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Tania Douglas
Die Ballonfahrerin des Königs
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Leseprobe aus:
Tania Douglas
Die Ballonfahrerin des Königs
Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.
Copyright © 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
1. K APITEL
I
Floréal, Jahr II Mai 1794
M
arie-Provence’ Schritte hallten durch die prächtig getäfelten Räume des Schlosses. Sie hatte sich umgezogen, und die hohe Perücke drückte auf ihren Scheitel. Es war schon dunkel; das flackernde Licht der Öllampe in ihrer Hand spiegelte sich in der glatten Seide ihrer Schuhe. Während sie an den Zimmern vorbeilief, nahm sie das Rascheln von Kleidern und gedämpfte Stimmen hinter den Türen wahr. Irgendjemand pfiff, eine Frau rief mit hochmütiger Stimme einen Befehl. Vor einem der Räume blieb Marie-Provence stehen. Sie zögerte anzuklopfen und begnügte sich dann damit, leise an der Tür zu kratzen. Als niemand antwortete, drückte sie die Türklinke hinunter. Sie steckte den Kopf durch den Türspalt und trat ein, vorsichtig darauf bedacht, das Parkett nicht knarren zu lassen. Der Raum war zwar nur von mittlerer Größe, doch die Decke aufwendig mit Stuckelementen verziert. Nach ein paar Schritten erreichte der Lichtkreis ihrer Lampe eine Matratze auf dem Boden. Daneben befanden sich ein Becher, ein Krug, der Stummel einer Kerze auf einem Teller, eine zusammengeknüllte Decke und eine Bibel. Die Gestalt auf der Matratze hatte ihr den Rücken zugedreht und rührte sich nicht. Marie-Provence beugte sich über sie, bis sie die unregelmäßigen Atemzüge des Mannes vernahm. Sie stellte ihre Lampe ab und griff nach der Decke, um sie über den Schlafenden zu legen. Erst da entdeckte sie das Seil, das sich eng um die Knöchel des Ruhenden wand. Sie zog scharf die Luft ein. Hastig griff sie zu ihrer Lampe und hielt sie hoch – tatsächlich: auch die Hände waren gefesselt. Der Schlafende gab einen erstickten 15
Laut von sich, warf sich von einer Seite auf die andere, ohne die Augen zu öffnen, und die Decke glitt erneut zu Boden. «Geknebelt und gefesselt wie ein Schwerverbrecher», flüsterte Marie-Provence ungläubig. Erneut griff sie zur Decke und breitete sie liebevoll über den Schlafenden aus. Dann entzündete sie noch den Docht des Kerzenstummels und stellte den Teller etwas abseits, ehe sie den Raum verließ. Über eine kleine spiralförmige Treppe, die eigentlich den Dienstboten reserviert war, erreichte sie das Erdgeschoss. Hier waberten bereits die schwachen Düfte, die verrieten, dass ein Stockwerk tiefer das Abendessen vorbereitet wurde. In Gedanken lief Marie-Provence den Weg zurück, den sie gerade gegangen war, hinab in das Kellergeschoss, in den Raum mit den gebrannten Fliesen, zu der kleinen Tür. Sie überprüfte jedes Detail in ihrer Erinnerung, jeden Riegel und jeden ihrer Schritte, bis sie wusste, dass ihr kein Fehler unterlaufen war. Nein, sie hatte alles getan, um sich und die anderen davor zu bewahren, entdeckt zu werden. Wenn das Schicksal es weiterhin gut mit ihnen meinte, würde das Schloss von Maisons, geplündert und vergessen von den revolutionären Horden, auch heute wieder die Menschen schützen, die dem nahen Paris und der Guillotine entflohen waren und in ihm verborgen lebten. Beruhigt verließ sie das Treppenhaus. Kurz darauf betrat sie die Kapelle. Der Raum war von einem einzigen