PLAYBOY SCIENCE FICTION
Die besten Stories von
Eric Frank Russell
E-Book by »Menolly«
MOEWIG
Dieses E-Book ist nic...
172 downloads
931 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
PLAYBOY SCIENCE FICTION
Die besten Stories von
Eric Frank Russell
E-Book by »Menolly«
MOEWIG
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
PLAYBOY, Häschenmarke, Playmate und Femlin sind registered trade marks von PLAYBOY Enterprises Inc., Chicago, USA Titel der Originalausgabe: The Best of Eric Frank Russell Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber Copyright © 1978 by Eric Frank Russell Copyright © der deutschen Übersetzung 1980 by Moewig Verlag, München Vorwort: Copyright © 1978 by Alan Dean Foster MANA © 1937 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Stories JAY SCORE © 1941 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction HOMO SAPS © 1941 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction METAMORPHOSITE © 1946 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction HOBBYIST © 1947 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction LATE NIGHT FINAL © 1948 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction DEAR DEVIL © 1950 by Clark Publishing Company für Other Worlds FAST FALLS THE EVENTIDE © 1952 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction I AM NOTHING © 1952 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction WEAK SPOT © 1954 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction ALLAMAGOOSA © 1955 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction INTO YOUR TENT I'LL CREEP © 1957 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction STUDY IN STILL LIFE © 1959 by Street and Smith Publications, Inc. für Astounding Science Fiction Umschlagillustration: Oliviero Berni Umschlagentwurf und -gestaltung: Franz Wöllzenmüller, München Verkaufspreis inkl. gesetzl. Mehrwertsteuer Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300, A-5081 Anif Printed in Germany 1980 Gesamtherstellung: Ebner, Ulm ISBN 3-8118-6703-2
Inhalt Vorwort ...............................................................
5
von Alan Dean Foster
Mana ...................................................................
15
MANA
Jay Score ..............................................................
23
JAY SCORE
Homo Stupidus ..................................................
54
HOMO SAPS
Metamorphose ...................................................
72
METAMORPHOSITE
Zeitvertreib .........................................................
174
HOBBYIST
Nächtliches Finale ..............................................
232
LATE NIGHT FINAL
Lieber Teufel .......................................................
290
DEAR DEVIL
Rasch fällt die Dämmerung ..............................
354
FAST FALLS THE EVENTIDE
Ich bin Niemand ................................................
384
I AM NOTHING
Der wunde Punkt ...............................................
418
WEAK SPOT
Technischer Bluff ...............................................
432
ALLAMAGOOSA
Des Menschen bester Freund ............................
455
INTO YOUR TENT I'LL CREEP
Das ruhige Beamtenleben ................................. STUDY IN STILL LIFE
470
Vorwort Vor langer Zeit einmal befand sich ein gewitzter junger Science-Fiction-Fan namens Foster, Alan D., in einem angeregten Gespräch mit einem gewitzten legendären Science-Fiction-Herausgeber namens Campbell, John W. Das geschah im Jahre 1968, Ort der Handlung war ein Tisch in einem Restaurant beim Welt Science Fiction Convent in Oakland, Kalifornien. Foster war zweiundzwanzig Jahre alt und hatte sehr wenig getan. Campbell war fünfundachtzig und hatte sehr viel getan. Sagte Foster nach einem dreißigminütigen angeregten Gespräch über den Vietnamkrieg zu Campbell: »Wissen Sie, mein Dauer-Favorit in der Science Fiction ist Eric Frank Russell.« Und Campbell antwortete Foster mit weisem Nikken und sanftem Lächeln: »Meiner ebenfalls. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als ihn wieder zum Schreiben zu überreden.« Sie sind im Begriff, eine Sammlung von Kurzgeschichten zu lesen, geschrieben von einem Mann, der zwei völlig verschiedene Persönlichkeiten mit ganz unterschiedlichem Hintergrund, politischem Standpunkt und vielen anderen divergierenden Aspekten, darunter einem Altersunterschied von sechsunddreißig Jahren, zu einem gemeinsamen Urteil bringen konnte. Ich, Alan Dean Foster, bin inzwischen etwas älter und habe auch etwas mehr als ›sehr wenig‹ erreicht. Viele Dinge haben sich für mich verändert. Eines allerdings nicht. Eric Frank Russell ist nach wie vor mein Lieblings-
autor innerhalb der Science Fiction. Warum? Er war der einzige der vielen Pioniere der Science Fiction, jener seltsamen Dimension, der mich sowohl zum Lachen als auch zum Weinen brachte. Seine Kurzgeschichten zeugen in wesentlich größerem Maß von einfachem, gesundem Menschenverstand als ganze Romane anderer Autoren. Er besaß eine Sympathie für die Menschheit, die kein anderer Autor, den ich kenne, so vollendet zum Ausdruck bringen konnte. Er schrieb Stories über Ökologie, noch bevor diese als populärer Begriff existierte. Er setzte sich für die Rassenverständigung ein, zu einer Zeit, als dies noch unpopulär war. Betrachte man einen Charakter wie Sam Higgins, der in »Jay Score« (1941) sagt: »Ich bin der Schiffsarzt. Ich hätte diesen Mann nicht retten können, wenn Jay ihn nicht rechtzeitig hergebracht hätte.« Hignet, der Schiffsarzt/Chirurg ist ein Schwarzer. Seine Rolle in der Erzählung ist weit entfernt von der eines unterwürfigen Dieners, obwohl seine Ausdrucksweise dem für 1940 typischen Slapstickjargon der Schwarzen entspricht. Russell wurde 1905 in Sandhurst, Surrey, in England geboren, wo sein Vater Dozent an der Militärakademie war. Russells Werk ist mehr eine Reaktion auf als eine Reflektion über eine Militärfamilie. Die Familie eines Militärangehörigen ist viel unterwegs. Hiervon machten die Russells keine Ausnahme, sie verbrachten ihre Zeit in den verschiedensten Ländern und Militärstützpunkten. Dazu gehörte unter anderem ein längerer Aufenthalt in Ägypten und dem Sudan. Zweifellos sind die vierbeinigen Charaktere in Homo Saps (Homo Stupi-
dus) tatsächlichen Vorbildern nachempfunden, die Russell während seines dortigen Aufenthalts in der Wüstenregion auffielen, die dem Ödland des Mars, wie es in derselben Erzählung geschildert wird, auffallend gleicht. Viele seiner Erzählungen wenden sich gegen die militärische Art, die Dinge zu handhaben, doch ist dies auch eine sichtbare Reaktion gegen die Fächer, die er studierte: Chemie, Physik, Bauwesen und Stahlkonstruktionen, Baufachmann, Technisches Zeichnen, Metallurgie und Kristallographie. Mit diesem Hintergrund war zu erwarten, daß er sich unter anderem der ›Technischen SF‹ zuwandte, deren bekanntester Vertreter Hal Clement geworden ist. Das äußerste wären technische Stories mit Romantizismen im Stil eines Poul Anderson oder Larry Niven gewesen, um nur zwei zu nennen. Trotzdem, gerade das finden wir nicht. Die Technik ist in Russells Werk von nur untergeordneter Bedeutung, die Romantik, wo sie erscheint, meist im Hintergrund. Wir werden konfrontiert mit einem Autor, dessen Hauptinteressen Psychologie und Soziologie waren, nicht Quantenmechanik. Das Abenteuer ist das Vehikel, um die Tiefen der menschlichen Emotionen zu erforschen, nicht den physikalischen Kosmos. Dies war das innere Universum des immer wieder erstaunenden Russell. Es gibt Leute, die Russells Humanismus anfechten. Ihre Argumente basieren vor allem auf einer Reihe von Geschichten, die ich als ›Menschheit-über-alles‹Geschichten klassifizieren will, in denen ein einzelner Mann eine ganze Herde benebelter Außerirdischer
übertölpelt. Aber in Stories wie »Design for Greatday«, »Now Inhale«, »Brute Farce«, »Diabologic« und dem Klassiker »Plus X« zeigt er nicht in erster Linie die Überlegenheit der Menschheit, sondern die blamablen Effekte, die Bürokratie und eine mächtige Regierung auf seine unglücklichen Fremden ausüben. Die Macht von Fantasie und Selbstvertrauen angesichts einer Konfrontation mit Gewehren und Bürokraten war eines von Russells Lieblingsthemen. Seine Helden kämpfen nicht mit Messern, Kugeln oder Lasern, sondern mit Humor und Sarkasmus. Seine endgültige Vernichtungswaffe war pure Satire, die logische ultimate Vernichtungswaffe für einen desillusionierten Ableger des militärischen Establishments. In seinen Werken finden sich keine riesigen Armadas siegreicher Raumflotten, keine Welten dominierender Turmstädte oder allessehender Computergehirne. Was stattdessen auftritt, sind kleine Leute, einige menschlich, einige nicht, jedoch ausnahmslos konfrontiert mit einem Universum, überfüllt mit Verwirrung und Großer-BruderRegierungen. Um diese zu bekämpfen, verwendet er nicht die Waffen des Krieges, sondern Einfühlsamkeit, Toleranz, Geduld und Mitleid. Anstelle einer Kugel durch den Kopf streichelt er mit einer Feder die Rippen. In »Dear Devil« (Lieber Teufel), ist ein marsianischer Poet der einzige, der den Glauben besitzt, den Menschen einer verwüsteten Erde beizustehen. Der Wiederaufbau, den er vorantreibt, ist mehr spirituell als materiell, der Wiederaufschwung geht auch ohne immense Geldsummen vonstatten, ohne Werbung und sich einmischende Bürokraten.
Hier ist eine Lektion, die sich viele der modernen Politiker hinter die Ohren schreiben sollten. Sie mögen vielleicht Russells Standpunkt verstehen, doch ich bezweifle, daß sie in der Lage wären, diesen auch in die Tat umzusetzen. »I Am Nothing« (Ich bin Niemand) ist eine Russellsche Kriegsstory. Sie ist nur zu einem gewissen Teil der Science Fiction zuzurechnen, eine scharfe Indikation seines Talents, eine Geschichte zu erzählen, ohne Verwendung der in der SF üblichen Vehikel und Themenschemata. »Nothing« ist eine Parabel aller Kriegsstories, der seltene Fall eines Autors, der eine Obszönität mit Mitleid und nicht mit Zorn definiert. Selten nur müssen sich Menschen in diesen Geschichten geschlagen geben. Am Ende einer Russellschen Story fühlt der Leser keine Überlegenheit oder den Wunsch, hämisch zu grinsen. Feinde werden überzeugt, nicht ausgelöscht. Wenn sie nicht durch Gelächter geschlagen werden – oder einer der glänzenden Russellschen Waffen: »Diabologik« –, dann werden Opponenten oftmals ernüchtert und durch die Erfahrung gebessert zurückgelassen, wie etwa in »Design for Great-day« und »Plus X«. Die Eintracht der Natur, des Lebens und die Gleichheit aller Nachbarn auf diesem Planeten ist ein Thema, das immer wieder in Russells Stories auftaucht. Er erweitert dieses Konzept, um Fremdrassen und Maschinen mit einzubeziehen, um das gesamte Universum zu einer wundervollen, friedlichen Familie zu vereinbaren, wo jegliches Leben in einer Atmosphäre der Freundschaft und des gegenseitigen Verstehens nebeneinander existiert. Es gibt nur sehr wenige feindliche Aliens in Russells Werk. Wo sie er-
scheinen, wie in »Spiro«, sind sie in der Tat von befremdendem Auftreten. In »Mana« zum Beispiel werden die Insekten geschildert als Kinder, die es zu erziehen, nicht als hirnlose Feinde, die es auszurotten gilt. Und »Dear Devil« (Lieber Teufel) schildert eigentlich keinen Alien, der Marsianer ist ein idealisierter Mensch. »Fast Falls the Eventide« (Rasch fällt die Dämmerung) kommt der Russellschen Philosophie von der ›Universalen Familie‹ so nahe wie keine andere Geschichte, diese Philosophie hat er – soweit mir bekannt ist – niemals bewußt als solche ausgedrückt. »Jay Score« präsentiert eine aus verschiedenen Spezies zusammengesetzte Crew so realistisch, daß es mich nicht überraschen würde, wenn Kli Yang oder Sug Farn jeden Moment hereinkämen und mich zu einer Partie Schach einladen würden. Natürlich müßte ich ablehnen, da ich keine Chance habe, zu gewinnen. Ich besitze nicht das herausragende Talent von Jay Score. Diejenigen, die Russell noch immer einer Verherrlichung der Menschheit bezichtigen, möchte ich bitten, einmal einige andere Stories in diesem Band zu betrachten. In »Homo Saps« (Homo Stupidus) bildet das Menschengeschlecht nur einen armseligen Nachzügler hinter den Kamelen. In einer sehr unterschiedlichen Story, »Into Your Tent I'll Creep« (Des Menschen bester Freund) werden die wahren Beherrscher der Menschen, und vielleicht des ganzen Kosmos, als Hunde gezeigt, die sehr verschieden sind von den Hunden in Clifford D. Simaks »City« (Als es noch Menschen gab). Und in »Hobbyist« (Zeitvertreib) ist die Wahrheit, die einem einzelnen Menschen präsen-
tiert wird, gefärbt mit Indifferenz, wenn nicht gar offener Verachtung für die Anmaßung der menschlichen Überlegenheit. Zusätzlich ist dies eine der wenigen Stories Russells, die sich mit der Religion auseinandersetzt. Wenn Russell sich entschließt, seine Version des Homo Superior zu schildern, so wird daraus nicht der himmelstürmende Supermann Nietzsches oder der Herr über eine Supertechnologie, wie er auch in der modernen Science Fiction noch so oft geschildert wird. John Muir kommt Russells Vorstellung vom besseren Menschen wesentlich näher als etwa Kimball Kinnison. Solche Menschen sind etwa in »Design for Great-day« (Die Friedensbringer) und »Metamorphosite« (Metamorphose) zu finden, beide Geschichten zeigen den starken Einfluß von Russells Freund Olaf Stapledon, besonders von dessen spätem Roman Odd John (Die Insel der Mutanten). Wenn Russell uns nicht zeigt, wie die Menschen verständnisvoll zusammenleben sollten, so ist er eifrig darum bemüht, unsere Idealvorstellungen zu demolieren. Seine diesbezügliche Lieblingswaffe ist die allesüberwuchernde Bürokratie, deren Vorbild die Bürokratie des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Auch fremde Regierungen sind von seinen Attacken nicht ausgenommen, Russell geht von der Voraussetzung aus, daß andere Rassen, die den Weltraum erobern, sich ähnlich idiotisch verhalten wie unsere. Vielleicht können Sie Ihre Begeisterung ja noch im Zaum halten, wenn Sie »Allamagoosa« (Technischer Bluff) lesen. Ich bezweifle aber, daß Ihnen das bei »Study in Still Life« (Das ruhige Beamtenleben) auch noch gelingt. Wenn die vorliegenden Geschichten Ihnen gefallen
und Sie mehr von Russell lesen wollen – auch Romane –, dann greifen Sie zu Next of Kin (The Space Willies), Wasp (Die Wespe), Three To Conquer (So gut wie tot), Sentinels of Space (Agenten der Venus), dem zu Recht berühmten Sinister Barrier (Die Todesschranke), oder zu einigen der anderen Stories, die ich erwähnt habe. Sie werden nicht enttäuscht sein. In diesem Band finden Sie den Eric Frank Russell, der schreiben konnte: Die Kinder dieser Welt waren Insekten. Und Vögel. Und Zweibeiner. Falter, Elstern und Menschen, alle waren verwandt. Alle hatten die gleiche Mutter... Sie finden aber auch den Russell, der markig schreiben konnte: »Bonhoeffer war der ideale Mann für eine Frau; groß, stattlich, muskulös, dumm.« Warum hat Russell in den letzten achtzehn Jahren seines Lebens nichts mehr geschrieben? Campbell glaubte, die Ursache wäre ein traumatischer Vorfall in seinem persönlichen Leben. Um Russell selbst zu diesem Thema zu Wort kommen zu lassen, hier ein Brief, den er mir am 19. Oktober 1972 schrieb: Ich kann nicht schreiben, wenn ich nicht enthusiastischer Stimmung bin, und ich kann nicht in enthusiastische Stimmung kommen angesichts eines Themas, das ein alter Hut ist. Neunundneunzig Prozent der heutigen Science Fiction sind aber alte Hüte. Campbell hat mir einmal mitgeteilt, daß ihm in vier Jahren nur eine neue Idee angeboten worden war, damit ist alles gesagt. Der meiste Beifall, den die SF heute bekommt, geht von einem jungen Publi-
kum aus, das die alten Geschichten nicht gelesen hat und der Meinung ist, die heutigen Themen und Ausarbeitungen wären noch glänzend und neu. In der Zwischenzeit schlagen sich alte Kauze wie ich die Köpfe gegen eine Wand und flehen um Juwelen, die es nicht gibt... Die Russellsche Prosa ist hier präsent, nicht jedoch der Geist. Russell unterläßt es, daran zu erinnern, daß auch er oftmals gewisse Basisthemen in seinen eigenen Werken wiederholte, und das mit großem Erfolg. Vielleicht hatte Campbell recht, und das eigentliche Übel lag wesentlich tiefer als Russell mir enthüllte. Technologische Innovationen – gleichgültig ob Asteroidenbergbau oder Computerprobleme – waren nie seine Stärke. Er konnte sich für die menschliche Psychologie erwärmen, nicht jedoch für Physik. Was ihn letztendlich verärgerte, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, doch was es auch war, es konnte sein Schreibtalent, das sich noch in Briefen zeigte, lange nachdem er das Schreiben von Romanen und Stories aufgegeben hatte, nicht auslöschen. Sein Entschluß, nicht mehr zu schreiben, machte uns um vieles ärmer, denn gerade in den späten fünfziger Jahren hatte seine Kreativität einen Höhepunkt erreicht. Einer biographischen Anmerkung zufolge soll Russell, einmal gefragt, warum er schreibt, folgendes gesagt haben: »... um so viele Leser so gut zu unterhalten, daß manche von ihnen ein gewisses momentanes Bedauern spüren, wenn sie mich begraben.« Nun ist er gegangen, dieser Zauberer des verstohlenen Lachens und der begründeten Hoffnungen, der beißenden Satire und der nackten Emotion. Ich fühle Bedauern angesichts seines Todes, doch ich bezweif-
le, daß es nur momentan sein wird. Ich glaube, nach der Lektüre dieses Buches werden Sie ähnlich fühlen... Alan Dean Foster Big Bear Lake, Kalifornien März 1978
Mana Die gleichgültigen Wasser plätscherten und gurgelten über den silbernen Sand. Eine orangerote Sonne erklomm den Himmel, übergoß die Atmosphäre mit ihren Strahlen und vergoldete die höheren Gestade des Ufers mit den malerischen Palmenhainen. Omega, der letzte Mensch der Erde, stand nackt im kühlen Schatten der Palmwedel. Er seufzte, wandte sich um und glitt geschmeidig in das Paradies der Pflanzen. Sechs Jahrtausende, die langen, ausgedehnten Jahre der letzten Epoche, waren über Omega hinweggegangen. Doch er war nicht alt, wie Tiere und Pflanzen alt wurden. Sein Alter war nur geistiger Art und repräsentierte das Ausmaß seines Überdrusses. Sein Körper war noch immer jung, würde immer jung bleiben. Tausende waren gestorben, in den sechzig Jahrhunderten, die seine Erinnerung zurückreichte, doch er wußte keinen, dem es gelungen wäre, dem physischen Verfall zu trotzen. Die Menschen waren gestorben mit intellektueller Befriedigung, der Erschöpfung des Wissensdurstes, dem Wunsch nach geistigem Frieden – wie manche der Esoteriker aus vergangenen Tagen ihrem Ende dankbar entgegengesehen hatten, da sie ihren Ansporn zum Leben verloren. Omega war der Letzte, einzig und allein, weil er nicht zufrieden war. Noch ein Ding verblieb zu tun – wenn es getan werden konnte. Er hatte jede Erfahrung, die den Menschen vergönnt war, durchlebt und erfahren. Er hatte selbst
seine Einzelfruchtbarkeit erprobt und ein Kind erzeugt. Doch sein Sohn hatte weitere Nachkommenschaft abgelehnt, lebte rasch, lernte rasch und war bald befriedigt. So war das Fleisch von seinem Fleisch, mit den Gefährten seiner Vergangenheit, verweht, gleich den Truggestalten eines Sommertraums. Die Menschen der neueren Zeit kannten den Unterschied zwischen dem, was es zu lernen gab, und dem, was zu lernen möglich war. Selbst der Größe des menschlichen Verstandes war es nicht möglich, den grenzenlosen Kosmos zu erfassen. Und so hatte jeder seinen Kelch in raschen Zügen geleert und war weggekrochen, um zu ruhen. Er, Omega, der Unbefriedigte, lebte noch immer, dazu bestimmt, das zu tun, was man als unmöglich abgetan hatte. Seine Füße eilten rasch über einen bewaldeten Hang, er erklomm den Hügel und sah die Türme und Minaretts von Ultima durch einen goldenen Nebel schimmern, der über dem Tal lag. Die Anstrengung hatte seine Muskeln ermüdet; er konzentrierte sich auf die Kräfte seines Willens, geschult durch die äonenwährende Evolution, sein Körper erhob sich in die Luft, schwebte über den Wipfeln der Bäume hinüber zum Tal. Er landete sanft auf einer marmornen Zinne. Die Wadenmuskeln protestierten gegen seine Vorliebe für das Laufen. Er massierte sie mit dem nötigen Respekt, setzte sich, um etwas auszuruhen, dann trat er über den Rand der Zinne und schwebte hinab in die schweigende Straße unter ihm. Unheimlich, wie die zentrale Figur eines allegorischen Bildes, driftete sein Körper entlang des staubi-
gen, nicht näher gekennzeichneten Weges, seine Füße schwebten unbelastet etwa dreißig Zentimeter über der Oberfläche. Keine anderen Gestalten waren zu sehen, niemand durchschritt die friedvollen Alleen dieser einstmals so mächtigen Stadt. Stumme Turmgiebel bohrten sich in das azurblaue Firmament. Unbenutzte Zinnen gaben die Ansicht des uralten Tintangel wieder. Schwebende Pfeiler gaben Wänden Halt, die längst keine Geheimnisse mehr zu verbergen hatten. Omega bewegte sich auf ein glanzloses, metallenes Tor in der gegenüberliegenden Wand zu. Das Tor öffnete sich. Omega schwebte hindurch, einen langen Korridor entlang in sein Laboratorium. Seine Füße fühlten die kalte Berührung von Stein; er ging zu einem glasbedeckten Gefäß und blickte in dessen Inneres, seine Augen hatten einen Glanz, der den Eindruck erweckte, sie hätten erst vor kurzem das Licht der Welt erblickt. »Mana«, murmelte er. Seine Stimme seufzte leise, wie der Wind, der das Schilf im seichten Wasser liebkoste. »Mana.« Er sprach öfters mit sich selbst. Diese Angewohnheit war sein einziges Zugeständnis an die Einsamkeit. Er drückte einen Knopf, worauf ein stumpfes, warmes Glühen sich in dem Gefäß ausbreitete. »Nichts von all dem, das sie sagten, konnte die Menschheit für ewig überdauern lassen«, erklärte er. »Nichts.« »Nichts von dem, das Menschen herstellen, oder erzeugen, oder erbauen, oder geben konnten, war in der Lage, so lange zu überdauern wie die Natur selbst überdauerte. Die Täler werden sich emporhe-
ben, die Berge werden abgetragen. Alles, was menschliche Hände hervorbrachten, alles, was die Menschen zurückließen, wird zu Staub zerfallen. Und das Reich, das einst existierte und das bald vergessen ist, wird den Vögeln der Luft, den Tieren des Landes, den Bäumen, den Sträuchern und dem kriechenden Getier zu eigen werden.« Seine Finger strichen über das Gefäß, er spürte antwortende Bewegungen unter dem Glas. »Geduld«, ermahnte er sich selbst. »Das tausendste Scheitern mag wohl den ersten Keim des Gelingens in sich tragen.« Geschäftig eilte er zu einem komplizierten Stuhl, welcher mit geneigter Lehne gegen eine verwirrende Anzahl Instrumente stand. Über dem Stuhl hing, gehalten von simplen Gegengewichten, ein großer, metallener Helm. »Es müssen Photonen sein«, sprach Omega, der vor dem Sitz stand. »Tausende Experimente haben gezeigt, daß entweder kosmische Strahlung oder aber Photonen eine Funktion als Überträger von Mana erfüllen. Und ich glaube noch immer nicht an eine Übertragung durch kosmische Strahlung. Wären kosmische Strahlen dafür verantwortlich, es könnte kein Mana im ozonumtosten Perdel in Alpha Centauri existieren.« Sich selbst in den Stuhl setzend, fuhr er in seiner Begründung fort. »Deshalb, anhand einfachster Logik, müssen es Photonen sein. Und auf diesem Planeten sind nur wir Zweifüßler empfänglich für ihre natürliche Intensität, andere Geschöpfe werden nur wenig beeinflußt. Aber
wenn es mir gelingen sollte, die Kraft zu verstärken, eine abnorme Leistung mit einem Photonenstrahl zu transportieren, dann sollte eine positive Reaktion vererbbar sein. Sie würde, wie ich glaube, von Generation zu Generation weitergegeben werden, und –« Seine Lippen verstummten; er erhob einen Arm und zog den Helm herab, bis dieser vollständig seinen Kopf verbarg. Ein Kontakt an der Armlehne schloß sich über seinen entschlossenen Fingern, und die Apparatur erwachte zum Leben. Es gab kein Geräusch, nichts, das ein Arbeiten der Apparatur angezeigt hätte, außer einem leichten Ansteigen und konstanten Zittern der Nadeln in drei Skalen sowie dem kräftigen Aufblitzen eines konzentrierten Strahls kalten Lichts. Omega saß schlaff da, die Maschine in seinem Rükken bohrte einen doppelten Strahl Psychowellen durch seinen Hinterkopf. Die Strahlen verengten sich in seinem Gehirn, traten durch seine Augen aus, fielen durch Linsen, die vor dem Helm angebracht waren, und trafen auf den Wellenabsorber auf, der spiegelgleich die Basis der Lichttransmissionsröhre bedeckte. Der Absorber bildete effektiv den Brennpunkt von Omegas Geist. Der Strahl des kalten Lichts war eine dünne Säule intensiven Glitzerns, als er sich von der Röhre hinüber zu dem Gefäß ergoß, und von dort weiter ins Innere. Das Glühen, das von dem Gefäß ausging, wurde überstrahlt durch ein weitaus intensiveres Leuchten. Fünfzehn Minuten lang saß der letzte Mensch halb verborgen unter dem metallenen Futteral. Dann öffneten sich seine verkrampften Finger, unterbrachen
den Kontakt, seine Hand hob den Helm und enthüllte ein Gesicht, das von Erschöpfung gezeichnet war. Er ging hinüber zu dem Gefäß und starrte durch seinen gläsernen Deckel. »Mechanische Verhaltensweisen können als Stütze dienen – aber niemals als eine Leiter«, teilte er den unachtsamen Subjekten seines Experimentes mit. Ein kleiner Haufen verfaulten Holzes lag in einer Ecke des Behältnisses. Im Zentrum, zwischen zwei Wegen, die vor Fußgängern wimmelten, stand eine winzige Schachtel, getragen von mikroskopischen Rädern. In dessen Nähe lag ein liliputanischer Bogen mit einem Bündel kleiner Pfeile. Den Deckel des Gefäßes anhebend, streckte Omega eine Hand nach drinnen und bewegte das kleine Fahrzeug mit einer Berührung seiner schlanken Finger. Vorsichtig schoß er einen Pfeil mit dem Miniaturbogen ab und sah Ameisen in alle Richtungen davonschießen. Geduldig entzündete er zwei Holzstükke und ließ sie in sicherer Entfernung vom Rest des Stapels brennen. »Nach jedem Versuch fühle ich mich eine Spur dümmer. Das Licht muß es irgendwie transportieren.« Er beobachtete die aufgeregten Ameisen eine Weile, während er dastand und grübelte. Dann seufzte er, schloß den Deckel und schwebte aus dem Raum. Zeitloser Tag und unermeßliche Nacht über einer Welt, die sich in schwerfälliger Trauer um längst verschwundene Herrlichkeit drehte. Omega stand auf einer Zinne und wandte sein Gesicht dem feurigen Ring zu, der den mitternächtlichen Himmel von Ho-
rizont zu Horizont spaltete. Uralte, unglaubliche Kritzeleien auf längst vergessenen Tafeln hatten die Schönheit des Satelliten, aus dem dieser Ring geboren wurde, beschrieben. Omega zweifelte, ob die heitere Lieblichkeit des Mondes den strahlenden Glanz seiner Überbleibsel noch übertroffen hatte. Das Licht der Trümmer Lunas erhellte den Triumph auf dem Gesicht des letzten Menschen und den Käfig der Ameisen, den er in seinen Armen hielt. Mit einem Achselzucken angesichts des Gefühls geistiger Schwäche, aber einem kontrastierenden Lächeln auf seinen Lippen, trat er von der Zinne und glitt wie ein Phantom über die belaubte Kriegerschar, die die marmornen Mauern Ultimas hart bedrängte. Seine Gestalt schwebte davon, weit über den Baumwipfeln, die ihre hölzernen Arme zur Verehrung des Rings erhoben hatten. Über einer kleinen Lichtung verlangsamte er seine Vorwärtsbewegung, erschauerte in der sanften, kühlen Brise, sank langsam und fühlte seine Füße in die tauige Erdschicht einsinken. Er stellte den Käfig auf dem Gras ab, öffnete ihn, kippte ihn leicht und betrachtete, wie die Ameisen herauskamen. Befriedigung erhellte seine Züge, während er eine Gruppe Insekten beobachtete, die mühsam das winzige Fahrzeug nach draußen beförderten. Sie schoben und zogen, drehten die Räder einmal in diese Richtung, dann wieder in eine andere und verschwanden schließlich in den geheimnisvollen Pfaden des Grasdschungels. Er sah seinem Verschwinden zu, den Stapel verfaulten Holzes aufgeladen, Pfeil und Bogen darauf liegend. Er straffte seine Gestalt und erhob ein glühendes Gesicht zum Himmel.
