte Selbst hat die hochste Stufe der 'Vervollkommnung' erreicht, kennt sich selbst (sein Ich), kennt aber auch seine inneren 'Feinde' (Es und Uber-Ich), die es dadurch besser unter Kontrolle hat.

3. Spannungsverhaltnisse 3.1 Selbst und Gemeinschaft Die verschiedenen Falle und Typen reprasentieren auch unterschiedliche Auspragungen von Konstruktionsproblemen des Selbst im sozialen Kontext. Diese verweisen auf Spannungen im Verhaltnis des Individuums zu den sozialen Strukturen (Gemeinschaft, Gesellschaft). In den Interviews taucht immer wieder die Frage der Abgrenzung des Selbst von der sozialen Umwelt, die Frage der Autonomic, auf. Beim Typus des sozial eingebetteten Selbst wird der Autonomiegrad durch jeweils spezifische Aufgaben in der Gemeinschaft definiert und begrenzt, im Privatleben ebenso wie im Beruf. Aber auch hier gibt es Ansprtiche auf Autonomic Wahrend im Beruf Fremdbestimmungen, wie in Form von Aufgabenzuweisung durch den Chef, als „normal" empfunden werden, wird im Privatleben ein gewisses MaB an eigenen Handlungsmoglichkeiten und Entscheidungsspielraumen beansprucht. Wenn die Eltern und Schwiegereltern in Plane des Privatlebens „reinreden", so Beate, „wehrt man sich ja (...) dagegen". Umgekehrt ist das kreative oder geniale aber einsame Selbst ganz autonom in der Selbstdarstellung (der Erzahlung im Interview) - es stellt sich auBerhalb 326

von Gesellschaft und reprasentiert die moderne Exklusionsindividualitat. Es ist aber manchmal auch auf der Suche nach Anbindung. So sind „vertraute Fremdbilder" von guten Freunden in Krisensituationen fur das einsame und kreative Selbst wichtig, um diese Situation besser oder uberhaupt erst verstehen zu konnen. Auch wenn sich der Grenzganger nicht etwa nach einer festen Einbindung in gesellschaftliche Bereiche sehnt, so doch nach einer Bindung in Form der Partnerschaft unter dem Zeichen der Liebe. Doch auch hier ist es fur das kreative Selbst von Bedeutung „Eins zu sein, aber zwei zu bleiben".

3.2 Selbst- und Fremdbestimmung Die Frage der Autonomie erscheint in spezifischer Form als Spannungsverhaltnis zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Fur das sozial eingebundene Selbst ist 'Fremdbestimmung' kein gravierendes Problem. Fest eingebunden zu sein, bedeutet nicht 'fremdbestimmf. Es wird akzeptiert, dass man selbst nicht vollig autonom sein kann, dass man Teil eines Ganzen ist (Orchester-Beispiel), dass in einer hierarchisch strukturierten Berufssituation Aufgaben zu erfullen sind, tiber die man nicht selbst entscheiden kann. Doch es gibt auch Autonomiemoglichkeiten, die mit Leistung und Aufstiegschancen zusammenhangen, wie zum Beispiel Fortbildungen, in denen man sich spezielle Berufsfachkenntnisse aneignet. Fur das sozial eingebettete Selbst kann Autonomie sogar problematisch werden, wenn sie (aus sozialer Perspektive) zur Nutzlosigkeit oder Isoliertheit verkommt. Es gibt soziale Pflichten, und da kann 'Selbstsuche' und 'Selbstreflexion' leicht mit Psycho-Pathologie in Verbindung gebracht werden. Den Prototyp des selbstandigen, selbst bestimmten Subjekts stellt Mark dar. Ob er in seiner Selbstdarstellung seine Vielseitigkeit oder die Einzigartigkeit des Genies hervorhebt - es geht immer um Selbsterzeugung. Fremdbestimmung ist deshalb fur ihn zwar ein Fremdwort; und doch gibt es eine Spannung zwischen Einzigartigkeit und Gemeinschaft - das Genie ist immer in Gefahr, sich in der Sozialitat zu verlieren. Das gilt auch fur Beziehungen, wo Mark - der schon seit langerem als Single lebt - einmal schlechte Erfahrungen gemacht hat mit der Verschmelzung im romantischen Paar. Der einsame Kiinstler, das Genie, hat Probleme, sich in einer Beziehung zu behaupten und wird leicht zum „JaSager". Das Genie muss allein leben, um sich vor dem „Mtill" der Gesellschaft zu schtitzen, und um genauer hinsehen zu konnen, was in ihm schlummert. Selbstthematisierung kann auch als Suche nach einer Synthese begriffen werden - einer Synthese zwischen verschiedenen Welten (Gemeinschaftswelt

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der Herkunftsfamilie - individualisierte Welt des studentischen Milieus) - die in Spannungsverhaltnissen zueinander stehen.

3.3 Personliche Identitdt und Berufsrolle Ein Spannungsverhaltnis kann auch zwischen Berufsrolle und 'wahrem' Selbst entstehen, besonders beim Typus des kreativ-flexiblen Selbst (Mark), wo Berufs- und Privatleben sowohl lokal als auch strukturell untrennbar miteinander verbunden sind. Die Raume in einem Burogebaude am Rande eines Industriegebietes sind gleichzeitig Wohn- und Arbeitsraum von Mark. Somit ist das Selbst haufig gleichzeitig die Berufsrolle und gute Freunde sind gleichzeitig Geschaftspartner. Mark muss sich selbst thematisieren, um dem standigen Wandel begegnen zu konnen. Dabei darf man sich das Thematisieren der eigenen Person nicht im therapeutischen Sinne vorstellen, es geht nicht um eine Konfrontation mit dem Selbst, sondern viel mehr um ein Experimentieren mit verschiedenen Ich-Erzahlungen. Marks Form der Selbstthematisierung muss entsprechend seiner flexiblen Berufsrollen eher als eine breite Auffacherung gedacht werden. Im Gegensatz dazu konnte man die Selbstthematisierung eines therapeutischen Selbst als Tiefenbohrung beschreiben.

3.4 Selbst und Korper Seit einiger Zeit wird der alte Dualismus von Geist und Korper erneut in Frage gestellt. Zum einen wird eine zunehmende Bedeutung von Selbstdarstellung und Theatralitat in der modernen Gesellschaft, im Anschluss an Goffinan, diagnostiziert. Selbst Autoren wie Richard Munch, die sich im klassischen Fahrwasser der Soziologie bewegen, stellen fest: „Wer sich nicht gut darstellen kann, hat in dieser Gesellschaft keine Chance" (Munch 1991: 17). Es geht aber auch in einem 'tieferen' Sinn um die korperliche bzw. leibliche Basis der Sozialitat. Das 'klassische' btirgerliche Selbst (kognitiv-reflexiv, moralisch, therapeutischreflexiv) tritt zunehmend in ein Spannungsverhaltnis zu einem eher korperlich fimdierten Selbst. Wir haben Sara portratiert als Musterfall fur ein korperlich fundiertes Selbst, bei dem idealtypisch ein harmonisches Verhaltnis von Selbst und Korper angenommen werden kann. Der Korper als Medium der Selbsterfahrung steht fiir Rhythmus, Entspannung und Ausgeglichenheit und das nicht nur im Moment der Bewegung, sondern auch nachhaltig. Erst tiber eine kontinuierliche Betati328

gung konnen Rhythmus und schlieBlich Automatismus ermoglicht werden. Die Korpererfahrung ttber den Sport ist im Fall Sara von klein auf praktiziert worden. Dagegen ergeben sich Spannungen, wenn Frauen ihren Korper in Relation zum Korperkult setzen - wie Beate -, indem die Frage des Selbstbewusstseins einerseits an einen formvollendeten Korper gekoppelt wird, andererseits eine Distanz zu den Diskursen des Korperkultes aufgebaut wird. Es entsteht eine Spannung zwischen der Annahme, ein schoner Korper sei auch gut fur Selbstbewusstsein, Status und Erfolg - und dem Versuch, sich dieser Art von Fremdbestimmung zu entziehen. Die Idee eines korperbewussten Lebens wird deshalb mit Selbstdisziplin verknupft und kann so leicht zur Fremdbestimmung werden, wenn etwa die kleinen Freuden des Alltags (Schokolade essen) einem Selbstverbot unterliegen. Auf der anderen Seite steht aber die stille Bewunderung flir eine Selbstdisziplinierung und das aus dem vollendeten Korper geschopfte Selbstbewusstsein/ Selbstsicherheit. Sport steht in diesem Diskurs nicht fur Selbst-Erfahrung, sondern ist konnotiert mit Fitnesskult und Schlankheitsterror, also mit Selbstdisziplinierung. Sport kann dann nicht positiv mit Selbsterfahrung oder gar Selbstverwirklichung verknupft werden. Anders als Beate verortet Sara den Korper nicht im Diskurs des Korperkultes, also nicht die Form, sondern die Erfahrung des Korpers wird betont. Nicht den Korper gilt es folglich zu vollenden, sondern die Erfahrung des Korpers als Selbsterfahrung. Sportliche Betatigung ist somit weit davon entfernt als Tortur oder Selbstdisziplinierung empfunden zu werden, vielmehr wird durch sie Ausgeglichenheit ermoglicht. Insbesondere die Selbsterfahrung beim Schwimmen, dort ist sie „ganz bei sich selbst". Anstelle einer bewusst reflexiven Selbstanalyse, findet sich hier ein in der Bewegung, im Rhythmus erfolgendes (un)bewusstes Sich-Selbsterfahren. Korpererfahrung ist Selbsterfahrung. Korper und Geist werden als Einheit verstanden. Stabilitat und Balance Saras riihren wesentlich aus der Korpererfahrung, die als Selbsterfahrung zu einer nicht-reflexiven Form der Selbsterkenntnis wird. Der Korper muss hier nicht dem aktuellen Schonheitsideal entsprechen, er ist akzeptiert und mehr noch, wird gern erfahren. Leben im Einklang mit dem Korper bedeutet hier Leben im Einklang mit sich selbst und folglich Selbstzufriedenheit. Das kreativ-flexible Selbst steht noch ganz in der Tradition des Kognitivismus, der Vorstellung des korperlosen Geistes. Zumindest fur den Fall Mark bleibt diese Problematik eine Leerstelle im Interview. Dabei ware in Zeiten, wo die Selbstdarstellung im Beruf immer wichtiger wird, auch Reflexion uber die korperliche Seite der Selbstdarstellung zu erwarten. Ein moglicher Ort der Kor-

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pererfahrung konnte das Theaterspielen flir Mark darstellen, das wird aber nicht thematisiert. So ist zu konstatieren, dass Mark entweder kaum iiber eine Sprache, die Korpererfahrungen auszudriicken weiB, verfugt, oder der Korperwahrnehmung keine Bedeutung beimisst. Das Selbst ignoriert in diesem Fall den Korper. Wie der Fall Sara gezeigt hat, kann der Korpererfahrung eine entscheidende Rolle fur die Selbsterfahrung zukommen, die auch verbalisiert, d.h. thematisiert werden kann. Was Sara hier ausgebildet hat, konnte schon als virtuos bezeichnet werden, eine harmonische Einheit zwischen Selbst und Korper scheint zu bestehen. Dagegen verfugen weder Mark noch Beate iiber eine Sprache, um ihr Selbst als Korpererfahrung auszudriicken. Doch wie verhalt es sich mit dem reflexiven Selbst? Das scheint bei Sara kaum ausgebildet zu sein, so dass das Selbst primar nur iiber den Korper erfahren werden kann. Ware es demnach virtuos, wenn die Selbstthematisierung sowohl Korper und Geist umfassen wiirde?

4. Techniken der Selbstthematisierung. Diskurs und Praxis 4.1 Selbstdarstellung im Interview. Form der Erzahlung Nachdem die Typen des Selbst analysiert und die Spannungsverhaltnisse und die damit verbundenen unterschiedlichen Formen der Selbstthematisierung (eher Selbstdarstellung oder Selbstreflexion oder In-Verbindung-Setzen mit der sozilen Umwelt) herausgearbeitet wurden, geht es nun um Erzahlformen, mit denen das Selbst im Interview dargestellt wird. Marie-Sophie Muster der Selbstthematisierung im Interview ist hier eine Art Erzahlung des Typs 'Krise iiberwunden, das Selbst kann sich entwickeln'. In gewisser Weise ist die Selbstdarstellung Marie-Sophies durch die Erzahlung einer Metamorphose gepragt, die - natiirlich in anderer Art und Weise - auch in literarischen Werken anzutreffen ist. Diese Metamorphose vom „oberflachlich" lebenden, sich nicht reflektierenden Menschen zu einem „komplett andere[n] Mensch[en], mit einem Vermogen, „iiber sich nachzudenken" und sich „zu begreifen", vollzog sich in der Phase der Therapie. Jedoch liegt hier noch keine Entwicklung des Selbst im eigentlichen Sinn vor, da nur herausragende Momente seines Lebens, namlich Krise und Wiedergeburt bzw. Reinigung und Lauterung mittels Therapie eine Rolle spielen.9 Dennoch deutet die Metamorphose

9

SieheFrShlich2005: 105.