Öllämpchen erhellt. Die feingliedrige Gestalt des abbé d’If wartete bereits auf der einen Seite des improvisierten Beichtstuhls auf sie. Selbst bei der dürftigen Beleuchtung wirkte die Soutane des Geistlichen abgeschabt. Marie-Provence bedeckte den Ausschnitt ihres schimmernden Seidenkleides mit einem Spitzentuch. Sie kniete auf der anderen Seite des groben Holzgitters auf einer Kiste nieder. «Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und Seiner Barmherzigkeit», empfing sie der Priester. «Amen», murmelte Marie-Provence. 16
«Schön, dass du gekommen bist, ma fille. Liegt dir etwas auf dem Herzen, Tochter?» «Vater, ich habe gesündigt, denn mein Herz findet keine Ruhe.» Der Pfarrer atmete hörbar ein und aus. «Du warst wieder dort?», fragte er. «Ja, mon père. Ich habe am Tor gestanden, und kaum fuhr er an mir vorbei, fühlte ich mich erfüllt von Stärke und Entschlossenheit.» Der abbé d’If schüttelte den Kopf. «Gib acht, ma fille. Du bist auf dem besten Wege, dich selber zu täuschen. Rache gebärt weder Stärke noch Entschlossenheit, sondern Missgunst und Gewalt.» «Und das Kind?», fragte Marie-Provence. «Zeugt es etwa von christlicher Menschenliebe, es einfach zu vergessen?» Ein Geräusch draußen im Park ließ sie kurz innehalten und lauschen. Auch der abbé d’If drehte den Kopf in dieselbe Richtung. Sie schwiegen angespannt. Nach ein paar Sekunden nahm der Priester das Gespräch wieder auf. «Der Junge ist nicht vergessen. Ich bete täglich für ihn.» «Mir genügt Beten nicht», entgegnete Marie-Provence. «Ich möchte, dass du in dich gehst. Bist du dir im tiefsten Grunde deines Selbst ganz sicher, dass es nicht Stolz und Vermessenheit sind, die dich lenken? Würdest du dem Jungen auch helfen wollen, wenn seine Eltern Bauern gewesen wären?» Marie-Provence schloss die Augen und legte die gefalteten Hände an die Stirn. Blondes Haar, das immer etwas unordentlich war. Blaue Augen und eine klebrige kleine Hand, die sich vertrauensvoll in die ihre schob. Eine klare hohe Jungenstimme. Marie, ich habe Maman gesagt, dass ich dich später zum Kommandanten meiner Leibgarde machen werde! Ihr Lachen, das ihr sofort eine Zurechtweisung eingebracht hatte. Lach nicht! Knie dich hin! Aber warum denn? 17
Ich muss dir mein Schwert umbinden. Sie hatte sich um ein ernstes Gesicht bemüht und war auf dem feuchten Kies der Parkallee in die Knie gegangen. Sofort hatte der Vierjährige sich an ihrem Seidenkleid zu schaffen gemacht. So! Ein zufriedenes Kindergesicht. Jetzt bist du verpflichtet, mich zu beschützen, dein Leben lang. Und du darfst mich nie, nie mehr allein lassen! Zwei kleine Arme, die sich um ihren Hals legten und sie drückten, bis sie lachend um Gnade flehte. «Ich sah ihn aufwachsen, mon père», sagte Marie-Provence sanft. «Er ist der kleine Bruder, den ich nie hatte. Und das letzte bisschen Familie, das mir bleibt.» «Du hast noch deine Tante und deinen Onkel.» «Das ist richtig. Doch sie sind versorgt. Keiner von ihnen braucht mich so wie er.» «Bist du dir da so sicher, ma fille? Ist dir eigentlich bewusst, wie krank dein Onkel ist?» Marie-Provence senkte den Kopf. «Ihm zu helfen, steht nicht in meiner Macht.» «Dem Jungen aber schon?» Marie-Provence legte eine Hand auf die Tasche ihres Kleides. Der Ausschnitt aus dem Journal de Paris knisterte leise als Antwort. Erregung und Hoffnung veränderten ihre Stimme: «Dem Jungen vielleicht schon. So Gott mir hilft.»