»Als der erste, haarige Zweibeiner die Wasser mit einem Boot bezwang, da war das Mana«, proklamierte er ehrfürchtig. »Als das Feuer gefunden und entzündet und benutzt wurde, da war das Mana. Wann immer die Menschen eine weitere Sprosse der Leiter des Lebens erklommen, dann war das Mana.« Er öffnete seine Arme, als wolle er den unendlichen Kosmos umfangen. »So wie es uns gegeben wurde, von jenen, die wir niemals kennen werden, so gebe ich es denen, die niemals von der Menschheit erfahren werden. Ich gebe es als unser letztes, immerwährendes Denkmal.« Seine Nerven spannten sich, als er seinen schwächer werdenden Willen sammelte. Er schwebte empor, höher, schneller, schneller, dem strahlenden Ring entgegen. Er entfloh in den Weltraum, wo der ewige Schlaf, der ungestört war, ihn erwartete. Es waren keine Zweifel in seiner Seele, und er sprach kein Lebewohl. Er warf einen Blick hinab, wo ziellose Wogen sich über einen unberührten Strand ergossen. Dann glitt sein Blick weiter über das bewaldete Land zu der Lichtung, erkannte das erste Flackern eines winzigen Feuers, und er war zufrieden. Omega, der letzte Mensch, hatte den Ameisen das Feuer, das Rad und den Bogen gegeben. Doch, wichtiger als all das, er hatte ihnen das gegeben, was sowohl der erste als auch der letzte Mensch mit dem gleichen Wort benannt hatte, Mana – Intelligenz.
Jay Score Es gibt sehr gute Gründe für alles, was sie tun. Für die Uneingeweihten wirken einige ihrer kleinen Tricks und einige ihrer Ausführungen mächtig ausgefallen – aber durch den Kosmos zu reisen ist eben nicht dasselbe, wie mit einem Kanu über einen Farmteich zu paddeln, nein, Sir! Diese Idee, gemischte Mannschaften zu benützen, zum Beispiel, ist schon auf den ersten Blick ganz brauchbar. Für die interplanetaren Flüge, zum Mars, den Asteroiden oder darüber hinaus, haben sie weiße Terrestrier, um die Maschinen zu bedienen, denn sie waren diejenigen, die die neuen Triebwerkseinheiten zur Perfektion entwickelt haben, am besten darüber Bescheid wissen, und sie, wie niemand sonst, betreuen können. Alle Schiffsärzte sind schwarze Terrestrier, denn – aus Gründen, die sich keiner erklären kann – Neger sind immun gegen Gravitationsdeformierung und Weltraumkrankheit. Jede Crew für Arbeiten im freien Weltraum ist aus Marsianern zusammengesetzt, die sehr wenig Sauerstoff benötigen, Ia Metallbearbeiter sind und keine Anfälligkeit für Verbrennungen durch kosmische Strahlen haben. Für Reisen in die inneren Regionen, zur Venus etwa, behalten sie dieses Mischungsverhältnis ungefähr bei, mit einer Ausnahme: Der zweite Pilot ist immer ein gewaltiger Klotz, so wie Jay Score. Es gibt einen Grund dafür; er selbst war derjenige, der dafür verantwortlich ist. Ich werde ihn niemals vergessen. Seine Person bleibt für immer in Erinnerung, wegen seiner Taten. Welch ein Charakter!
Das Schicksal hatte mich in der Höhe der Gangway plaziert, als er das erste Mal in Erscheinung trat. Unser Schiff war die Upskadaska City, ein brandneuer Frachter, mit begrenzter Passagieraufnahmefähigkeit, registriert in den Raumhäfen der Venus, von denen sie ihren Namen erhielt. Unnötig zu erwähnen, daß man sie im Raumfahrerslang als die Upsydaisy kannte. Wir lagen in der Colorado Raketenbasis, nördlich von Denver, mit einer beträchtlichen Ladung an Bord, in der Hauptsache Beobachtungsgerät, landwirtschaftliche Ausrüstungen, aeronautische Spannvorrichtungen und Werkzeug für Upskadaska, aber auch einen Satz Radiumnadeln für das Venusische Krebsforschungsinstitut. Wir hatten acht Passagiere, ohne Ausnahme emigrierende Landwirte, die vorhatten, ihr Heu dreißig Millionen Meilen näher an der Sonne zu machen. Wir hatten das Schiff aufgerichtet und erwarteten den Sirenenton der Heulbrüder, der in vierzig Minuten ertönen sollte, als Jay Score ankam. Er war über zwei Meter groß und fast dreihundert Pfund schwer, aber er bewegte seinen massigen Körper mit der Grazie eines Ballettänzers. Ein so großer Kerl, der sich so bewegte, war schon einer Betrachtung wert. Er kam die Duralumingangway hoch mit der Nonchalance eines Touristen, der den Bus nach Jacksons Creek betritt. An seiner bulligen rechten Faust baumelte ein lederner Koffer, groß genug, um sein Bett zu enthalten, und noch einen oder zwei Schränke dazu. Oben angekommen, blieb er stehen, und während er die gekreuzten Schwerter an meiner Mütze be-
trachtete, sagte er: »Morgen, Sarge. Ich bin der neue zweite Navigator. Ich soll mich bei Captain McNulty melden.« Ich wußte, daß wir einen neuen Navigator benötigten, jetzt, wo Jew Durkin zu der großkotzigen marsianischen Nußschale, Prometheus, versetzt worden war. Das also war sein Nachfolger. Er war ein Terrestrier, ohne Zweifel, doch war er weder schwarz noch weiß. Sein ausdrucksloses, aber tüchtiges Gesicht sah aus, als wäre es mit altem, gutbearbeitetem Leder überzogen. Seine Augen enthielten brennende Feuer, ähnlich einer Phosphoreszenz. Ein Hauch umgab ihn, der ihn als ein außergewöhnliches Individuum auszeichnete, von der Art, wie ich noch keines zuvor getroffen hatte. »Hallo, Kleiner«, begrüßte ich ihn; ich bekam ein steifes Genick während ich zu ihm aufblickte. Ich bot ihm keine Hand, das wollte ich mir für später aufheben. »Öffnen Sie Ihren Koffer und lassen Sie ihn im Sterilisationszimmer. Sie finden den Skipper im Bug.« »Danke«, entgegnete er ohne die leiseste Andeutung eines Lächelns. Er trat in die Luftschleuse und zog den ledernen Heuschober hinter sich her. »Wir starten in vierzig Minuten«, warnte ich ihn. Ich sah nichts mehr von Jay Score, bevor wir zweihunderttausend weit draußen waren, die Erde ein grünlicher Mond am Ende unserer Kondensspur. Dann hörte ich ihn im Durchgang, wo er jemand fragte, wo er den Waffensergeanten finden könnte. Er wurde durch meine Tür geschickt. »Sarge«, sagte er, wobei er mir seine offizielle Anforderung aushändigte. »Ich bin gekommen, um
meine Zusatzausrüstung zu vervollständigen.« Er lehnte sich gegen die Trennwand, der gesamte Rahmen ächzte, und die oberste Röhre bog sich in der Mitte durch. »Hey!« rief ich. »Tschuldigung!« Er wich zurück. Die Trennwand stand wesentlich sicherer, wenn er seine Masse selbst abstützte. Nachdem ich seinen Anforderungszettel abgestempelt hatte, ging ich in die Waffenkammer und holte seinen Nadelstrahlprojektor nebst einer Schachtel Ersatzbatterien für ihn. Die größten venusischen Schlammskier, die ich finden konnte, waren elf Nummern zu schmal und eine Meile zu kurz für ihn, aber sie mußten genügen. Ich gab ihm eine Kanne dünnflüssigen Mehrbereichsöls, eine Dose Graphit, eine Packung Lepantobatterien für sein Mikrowellenradio, und, letztlich, ein Bündel papierumwickelter Tabakstäbchen, mit der Aufschrift: Eine Empfehlung der Vereinigten Planetarischen Genußmittelfirmen. Mir die Gewürzstäbchen zurückschiebend, sagte er: »Kannst du behalten – mir wird schwindlig davon.« Den Rest der Ausrüstung ließ er in seiner Seitentasche verschwinden, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Es ist schon lange her, daß ich jemanden mit einem derart unbeweglichen Gesichtsausdruck gesehen habe. Dessen ungeachtet, der Blick, den er den Raumanzügen zuwarf, schien seltsam nachdenklich zu sein. Da waren dreißig doppelt gefütterte für die Terrestrier, die alle wie abgelegte Häute an der Wand hingen. Zusätzlich gab es sechs Kopf-und-SchulterHelme für die Marsianer, die einen geringen Sauer-
stoffbedarf hatten. Ich hatte keinen Anzug für ihn. Ich hätte ihm keinen verpassen können, selbst wenn mein Leben davon abhängig gewesen wäre. Es wäre wie der Versuch gewesen, einen Elefanten einzukleiden. Nun, er polterte leichtfüßig hinaus, wenn Sie verstehen, was ich meine. Die zwanglose, allzu lässige Art, mit der er seine Körpermassen bewegte, ließen mich wünschen, irgendwo, weit sonstwo zu sein, wenn er jemals zu toben beginnen sollte. Nicht, daß ich ihm unterstellt hätte, schnell Amok zu laufen, dazu war er zu ausgeglichen, fast sphinxhaft. Aber ich war fasziniert von seiner ruhigen Selbstsicherheit und seinen Bewegungen, die rasch, lautlos und geschmeidig waren. Vielleicht war das aber auf seine Gewohnheit, zwei Zentimeter Schaumgummi unter den Sohlen seiner großen Stiefel zu tragen, zurückzuführen. Ich behielt Jay Score interessiert im Auge, während die Upsydaisy sich unaufhörlich ihrem Ziel näherte. Ja, ich war mehr als verblüfft über ihn, denn sein Typ war völlig neu für mich, obwohl ich sehr viele Menschen während meines Lebens getroffen habe. Er blieb meistens schweigsam, aber von aufrichtiger Herzlichkeit. Seine Arbeit erfüllte er gewissenhaft und zufriedenstellend, in jeder Hinsicht. McNulty entwickelte eine große Vorliebe für ihn, obwohl er niemals derjenige gewesen war, der Neuankömmlingen einen überschwenglichen Empfang bereitete. Am dritten Tag unserer Reise gelang Jay ein spektakulärer Treffer mit den Marsianern. Wie allgemein bekannt ist, haben diese glotzäugigen, tentakelbe-
wehrten, halb-atmenden Besserwisser seit über zwei Jahrhunderten die Sonnensystemmeisterschaft im Schachspielen inne, eine Verbindung, die fester als geleimt zusammenhält. Niemand außerhalb des Mars wird sie jemals lösen können. Sie sind verrückt nach dem Spiel, schon häufig habe ich welche von ihnen gesehen, die alle Farben des Spektrums der Verzükkung durchliefen, wenn jemand endlich, nach dreißig Minuten des Nachdenkens, eine Figur bewegte. In seiner Freizeit verbrachte Jay einmal die verbliebenen acht Stunden unter drei Pfund Unterdruck in der Steuerbordluftschleuse. Die Stille, die von den Mikrofonen übertragen wurde, wurde gelegentlich von schrillem Pfeifen und Zwitschern unterbrochen, als ob er und die Marsianer die Kabine in ein Irrenhaus verwandeln würden. Am Ende seiner Freizeit fanden wir unsere tentakelbewehrte Außenmannschaft völlig erschöpft. Es stellte sich heraus, daß Jay sich entschlossen hatte, mit Kli Yang zu spielen, und diesem ein Unentschieden abgerungen hatte. Kli war Sechster geworden in den letzten solaren Ausscheidungen, und er war nur zehnmal insgesamt geschlagen worden. Die Gang vom roten Planeten hatte danach einen ständigen Fingerzeig auf ihn – ich sollte besser sagen: einen Tentakelzeig. In jeder Freizeit lauerten sie ihm auf und zerrten ihn in die Luftschleuse. Am elften Tag unserer Reise spielte er mit sechs von ihnen gleichzeitig, verlor zwei Spiele, erreichte in dreien ein Unentschieden und gewann eines. Sie hielten ihn für einen wahrhaften Schlager – für einen überdurchschnittlichen Terrestrier. Da ich ihre überragenden Fähigkeiten in diesem Spiel kannte, dachte ich genau-
so. Auch McNulty tat das. Er ging sogar so weit, ihre Wettkampfergebnisse ins Bordbuch einzutragen. Sie erinnern sich vielleicht an die Sensationsmeldung, die die Audionachrichten des Jahres 2270 als »McNultys Magischen Mammutflug« bezeichneten? Das ist natürlich eine Legende des Raumfahrtzeitalters. Später, nachdem wir wieder sicher zu Hause waren, stellte McNulty die Sache richtig und wies ihr den gebührenden Platz zu. Die Audionachrichten hatten eine gute Entschuldigung, wie üblich. Sie sagten, er wäre der Captain, oder etwa nicht? Und sein Name ergänzte den Stabreim der Schlagzeile, oder nicht? Es scheint, als existiere eine Gattung Audiojournalisten, die Stabreime erfinden müssen, um ihr Seelenheil zu retten. Was dieses verrückte Flugkunststück heraufbeschwor, das war ein Brocken kosmischen Treibguts. Besagtes Objekt hatte die Form eines Klumpens, ein Eisen-Nickel Meteorit, der mit charakteristischem Pssst! dahinschwebte. Sein Orbit lag in der planetaren Ebene und wies Schnittpunkte mit unserem Kurs, der Sonne entgegen, auf. Es bereitete uns eine Menge Kopfzerbrechen. Ich hätte nie geglaubt, daß ein so kleines Objekt einen solchen Knall erzeugen könnte. Bis zum heutigen Tag noch kann ich das entsetzliche Heulen der Luft hören, die durch das gezackte Loch in den Weltraum entwich. Wir verloren ein klein wenig Atemluft, bevor die Sicherheitsschotts die zerstörten Regionen hermetisch abriegelten. Der Gesamtdruck war auf neun Pfund abgesunken, als die Kompressoren ihn abfingen und
wieder erhöhten. Der Druckabfall machte den Marsianern nichts aus, für sie war es, als würden sie Wasserdampf inhalieren. Ein Maschinist befand sich in der abgeriegelten Sektion. Ein anderer war den sich schließenden Toren unter beinahigem Verlust eines Ohres entkommen. Aber der erste, dachten wir, hatte sein letztes Schicksalslos gezogen und war hinausgeweht worden, wie so viele Raumfahrer, die so das Ende ihrer Arbeit erlebten. Der Mann, der entkommen war, lehnte an einem Bullauge, sein Gesicht war totenbleich angesichts seiner Errettung vor seinem so nahen Ende. Jay Score kam herangestapft. Seine Kiefer mahlten, seine Augen blitzten wie Lampen, doch seine Stimme war kühl und beherrscht. Er sagte: »Geht raus. Versiegelt diesen Raum. Ich werd' versuchen, ihn zu schnappen. Öffnet und laßt mich rasch raus, wenn ich klopfe.« Mit diesen Worten scheuchte er uns aus dem Raum, den wir durch Schließen des Sicherheitsschotts versiegelten. Wir konnten nicht sehen, was der Koloß tat, doch die Ereignisse zeigten, daß es ihm gelungen war, das Schott zum beschädigten Teil wieder in Gang zu bringen und zu öffnen. Wenige Sekunden später erlosch das Licht, ein Zeichen, daß die Sektion erneut abgeriegelt war. Dann folgte ein heftiges Pochen. Wir öffneten. Jay kam Hals über Kopf herausgestolpert, den schlaffen Körper des Maschinisten in seinen Armen. Er trug ihn, als wäre er nicht größer und schwerer als ein Kind, der Schwung, den er hatte, drohte beide geradewegs durch das Ende des Schiffes zu tragen.
In der Zwischenzeit entdeckten wir, daß wir uns in einer erstklassigen Notlage befanden. Die Raketen funktionierten nicht mehr. Die Ausstoßröhren waren okay, und auch die Brennkammern waren unbeschädigt. Die Injektoren arbeiteten ohne Hindernis – vorausgesetzt, sie wurden von Hand bedient. Wir hatten nichts von unserem wertvollen Brennstoff verloren, und auch die Hülle war intakt, abgesehen von dem einen gezackten Loch. Was uns manövrierunfähig machte, war die Zerstörung der Gleichschaltungszufuhr und der Feuerkontrollen. Sie hatten sich genau dort befunden, wo der große Meteorit eingedrungen war, und nun waren sie nur noch ein Haufen Schrott. Das war mehr als sicher. Die allgemeine Meinung bezeichnete es als sicheren Tod, doch niemand sprach das so offen aus. Ich bin mir verdammt sicher, daß McNulty diese Todesahnungen teilte, auch wenn sein offizieller Bericht es als eine »unangenehme Lage« beschrieb. Das ist typisch McNulty. Ein Wunder, daß er unsere Gefühle nicht als eine momentane Verblüffung darstellte. Wie dem auch sei, die marsianische Gruppe ging nach draußen; zum erstenmal während sechs Fahrten wurde ernsthafte Arbeit von ihnen verlangt. Der Druck war auf vierzehn Pfund zurückgekehrt, und sie mußten sich ihm aussetzen, um ihre Helm-undSchulter-Anzüge in Empfang zu nehmen. Kli Yang schnüffelte herausfordernd, schwenkte angeekelt einen Tentakel und zwitscherte: »Ich kann schwimmen!« Er entspannte sich, nachdem wir seinen Helm fixiert hatten und auf seine gewohnten drei Pfund einstellten. Das ist die marsianische Art von Sarkasmus: Wann immer die Atmosphäre dichter ist
als sie das mögen, machen sie verschiedene Schwimmbewegungen und rufen: »Ich kann schwimmen!« Um ihnen zu ihrem Recht zu verhelfen – sie waren gut. Ein Marsianer kann sich auf poliertem Eis festklammern und ununterbrochen zwölf Stunden arbeiten, mit einer Sauerstoffration, die einem Menschen keine neunzig Minuten reichen würde. Ich beobachtete sie durch die Luftschleuse, ihre Augen glotzten durch umgestülpte Goldfischgläser, ihre Tentakel kuppelten Kraftfelder, versiegelten Platten und lichtbogengeschweißte Nähte. Blaue Lichter blitzten auf, als sie begannen, die Ränder des gezackten Loches abzuschmirgeln, zu formen und wieder zu verschließen. Während der ganzen Zeit flogen wir unaufhörlich der Sonne entgegen. Ohne diesen unglücklichen Zwischenfall wären wir in vier Stunden in eine Kreisbahn geschwenkt, die uns zur Venus getragen hätte. Dann hätten wir uns von ihrem Schwerefeld einfangen lassen, während wir uns auf eine sichere Landung konzentriert hätten. Aber als dieser verfluchte Planetoid uns erwischt hatte, war unser Kurs gerade auf den größten und leuchtendsten Himmelskörper gerichtet gewesen. Auf diesem Weg befanden wir uns noch immer, unsere ursprüngliche Geschwindigkeit wurde stetig beschleunigt, durch die Anziehungskraft unseres lohenden Zieles. Ich wollte mich zwar immer verbrennen lassen aber noch nicht jetzt! Oben, im Bugnavigationsraum, verbrachte Jay Score seine Zeit mit andauernden Unterredungen mit
Captain McNulty und den beiden Computeroperatoren. Draußen flitzten die Marsianer noch immer herum, arbeiteten mit blitzendem, geisterhaftem blauen Licht. Die Maschinisten warteten selbstverständlich nicht das Ende ihrer Arbeit ab. Vier von ihnen betraten die zerstörte Station und begannen, das herrschende Chaos zu beseitigen. Ich beneidete all die beschäftigten Mannschaftsmitglieder, das taten auch viele andere. Es spendet eine Menge Trost, wenn man in einer ausweglos scheinenden Situation etwas zu arbeiten hat. Es ist fürchterlich, Däumchen drehen zu müssen, während andere hart arbeiten. Zwei Marsianer kamen durch die Schleuse zurück, holten mehr Stahlplatten und gingen wieder hinaus. Einer von ihnen hielt es für eine gute Idee, auch sein Taschenschachspiel mit hinaus zu nehmen, aber ich ließ das nicht zu. Es gibt genug Zeiten und Orte für diese Art Unterhaltung, aber die Außenhülle eines beschädigten Schiffes ist kaum einer von ihnen. Schließlich entfernte ich mich, um nach Sam Hignet, unserem schwarzen Doktor, zu sehen. Sam war es gelungen, den Maschinisten vom Rand des Grabes zu retten. Er hatte es geschafft, mit Sauerstoff, Adrenalin und Herzmassagen. Nur seine langen, geschmeidigen Finger waren in der Lage, so etwas fertigzubringen. Es war ein medizinisches Meisterstück, das nur selten zuvor Anwendung gefunden hatte. Es schien, als ob Sam nicht wußte, was vorgefallen war, und es ihn auch nicht kümmerte. So war er, wenn er einen Patienten in Händen hatte. Vorsichtig verschloß er den Brusteinschnitt mit silbernen Klam-
mern, betupfte das zerstörte Gewebe mit jodiertem Plastik und kühlte die Substanz mit einem Ätherspray zu unverzüglicher Härte. »Sam«, sagte ich ihm. »Du bist ein Zauberer.« »Jay gab mir eine echte Chance«, sagte er. »Er brachte ihn rechtzeitig hierher.« »Warum ihm die ganze Schuld zuschieben?« scherzte ich, nicht sehr lustig. »Sergeant«, antwortete er, sehr ernst. »Ich bin der Schiffsarzt. Ich tue mein möglichstes. Ich hätte diesen Mann nicht retten können, wenn Jay ihn nicht rechtzeitig hergebracht hätte.« »In Ordnung, in Ordnung«, stimmte ich zu. »Ganz wie du wünschst, Sam.« Ein guter Bursche, dieser Sam. Aber er war wie alle Ärzte – Sie verstehen, ethisch. Ich verließ ihn und seinen schwach atmenden Patienten. McNulty kam die Laufplanke herunter, als ich zurückging. Er überprüfte die Treibstofftanks. Er tat es persönlich, und das wollte schon etwas heißen. Er sah besorgt aus, und das, zum Teufel, hieß sehr viel. Es bedeutete, daß ich gar nicht erst anfangen mußte, meinen Letzten Willen niederzuschreiben, da kein lebender Mensch ihn zu lesen bekommen würde. Seine behäbige Gestalt verschwand im Bugnavigationsraum, und bevor das Tor sich wieder schloß, konnte ich ihn sagen hören: »Jay, ich glaube, Sie –«, dann schnitt die Tür seine Worte ab. Er setzte offensichtlich eine ganze Menge Vertrauen in Jay Score. Nun, dieses Individuum schien auch tüchtig genug. Der Skipper und der neue Notnavigator fuhren fort, sich wie Busenfreunde zu beneh-
men, während sie dem endgültigen Schmoren entgegensahen. Einer der auswandernden Landwirte kam aus seiner Kabine und war bei mir, ehe ich die Waffenkammer erreichte. Mich mit aufgerissenen Augen betrachtend, sagte er: »Sergeant, da ist ein Halbmond in meinem Bullauge zu sehen.« Ununterbrochen glotzte er auf mich, während ich, mit ebenso großen Augen, zurückglotzte. Wenn die Venus jetzt die Hälfte ihrer Oberfläche zeigte, dann bedeutete das, daß wir gerade ihre Kreisbahn passierten. Er wußte das auch; ich erkannte es an seinen ängstlich aufgerissenen Augen. »Nun«, fuhr er hartnäckig fort, mit krankhafter Nervosität. »Wie lange wird dieser Zwischenfall uns noch aufhalten?« »Keine Ahnung.« Ich kratzte meinen Kopf, bemüht, dumm und vertrauenerweckend zugleich auszusehen. »Captain McNulty wird alles Menschenmögliche tun. Vertrauen Sie ihm – Väterchen weiß es am besten.« »Sie glauben nicht, daß wir... äh... in irgendeiner Gefahr schweben?« »Ach wo, nicht im geringsten.« »Sie lügen«, sagte er. »Es ärgert mich, das verneinen zu müssen.« Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Unbefriedigt und ängstlich kehrte er in seine Kabine zurück. In kurzer Zeit würde er die Venus in ihrer Dreiviertelansicht sehen und das den anderen erzählen. Dann würde der Teufel los sein. Der Teufel in der Hölle des Sonnenfeuers.