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den Lebensweg an und wird zu einer Form der subjektiven Sinngebung und fuhrt zum Aufbau eines gereinigten und wiedergeborenen Selbst, das nun, mit dem Wissen iiber das eigene Ich und der therapeutischen Sprache ausgestattet, alien seinen Krisen bewusst begegnen kann.10 Erst nach dieser Lauterung 1st es Marie-Sophie moglich zu sagen, dass „alles was ich mache, mache ich nur deshalb um rauszufinden, wo stehe ich eigentlich". Gemeint ist damit nicht etwa der Wesenskern wie in einem linearen Entwicklungsroman, sondern wie es Marie-Sophie formuliert, eher eine Entwicklung im Sinne eines breitflachigen „Abtastens". Es geht um das „Abtasten" Von „Facetten von mir, abtasten in alle Richtungen, wer bin ich eigentlich, was gehort auch zu mir". Saras Selbst-Erzahlung ist weder Krisen- noch Entwicklungserzahlung (wie bei Marie-Sophie und Saskia, wo es um Tiefen und Hohen geht), noch Alltagserzahlung (Beate) und auch weit davon entfernt virtuos improvisierte Selbsterzeugung bzw. Selbstdarstellung (Mark) zu sein. Typisch ist vielmehr, dass in Saras Selbsterzahlung der Moment, die Situation, das Ereignis, das Hier und Jetzt an die Stelle einer groBen Gesamterzahlung, die sich zwischen Vergangenheit und Zukunft bewegt, treten. Die nahezu gleichwertigen kleinen Erzahlungen folgen vertrauten Mustern (Selbsterfahrung als Korpererfahrung, Integration in die 'Sportfamilie') und machen dadurch das Selbst (wieder-)erkennbar. Marks virtuose und spielerische Erzahlform gleicht am ehesten einer improvisierten Heldengeschichte. Er interpretiert sich als Held mit Genieeigenschaften auf dem Weg zur Freilegung seiner schlummernden Talente.11 Ahnlich wie ein Protagonist in einer Heldensage, geht es ihm darum, etwas Groftes zu schaffen, eine tolle Personlichkeit zu werden und am Ende schlielilich Anerkennung fiir seine Taten zu ernten. Er thematisiert weniger die Beschaffenheit seines Selbst an sich (hier mochte er sich nicht festlegen), sondern vor allem mogliche Wege, Hindernisse und Fragestellungen auf dem Weg hin zur Selbstverwirklichung. Dabei stehen seine Wortgewandtheit, sein Talent fur tiberraschende Assoziationen und Fragestellungen fast mehr im Vordergrund als der eigentliche Inhalt seiner Erzahlung. Er bezieht sich z.B. bin seinen Ausflihrungen stark auf das intervieweinleitende Michelangelo-Zitat.12 Als Zuhorer wird man dabei das Gefuhl nicht los, seine Ausflihrungen hatten zu ganz anderen Aussagen fiihren konnen, ware das Eingangszitat ein anderes gewesen. Marks Erzahlung lebt davon, dass er mit dem Material, was er von AuBen bekommt, improvisiert, und im Fall eines Interviews sind das die an ihn gerichteten Fragen. Insgesamt 10 Bachtin 1937/38:42,46. 11 Er kann sich durch die Interview-ErOffiiung einreihen in eine Linie mit Michelangelo, Einstein und Hitchcock. 12 Michelangelo-Zitat siehe oben.

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kommt Marks Erzahlung dem Helden eines Abenteuerromans sehr nahe, denn auch dieser kann nicht sagen, wer er genau im Tiefen' ist. Er hat keine festgelegten, sozial-typischen und individuell charakterologischen Eigenschaften, aus denen sich ein statisches Bild eines Charakters, Typs oder Temperaments ergabe. Solch ein festgelegtes Bild ware dem Sujet des Abenteuerromans eher hinderlich, schrankt seine Moglichkeiten ein. Gerade vor der Gefahr der Einschrankung der Moglichkeiten will sich auch unser Held Mark bewahren. Um es weiter mit Bachtin zu formulieren, der „Held schliefit nichts aus seinem Leben aus, auBer der sozialen Wtirde".13 Auch Mark mochte „lieber viele (...) als eine Sache (...) mache[n], (...) weil es schade darum ware, diese ganzen Erfahrungen, die man macht, Dinge die man von der Welt sieht" wegzuwerfen und er macht, „was [er] will und die anderen konnen denken, was sie wollen". Wie oben bereits im Zusammenhang mit den Spannungsverhaltnissen erwahnt, ist seine Autonomic jedoch nicht als absolut zu sehen - denn Bindung spielt ebenfalls, wenn auch flir die Selbstdarstellung eine nicht primare, Rolle. Wahrend Mark und Saskia auf literarische Erzahlformen, wie sie im Roman anzutreffen sind, zuriickgreifen, um damit die Einzigartigkeit der aus festen Sozialstrukturen gelosten Person und die mit ihr einhergehenden Weltanschauungen und Weltempfindungen auszudrticken, scheint diese Art von Erzahlform fur Beate offensichtlich nicht die passende zu sein. Auf die Aufforderung, eine kurze Geschichte flir ein Drehbuch des eigenen Filmes zu erzahlen, antwortet Beate: „Also war in der Hinsicht so'n bisschen langweiliger Film fur andere." Mark hingegen reagiert auf diese Aufforderung mit einer spontanen, jedoch perfekten Kernstory, die man ohne weiteres auf das Plakat zum Film setzen konnte: „Schon frtih wusste er, dass Schubladen nicht zum Denken der Menschen gehoren sollten, und deshalb verbannte er die Schubladen aus seinem Geist. Der Anti-Schubladen-Mann. Der Grenzganger!" Beates Erzahlung ist frei von aus der Literatur entlehnten Mustern. Stattdessen pragen pragmatische Erzahlungen, in denen sie sich mit ihrer sozialen Umgebung in Beziehung setzt das Gesagte. Die sozialen Struktur bzw. ihre narrative Darstellung ist in Beates Erzahlung die primare sinngenerierende, wobei in Marks und Saskias Erzahlung die Form der Heldengeschichte bzw. der Metamorphose und bei Sara das Muster der Korper- und somit Selbsterfahrung diese Funktion zukommt.

13 Bachtin 1985: 114.

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4.2 Praktische und reflexive Selbstthematisierung Auch wenn es inzwischen zu einer Demokratisierung der autobiografischen Reflexion gekommen ist, so eignet sich das Interview doch eher fur intellektuelle Selbstreflexion; ftir bestimmte praktische Formen der Selbstthematisierung dagegen ist es nur bedingt tauglich. Das gilt auch fur das narrative Interview.14 So weiB die Arzthelferin Beate nicht recht, was wir meinen, wenn wir nach Selbstreflexion fragen. Sie halt das fur etwas Problematisches, denkt dabei eher an „Grubeln". Aber in ihrer Darstellung bestimmter Lebenserfahrungen kommt sie einer soziologischen Vorstellung von Identitat haher als manche unserer intellektuellen Interviewpartner - auch wenn sie nattirlich keine soziologische Sprache verwendet. Aber sie weiB intuitiv, dass ihr Selbst sozial eingebettet und nicht vollig autonom ist. Autonomie und Betonung von Besonderheit (Distinktion) spielen keine groBe Rolle. Das sozial eingebundene Selbst beansprucht keine Einzigartigkeit, sondern Eingebundenheit; keine Virtuositat, sondern sachlich notwendige und sozial erwtinschte Kompetenz; keine Autonomie, sondern Solidaritat; keine Selbstvervollkommnung (so Webers Begriff ftir das protestantische Kulturburgertum), sondern sozialer Aufstieg nach MaBgabe sozialer Strukturen; keine Selbstreflexion, auBer in Krisenfallen. Sara steht fur ein Selbst, das nicht in erster Linie als selbstreflexives Subjekt gedacht ist, sondern als korperlich fundiert oder leib-basiert. Das heiBt, die Selbstthematisierung vollzieht sich hier weniger diskursiv-reflexiv („Wer bin ich wirklich?"), sondern es geht eher darum, sich selbst zu ersptiren, wie die Phanomenologie sagen wtirde (Landweer 1999). Wir haben es hier mit einer Variante des Selbstverwirklichungsdiskurses zu tun, in der es darum geht, iiber den Korper 'zu sich selbst' zu finden; den Korper 'sprechen' zu lassen. Selbstthematisierung wird zur leiblichen Praxis.15 Dies steht im Zusammenhang mit einer Entwicklung, derzufolge die Diskurse der Selbstthematisierung sich nicht mehr so stark auf kognitiv-rationale Reflexionen grunden (Wer bin ich?, im Anschluss an das cogito ergo sum), aber

14 Wie bereits in einer friiheren Studie deutlich wurde, wo wir die Erfahrung gemacht hatten, dass das Interview sich fur den Milieuvergleich nur bedingt eignet. Man erfahrt im Interview zwar auch Geschichten und Erzahlungen iiber Praktiken; aber im Interview wird doch in erster Linie ein Diskurs entfaltet. Wir haben deshalb von verschiedenen Ausdrucksmedien gesprochen: „Diskurs" (im Interview) fur das individualisierte Milieu; „Ritual" bzw. „Stra6e" ftir das traditio n a l Milieu; und „Atmosphare" fur das familistische Milieu (Koppetsch/ Burkart 1999). Eine fhihere Erfahrung war, dass vor allem sozialwissenschaftlich orientierte Studierende auch im narrativen Interview weniger erzahlen als theoretisieren (Burkart/ Kohli 1992). 15 Zur Bedeutung von Sport und Korper fitir Individualisierung und Selbstfindung vgl. z.B. Wedemeyer2001.

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audi nicht mehr vorrangig auf moralische Reflexionen, sondern mehr auf Reflexionen iiber expressive Ausdrucksformen, Gefuhle und Korperlichkeit. Die Selbstthematisierungen beziehen sich starker auf den expressly en Individualismus.16 Das Selbst thematisiert sich mittels des Korperausdrucks. Die Frage nach der Identitat schlieBt heute auch die Korperlichkeit starker ein.17 Das therapeutisch geschulte Selbst entwickelt sich von einer noch stark auf expliziter Selbstreflexion basierenden Analyse etwa mangelnder Tiefe und Authentizitat zu einer starker impliziten, praktischen Selbstthematisierung, gewissermaBen von einer Wissenschaft zu einer Lebenskunst der Selbstthematisierung. Mark, als Kleinunternehmer in der Theater- und Computerbranche tatig, prasentiert im Interview das Bild eines genialen (aber einsamen), kreativen Selbst, einer Ktinstler-Personlichkeit, die sich in gewisser Weise selbst erzeugt. Das kreativ-flexible Selbst steht auBerhalb gesellschaftlicher Standardisierungen, verkorpert Innovation und Kreativitat Hinsichtlich der beruflichen Arbeit ist es flexibel, kennt weder eine Trennung zwischen Wohnung und Arbeitsplatz noch zwischen Arbeits- und Freizeit, und erfindet sich selbst taglich aufs Neue. Affinitaten zum flexiblen Menschen in der Okonomie sind nicht zufallig, hier machen sich neue Konvergenzen zwischen kreativen und klassisch-okonomischen Berufen bemerkbar. Das kreativ-flexible Selbst verweist auf einen neuen Typus von Kultur-Personlichkeit, die sich im neuen Kapitalismus bewahren muss, zwischen Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung, zwischen Flexibility und Einzigartigkeit.18 Wie wurde nun ein idealtypischer Virtuose der Selbstthematisierung aussehen? Virtuosen der Selbstthematisierung wissen, wann es notwendig ist, Selbstreflexion zu betreiben, wann Selbstthematisierungs-Einschiibe in der Lebenspraxis notwendig werden. Aber sie wissen auch, wann es gefahrlich wird, an welchem Punkt es zu viel wird und die Selbstthematisierung ins „Grublerische" abgleitet. Sie finden auch das richtige MaB an Selbstenthtillung in der Kommunikation. Die hochste Form der Selbstthematisierungs-Virtuositat bestunde demnach nicht darin, kontinuierlich Selbstbeobachtung {self monitoring im Sinne von Giddens) zu betreiben, sondern ein Gesptir, einen sozialen Sinn 16 Talcott Parsons (1951) unterscheidet zwischen kognitiver, moralischer und expressiver Kultur. In neueren Diskussionen wird angenommen, dass er von einem Bedeutungszuwachs der expressiven Kultur ausging (Wenzel 2002, Koppetsch/ Burkart 2002). 17 Vgl. hierzu die einschlagigen Arbeiten zur KOrpersoziologie (Turner 1984; Shilling 1993). Wir mussen dies aber unterscheiden von der Tendenz, dass fur die erfolgreiche Presentation in der Offentlichkeit die kOrperliche Attraktivitat und die strategische Korperprasentation immer wichtiger wird. 18 Boltanski/ Chiapello (2003), Watkins (2005), Koppetsch (2005).