I «He, citoyenne, wie wär’s mit einem Pfirsich?» Marie-Provence sah sich nach der Stimme um. Ob sie sich jemals daran gewöhnen würde, als Bürgerin angesprochen zu werden? Die von der Revolution aufgenötigte Anrede stieß ihr noch immer auf. Hinter ihr stand eine verhüllte Gestalt, die ihr verstohlen eine samtige Frucht hinhielt. Marie-Provence dachte an den gestrigen Abend und ihren am Boden gefesselten Onkel. Wie gerne sie dem Kranken eine dieser Köstlichkeiten aus Paris mitgebracht hätte! 18
«Süß und saftig, citoyenne! Wenn du nicht mit Papier zahlst, sondern mit Kupfermünzen, gehört er dir», murmelte die Schwarzmarkthändlerin. «Nimm gleich zwei, dann kannst du einen deinem Liebsten schenken. Der schaut aus, als würde er süße Früchte nicht verachten!» «Wem?», fragte Marie-Provence verwundert. «Na, dem Kerl da, der dich keinen Moment aus den Augen lässt!», meinte die Obstverkäuferin mit einem Nicken. Marie-Provence drehte sich zur Seite und entdeckte einen hochgewachsenen Mann, der ein paar Schritte abseits im Schatten einer Toreinfahrt stand. Markante Züge, gelockte Haare, die die Ohren einen Daumenbreit bedeckten. Er hielt etwas in der Hand – ein Schreibheft oder ein Buch, in dem er eifrig herumkritzelte. Der Mann bewegte sich nicht, auch nicht, als ihre Blicke sich trafen. Ein Kribbeln überzog ihre Haut. Ein Blick zur Kirchturmuhr sagte ihr, dass sie gerade noch fünf Minuten Zeit hatte. «Na, was ist nun mit meinen Pfirsichen?», fragte die Obstverkäuferin. «Ein anderes Mal vielleicht», antwortete Marie-Provence, schob sich an der Frau vorbei und überquerte ohne auffällige Hast den kleinen Platz. Als sie an der nächsten Straßenecke zurückblickte, war der Mann verschwunden. Erleichtert bog Marie-Provence in eine belebte Gasse ein. Noch zwei Straßen, und sie würde ihr Ziel erreicht haben. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass man ihr auf die Spur gekommen war, mahnte sie sich, während sie sich einen Weg durch den trägen Fluss der Menschen bahnte. Dennoch war sie beunruhigt, und ihr Blick suchte immer wieder die Umgebung ab. Als sie den Mann zum zweiten Mal erblickte, schoss ihr Angst durch die Glieder. Triumph blitzte im Gesicht des Mannes auf, als sie sich über die Köpfe der Menschen hinweg ansahen. Marie-Provence wechselte abrupt die Richtung und beschleunigte ihren Schritt. Die île de la Cité war ein im Laufe der Jahrhunderte gewachsenes Durcheinander von engen, verwinkelten Gassen 19
und in die Höhe geschossenen Häusern. In den Sträßchen taten sich immer wieder Öffnungen und Durchlässe auf, sie stanken nach Moder und Fäkalien. Eine Veilchenverkäuferin keifte verärgert, als Marie-Provence sie anrempelte, und im letzten Augenblick wich Marie-Provence dem ausscherenden Wagen eines Lumpensammlers aus. Sie hastete weiter, fiel in einen schnellen Trab, während Beschimpfungen auf sie niederprasselten. Sie verbot es sich, ihrer Angst nachzugeben und einfach draufloszurennen. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Der Termin in der maison de la couche war zu wichtig, die Gelegenheit, die sich ihr heute bot, zu einmalig, um sie durch unüberlegtes Handeln zu verspielen. An einer Kreuzung hielt sie außer Atem an. Es schlug Viertel nach zehn – sie kam zu spät! Als sie aufsah und den Mann erblickte, vergaß sie ihre Vorsätze und lief los. Kurze Zeit später stand sie auf einem großen, sonnendurchfluteten Platz. Links vor ihr schoss jäh der ehrfurchtgebietende Bau von Notre-Dame in den Himmel. Sie hatte es fast geschafft. Doch im nächsten Augenblick schreckte sie entsetzt zurück und starrte ungläubig aufs Pflaster. Dutzende von abgetrennten Köpfen lagen zu ihren Füßen. Da ertönte ein Warnruf von oben. Ein steinerner Kopf schoss an Marie-Provence vorbei und schlug neben ihr auf dem Pflaster auf, wo er in tausend Splitter zerbarst. «He, pass doch auf, citoyenne! Deiner ist zu hübsch, um abgeschlagen zu werden!» Der Mann, der sich in halsbrecherischer Höhe an der Kathedrale angeseilt hatte, um die Heiligen an der Fassade zu enthaupten, lachte schallend. Marie-Provence zitterte am ganzen Leib. In dem Moment erkannte sie ihre Chance: die Gerüste! Sie hastete über Bauschutt und Steinsplitter und huschte hinter eine der mit Tuch bespannten Wände, die die Bauarbeiter aufgestellt hatten. Vorsichtig lugte sie dahinter hervor. Triumph stieg in ihr auf, als sie eine dunkle Gestalt in die entgegengesetzte Richtung laufen sah. Sie verließ ihr Versteck 20
und eilte zu dem Haus gegenüber der Kathedrale. Mehrere Frauen standen davor. Als sich die Tür des Gebäudes öffnete, traten die Frauen ein. «Wartet auf mich! Lasst mich rein!» Mit Erleichterung vernahm Marie-Provence das Geräusch der schweren Eichentür, die hinter ihr ins Schloss fiel. «Na, du hast es aber eilig!» Marie-Provence befand sich in einer Art Vorraum, der bis auf ein paar Bänke nackt war. Sie brauchte einige Sekunden, sowohl um wieder zu Atem zu kommen, wie auch um die Frau vor sich in ihrer ganzen imposanten Größe und Breite zu erfassen. «Kannst du mir mal sagen, was du hier willst?» Die mächtige Frau sprach mit einem rollenden Akzent, den MarieProvence noch nie zuvor gehört hatte. «Du willst uns doch wohl nicht Konkurrenz machen?» Die anderen Frauen brachen in ein brüllendes Gelächter aus. «Die? Die ist ja selber noch nicht entwöhnt, Théroigne!» «Ihr seid nur zu acht?» Die Tür im Hintergrund hatte sich geöffnet, und eine ältere Frau mit Haube, Schultertuch und schlichtem Kleid trat ein. «Sei gegrüßt, citoyenne Mousnier. Ja, nur zu acht», erwiderte Théroigne angriffslustig. «Bei uns in Auray haben die Leute selbst kaum was zu essen. Wie sollen wir Kinder aufnehmen, wenn wir unsere eigenen nicht durchkriegen?» Die anderen nickten bestätigend. «Ihr kommt aus der Bretagne?» Die Frau runzelte die Stirn. «Ah, Théroigne Longpré! Ich erkenne dich! Hast du nicht vor gerade drei Monaten einen Buben mit nach Hause genommen? Wo ist das Kind?» Théroignes Zorn legte sich genauso schnell, wie er aufgeflammt war. Sie wiegte bedauernd den Kopf hin und her. «Ist mir eingegangen. Letzte Woche hab ich ihn begraben lassen. War Pech – hier ist die Bestattungsbestätigung vom Bürgermeister.» 21