Die letzten Quellen der Hoffnung waren versiegt, als ein entsetzliches Röhren und Zittern anzeigte, daß die Raketen ihre Arbeit wieder aufgenommen hatten. Das Geräusch dauerte nur Sekunden, dann verstummten sie. Das kurze Aufheulen sollte wohl suggerieren, daß die Reparaturen zufriedenstellend verliefen. Das Geräusch rief den Landwirt in schnellstem Lauf auf die Bühne. Er kannte die schlechte Nachricht inzwischen wie alle anderen. Es war unmöglich gewesen, ihm in den drei Tagen, seit er den Halbmond der Venus gesehen hatte, die Wahrheit vorzuenthalten. Sie war inzwischen weit hinter uns. Wir überschnitten gerade die Bahn des Merkur. Noch immer verharrten die Passagiere in der verzweifelten Hoffnung, jemand würde ein bisher nie geschehenes Wunder vollbringen. Als er in die Waffenkammer stürmte, schrie er: »Die Raketen arbeiten wieder. Bedeutet es das?« »Nichts«, sagte ich, um keine falschen Hoffnungen zu erwecken. »Aber können wir nicht umkehren und zurückfliegen?« Er schnitt eine Grimasse, Schweiß rann seine Wangen hinunter. Vielleicht entsprang ein wenig davon seiner Angst, doch hauptsächlich war es der Tatsache zuzuschreiben, daß mittlerweile alles andere als arktische Bedingungen an Bord herrschten. »Sir«, sagte ich, ich fühlte mein Hemd am Rücken kleben, »wir sind einer Anziehungskraft ausgesetzt wie noch keine Raumfahrer vor uns, und wir bewegen uns so verflixt schnell, uns bleibt praktisch nichts anderes zu tun als abwarten.« »Meine Farm«, knurrte er verbittert. »Ich bekam zwanzig Hektar des besten venusischen Tabakbau-
geländes. Ganz zu schweigen von Hochlandwiesen für die Viehzucht.« »Tut mir leid, ich glaube, Sie sind sehr glücklich, wenn Sie die überhaupt jemals zu Gesicht bekommen.« Rooaaarrrrr! machten die Raketen erneut. Der Rückstoß preßte mich in meinen Sitz, er sackte nach vorne, als habe er heftige Magenschmerzen. Oben im Bug ließen Jay Score, oder McNulty oder wer auch immer, die Düsen aufheulen, wenn sie den Willen dazu verspürten. Ich sah keinen Sinn darin. »Was soll das heißen?« fragte mein Gegenüber, der sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. »Jungen müssen spielen«, entgegnete ich. Seinen Unwillen hinausschnaubend, ging er zu seiner Kabine. Ein typischer terrestrischer Auswanderer, groß, gesund, zäh, es war nur schwer an ihn heranzukommen, und er war zu griesgrämig, um wirklich in einer herzerweichenden Art und Weise von etwas beunruhigt zu sein. Eine halbe Stunde später erklang das allgemeine Rundrufsignal aus allen Lautsprechern an Bord. Es war ein Bodensignal, das üblicherweise nicht im Weltraum verwendet wurde und es versammelte alle Besatzungsmitglieder und sonstigen Passagiere augenblicklich in der Hauptkabine. Stellen Sie sich vor, die Mannschaft würde bei voller Fahrt von ihren Plätzen weggeholt werden! Etwas Ungewöhnliches in der Geschichte der Raumfahrt stand uns bevor, möglicherweise eine Bereitet-euch-auf-das-unausweichliche-Ende-vorAnsprache McNultys. Da ich vermutete, der Skipper würde über letzte
Zeremonien reden, überraschte es mich nicht, ihn, als wir eintrafen, bei dem kleinen Rednerpult stehen zu sehen. Ein ausgesprochen finsterer Ausdruck lag über seinen derben Zügen, der sich jedoch bald zum Hauch eines Lächelns wandelte, als die Marsianer eintrafen und einer von ihnen einen schwimmenden Haifisch imitierte. Aufgerichtet an McNultys Seite, ausdruckslos wie immer, stand Jay Score und sah durch den schwimmenden Marsianer hindurch, als wäre er eine Glasscheibe. Dann wandten sich seine seltsamen hellen Augen einem andern Ziel zu, als wäre der Scherzbold nicht mehr vorhanden. Der Witz mit dem Schwimmen wurde langsam alt. »Menschen und Vedras«, begann McNulty, letzteres entsprach dem marsianischen Ausdruck für ›Erwachsene‹ und war unter entsprechenden Voraussetzungen ein weiteres Beispiel von marsianischem Sarkasmus, »ich muß wohl keinen mehr über unsere mißliche Lage unterrichten.« Der Mann hatte eine Art der Wortwahl – mißlich! »Im Moment sind wir näher an der Sonne als jedes in der Geschichte der kosmischen Navigation bekannte Raumschiff.« »Komischen Navigation«, murmelte Kli Yang mit taktlosem Witz. »Wir werden Ihren Humor später noch zur Unterhaltung benötigen«, sagte Jay Score mit einer Stimme, die so kalt war, daß Kli Yang sich zusammenkauerte. »Wir nähern uns dem Feuerball«, fuhr McNulty fort; sein finsterer Ausdruck kehrte zurück. »Schneller als ein Schiff sich jemals bewegte. Offen gesagt, es gibt nur eine Chance unter zehntausend, die uns le-
bend hier herausführt.« Mit verändertem Blick starrte er zu Kli Yang, doch das Individuum, mit all seinen Tentakeln, hielt sich nicht zurück. »Wichtig ist, es existiert eine Chance – und wir werden sie ergreifen.« Wir starrten ihn an und fragten uns, was zum Teufel er meinte. Jedem von uns war bekannt, daß unsere unglaubliche Geschwindigkeit es unmöglich machte, in einer paraboloiden Kurve zu wenden, ohne die Sonne zu berühren. Genauso wenig konnten wir, durch die gewaltige Anziehung, die auf uns wirkte, den umgekehrten Weg einschlagen. Wir konnten nichts tun, außer weiterzufliegen, weiter, bis schließlich die letzten Flammen unsere zusammenhaltlosen Moleküle verschlangen. »Was wir vorhaben, ist zu versuchen, eine Kometenbahn zu fliegen«, fuhr McNulty fort. »Jay, ich selbst und auch die Astrocomputertechniker halten es für möglich, das schaffen zu können und durchzukommen.« Das genügte. Dieses Kunststück war ein rein theoretisches, bisher nur durchgerechnet von Mathematikern und Astronavigatoren, aber noch niemals in der harten Wirklichkeit erprobt. Die Grundidee ist, die größtmögliche Geschwindigkeit zu erreichen und dann, gleichzeitig, in eine gestreckte elliptische Umlaufbahn einzuschwenken, gleich der eines Kometen. In der Theorie würde die Rakete sich daraufhin mit einer so irrsinnigen Geschwindigkeit der Sonne nähern, daß sie, wie ein Pendel, weit auf die andere Seite der Umlaufbahn hinausgeschleudert werden würde. Ein hübscher Trick – aber konnten wir es schaffen? »Die Berechnungen haben unsere derzeitige Ge-
schwindigkeit als groß genug ermittelt, um uns eine kleine Überlebenschance zu geben«, sagte McNulty. »Wir haben genügend Energie und genügend Treibstoff, um, mit Unterstützung der Sonnengravitation, die nötige Geschwindigkeit herzustellen und den nötigen Winkel zum richtigen Zeitpunkt zu bilden. Das einzige Problem, das uns wirklich zu schaffen macht, ist, wie wir überleben sollen, wenn wir unseren sonnennächsten Punkt erreicht haben.« Er wischte sich den Schweiß ab, womit er unbewußt auf die kommenden Dinge hinwies. »Das sind keine leeren Phrasen, Männer. Es wird eurer Vorstellung von der Hölle ziemlich nahekommen.« »Wir werden's durchstehen, Skipper«, sagte jemand. Zustimmendes Gemurmel war die Antwort. Kli Yang erhob sich und schwenkte gleichzeitig vier wirbellose Tentakel, während er zwitscherte: »Es ist eine Idee. Sie ist exzellent. Ich, Kli Yang, unterstütze sie mit der Zustimmung meiner Vedragefährten. Wir werden uns in die Kältekammern zurückziehen und den menschlichen Gestank erdulden, während die Sonne vorbeizieht.« Ohne auf den Ausrutscher bezüglich der menschlichen Ausdünstungen einzugehen, nickte McNulty und sagte: »Jeder wird in den Kälteraum gequetscht werden. Wir werden versuchen, es so erträglich wie möglich zu gestalten.« »Exakt«, sagte Kli. »Vollkommen«, fügte er unter höflicher Nichtbeachtung der dickflüssigen Luft hinzu. Mit einer Tentakelspitze auf McNulty zeigend, fuhr er fort: »Aber wir können das Schiff nicht kontrollieren, während wir im Kälteraum zusammenge-
pfercht sind wie ein Dutzend Sardinen in einer Konservendose. Es muß ein Pilot im Bug sein. Ein Mann kann das Schiff auf Kurs halten, bis er gebraten wird. Irgend jemand muß der Braten sein.« Er gab der Spitze seines Tentakels eine andere Windung, unter der Annahme, dies sichere ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. »Und da es nicht verheimlicht werden kann, daß wir Marsianer weitaus mehr Hitze ertragen können, schlage ich vor, daß –« »Blödsinn!« bellte McNulty. Seine Schroffheit beeindruckte niemanden. Die Marsianer waren Nervensägen – aber geniale Burschen. »Also gut.« Klis Zwitschern schwoll zu einem schrillen, protestierenden Heulen an. »Wer sonst ist dazu auserwählt, gebraten zu werden?« »Ich«, sagte Jay Score. Die Betonung seiner Worte war seltsam. Gerade als wäre er so sehr wie geschaffen für diese Aufgabe, daß das nur einem Blinden nicht auffallen konnte. Diesbezüglich hatte er allerdings recht. Jay war der einzige für diese Aufgabe. Wenn jemand in der Lage war, das zu ertragen, was durch die vorderen Sichtluken zu sehen sein würde, dann Jay Score. Er war groß und kräftig, prädestiniert für einen Notfall wie diesen. Er besaß genügend Kraftreserven, über die keiner von uns sonst verfügte, und zu alledem war er ein voll qualifizierter Notnavigator. Und dies war ganz gewiß ein Notfall, der größte in der Geschichte. Es war lustig, wie ich mich um ihn sorgte. Ich konnte ihn mir gut vorstellen, ganz allein, niemand zugegen, unsere Leben hingen davon ab, wieviel Hölle er ertragen konnte, während die unbarmherzi-
ge Sonne seine versengten Finger beschien... »Sie!« stieß Kli Yang hervor und unterbrach damit meine Gedankenkette. Seine Glotzaugen starrten ungläubig auf die große, lakonische Gestalt auf dem Podium. »Sie wollen das tun! Ich bin in der Lage, Sie in vier Zügen mattzusetzen, wie Sie verdammt gut wissen, und prompt entziehen Sie sich einem Wettkampf.« »Sechs Züge«, korrigierte Jay. »Sie können es nicht in weniger als sechs Zügen schaffen.« »Vier!« Kli Yang heulte bereits. »Und genau an diesem Punkt –« Das war zuviel für McNulty. Er sah aus wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Sein purpurnes Gesicht wandte sich dem heftig gestikulierenden Kli zu. »Zur Hölle mit Ihrem verfluchten Schach!« brüllte er. »Macht, daß ihr auf eure Stationen zurückkommt, allesamt! Macht alles fertig zur maximalen Beschleunigung. Ich werde das allgemeine Rufsignal betätigen, wenn es nötig wird, Schutz zu suchen, dann kommt ihr alle zum Kühlraum.« Er sah sich um, die purpurne Farbe seines Gesichts verblaßte, als sein Blutdruck zurückging. »Ich wiederhole, jeder, ausgenommen Jay.« Das war schon mehr wie in alten Zeiten, als die Raketen noch funktioniert hatten. Sie donnerten leise und stetig. Im Innern des Schiffs wurde die Temperatur heißer und heißer, bis der Schweiß unaufhörlich unsere Rücken hinunterlief und die Wände einen feuchten Beschlag bekamen. Wie es momentan im Bugnavigationsraum aussah, das wußte ich nicht, und ich verspürte auch keinen Drang, es zu erfahren. Die Marsianer waren noch nicht sehr mitgenommen,
dieses eine Mal waren sie um ihre lächerlichen Körper zu beneiden. Ich achtete nicht auf die vergehende Zeit, aber ich hatte zwei Arbeitsperioden, unterbrochen von einer Schlafpause, bevor die Lautsprecher den allgemeinen Rundruf von sich gaben. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Dinge sich sehr zum Schlechten entwickelt. Ich schwitzte nicht mehr, ich schmolz in meine Stiefel. Sam natürlich ertrug es am ruhigsten von allen Terrestriern und hielt lange genug aus, um seinen Patienten aus akuter Gefahr zu retten. Der Maschinist konnte sich glücklich schätzen – wenn man es als Glück bezeichnen kann, für das Höllenfeuer gerettet zu werden. Wir trugen ihn in den Kühlraum, in entsprechende Entfernung, mit Sam, um auf ihn aufzupassen. Der Rest von uns folgte, als das Signal ertönte. Unsere Zuflucht war wesentlich mehr als ein reiner Kühlschrank, es war die befestigtste und kühlste Stelle im ganzen Schiff, ein himmlisch gepanzerter, von einem dreifachen Schild geschützter Aufenthaltsraum, der die Instrumentenschränke enthielt, zwei Krankenzimmer und eine riesige Liege für die Weltraumkranken. Er bot uns allen einen komfortablen Aufenthalt. Allen mit Ausnahme der Marsianer. Er bot ihnen zwar Aufenthalt, aber ganz und gar nicht komfortabel. Sie fühlen sich niemals wohl bei einem Druck von vierzehn Pfund, den sie nicht nur als dick empfinden, sondern auch als muffig – so etwas wie Sirup zu atmen, der nach alter Ziege riecht. Unter unseren eigenen Augen brachte Kli Yang eine Flasche mit Hoolooaroma zum Vorschein und
rechte sie Kli Morg, seinem Halbelternteil. Der Ältere nahm sie, schaute uns voller Abscheu an, dann schnüffelte er mit wichtigtuerischem Gebaren an der Flasche, eine Geste, die beleidigend wirken mußte. Aber niemand sagte etwas. Alle waren anwesend, ausgenommen McNulty und Jay Score. Der Skipper erschien zwei Stunden später. Es schien schlimm zuzugehen oben, denn er sah fürchterlich aus. Sein entstelltes Gesicht war schweißüberströmt und glänzte, seine sonst vollen Wangen waren eingefallen und mit Bläschen übersät. Seine üblicherweise geschniegelte, gutsitzende Uniform hing schlotternd an ihm. Man brauchte nur einen Blick auf ihn zu werfen, um das Ausmaß seiner Verbrennungen zu erkennen, er war am Ende seiner Widerstandskraft. Mit unsicheren Schritten überquerte er den Korridor, ging in die erstbeste Kammer und entkleidete sich, mit langsamen, schmerzvollen Bewegungen. Sam rieb ihn mit Brandsalbe ein. Wir konnten die heiseren Schreie unseres gepeinigten Skippers hören, als Sam seine Aufgabe schwungvoll erfüllte. Die Hitze war nun über uns wie der Zorn Gottes. Sie durchdrang die Wände, den Boden, die Luft und erzeugte eine Vielzahl stechender und schmerzender Gefühle in jeder Faser meines Körpers. Einige der Maschinisten zogen ihre Stiefel und Jacken aus. Nach kurzer Zeit schon folgten die Passagiere ihrem Beispiel und legten das meiste ihrer Oberbekleidung ab. Mein Landwirt gab eine recht schlechte Figur ab, wie er in seinem Tropenanzug so dasaß und darüber lamentierte, wie schön alles hätte werden können. McNulty, der aus der Kammer herauskam, setzte
sich auf ein Bett und sagte: »Wenn wir in vier Stunden noch alle okay sind, dann haben wir den schlimmsten Teil hinter uns.« In diesem Augenblick erstarb das Geräusch der Raketen. Wir wußten sofort, was geschehen war. Ein Treibstofftank war leer, und das Relais hatte den nächsten nicht angeschlossen. Ein Maschinist hätte dabeisein sollen um den Prozeß zu überwachen. Infolge der Hitze hatte sich jemand einen groben Schnitzer geleistet. Wir hatten den Zwischenfall gerade erst registriert, da war Kli Yang schon zur Tür draußen. Er war der Tür am nächsten gewesen und war hinausgeschlüpft, während wir noch damit beschäftigt waren, unsere überhitzten Gedanken zu ordnen. Zwanzig Sekunden später nahmen die Raketen ihr ständiges Dröhnen wieder auf. Die Klingel des Interkoms erklang in meinen Ohren. Ich nahm das Mikro und krächzte ein trockenes »Ja?«, worauf ich Jays Stimme hörte, der von oben mit mir sprach. »Wer hat es getan?« »Kli Yang«, sagte ich. »Er ist noch immer draußen.« »Vielleicht zu ihrer Unterkunft gegangen«, vermutete Jay. »Sagen Sie ihm meinen Dank.« »Wie ist es denn dort oben?« fragte ich. »Heiß. Es ist nicht gut... für die Sicht.« Einen Augenblick Stille, dann: »Glaube, ich kann es aushalten... irgendwie. Legt euch hin, oder haltet euch gut fest für die nächsten paar Minuten. Ich klingle.« »Warum?« Ich schrie halb, halb krächzte ich. »Werde versuchen, zu drehen. Versuche... die Hitze... verteilen.«
Ein leises Klicken zeigte, daß er die Verbindung unterbrochen hatte. Ich sagte den anderen, sie sollten sich hinlegen. Die Marsianer brauchten sich darüber keine Gedanken zu machen, denn sie besaßen genügend Saugnäpfe, mit denen sie sich festhalten konnten, wie lichtbogengeschweißtes Metall. Kli kam zurück und demonstrierte die Richtigkeit von Jays Vermutung, er trug Kopf und Schulterstücke der Gruppe. Die Last war das Äußerste, das er tragen konnte, nun, wo die Hitze einen Punkt erreicht hatte, der selbst ihm Unbehagen bereitete. Die marsianischen Strolche hüllten sich glücklich in ihre Vorrichtungen, versiegelten die Nähte und evakuierten sie auf drei Pfund Druck. Das machte sie sichtlich glücklicher. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß wir Terrestrier Raumanzüge tragen, um die Luft darin zu behalten, schien es paradox, zu sehen, wie die Marsianer sie benutzten, um die Luft draußen zu halten. Sie waren gerade dabei, es sich gemütlich zu machen und ein Schachbrett aufzustellen, um eine Ausscheidung zu beginnen, als die Klingel ertönte. Wir klammerten uns fest. Die Marsianer sogen sich mit ihren Saugnäpfen fest. Langsam und stetig begann die Upsydaisy sich um ihre longitudinale Achse zu drehen. Das Schachbrett und die Figuren versuchten stehenzubleiben; es mißlang, sie polterten über den Boden, die Wand hoch und an der Decke entlang. Die Anziehungskraft zog sie zur Sonnenseite. Ich sah Kli Morgs ausgemergelt, von der Hitze befreite Züge einem schwarzen König nachstarren, der wild herumwirbelte, und hätte schwören können, daß
man im Innern des Goldfischglases gerade eine umfangreiche Liste marsianischer Schimpfworte hätte hören können. »Dreieinhalb Stunden«, stöhnte McNulty. Diese vier Stunden insgesamt konnten nur eines bedeuten, nämlich zwei Stunden der Annäherung an den absoluten Totpunkt und zwei Stunden, in denen wir uns wieder von ihm entfernten. Also würde der Moment, in dem noch genau zwei Stunden vor uns lagen, der Punkt sein, in dem wir uns in größter Nähe zur Sonnenoberfläche befanden, der Augenblick größter Gefahr. Ich bekam von diesem kritischen Zeitpunkt nichts mit, da ich zwanzig Minuten vor seinem Beginn das Bewußtsein verlor. Es besteht kein Grund, den Schrecken dieser Zeit unnötig herauszuheben. Ich glaubte jeden Moment verrückt zu werden. Ich war ein Spanferkel in einem Ofen, bei lebendigem Leib geröstet. Es war das einzigemal, daß ich dachte, die Sonne sei ein verfluchter, brennender Bastard, der um jeden Preis ausgelöscht werden müßte. Kurz danach konnte ich gar nichts mehr denken. Ich erhielt das Bewußtsein zurück und begann mich schmerzhaft in meinen Haltegurten zu bewegen, ungefähr neunzig Minuten, nachdem wir den perihelischen Punkt passiert hatten. Meinem geplagten Verstand fiel es schwer zu glauben, daß wir nur noch eine halbe Stunde Flugzeit vor uns hatten, um theoretische Sicherheit zu erreichen. Was in der Zwischenzeit geschehen war, blieb meiner Phantasie überlassen, doch zu diesem Zeitpunkt wollte ich es mir lieber nicht ausmalen. Die
Sonne brannte mit einer Grausamkeit, millionenmal schlimmer als das Auge eines Tigers, und mindestens hunderttausendmal so hungrig nach unserem Blut und unseren Gerippen. Die flammende Korona lechzte nach dieser Schiffsladung halbtoter Wesen, gefangen in einer stählernen Flasche. Und oben, im Bug der Rakete, hinter dem völlig nutzlosen Quarzfenster, saß Jay Score allein und betrachtete das glühende Inferno, starrte, starrte, starrte... Ich versuchte – mühselig – mich zu erheben, meine Knie gaben nach, und ich fiel zu Boden, widerstandslos wie ein Bündel Lumpen. Das Schiff rotierte nicht länger, in normaler Position schossen wir vorwärts. Es war reine Schwäche, die mich stürzen ließ. Ich fühlte mich entsetzlich. Die Marsianer hatten sich bereits wieder erholt. Ich wußte, sie würden die ersten sein. Einer von ihnen zog mich hoch und hielt mich aufrecht, während ich mich bemühte, einen Bruchteil meiner früheren Willenskraft zurückzuerhalten. Ich sah, daß ein anderer genau über dem bewußtlosen McNulty und drei der Passagiere zusammengebrochen war. Ja, er schirmte sie ab vor der Hitze; sie waren die nächsten, die wieder zum Leben erwachten. Ich schwankte zum Interkom und drückte die Sprechtaste, doch es kam keine Antwort von oben. Drei lange Minuten hing ich erschöpft an der Wand, bevor ich es wieder versuchen konnte. Auch beim zweitenmal hatte ich keinen Erfolg. Jay wollte oder konnte nicht antworten. Starrsinnig machte ich einige weitere Versuche, mit dem gleichen Ergebnis. Diese Anstrengung kostete
mich eine Menge Kraft, ich brach erneut zusammen. Die Hitze war noch immer schrecklich. Ich fühlte mich ausgedörrt wie eine Mumie, in Millionen Jahre altem Wüstensand. Kli Yang öffnete das Tor und schleppte sich mit mühsamen, schmerzvollen Bewegungen nach draußen. Sein Helm saß fest auf seinen Schultern. Fünf Minuten später erschien er wieder und sprach durch das Diaphragma seines Helms. »Konnte mich dem Bugnavigationsraum nicht nähern. Im Mittelgang sind die Sicherheitsschotts geschlossen, die Atmosphäre abgedichtet, es ist wie im Innern eines Backofens.« Er starrte um sich, unsere Blicke trafen sich, und er beantwortete die Frage, die in meinen Augen stand. »Es ist keine Luft im Bug.« Keine Luft, das konnte nur eines bedeuten: Die Sichtfenster waren zerstört worden. Nichts anderes hätte die Atmosphäre aus dem Navigationsraum entweichen lassen können. Nun, wir hatten genügend Ersatzteile dabei und konnten den Schaden beheben, wenn wir die Situation wieder fest im Griff hatten. Aber einstweilen donnerten wir vorwärts, vielleicht auf dem richtigen Kurs, vielleicht auch nicht, mit einem verlassenen, luftleeren Navigationsraum und einem Interkomsystem, das nichts außer einer Grabesstille von sich gab. Wir saßen schweigend beisammen, langsam kehrten unsere Lebensgeister zurück. Der letzte, der aus der Bewußtlosigkeit erwachte, war unser verletzter Maschinist. Sam hatte ihn ein zweitesmal durchgebracht. Mit einemmal zeigte McNulty, der sich den Schweiß abwischte, plötzliche Freude.
»Vier Stunden, Männer«, sagte er mit grimmiger Zufriedenheit. »Wir haben's geschafft!« Wir stimmten ein kraftloses Geschrei an. Beim Jupiter, als er das ausgesprochen hatte, schien die Atmosphäre mit einemmal zehn Grad kälter zu werden. Es ist schon sonderbar, wie eine derartige Nachricht die Lebensgeister neu entfachen kann. Binnen kürzester Zeit hatten wir unsere Schwäche überwunden und waren bereit, zu gehen. Aber es dauerte nochmals vier Stunden, ehe vier kräftige Männer in Raumanzügen die Hölle oben betreten konnten und ihre Last aus dem luftleeren Navigationsraum bargen. Sie trugen ihn gemeinsam hinunter zu Sams Kabine, eine große, stumme Gestalt, das Gesicht von der Sonne schwarzgebrannt. Keines vernünftigen Gedankens fähig, irrte ich nur immerzu um ihn herum und fragte: »Jay, Jay, wie geht's dir?« Irgendwie muß meine Stimme zu ihm durchgedrungen sein, denn er bewegte die Finger seiner rechten Hand und gab ein tiefes Knurren von sich. Zwei der Maschinisten gingen zurück zu seiner Kabine, um seinen ledernen Koffer zu holen. Sie schlossen die Tür und blieben mit Sam zusammen drinnen, ließen mich und die Marsianer zurück in der Ungewißheit. Kli Yang ging den Korridor auf und ab, als ob er nicht wüßte, was er mit seinen Tentakeln anfangen sollte. Nach über einer Stunde kam Sam heraus. Wir umringten ihn sofort, um ihn festzuhalten. »Wie geht's Jay?« »Vollkommen blind.« Er schüttelte seinen wolligen
Kopf. »Auch keine Stimme mehr. Er hat eine ganz schöne Dosis abbekommen.« »Also darum hat er nicht über Interkom geantwortet.« Ich sah geradewegs in Sams Augen. »Können Sie irgendwas für ihn tun, Sam?« »Wenn ich das nur könnte.« Sein dunkles Gesicht zeigte deutlich das Ausmaß seiner Gefühle. »Sie wissen, wie gern ich ihn wiederherstellen würde. Aber ich kann nicht.« Er machte eine Geste der Hilflosigkeit. »Das liegt nicht mehr in meiner Macht. Niemand kann ihm helfen, außer vielleicht Johannsen. Vielleicht, wenn wir zur Erde zurückkehren –« Seine Stimme erstarb, und er ging wieder in seine Kabine. Kli Yang sagte unglücklich: »Ich bin sehr traurig.« Etwas, das ich bis an mein Lebensende nicht mehr vergessen werde, ist der Abend, den wir als Gäste des Astroclubs in New York verbrachten. Dieser Club war – und ist es noch immer – der exklusivste Treffpunkt der Gesellschaft. Um die Mitgliedschaft zu erwerben, muß man eine an ein Wunder grenzende astronavigatorische Leistung vollbringen, und das in einer auswegslos scheinenden Situation. Zu diesem Zeitpunkt gab es neun Mitglieder, und bis zum heutigen Tag sind es zwölf geblieben. Mace Waldron, jener überragende Pilot, der im Jahre 2263 das Marsraumschiff gerettet hatte, führte den Vorsitz. Er stand am Kopf der Tafel, Jay saß an seiner Seite. Sowohl Suppe als auch Fisch waren vorzüglich. An der gegenüberliegenden Seite des Tisches saß McNulty, ein breites Grinsen erhellte seine groben Gesichtszüge. Neben dem Skipper saß der alte, weißhaarige Knud Johannsen, das Genie, das die J-Serie
entwickelt hatte, ein Wissenschaftler, der jedem Raumfahrer bekannt war. An den Seiten des Tisches saß, ungeheuer selbstbewußt, die gesamte Mannschaft der Upsydaisy, eingeschlossen die Marsianer und drei unserer Passagiere, die ihre Auswanderung für diese Feier zurückgestellt hatten. Auch eine Menge Audiojournalisten waren zugegen, ausgerüstet mit Mikros und Kameras. »Gentlemen und Vedras«, sagte Mace Waldron, »dies ist eine Zusammenkunft, die in der Geschichte der Menschheit keinerlei Beispiel hat, ein Ereignis, das noch niemals geschehen ist und das kein Mitglied dieses Clubs sich hätte vorstellen können. Ich betrachte es als ein Privileg und als außerordentliche Ehre, Ihnen Jay Score vorzustellen und ihm die Mitgliedschaft in unserem Club anzubieten.« »Einverstanden«, riefen drei Mitglieder wie aus einem Munde. »Vielen Dank, Gentlemen.« Er hob fragend eine Augenbraue. Acht Hände hoben sich gleichzeitig. »Angenommen«, kommentierte er. »Ohne Ausnahme.« Er sah hinab auf den gleichgültigen und völlig ungerührten Jay Score und begann eine beispiellose Lobrede. Er redete und redete, voller Superlative und Anerkennung, während Jay ohne eine Miene zu verziehen neben ihm saß. Unten, am anderen Ende der Tafel, wurde McNultys Grinsen breiter und breiter. Neben ihm betrachtete der alte Johannsen Jay mit einem solchen Ausmaß väterlicher Zuneigung, daß es schon fast einen albernen Eindruck erweckte. Die Besatzung schenkte ihm ebenfalls volle Aufmerksamkeit, auch die Linsen der Kameras waren auf ihn gerichtet.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Objekt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu; das Opfer saß still da, seine wiederhergestellten Augen glänzten und funkelten, doch seine Miene war unbewegt, selbst angesichts der Rede, der Reporter und Johannsens väterlicher Gefühle. Aber nach zehn Minuten erkannte ich, wie J-20 sich mit allen Anzeichen beginnender Nervosität umzusehen begann. Lassen Sie sich von niemandem einreden, ein Roboter wäre keiner Gefühle fähig.