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(Bourdieu 1986) daftir zu entwickeln, unter welchen Umstanden oder in welchen Situationen Selbstreflexion im Sinne des Heraustretens aus der Kontinuitat der Lebenspraxis angebracht ist. Damit diese besonders fur den Krisenfall typische Form moglichst selten notwendig wird, ist eine permanente praktische Selbstbeobachtung hilfreich, eine latente Selbstaufmerksamkeit. Sie kann helfen, Krisen schon friih zu erkennen oder anders damit umzugehen und eine Balance zu finden zwischen expliztier Selbstthematisierung und spontaner Praxis. Virtuosen der Selbstthematisierung sind fahig zur bewussten reflexiven Auseinandersetzung, die nicht in der Krise verweilt (sie sind eben keine Hypochonder der Selbstthematisierung), sondern die Stoning produktiv wenden kann. Welche Lebensform entspricht Virtuosen der Selbstthematisierung am besten? Man konnte aus der bisherigen Darstellung die Vorstellung gewinnen, es ware die Single-Existenz. Doch dabei wird ein wichtiger Gesichtspunkt unterschlagen: Virtuose Selbstdarstellung zeigt sich erst in der Balancierung zwischen Selbstanalyse und Selbstoflfenbarung gegentiber einer vertrauten Person, also in einer personlichen Beziehung. Wahre Virtuosen wissen - im Sinne des praktischen Wissens (Bourdieu) -, dass reflexive Individualist und Selbstverwirklichung besser zu erreichen sind, wenn man es nicht alleine versucht.

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Alois Hahn Wohl dem der erne Narbe hat. Identifikationen und ihre soziale Konstruktion*

1. „ Jemeinigkeit" Keine menschliche Gesellschaft kann vollig unberucksichtigt lassen, dass jedes Individuum eine separate Existenz fuhrt, dass es also niemanden zweimal gleichzeitig gibt. Selbst wenn in einzelnen Momenten Zweifel aufkommen konnen, wer jemand ist, so ist prinzipiell die Jemeinigkeit des Lebens schwer zu iibersehen. Heidegger hat diese Unvertretbarkeit des Selbst mit einigem Pathos an der Jemeinigkeit des Sterbens verankert. Aber das, was er vom Tod schreibt, gilt auch fur weniger spektakulare Momente des Daseins, auch meinen Herzschlag kann niemand fur mich ubernehmen, mein Zahnschmerz ist nicht deiner, und jeder meiner Augenblicke ist ein Blick meiner Augen, selbst wenn du gleichzeitig an gleicher Stelle stehend - dasselbe sahest.1 Diese Art von Singularity ist durchaus von jener zu unterscheiden, die sich etwa durch die qualitativ unvergleichlich groBe Leistung ergabe. Singular im hier gemeinten Sinne ist nicht nur der Herr, sondern auch der Kammerdiener. Die gleiche Emporung findet sich derm auch beim einen wie beim anderen, wenn im Ernst behauptet wiirde, es gabe ihn zweimal. Falls durch verbluffende Ahnlichkeit ein solcher Eindruck entsteht, ergibt sich derm auch bei beiden heillose Verwirrung: Bei Amphitryon und bei Sosias, wenn auch dem einen die eher komische, dem anderen die eher tragische Rolle zugedacht ist. Aber diese Lage tritt im Normalfall eben nur fiktiv ein. Gerade an der Fiktion wird allerdings deutlich, wie voraussetzungsvoll das Normale ist. In der Klage des Sosias gegentiber seinem Herrn Amphitryon - dieser weiG noch nicht, dass ihm ein

*

1

Zuerst erschienen in: Peter von Moos (Hrsg.) (2004): Unverwechselbarkeit. Personliche Identit y und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Koln u.a.: Bohlau, 43-62. Wir danken Peter von Moos und dem Bohlau Verlag fur die freundliche Erlaubnis zum Wiederabdruck Eine Reihe von griechischen und lateinischen Zitaten aus jener Fassung wurden durch deutschsprachige Versionen ersetzt und zum Teil auch gekiirzt. Wir danken Klaus Fitschen fiir seine Unterstutzung dabei. [Anm. d. Hrsg.] Ich habe mich dazu ausfuhrlicher geauBert in: Hahn 2001.

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identisches Schicksal bliiht und zwar mit erheblich krankenderen Details - wird das deutlich: „Es ist mein vOlliger Ernst Herr, und Ihr werdet, Auf Ehrenwort, mir Euren Glauben schenken, Wenn Ihr so gut sein wollt. Ich schwOrs Euch zu, Da6 ich der einfach aus dem Lager ging, Ein Doppelter in Theben eingetroffen; Da6 ich mir glotzend hier begegnet bin; dafi hier dies eine Ich, das vor Euch steht, Vor Mudigkeit und Hunger ganz erschopft, Das andere, das aus dem Hause trat, Frisch, einen Teufelskerl, gefunden hat; DaB diese beiden Schufte, eifersiichtig Jedweder, Euern Auftrag auszurichten, Sofort in Streit gerieten (...)•" (Heinrich von Kleist, Amphitryon. Ein Lustspiel nach Moliere: II, 1, 672-684)

Aber selbstredend ist Sosias trotz aller Verwirrung keinesfalls zweifelhaft, dass die Prtigel, die er von Merkur bezieht, bei ihm und nicht bei jenem Schmerzen verursachen. Und auch Amphitryon wird schlieBlich klar, dass in jener Nacht nicht er es war, der mit Alkmene schlief. Dem Leser des Dramas ist das ohnehin von Anfang an nicht ratselhaft. Gleichwohl macht das Drama uns darauf aufmerksam, dass selbst die gewisseste aller Gewissheiten, die Fichte trotzig als Ausgangspunkt von allem nimmt: „Ich=Ich" eine prekare soziale Konstruktion ist. Auch die Gesellschaften, die von Seelenwanderung ausgehen, sind in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Ich mag die Reinkarnation meines verstorbenen GroBvaters sein. Das heiBt aber eben nicht, dass dieser oder ich zweimal gleichzeitig da ware. Ich bin nicht sein Doppelganger, sondern seine Fortexistenz. In fast alien praktischen Fragen wird man mich nicht mit meinem toten GroBvater verwechseln, auch dann nicht, wenn es heiBt: „Ganz der GroBvater!" Auch fur Gesellschaften, die bestimmte Statuswechsel als Verwandlungen in eine andere Person konstruieren und unter Umstanden mit einem neuen Namen symbolisieren, ist in der Regel unstrittig, dass 'hinter' all den Identitatswechseln eine durch seine Verwandlungen hindurch identifizierbare korperlich-seelische Selbstheit steckt. Das hat selbstredend auch die Philosophic des Mittelalters nicht nur gewusst, sondern dramatisch akzentuiert. Einerseits wird zwar als principium individuationis der Korper angesetzt. Damit ist zunachst bereits darauf hingewiesen, dass dein Korper nicht mein Korper ist. Aber erst recht gilt das naturlich von der Seele, die anders als bei Aristoteles oder Averroes eben keine Menschheitsseele ist, sondern je die deinige oder meinige. Deshalb ist also auch die Unsterblich340

keit eine je individuelle, inklusive der Erlosung oder Verdammnis, die sich erst einmal nicht nach der Familienzugehorigkeit richtet.2 In dieser Auffassung werde ich bestarkt durch Peter von Moos, der die Unterscheidung von Singularity und Individualist auch flir die Anwendung auf das Mittelalter hilfreich findet: „Im Mittelalter, dem man immer wieder philosophischen Antiindividualismus zuschreibt, gab es durchaus schon diese Unterscheidung. Von Augustinus bis ins Spatmittelalter reicht der Topos vom groBten Wunder Gottes, das darin liege, daB keine zwei Gesichter gleich sind; denn es ware viel 'naturlicher' wenn die Zugehorigkeit zur Gattung Mensch uns alle gleich aussehen lieBe. Wunderbar also ist die Nichtverwechselbarkeit der 'singuli' im groBen Eintopf 'Menschheit'. Hier steht das Gesicht als Synekdoche flir alles Biologische wie bei Heidegger der Tod."3

Immerhin kann es erhebliche Schwierigkeiten geben, wenn eine Gesellschaft die prinzipielle Moglichkeit unterstellt, dass sich ein Geist meiner bemachtigt und aus mir spricht und handelt, dass mein Korper also das Haus fur zwei oder mehrere Selbste darstellt. Dann bedarf es unter Umstanden hochst komplexer Vorkehrungen sozialer Identifikation, in denen festgelegt werden muss, welches Selbst sich in einem gegebenen Augenblick geauBert hat. Diese Instanzen konnen sehr haufig religiose oder therapeutische Spezialagenturen sein wie z.B. Exorzisten, Medizinmanner oder neuerdings Psychoanalytiker. Wir werden gleich auf solche Falle von Besessenheit zu sprechen kommen. Hier gentige der Hinweis, dass selbst die uns selbstverstandlich erscheinende Identifikation einer Person etwa mittels eines Namens: „Dies ist Sokrates" auf durchaus hochst voraussetzungsvollen sozialen Unterstellungen und deren (typischerweise unbewusst bleibenden) Institutionalisierungen beruhen. Das Selbst hat stets eine auch soziale Genese. Es als Einheit trotz aller Veranderungen ansehen zu kon2

3

Vgl. hierzu Thomas von Aquin, De unitate intellectus contra Averroistas. Gewiss mag man bei Albertus Magnus Sympathien fur die Idee der einen Weltseele entdecken. Schaut man aber genau hin, so hat man den Eindruck, dass bei ihm - als ware er ein Vorlaufer Hegels - die unitas intellectus im Sinne des objektiven Geistes aufgefasst wird, als Kultur, die den Einzelnen iiberdauert. An der schlechthinnigen Unvertretbarkeit der Seele lasst auch er keinen Zweifel. Die menschliche Seele ist als Vollendung des organischen Leibes ebenso individuiert wie dieser. Der Leib ist umgekehrt eben deshalb selbst quodam modo unsterblich, insofern auch er an der Auferstehung am Jungsten Tage partizipiert. Die radikale Individuiertheit auch der Seele im System Alberts ergibt sich besonders eindringlich in seiner Auseinandersetzung mit De anima: „Anima est perfectio corporis organici, et ideo non potest esse eadem numero in diversis; sed universalis est intellectus secundum se, et ideo, quod est in ipso secundum se, est etiam secundum actum universale, et hoc oportet secundum Peripateticos concedere esse idem apud omnes, et idem intellectum universale est in anima mea et in anima tua. (...) Licet enim intellectus meus sit individuus et separatus ab intellectu tuo, tamen, secundum quod est individuus, non habet universale esse in ipso, et ideo non inviduatur id quod est in intellectu." (Albertus Magnus: De anima, ed. Stroick: 195) Peter von Moos' briefliche Mitteilung vom 14.10.2001; vgl. auch von Moos 2004: 8-10.

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nen, setzt das sozial anerkannte Absehen von durchaus augenfalligen an ihm im Laufe seines Lebens sichtbar werdenden Differenzen voraus. Das schlieBt nicht aus, dass jeder Einzelne viele Eigenschaften haben kann, die er mit zahlreichen anderen teilt. Bei einem Zwillingspaar mag man oft zweifeln, welchen Zwilling von beiden man vor sich hat. Aber dieser Zweifel basiert darauf, dass wir es 'an sich' mit zwei separaten Existenzen zu tun haben, selbst wenn wir in bestimmten Situationen auBer Stande sind, eine treffsichere Identifikation vorzunehmen. Auch wenn sie einander wie ein Ei dem anderen gleichen, selbst wenn diese 'Gleichheit' nicht nur eine auBerliche des Aussehens und der Erscheinung, sondern auch eine 'innere' des Wesens und des Charakters ware, wenn sie den gleichen Fingerabdruck hinterlieBen und vielleicht selbst nicht sagen konnten, wer von beiden sie sind, wenn sie sich also miteinander verwechseln konnten, sind wir davon tiberzeugt, dass es sich hier um zwei 'Selbste'handelt. Es scheint heutzutage zumindest der 'NormalfalP zu sein, dass man einem Korper nur ein Selbst zuordnet. Wie vor allem Beispiele aus der US-amerikanischen Psychiatrie zeigen, hat man es dort immer haufiger mit 'multiplen' Personlichkeiten zu tun, den so genannten 'multiples'. Dabei scheinen Falle, in denen Personen wie Goethes Faust auftreten, die von sich behaupten „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust", entschieden nicht auf der Hohe des Zeitgeistes zu sein: „Unlike the old days of double consciousness, nowadays a multiple who never goes beyond two personalities is almost never encountered. A dozen alters is a common configuration; in some samples twenty-five per individual is the mean. People with more than a hundred alters are reported, although in these cases fewer than twenty will regularly assume executive control." (Hacking 1998: 27)

Die Verhaltnisse zwischen den verschiedenen 'Selbsten', die da bei einem Gastgeberselbst („Host") neben- und miteinander existieren, konnen hochst verschieden sein. Manchmal ignorieren sie einander, oft bekampfen sie sich: „A first step in therapy may be getting alters to respect each other. This is especially necessary because they are vicious, cruel alters, evil even to the point that they will threaten suicide in order to murder other alters. (...) A psychiatrist may have to make contracts with such persecutors, getting them to agree that they will not go beyond certain limits. Alters are said to be literal but litigious. They abide by their promises, but the contract must be ironclad; if there is a loophole, an alter will find it and take advantage of it." (Hacking 1998: 28)

Glticklicherweise gibt es auch nettere „alters", die eher wie Schutzgeister wirken. Besonders kurios ist die Arbeitsteilung, die sich bei den Gastselbsten haufig etabliert:

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„Some multiples use their alters to take different jobs. One takes dictation, meekly producing letter after letter, while the host has withdrawn to another place. A woman who wants nothing to have to do with sex has an alter who does it with her husband." (Hacking 1998: 30)