«Und wer bist du?», fragte Madame Mousnier und winkte Marie-Provence herbei. «Du warst noch nie hier im Waisenhaus, stimmt’s? Wo ist dein Zertifikat?», fragte sie streng. «Du weißt, dass du eine Bescheinigung aus deinem Dorf über einen untadeligen Lebenswandel brauchst?» «Ich bin nicht gekommen, um mich als Amme zu bewerben.» Marie-Provence zog die Zeitung aus ihrem Rock. «Sondern aufgrund dieser Anzeige hier.» Madame Mousnier presste die Lippen zusammen. «Die Stelle als Gehilfe des Arztes? Das hat man dir falsch vorgelesen. Da drin steht ausdrücklich, dass ein Mann gesucht wird.» «Ich möchte es trotzdem versuchen. Wo kann ich docteur Jomart finden?» «Du bist zu spät. Er hat sich schon für einen Kandidaten entschieden und zeigt ihm gerade das Haus.» Marie-Provence schluckte. «Wie schade», sagte sie leichthin. «Da kann man wohl nichts machen. Nun ja, ich fand die Anzeige ohnehin etwas seltsam. Hast du darauf bestanden, citoyenne, dass ein Mann die Stelle haben soll?» «Nein, das war der docteur. Er ist da eigen.» Marie-Provence schwenkte das Blatt hin und her. «Mal unter uns: Hast du da keine Bedenken? Dass ein Arzt sich zwischen den Ammen, den Pflegerinnen und den Schwangeren aufhält ist ja selbstverständlich, aber ein gänzlich Außenstehender …» «Also, mir wär’s nicht recht», kam ihr unerwartet Théroigne zu Hilfe. «Ich hab mir natürlich auch schon meine Gedanken gemacht», gab die Mousnier widerstrebend zu. «Aber was soll ich machen?» Marie-Provence strahlte sie an. «Mich zu dem docteur bringen!»
I
22
«Soll das ein Scherz sein?», fuhr der docteur Madame Mousnier an. Seine Stimme hallte im dunklen Flur wider. «Das Auswahlverfahren ist beendet!» Marie-Provence betrachtete den blassen, dunkelhaarigen Mann mit dem dichten Schnurrbart. Ihr Herz klopfte schnell in ihrer Brust. Wie oft hatte sie vor dem riesigen, bewachten Tor gestanden, durch das man ihr keinen Zutritt gewährte und das sie von dem Jungen trennte? Und wie oft hatte sie gesehen, wie sich das Tor für einen Einspänner öffnete, in dem dieser Mann saß? Der docteur war einer der ganz wenigen Auserwählten, die Kontakt zu dem Jungen hatten. Unzählige Male hatte sie sich bereits ihr Gehirn zermartert, auf der Suche nach einem Vorwand, sich dem Arzt zu nähern. Als sie gestern die Anzeige gelesen hatte, war sie ihr wie ein Fingerzeig Gottes vorgekommen. Kurz dachte sie an den abbé d’If. Sie tastete verstohlen nach dem Kreuz, das sie unter ihrem Kleid verborgen trug. «Das Mädchen macht einen guten Eindruck. Ich will, dass du sie dir wenigstens einmal ansiehst», brummte die ältere Frau. «Aber …» «Ich bin für den Ablauf hier verantwortlich. Zwar ist die Einstellung des Gehilfen alleine deine Sache, aber du solltest dir überlegen, ob es klug ist, einen jungen Burschen unter all diese Frauen zu bringen. Der Anblick eines nackten Busens oder einer Geburt ist nicht für jedes Auge bestimmt. Sprich mit dem Mädchen, citoyen. Ich muss jetzt los, die neuen Ammen warten auf mich.» Jomart sah ihr stirnrunzelnd nach und wandte sich dann Marie-Provence zu. «Darf ich fragen, was Sie bewogen hat, sich für eine Stelle zu bewerben, für die ausdrücklich ein Mann gesucht wurde?», fragte er kurz angebunden. Er hatte vorstehende Zähne, die wie ein ausgebreiteter Fächer auf seiner Unterlippe lagen, wenn er den Mund schloss. Sowohl die förmliche Ansprache, die er verwendete, wie auch seine eher altmodische Kleidung ließen Marie-Provence hoffen, dass 23