Homo Stupidus Majestätisch verließ die Karawane den blau-grünen Gürtel des marsianischen Dolthafarns, um in die Salomawüste zu ziehen. Vierundvierzig Kamele stapften mit dem ihnen eigenen schwankenden Gang und eingebildeten Gesichtsausdruck voran. Alle waren sie beladen. Unter dem Druck der Lasten sanken ihre bedächtigen, sich ohne Eile bewegenden Beine tief in die feinkörnigen, rosa Dünen ein. Das fünfundvierzigste Tier, das sich an der Spitze bewegte, war kein Kamel. Es war etwas kleiner, wohlgeformter, hatte ein beigefarbenes Fell und nur einen Höcker. Ein Renndromedar. Doch trotz dieser äußeren Unterschiede war seine Miene genauso hochmütig wie die der anderen Tiere. Sudgen ritt das Dromedar, Mitchell das dahintergehende Kamel, während Ali Fa'oum die EinmannNachhut bildete. Die dazwischengehenden zweiundvierzig Tiere trugen schwache Lasten und hatten starke Ausdünstungen. Ali, als letzter, bekam das nur zu deutlich zu spüren. Aber es machte nichts. Er war daran gewöhnt. Wäre es nicht so gewesen, er hätte es vermißt. Sich im Sattel umdrehend, wandte Sudgen sein Gesicht der sinkenden Sonne zu und sagte: »Sie werden verdammt bald ihre Bremsen anziehen, glaube ich.« Mitchell nickte bekräftigend. Er hatte Kamele quer durch Arabien gescholten, durch das nördliche Australien geflucht und dreimal rund um den Mars verwunschen. Seine Geduld hatte seit dem ersten Tag nicht zugenommen. Durch sein Inneres geisterte eine
Theorie, nach der es ohne Kamele einen orientalischen Fatalismus niemals gegeben hätte. Abrupt blieb das Dromedar stehen, sank zuerst auf die Vorder-, dann auf die Hinterbeine und legte sich dann mit einem Übelkeit erweckenden Schwanken hin. Es gab keine Veranlassung, nach hinten zu blikken. Dazu bestand überhaupt kein Grund. Der Rest der Karawane folgte unverzüglich, Vorderbeine zuerst, danach die Hinterbeine, das gleiche Schwanken. Eine Kiste, deren Haltegurte sich gelöst hatten, rutschte vom Rücken ihres gleichgültigen Trägers und fiel in den Sand. Ali war nun gezwungen, abzusteigen, was er auch tat. Er fand das Futter und verteilte es entlang der rastenden Reihe. Die Tiere beachteten die weißen Männer in keinster Weise, sie fraßen langsam und mit nervtötender Ruhe, ihre desinteressierten Augen studierten den fernen Horizont. Noch während sie fraßen, begann Ali sie zu striegeln. Er hatte sie bereits vor dreißig Jahren in Port Tewfik gestriegelt. Er tat es noch immer. Mit hochmütigen Mienen ließen sie es über sich ergehen. Sudgen zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und sagte: »Und da redet man über Mulis!« Langsam drehte das Dromedar den Kopf und maß ihn mit einem verächtlichen Blick. Dann fuhr es fort, in die Ferne zu starren. Das Tier kaute gleichmäßig und methodisch, die Unterlippe in stummer Verachtung vorgeschoben. »Gleiche Strecke, gleiche Zeit«, sagte Mitchell säuerlich. Heftig mit dem Absatz seines Stiefels auftretend, zertrat er eine zwölfbeinige marsianische Sand-
spinne. »Niemals mehr, niemals weniger. Sie beginnen pünktlich und hören pünktlich auf, keine Überstunden.« »Sie haben uns genau dort, wo sie uns haben wollten.« Sudgen blies eine dünne Rauchfahne aus kribbelnden Nasenlöchern und betrachtete ekelerfüllt das, was von der Spinne übriggeblieben war. »Sie sind die einzigen Geschöpfe, denen es möglich ist, diese Wüste zu durchqueren, von den Marsianern einmal abgesehen. Wenn wir Traktoren hätten, und wenn es auf diesem Planeten Benzin gäbe, dann könnten wir Traktoren benutzen.« »Eines Tages, wenn ich einmal reich bin«, prophezeite Mitchell, »werde ich exzentrisch werden. Ich werde mir ein Super-Duper-Raumschiffbauen. Eines, das eine hübsche Menge Ladung aufnehmen kann.« »Und dann?« unterbrach Sudgen. »Dann fange ich neu an, wo ich hier aufgehört habe – nur mit Elefanten.« »Ha-ha!« lachte Sudgen gekünstelt. Das Dromedar wandte erneut seinen Kopf. Es erzeugte einen glucksenden Laut mit seinem sich langsam bewegenden Maul. Das Geräusch wurde die ganze Reihe entlang wiederholt, bis Alis Tier schließlich den letzten Gluckser von sich gab. Ali striegelte ungerührt weiter. Mitchell schneuzte sich und sagte mit klagender Stimme: »Man kann den Eindruck gewinnen, die ganze Herde hat zu lose sitzende Gebisse.« Er machte sich daran, das Essen aus den Thermobehältern zu holen. »Außerdem stinken sie.« »Und ich kann ihre Gesichter nicht ausstehen«, fügte Sudgen hinzu.
»Ich genausowenig. Gib mir eine Zigarette, ja?« Mitchell zündete sie an und ließ sie im Mundwinkel hängen. »Wenn man bedenkt, daß die Marsianer vor ihnen zu Kreuze kriechen, während sie uns wie Dreck behandeln. Komisch von ihnen, sich seit dem Import des ersten Kamels so zu benehmen.« »Yeah, ich würde mich damit gern einmal näher auseinandersetzen.« »Versuch mal, dich mit einem Marsianer zu unterhalten. Genausogut könntest du dich mit einem Gartenzaun unterhalten – auuuh, dieser Thermo ist ja glühend heiß!« Mitchell lutschte an seinen Fingern. »Sechzig Jahre, und kein einziges Wort von ihnen. Bestimmt können sie reden und wollen bloß nicht.« Er stellte die Nahrungsbehälter auf seine Teleskopbeine und klappte die Unterlagen heraus. »He, Ali, komm und leiste uns Gesellschaft.« »Nein, Sör. Erst das hier fertigmachen. Eine Stunde.« »Siehst du?« Mitchell zog seine Sonnenperücke ab und warf sie in den Sand. »Erst die Stinker, dann wir.« Die igluförmigen Hütten von Jenkinsville tauchten beim Sonnenuntergang des darauffolgenden Tages am Horizont auf. Niemand wußte den marsianischen Namen dieses Ortes, doch sein Entdecker war ein gewisser Hiram Jenkins aus Key West in Florida gewesen. So wurde er von damals an Jenkinsville genannt. Der Ort war noch genau vierzehn Meilen entfernt. Nichtsdestotrotz legte das Dromedar sich nieder, und der Rest tat es ihm gleich. Sudgen stieg mit dem üblichen Ärger ab, nahm sich die übliche, zerknitterte Zigarette und hörte
Mitchell den üblichen Fluch ausstoßen. Es konnte kein sehr kräftiger Fluch gewesen sein, denn die Kurve des Zorndiagramms blieb konstant, ohne eine Schwankung. Diesselbe Kiste fiel in den Sand und erzeugte dasselbe häßliche Plumpsen. Gemächlich begann Ali von neuem mit dem Fütter- und Striegelritual. In vollkommener Stille ruhten die fünfundvierzig Tiere, kauten und sahen hinüber zum fernen Jenkinsville. »Ich habe das bestimmte Gefühl«, sagte Sudgen, der seine vom Sand geröteten Augen auf den vor Energie sprühenden Mr. Fa'oum gerichtet hatte, »daß er um Mitternacht aufsteht und sie verehrt. Wenn ich ihn einmal dabei erwische, werde ich ihm zeigen, daß er nicht vor ihnen im Staub kriechen kann, ohne die dafür angemessene Strafe zu erhalten.« »Uff!« Mitchell rang mit der Essenspackung, verbrannte sich die Finger, wie er das schon tausendmal zuvor getan hatte, und stieß sein tausendstes Auuuuh! aus. »He, Ali!« »Eine Stunde«, sagte Ali verbindlich. »Ich klammere mich an das Leben«, erklärte Mitchell, der in Richtung Jenkinsville sprach, »um sie alle zu überleben. Eines nach dem anderen, so wie sie sterben, werde ich ihnen ihren Pelz abziehen. Ich werde mir Fußmatten aus ihren stinkenden Pelzen machen. Ich werde heiraten und mir jedesmal beim Raus- oder Reingehen die Füße abtreten, und dazu immer, wenn die Kuckucksuhr ihr ›Kuckuck!‹ ruft.« Das sechste Kamel von vorn ließ ein Rumpeln in seinem Inneren hören. Langsam stieg das Rumpeln vom Magen zum Hals, um in einem beachtlichen Rülpsen zu enden. Das Dromedar wandte seinen
Blick von der Kulisse von Jenkinsville ab und musterte das Kamel mit einem Blick offener Anerkennung. Mitchell trat heftig gegen das Thermogerät und beulte dessen Seite aus. »Aber, aber«, sagte Sudgen. Mitchell warf ihm einen Blick zu, der hätte töten können, und riß ein Tablett aus dem Thermogerät. Er riß sehr heftig. Das Tablett schoß aus dem Container, an dem er unbeherrscht gezogen hatte, ein Teil der Bohnen in Tomatensoße ergoß sich über seine Stiefel. Ali, der gerade einen Stoß Nachtdecken für die selbstgefälligen Kamele brachte, hielt in seiner Arbeit inne und sah herüber. Sudgen starrte Mitchell an. Genauso wie Ali. Genauso wie die Kamele. Mitchell sah zuerst zu Sudgen, dann auf seine Stiefel und sagte: »Gesehen?« »Ja, gesehen«, gab Sudgen mit Grabesstimme zurück. »Komisch, nicht?« »Nein. Ich glaube, es ist ein Unglück.« »Nun«, sagte Mitchell und zeigte mit dem Finger auf die sie beobachtende Reihe, »die zumindest halten es für komisch.« »Ach, vergiß es. Alle Tiere sind neugierig.« »Neugierig? Hah!« Mitchell zog den Stiefel aus und hielt ihn abwägend in der Hand, schwang ihn und schätzte sein Gewicht und seine Griffigkeit. Seine Augen waren die ganze Zeit auf das Dromedar gerichtet. Schließlich änderte er seinen Entschluß doch noch, reinigte seinen Stiefel im Sand und zog ihn wieder an. »Sie sehen die Welt aus unserer Warte – und sie alle starren mich an, wenn mir so etwas passiert.« »Ach was, komm, wir essen«, beruhigte Sudgen
ihn. »Wir sind hungrig, und Hunger macht aggressiv. Wir werden uns hinterher alle besser fühlen. Und trotz allem sind wir morgen früh in Jenkinsville.« »Ganz sicher sind wir das. Wir werden die ersten sein. Wir werden aus unserem Ramsch so viel Malvesamen wie eben möglich herausschlagen, und sollte es uns nicht gelingen, alles zu verkaufen – und das wird uns nicht gelingen –, dann werden wir eine weitere Einhundert-Meilen-Reise nach Dead Plains unternehmen, zum Ausgleich.« Mitchell funkelte erbost zum fernen Himmel. »Und wenn wir, durch ein bisher nie geschehenes Wunder im marsianischen Handel, doch alles an den Mann bringen, dann werden wir die ganzen höllischen hundertfünfzig Meilen nach Lemport zurückkehren, begleitet von vierundvierzig Kamelen, vierundvierzig zweihöckrigen Stinktieren.« »Und einem Dromedar«, erinnerte Sudgen vorsichtig. »Und einem einhöckrigen Stinktier«, stimmte Mitchell ein. Er starrte über den Sand, wo besagtes Stinktier lag, und seine Verdauungsprozesse mit wahrer arabischer Gelassenheit genoß. »Wenn du keine Lust hast, zu essen«, gab Sudgen von sich, »ich schon.« Er zog ein zweites Tablett aus dem Thermo und holte sich ein Stück dampfender Pinnawurst. Er mochte die kleingehackte Leber der schwerfälligen und saftigen Pinnavögel sehr. Während das Essen in der kühlen Luft des marsianischen Abends rasch abkühlte, tat Mitchell es ihm nach. Die beiden Männer aßen gründlich kauend und ahmten damit unwissend die Kamele nach.
Drei Stunden nach der flammenden Dämmerung kroch die Karawane auf den Marktplatz von Jenkinsville und wurde unter dem Stöhnen der Tiere und dem Fluchen der Menschen entladen. Marsianer kamen zusammengelaufen, ignorierten die weißen Männer mehr oder weniger, nahmen ein wenig mehr Notiz von Ali Fa'oum, schenkten den Großteil ihrer Aufmerksamkeit den Kamelen. Lange Zeit betrachteten sie die Kamele, und umgekehrt; jede Seite betrachtete die andere mit dem gleichgültigen Interesse von Geistern, die auf Feen getroffen sind. Mitchell und Sudgen störten sie nicht dabei. Sie wußten, zu gegebener Zeit, wenn sie es für richtig hielten, würden die Eingeborenen schon von sich aus zum Geschäftlichen übergehen. Zwischenzeitlich konnte man die Unterbrechung dazu benutzen, letzte Vorbereitungen zu treffen, wie das Aufrichten der Stände, das Ausbreiten der Waren und das Herrichten der Bücher und Waagen. Jeder Marsianer hatte seinen Vorrat an Malvesamen, manche einen kleinen Beutel, manche einen großen, manche gar zwei oder drei. Hinter diesen Samen waren die Händler her. Aus diesem Produkt der marsianischen Wüsten konnte Malvin destilliert werden ein sicheres Heilmittel gegen den terrestrischen Krebs. Diese Krankheit wäre schon seit geraumer Zeit ausgerottet worden, wenn man dieses empfindliche Gewächs hätte anbauen können. Aber es wuchs, wo immer es ihm beliebte, und nirgendwo sonst. Die Pflanze konnte an keinem Ort der Erde kultiviert werden. Darum mußte man nach den kleinen, mit glänzenden Blättern ausgestatteten Büschen suchen, diese Suche erledigten die Marsianer.
In völligem Schweigen verließen die Marsianer, allein oder zu zweit, die Kamele und näherten sich den Ständen. Sie waren glotzäugige Wesen mit großen Brustkörben und Schlappohren, aber im großen und ganzen von humanoider Form. Obgleich völlig stumm, waren sie ausgesprochen intelligent. Irdische Chirurgen vertraten die Ansicht, einst hätten die Stimmbänder der Marsianer funktioniert, wären aber durch jahrhundertelanges Nichtgebrauchen verkümmert. Vielleicht hatten sie recht. Mitchell und Sudgen wußten es nicht, es interessierte sie auch nicht sonderlich. Die Händler verständigten sich mit ihren Kunden durch Zeichensprache, gelegentlich unterstützt durch Schreiben oder Zeichnungen. Ein alter Marsianer kam, um sich seinen Beutel wiegen zu lassen, der mit einhundertachtzig Dollar in Gold veranschlagt wurde, schwere, solide, internationale Währung. Mitchell zeigte ihm einen eingefärbten Ballen Wollstoff und ein gerahmtes Foto von Superba de la Fontaine, gekleidet in einen Sarong aus ebendiesem Stoff. Daß die hübsche Superba eigentlich Prunella Teitelbaum hieß und aus Terre Haute stammte, erwähnte er nicht. Trotz aller Bemühungen gefiel dem alten Knacker keines von beidem. Wie man seinen Gesichtszügen entnehmen konnte, hielt er beides für Plunder. »Sie werden kritischer«, seufzte Mitchell, an den Gott des Kommerz gerichtet. Verärgert breitete er eine Rolle Harris-Tweed auf der rauhen Tischoberfläche aus, glättete ihn mit den Fingern, hob ihn hoch, damit sein Kunde den strengen Geruch der Fabrik wahrnehmen konnte. Der Kunde stimmte zu und bedeutete Mitchell, daß er drei Ellen davon haben wol-
le. Mitchell schnitt das verlangte Stück ab, rollte es sorgfältig zusammen und händigte es dem Marsianer aus. Weiter unten in der Gemeinschaftshalle, hinter den unregelmäßigen Reihen der roten Granitiglus, begann eine Gruppe Stammestrommler ein umfangreiches Gonginstrumentarium zu bearbeiten. Die Palette der Instrumente reichte von kleinen, hell klingenden Silberplättchen bis hin zu gewaltigen Kupferzylindern, zwanzig Fuß im Durchmesser. Jeder Ton erklang mächtig und rein, die Melodien dagegen waren quälende Torturen. Mit düsterer Miene sagte Mitchell zu dem alten Burschen: »Nun, wie wär's mit einer Uhr? Solange du einen Zeitmesser bei dir hast, brauchst du keinen Polizisten zu fragen. Hier ist das Absolutum, ein überragendes, fünfzigsteiniges Zehntagechronometer, speziell für den Mars gefertigt, vom Deimos Observatorium geprüft und zusätzlich mit einer Garantie von Mitchell und Sudgen.« Bei dem Versuch, seine Worte in Zeichensprache zu übertragen, kam er gehörig ins Schwitzen. Der Marsianer rümpfte die Nase, wies die Uhr zurück und wählte an ihrer Stelle fünf billige Wecker. Mehr noch, er überprüfte jeden einzelnen aus der großen Menge, um fünf mit verschiedenem Läuten zu finden. Dann entschied er sich für eine goldene, mit Türkisen verzierte Spange, ein Mikroradio, eine Kaffeemaschine aus Aluminium sowie einen silbernen Pfefferstreuer, in den er mit salbungsvollem Ausdruck das unverzichtbare marsianische Schnupftabakpulver leerte. »Somit hättest du noch zwei Dollar siebzig«, sagte
Mitchell. Der alte Bursche glich diesen Fehlbetrag mit Zigaretten und Dosenkaffee aus und trottete zurück, um den Kamelen seinen Respekt zu zollen. Noch immer befand sich eine größere Ansammlung bei den Tieren und liebäugelte mit ihnen. »Zur Hölle mit den Stinkern!« schnaufte er. Er kritzelte die Zahl mit einem blauen Schreiber und zeigte es dem neuen Kunden. Dieser war ein jüngerer Marsianer, ein wenig größer als der Durchschnitt. Er nickte, brachte einen fünf Jahre alten Katalog zum Vorschein, öffnete ihn und deutete auf eine der Abbildungen, zeigte durch viele Gesten, daß er den Betrag anschreiben lassen wollte, bis er genügend gespart hatte, um sich ein Auto leisten zu können. »Sinnlos«, sagte Mitchell. »Kein Benzin. Funktioniert nicht. Hat keinen Zweck.« In dem Bemühen, die vollkommene Nutzlosigkeit eines Automobils ohne Kraftstoff zu demonstrieren, verknotete er beinahe seine Arme. Der Marsianer sah ihm lange interessiert zu und begann dann unter Zuhilfenahme des Kataloges zu widersprechen. Mitchell rief Sudgen zu Hilfe. Nach zehn Minuten sagte Sudgen: »Ich hab's. Er möchte einen Wagen mit einem Dampfgenerator. Er glaubt, daß er ihn mit Holzabfällen betreiben kann.« »Beim Barte Petrus'«, grollte Mitchell. »Jetzt verlangen sie das Unmögliche von uns. Wie, im Namen der sieben Teufel, sollen wir ein Auto hierherbekommen?« »In Einzelteilen?« schlug Sudgen vor. »Wir versuchen's jedenfalls. Warum nicht? Es könnte einen Boom auslösen. Jeder von uns könnte mit einer Million Piepen enden. Wir könnten beide marsianische Gasau-
tomobil-Bonzen werden, von Blondinen umschwärmt, wie sie es immer in den Magazinen zeigen. Es wird diesen Burschen eine immense Summe kosten, aber es ist sein Geld. Kümmere dich um den Kunden, Jimson, sorg dafür, daß er zufriedengestellt wird.« Mit zweifelndem Blick schrieb Mitchell eine Kreditkarte über siebenhundert Dollar aus und reichte sie seinem Gegenüber. Dann atmete er tief ein und schaute sich um, bemerkte Kamele und Marsianer, die sich noch immer mit dem gleichen philosophischen Interesse betrachteten. Einige der Tiere kauten erlesene Köstlichkeiten, die ihnen von den Eingeborenen offeriert wurden. Weitere Beutel, ständiges Wiegen, weitere Streitgespräche, den ganzen Tag über. Wie üblich lehnten die Kunden einen Großteil des Mitchell/SudgensenWarenvorrats ab, wie üblich verlangten viele Kunden Waren, die nicht vorrätig und nur sehr schwer zu beschaffen waren. Beim letzten Verkauf hatte ein Marsianer hundert Schallplatten und einen unbedeutenden elektrischen Apparat bestellt. Heute tauchte er erneut auf, wollte keine weiteren Schallplatten, dafür aber sein bestelltes Gerät und gab eine neue, dringende Bestellung über mehrere Radiosenderöhren von ungewöhnlicher Bauart auf. Nach einer halben Stunde unaufhörlichen Ruderns mit seinen Armen mußte er die Röhren aufzeichnen, damit Mitchell verstand, was er meinte. Es gab kein Gesetz, das den Handel mit solchen Geräten untersagte, also nahm er die Bestellung an. »Gütiger Himmel«, sagte er ausgelaugt. »Warum könnt ihr Burschen nicht wie zivilisierte Leute reden?« Der Marsianer schien von dieser Bemerkung eini-
germaßen überrascht zu sein. Er dachte weiter darüber nach, während seine großen, ernsten Augen von dem erzürnten Mitchell zu den Kamelen und wieder zurück wanderten. Das Dromedar nickte, grinste und ließ den Saft einer überreifen Wushkin von seiner Unterlippe tropfen. Der Marsianer bedeutete Mitchell, ihm zu folgen. Es war kurz vor Einbruch der Dämmerung, ohnehin bald Zeit, den Handel einzustellen. Er überließ es seinem erschöpften Partner, den Handel zum Abschluß zu bringen, und folgte dem Marsianer. Vor fünfzehn Jahren war er einmal zu einer illegalen Brennerei mitgegangen und mit einem alles in den Schatten stellenden Rausch zurückgekehrt. Dieses konnte sich durchaus wiederholen. Sie gingen vorbei an den Kamelen, die wieder von dem nimmermüden Ali Fa'oum gestriegelt wurden, und liefen weiter zu einem großen Iglu, der sich auf halbem Weg zwischen dem Marktplatz und dem nördlichen Stadtrand befand. Eine Meile weiter im Süden dröhnten die Gongs ein schepperndes Abendlied. Der gewaltige Lärm erzeugte ein unangenehmes Kribbeln im Verdauungssystem. Im Innern des Iglu betraten sie einen Raum, der vollgestopft war mit Gerätschaften, einige unvollständig, einige zerstört, aber nicht weggeworfen. Dieser Anblick überraschte Mitchell nicht, das Vorhandensein besonderer technischer Fähigkeiten bei den Marsianern war hinreichend bekannt. Sein einziges Gefühl war Enttäuschung. Keine Brennerei. Während er ein Ding anschloß, das wie ein selbstgebastelter Rundfunkempfänger mit winzigem Laut-
sprecher aussah, brachte der Marsianer aus dem Innern der Apparatur ein langes silbernes Kabel zum Vorschein, das in einer silbernen Platte endete, die er ohne mit der Wimper zu zucken verschluckte. Das Kabel hing aus seinem Mund, während er Mitchell ernsthaft ansah und an den Knöpfen spielte. Plötzlich drang eine nichtmenschliche, metallische Stimme aus dem Lautsprecher. »Sprackhe! Ist künstliche Sprackhe. Gerade gemacht. Sehr schwierig – kann nicht viel!« »Ah«, sagte Mitchell, sichtlich beeindruckt. »Darum du mir Röhren bringen. Geht besser dann – verstehen?« »Sicher«, stimmte Mitchell zu. Dann schlug die Erkenntnis, daß er der erste Mensch war, der mit einem Marsianer mündlichen Kontakt hatte, wie eine Woge über ihm zusammen. Schlagzeilen! Er war kein Medienfachmann, doch er war Händler genug, um die Unsummen zu sehen, die ihm dieses Gespräch bringen konnte wenn er schlau genug war. Was würde ein Journalist an seiner Stelle tun? Oh, ja, natürlich, Fragen stellen! »Warum könnt ihr Burschen nicht anständig reden?« fragte er mit unjournalistischer Verlegenheit. »Anständig?« schepperte der Lautsprecher. Der Marsianer war erstaunt. »Wir reden anständig. Schon vor zehntausend Jahren haben wir die Lautunterhaltung der niederen Lebensformen abgelegt und hier gesprochen« – er berührte seine Stirn –, »so!« »Du meinst, ihr unterhaltet euch auf telepathischem Weg?« »Selbstverständlich – genau wie Kamele.« »Was?« schrie Mitchell.