Diese Arbeitsteilung ist besonders praktisch, wenn ein abgespaltenes Selbst die unmoralischen oder kriminellen Aspekte des „Host" monopolisiert, das selbst in volliger Unschuld verbleiben kann. Die Autonomie der Teilselbste ist dabei gelegentlich bis ins Kleinste ausgearbeitet, wenn z.B. jedes Selbst eine andere Handschrift besitzt oder Brillen unterschiedlicher Starken benutzt. Der Psychiater muss sich bei seiner Arbeit zunachst auf die unterstellte Pluralitat der Selbste einlassen, wenn auch die Eigenart mancher Patienten, fur die Begleichung der Arzthonorare zahlungsunfahige Partialselbste verantwortlich zu machen, Grenzen der diesbezuglichen Verstandnisfahigkeit markieren. Trotzdem gehen die Psychiater mit der sie umgebenden Gesellschaft davon aus, dass es sich um pathologische Storungen bei dem jeweils einzelnen von ihnen behandelten Patienten handelt. Die Arzte teilen insofern deren Wirklichkeitsauffassung nicht, selbst wenn sie in ihrer Therapie immer auch wieder versuchen mussen, die verschieden Gastselbste zu identifizieren, so wie das ein Exorzist oder Geisterbanner in anderen Gesellschaft auch tun muss. Immerhin kann man sich fragen, ob es nicht ein Wechselspiel zwischen den Psychiatern und ihren Patienten insofern gibt, als jene zwar nicht an die Pluralitat von Selbsten glauben, wohl aber daran, dass es Patienten gibt, die ernsthaft an das glauben, was diese diesbezuglich zu Protokoll geben. Multiple Personlichkeiten gabe es dann heutzutage nur dort, wo es Psychiater gibt, die davon uberzeugt sind, dass es multiple Personlichkeiten gibt. Die allgemeine Faszination fur solche Phanomene lasst sich aber kaum bestfeiten, wenn sie sich auch in der Regel auf die Dichtung als legitimen Ort ihrer Anerkennung als Wirklichkeit beschranken.4

2. Identifikation und Identitat Die prinzipielle 'Einmaligkeitsunterstellung' fur jeden Menschen fuhrt in normaler Alltagskommunikation dazu, dass man kaum je im Zweifel ist, wer jemand ist. Die 'Quisitas' (sit venia verbo) stellt hier kein Problem dar. Wir sehen eine uns bekannte Person und reden sie mit ihrem Namen an. Die Adressierung erfolgt spontan. Das schlieBt nicht aus, dass wir ansonsten vielleicht relativ wenig von ihr wissen. Einem Lehrer z.B. mogen die hauslichen Verhaltnisse 4

Die Zahl der hier zu nennenden Autoren seit dem 19. Jahrhundert ist Legion. Ich erinnere lediglich an Texte wie „Dr. Jekyll and Mr. Hyde" von Stevenson oder „Come tu mi vuoi" oder „A ciascuno la sua verita" von Pirandello.

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seiner Schtiler ganzlich unbekannt sein. Er weift, dass der hier vor ihm sitzende Schuler Ambrosius Meyer ist. Die Identifikation erfolgt also sicher, obwohl die Identitdt des Adressaten, also das, was er ist, vollig nebulos sein mag. Wir wollen hier unter Identifikation die Operation verstehen, mittels derer kommunikativ Adressierungen vorgenommen werden. Dabei kann die Identitat der adressierten Person mehr oder minder im Dunklen bleiben, im Grenzfall nicht mehr meinen als 'Person uberhaupt', bisweilen aber im Gegenteil sehr prazise Kenntnisunterstellungen iiber die adressierte Person implizieren: „Das ist Anna, Ottos Frau, mit der er seit zwanzig Jahren verheiratet ist". Falls diese Identifikation 'richtig' ist, lost sie selbstredend Erwartungen in Bezug auf Ottos Kenntnisse iiber Anna und umgekehrt aus. Wenn dieser Satz von Egon, Ottos Kollegen, formuliert wird, so braucht er von Anna nicht mehr zu wissen, als eben, dass sie Ottos Frau ist. Anna allerdings wtirden wir unter Umstanden nicht glauben, wenn sie uns erzahlt, sie habe sich drei Stunden mit Egon unterhalten, weil sie ihn fur Otto hielt. Oder gar: sie habe drei Jahre mit Egon zusammengelebt, bevor ihr aufgefallen sei, dass er nicht Otto sei. Im Folgenden nun soil es primar um bestimmte Formen der Identifikation gehen und nur insofern um die Problematik der Identitat, als sie als Referenz fur Identifikation unverzichtbar ist.5 Der Unauslotbarkeit der eigenen oder der fremden Identitat korrespondiert fraglose Identifizierbarkeit. Diese stiitzt sich auf deiktische Eindeutigkeit. Oder um eine Metapher zu wahlen: Das Briefgeheimnis und die Lesbarkeit der Anschrift auf dem Umschlag widersprechen einander nicht. Das, was jemanden identifizierbar macht, kann zwar auch ein Moment seiner Identitat sein, z.B. sein Name, seine Wohnung, seine Narbe usw., aber wenn wir wissen, wer jemand ist, wissen wir deshalb noch nichts dariiber, was und wie er ist. Umgekehrt kann es vorkommen, dass wir zwar viel iiber jemandes Identitat wissen, aber nicht merken, dass diese uns ihrem Wesen nach so weithin vertraute Gestalt unerkannt vor uns sitzt. Im Verhaltnis zu uns selbst gibt es - abgesehen von pathologischen oder mythologischen Ausnahmen dafur keine Parallelen. Wir wissen, wenn wir bei wachem Verstand sind, immer, wer wir sind, selbst wenn wir einen Analytiker aufsuchen mtissten, um zu erfahren, was wir sind.6 Identitat ist bei alien Identifikationen gleichwohl vorausgesetzt, wenn auch als in ihren Einzelheiten Unbekanntes. Sie ist der Verweisungshorizont aller moglicher Identifikationen. In normalen Alltagssituationen fallt eine Unterscheidung zwischen zwei Menschen nur dann nicht schwer, wenn wir permanent Umgang mit ihnen ha5 6

Zu den verschiedenen Konzepten soziologischer IdentitdtstYiQonen verweise ich auf: Hahn 2000:13-115. Zu Einschrankungen dieser allgemeinen Sentenz vgl. das oben iiber multiple Personlichkeiten Ausgefuhrte.

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ben, wir ihrer voll ansichtig sind imd ihre Stimmen kennen. Etwas anderes ist es schon, jemanden zu identifizieren, wenn wir ihn nur kurze Zeit gesehen haben und ihn in einer anderen Umgebung plotzlich wieder treffen oder wenn er lange Zeit von uns getrennt gelebt hat und nun nach Jahren zurtickkehrt. Selbigkeit schlieftt drastische Veranderung keinesfalls aus. Wir gehen gleichsam gegen den Augenschein davon aus, dass diese Frau, die uberhaupt nicht mehr so aussieht, wie diejenige, die mit uns vor vier Jahrzehnten das Abitur bestand, doch noch immer unsere ehemalige Klassenkameradin Helga sein muss, obwohl wir sie nicht wieder erkannt hatten, waren wir auf der StraBe an ihr vorbeigegangen. Aber nun, bei einem Klassentreffen, sind wir gern bereit zu glauben, dass sie es ist, die vor vierzig Jahren durch ihre jugendliche Schonheit uns alien den Kopf verdrehte. Wir wissen eben, dass wir uns alle verandern, und dass das Altern uns physiognomisch unkenntlich macht, wenn wir es nicht in reziproker ununterbrochener Gemeinsamkeit erleben. Dann miissen wir uns an kulturspezifisch variablen Zeichen orientieren, die uns als 'untriigliche' Merkmale dienen. Das konnen gemeinsame Erinnerungen sein, die im Gesprach wiederbelebt werden: „WeiBt Du noch...?". Das konnen auch Charakterztige sein, die sich durchhalten. Vielleicht beugen wir uns auch iiber alte Photos und 'entdecken' Ahnlichkeiten von einst und jetzt. Auf einem Klassentreffen wiirden wir allerdings keinen Ausweis7 verlangen. Falls es aber um die Identifikation von Unbekannten geht, die aus ihrer beanspruchten Identitat Rechte gravierender Art, z.B. Geldzahlungen, ableiten wtirden, entsttinde eventuell sehr wohl ein Bedtirmis, dass uns legitimierende Zeichen prasentiert werden. Die Anspriiche und die Zeichen, auf die sie sich sttitzen konnen, sind selbstredend historisch und interkulturell hochst verschieden. Die Leugnung einer Vaterschaft („Ich war es nicht") muss sich heute mit Gentests konfrontieren lassen. Zu anderen Zeiten waren andere Proben verlangt worden, z.B. Gottesurteile oder Zweikampfe. Vielleicht hatte man sich auch damit begnugt, die evidente Ahnlichkeit zwischen dem prasumptiven Vater und dem problematischen Kind als hinreichend anzusehen, um sozial gultig auf Vaterschaft zu erkennen. Konstant ist die Notwendigkeit von Identifikation als solcher, variabel die Form, die als hinlanglich oder zwingend betrachtet wird. Nun hat man seit der Antike eine gewisse Unsicherheit bei der Identifikation des Vaters nicht ftir vollig aufhebbar gehalten. Es ging dabei aber lediglich um den Vater in seiner Funktion als Genitor, nicht um die Person, die die soziale Rolle des Vaters spielte. Als unter normalen Umstanden fur vollig ausgeschlossen wird hingegen angesehen, dass jemand seinen Ehemann oder seine Ehefrau nicht wieder erkennen konnte. Die Falle, in denen das dennoch ge7

Der Ausweis ist in gewisser Hinsicht der Inbegriff moderner Identifikationsdispositive. Ich verdanke in diesem Kontext wichtige Anregungen dem Trierer Habilitationsvortrag von Cornelia Bohn iiber das Passwesen (verOffentlicht in Bonn 2006).

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schieht, sind eben deshalb so aufschlussreich, weil am SonderMl die normalen Quellen legitimierter Identifikation sichtbar werden.

3. Identifikation durch die Stimme und das Antlitz: Ulrich und seine Familia Der Korper spielt in diesem Kontext zwar nicht allein eine Rolle. Er wird aber in vielen Gesellschaften als hochst relevante Auskunftsquelle fur Identifikation angesehen. Das zumindest teilt die Gegenwart mit dem Mittelalter und der Antike. Bevor ich weiter theoretisiere, mochte ich ein Beispiel zitieren. Es stammt aus den St. Galler Klostergeschichten von Ekkehard IV. Es geht um ein besonders dramatisches Exempel von Identifikation. Es handelt sich um einen Ehemann (sein Name ist Ulrich), der nach langerer Zeit (es sind in unserer Geschichte freilich nur vier Jahre) aus dem Krieg nach Hause zuriickkehrt. Seine Frau Wendilgarth, wie er von hoherem Adel, hat sich in der sicheren Annahme des Todes ihres Garten bereits aus dem weltlichen Leben ins Kloster zuruckgezogen. Der Text schildert das Wiederauftauchen Ulrichs, der keinesfalls, wie allseits vermutet, im Krieg gefallen, sondern lediglich in Gefangenschaft geraten war und nun unter der Menge der Armen verborgen ist, denen Wendilgarth aus Anlass des vermuteten vierjahrigen Todestages ihre Gemahls Almosen spendet: „Und siehe. Ulrich, der Gefangenschaft durch Zufall entronnen, barg sich heimlicherweise unter den anderen Zerlumpten und rief ihr zu, sie m5ge ihm ein Gewand schenken. Doch schalt sie ihn, daB er unversch£mt und allzu dreist bettle, gab ihm aber, wie in Entriistung, doch ein Kleid. Er aber faBte zugleich mit dem Kleid die Hand der Spenderin, zog sie an sich, umarmte sie und ktiBte sie, sie mochte wollen oder nicht. Und als ihn einige schon mit Backenstreichen drohten, strich er mit der Hand die langwallenden Haare in den Nacken zuriick und rief: 'Ich bitte, laBt doch endlich die Schlage - ich habe viel erduldet - und erkennt euren Ulrich wieder!' Da hOrten denn die Ritter verbltifft die Stimme des Herrn, und als sie unter den Haaren das weiland vertraute Antlitz wiedererkannten, begruBten sie ihn mit lautem Zuruf; das Gesinde erhob frohlockendes Geschrei." (Ekkehard: c. 84, ed. Haefele: 172-175)