der Arzt kein eifriger Verfechter der revolutionären Ideologie war. «Ich finde, man sollte den Frauen nicht die paar wenigen Gebiete streitig machen, in denen sie privilegiert sind. Schließlich dominieren fast überall die Männer», entgegnete Marie-Provence. «Gütiger Gott, wollen Sie damit andeuten, Sie seien eine dieser Frauen, die gleiche Rechte für beide Geschlechter fordern?» «Es ist doch nicht einzusehen, weshalb uns von vornherein manche Berufe verwehrt bleiben. Warum, zum Beispiel, durfte ich nicht Soldat werden, wie mein Vater? Eine Zeitlang habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht.» «Oh, Ihr Vater ist einer der Helden, die im Ausland gerade gegen ihre eigenen Landsmänner antreten? Vive la nation? Vorwärts, Patrioten, mit euren nackten Fäusten gegen die royalistischen Truppen? Félicitations – herzlichen Glückwunsch!», rief Jomart aus. Marie-Provence schwieg. Schließlich gab es nichts, wobei sie sich ihren Vater weniger hätte vorstellen können, als unter der Trikolore kämpfend. Ein kleiner, lauernder Schmerz durchzuckte sie, doch sie verdrängte ihn sofort – dies war nicht der Augenblick, an ihre Eltern zu denken. Der Arzt stemmte die Hände in die Hüften. «Erläutern Sie mir mal die von Ihnen so gerühmten weiblichen Fähigkeiten. Haben Sie schon einmal in einer vergleichbaren Einrichtung gearbeitet? Mit einem Arzt, in einem Krankenhaus? Oder bringen Sie sonstige Erfahrungen mit, die Ihnen bei dieser Arbeit behilflich sein könnten?» Marie-Provence suchte verzweifelt nach einer schlagfertigen Antwort, doch ihr wollte partout nichts einfallen. Vielleicht lag es an dem üblen Geruch, der im Flur waberte und ihre Sinne überbeanspruchte. Offensichtlich standen sie vor dem Zimmer, in dem die Schmutzwäsche aufbewahrt wurde. Der Arzt fragte weiter: «Haben Sie eigene Kinder?» Marie-Provence schüttelte den Kopf. «Noch nicht.» 24
«Geschwister, eine große Familie?» «Ich bin das einzige Kind meiner Eltern», antwortete sie. «Aber ich habe eine alte Tante und einen Onkel, um die ich mich kümmere.» Docteur Jomart verzog das Gesicht. «Wie nett.» Marie-Provence wollte etwas erwidern, doch der Arzt unterbrach sie mit einer Geste. «Hören Sie, es tut mir leid. Ich sagte ja, ich habe mich bereits entschieden. Es war nicht recht von Madame Mousnier, Ihnen Hoffnung zu machen. Da drüben in meinem Büro steht ein junger Mann, der meinen Anforderungen bestens entspricht. Und jetzt bitte ich Sie …» «Docteur Jomart!», unterbrach ihn eine Frau, deren Tracht sie als Pflegerin auswies. Sie eilte näher, ein Bündel in den Armen. «Kommen Sie bitte, mit César ist etwas nicht in Ordnung!» «Ist das der Junge, der heute morgen vor Saint-Jean le Rond abgelegt wurde?», fragte der Arzt und beugte sich über das Bündel, in dem ein schrumpeliges, hässliches Etwas von dunkelroter Farbe lag. Es sah aus wie ein aus dem Nest gefallenes nacktes Vogeljunges. «Ja, der Name César stand auf einem Zettel in seiner Windel.» «Ich werde ihn nochmal untersuchen.» Jomart nahm der Pflegerin geschickt das Bündel ab. Zu Marie-Provence sagte er: «Sie finden doch alleine raus?» Ohne sich weiter um sie zu kümmern, wandte er sich von ihr ab und eilte den Gang hinunter, die Pflegerin in seinem Schlepptau. «César, hm?», hörte Marie-Provence den Arzt noch sagen. «Da hat wohl jemand große Stücke auf dich gesetzt, was, kleiner Mann?» Dann verschwanden die drei um eine Flurecke. Marie-Provence blieb mit klopfendem Herzen alleine im dunklen Flur zurück, den herben Geschmack der Enttäuschung auf der Zunge. Sie holte tief Luft. Nein. Noch gab sie sich nicht geschlagen!