»Sicher. Sie sehr hochentwickelte Lebensformen.« »Die Hölle sind sie das«, bellte Mitchell, dessen Kopf zu zerplatzen drohte. »Ha!« Der Marsbewohner schien belustigt. »Ich beweise es. Sie reden hier.« Wieder berührte er seine Stirn. »Und nicht hier, wie du.« Er berührte seine Kehle. »Sie sind mäßig im Trinken, essen vernünftig, rasten ausreichend, tragen keine Kleidung, zahlen keine Steuern, bekommen keine Krankheiten, haben keinerlei Sorgen, hängen ihren eigenen Gedanken nach und sind glücklich.« »Aber sie sind gezwungen zu arbeiten«, schrie Mitchell. Er schlug sich gegen die Brust. »Für mich.« »Wie alle arbeiten müssen, gleichgültig ob klein oder groß. Du arbeitest auch für sie. Wer arbeitet am meisten? Du mußt sehen – glug glug!« Der Lautsprecher gluckste und verstummte. Hastig stellte der Marsianer das Gerät neu ein, und das Sprechgerät erwachte zu neuem, allerdings schwächerem Leben. »Batterie nahezu verbraucht. Tut mir leid.« »Kamele eine hochentwickelte Lebensform«, Mitchell lachte. »Ha ha! Daran glaube ich erst, wenn ich einen neun Fuß langen, zitronengelben Bart bekomme!« »Weiß der delikate Pinna um die Überlegenheit unserer Mägen? Wie willst du den geistigen Stand eines Kamels beurteilen, ohne eine gemeinsame Vergleichsbasis? Du kannst nicht im Kopf reden, du kannst dir nicht vorstellen, was ein Kamel denkt.« Das ersterbende Knistern des Lautsprechers vereinigte sich mit dem spöttischen Lachen des Marsianers. Mitchell störten beide Geräusche. »Wenn es nur immer weiß, was ich denke, darauf kommt es an.«
»Das ist dein eigener Standpunkt.« Der Marsianer machte sich nicht die Mühe, seine Belustigung zu verbergen. »Es gibt noch andere, mußt du wissen, aber alle gleich- chrr, chrr, plop!« Der Apparat gab letztendlich doch den Geist auf, und keine der Bemühungen seines Bedieners konnte ihn wieder zum Leben erwecken. Er entfernte den künstlichen Kehlkopf, durch den er gesprochen hatte, zum Zeichen, daß das Gespräch beendet war. Mitchell kehrte ausgesprochen übellaunig zum Lager zurück. Sudgen sah ihn und sagte: »Sechzig Prozent haben wir umgesetzt. Das bedeutet einen neuen Marsch, der morgen früh beginnt, ein sehr langer Marsch.« »Aaargh!« sagte Mitchell. Er begann, die Thermos aufzuladen. Sudgen sah ihn an und verkroch sich in seinem Schlafsack, um ihn allein mit seinen Sorgen fertigwerden zu lassen. Jenkinsville lag in tiefem Schlaf, Sudgen schnarchte bereits lautstark, als Mitchell endlich soweit war. Wieder und wieder murmelte er vor sich hin: »Homo Stupidus, hä! Daß ich nicht lache!«, die ganze Zeit. Dann verschloß er den letzten Thermo und tötete eine Spinne, die er in einem leeren Topf fand, und ließ einen letzten Blick über das Lager schweifen. Die Kamele bildeten eine Reihe mit Decken behangener Schatten in der Dunkelheit, Ali Fa'oum, ihr Kindermädchen, ein kleinerer Schatten in ihrer Nähe. Mitchell warf ihnen einen Blick zu und erklärte: »Wenn ich auch nur den winzigsten Augenblick lang glauben würde, daß ihr mißgebildeten, stinkenden Fleischberge verstehen würdet, was ich sage, ich
würde euch etwas erzählen, das den hochmütigen Ausdruck für immer von euren Gesichtern nehmen würde!« Nachdem er solchermaßen seinen Blutdruck gesenkt hatte, begab er sich zu seinem eigenen Schlafsack. Als er diesen fast erreicht hatte, drehte er sich plötzlich um und rannte zu den Kamelen. Sein Tritt weckte Ali ziemlich schnell, sein Gebrüll war durch das ganze Lager zu hören. »Welches von ihnen hat dieses Geräusch gemacht?« »Nicht wissen«, protestierte Ali schläfrig. »Vierundvierzig und ein Dromedar. Wie sagen, welches Geräusch macht? Nur Allah weiß!« Sudgens Stimme klang durch die Nacht. »Mitch, um Himmels willen!« »Ach, alles in Ordnung.« Mitchell ging zurück und fand seine Lampe. »Telepathischer Unsinn!« brummelte er. »Wir werden sehen.« Im Licht der Lampe zerriß er eine Spielkarte in vierundvierzig kleine Stücke und numerierte sie mit einem Kugelschreiber, mischte sie im Dunkeln und zog wahllos eines davon. Nummer zwölf. Sudgen erwachte erneut, schob seinen Kopf ins Freie und erkundigte sich argwöhnisch: »Was machst du denn da?« »Ich häkle mir eine Unterhose«, sagte Mitchell. Ohne den anderen weiter zu beachten, untersuchte er im Lichtschein der Leuchte sein Gewehr und fand es, geladen mit zwölf wirkungsvollen Sprenggeschossen. Glücklich lächelnd murmelte er: »Nummer zwölf!« und legte sich schlafen. Beim ersten Anzeichen der Dämmerung rüttelte Ali
ihn wach. Sudgen war bereits vollständig angezogen und machte ein besorgtes Gesicht. »Eines unserer Kamele ist verschwunden«, eröffnete er. »Nummer zwölf.« »Ah!« Mitchell schoß in die Höhe wie ein Sektkorken. Sudgen fügte hinzu: »Und mir gefällt der merkwürdige Gesichtsausdruck nicht, als ich es dir sagte. Es war mein Kamel, keines von deinen Tieren. Hast du es mit einem Abrakadabra belegt?« »Ich, wieso ich?« Mitchell bemühte sich, unschuldig zu wirken. »Aber nein.« »Wenn du es getan hast, dann rate ich dir, die Hexerei sofort wieder aufzuheben.« »Oh, wir werden es schon finden«, tröstete Mitchell. Er zog sich an, verbarg sein Gewehr und leistete die geistige Erklärung, daß er nichts, aber auch wirklich nicht das geringste gegen Nummer zwölf unternehmen wolle. Er dachte so fest daran, wie ihm möglich war. Das entflohene Tier erwartete sie eine Meile hinter Jenkinsville, neben dem Pfad. Nach altem Brauch nahm es seine Position in der Reihe ein. Niemand sagte etwas. Mitchell war schon lange nicht mehr so still gewesen. Nach einer Weile drehte Sudgens Dromedar den Kopf und schnitt eine teuflische Grimasse zu Mitchell, der hinter ihm ritt. Mitchell sagte noch immer nichts. Langsam zog die Karawane weiter.
Metamorphose Auf halbem Weg, in der Mitte der Gangway, ließen sie ihn kurz ausruhen, damit seine Augen die imposante Szene aufnehmen konnten. Er stand mitten auf dem hohen, metallenen Steg – seine linke Hand griff unmerklich nach dem Geländer – und sah in die vierhundert Fuß abfallende Tiefe. Dann betrachtete er die immensen Raumschiffe, die in benachbarten Rampen lagen; sein Blick suchte ihre Gangways, die sie mit den gewaltigen Fahrstuhlschächten verbanden, welche als große Gruppe von Gebäuden zurückbleiben würde, wenn die Raumhafenkontrolle die Schiffe den Wolken entgegensteigen ließ. Die Höhe, in der sie sich befand, sowie die enorme Größe der ihn umgebenden Raumschiffe machten aus ihm eine puppenähnliche Gestalt; ein Mann, ein Zwerg neben den mächtigsten Gebilden der Menschheit. Da sie ihn unmittelbar beobachteten, konnten seine Führer sehen, daß er nicht besonders beeindruckt war. Seine Augen schienen die riesigen Fassaden abzustreifen, während er die wahre Bedeutung hinter all dem suchte. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er sich umsah, aber all seine Blicke waren sanft, intelligent und überzeugend. Er verstand die Dinge mit der Schnelligkeit, die einen geschulten Geist ausmacht. Etwas jedoch war unbestreitbar, bei allen Geheimnissen, die ihn umgaben: Er war kein Narr. Leutnant Roka schickte die beiden zusätzlichen Wachen weg, lehnte sich an die Reling, neben den stillen Zuschauer, und erklärte: »Dies ist der Madistine-Raumhafen. Es gibt noch zwanzig ähnliche Ein-
richtungen auf diesem Planeten. Es gibt zwei- bis zwanzigmal so viele auf jeder der viertausend Welten, manche von ihnen sind sogar noch wesentlich größer. Das Imperium ist das gewaltigste, das man kennt und jemals kennen wird. Nun sehen Sie, wogegen Sie sind.« »›Zahlen und Größen‹«, zitierte der andere. Er lächelte kaum merklich und zuckte die Achseln. »Was soll das alles?« »Sie werden lernen, was«, versprach Roka. Auch er lächelte, seine Zähne waren weiß und ebenmäßig. »Eine Organisation kann so gewaltige Dimensionen annehmen, daß sie viel, viel größer wird als die Männer, die sie führen. Von diesem Augenblick an sind ihre kontinuierliche Entwicklung und ihr Wachstum nicht mehr zu bremsen. Es ist eine unwiderstehliche Macht, es existiert kein unbewegliches Objekt, das groß genug wäre, sie aufzuhalten. Es ist ein allesverschlingender Moloch. Es ist Vorherbestimmung, wie immer Sie es nennen wollen.« »Größe«, murmelte der andere. »Wie sehr Sie die Größe lieben.« Er beugte sich über die Reling und starrte in die Tiefe. »Mit aller Wahrscheinlichkeit ist dort unten ein Feind, den Sie noch nicht erobert haben.« »Welcher Art?« entgegnete Roka. »Eine Krebszelle.« Die Augen des anderen schwangen herum und starrten amüsiert in die des Leutnants. »He?« Er zuckte erneut die Achseln. »Ach, kurze, sterbliche Menschheit!« »Geht weiter«, fuhr Roka den Führer der Wachen an.
Die Prozession bewegte sich weiter, zwei Wachen, dann der Gefangene, dann Roka, gefolgt von zwei weiteren Wachen. Als sie den Turm am Ende des Stegs erreicht hatten, bestieg das Sextett einen Fahrstuhl zum Erdgeschoß, wo sie von einem Düsenauto, mit dem Silbernen Kometen des Imperiums auf beiden Seiten, erwartet wurden. Zwei Männer, gekleidet in lindgrüne Uniformen, belegten die Vordersitze, ein dritter wartete an der geöffneten Tür, hochaufgerichtet. »Leutnant Roka mit dem Subjekt und dazugehörigen Dokumenten«, sagte Roka. Er stellte den Gefangenen mit einer knappen Geste vor, wonach er dem dritten Mann einen ledernen Aktenkoffer aushändigte. Danach griff er in eine Tasche seiner Uniform, brachte eine gedruckte Karte zum Vorschein und fügte hinzu: »Unterschreiben Sie hier, bitte.« Der Beamte unterschrieb, gab die Karte zurück, warf den Aktenkoffer auf den Rücksitz des Wagens. »In Ordnung«, sagte er zu dem Gefangenen. »Steigen Sie ein.« Noch immer ausdruckslos stieg der andere in das Auto ein und entspannte sich auf dem Rücksitz. Roka sah durch die Tür und bot ihm seine Hand. »Nun, es tut mir leid, Sie zum letzten Mal zu sehen. Wir begannen gerade, uns kennenzulernen, nicht wahr? Kommen Sie mir nicht auf komische Ideen, verstanden? Sie sind unter Zwang hier, aber sie sind auch eine Art Botschafter – damit Sie einen richtigen Blickwinkel für die Lage bekommen. Viel Glück.« »Danke.« Der Gefangene schüttelte die dargebotene Hand und rutschte zur Seite, als der grünuniformierte Beamte einstieg und sich neben ihn setzte. Die
Tür schlug zu, die Düsen heulten auf, das Auto schoß gemächlich voran. Der Gefangene lächelte, als er Rokas letztes Winken sah. »Netter Bursche, dieser Roka«, sagte der Beamte. »Sehr.« »Subjekt«, knurrte der Beamte. »Immer nennen sie sie Subjekte. Egal ob von menschlicher Form oder nicht, jede scheinbar höher entwickelte oder intelligent erscheinende Lebensform von einem neu entdeckten Planeten ist im Bürokratenjargon ein Subjekt. Das sind Sie somit auch, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Aber Sie müssen sich darüber keine Gedanken machen. Nahezu jedes erwähnenswerte Subjekt hat sich einen hohen offiziellen Posten ergattern können, wenn sein Planet dem Imperium eingegliedert wurde.« »Ich bin in keiner Weise beunruhigt«, erklärte das Subjekt. »Nein?« »Nein.« Der Beamte wurde selbstbewußt. Er hob den zu befördernden Koffer vom Boden auf, jonglierte leichtsinnig damit herum, prüfte sein Gewicht und legte ihn schließlich in seinen Schoß. Die beiden vorne verharrten in grimmigem Schweigen und starrten mit verkniffenen Gesichtern unaufhörlich durch die Windschutzscheibe nach draußen, während das Auto eine breite Allee entlangglitt. Mit ziemlicher Geschwindigkeit schossen sie über eine auf einem Hügel gelegene Kreuzung, überholten eine Reihe stromlinienförmiger Fahrzeuge mit wilder Bemalung und bogen am Ende der Allee links ab. Vor einem großen metallenen Tor, das in eine steinerne
Wand eingelassen war, kamen sie zum Stehen. Der Ort hätte dem Neuankömmling wie ein Gefängnis vorkommen müssen, hätte er gewußt, wie Gefängnisse aussehen. Die schweren Türflügel schwangen auf und gaben den Blick auf einen breitangelegten Weg frei, der zwischen gepflegtem Rasen zum Haupteingang eines langgestreckten, flachen Gebäudes führte, in dessen Zentrum ein Turm mit einer Uhr aufragte. Der Eingang, wiederum aus Metall, das stark genug schien, um einer Haubitze zu trotzen, befand sich genau unterhalb des Turmes. Der schwarze Wagen hielt seitlich davor mit einem leichten Zischen der komprimierten Luft der Bremsen. »Da sind wir.« Der Beamte auf dem Rücksitz des Autos öffnete augenblicklich die Tür und stieg nach draußen, wobei er den Koffer hinter sich herzog. Sein Gefangener folgte ihm, schloß die Tür, worauf das Fahrzeug nahezu geräuschlos davonglitt. »Wie Sie sehen«, sagte der Mann in der grünen Uniform. Er deutete in Richtung des Rasens und der fernen Mauern. »Dort ist die Mauer und das Tor und ein Raum dazwischen, in dem Sie ganz bestimmt von der Wache gesehen werden. Außerdem gibt es noch Tausende anderer Schutzmaßnahmen, von denen Sie nichts wissen. Ich sage Ihnen das, weil dies hier vorläufig Ihr Zuhause ist, bis die Umstände sich geändert haben. Lassen Sie sich nicht von der Ungeduld Ihre klaren Gedanken nehmen, wie das schon mit anderen geschehen ist. Es hat keinen Zweck, wegzulaufen, wenn man kein Ziel hat, zu dem man fliehen kann.«
»Danke«, entgegnete der andere. »Ich werde nicht weglaufen, bevor ich dazu Gründe habe, und ich glaube, dann weiß ich, wohin ich zu gehen habe.« Der Beamte maß ihn mit einem durchdringenden Blick. Eine durchschnittliche Erscheinung, dachte er, ein wenig unter dem Größendurchschnitt des Imperiums, schlank, dunkel, in den Dreißigern und recht gut aussehend. Aber er besitzt die Anmaßung der Jugend. Bei näherer Betrachtung erweist er sich vielleicht als wichtigtuerisch und irreführend. Er seufzte angesichts seiner bösen Ahnungen. Zu dumm, daß sie nicht jemanden gefangen hatten, der ein gutes Stück älter war. »Harumpf!« sagte er ohne ersichtlichen Grund. Er schritt auf das Tor zu, der andere folgte ihm. Das Tor öffnete sich aus eigenem Antrieb, das Paar betrat eine große Halle, wo sie von einem anderen Beamten in Lindgrün in Empfang genommen wurden. »Ein Subjekt von einer neuen Welt«, sagte die Eskorte. »Zur weiteren Beobachtung.« Der zweite Beamte starrte neugierig auf den Neuankömmling schniefte geringschätzig und sagte: »Okay – Sie wissen, was Sie mit ihm zu machen haben.« Ihr Ziel entpuppte sich als ein großer Untersuchungsraum am Ende des marmornen Korridors. Dort händigte der Beamte den Koffer einem weißgekleideten Mann aus und verschwand ohne weitere Erklärung. Es waren sieben Männer und eine Frau in dem Raum, alle in Weiß gekleidet. Sie maßen das Subjekt mit berechnenden Blicken, schließlich fragte die Frau: »Sie haben unsere Sprache gelernt?«
»Ja.« »Sehr gut. Dann entkleiden Sie sich bitte. Legen Sie alle Ihre Kleider ab.« »Nur ungern!« sagte das Opfer mit leiser Stimme. Die Frau wechselte ihren Ausdruck nicht. Sie beugte sich über ein offizielles Formular, das auf ihrem Pult lag, und schrieb mit zierlicher Handschrift in ein freies Feld: Sexuelles Verhalten normal. Dann ging sie hinaus. Nachdem die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, zog er sich aus. Die sieben begannen mit ihrer Arbeit, und füllten das Formular weiter aus, während sie fortfuhren. Sie erfüllten ihre Aufgabe schweigend, methodisch, mit allen Anzeichen althergebrachter Routine. Größe: Vier Punkte und zwei Strich Einheiten. Gewicht: Siebenundsiebzig Migrads. Haar: Typ S, vorneliegende Einbuchtungen. Keine Weisheitszähne. Alle Finger zweigelenkig. Jede Beobachtung wurde zur Kenntnis genommen, als wäre sie vollkommen normal, und unverzüglich in das Formular eingetragen. Augenscheinlich war es ihre Art, sich mit allen persönlichen Eigenschaften näher zu befassen, die von der, nach welchen Gesichtspunkten auch immer, erstellten Imperiumsnorm abwichen. Sie röntgten seinen Schädel, seine Kehle, Brust und Unterleib, von vorn, hinten und beiden Seiten gleichzeitig, und notierten pflichtbewußt, daß sich etwas, das kein Blinddarm war, an der Stelle befand, wo sein Blinddarm hätte sein sollen. Dann folgten die Einzelheiten, ohne Ausnahme. Membranüberzogener Kehlkopf. Optischer Astigmatismus: rechtes Auge vier Punkte, linkes Auge sieben Punkte. Lappenförmige Verbindung in der Kehle anstelle der Mandeln. Ge-
kerbte Ohrläppchen. Gehirnwindungen tief und komplex. »Zufrieden?« fragte er, als sie endlich von ihm abließen. »Sie können sich wieder anziehen.« Der Vorgesetzte der sieben studierte das Blatt gedankenverloren. Er betrachtete das Subjekt, das sich anzog, nahm die vorsichtige, bedächtige Art, mit der die Kleidungsstücke eines nach dem anderen wieder übergestreift wurden zur Kenntnis. Er rief drei seiner Assistenten und unterhielt sich leise mit ihnen. Endlich schrieb er in den unteren Teil des Formblattes: Keine nennenswert fortschrittliche Gattung, aber definitiv eine Variation. Vielleicht gefährlich. Sollte beobachtet werden. Er schloß den Aktenkoffer auf und legte das Formular zu den anderen Papieren, die er enthielt, verschloß den Koffer wieder und gab ihn einem Assistenten. »Nehmen Sie ihn mit zur nächsten Station.« Die zweite Station war ein anderer Raum, ebensogroß wie der vorherige, doch erweckte er durch seine Kahlheit einen wesentlich größeren Eindruck. Sein Bodenbelag wurde durch einen Teppich verborgen, der so dicht war, daß man darauf watete, außerdem enthielt er einen Schreibtisch aus gegossenem Plastik und zwei pneumatische Stühle. Die Wände bestanden aus Translucit, die Simse strahlten einen frostigen Glanz aus. Im Stuhl hinter dem Schreibtisch saß ein dunkelhäutiges, finster blickendes Individuum mit mageren Zügen und einer krummen Nase. Seine Kleidung war elegant, ein Brilliantring zierte seinen linken Zeigefinger. Seine Augen blickten nachdenklich, während
der Gefangene durch die volle Länge des Raumes geführt und in den freien Sessel gesetzt wurde. Er nahm den ledernen Koffer entgegen und verbrachte eine lange Zeit damit, seinen Inhalt einer ausgiebigen Prüfung zu unterziehen. Endlich sagte er: »Man hat also acht Monate gebraucht, um Sie hierherzubringen, selbst mit Supraraumgeschwindigkeit. Tss, Tss, wie wir uns ausdehnen. Das Leben wird nicht mehr lange ausreichend sein, wenn das so weitergeht. Sie haben Sie eine höllische Entfernung hierhergebracht, he? Und unterwegs brachten sie Ihnen unsere Sprache bei. Hatten Sie große Schwierigkeiten, sie zu lernen?« »Keine«, sagte der Gefangene. »Sie haben eine natürliche Begabung für Sprachen, nehme ich an?« »Das kann ich nicht sagen.« Der dunkle Mann beugte sich nach vorn, ein plötzlicher Glanz erhellte seine Augen. Ein feiner Geruch nach marokkanischem Leder ging von ihm aus. Sein Gesichtsausdruck war sanft. »Ihre Antwort beinhaltet, daß auf Ihrem Heimatplaneten nur eine Sprache gesprochen wird.« »Tut sie das?« Der Gefangene betrachtete sein Gegenüber ausdruckslos. Der andere lehnte sich wieder zurück, dachte einen Augenblick nach und fuhr dann fort: »Es ist unschwer festzustellen, daß Sie nicht zur Zusammenarbeit bereit sind. Ich weiß nicht, weshalb. Sie sind mit jeder erdenklichen Hochachtung und Ehrerbietung behandelt worden, zumindest hätte das geschehen müssen. Haben Sie eine diesbezügliche Beschwerde vorzubringen?«
»Nein«, sagte der Gefangene schlicht. »Warum nicht?« Der dunkle Mann traf keinerlei Anstalten seine Überraschung zu verbergen. »Dies ist der Punkt, an dem ich mir immer eine lange, eindrucksvolle Beschwerde über Entführung anhören muß. Sie beschweren sich nicht?« »Welche Vorteile würde es mir bringen?« »Keinerlei Vorteile«, entgegnete der andere. »Sehen Sie.« Der Gefangene machte es sich bequemer in seinem Stuhl. Sein Grinsen war grimmig. Geraume Zeit betrachtete der dunkle Mann das Juwel in seinem Ring, drehte es einmal auf die eine, dann auf die andere Seite, damit sich das Licht in seinen Facetten brach. Schließlich schrieb er auf sein Formular ein einziges Wort: Fatalistisch, danach murmelte er: »Nun, wir werden sehen, wie weit wir trotzdem kommen.« Er nahm ein Blatt Papier in die Hand. »Ihr Name ist Harold-Myra?« »Das ist richtig.« »Der meine ist Helman, da wir gerade dabei sind. Vergessen Sie ihn nicht, Sie können ihn einmal brauchen. Nun, dieses Harold-Myra, ist das Ihr Familienname?« »Es ist die Verbindung des Namens meines Vaters und meiner Mutter.« »Hm-m-m! Ich nehme an, das ist ein üblicher Brauch auf Ihrer Heimatwelt?« »Ja.« »Was wäre, wenn Sie ein Mädchen namens Betty heiraten?« »Mein Name wäre immer noch Harold-Myra. Ihr Name bliebe auch weiterhin die Verbindung der
Namen ihrer Eltern. Aber unsere Kinder würden Harold-Betty heißen.« »Ich verstehe. Gemäß diesem Bericht wurden Sie von einem Satelliten abgeholt, nachdem zwei unserer Schiffe auf seinem Planeten gelandet sind und nicht mehr starten konnten.« »Ich wurde in der Tat von einem Satelliten geholt. Ich weiß nichts von ihren Schiffen.« »Wissen Sie, warum sie nicht mehr starten konnten?« »Wie sollte ich? Ich war nicht dabei.« Helman runzelte die Stirn, kaute auf seiner Unterlippe und fuhr dann fort: »Ich bin derjenige, der hier die Fragen stellt.« »Dann fahren Sie fort«, sagte Harold-Myra. »Ihre unausgesprochenen Gedanken lauten wohl: Und möge es Ihnen viel Freude bereiten«, warf Helman schroff ein. Er runzelte erneut die Stirn und fügte das Wort starrsinnig hinzu, zu der Gestalt gegenüber gewandt. »Es scheint mir«, fuhr er fort, »wir benehmen uns beide kindisch. Von unbegründeter Feindschaft profitiert keiner. Warum können wir nicht einen für beide akzeptablen Standpunkt einnehmen? Vertragen wir uns, hä?« Er lächelte, wobei er glänzende Zähne entblößte. »Ich lege meine Karten auf den Tisch und Sie die Ihren.« »Zeigen Sie die Ihren.« Helmans Lächeln verschwand ebenso schnell, wie es erschienen war. Einen Moment sah er betroffen drein. Mißtrauisch wurde auf das Formular geschrieben. Er sprach weiter, die Worte sorgfältig wählend. »Ich nehme es als gegeben an, daß Sie eine Menge über das Imperium gelernt haben während Ihrer Reise.
Sie wissen, daß es eine mächtige Organisation der verschiedensten Formen intelligenten Lebens ist, viele von ihnen, wie das eben so ist, ähneln mir oder Ihnen, und alle sind dem mächtigen Sonnensystem untertan, in welchem Sie sich momentan befinden. Sie haben erfahren, oder hätten erfahren sollen, daß das Imperium hier seinen Ausgangspunkt hatte und im Verlauf vieler, vieler Jahrhunderte sich über viertausend W elten ausgebreitet hat und sich noch immer ausbreitet.« »Das alles ist mir bekannt«, antwortete der andere. »Gut. Dann werden Sie verstehen, daß Sie nur ein vorübergehendes Opfer unseres weiteren Wachstums sind, aber in mannigfaltiger Weise ein glücklicher Mann.« »Ich bin nicht in der Lage, das Glück zu erkennen.« »Sie werden, Sie werden«, beruhigte Helman ihn. »Alles zu seiner Zeit.« Mechanisch war sein Lächeln zurückgekehrt, und er triefte vor Jovialität. »Nun kann ich Ihnen anvertrauen, daß eine Organisation, die so alt und so ausgedehnt ist wie die unsere, nicht ohne ein unermeßliches Quantum an Wissen ist. Unsere Wissenschaft hat uns unglaubliche Macht verliehen, einschließlich der Macht, ganze Welten zu vernichten und spurlos zu beseitigen; doch deswegen vergessen wir die nötige Vorsicht nicht. Nach unzähligen Erfahrungen auf den verschiedensten Planeten haben wir gelernt, daß wir noch nicht mächtig genug sind, um nicht mehr unterliegen zu können. In der Tat, wir können irren, in für uns alle verhängnisvoller Art und Weise. Daher schreiten wir vorsichtig voran.« »Das klingt, als ob Sie vor etwas Angst haben«, sagte Harold Harold-Myra.