Den lange Abwesenden erkennt also zunachst weder die Gattin noch der Haushalt. Doch dann folgt die Selbstoffenbarung des Verkannten. Zunachst dadurch, dass er seinen Namen nennt: Erkennt euren Ulrich wieder!. Nun konnte das freilich jeder sagen. Wo kame man hin, wenn jeder hergelaufene pannosus sich als verschollener Graf ausgeben durfte. Mit dieser Anerkennung von Ulrichs Identitat verbinden sich deutlich Ansprtiche, die denjenigen, der sie erhebt, mit einem Schlag vom zerlumpten Bettler zum Herren machen wtirden. Dies ware gewiss die Lage Ulrichs gewesen, wenn er sich ihm Unbekannten hatte ausweisen sollen. Indessen hier handelt es sich um Identifikation durch Wiedererken346

nen. Es sind seine eigenen Leute, denen er sich prasentiert. Die vom Autor als hinlanglich referierten Zeichen sind denn auch die Stimme und das Antlitz. Damit bezieht sich Ekkehard auf eine generelle Annahme, dass man die Menschen an ihrem Gesicht erkennen kann. Es geht allerdings um die Erkennung der puren, typischerweise mit dem Namen ausgedruckten, singularen Existenz, nicht etwa um den Charakter. Denn dessen Erkenntnis aus dem Gesicht ist erheblich problematischer und voraussetzungsvoller. In diesem Sinn des Gesichts als Zeichen fflr physische und metaphysische Singularity ist denn auch die Bemerkung Augustins zu verstehen, auf die uns Peter von Moos hingewiesen hat, namlich dass es wunderbar sei, dass Gott nicht zwei Menschen mit dem gleichen Gesicht geschaffen hat. Dem waren nattirlich zahlreiche Bibelstellen hinzuzufugen, dass der Herr jeden der Seinigen kennt. Wie sollte er auch nicht, wenn alle Haare unseres Hauptes gezahlt sind. Aber auch fur die Menschen ist das Gesicht die primare wechselseitige Identifikationsbasis. In diesem Sinne schreibt Georg Simmel tiber die Ausdrucksbedeutung des Antlitzes: „Man macht sich selten klar, in welchem Umfang auch das Praktische unserer Beziehungen von dem gegenseitigen Kennen abhangt. (...) Das Gesicht aber ist der geometrische Ort aller dieser Erkenntnisse, es ist das Symbol all dessen, was das Individuum als die Voraussetzung seines Lebens mitgebracht hat, in ihm ist abgelagert, was von seiner Vergangenheit in den Grund seines Lebens hinabgestiegen und zu beharrenden Zugen in ihm geworden ist. Indem wir das Gesicht des Menschen in solcher Bedeutung wahrnehmen, kommt, so sehr sie den Zwecken der Praxis dient, in den Verkehr ein uberpraktisches Element: das Gesicht bewirkt, dass der Mensch schon aus seinem Anblick, nicht erst aus seinem Handeln verstanden wird. Das Gesicht, als Ausdrucksorgan betrachtet, ist sozusagen ganz theoretisches Wesen, es handelt nicht, wie die Hand, wie der FuB, wie der ganze KOrper; es tragt nicht das innere oder praktische Verhalten des Menschen, sondern es erzahlt nur von ihm. Die besondere soziologisch folgenreiche Art des 'Kennens\ die das Auge vermittelt, wird dadurch bestimmt, dass das Antlitz das wesentliche Objekt des interindividuellen Sehens ist. Dieses Kennen ist noch etwas anderes als Erkennen. In irgendeinem, freilich sehr schwankendem MaBe wissen wir mit dem ersten Blick auf jemanden, mit wem wir es zu tun haben. (...) Wir konnen vielleicht durchaus nicht sagen, ob er uns klug oder dumm, gutmiitig oder bosartig, temperamentvoll oder schlafrig vorkommt. Alles dies, im gewOhnlichen Sinne Erkennbare vielmehr sind allgemeine Eigenschaften, die er mit unzahligen anderen teilt. Was aber jener erste Anblick seiner uns vermittelt, ist in solches Begriffliches und Ausdruckbares gar nicht aufzulOsen und auszumiinzen - obgleich es immer die Tonart aller spateren Erkenntnisse seiner bleibt - sondern es ist das unmittelbare Ergreifen seiner Individualist, wie seine Erscheinung, zuhochst sein Gesicht es unserem Blick verrat, wofur es prinzipiell belanglos ist, dafi auch hierbei genug Irrtumer und Korrigierbarkeiten vorkommen." (Simmel 1958: 485)

Das, was Simmel als die soziologische Besonderheit des sich unseren Augen prasentierenden Gesichtes eines Menschen unterstreicht, liegt darin: „Es ist der auBerste soziologische Gegensatz zwischen Auge und Ohr: daB dieses uns nur die in die Zeitform gebannte Offenbarung des Menschen bietet, jenes aber auch das Dauernde seines

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Wesens, den Niederschlag seiner Vergangenheit in der substantiellen Form seiner Ziige, so daB wir sozusagen das Nacheinander seines Lebens in einem Zugleich vor uns sehn." (Simmel 1958: 486)

Gerade diese Eigentiimlichkeit der Gesichtsziige, Resonanzflache der gesamten Biografie zu sein, ist aber auch der Grund fur ihre Veranderbarkeit und damit ihre hochst problematische Funktion fur sichere Wiedererkenntnis eines Menschen, dem wir lange nicht begegnet sind. Die uns bekannten Chiffren seiner unverwechselbaren Existenz sind durch wahrend unserer Abwesenheit neu hinzugekommene Ziige iiberschrieben. Daraus resultiert die Irrtumsanfalligkeit der Gesichtsdeutung gerade fur den Fall des Wiedererkennens. Die Stimme hingegen mag eben deshalb, weil sie durch biografische Einflusse in geringerem MaBe tangiert wird, in viel starkerer Weise als Singularitatsmarke fiingieren. Aber andererseits kann man seine Stimme leichter verstellen; sie ist in hoherem MaBe der Selbstkontrolle unterworfen, weil wir uns im normalen interaktiven Geschehen zwar selbst horen, aber nicht sehen konnen. Hinzu kommt, dass wir Worte sukzessiv formulieren, also Zeit fur ihre Produktion haben, zumal wenn uns auch Schweigen als Option zu Verftigung steht, wahrend uns das Gesicht als simultane Vielfalt von deutbaren Beobachtbarkeiten zumindest fur aktuelle Stimmungslagen gerade wegen seiner Unwillkurlichkeit eher verrat.

4. Identifikation im Dunklen: Ruodberts Schnaufen Die Identifikation kann aber bei Ekkehard auch uber ausschlieBlich akustische EigentUmlichkeiten laufen: Ruodbert, ein adliger Feind des Klosters, sucht standig nach Informationen, die dem Kloster als Verschulden und Pflichtverletzung angekreidet werden konnte. Zu diesem Behufe schleicht er sich eines Nachts in St. Gallen ein. Er findet allerdings nichts, was er sich gewiinscht hatte und begibt sich durch das Dormitorium der Briider auf den Abort. „Ekkehard, der allemal Umsichtige, erhob sich vom Lager, ohne zu ahnen, daB es Ruodmann sei. Und da er den Mann alleine traf, wunderte er sich, wer denn von den Briidern so verstohlen jenen Weg gehe, den wir nachts gewohnlich nicht betreten. Bei dem triiben Licht namlich sa6 Ruodmann unerkannt. Einige Zeit war Ekkehard im Zweifel, wer es sei, erkannte dann aber Ruodmann an dem Schnauben der Nase, das er jeweils von sich gab, wenn er erregt war." (Ekkehard: c. 91, ed. Haefele: 188 f.)

Das Schnaufen also verrat die Identitat. Es ist naturlich nicht mit ihr identisch, sondern nur ein Zeichen fur sie. Fur die Identifikation aber reicht sie in diesem Falle hin, und zwar eine 'Identifikation jenes Mannes durch den Namen Ruodberf. 348

5. Identifikation durch die Narbe: Ulrich und seine Frau Wendilgarth Doch kehren wir zuruck zu Ulrich und seiner Frau Wendilgarth! Das, was der familia als Identifikationsbasis hinreicht: Stimme und Gesicht, haben auf die Ehefrau keinesfalls die gleiche Wirkung: „Wendilgarth aber safi betaubt, wie von irgendeinem Kerl beschimpft, und sprach 'Jetzt erst wird mir bewuBt, daB mein Ulrich tot ist, da ich solche Gewalttat von irgendeinem erdulden muB.' Jener aber reichte ihr, um sie aufzurichten die Hand, die durch eine alte wohlbekannte Narbe gezeichnet war, da erwachte sie wie aus einem Traum und sagte: 'Mein Herr, Liebster unter alien Menschen!' 'Sei gegriiBt, Herr', sagte sie, 'sei gegruBt du Holder, zu aller Zeit!' Und unter Kiissen und Umarmung gebot sie: 'Bekleidet euren Herrn, dieweil ihr ihm zur Stunde das Bad bereitet!' Als er aber gekleidet war, sagte er: 'LaB uns zur Kirche gehen!' Und unterwegs, da sprach er: 'Ich bitte dich, wer hat deinem Haupt diesen Schleier aufgesetzt?' Und da er vernahm, der Bischof habe es auf der Synode getan, sagte er still bei sich selber: 'Und ich darf dich nun bloB mit seiner Erlaubnis umarmen.'" (Ekkehard: c. 84, ed. Haefele: 174 f.)

Die Zweifel werden fur Wendilgarth erst durch die Narbe an der Hand ihres Mannes aufgehoben. Es ist also gerade nicht das Personlichste, iiber das ein Mensch verfiigt, Stimme und Antlitz, sondern ein zufalliges auBeres Merkmal, das hier die Entscheidung herbeifiihrt. Ekkehards Erzahlung driickt uberhaupt keine Verwunderung uber diese Sequenz aus, so als schiene auch ihm eine Narbe als extrem konkludent. Er hatte sich ansonsten auf eine aristotelische Tradition beziehen konnen (wenn er sie denn schon hatte kermen konnen), die fur den Menschen den Korper als Individuationsprinzip annimmt. Die Narbe jedenfalls gehort zu dem, was Thomas haec caro et hoc os (je nachdem wie tief die Narbe nun war) ohne Zweifel zur haeceitas Ulrichs gehort. Dabei ist die praktische Frage allerdings nicht mitbedacht, wie leicht es denn einem anderen Menschen sein konnte, sich eine ahnliche Wunde beizubringen, die zwar niemals in Ulrichs Narbe verwandelbar ware, aber nicht einmal von Wendilgarth davon hatte unterschieden werden konnen. Die Identifikation arbeitet mit konventionellen Gewissheiten. Die Tatsache, dass Ulrichs Narbe vielleicht leichter zu falschen ware als sein Gesicht und seine Stimme scheinen weder Wendilgarth noch Ekkehard sonderlich zu beunruhigen.

6. Narbenlose Identifikation: Martin Guerre Immerhin besafl Ulrich ein korperliches Merkmal, das alle Zweifel beseitigt. Die Mediavisten kermen zumindest ein Beispiel, in dem die daheimgebliebene Ehefrau einen vom Krieg zurtickgekehrten Mann falschlich fur ihren Ehemann gehalten hat und den 'Irrtum' erst bemerkt, als der 'richtige' Gatte, Martin Guer349

re, - etliche Jahre spater - wieder auftaucht.8 Dem modernen Leser fallt es gewiss schwer zu glauben, der Ehefrau sei der Betrug nicht aufgefallen. Immerhin hat die soziale Umgebung das zumindest im juristischen Sinne akzeptiert, wohingegen der entlarvte Betriiger hingerichtet wurde. Die Logik folgt dem oben skizzierten Argument: Wir konnen andere falsch identifizieren, niemals aber uns selbst. Deshalb kann man die Ehefrau von Martin Guerre freisprechen, nicht aber den falschen Ehemann. Hatte allerdings Martin Guerre eine Narbe besessen, dann ware es vermutlich auch seiner Frau schwergefallen zu erklaren, warum sie deren Fehlen bei seinem 'Stellvertreter' nicht stutzig gemacht hat.

7. Identifikation durch Werke: Tuotilo und Sintram Die Identifikation tiber Korperliches ist aber auch fur Ekkehard nicht die ausschlieftliche Technik. Er identifiziert in seinem Buch Personen sehr haufig durch zwar ebenfalls nicht unbedingt einzigartige Eigenschaften, jedoch fur einen Charakter oder eine Biografie eher 'wesentlichere': So wird etwa Sintram an seiner unvergleichlichen Kunst zu schreiben, Tuotilo an seiner Meisterschaft als Goldschmied erkannt. Ihr Werk identifiziert sie als einzigartig. So wird ein Evangelienbuch, das Tuotilo geschmtickt und Sintram geschrieben hat, als unvergleichlich gepriesen. Dabei wird der Korper Sintrams zwar auch erw&hnt: Ekkehard spricht von dessen Finger. Aber das Individuierende ist nicht etwas, das man dem Finger ansehen konnte (eine Narbe z.B.), sondern das, was Sintram mit diesem Finger bewerkstelligt. In der Regel finden wir denn auch das Personal von Ekkehards Erzahlung doppelt identifiziert: durch korperliche Eigenheiten und charakterliche Merkwtirdigkeiten, die von heroischer Tugend bis zu Schrulligkeiten und lasterhaften Vorlieben reichen. Gerade die Kombination macht sie zu Gestalten, iiber die sich erzahlen lasst. Wir wissen ohnehin nicht immer, was wahr oder erfunden ist: Letztlich ist jede Identifikation des Autors eine narrative Konstruktion. Aber wir konnen sehr wohl sehen, mit welchen Mitteln er Identifizierbarkeit herstellt. Generell gilt: Die Identifikation kommt nicht tiber die Konfrontation mit der Identitat zu Stande, diese ist ohnehin ineffabel, sondern durch Zeichen, die als mehr oder minder untrugliche, jedenfalls praktisch hinlangliche Verweise gelten. Nicht die Substanz, sondern die Akzidentien tragen die Identifikation. Diese sind typischerweise entweder angeboren oder erworben, permanent sichtbar

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Vgl. Zemon Davies 1963.