25
Marie-Provence sah in die Richtung, in der Jomart sein Büro angedeutet hatte. Mit leisen Schritten eilte sie zu dem Raum. Die Tür war nur angelehnt, und sie spähte hinein. Das Zimmer war dunkel und vollgestopft mit Papierbergen und fremdartigen Instrumenten. Mittendrin stand ein junger Mann mit breiten Schultern und pickligem Gesicht, der die Hände tief in den Hosentaschen vergraben hatte und gelangweilt auf seine Fußspitzen starrte. Marie-Provence zog sich lautlos wieder zurück. Sie überlegte kurz, dann ging sie zu dem Raum, vor dem sie und Jomart zuvor gestanden hatten. Sie hatte sich nicht geirrt: Auf dem gefliesten Boden des Abstellraums standen große, streng riechende Körbe, die mit sortierter Schmutzwäsche gefüllt waren. Marie-Provence suchte, bis sie die Tracht einer Pflegerin in Händen hatte, und streifte sie schnell über. Zufrieden stellte sie fest, dass sich ein grünbrauner, nach Magensäure riechender Fleck über Oberteil und Schürze zog. Darauf ging sie zu dem Korb, der den übelsten Geruch verströmte. Sie verzog das Gesicht, griff aber beherzt nach den geflochtenen Griffen. Der Gestank der vollen Windeln unter ihrer Nase war kaum zu ertragen. Mit dem Korb im Arm verließ sie den Raum. Nach einem hastigen Blick, ob die Luft rein war, schleppte sie ihre Last zu Jomarts Schreibraum. Dort stieß sie mit einem Fußtritt die Tür auf. «Ach, hier bist du ja!», rief sie aus. Sie warf die Tür hinter sich zu und baute sich vor dem Jüngling auf, der sie aus großen Augen anstarrte. «Du bist der Neue, nicht wahr?» Der Jüngling rümpfte die Nase. Er warf ihrem Korb einen Blick zu und wich einen halben Schritt zurück. «Ja, warum?» «Weil wir alle hier schon sehnsüchtig auf dich gewartet haben! Docteur Jomart hat gerade keine Zeit, aber er hat gesagt, dass ich dich einweisen soll. Also am besten, du fängst gleich an», sagte sie und schob ihm den Korb vor die Füße. «Was soll ich damit?», fragte der Junge ahnungsvoll. «Na, waschen, bien sûr!» Marie-Provence lächelte ihn aufmunternd an. «Du findest alles, was du brauchst, im Keller.» 26
«Aber …» «Es ist eine solche Erleichterung, dass endlich wieder jemand da ist, der die Arbeit macht! Unter uns gesagt: Dein Vorgänger war ein bisschen zimperlich. Der hat es nicht lange hier ausgehalten. Aber du siehst aus wie ein kräftiger Bursche! Die paar hundert Windeln wirst du im Nu schaffen!» «Die paar hundert?», fragte der junge Mann und warf einen flehenden Blick zu den geschlossenen Fenstern. Inzwischen stank der Raum unerträglich. «Nun ja, in einer Woche sammelt sich natürlich etliches an … Aber keine Sorge, du schaffst das schon!» Sie machte ein paar Schritte zurück. «Die anderen Körbe stehen im Wäscheraum, die holst du dir dann selber.» «Halt, so warte doch!», rief der junge Mann. Hastig folgte er ihr zur Tür und streckte eine Hand aus, um sie aufzuhalten, änderte aber plötzlich seine Meinung, als er ihr verunstaltetes Kleid wahrnahm. «In der Anzeige steht nichts von Windelwaschen!» «Nein, natürlich nicht. Das schreiben wir nicht mehr rein, da haben wir schlechte Erfahrungen mit gemacht.» Sie zitierte: «‹Leichte Hilfsarbeiten und Reinigung medizinischer Gerätschaften, für die keine spezielle Fertigkeiten erforderlich sind.