Helman zögerte, sagte dann: »Tatsächlich, das haben wir! Ich erzähle Ihnen davon. Vor vielen Jahrzehnten landeten wir erstmals auf einem neuen Planeten. Das Schiff war nicht mehr in der Lage zu starten. Da unsere Explorerschiffe immer in Dreiergruppen reisen, landete ein zweites Schiff, um dem anderen zu helfen. Auch sie kehrten nicht zurück. Das dritte Schiff aber, das im Orbit wartete, erhielt eine Nachricht, eine Warnung über eine hochintelligente Lebensform, die auf dem Planeten beheimatet sei, eine parasitäre Lebensform.« »Und sie übernahmen die Körper, die Sie so sorgsam geschützt hatten«, vermutete Harold. »Sie wissen etwas über diese Lebensform?« fragte Helman. Seine Finger rubbelten an einem unsichtbaren Fleck auf der Tischoberfläche. »Ich höre zum erstenmal davon«, antwortete der andere. »Das mit der Übernahme war logisch.« »Wahrscheinlich schon«, stimmte Helman mit einigem Zögern zu. Seine durchdringenden Augen sahen seinen Gesprächspartner an, als er fortfuhr: »Sie erhielten keine Gelegenheit, alle zu übernehmen. Ein paar Leute erkannten die Gefahr, in der sie schwebten, gerade noch rechtzeitig. Sie verbarrikadierten sich in einem Schiff, um sich so dem Zugriff der Parasiten und ihrer infizierten Kameraden zu entziehen. Aber es waren nicht genügend Leute, um einen Start riskieren zu können, so strahlten sie eine Warnung ab. Das dritte Schiff erkannte die Bedrohung zuerst. Wenn sie nicht rasch handelten, bedeutete das, den Schlüssel zum Kosmos an unbekannte Mächte auszuliefern. Sie zerstörten beide Schiffe mit einer Atombombe. Später entsandten wir ein Schlachtschiff, um
die uns nötig erscheinenden Schritte zu unternehmen; sie warfen einen Planetenzerstörer ab. Die Welt explodierte zu einer glühenden Gaswolke. Es war ein außerordentlich knappes Entrinnen. Das Imperium, trotz all seiner Reichtümer, Macht und Erfindungsgabe könnte nicht überleben, wenn nicht jeder Bewohner die wahre Natur seines Nachbarn kennen würde.« »Eine heikle Situation«, stimmte Harold HaroldMyra zu. »Nun verstehe ich auch, warum ich hier bin – ich bin ein Muster.« »Präzise.« Helman gab sich erneut jovial. »Alles, was wir wollen, ist: erfahren, ob Ihre Welt sicher ist.« »Sicher wofür?« »Für unmittelbaren Kontakt.« »Kontakt wofür?« beharrte Harold. »Mein Lieber! Ich dachte, eine Person von Ihrer Intelligenz wäre in der Lage, die mannigfaltigen Vorteile zu erkennen, die eine Zusammenkunft mit einer anderen Kultur mit sich bringt.« »Ich sehe die Vorteile sehr wohl. Aber ich sehe auch die Konsequenzen.« »Wovor fürchten Sie sich?« Helmans Freundlichkeit verschwand. »Vor einer Einverleibung in Ihr Imperium.« »Tss«, machte Helman ungeduldig. »Ihre Welt muß uns aus freiem Willen beitreten. An zweiter Stelle, was ist so schlecht daran, dem Imperium anzugehören? An dritter Stelle, woher wollen Sie wissen, ob Ihre Befürchtungen sich mit denen Ihrer Artgenossen decken? Vielleicht sind sie anderer Ansicht. Vielleicht würden sie eine Eingliederung begrüßen.« »Hätte ich zwei Schiffe dort liegen, ich würde genauso reden.«
»Ah, dann geben Sie also zu, daß man sie gewaltsam dort festhält?« »Ich gebe gar nichts zu. Aber nach all dem, was ich bisher beobachten konnte, sitzen die Besatzungen wahrscheinlich in ihren Schiffen und beglückwünschen sich, dem Imperium entkommen zu sein – während meine Brüder alle Hände voll zu tun haben, sie wieder loszuwerden.« Helmans dunkles Gesicht wurde noch eine Spur dunkler. Seine schlanke Hand verkrampfte und entspannte sich wieder, während sein disziplinierter Verstand die Antwort niederkämpfte, die seine Emotionen ihm in den Mund legen wollten. Dann sagte er: »Angehörige des Imperiums laufen nicht weg. Diejenigen, die weglaufen, kommen nicht sehr weit.« »Eine Verneinung und eine Bestätigung«, kommentierte Harold amüsiert. »In einem Atemzug. Sie können nicht beides sagen. Entweder sie laufen weg oder nicht.« »Sie wissen sehr gut, was ich meine.« Helman sprach leise und bedächtig, er wollte sich von seinem Gegenüber nicht aus der Fassung bringen lassen. »Der Wunsch zu fliehen ist nur so schwach, wie die Sinnlosigkeit eines solchen Unternehmens vollkommen ist.« »Die, die es versuchen, erwartet der Tod?« »Natürlich nicht!« entgegnete Helman scharf. »Sie verurteilen ihr baufälliges Imperium mit jeder Bemerkung, die Sie machen«, informierte Harold ihn. »Ich bin der Meinung, es besser zu kennen als Sie selbst.«
»Und wie kommen Sie zu der Ansicht, über unser Imperium Bescheid zu wissen?« fragte Helman. Seine Brauen verzogen sich in sarkastischem Spott. »Aufgrund welcher Basis halten Sie sich für kompetent genug, es zu verurteilen?« »Auf der Basis der Geschichte«, sagte Harold. »Ihre Leute sind uns in groben Zügen ähnlich genug, um wie wir zu sein – wenn Sie diese Bemerkung nicht verstehen, dann kann ich auch nichts dafür. Auf meiner Welt, wir sind alt, unglaublich alt, und wir haben eine ganze Menge aus unserer langen und düsteren Vergangenheit gelernt. Wir hatten Dutzende vom Imperien, wenn auch keines, dessen Größe mit dem Ihren vergleichbar gewesen wäre. Sie alle gingen den gleichen Weg – in die Vergessenheit. Sie alle verschwanden aus den gleichen fundamentalen und unabänderlichen Gründen. Imperien entstehen und vergehen, kleine Leute aber bleiben.« »Danke«, sagte Helman rasch. Er schrieb auf das Formular: anarchistisch, dann, nach kurzem Nachdenken, fügte er hinzu: Etwas von einem Verrückten. Harold Harold-Myra lachte unmerklich und ein wenig traurig. Die Schrift war außerhalb seines Sichtbereiches, doch er wußte, was geschrieben worden war, so sicher, als hätte er es selbst geschrieben. Für die Bewohner seines uralten Planeten war es unnötig, die Dinge anzusehen, um sie zu wissen. Nachdem er das Formular gewendet hatte, fuhr Helman fort: »Es ist doch so, jedesmal, wenn wir auf einem neuen Planeten landen, gehen wir das ungeheuerliche Risiko ein, unsere Geheimnisse der Raumfahrt an Wesen mit unbekannten Fähigkeiten und zweifelhaften Beweggründen zu offenbaren. Es ist ei-
ne Chance, die man ergreifen muß. Verstehen Sie das?« Er registrierte das kurze Nicken des anderen und fuhr fort: »Wie sich die Dinge bis heute entwikkelt haben, hält Ihre Welt zwei unserer besten Raumschiffe fest. Ihr Volk, nach allem, was wir festgestellt haben, könnte sehr wohl in der Lage sein, ihre Bauweise zu verstehen, sie in großen Mengen nachzubauen, wenn nicht gar zu verbessern. Ihr Volk könnte in den Weltraum starten und Ideen verbreiten, die nicht mit den unseren übereinstimmen. Deshalb, in der Theorie, lautet die Entscheidung Krieg oder Frieden. Die Entscheidung wird für Ihr Volk natürlich einfach sein: Zusammenarbeit oder Vernichtung. Ich sage Ihnen das nicht gern so brutal, aber Ihre feindselige Haltung zwingt mich dazu.« »Verschlossen ist wahrscheinlich ein besseres Wort als feindselig«, schlug Harold Harold-Myra vor. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, leierte Helman herunter. »Wir sind nicht diktatorisch, nur realistisch. Die Schritte, die wir gegen Ihre Welt unternehmen, hängen von den Informationen ab, die wir aus Ihnen herausholen. Sie sind, dessen müssen Sie sich bewußt sein, der Repräsentant Ihres Volkes. Wir sind gewillt, zu akzeptieren, daß Ihre Leute, innerhalb gewisser Grenzen, Ihnen gleichen, und aufgrund unserer Analyse von Ihnen werden wir –« »Wir werden akzeptiert oder ausradiert«, warf Harold ein. »Wenn Sie so wollen.« Helman verbarg seine Verärgerung. Er stellte nun die Kaltblütigkeit eines seiner Überlegenheit bewußten Mannes zur Schau. »Es liegt an Ihnen, über das Schicksal Ihres Planeten zu entscheiden. Es ist eine gewaltige Verantwortung, die
hier auf die Schultern eines einzelnen gelegt wird, aber so ist es nun einmal, und Sie müssen damit fertigwerden. Daher frage ich Sie zum letztenmal, sind Sie bereit, sich meinem Kreuzverhör zu unterziehen, oder nicht?« »Die Antwort ist«, sagte Harold vorsichtig, »nein.« »Nun gut.« Helman akzeptierte es mit stoischer Ruhe. Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Sie zwingen mich dazu, von freundlicher Zusammenarbeit zu gewaltsamer Untersuchung überzugehen. Das tut mir leid, aber es ist Ihre Entscheidung.« Zwei Aufseher kamen herein, und er sagte zu ihnen: »Bringt ihn zu Station drei.« Das eskortierende Paar ließ ihn in diesem dritten, kleineren Raum, und er hatte eine Menge Zeit, sich umzusehen, bevor die drei Männer es vorzogen, ihn zu beachten. Sie waren alle weißgekleidet, dieses Trio, aber beunruhigender und weniger automatisch als das weiß ummantelte Personal der medizinischen Sektion. Zwei von ihnen waren jung, muskulös, groß und von verschlossenem Gesichtsausdruck. Der dritte war klein, dicklich, im mittleren Alter und hatte einen kurzgeschnittenen Bart. Lebhaft versammelten sie sich vor einer großen Ansammlung von Apparaturen, die eine ganze Wand des Raums bedeckten. Der Aufbau bestand aus einer Menge Plastikplatten, Skalen, Meßinstrumenten, Knöpfen, Schiebereglern, Sockeln mit gerippten Steckdosen und Mehrfachanschlußstücken. Aus dem Inneren dieser Apparatur, oder gleich dahinter, war ein konstantes Summen zu hören. Davor, in der Mitte, befand sich ein Stuhl.
Zufrieden, daß alle Vorbereitungen abgeschlossen waren, sagte der bärtige Mann zu Harold: »Okay. Setzen Sie sich.« Er gab seinen beiden Assistenten Winke, und sie kamen näher, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, falls das nötig sein sollte. Harold lachte, winkte lässig mit der Hand und setzte sich in den Stuhl. Schweigend befestigten die drei glänzende Metallbänder um seine Knöchel, Gelenke, Hüften, den Brustkorb, den Nacken und den Kopf. Flexible Metallröhren gingen von den Bändern aus zur Mitte der Apparatur; dem, das seinen Kopf umfaßte, entsprang ein zusätzliches, das sich mit einem dünnen, weitverzweigten Kabel verband. Sie justierten die Kontrollen, um eine sichere Anzeige der Skalen zu gewährleisten, wonach der Bärtige sich eine Brille auf die Nase setzte, ein Blatt Papier aufhob und kurzsichtig daraufstarrte. Er sprach zu dem Subjekt im Stuhl. »Ich werde Ihnen nun eine Reihe von Fragen stellen. Sie sind so gestellt, daß Sie sie einfach durch Verneinung oder Bejahung beantworten können. Sie können sich entschließen, mir mit Worten zu antworten, oder nicht, das spielt überhaupt keine Rolle für mich.« Er sah Harold an, seine Augen, durch die Brille zu unnatürlicher Größe angeschwollen, waren kalt und gefühllos. Sein Finger drückte einen Knopf, am anderen Ende des Raumes begann eine Kamera zu surren, die die Anzeigen der verschiedenen Skalen festhielt. Indem er den Raum um sich herum vergaß und seine Aufmerksamkeit völlig auf den Mann in dem Stuhl richtete, sagte der Bärtige: »Sie wurden auf einem Satelliten gefunden – ja oder nein?«
Harold grinste, als er sich erinnerte, und antwortete nicht. »Also sind Ihre Leute in der Lage, durch den Raum zu reisen?« Keine Antwort. »Tatsächlich können sie weiter reisen als zu benachbarten Satelliten. Sie können benachbarte Planeten erreichen – ja oder nein?« Keine Antwort. »Wahrscheinlich haben sie bereits andere Planeten erkundet?« Keine Antwort. »Die Wahrheit ist, daß sie sogar noch wesentlich mehr können – sie haben bereits andere Sonnensysteme erreicht?« Er lächelte erneut, rätselhaft. »Ihre Welt ist ein eigenständiger Planet?« Stille. »Gehört sie einem Weltenverbund an?« Stille. »Sie ist die Vorpostenwelt eines anderen Imperiums?« Stille. »Aber dieses Imperium ist kleiner als das unsere?« Keine Antwort. »Größer als unseres?« »Himmel, man ließ mich in dem Glauben, Ihres wäre das größte, das jemals existierte«, sagte Harold sardonisch. »Seien Sie still.« Einer der Jüngeren versetzte ihm einen Schlag auf die Schulter. »Oder was?« »Wir schneiden Ihnen die Ohren ab.«
Der bärtige Mann, der dieser kurzen Unterbrechung mit ausdruckslosem Gesicht zugehört hatte, fuhr unbekümmert fort. »Ihre Rasse ist die höchstentwickelte Lebensform auf Ihrem Planeten? Es gibt kein anderes intelligentes Leben? Sie wissen von keinen anderen Lebewesen, die in der Lage wären, Abgesandte des Imperiums zu empfangen?« Der Frager war in keiner Weise gestört durch den vollständigen Mangel an Antworten seines Opfers, sein Ausdruck machte das nur zu deutlich. Gelegentlich warf er einen Blick in die Papiere in seiner Hand, doch zumeist musterte er seinen Zuhörer mit einem kalten Eulenblick, ständig weiter fragend. Die Fragen erreichten die Hundertgrenze, dann zweihundert, schließlich verlor Harold den Überblick. Einige waren Ergänzungen oder Alternativen für andere, wieder andere überkreuzten sich mit bereits gestellten oder solchen, die noch gestellt wurden, einige waren offensichtlich Fangfragen. Alle wurden mit starrsinnigem Schweigen beantwortet. Endlich kamen sie zum Abschluß, der Bärtige legte die Papiere mit einem gemurmelten Kommentar zur Seite. »Es wird die ganze Nacht dauern, bis wir das ausgewertet haben!« Er maß Harold mit prüfendem Blick. »Sie hätten genausogut mit Ihrer Stimme antworten können, das hätte uns eine Menge Arbeit erspart und Ihnen ein ordentliches Maß an Zuvorkommen eingebracht.« »Hätte es das?« Harold schien nicht überzeugt. »Bringt ihn weg«, bellte der bärtige Mann. Einer der jüngeren Männer schaute fragend auf den Älteren, der die unausgesprochene Frage ver-
stand und antwortete: »Nein, nicht dorthin. Noch nicht. Es ist vielleicht nicht nötig. Wir wollen zuerst sehen, was wir herausbekommen haben.« Er zog seine Brille ab und strich über seinen Bart. »Bringen Sie ihn in seine Unterkunft. Geben Sie ihm etwas zu essen.« Er gackerte unangenehm. »Laßt den Verurteilten seine Henkersmahlzeit essen.« Das Apartment stellte sich als massiv heraus, gut eingerichtet und komfortabel. Drei Räume: Badezimmer, Schlafzimmer und Wohnzimmer, letzteres mit einem gutausgestatteten Bücherregal, einem großen Heizkörper, versenkten Heiztafeln zur Erzeugung zusätzlicher Wärme und einem Fernsehgerät mit übergroßem Bildschirm. Harold ließ sich einfach in einen weichen, nachgebenden Sessel fallen und schaute einem kurzhaarigen Mann zu, der eine umfangreiche Mahlzeit hereinfuhr. Obwohl er sehr hungrig war, warf er keinen Blick auf das Essen. Seine Augen verharrten bei dem untersetzten Mann, der ungeachtet der dauernden Beobachtung methodisch die Speisen ausbreitete, Fleisch, Brot, Früchte, Kuchen und Kaffee. »Was sind das für echsenähnliche Wesen, die schwarze Uniformen mit silbernen Litzen tragen?« erkundigte Harold sich, nachdem der andere seine Arbeit erledigt hatte. »Dranes.« Kurzhaar wandte sich um und starrte stumpfsinnig zu dem Gefangenen. Sein Gesicht war bullig, muskulös, die Augen schmal, seine Stirn niedrig. »Wir nennen sie Dranes.« »Ja, aber was sind sie?« »Oh, auch nur eine andere Lebensform, nehme ich
an. Von einem anderen Planeten – wahrscheinlich von einem, der Drane genannt wird. Keine Ahnung. Ich hab es mal gewußt, es aber wieder vergessen.« »Du magst sie nicht, was?« »Wer tut das schon?« Seine Stirn runzelte sich unter dem Ansturm ungewohnter Gedanken, seine schmalen Augen verengten sich noch mehr. »Ich habe gerne Gedanken für mich, klar? Ich brauche keine Echsen, die in meinem Kopf lesen und Dinge sagen, die ich besser für mich behalte, klar? Ein Mann möchte Intimsphäre – manchmal ganz besonders.« »So, sie sind also Telepathen!« Nun war es an Harold, die Stirn zu runzeln. »Hmmm!« Er grübelte angestrengt. Der andere begann, seinen leeren Essenskarren in Richtung der Tür zu schieben, worauf Harold hastig weitersprach: »Sind welche von ihnen hier?« »Nein, es ist schon zu spät am Abend. Und es sind nicht viele hier auf diesem Planeten, Gott sei Dank sind wenige hier. Sie verrichten eine Art öffentliche Aufgabe hier, keine Ahnung, welche. Ein paar von ihnen haben wichtige Aufgaben, hier im Haus, aber jetzt sind sie daheim. 'ne Art Erlösung, sage ich!« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse des Zorns, um seine Gefühle für die geheimnisvollen Dranes zum Ausdruck zu bringen. »Man kann denken, was man will, wenn sie weg sind.« Er stieß seinen Karren hinaus und folgte ihm dann und schloß die Tür. Das Schloß klickte unmerklich. Harold nahm sich Zeit für das Essen, während er auf das Erscheinen einer verärgerten Menge wartete. Bartgesicht und seine beiden Assistenten hatten zwar
versichert, vor dem Morgen würde nichts mehr mit ihm geschehen, aber die letzte Episode würde die Dinge um einiges beschleunigen. Er beendete seine Mahlzeit, vage überrascht, daß es ihm gelungen war, ohne Unterbrechung fertig zu essen. Sie waren nicht so schnell bei der Auswertung, wie er das vermutet hatte. Er verbrachte die Zeit sinnvoll mit der Ausarbeitung eines Schlachtplanes. Das Apartment verschlimmerte sein Problem. Er hatte die Wände eingehend untersucht und festgestellt, daß sie aus massivem Metall bestanden. Die Fenster waren aus Panzerglas, versehen mit robusten, eng angebrachten Gittern. Es war mehr als nur ein Apartment, es war ein Kerker. Da war eine kleine Linse, eingelassen in die Wand, hoch oben in einer Ecke. Jedem anderen, mit schwächer ausgeprägter Beobachtungsgabe, wäre ihre Existenz entgangen. Er fand eine zweite, im Zifferblatt der Uhr verborgen. Sie war als Juwel getarnt. Wo es Kameras gab, da mußten auch Mikrophone sein, Mikroanfertigungen, schwer zu finden, wenn man seine Suche nicht allzu offensichtlich gestalten wollte. O ja, sie wußten alles über seine kleine Unterhaltung mit Kurzhaar – sie würden auf der Hut sein. Sie waren. Das Schloß wurde klickend geöffnet, gerade als er seine Mahlzeit beendet hatte. Helman kam herein, gefolgt von einem großen Mann in Uniform. Letzterer schloß die Tür, lehnte sich dagegen und spitzte die Lippen zu einem unhörbaren Pfeifen, während er den Raum offensichtlich gelangweilt musterte. Helman ging zu einem Stuhl und setzte sich, mit übereinandergeschlagenen Beinen, wobei er den Gefangenen aufmerksam betrachtete. Eine Vene pul-
sierte an seiner Schläfe, ein Effekt, der bedrohlich wirkte. Er sagte: »Ich hatte gerade ein Televoxgespräch mit Roka. Er schwor, die Dranes mit keinem Wort in Ihrer Gegenwart erwähnt zu haben. Er ist der Meinung, die Dranes wären von nichts und niemandem auf dem Schiff erwähnt worden, während Sie an Bord waren. Auch von den Wachen, die Sie hierherbrachten, wurden sie mit keinem einzigen Wort erwähnt. Sie haben auch keinen in diesem Gebäude gesehen. Wie also können Sie von ihrer Existenz wissen?« »Mysteriös, nicht wahr?« entgegnete Harold freundlich. »Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Sie etwas über die Dranes hätten herausfinden können«, fuhr Helman fort. »Als die Untersuchungen in Station drei vorüber waren, hatte einer der Assistenten vorgeschlagen, Sie zu Station vier zu bringen, doch die Idee wurde wegen der fortgeschrittenen Stunde verworfen. Station vier wird von den Dranes geleitet.« »Wirklich?« fragte Harold. Er heuchelte perfekte Überraschung. »Die Dranes wurden niemals erwähnt«, entgegnete Helman unbeirrt, seine kalten Augen auf seinen Gesprächspartner fixiert, »aber es wurde an sie gedacht. Sie haben diese Gedanken gelesen. Sie sind ein Telepath!« »Und nun sind Sie überrascht durch diese offensichtliche Tatsache?« »Es war nicht offensichtlich, da wir es nicht erwarteten«, konterte Helman. »Auf viertausend Welten gibt es nur elf wirklich telepathische Lebensformen, und nicht eine davon ist humanoid geformt. Sie sind
bis heute der einzige Humanoide, den wir entdeckten, der über diese Kraft verfügt.« »Nichtsdestotrotz«, beharrte Harold, »es hätte offensichtlich sein müssen. Meine Ablehnung der Zusammenarbeit oder meine Starrsinnigkeit, wie Sie beliebt haben, es zu nennen, hatte gute Gründe. Ich habe alle Gedanken hinter Ihren Fragen erkannt. Sie gefielen mir nicht. Sie gefallen mir noch immer nicht.« »Dann werden Ihnen meine jetzigen Gedanken genausowenig gefallen«, brauste Helman auf. »Nein«, stimmte Harold zu. »Sie haben die Dranes benachrichtigen lassen und sie rasch hierherbeordert, und Sie denken, daß sie verdammt schnell hier sein werden. Sie nehmen an, sie werden mich aussaugen. Sie haben ein großes Vertrauen in ihre Kräfte, obwohl Sie nicht das volle Ausmaß der meinen ermessen können.« Er stand auf, lächelte, als Helman sich mit einem Blick plötzlicher Besorgnis aufrichtete. Er starrte in Helmans schwarze Augen, seine eigenen flackerten gefährlich. »Ich glaube«, sagte er, »dies ist eine gute Gelegenheit für uns, unsere Kräfte zu messen, glauben Sie nicht auch?« »Ja«, murmelte Helman. Schwerfällig kam er auf die Füße und blieb mit einer Art Voreingenommenheit stehen. »Ja, sicher.« Der Wärter am Tor straffte sich, seine gewaltigen Hände in die Seiten gestemmt. Er blickte fragend zu dem unentschlossenen Helman. Als Helman nicht reagierte, wandte er seinen Blick dem Gefangenen zu, wo er ihn verharren ließ, die Alarmiertheit wich langsam aus seinen Zügen. Dann, obwohl er die ganze Zeit über nichts gesagt
hatte, begann er zu sprechen, seine Stimme war heiser: »Okay, gehen wir. Beeilen wir uns.« Er öffnete die Tür. Die drei gingen hinaus, voraus der Wärter, Helman bildete den Schluß. Sie bewegten sich rasch durch die Korridore, wobei sie gelegentlich auf andere uniformierte Wesen trafen, ohne Erklärung oder Unterbrechung, bis sie die Haupthalle erreichten. Der Mann, dessen kleines Büro die Schalttafeln enthielt, von denen aus man die Tore öffnen konnte, hatte es nicht nötig, entgegenkommend zu sein. »Sie können ihn nicht hinausnehmen, bevor Sie nicht für ihn unterschrieben haben, unter Angabe, wohin er gebracht wird und auf wessen Veranlassung«, gab er ungerührt bekannt. »Auf meine Veranlassung«, sagte Helman. Er gab den Worten einen geschraubten Klang, als wäre er die Puppe eines Bauchredners, doch der Beamte schien es nicht zu bemerken. »Oh, alles in Ordnung.« Er schob einen dicken Wälzer zum Ende seines Tisches. »Unterschreiben Sie hier. Name in Spalte eins, Ziel in Spalte zwei und Zeit der Rückkehr in Spalte drei.« Er warf einen Blick auf den großen Wärter, der sie verständnislos musterte, stieß einen resignierten Seufzer aus und sagte: »Ich vermute, Sie benötigen ein Auto?« »Ja«, sagte Helman mechanisch. Der Beamte drückte einen Knopf, ein tiefer Gongschlag erklang irgendwo außerhalb des Gebäudes. Dann berührte er die Schalttafel, die Torflügel schwangen auf. Das Trio begab sich hinaus, mit erzwungener Gleichgültigkeit, wartete einen Augenblick, während die Tür sich wieder hinter ihnen
schloß. Es war bereits dunkel, aber nicht vollständig, denn das Sternenmeer glitzerte am Himmelszelt, und von der Stadt drangen die Lichter herauf. Da tauchte auch schon das Düsenauto an einer Ekke des Gebäudes auf und hielt vor ihnen an. Die drei stiegen ein. Harold saß in der Mitte zwischen Helman und dem großen Wächter, beide verhielten sich merkwürdig still, nachdenklich. Der Fahrer sah sich um, zeigte ihnen ein Gesicht mit emporgezogenen Augenbrauen. »Hinunter in die Stadt«, stieß Helman kurz hervor. Der Fahrer nickte und sah wieder nach vorn. Das Auto rollte auf das Tor in der fernen Mauer zu, doch dieses blieb geschlossen. Zwei Männer in Grün tauchten aus dem Schatten auf und beleuchteten das Innere des Wagens mit Taschenlampen. Einer sagte: »Inquisitor Helman, ein Subjekt – ich glaube es ist okay.« Er ließ den Lichtstrahl in Richtung des Tores wandern, woraufhin dieses sich öffnete, langsam und gemächlich. Mit einem Aufheulen seiner Düsen schoß das Auto hindurch. Sie brachten Harold Harold-Myra in die südliche Sektion der Stadt, wo die Gebäude kleiner und die Menschenmengen größer wurden. Helman und der Wärter stiegen aus und unterhielten sich mit ihm, während der Fahrer außer Hörweite wartete. »Ihr werdet beide heimgehen«, befahl Harold, »euch an nichts erinnern und euch normal verhalten. Euer Vergessen wird bis Sonnenaufgang anhalten. Bis die Sonne aufgeht, werdet ihr euch an keines der Geschehnisse, seit ihr mein Zimmer betreten habt, erinnern. Versteht ihr das?« »Wir verstehen.«
Gehorsam gingen sie zurück zum Auto. Sie waren ein Paar Maschinen. Er stand auf dem Gehweg und sah zu, wie das Fahrzeug sich in den fließenden Verkehr einfädelte und verschwand. Der Himmel war nun ziemlich dunkel, aber die Straßen erfüllt von Farbe und Licht, dessen Flackern und Leuchten merkwürdige Schatten über den Ort warf. Einige Minuten stand er still und betrachtete die Schatten, während er sich entspannte. Er war allein – allein gegen eine Welt. Nicht, daß ihn das sonderlich beunruhigt hätte. Seine Situation war der seines Volkes nicht unähnlich, das eine eigenständige Welt am Rande eines großen Imperiums bewohnte. Er besaß allerdings einen Vorteil, der ihm, so weit von seiner Heimat entfernt, gute Dienste leistete: Er kannte seine Macht. Seine Gegner wußten davon nichts. Andererseits litt auch er unter einer vergleichbaren Wissenslücke, denn obwohl er eine Menge über die Menschen des Imperiums gelernt hatte, kannte auch er nicht das ganze Ausmaß ihrer Macht. Und diese Macht war gewiß respektabel. Eine Allianz verschiedener Lebensformen mit verschiedenen Fähigkeiten konnte sehr wohl eine allmächtige Verbindung sein. Der Kampf war eine Auseinandersetzung zwischen Homo Superior und Homo Sapiens, plus der Dranes, plus anderer Dinge mit unbekannten Möglichkeiten – es mochte noch viele Seltsamkeiten geben, die in freundschaftlicher Verbindung mit dem Imperium standen. Nun, da er entwurzelt und vogelfrei war, konnte er die Argumente der Wärter schätzen lernen, nämlich, daß es keinen Sinn hatte, frei zu sein, wenn man keinen Platz wußte, um diese Freiheit zu genießen. Der Wärter hatte eine Schlußfolgerung gezogen, dabei
aber eines übersehen. Er hatte gefolgert, daß es Plätze gab, wo die Freiheit bewahrt wurde, und dabei vergessen, daß Flüchtlinge ein besonderes Gespür im Entdecken heimlicher Zufluchtsstätten haben. Wenn seine eigene Art nur halb so weise und nur viertels so verschlagen war, wie er das annahm, dachte Harold, dann dürfte es keinerlei Schwierigkeiten bereiten, eine solche Zufluchtsstätte zu finden. Er hob die Schultern, wandte sich zum Gehen und sah sich einem großen, schlanken Burschen in schwarzer Uniform mit silbernen Knöpfen und silbernen Litzen gegenüber. Die Züge des Neuankömmlings waren hager und brutal, ihre Farbe wechselte von Gold zu Blutrot, als der Schein eines in der Nähe aufflackernden elektrischen Lichts sie erhellte. Harold konnte ein Murmeln im Verstand des anderen hören: Seltsam fremdländische Kleidung trägt dieser Kerl. Möglicherweise ein erst vor kurzem Eingewanderter – vielleicht ein Subjekt auf der Flucht, während er seinen Mund öffnete und sagte: »Zeigen Sie mir Ihre Identitätskarte!« »Warum?« fragte Harold, um Zeit zu gewinnen. Zum Teufel mit den Kleidern – er hatte keine Zeit gehabt sich andere zu suchen. »Das ist die Regel«, entgegnete der andere irritiert. »Sie sollten wissen, daß jeder Bürger seine Identitätskarte vorzeigen muß, wenn er von der Polizei dazu aufgefordert wird.« Seine Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, sein Verstand sprach stumm, aber wahrnehmbar. Aha, er zögert. Wahrscheinlich hat er gar keine Karte. Das sieht schlecht aus. Er ging einen Schritt vorwärts. Harolds Augen flammten in einem seltsamen Feu-
er. »Sie wollen nicht wirklich meine Karte sehen?« sagte er sanft. »Oder doch?« Der Polizist kämpfte einen Augenblick mit sich, ehe er antwortete. »Nein... nein... natürlich nicht.« »Es war nur ein Fehler von Ihnen?« »Nur ein Fehler von mir«, stimmte der andere langsam zu. Sein Verstand war nun vollständig in Unordnung geraten. Ein plötzlicher Aufschrei Er ist gefährlich! geisterte durch seinen verwirrten Geist, klang aber rasch ab und wurde von anderen starken Gedankengängen überlagert, die sagten: Dummer Fehler. Natürlich hat er eine Karte. Ich vermute zuviel. Mit schockierender Plötzlichkeit brach ein anderer Gedanke durch, der sich deutlich und gut wahrnehmbar vom telepathischen Gemurmel der sie umgebenden Menschenmassen abhob. Bei der blauen Sonne, Gaeta, hast du das auch gespürt? Ein Fragment hypnotischer Projektion. Etwas mit einer Karte. Wende den Wagen! Kalter Schweiß lief Harolds Rücken hinunter, er verschloß seinen Verstand wie einen Panzer und ließ seinen Blick über die Straße schweifen. Es waren zu viele Autos, und das Lichterspiel zu verwirrend, um ein in der Ferne wendendes Auto zu erkennen. Aber er würde wissen, was für ein Auto ihm entgegenkam. Sein Fahrer war vielleicht menschlich, seine Passagiere aber echsenähnlich. Fahrzeuge wirbelten an ihm vorbei, vier, fünf, dann sechs gleichzeitig. Die Gedankenstimme, die verstummt war, nahm an Intensität zu und wurde wieder schwächer. Sie sagte: Vielleicht täusche ich mich, möglich. Aber ich bin sicher, die Amplitude war ausreichend für Hypnose.