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oder verborgen, eindeutig oder vieldeutig, fur jeden oder nur fur bestimmte Personen oder Instanzen lesbar.

8. Die Narbe des Odysseus Viel beruhmter als die Narbe Ulrichs ist selbstredend die Narbe des Odysseus. Die Geschichten weisen aber bemerkenswerte Differenzen auf, vor allem deshalb, weil die rollenspezifische Verteilung der identifikatorischen Requisiten in Ithaka in anderer Weise erfolgt als in St. Gallen. Abstrahiert man von der Tatsache, dass Ekkehard uns zwar moglicherweise ein Marchen auftischt, aber doch so tut als sei es eine Chronik, und wir den homerischen Text schlechthin fur eine Fiktion halten sollen, sieht man zusatzlich einmal davon ab, dass im griechischen (anders als im schweizerischen) Fall die Gotterwelt9 direkt in die Prozesse richtiger und falscher Identifikation eingreift, so lasst sich konstatieren: ZuMchst einmal geht es Penelope nicht anders als Wendilgarth. Penelope unterhalt sich sogar stundenlang mit ihrem Mann, der am Hof ebenfalls als verlumpter Fremdling auftritt, ohne ihn zu erkennen (Homer: 19, 104 ff.). Anders als bei Ulrich entspricht dieses Incognito zunachst aber auch der Absicht des Odysseus. Ihm gelingt es auch, die Identitat, die er glauben machen will, glaubhaft darzustellen, namlich die eines vertrauten Gefahrten des Odysseus, obwohl Penelope ihn tiberaus geschickt ausfragt, um in Erfahrung zu bringen, ob der fremde Gast sich nicht mit fremden Federn schmtickt. Der Leser wird aber durch die Unterhaltung darauf aufmerksam gemacht, dass es viele Erinnerungen gibt, die Odysseus und seine Gefahrten teilen. Eine entsprechende Befragung flihrt deshalb nur zur Identifikation einer Gruppe von Menschen: 'Odysseus und...', nicht aber zur personlichen Identifikation des Helden selbst. Mehr als eine Kollektividentifikation ist aber in dieser Situation auch gar nicht verlangt. Die Identifikation des Odysseus selbst durch die Narbe gelingt bezeichnenderweise der Amme, die sich in alien Einzelheiten der Wunde tiber dem Knie (nicht wie bei Ulrich auf der Hand), also im offentlich unsichtbaren Bereich, zu dem in dieser Form nur Eurykleia Zugang hat) und ihrer Entstehung erinnert (Homer 1961: 19, 390 ff.).10 Die Erinnerung entziindet sich aber nicht optisch: 9

Hier in Gestalt von Pallas Athene: immerhin schwant Telemachos schon nach dem ersten Auftritt der GOttin als Fremdling das Richtige(vgl. Homer: 1, 332). 10 Die Identifikation durch nicht adliges Hausgesinde, die einen privilegierten Zugang zu den „nicht-Offentlichen" Partien des Kftrpers ihres Herren haben, findet sich auch bei Commynes in seiner Beschreibung der Identifikation der Leiche Karls des Kiihnen: Hier sind es der Page und der Leibarzte des Herzogs, die als glaubwiirdige Zeugen dafUr gelten kOnnen, dass der Herzog wirklich gefallen ist: Sie fiingieren sozusagen als wandelnde Totenscheine: „Nous n'eusmes point faict demye journee que nous contrasmes ung messaige, a qui nous feismes bailler ses

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Eurykleia sieht die Narbe gar nicht, da Odysseus absichtlich ins Dunkle rttckt, sondern taktil. Erst als sie Odysseus ganz und leiblich beruhrt, sagt sie: „Es ist der Herr" (Homer: 19, 474 f.). Man stelle sich vor, Penelope hatte gesagt: „Lass mich mal deine Oberschenkel betasten!" Es gibt also Formen der Identifikation, die mit der Relation der reziproken Statusverhaltnisse und mit situationsspezifischen Moglichkeiten des Recherchierens verkniipft sind.11 Vor den Freiern identifiziert sich Odysseus durch die Heldentat. Anders als bei den kunstfertigen Monchen Tuotilo und Sintram in St.Gallen geht es hier um das Spannen seines Bogens, das nur ihm gelingt und schliefllich der Vernichtung der Freier. Allerdings verzichtet auch Homer nicht darauf, das Spannen des Bogens als Kunst vorzufiihren: „Wie ein Kunstler des Leierspiels und Gesanges" geht Odysseus namlich dabei zu Werke. Die Identifikation des Odysseus gegentiber Penelope bildet bekanntlich den Hohepunkt des ganzen Epos. Der ganze dreiundzwanzigste Gesang ist ihr gewidmet. Ahnlich wie Wendilgarth bleibt auch Penelope bis zuletzt skeptisch. Auch hier identifiziert der Held sich durch Erinnerung. Nur er weiB, dass sein Bett nicht verrtickbar ist, sondern aus einem noch mit der Wurzel verankerten Olivenbaum von ihm selbst geschaffen wurde. Diese Erinnerung ist aber ein nur ihm und Penelope bekanntes Geheimnis. Penelope weiB, dass nur der wahre Odysseus es kennen kann. Deshalb stellt sie ihn auf die Probe. Es ist vermutlich auch schon vor der Erfindung der Psychoanalyse nicht schwer gewesen zu erraten, fur welche von keinem Dritten imitierbare Unverwechselbarkeit die Einzigartigkeit des Ehebetts von Odysseus steht. Fur Penelope bedarf es in dieser Situation keiner Narbe, um sich sicher zu sein. Odysseus war nicht Martin Guerre bzw. Penelope war nicht Frau Guerre. lectres, qui contenoient comme le ledict due avoit este" trouve" entre les mors par ung paige ytalian et par son medicin appelle" maistre Louppe, natif de Portingal, lequel certiffioit a monsr de Cran que e'estoit le due son maistre." Hier zitiert nach der Ausgabe de Commynes; ed. Blanchard 2001: V,10, S. 372. Auch bei Karl dem Kuhnen war im Ubrigen der nackte Leichnam nur durch die Narbe sicher identifizierbar, die er sich als Graf von Charolais in der Schlacht von Monthlery 12 Jahre vor seinem Tod zugezogen hatte und die ihm ein Leben lang blieb, wenn auch ebenfalls im offentlich nicht sichtbaren Bereich seiner Korpers. Commynes freilich war Zeuge dieses Vorfalls gewesen. Er hatte also - ware er am 5. Januar 1477 auf dem Schlachtfeld von Nancy immer noch im Gefolge des Herzogs gewesen - die gleiche Rolle des Identifikators der herzoglichen Leiche ubernehmen kOnnen: Nicht nur war er in Monthldry dabei gewesen: „Et ledict conte flit en tres grand dangier et eut plusieurs coups, et entre aultres ung a la gorge d'une espee, dont l'enseigne luy est demouree toute sa vie, par deffault de sa baviere qui luy estoit cheute et avoit este" mal atachee des le matin, et luy avoie veu cheoir." (de Commynes 2001:1,4,116) 11 Ein besonders schones Beispiel hierftir findet sich in „To be or not to be" von Ernst Lubitsch. Dort wagt der SS-Fuhrer Ehrhardt es nicht, dem falschen Professor am Bart zu ziehen, weil er ihn fur einen Freund Hitlers halt. Hatte er es riskiert, ware die falsche Identitat am falschen Bart enthullt worden.

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9. Identifikationsdispositive Odysseus nennt allerdings sofort eine in der griechischen Mythologie nicht eben seltene Ausnahme: „Es miiBte denn ein Gott sein, der kame. Freilich der konnte es leicht, wenn er wollte." (Homer: 23, 185 f.) Den Gottern namlich gelingt es, zumal bei den Griechen, aber nicht nur dort, die Gestalt eines Menschen anzunehmen und so dessen nachste Umgebung zu tauschen. Selbst wenn Amphitryon nur Alkmene bekannte Narben besessen hatte, ware ihr das keine Hilfe gewesen, Zeus zu identifizieren. Gerade die absolute Gleichheit der Gestalt von Zeus und Amphitryon hatte ihr selbstredend auch die beste Entschuldigung gegen sittenstrenge Eifersucht ihres Ehemanns geboten. Zumindest die modernen Dichter gehen freilich davon aus, dass Alkmene zwar nicht zwischen den beiden Amphitryonen, wohl aber den beiden Liebesnachsten zu unterscheiden weiB.12 Der 'Stellvertreter' Martin Guerres hatte in einem solchen Falle trotzdem hingerichtet werden mussen, wenn Gutter sich so etwas gefallen lieBen. Frau Guerre aber hatte man in diesem Falle nicht nur juristisch, sondern auch moralisch wegen erwiesener Unschuld freisprechen mussen. Die Gotter sind oft auch die Autoren extremer Verblendung oder Raserei bei den Menschen, so dass sie ihre eigenen Sohne, Tochter, Mutter oder Vater nicht erkennen. Im spektakularsten tragischen Fall dieser Art, im Mythos des Odipus, wirkt der Fluch Apolls freilich auf eigenttimlich 'realistische' Weise: Die Unidentifizierbarkeit ergibt sich hier dadurch, dass nachstverwandte Menschen schon frilh voneinander getrennt werden und 'aus der Fremde' zuruckkehren. Die Unidentifizierbarkeit ist insofern ein Nebenaspekt von Fremdheit.13 In Gesellschaften, in denen die Mehrzahl aller Menschen einander von Kindesbeinen kennt, sind Fehlidentifikationen dieser Art die extreme Ausnahme. Deshalb sind auch Formen des sich Ausweisenmtissens nur in hochst rudimentarer Weise ausgebildet. Die meisten Menschen sind immobil. Sie brauchen weder Passe, noch Narben, um unterscheidbar zu sein. Je mehr Fremdheit zum Normalfall alltaglicher Existenz wird, desto wichtiger wird entsprechend die Funktion, andere identifizieren zu konnen, und zwar nicht nur als soziale Typen, sondern in ihrer Singularity. Das inkorporierte Gedachtnis der einzelnen Menschen reicht nicht mehr aus zur interindividuellen Identifikation. Sie mussen erganzt

12 Besonders geistreich ist in diesem Kontext natiirlich die Variante von Dietrich Schwanitz. Bei ihm glaubt Alkmene zu Unrecht, Amphitryon nahere sich ihr in der Gestalt des Zeus, was aber der Konstruktion einer Differenz bei der Bewertung der Liebesnachte keinen Abbruch tut. 13 Wie in ganz ahnlicher Weise im Hildebrandslied. Dabei lasse ich in beiden Fallen die psychoanalytisch naheliegende Interpretation auBer Acht, dass hier wie dort die raumliche Feme und die durch sie verursachte Fremdheit lediglich ein Symbol fur eine gerade durch Nahe ausgelOste Form des unerbittlichen Hasses zwischen Vater und Sohn sein kOnnte.

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werden durch Registrierungssysteme, in denen der Mobilitat der Personen die Stabilias Loci der Akten entgegengesetzt wird. Der raumlichen Beweglichkeit anwortet die symbolische Fixierung. Insofern konnte das AusmaB der 'AktenmaBigkeit der Verwaltung' von Personendaten geradezu einen Index ftir 'strukturelle Modernitat' eines Sozialsystems bieten. Georg Simmel hat die Kombination von Mobilitat registrierter Objekte und der Immobilitat ihrer Registrierung am Beispiel der Verpfandbarkeit von Eigentumsrechten an mobilen Gegenstanden illustriert. Zunachst seien nur Immobilien als geeignete Objekte als mit Hypotheken belastbar denkbar, weil man sie eben jederzeit identifizieren und auf sie zugreifen kann. „Nun aber hat das Versicherungsprinzip gerade diejenigen Objekte, denen die Fixierung im Raum absolut fehlt, doch der Hypothezierung zuganglich gemacht, namlich die Schiffe. Denn was an der raumlichen Fixierung fur die Hypothek besonders wichtig ist: die Geeignetheit zu offentlicher Registrierung, das ist bei den Schiffen anderweitig leicht erreichbar." (Simmel 1958: 473)

Was fur die Schiffe gilt, trifft auch auf Menschen zu, wenn sie sich gleichsam symbolisch verdreifachen: Sie kommen dann nicht mehr nur 'in' ihrem Korper vor. Sie mussen sich registrieren lassen und ein Merkmal besitzen, das eine eindeutige und moglichst zeitlich permanente Verknupfung zwischen den jeweiligen Personen und ihrem aktuellen Aufenthalt und dem, was tiber sie registriert ist, zulasst. Diese Dreiheit: Person, Registereintrag und standige Verknupfung zwischen beiden ist die Basis aller moderner Identifizierungsdispositive. Als theoretische Rekonstruktion dieser Entwicklung kann man das von Foucault entwickelte Modell des Panoptismus auffassen (Foucault 1975).14 Es konstruiert die Logik der Macht seit dem 18. Jahrhundert als Vorstellung universaler Uberwachbarkeit. Diese gestattet dann die permanente Identifizierung jedes Einzelnen zu jeder Zeit und an jedem Ort in Bezug auf immer mehr Merkmale. Ftigt man diese identifiziernden Momentaufhahmen fur jeden Menschen in chronologischer Folge zusammen, dann wird idealiter eine biografische Identifikation aller Menschen moglich. Die Voraussetzung fur eine derartige Identifikation durch Uberwachung liegt in den Institutionen, die das Individuum ftir permanente Registrierung aller mit ihm vorgehenden Veranderungen verfugbar machen, mag es sich ihm gezwungen oder freiwillig stellen. Am Anfang der Humanwissenschaften stehen machtgesttitzte Zugriffsmoglichkeiten. Die Entwicklung verscharft sie, insofern das im Kontext der Kontrolle gewachsene Wissen auf die Methoden der Kontrolle zuruckschlagt, sie verfeinert, intensiviert und tiber den Rahmen geschlos14 Siehe und als Kommentar dazu mit weiteren Literaturangaben: Bonn/ Hahn 2000: 123-127.