› Das klingt eindeutig besser, nicht wahr? Ich gebe ja zu, eine Windel als medizinische Gerätschaft zu bezeichnen, ist vielleicht ein wenig an den Haaren herbeigezogen, aber …» Sie trat dicht an den jungen Mann heran. «Was ist mit dir? Ist dir nicht gut?» Der Jüngling presste die Hand auf den Mund. Dann riss er die Tür auf und verschwand im Laufschritt. Ein Lächeln breitete sich auf Marie-Provences Lippen aus. Kurz darauf hatte Marie-Provence den Korb und ihr ausgeliehenes Kleid wieder zurückgebracht und die Fenster zum Lüften aufgemacht. Sie sah sich um. Das mittelgroße Zimmer hätte hell sein können ohne die Papierberge, die sich überall türmten, oder wenn man eine andere Farbe 27
als dieses abscheuliche Grünbraun für die Wände gewählt hätte. Sie fuhr mit ihrem Zeigefinger über das kleine Stück der Tischplatte, das nicht von Papieren, Gläsern oder eigenartigen Instrumenten bedeckt war, und pustete auf ihre Fingerspitze, um sie von der aufgesammelten Staubschicht zu befreien. Nach einem genaueren Blick auf die Schriftstücke erkannte sie, dass die meisten Krankenberichte waren. Dazwischen eingeklemmt lagen Anweisungen der Behörden, Briefe, ausgeschnittene Zeitungsartikel und wissenschaftliche Reporte. Das Durcheinander war vollkommen. Kaum vorstellbar, dass der Arzt hier noch einen Überblick hatte. Voller Tatendrang beugte sie sich über den Tisch. «Was machen Sie da?» Marie-Provence sah ruhig zu dem Arzt auf, der entgeistert in der Tür stand. «Aufräumen.» Der Arzt trat näher. Er fuhr sich durch die Haare. «Ich denke, Sie sind längst wieder zu Hause! Und wo ist der junge Mann, der hier auf mich warten sollte?» «Ich weiß es nicht. Ich sah ihn nur weglaufen», antwortete Marie-Provence wahrheitsgetreu. «Und da er nicht aussah, als wolle er jemals wiederkommen, habe ich gedacht, ich bleibe noch ein wenig. Wie geht es César?» «Gut. Besser.» Der Arzt hob beschwörend die Hände. «Nein, lassen Sie die Papiere liegen, um Himmels willen!», rief er. «Noch mehr Durcheinander kann ich wirklich nicht gebrauchen!» «Aber docteur», sagte Marie-Provence begütigend, «jeder, der diesen Raum betritt, erkennt doch gleich, dass Sie eher jemanden brauchen, der hier Ordnung schafft, als jemanden, der Ihre Tasche packt oder Ihre Instrumente säubert.» Sie betrachtete stirnrunzelnd einen Brief. «Möchten Sie Ihre Korrespondenz eigentlich nach Datum oder nach Absender geordnet haben? Diese Stapel hier habe ich inhaltlich sortiert. Es ist erst ein Anfang, aber in einer Woche müsste ich einen Überblick gewonnen haben.» 28