Nein, jetzt ist sie verschwunden – ich kann sie nicht mehr wahrnehmen. All diese Leute erzeugen ein zu großes Hintergrundgeräusch auf der gedanklichen Wellenlänge. Ein anderer Gedanke, ein neuer, antwortete unverzüglich: Ach komm, laß doch, du bist nicht im Dienst. Wenn wir nicht – Er sank unter die Wahrnehmungsgrenze. Dann meldete sich der Verstand des Polizisten wieder, er sagte: Warum stehe ich hier bloß herum wie ein Narr? Warum habe ich diesen Burschen angehalten? Das muß doch einen Grund gehabt haben! Ich habe ihn bestimmt nicht zum Vergnügen angehalten – es sei denn, ich bin etwas wirr im Kopf! Harold unterbrach rasch und mit harten Worten: »Sie haben mich nicht angehalten. Ich hielt Sie an. Geheimdienst – erinnern Sie sich?« »Eh?« Der Bulle öffnete seinen Mund, schloß ihn wieder, er schien verwirrt. »Warten Sie einen Moment«, fügte Harold mit einem starken, autoritären Tonfall hinzu. Er ließ seine Wahrnehmung ängstlich umherschweifen. Ein Strom undeutlicher Gedanken durchströmte seinen Kopf, aber keiner von der Klarheit und Schärfe des unsichtbaren Gaeta und seines alarmierten Gefährten. Waren sie etwa auch in der Lage, ihre Gedanken abzuschirmen? Es gab keinen Weg, das herauszufinden! Er gab es auf, wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bullen zu und sagte: »Geheimdienst. Ich habe Ihnen meine offizielle Vollmacht gezeigt. Gütiger Himmel, Mann, haben Sie das etwa schon wieder vergessen?«
»Nein.« Der Schwarzgekleidete war von dieser unerwarteten Aggressivität verunsichert. Die Konfrontation mit einem nichtexistierenden Geheimdienst vertiefte seine Verwirrung noch. »Nein«, protestierte er, »ich habe es nicht vergessen.« Dann, in dem schwächlichen Bemühen, wieder die Oberhand zu gewinnen: »Aber Sie begannen etwas zu erklären, und ich warte darauf, den Rest zu hören.« Harold lächelte und nahm ihn beim Arm. »Sehen sie, ich bin befugt, Ihre Unterstützung zu verlangen, wann immer ich sie benötige. Sie wissen das, nicht wahr?« »Ja, sicher, aber –« »Was ich von Ihnen verlange, ist sehr einfach. Es ist nötig, daß ich die Kleidung mit einem verdächtigen Individuum tausche, und dieser für heute nacht aus dem Verkehr gezogen wird. Ich werde ihn Ihnen zeigen, wenn er vorbeikommt. Sie werden ihm sagen, daß Sie ihn in Gewahrsam nehmen, um ihn zu verhören. Dann bringen Sie uns irgendwohin, wo wir die Kleider wechseln können, vorzugsweise Ihre eigene Wohnung, wenn Sie eine haben sollten. Dort werde ich Ihnen dann weitere Instruktionen geben.« »In Ordnung«, stimmte der Bulle zu. Er blinzelte bei dem Versuch, seinen Verstand zu ordnen. Gedanken tauchten unerwartet in seinem Schädel auf. Besser für dich, nicht nach den Gründen zu fragen. Sollen die höheren Tiere die Verantwortung übernehmen. Dieser Bursche hat alle Autorität dieser Welt – und er weiß, was er tut. Irgendwas stimmte nicht mit diesen Gedanken. Sie schienen von außen nach innen zu dringen, nicht von drinnen nach draußen, wie Gedanken das tun sollten. Aber sie waren mächtig genug und einfühl-
sam genug, er war nicht in der Lage, entgegengesetzte Ideen zu entwickeln. »In Ordnung«, wiederholte er. Harold suchte sich unter den vorübereilenden Fußgängern einen Mann von seiner Größe und Figur heraus. Unter allen Vorübergehenden schien dieser Mann wie geschaffen für sein Vorhaben. Er machte den Polizisten auf ihn aufmerksam. »Das ist der Mann.« Der Beamte stolzierte majestätisch vorwärts, hielt das Opfer an und sagte: »Polizei. Ich nehme Sie fest, um Sie zu verhören.« »Mich?« Der Mann konnte es nicht fassen. »Ich habe nichts getan.« »Warum machen Sie sich dann Sorgen deswegen?« »Ich mache mir keine Sorgen«, widersprach der andere hastig. Er runzelte verwundert die Stirn. »Ich glaube, ich muß mich Ihnen fügen. Aber es ist Zeitverschwendung und unsinnig.« »So, Sie halten die Geschäfte des Imperiums für unsinnig?« stand Harold dem Polizisten bei. Das Opfer maß ihn mit einem Blick heftigster Abneigung und brauste auf: »Nur weiter so. Versucht eine Beschuldigung gegen mich vorzubringen. Sie werden sich zum Narren machen.« »Wir werden sehen!« Sie gingen eine Seitenstraße hinunter, an deren anderem Ende sie eine breite Allee erreichten. Keine Autos waren zu sehen, die Straße schien Fußgängern vorbehalten. Sie war in sechs Streifen unterteilt drei für jede Richtung, für langsame Fortbewegung außen, für rascheres Gehen in der Mitte. Kleine Menschenansammlungen, einige unterhielten sich ungestört,
andere starrten gelangweilt herüber, glitten die Straße entlang und verschwanden in der Ferne. Ein konstantes, brummendes Geräusch war unter der Oberfläche der Straße zu hören. Die drei sprangen auf eines der äußeren, langsamen Bänder weiter zum schnelleren Mittelstreifen und schließlich auf den schnellsten Weg. Die Straße verlief geradlinig, bis etwa zehn Blocks, bevor sie sie verließen. Harold konnte sie nur noch zehn Blocks weiterrollen sehen. Das Apartment des Polizisten entpuppte sich als moderne Dreizimmerwohnung eines Junggesellen, im zweiten Stock eines aus grauem Stein erbauten Gebäudes. Dort begann der Gefangene erneut zu protestieren, er sah zu Harold und fand seine Ansichten bereits im Augenblick ihres Entstehens verändert. Er wurde kooperativer, allerdings mehr betäubt denn aus freiem Willen. Den Inhalt seiner Taschen auf dem Tisch ausbreitend, wechselte er die Kleidung. Nunmehr in unauffälliger, nicht mehr ausländisch wirkender Kleidung, sagte Harold zu dem Polizisten: »Nehmen Sie ihre Jacke ab, machen Sie es sich gemütlich. Es besteht kein Grund, besonders dienstlich zu sein, um diesen Auftrag zu erfüllen. Vielleicht werden wir uns länger hier aufhalten. Holen Sie uns etwas zu trinken, während ich diesem Burschen hier sage, was los ist.« Er wartete, bis der Polizist in einem angrenzenden Zimmer verschwunden war dann flammten seine Augen dem leise murrenden Opfer entgegen. »Schlafe!« befahl er. »Schlafe!« Der Mann sträubte sich in vergeblichem Widerstand, schloß seine Augen und ließ den Kopf nach
vorn hängen. Sein Körper fiel schlaff in einen Sessel. Mit raschen Fingern durchsuchte Harold die persönlichen Gegenstände des Fremden auf dem Tisch. Harold fand die Identitätskarte des Mannes. Obwohl er ein solches Dokument noch nie gesehen hatte, verschwendete er keine Zeit darauf, es zu untersuchen, er steckte sie aber auch nicht ein. Mit unglaublicher Schnelligkeit nahm er die Brieftasche des Polizisten aus seiner abgelegten Jacke, fand dessen Identitätskarte, ersetzte sie durch die andere und tat die Brieftasche an ihren Platz zurück. Die Karte des Polizisten steckte er in seine eigene Tasche. Auf seinem weit entfernten Heimatplaneten war es eine alte Tatsache, daß doppelte Vertauschungen verwirrender sind als eine einzige. Gerade noch rechtzeitig. Der Bulle kehrte mit einer Flasche zurück, in der eine ölige rosa Flüssigkeit schwappte, setzte sich, sah dümmlich zu dem Schlafenden, sagte »Huh?« und ließ seinen stumpfsinnigen Blick zu Harold schweifen. Dann blinzelte er einigemale, jedesmal langsamer als zuvor, als bemühe er sich, die Augen offenzuhalten, entgegen einem übermächtigen Willen, sie zu schließen. Es mißlang. Er tat es seinem Gefangenen gleich, ließ den Kopf hängen und begann zu schnarchen. »Schlafe«, murmelte Harold, »schlafe bis morgen früh. Dann kannst du wieder aufwachen. Aber nicht eher!« Er beugte sich nach vorn und zog ein kleines, auf Hochglanz poliertes Gerät aus seiner ledernen Umhüllung unter der Achselhöhle des Polizisten. Eine Art Waffe. Er richtete sie gegen das Fenster und drückte den an ihrem Kolben befestigten Abzug. Es
gab ein scharfes, lautes Krachen, aber keinen Rückstoß. Eine Scheibe des Glases verschwand aus der Mitte des Fensters. Kalte Luft drang durch die Öffnung herein, die den Geruch verbrannten Harzes mit sich brachte. Mit einem grimmigen Blick schob er die Waffe in ihr Halfter zurück und klopfte seine Finger angeekelt ab. »So«, murmelte er. »Gerechtigkeit mag sich durch den Tod Geltung verschaffen. Wahrlich, ich bin zurückversetzt in die dunklen Zeitalter!« Ohne weiter auf die Schläfer zu achten, begann er den Raum zu durchsuchen. Je mehr er über die kleinen, gewöhnlichen Durchschnittsbürger des Imperiums Bescheid wußte, desto besser für ihn. Wissen – das richtige Wissen – konnte eine mächtige Waffe sein. Sein Volk kannte den Wert des Ungreifbaren. Als er mit seiner Untersuchung fertig war – er wollte gerade gehen – tönte eine leise Glocke aus dem Innern der Wand. Er erkannte, daß das Geräusch hinter einer Platte an der Wand erklang, und fragte sich nach dem Grund, ehe er weitere Schritte unternahm. Eine potentielle Gefahr lauerte hier, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Er schob die Platte zur Seite und fand einen kleinen Lautsprecher, ein Mikrofon, eine Linse und einen kleinen, runden Bildschirm. Der Bildschirm zeigte eine farbige Szene, ein strenges Gesicht mit markantem Unterkiefer blickte ihn aus dem Rahmen heraus an. Der Anrufer bedachte das Zimmer mit einem kurzen verstehenden Blick und wandte daraufhin seine Aufmerksamkeit Harold zu.
»So, der vermißte Streifenpolizist ist unpäßlich«, knurrte er. »Er schläft vor einer Flasche. Ihn erwarten drei Anklagen: Unerlaubtes Fernbleiben vom Dienst, unvollständiger Anzug und Trunkenheit. Damit geben wir uns vorerst zufrieden.« Er preßte die Lippen zusammen. »Wie ist Ihr Name und die Nummer Ihrer Identitätskarte, Bürger?« »Versuchen Sie doch, es rauszufinden«, schlug Harold vor. Er schob die Platte vor, um zu verhindern, daß die Kamera seine Züge festhielt, wenn sie das nicht schon getan hatte. Dies war ein unglücklicher Zwischenfall: Er verkürzte seinen selbstverschafften Zeitvorsprung von einigen Stunden auf wenige Minuten. Sie würden schon unterwegs sein, er mußte sich beeilen. In Sekundenbruchteilen verließ er das Apartment und das Gebäude. Ein vorüberfahrendes Auto hielt, um ihn mit stadteinwärts zu nehmen. Sein Fahrer war sich über die Hilflosigkeit seiner Hilfsbereitschaft nicht im klaren. Hier schien die Stadt noch heller als anderswo, denn die Dunkelheit des Himmels unterstrich den Schein der Lichter. Einige wenige Sterne schienen noch immer, und eine Kette bunter Kugeln hob sich deutlich gegen den Hintergrund ab, wo einige unidentifizierbare Raumschiffe ins All starteten. Die Gehwege benutzend, ließ er sich mit der Masse treiben. Die Masse bedeutete Sicherheit. Es ist schwer, eine Einzelperson in der Menge auszumachen, besonders wenn diese Person gekleidet ist wie die Menge und sich verhält wie die Menge. Einige Zeit ging er so unter den Menschen, doch sein Umhergehen war nicht ziellos. Er lauschte den Gedanken, er suchte
zwei Arten von Gedanken, solche, die ihm weiterhalfen, und wirklich wichtige. Erstere fand er, letztere nicht. Ein dicker Mann wanderte hinter ihm und stellte sich das Vergnügen von Nahrung in größeren Mengen vor. Er wandte sich um und folgte dem dicken Mann, blieb ihm drei Straßen und eine weitere bewegliche Allee durch auf den Fersen. Gefolgt von Harold, betrat der dicke Mann ein riesiges Restaurant. Sie setzten sich zusammen an einen freien Tisch. Viele aktive Gedanken gab es hier. Das war wirklich ein Nachteil, es gab zu viele Gedanken. Sie erzeugten ein konstantes Brüllen auf der telepathischen Wellenlänge, es war sehr schwierig, den einen von dem anderen zu trennen, noch schwieriger allerdings war es, zu bestimmen, wer was gedacht hatte. Nichtsdestotrotz fuhr er damit fort, individuelle Gedanken zu suchen, er aß langsam, um so lange wie möglich hier bleiben zu können. Lange nachdem der dicke Mann gegangen war, saß er noch immer an seinem Platz und lauschte, lauschte. Es gab viele Gedanken, die er interessant fand, einige aufschlußreich, andere kamen dem, was er suchte, sehr nahe, aber keiner war wirklich von Bedeutung, kein einziger. Schließlich gab er es auf und nahm die Rechnung von dem Kellner entgegen. Es war leicht herauszufinden, was der Kellner von ihm wollte: dieses sonderbare Material, Geld genannt. Roka hatte ihm viel von diesem Geld erzählt, ihm sogar einige Stücke dieses wertlosen Plunders gezeigt. Er erinnerte sich an Rokas Verblüffung angesichts seiner Unwissenheit über eine gebräuchliche Methode des Handels. Mit belustigender Überlegen-
heit hatte der hilfsbereite Leutnant sich ausgemalt, daß Harolds Volk nun wiederentdecken mußte, was es schon lange vergessen hatte. Es war etwas von diesem Geld – er hatte keine Ahnung wieviel in den Taschen dieses Anzugs gewesen, aber er hatte das, wie alles andere, zurückgelassen. Es hatte keine Notwendigkeit bestanden persönliches Eigentum eines anderen zu entwenden. Wie auch immer, er war ein Leben lang ohne es ausgekommen und wollte sich nun nicht zu seinem Sklaven machen lassen. Er bezahlte den Kellner mit einem Nichts, legte es in dessen Hand, mit der herrschaftlichen Geste eines Mannes, der eine unermeßliche Summe ausgibt. Der Kellner nahm Nichts dankbar entgegen, ließ Nichts in seiner Tasche verschwinden und quittierte die Rechnung, verbeugte sich dankbar. Dann rieb er sich die Stirn, schaute unsicher und verwirrt drein, sagte aber nichts. In einer Seitenstraße machte Harold den Kontakt, nach dem er gesucht hatte, wenn auch nicht in der Weise, wie er sich das vorgestellt hatte. Er suchte nach einem aufrührerischen Denker, der ihn in die Unterwelt der Aufrührer einführen konnte. Stattdessen fand er einen Freund. Der Bursche war zwanzig Meter entfernt und ging auf ihn zu, mit einer auffallend lockeren Gangart. Er war in allen Belangen humanoid, mit einer Ausnahme – seine Haut war die eines Reptils. Sie war glatt, aber schuppig und silbergrau, mit einer Spur metallischen Blaus. Die Pupillen seiner Augen waren hellgrau, wachsam und intelligent.
Diese Augen schauten geradewegs in die Harolds, als sie sich gegenüberstanden, eine Flut freundschaftlicher Gedanken floß unsichtbar zu ihm über, während die Echse mit tiefer Stimme sagte: »Komm mit mir.« Er ging geradeaus davon, ohne Unterbrechung. Er drehte sich nicht um, um sich zu vergewissern, ob Harold auch folgte. Harold wartete nicht, um die Angelegenheit zu überdenken. Die Situation erforderte eine schnelle Entscheidung. Sich auf einem Bein umdrehend, folgte er dem Sprecher. Und während er gemächlich hinter dem anderen hertrottete, dachte er angestrengt nach; sein Denken vollzog sich hinter einer mentalen Mauer, die nichts durchdringen konnte. Offensichtlich war der schuppige Mann ein Außenseiter, ein Wesen von einer anderen Welt. Sein sonderbarer Körper zeigte das. Es gab auch noch andere Beweise. Er hatte Harolds Gedanken nicht gelesen – dessen war Harold sich sicher –, aber auf seltsame Art und Weise hatte er eine Verwandtschaft zwischen ihnen festgestellt und sich spontan dazu bekannt. Mehr noch, während er ging, war sein Verstand weit geöffnet, doch Harold gelang es nicht, seine Gedanken zu lesen. Diese Gedanken waren zwar, aller Wahrscheinlichkeit nach, geradeausgerichtet und logisch genug, doch sie oszillierten über die gesamte Bandbreite des mentalen Spektrums und dessen extreme Randgebiete. Sie zu lesen glich dem Versuch, Frequenzmodulationen in einem Empfänger für Amplitudenmodulation zu empfangen. Die Gedankenformen mochten normal sein, die Wellenform jedoch war fremdartig. Noch immer nicht zurückblickend, betrat das Ob-
jekt seiner Spekulationen den Eingang eines Mietshauses und fuhr mit dem Aufzug zum zehnten Stock. Dort schloß er eine Tür auf, sah sich zum erstenmal nach seinem Verfolger um, lächelte und führte ihn hinein. Harold trat ein. Der andere schloß die Tür hinter ihm. In dem Apartment befanden sich noch zwei weitere Personen. Eine saß auf einem Tisch und ließ die Beine herunterbaumeln, die andere saß auf einem Sofa und war in ein Magazin vertieft. »Oh, Melor, da ist ein –«, begann der auf dem Sofa. Er sah auf, bemerkte den Besucher und lächelte ihm freundlich entgegen. Dann verwandelte sein Ausdruck sich in Überraschung, und er sagte: »Beim Immerwährenden Licht, Sie sind das! Wo hast du ihn gefunden, Melor?« Die Gedanken dieses Mannes flackerten genauso, und Harold war nicht in der Lage, etwas herauszufinden. Dasselbe galt für das Wesen, das auf dem Tisch saß: Seine Gedanken wogten innerhalb und außerhalb der Grenzlinie seiner Wahrnehmung. »Ich habe ihn auf der Straße getroffen«, antwortete der, den sie Melor nannten, »und habe ihn hierher eingeladen. Er hat einen sehr anziehenden Hauch.« Er setzte sich und lud Harold ein, das auch zu tun. Mit einem Blick auf den im Sofa fuhr er fort: »Was hast du gemeint mit ›Sie sind das?‹ Kennst du ihn?« »Nein.« Der andere zeigte auf ein Teleset an seiner Seite. »Sie haben eine Suchmeldung über ihn übertragen, erst vor wenigen Minuten. Er wird gesucht – dringend.« Er berührte einen Knopf. »Hier ist die Aufzeichnung, paßt auf!«
Der große Bildschirm erhellte sich. Ein sauergesichtiger Mann in bombastischer Uniform erschien auf dem Schirm, er sprach mit offizieller Gelassenheit. »Alle Bürger werden aufgefordert, nach einem entflohenen Subjekt, das gerade von den Randbereichen gebracht wurde, Ausschau zu halten, oder, wenn möglich, dingfest zu machen. Name: Harold HaroldMyra. Beschreibung –« Er setzte seine Rede in aller Ausführlichkeit fort, gab alle Einzelheiten mit minuziöser Genauigkeit durch, und endete dann: »Seine Kleidung ist auffällig unkonventionell, und er hat keine Identitätskarte. Die Bürger sollten bedenken, daß er Eigenschaften haben kann, die anderen Rassen des Imperiums unbekannt sind, und die Behörden ihn lebend wollen. Hier eine Fotografie.« Der Schirm wurde weiß, belebte sich von neuem und zeigte Harolds Züge in Farbe. Er erkannte Teile seines ehemaligen Gefängnisses im Hintergrund. Die winzigen Kameras hatte ihre Aufgabe erfüllt. »Tush!« seufzte das Geschöpf auf dem Sofa. Er schaltete ab und wandte sich Harold zu. »Nun, Sie sind in guten Händen. Das ist sicher. Wir würden niemals jemanden der Autorität übergeben, das wäre ein Tiefschlag, der ihm den Atem nimmt. Mein Name ist Tor. Der dort, der mit aller Hingabe nichts tut, ist Vern. Der, der dich hierhergebracht hat, ist Melor. Unsere anderen Namen tun nichts weiter zur Sache. Wie du sicher erkannt hast, stammen wir nicht von dieser lausigen, überorganisierten Welt. Wir stammen von Linga, einem Planeten, der eine teuflisch weite Strecke entfernt ist, zu weit entfernt für meinen Geschmack. Je öfter ich daran denke, desto weiter entfernt scheint er mir.«
»Es ist bestimmt nicht weiter als zu meiner eigenen Welt«, sagte Harold. Er beugte sich vor. »Seht mal, könnt ihr meine Gedanken lesen?« »Nicht eine Silbe davon«, antwortete Tor. »Du bist wie die hiesige Rasse, etwa so – du denkst pulsierend und zu weit unten für uns. Kannst du die unseren lesen?« »Kann ich nicht. Ihr flackert innerhalb und außerhalb meiner Wahrnehmung.« Er runzelte die Stirn. »Was mir zu schaffen macht, ist, warum Melor mich in der Menge ausmachen konnte, wenn er meine Gedanken nicht lesen kann.« »Ich roch dich«, warf Melor ein. »Huh?« »Das ist nicht ganz richtig, aber so kann ich es am besten ausdrücken. Die meisten Bürger des Imperiums haben eine herausragende Eigenschaft, die sie Geschmackssinn nennen. Das haben wir nicht. Sie reden von schlechten Gerüchen und angenehmen, was für uns völlig unverständlich ist. Aber wir sind in der Lage, Anziehung und Ablehnung zu erkennen, wir können Freunde oder Feinde ›riechen‹, untrüglich und sicher. Frag mich nicht, wie wir das machen, wie sollte ich es dir erklären können?« »Ich sehe die Schwierigkeit«, stimmte Harold zu. »Auf unserer Welt«, fuhr Melor fort, »sind die meisten Lebensformen mit diesem Sinn ausgestattet, der spezifisch für Linga zu sein scheint. Wir haben keine zahmen Tiere und wilde Tiere – sie sind zahm, wenn du sie magst, und wild, wenn nicht. Keines von ihnen würde, von Neugier getrieben, einem Jäger in die Arme laufen, keines panisch fliehen vor jemandem, der sich vor ihm fürchtet. Instinktiv wissen sie, wer
Freund und wer Feind ist. Sie wissen das so sicher wie du Schwarz und Weiß unterscheiden kannst, oder Tag und Nacht.« Tor warf ein: »Was ein zusätzlicher Grund für unsere mangelnde Beliebtheit ist. Der Körper verbirgt die Aura nicht, verstehst du? Unter einer großen Menge fremdartiger Gerüche sind wir in der Lage, einen freundlichen Geschmack herauszufinden – so wie den deinen.« »Schmecken die Dranes freundlich?« »Sie stinken!« Tor zog eine Grimasse, er stieß die Worte haßerfüllt hervor. Er blickte nachdenklich auf den toten Bildschirm und sprach weiter: »Nun, die Machthabenden sind hinter deinem Körper her, und, so leid es mir tut, wir können dir nicht sehr viel Unterstützung bieten, aber wir sind bereit, dir zu helfen, soweit das möglich ist. So ungefähr zwanzig Subjekte sind in den letzten zehn oder zwölf Jahren entkommen. Alle von ihnen flohen unter plötzlicher Aufbietung lange vergessener und unerwarteter Kräfte, die ihre Entführer überraschten. Aber niemand blieb in Freiheit. Sie wurden alle wieder eingefangen, die einen früher, die anderen später. Du kannst deine Stärke nicht gebrauchen, ohne ihre Art zu offenbaren, und einmal wissen die Mächtigen von deinen Fähigkeiten und können Schritte dagegen unternehmen. Früher oder später unternimmt jeder Flüchtling einen Versuch, seine Heimatwelt zu erreichen – und die Fänger erwarten ihn.« »Da werden sie lange warten müssen«, sagte Harold zu ihm, »da ich nicht vorhabe, auf meine Welt zurückzukehren. Zumindest nicht sehr bald. Was bringt es, den ganzen Weg hierherzukommen, um
dann wieder den ganzen Weg zurückzugehen?« »Wir nahmen an, du hattest keine andere Wahl, als mitzukommen«, sagte Tor. »Hatte ich auch nicht. Die Umstände zwangen mich, ihnen zu folgen. Die Umstände machen es nun nötig, zu bleiben.« Die drei waren von dieser lapidaren Haltung einigermaßen überrascht. »Hier bin ich mehr als nur ein Ärgernis«, legte Harold dar. »Dies ist das Herz des Imperiums. Wer auch immer es beherrscht, beherrscht das Imperium. Das kann ein einzelner sein oder auch eine kleine Gruppe, aber auf diesem Planeten ist der oder die Köpfe, die das Imperium führen. Ich werde etwas in diese Führung hineingreifen.« »Du hast Hoffnungen!« stieß Tor hervor. »Der große Boß ist Burkinshaw der Dritte, Herr des Terrors. Du brauchst allein zweiundvierzig unterschriebene und gegengezeichnete Anträge und eine bewaffnete Eskorte, um ihn auch nur sehen zu dürfen. Er ist unheimlich exklusiv!« »Das ist schwierig, aber die Situation ist schwieriger.« Er entspannte sich in seinem Stuhl und dachte eine Weile nach. »Es gibt einen Herrn des Terrors auf jedem Planeten, oder nicht? Das ist eine dünkelhafte Bezeichnung für die Beherrscher der imperiellen Freiheit!« »Terror heißt Größe, überragendes Wissen, Intellekt von göttlichem Ausmaß«, erklärte Tor. »Oh, in der Tat? Mein Fehler! Wir benutzen dasselbe Wort auf meinem Planeten, dort bedeutet es Furcht.«
Plötzlich erschien ein merkwürdiger Ausdruck auf seinem Gesicht. »Burkinshaw! Burkinshaw! Ihr Götter!« stieß er hervor. »Was ist los?« erkundigte Melor sich. »Nichts weiter. Ich bin mir nur gerade über eine Theorie klargeworden. Das sollte helfen. Ja, es muß eine Menge helfen.« Er stand auf und durchmaß unruhig den Raum. »Gibt es eine Untergrundbewegung auf Linga?« fragte er. Mit einem behaglichen Grinsen antwortete Tor: »Ich dürfte der Wahrheit sehr nahe kommen, wenn ich behaupte, daß auf jedem Planeten eine solche Bewegung existiert, mit Ausnahme von diesem vielleicht. Im Wortschatz des Imperiums sind wir alle in der gleichen Situation: Noch nicht bereit zur Selbstregierung. Wir erhalten die Unabhängigkeit morgen, aber nicht heute.« Er seufzte resigniert. »Linga bekommt sie schon seit siebenhundert Jahren ›morgen‹.« »Wie ich es mir vorgestellt habe«, meinte Harold. »Immer das gleiche. Die gleichen alten Versprechungen, Ausflüchte und festgefahrenen Unzulänglichkeiten. Die gleiche Blindheit und das gleiche Zaudern. Wir kennen das schon lange – es ist eine sehr, sehr alte Legende für uns.« »Was ist das?« unterbrach der neugierige Melor. »Geschichte«, sagte Harold zu ihm. Melor schien verwirrt. »Es gibt einen uralten Spruch«, erklärte Harold. »Je größer sie sind, desto härter ist ihr Fall. Je schwerfälliger und zentrierter eine Struktur ist, desto anfälliger ist sie für Störungen.« Er rieb sein Kinn und maß seine Zuhörer mit einem auffallend boshaften Blick.