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sener Anstalten hinaus verallgemeinert, in dem sie ursprtinglich entwickelt und erprobt wurden. In dem MaBe, wie nahezu alle LebensauBerungen von der Sexualitat bis zum beruflichen Erfolg, von der Verdauungsstorung bis zum Seelenheil unter die therapeutische Kompetenz geraten, wird die Kontrolle durch den Expertenblick zur Normalform der Selbstiiberwachung. Dabei wird ein eigentiimlicher Mechanismus wirksam, der zur Ubernahme der Kontrollen ins Innere der Patienten oder Delinquenten fuhrt. Foucault analysiert ihn am Beispiel der Bentham'schen Uberwachungsutopie des Panoptikons. Hier sollen in einem Mauerkreis Einzelzellen erbaut werden, die von einem im Hof errichteten Turm aus standig einsehbar sind, ohne dass die Zelleninsassen sehen konnen, ob dieser besetzt ist oder nicht. Da sie nicht wissen konnen, ob sie beobachtet werden, mussen sie sich stets so verhalten, als ob sie es wurden, selbst wenn der Aussichtsposten tatsachlich leer ist. An die Stelle der auBeren spektakularen Strafrituale tritt so die permanente Uberwachung, die schlieBlich auch wegfallen kann, weil die Fiktion der Uberwachtheit ausreicht, um die Insassen gefugig zu machen. Der Uberwachte iibernimmt die Perspektive des Uberwachenden. Er wtirde sich am Ende nur mit dem identifizieren kftnnen, womit er durch das Uberwachungsdispositiv identifiziert wird. Virtuell wtirde die Differenz zwischen Identifikation als Bestimmung einer Adresse und Identitat als das, was sich hinter der Adresse verbirgt, entfallen. Wie man leicht sieht, stellen diese Uberwachungsmodelle zunachst eigentumliche Omnipotenzphantasien dar. Zur Zeit ihrer Entstehung hatte es zu ihrer Verwirklichung ein Vielfaches von dem biirokratischen Aufwand bedurft, der tatsachlich zur Verfugung stand. Noch unter den Bedingungen des Stasi-Staates der DDR reichte das gesamte Heer der Informellen Mitarbeiter nicht aus, um ein empirisches Panoptikon zu schaffen. Selbst wenn die Stasi wirklich alle Geheimnisse hatte speichern konnen, es hatte ihr an einem System des raschen Zugriffs auf die Daten gefehlt, der die Kenntnis des Geheimen hatte operativ werden lassen. Es fehlte eine wirksame 'retrieval function'. Allerdings ergeben sich mit den neuen elektronischen Medien ganz neue Formen des unbeabsichtigten Hinterlassens und der gezielten Entzifferung von Spuren, die jedes Rumpelstilzchen als hoffhungslos naiv erscheinen lassen. Die Lesbarkeit jeder AuBerung macht die Idee der Geheimhaltung auch nur eines Moments der empirischen Existenz eines Menschen zur Fiktion: Jede Kommunikation im Internet wird zum virtuellen Pfad zur Entschlusselung der Person, die sich unbeobachtet glaubt. „Doch es ist nicht nur das Internet, das dazu beitragt, Daten schnell aufzufinden und zu verknlipfen. Mobiltelefone zeigen den Funkbetreibern bis auf wenige Meter genau die Position eines eingeschalteten Gerates an. (...) Die Daten aller Aufenthaltsorte werden als sogenanntes Bewegungsprofil vom Netzbetreiber langere Zeit gespeichert. Das hilft den ErmittlungsbehOr-

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den schon lange bei der Verbrechensbekampfung und kOnnte theoretisch selbst von Verkehrsgerichten genutzt werden, etwa wenn jemand behauptet, zum Zeitpunkt eines VerkehrsverstoBes nicht am Ort des Geschehens gewesen zu sein. Wie mit Mobiltelefonen lassen sich auch mit Kreditkarten Bewegungs- und Nutzungsprofile erstellen. (...) Eine andere Art von Daten wird mit Hilfe sogenannter Uberwachungskameras gesammelt. Nach britischem Vorbild entwickelt, helfen sie kunftig nicht nur offentliche Platze zu sichern, sondern sind dank modernster Software in der Lage, vollautomatisch Gesichter aus einer Personenmenge herauszulesen. Damit konnen dann Kriminelle identifiziert werden." (Ulfkotte 2000)

Wo wir gehen und stehen, hinterlassen wir also Spuren, als Benutzer von Banken, Telefonen, als Patienten, Kaufer, Verkehrsteilnehmer, Examenskandidaten, Mieter und so weiter. „Werden Informationen aus verschiedenen Quellen zusammengefuhrt, lassen sich durch das sogenannte „Uberschneidungswissen" Einzelpersonen umso leichter wieder identifizieren, je differenzierter die einzelnen Merkmale oder Merkmalskombinationen sind. Zum Uberschneidungswissen aller Datenbanken zahlen etwa Beruf, Familienstand, Zahl der Kinder, Wohnort und Alter. Ein 51 Jahre alter verheirateter Universitatsprofessor mit drei Kindern, der etwa in Aschaffenburg wohnt, laBt sich so mit geringem Aufwand von einem Fachmann auch in anonymen Datenbanken wiederfinden."15 (Ulfkotte 2000)

Auch hier freilich steht zu vermuten, dass sich das „underlife" zu dieser Uberwachung in dem MaBe herausbildet, wie die Methoden bekannt werden, auf die sie sich sttitzt.

10. Die IdentifiRation in der Sphare des Gottlichen Penelope und Wendilgarth hatten es nicht notig gehabt, so unsicheren Identifikatoren wie Narben zu vertrauen, wenn sie auf Polizeiakten hatten zuruckgreifen konnen, wie sie der ungemutlichen Utopie einer total vernetzten Verdatung der Gesellschaft entsprechen. Ihr personliches Gedachtnis hatte durch ein identifizierendes Systemgedachtnis ersetzt werden konnen. Diese Art der jederzeitigen identifizierenden Zugriffsmoglichkeit auf Anwesende und Abwesende hat man aber in vormodernen Gesellschaft nur den Gottern oder im Mittelalter dem allwissenden Gott zugeschrieben. Gott hat es selbstredend leicht, jeden einzelnen Menschen zu identifizieren. Wie bereits erwahnt, sind alle Haare unseres Hauptes gezahlt. Die entscheidende 15 Verglichen mit diesen neuen Techniken der Datenerhebung und ihres Wiederfindens sind die alteren Verfahren zur Liiftung des Geheimnisses der Identitat von Personen, die sich auf die Lekture der Fingerabdrucke oder der Handschrift oder die Identifikation von Passbildern stutzen, lediglich als (freilich nach wie vor benutzte) Vorreiter anzusehen. Vgl. hierzu: Stingelin 1988: 181-187 und Hahn 1993: 201-217.

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Identifikation jedes einzelnen von uns erfolgt aber liber unsere Taten. Und als solche gelten mindestens seit dem 12. Jahrhundert nicht nur unsere auBeren Akte, sondern auch unsere Gedanken, unsere heimlichsten Empfindungen und unsere Motive. Diese alle sind - das ist die beruhmte Schriftmetapher - in einem Buch aufgezeichnet. Die Moglichkeit angesichts der uns dort haarklein vorgefuhrten Gesamtbiografie uns etwa herauszureden mit der Ausflucht, hier mtisse eine Verwechslung vorliegen, ist nicht vorgesehen. Hier bedarf es keiner Narben mehr, keiner Stimmerkennung oder physiognomischer Expertise: Identitat und Identifikation werden identisch. Vor Gott gilt allemal und nicht erst beim Jungsten Gericht: „Quidquid latet apparebit"16. Mit der umgekehrten Identifikation Gottes durch die Menschen verhalt es sich selbstredend schwieriger. Wie sollen wir Gott erkennen, den wir nie gesehen, noch gehort haben? Auf diese Problematik verweist Jesus im Johannesevangelium auch ausdrucklich: Wenn man jemandes Gesicht nicht gesehen und seine Stimme nicht gehort hat, dann kann Identifikation nur tiber Zeugnis und Taten erfolgen, an denen man dann erkennen kann, ob ihnen zu glauben ist: „Diese Werke, die ich vollbringe, legen Zeugnis dafiir ab, daB mich der Vater gesandt hat. Auch der Vater selbst, der mich gesandt hat, hat uber mich Zeugnis abgelegt. Ihr habt weder seine Stimme gehort noch seine Gestalt je gesehen, und auch sein Wort bleibt nicht in euch, weil ihr dem nicht glaubt, den er gesandt hat." (Joh. 5, 36-38)

Den Menschen ist aber abverlangt, dass sie den Herrn anerkennen, obwohl sie ihn nicht gesehen und nicht gehort haben: Nicht vox, sondern verbum soil zahlen. Nicht die Sinne, sondern der Glaube soil reichen, um in der irdischen Gestalt des Menschen Jesu den gottlichen Menschensohn zu erkennen. Immerhin gibt es in der Bibel einige hochst bemerkenswerte Stellen, in denen es um die Identifikation des auferstandenen Christus geht, die mit Identifikationsressourcen arbeiten, wie wir sie auch in den oben bereits behandelten antiken und mittelalterlichen Quellen vorfinden. Zunachst ist der Auferstandene der Maria aus Magdala erschienen. Sie halt ihn aber fur einen Gartner, und obwohl er mit ihr bereits geredet hat, erkundigt sie sich noch nach dem Verbleib des nicht auffmdbaren Leichnams Jesu. Erst als er sie beim Namen nennt erkennt sie ihn. Einen offenbaren Beruhrungswunsch lehnt er aber ab: „Ruhr mich nicht an." (vgl. Joh. 20, 17).17 Den anderen Aposteln stellt sie aber die optische Identifikation an den Beginn ihrer Verkundigung. Nur weil sie ihn gesehen hat, kann das, was sie nun mitteilt, als Botschaft Jesu gelten: „Maria von Magdala ging zu den Jungern und verkundete ihnen: Ich 16 Was verborgen ist, wird offenbar werden. 17 In der Neuen Jerusalemer Bibel, aus der hier sonst zitiert wird, heiBt es: „Halte mich nicht fest".

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habe den Herren gesehen. Und sie richtete aus, was er ihr gesagt hatte." (Joh. 20, 18). Die dann folgende Erscheinung im Kreis der Jtinger bei geschlossenen Turen hebt wiederum auf die Kombination von Sehen und Horen ab: „Jesus kam, trat in die Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch." (Joh. 20, 19). Sie horen aber nicht nur seine Worte und sehen sein Gesicht. Als besonders intensive Form der Identifikation verweist Jesus auf seine Wundmale: „Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hande und seine Seite. Da freuten sich die Junger, daB sie den Herren sahen." (Joh. 20, 20) Die Identifikationssequenz wird nun intensiviert. Der bei dieser Erscheinung nicht anwesende Thomas wird von den ubrigen informiert. „Vidimus Dominum". Er aber verhalt sich ahnlich renitent wie Penelope und Wendilgarth: „Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht die Male der Nagel an seinen Handen sehe und wenn ich meinen Finger nicht in die Male der Nagel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht." (Joh. 20, 25)

Nur die Unglaubigkeit des Apostels ermoglicht dann die finale Inszenierung der Selbstidentifikation des Herrn durch seine Narben: Nicht nur h6rt Thomas den Herrn, nicht nur spricht auch er selbst mit ihm, nicht nur sieht er seine Wundmale, er darf sie auch fiihlen: „Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger aus - hier sind meine Hande! Streck deine Hand aus und leg sie an meine Seite, und sei nicht unglaubig, sondern glaubig." (Joh. 20,26).

Die drei zentralen identifikatorischen Sinne: Gesicht, Gehor und Tastsinn fuhren nun dazu, dass Thomas nicht nur den vor ihm Stehenden als Jesus identifiziert. Er weiB nun nicht nur, wer vor ihm steht, sondern auch welchen Wesens dieser Jesus ist, obwohl sich das nicht den Sinnen erschlieBt. In dem Ausruf des Thomas „Mein Herr und mein Gott" (Joh. 20, 28) wird Jesus in seiner gottlichen Identitat identifiziert. Gleichzeitig wird aber deutlich ausgesprochen, dass in Zukunft solche Identifikation nicht mehr moglich sein wird. Die spateren Christen kCnnen sich nicht mehr auf ihre Wahrnehmung sttitzen, sie mtissen glauben. An die Stelle des Sehens, Horens, Ftihlens und der Erinnerung an eigene Sinneserlebnisse tritt die Kommunikation mittels Predigt und Schrift: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben." (Joh. 20, 29). Das Kapitel endet mit dem Loblied auf Geschriebenes. Das Dokument verweist zwar immer noch auf die Sinne. Aber es sind vergangene Erlebnisse, an die sich kein heute Lebender selbst erinnern kann. Wir glauben dann, weil andere es glauben. Und von einem bestimmten Punkte an, wagt niemand mehr zu fragen, was einer Identitatsannahme wirklich zu Grunde liegt.

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Schon die Frage ware ein Sakrileg. Das gilt vor allem dann, wenn sich die Herrscher ausweisen miissten: „Keiner von den Jiingern wagte ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wuBten, daB es der Herr war." (Joh. 21, 12). Das Vertrauen in die Richtigkeit einer Identifikation verwandelt sich vom Personvertrauen in Systemvertrauen.

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Moos, Peter von (2004): Einleitung. Personliche Identitat und Identifikation vor der Moderne. Zum Wechselspiel von sozialer Zuschreibung und Selbstbeschreibung. In: Ders. (Hrsg.): Unverwechselbarkeit. Personliche Identitat und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Koln/Weimar: Bohlau, 1-42. Thomas von Aquin: De unitate intellectus contra Averroistas. Lat.-dt. Ubersetzung, Einfuhrung und Erlauterungen von W.-U. Klunker. Stuttgart 1987: Verlag freies Geistesleben. Thomas von Aquin: Summa theologiae. 3. Band. Salzburg/Leipzig 1939: Anton Pustet. Simmel, Georg (1958): Exkurs tiber die Soziologie der Sinne. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen tiber die Formen der Vergesellschaftung. 4. Aufl. (1. Aufl. 1906) Berlin: Duncker und Humblot, 483-493. Stingelin, Martin (1988): En face et en profil. Der identifizierende Blick von Polizei und Psychiatric In: Sprengel Museum Hannover (Hrsg.): Fotovision, Projekt Fotografie nach 150 Jahren. Bearbeitet von Bernd Busch, Udo Liebelt und Werner Oder. Hannover: Sprengel-Museum, 181-187. Ulfkotte, Udo (2000): „Nie war der Mensch so glasern wie heute. Kreditkarten, Mobiltelefone und Internet-Surfen hinterlassen lange Datenspuren". In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.10.2000. Nr.237. 8. Zemon Davies, Natalie (1963): The Return of Martin Guerre. Cambridge: Harvard U.P.

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Zu den Autoriimen imd Autoren

Hannelore Bublitz, geb. 1947, Professorln fiir Soziologie und Sozialphilosophie an der Universitat Paderborn. Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte: Poststrukturalistische Gesellschafts- und Geschlechtertheorie, Technologien des Subjekts, des Korpers und des Geschlechts, Technischmediale Formen der Vergesellschaftung und Okonomien der Massenkultur, Diskurstheorie und sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Ausgewahlte Veroffentlichungen: In der Zerstreuung organisiert. Paradoxien und Phantasmen der Massenkultur. Bielefeld: transcript 2005; Diskurs. Bielefeld: transcript 2003; Judith Butler zur Einflihrung. Hamburg: Junius 2002. Giinter Burkart, geb. 1950, Dr. phil., Professor fur Soziologie an der Universitat Luneburg. Arbeitsgebiete: Familie und Paarbeziehungen, Kultursoziologie, soziologische Theorie, qualitative Methoden, Individualisierung und Selbstthematisierung, Mobiltelefon, Soziologie des Korpers und der Emotionen. Ausgewahlte Veroffentlichungen: Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004 (Hrsg., zusammen mit Gunter Runkel); Selbstreflexion und Familienkommunikation. Die Kultur virtuoser Selbstthematisierung als Basis der Modernisierung von Familien. Familiendynamik 29, 2004; Lebenszeiten. Erkundungen zur Soziologie der Generationen. Martin Kohli zum 60. Geburtstag. Opladen: Leske + Budrich 2002 (Hrsg., zusammen mit Jtirgen Wolf). Undine Eberlein, geb. 1959, Dr. phil, Dozentin fur Philosophic in der Erwachsenenbildung und an der Fernuniversitat Hagen. Arbeitsgebiete: Sozialphilosophie der Moderne, Individualisierung und Selbstthematisierung, Leibphilosophie und Genderforschung. Ausgewahlte Veroffentlichungen: Einzigartigkeit. Das romantische Individualitatskonzept der Moderne, Frankfurt am Main: Campus 2000; Vom Eigensinn der Schonheit. Schonheit in Bewegung (zusammen mit der Fotografin Karen Seggelke, im Erscheinen). Melanie Frohlich, geb. 1978, Magister Angewandte Kulturwissenschaften, Universitat Luneburg. 2004 Griindungsmitglied des Kulturwissenschaftlichen Instituts fur Europaforschung (KIE) www.europaforschung.org. Seit

2005 Stipendiatin im Lektorenprogramm der Robert Bosch Stiftung. Lektorin fur 'Deutsche Sprache und Literatur' in Oradea, Rumanien an der Universitatea din Oradea und der Universitatea Cre§tina Partium. Arbeitsgebiete: Gegenwartsliteratur; Transkulturelle Literatur, Erzahltheorie und -analyse, Selbstthematisierung, Identitatsbildungsprozesse. Ausgewahlte Veroffentlichungen: Erzahlen aus dem Bruch - neue Stimmen deutscher Gegenwartsliteratur. In: Elize Bisanz (Hrsg.): Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugange zu symbolischen Formationen der pOstWestlichen Identitat in Deutschland. Munster: LIT 2005, 25-42; Komplexe Prozesse des Weiter-, Um- und Widerschreibens am Beispiel von Terezia Moras Roman „Alle Tage" (2004); Eine kulturwissenschaftliche Analyse gegenwartigen Erzahlens. In: TRANS. Internet-Zeitschrift fur Kulturwissenschaften. No. 16/2005. Online im Internet: URL: http://www.inst.at/trans/16Nr/05_3/froehlich 16 .htm. Alois Hahn, geb. 1941, Dr. phil., seit 1974 Professor fur Soziologie an der Universitat Trier. Arbeitsgebiete: Identitatstheorien, Soziologie der Religion, der Gesundheit und der Familie, Soziologie von Inklusion und Exklusion. Ausgewahlte Veroffentlichungen: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Gestandnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987 (mit Volker Kapp); Die ersten Jahre junger Ehen. Verstandigung durch Illusionen?, Frankfurt am Main: Campus 1989 (mit Roland Eckert und Marianne Wolf); Krankheit und Gesellschaft. Zur Bedeutung von Krankheitsbildern und Gesundheitsvorstellungen fur die Pravention. Konstanz: UVK 1999 (mit Willy H. Eirmbter, Claudia Hennes, Riidiger Jacob und Frank Lettke); Identitat und Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999 (mit Herbert Willems); Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsatze zur Kultursoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000. Marlene Heidel, geb. 1979, Magister Angewandte Kulturwissenschaften, Mitarbeiterin im Kulturwissenschaftlichen Institut ftir Europaforschung und im Institut fur Sozialwissenschaften an der Universitat Luneburg. Arbeitsgebiete: Kultursemiotik, Kulturtheorie, zeitgenossische Kunst. Veroffentlichung: Die 'Neue Leipziger Schule' und der Kontext ihrer Farbauflrage. In: Elize Bisanz (Hrsg.): Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugange zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identitat in Deutschland. Munster: LIT 2005, 167-181. Holger Herma, geb. 1964, Dipl.-Soz.. Bis 2005 wiss. Mitarbeiter im Projekt 'Grenzen der Individualisierung in Paarbeziehungen' des SFB 536 an der

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Jan Dietrich Reinhardt, geb. 1972, Dr. phil. im Fach Soziologie, Forschungsprogrammleiter der Schweizer Paraplegiker Forschung im Bereich 'Human Functioning Science - Systems and Policy Research' am Guido Zach Institut in Nottwil. Arbeitsgebiete: Medizinsoziologie, Kultursoziologie, Mediensoziologie, Identitatstheorie, Soziologie der Behinderung. Ausgewahlte Publikationen: Alkohol und soziale Kontrolle. Gedanken zu einer Soziologie des Alkoholismus. Wiirzburg: Ergon 2005; Massenmedien als Gedachtnis- und Erinnerungsgeneratoren. In: Patrick Rossler/ Friedrich Krotz (Hrsg.): Mythen der Mediengesellschaft. The Media Society and its Myths. Konstanz: UVK 2005, 93-112 (mit Michael Jackel); Identitat, Kommunikation und Massenmedien. Wiirzburg: Ergon (im Druck). Carl Sasse, geb. 1969, Magister Angewandte Kulturwissenschaften, Promotionsstudent an der Universitat Liineburg. Arbeitsgebiet: Die neuen Werte in der Arbeitswelt. Von der Pflichtergebenheit zur Selbstverwirklichung. Markus Schroer, geb. 1964, Dr. phil., Privatdozent fur Soziologie an der Technischen Universitat Darmstadt und Heisenberg-Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Arbeitsgebiete: Soziologische Theorie, Kultursoziologie, Stadt- und Architektursoziologie, Filmsoziologie, Soziologie der Politik, Soziologie der Aufmerksamkeit, Soziologie des Korpers und des Raums, (Post-)Moderne, Individualisierung. Ausgewahlte Veroffentlichungen: Das Individuum der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001; Soziologie des Korpers. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 (Hrsg.); Raume, Orte, Grenzen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. Jeffrey Stepnisky, Ph.D., University of Maryland. Assistant Professor fur Soziologie, Wilfrid Laurier University, Kanada. Arbeitsgebiete: Sozialpsychologie, soziologische Theorie, Soziologie der Psychiatrie, Soziologie des Gedachtnises, Konsumkultur. Tatigkeit als leitender Redakteur fur George Ritzers Encyclopedia of Social Theory (2005) und ftir das Journal of Consumer Culture. Veroffentlichungen: Global Memory and the Rhythm of Life. In: American Behavioral Scientist. Vol. 48. Nr. 10, 1383-1402 (2005), The Structure of Narrative and the Narrative Structure of Life (mit Leendert Mos). In: Challenges to Theoretical Psychology, Koautor zahlreicher Artikel (zusammen mit George Ritzer) zur Konsumkultur. Bettina Volter, geb. 1964, Dr. phil., Politikwissenschaftlerin, Soziologin und system. Familientherapeutin. Freiberuflich tatig in Lehre sowie systemischer Beratung/Therapie und Forschungssupervision. Arbeitsgebiete: Familie und

Generationenbeziehungen (u.a. in Nachfolge des NS und der DDR), qualitative Methoden, Diskursanalyse, Selbstthematisierung, 'Medien-Diskurse, Medien-Biografien und Medien-Kommunikationen in Familien und in der Familienberatung' sowie Theater in der Community. Ausgewahlte Veroffentlichungen: Judentum und Kommunismus. Deutsche Familiengeschichten in drei Generationen. Opladen: Leske + Budrich 2003; Biographieforschung im Diskurs. Wiesbaden: VS 2005 (Hrsg. zusammen mit Bettina Dausien/ Helma Lutz/ Gabriele Rosenthal), darin: Subjekt-Positionen. Foucault und die Biographieforschung (mit Thomas Schafer); Rekonstruktive Methoden als Prozessbegleiter. Anleitung zum biografischen Arbeiten in einer Organisation der politischen Jugendarbeit. In: Cornelia Giebeler/ Wolfram Fischer/ Martina Goblirsch/ Ingrid Miethe/ Gerhard Riemann (Hrsg.): Fallverstehen und Fallstudien. Opladen: Barbara Budrich 2006. Vanessa Vivian Watkins, geb. 1979, Magister Angewandte Kulturwissenschaften, Universitat Ltineburg, ehemalige Stipendiatin der Friedrich-EbertStiftung. Seit Okt. 2005 Projektmanagerin fur internationale Forschung bei Z_punkt GmbH, einem Think Tank ftir strategische Fragen in Essen. Arbeitsgebiete: Subjektivierung von Arbeit in kreativen Berufen, Konstruktion von Mannlichkeit, Innovations- und Zukunftsforschung. Ausgewahlte Veroffentlichungen: Der Cyberspace als Spielwiese der Geschlechterkonstruktion. In: Bettina Boeckle/ Michael Ruf (Hrsg.): Eine Frage des Geschlechts. Ein Gender-Reader. Wiesbaden: VS 2004; Ostalgieshows. Erinnerungskonzepte der Massenmedien. In: Elize Bisanz: Diskursive Kulturwissenschaft. Analytische Zugange zu symbolischen Formationen der pOst-Westlichen Identitat in Deutschland. Hamburg: LIT 2005, 77-87. Herbert Willems, geb. 1956, Dr. phil., M.A. Soziologie, Dipl. Pad., Professor ftir Soziologie an der Justus-Liebig-Universitat Gieflen. Arbeitsgebiete: Modernisierung, Massenmedien, Werbung, Interaktion, Geschlechter, allgemeine soziologische Theorie. Ausgewahlte Veroffentlichungen: Psychotherapie und Gesellschaft. Voraussetzungen, Strukturen und Funktionen von Individual- und Gruppentherapien. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994; Goffmans qualitative Sozialforschung. Ein Vergleich mit Konversationsanalyse und Strukturaler Hermeneutik. In: Zeitschrift flir Soziologie 25. 6, 438-458 (1996); Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, Identitat und Moderne (Hrsg., zusammen mit Alois Hahn). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999; Theatralitat der Werbung (zusammen mit York Kautt). Berlin: de Gryter2003.

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