»Das bedeutet, die Frage ist, ob wir sie schwer genug treffen können, um sie zu Fall zu bringen.« »Niemals!« rief Tor. »Tausendmal nein. Das wurde schon zahllose Male versucht. Diejenigen, die es versuchten, sind alle begraben – wenn genug übrigblieb, das man hätte begraben können.« »Was bedeutet, daß sie es mit falschen Mitteln und zur falschen Zeit versuchten. Es ist uns überlassen, die richtige Art und Weise und die richtige Zeit herauszufinden.« »Wie willst du den richtigen Zeitpunkt herausfinden?« »Das kann ich nicht. Ich kann nur eine Zeit auswählen, die, unter Berücksichtigung aller bekannter Faktoren, die erfolgversprechendste zu sein scheint – und dann hoffen, daß es die richtige Zeit ist. Es wird nur mein Unglück sein, wenn ich mich irre.« Er überlegte kurz und fuhr dann fort: »Die beste Zeit scheint mir heute in neun Tagen zu sein. Wenn ihr mir helfen könntet, neun Tage lang unentdeckt zu bleiben, ich verspreche euch, euch in der Zwischenzeit keinerlei Risiken auszusetzen. Könnt ihr mich neun Tage behalten?« »Sicher können wir das.« Tor betrachtete ihn nüchtern. »Aber was springt für uns dabei heraus, außer der Aussicht auf ein vorzeitiges Begräbnis?« »Nichts, außer der Befriedigung, eure Finger mit im Spiel gehabt zu haben.« »Ist das alles?« fragte Tor. »Das ist alles«, stimmte Harold ihm zu. »Ihr Linganer müßt euren Kampf kämpfen, so wie wir den unseren. Wenn euch mein Volk jemals helfen wird, dann um der gegenseitigen Freundschaft willen, oder
zu unserer eigenen Befriedigung. Diese Hilfe wird keine Gegenleistung erwarten.« »Das sagt mir zu!« sagte Tor zornig. »Ich mag direktes Reden, ohne Hinterhalte. Wir sind der wertlosen Versprechungen müde. Nimm uns mit bis zur Basis der Treppe, aber nicht die Stufen mit hoch – wir möchten noch einmal alles überdenken, ehe wir diesen Schritt unternehmen.« »Vielen, vielen Dank«, sagte Harold dankbar. »Nun, hier sind einige Ideen, die ich hatte, um –« Er unterbrach sich, als das Fernsehgerät ein lautes Pfeifen von sich gab. Tor griff hinüber und schaltete das Gerät ein. Der Bildschirm erwachte zum Leben, er zeigte die gleiche uniformierte Gestalt wie zuvor. Der Beamte platzte heraus: »Dringender Ruf! Die Bürger werden gewarnt, das entflohene Subjekt, Harold Harold-Myra, nach dem vor einer halben Stunde eine Suchmeldung übertragen wurde, ist nun bekannt als ein Telepath, ein Hypnotiseur, ein Seher und ein Aufzeichner. Es ist ebenfalls möglich, daß er über telekinetische Kräfte von unbekannter Größe verfügt. Wie die Fakten gezeigt haben, ist er ebenfalls ein Köder und daher doppelt gefährlich. Prägen Sie sich sein Gesicht gut ein, er muß so schnell wie möglich gefaßt werden.« Der Bildschirm wurde leer, kurz darauf waren Harolds Züge eine volle Minute lang zu sehen. Dann brach die Sendung ab. »Was meint er damit, Seher und Aufzeichner?« fragte Harold verunsichert. »Ein Seher ist jemand, der zwei, drei, vier oder mehr Züge macht, in der gleichen Zeit, in der seine Gegner
einen schaffen. Ein Schachmeister ist ein Seher.« »Himmel, spielen sie hier auch Schach?« »Schach ist im gesamten Imperium sehr beliebt. Was ist damit?« »Nicht so wichtig. Wir registrieren die Tatsache an oberster Stelle. Erzähle weiter.« »Ein Aufzeichner«, erklärte Tor, »ist ein Mann mit einem fotografischen Gedächtnis. Er braucht nichts aufzuschreiben. Er erinnert sich an alles, was er einmal gesehen hat.« »Hmmpf! Ich glaube nicht, daß daran irgend etwas Besonderes ist!« »Wir Linganer können es. Tatsächlich kennen wir aber nur noch vier Rassen, die dazu in der Lage sind.« Respekt machte sich in Tors Schlangengesicht breit. »Und hast du zu allem wirklich noch telekinetische Fähigkeiten?« »Nein. Da sind sie einem Trugschluß unterlegen. Sie scheinen zu glauben, daß ich ein Poltergeist bin, oder so etwas – der Himmel mag wissen, warum.« Er hielt einen Augenblick inne. »Vielleicht liegt das an den Analysenergebnissen von Station drei. Ich kann meinen Herzschlag kontrollieren, meinen Blutdruck, meine Gedanken, und ich habe ihre Untersuchungsapparate in Unordnung gebracht. Sie haben nichts als vollkommenen Nonsens aufgezeichnet. Offensichtlich glauben sie, ich hätte seine Innereien durch eine Art Fernsteuerung zerstört.« »Oh!« Tor war augenscheinlich enttäuscht. Noch bevor einer von ihnen weitere Fragen stellen konnte, rief das Fernsehgerät nach Aufmerksamkeit, und Sauertopf erschien zum drittenmal auf dem Bildschirm.
»Alle nichteingeborenen Bürger werden sich heute nacht einer Ausgangssperre unterziehen müssen, die von Mitternacht bis eine Stunde nach der Dämmerung reicht«, dröhnte er. »Während dieser Zeit wird die Polizei stichprobenartig verschiedene Apartments untersuchen. Jeder nicht eingeborene Bürger, der nicht in seiner Wohnung angetroffen wird und dafür keine akzeptable Entschuldigung hat, sowie jeder Nichteingeborene, der die Polizei in Ausübung ihrer Pflicht behindert, wird einem Gerichtsverfahren nach pan-planetarischem Recht unterzogen.« Er schwieg und sah nach außerhalb des Bildschirms. Sein Gesicht sah kriegerisch aus. »Der Flüchtling Harold HaroldMyra ist in Besitz einer Identitätskarte mit der Nummer AMB 30740781, ausgestellt auf den Namen Robertus Bron. Das ist alles.« »Bron«, echote Harold. »Bron... Burkinshaw... Schachmeister. Liebe Güte!« Die drei Linganer waren besorgt, Melor erläuterte: »Du kannst ihre Bewegungen verfolgen. Erstens: Sie wissen, daß du inzwischen ein Versteck gefunden hast. Zweitens: Sie wissen, daß du dich bei Ausländern verbirgst und nicht bei Eingeborenen. Auf dieser Welt gibt es nicht mehr als sechstausend Ausländer, die etwa ein Drittel so viele Apartments bewohnen. Es ist nicht unmöglich, die alle während dieser Zeit zu untersuchen.« Seine Stirn umwölkte sich angesichts dieses Gedankens. »Es hat keinen Sinn, anderswohin zu fliehen, denn die Ausgangsbeschränkung ist weltweit. Sie umfaßt alles und jeden. Ich würde sagen, das einfachste wäre es, einen Eingeborenen zu hypnotisieren und die Nacht in dessen Wohnung zu verbringen. Wenn du, wie sie sagen, ein
Hypno bist, dann sollte das nicht zu schwierig sein.« »Ausgenommen eine Sache.« »Was ist das?« »Das erwarten sie von mir. Präziser, sie wollen mich dazu bringen, das zu tun.« »Und wenn schon?« beharrte Melor. »Was könnte dich hindern?« »Die Routine. Eine Herrenrasse hat immer Routine. Das ist ihnen eingefleischt, es ist Teil ihrer Ausbildung. Nachdem sie vor einem entflohenen Subjekt gewarnt wurden, das wieder gefaßt werden soll, werden sie die von offizieller Seite gegebenen Warnungen beherzigen.« Er lächelte ihnen beruhigend zu, aber sie wurden dadurch nicht besonders beruhigt. »Ich kann nur vermuten, was die Routine ist, ich denke aber, es werden einige Methoden darunter sein, wie man meine Gegenwart in der Wohnung eines Eingeborenen anzeigen kann, selbst wenn dieser vollkommen hilflos ist. Kameras, die mit dem Notrufsystem der Polizei gekoppelt sind und die einfach durch das Öffnen einer Tür oder so etwas aktiviert werden. Wenn ich schon ein Risiko eingehe, dann mein eigenes. Es bedeutet Ärger, wenn man sich die Risiken durch den Gegner aufzwingen läßt.« »Vielleicht hast du recht«, stimmte Melor zu. »Wir wissen, daß die lokale Bevölkerung einige Sicherungssysteme hat, die vor Fremden verborgen werden.« »Wenn ein paar Bullen kommen, um dieses Apartment zu untersuchen, und ich ihre Gedanken kontrolliere und sie wegschicke, mit der Suggestion, ich sei nur ein anderer Linganer, dann wäre die Obrigkeit genarrt, nicht wahr?« »Daran hatte ich nicht gedacht«, gab Tor zu. Er war
ärgerlich über seinen Mangel an Vorstellungskraft. »Es war so offensichtlich, daß ich es gar nicht gesehen habe.« »So offensichtlich«, stellte Harold heraus, »daß die Autoritäten sich darüber im klaren sind, daß genau das geschehen wird, sollten sie mich hier finden.« »Aber warum dann die Ausgangssperre und die Suche?« »Bluff!« erklärte Harold. »Sie hoffen, mich aus der Reserve zu locken, oder, wenn das mißlingen sollte, diejenigen zu verängstigen, die mich beherbergen. Sie klopfen gegen die Wände und hoffen, die Ratte beginnt zu laufen. Ich werde nicht laufen. Mit eurer freundlichen Erlaubnis werde ich ganz ruhig hier sitzen bleiben.« »Du kannst gerne hierbleiben«, versicherte Tor. »Wir könnten ein zusätzliches Bett für dich entbehren, und wenn du –« »Danke«, unterbrach Harold ihn, »aber das brauche ich nicht. Ich schlafe nicht.« »Nicht?« sie waren verblüfft. »Nicht eine Sekunde meines Lebens habe ich geschlafen. Das ist eine Angewohnheit, die wir abgelegt haben.« Er ging im Zimmer umher und betrachtete dessen Einrichtung. »Ungeduld ist der Fluch von Verschwörern. Nichts zermürbt mehr, als auf das Verrinnen der Zeit zu warten. Ich muß einfach neun Tage warten. Seid ihr wirklich bereit, so lange mit mir zusammenzusein, oder, wenn nicht, könnt ihr mir eine andere Zuflucht verschaffen?« »Bleib nur«, sagte Tor. »Du entschädigst uns durch deine Gegenwart. Wir können uns beide über unsere weit entfernten Welten erzählen. Wir können uns
über die Freiheit der Menschen unterhalten und über Dinge, von denen es nicht ratsam ist, sie außerhalb zu erwähnen. Es ist so schön, zu träumen. Es ist gut, mit Gedanken zu spielen, was man tun kann, wenn man nur eine Möglichkeit findet, es zu tun.« »Du bist ein wenig pessimistisch«, schwafelte Harold. Am vierten Tag ertrug er die Untätigkeit nicht mehr. Er verließ die Wohnung und streifte durch die Straßen der Stadt. Zwei weitere zornige Meldungen hatten seine uneingeschränkte Freiheit angeprangert, die letzte lag allerdings drei Tage zurück. Seitdem herrschte Schweigen. Sein Vertrauen beruhte auf der Vergeßlichkeit der Leute, die sich nicht an die Sendung jenes Morgens erinnern würden, geschweige denn an die vorherigen, und seine Vermutung erwies sich als richtig. Menschen gingen an ihm vorüber, mit ausdruckslosen Gesichtern und Gedanken, die sich mit anderen Dingen beschäftigten. In den meisten Fällen ruhten ihre Augen auf ihm, ohne ihn überhaupt zu sehen. In einigen Fällen waren seine Züge in Erinnerung geblieben, jedoch nicht deren Bedeutung. Je länger er ging, desto sicherer fühlte er sich. Im Stadtzentrum fand er einen kleinen, modern eingerichteten Laden mit technischen Gerätschaften. Das vereinfachte die Sachlage. Er hatte versucht, eine Möglichkeit zu finden, Melor für ihn einkaufen zu schicken, ohne seinen dummen Stoff, genannt Geld, zu benützen. Der Respekt des Linganers dafür entsprach seiner eigenen Verachtung, aber deshalb konnte er nicht verlangen, daß seine Unterstützer es
zu seinen Gunsten ausgaben. Sein Instinkt, nicht seine vernünftige Vorstellungskraft, hatte ihm diese simple Ethik einer geldbeherrschten Welt gezeigt. Beim Betreten des Geschäfts überflog er dessen Ausrüstung. Hier gab es einige der Dinge, die er wollte, andere schienen sich seinen Vorstellungen gemäß umbauen zu lassen. Verschiedene Kulturen erdachten verschiedene Formen der Herstellung. Herkömmliche Stücke würden verändert werden müssen, um seinen fremdartigen Vorstellungen zu entsprechen, aber das einfachste Werkzeug sollte dafür genügen. Er überdachte alles Nötige und suchte sich die Stücke zusammen, wonach er alles gemeinsam dem Verkäufer aushändigte. Letzterer, ein scharfsinniger Kerl, sah sich die Liste durch und sagte scharf: »Das Material kann zur Mikrowellenstrahlung verwendet werden.« »Das ist mir bekannt«, sagte Harold kalt. »Es darf nicht an die Öffentlichkeit verkauft werden, außer mit offizieller Genehmigung«, fuhr er fort. Dann, steif: »Haben Sie eine solche Genehmigung? Kann ich Ihre Identitätskarte sehen?« Harold zeigte ihm die Karte. »Ah«, flötete der Verkäufer, sein Verhalten änderte sich. »Die Polizei!« Sein Lachen war gekünstelt und gezwungen. »Ich wollte Ihnen keine Falle stellen. Ich kam, um mir etwas an nötiger Ausrüstung zu holen. Packen Sie es zusammen und geben Sie es mir. Ich habe wichtige Geschäfte und bin sehr in Eile.« »Sicher, sicher.« Hin und her huschend und ängstlich um Versöhnung bemüht, vervollständigte der Verkäufer die Ausrüstung und packte sie ein. Dann
notierte er sorgfältig Name und Nummer von Harolds Identitätskarte. »Wir buchen das noch wie üblich beim Polizeihauptquartier ab?« »Nein«, widersprach Harold. »Schreiben Sie es der Analytischen Abteilung des Einwandereramtes gut, Station drei.« Mit zufriedenem Lächeln verließ er den Laden. Wenn der Bärtige die Rechnung bekam, dann konnte er sie in seinen Analysator stecken und zusehen, wie die Zeiger sich verbogen. Das erinnerte ihn, nun da er gerade darüber nachdachte, daran, daß es kein allzu großes Verständnis für Humor auf dieser Welt gab. Wieder wohlbehalten zurück im Apartment der Linganer, begann er, das Eingekaufte auszupacken und zu arbeiten. Seine Helfer waren ausgegangen. Er verschloß die Tür, konzentrierte sich auf seine Aufgabe und arbeitete mit einer Schnelligkeit und Zielstrebigkeit, die seine ehemaligen Fänger erstaunt haben würde. Als er etwa eine Stunde gearbeitet hatte, schrillte das Teleset lautstark, aber er ignorierte es und war noch immer in seine Arbeit vertieft, als die Linganer wenig später zurückkamen. Melor verschloß rasch und vorsichtig die Tür. »Sie machen sich wieder Gedanken wegen dir«, sagte er. »Tun sie das?« »Hast du nicht die Fernsehansage gehört?« »Ich war zu beschäftigt«, erklärte Harold. »Sie haben entdeckt, daß du die Identitätskarte eines Polizisten hast, und nicht die, die sie zuerst vermuteten. Sie haben die Korrektur und eine weitere Warnung durchgegeben. Der Sprecher war irgendwie verärgert.«
»Das wäre ich auch«, gab Harold zurück, »wenn ich an Sauertopfs Stelle wäre.« Melors Augen, die die ganze Zeit abwesend auf der Menge Material geruht hatten, mit der Harold arbeitete, erkannten plötzlich, was sie da sahen. »Heh, wo hast du das alles her?« fragte er aufgeschreckt. »Warst du etwa draußen?« »Sicher! Ich mußte diesen Plunder ja von irgendwo oder sonstwo herholen, und ich wußte keinen anderen Weg. Ich konnte es nicht herbeiwünschen. So weit haben wir uns nun doch noch nicht entwickelt – noch nicht!« Er sah den unglücklichen Linganer an. »Nimm's nicht so schwer. Kein Grund, sich Sorgen zu machen. Ich war nur kurze Zeit draußen, ich hätte in dieser Stadt geboren und aufgewachsen sein können, nach all der Aufmerksamkeit, die man mir widmete.« »Hoffentlich.« Melor ließ sich in einen Sessel fallen und massierte seine schuppige Haut. Blaue Schattierungen breiteten sich unter seinen Fingern, die die Haut massierten, aus. »Aber wenn du das allzu oft tust, wirst du einmal auf einen Bullen stoßen oder einen Raumfahrer oder einen Drane. Bullen sind auch neugierig. Weltraumfahrer erkennen Außerirdische und vergessen sehr selten einmal ein Gesicht. Dranes wissen zu viel und können zu viel erraten. Es ist gefährlich.« Er betrachtete erneut die Geräte. »Was machst du denn da bloß?« »Ein simples Kontaktgerät.« »Wofür ist das?« »Um Verbindung mit jemand anderem herzustellen.« Harold schraubte einen Eisenkontakt in eine Klemme, fügte behutsam einen Kondensator ein, kleiner als ein Knopf, verband ihn durch zwei
schmale Lötstellen mit einem Schalter. »Wenn zwei Menschen sich über den Aufenthalt des anderen nicht im klaren sind und sie es erfahren wollen, dann können sie das innerhalb gewisser Grenzen mit einem Kontaktgerät tun.« »Ich verstehe«, sagte Melor, der nicht alles verstand. »Warum machst du keinen mentalen Kontakt?« »Weil die telepathische Reichweite dazu viel zu kurz ist. Gedanken werden mit der Entfernung sehr schnell schwächer, besonders, wenn sich Hindernisse dazwischen befinden.« Die drei beobachteten ihn noch immer neugierig, als er kurz vor Mitternacht mit seiner Arbeit fertig war. Ein kleiner Sender-Empfänger stand vor ihm, der mit drei Antennen versehen war, die erste ein kurzer, vertikaler Stab, die zweite ein kleiner, silberner Ring, um seine horizontale Achse drehbar, die dritte eine kurze, silberne Röhre, kaum merklich gekrümmt und ebenfalls horizontal drehbar. »Nun noch einstellen«, sagte er zu ihnen. Er schloß die Apparatur an eine Energiequelle an und ließ sie warmlaufen, ehe er sich daran machte, sie mit einem isolierten Schraubenzieher einzustellen. Das war ein schwieriges Unternehmen. Der Schwingkreis mußte peinlich genau justiert werden, um bei einer Änderung der Resonanz frei schwingen zu können, wenn die Ladekapazität nachließ. Und, sonderbar genug, die Ladekapazität war auf diesem Planeten weitaus größer. Der korrekte Spielraum mußte durch Schätzen und Versuchen gefunden werden, durch vorsichtiges Justieren und Rejustieren.
Er manipulierte die Einstellung mit Fingern, so geübt und geschickt wie die eines Chirurgen. Sein Kiefer schmerzte. Nachdem er eine Einstellung vorgenommen hatte, nahm er die Hände weg. Der Kreisel drehte sich kurz. Er versuchte es wieder und wieder. Schließlich erhob er sich, entfernte sich von dem Gerät und massierte seinen Unterkiefer, der noch immer schmerzte, und schaltete die Energiezufuhr ab. »Das wird genügen«, meinte er endlich. »Wirst du ihn denn jetzt nicht benützen?« erkundigte sich Melor verblüfft. »Das kann ich nicht. Niemand hält gerade nach mir Ausschau.« »Oh!« Das Trio war verwirrter denn je. Sie gaben es auf und gingen zu Bett. Der neunte Tag brach an, er unterschied sich in nichts von den vorangegangenen. Die Sonne ging auf, und die zentrale Metropole des Imperiums erwachte zum Leben. Als Melor aufstand, sagte Harold zu ihm: »Ich glaube, heute ist dein freier Tag. Hast du etwas Besonderes vor?« »Nichts Wichtiges. Warum?« »Das Spiel beginnt heute, oder sollte heute beginnen, wenn meine Planungen richtig sind. Ich könnte deine Hilfe brauchen.« »In welcher Weise?« »Du könntest mir außerordentlich behilflich sein, wenn wir auf jemanden treffen, der seine Gedanken kontrollieren oder verbergen kann. Haß oder Feindseligkeit sind keine Gedanken sie sind Emotionen, aus denen antagonistische Gedanken geboren wer-
den. Ihr Linganer sprecht auf solche Emotionen an. Ihr könnt im Herzen noch immer lesen, lange nachdem der Verstand sich mir verschlossen hat.« »Ich verstehe, was du meinst, nicht aber den Zweck«, gab Melor zurück. »Schau her«, erklärte Harold geduldig, »wenn ich sage, der Spaß beginnt, dann verstehe ich darunter kein Entfesseln von Gewalttaten. Es gibt bessere Wege. Es ist möglich, zur Erläuterung, das Schicksal zu wenden, nur indem man die richtigen Worte zur richtigen Zeit an die richtige Person richtet. Das gezückte Schwert hat nicht die Macht der geschickten Zunge. Und die Zunge hinterläßt keinerlei Spuren.« Er lächelte grimmig. »Mein Volk hatte eine Menge schmutziger Methoden. Aber wir benutzen sie nicht mehr, heutzutage. Wir sind erwachsen geworden.« »So?« trompetete Melor. »Daher bin ich gezwungen, dir zu folgen, wenn ich gegen eine Person mit verschlossenen Gedanken antrete.« »Das ist einfach. Ich kann dir sagen, wenn Haß, Furcht oder freundschaftliche Gefühle bei jemandem auftauchen.« »Genau das, was ich brauche«, sagte Harold enthusiastisch. »Meine Lebensform hat ihre Schwächen, g enauso wie ihre Stärken, und wir halten uns das immer wieder vor Augen. Das letzte mal, als einige von uns das vergessen haben, hielten sie sich für eine Kollektivform von Gott. Verblendung führt zum Tod.« Seine Zunge spielte wie in Gedanken mit einem Zahn, während sein Blick zu dem Sender-Empfänger glitt, der in einer Ecke des Raumes stand. Bis zum Mittag geschah nichts mehr. Die beiden
steckten den ganzen Vormittag zusammen, der Flüchtling bereit und wachsam, sein Gastgeber unruhig und gedankenverloren still. Am Nachmittag schrillte das Fernsehgerät, und Melor schaltete es ein. Helman erschien auf dem Bildschirm. Er starrte geradewegs auf das zuschauende Paar, als sehe er sie genauso deutlich wie sie ihn sehen konnten. Seine dunklen Züge waren mürrisch. »Dies ist eine speziell an das als Harold HaroldMyra bekannte Subjekt gerichtete Fernsehsendung«, eröffnete Helman, »oder an jeden Bürger, der illegalen Kontakt mit ihm unterhält. Nehmen Sie zur Kenntnis, Harold Harold-Myra, daß eine Auflistung aller über Ihre Welt bekannten Daten dem Exekutivrat vorgelegt wurde, der entschieden hat, daß es im Interesse des Imperiums unumgänglich nötig ist, Ihre Lebensform schnellstmöglich auszulöschen. Morgen nachmittag wird eine Order an alle erreichbaren Kriegsschiffe ergehen, mit dem Befehl, Ihren Heimatplaneten unverzüglich anzufliegen und zu vernichten – es sei denn, Sie hätten es sich in der Zwischenzeit anders überlegt und wären zu neuen Verhandlungen bereit, was es dem Exekutivrat ermöglichen würde, seine getroffene Entscheidung zu revidieren.« Helman hielt inne, leckte sich die Lippen. Seine Miene war die eines Mannes, der gerade eine schwere Rüge hat einstecken müssen. Er fuhr fort: »Diese Ansage wird in einer Stunde wiederholt werden. Zuschauer, die in Kontakt mit dem Flüchtling stehen, werden aufgefordert, diesen darauf hinzuweisen, da das die letzte Warnung sein wird.« Sein Ärger vertiefte sich, als er endete: »Im
Fall seiner unverzüglichen Rückkehr wird der Legislativrat Gnade walten lassen denen gegenüber, die das Subjekt unterstützt haben.« Der Bildschirm wurde leer. »Matt in einem Zug«, sagte Melor düster. »Wir hatten dir gesagt, es sei reine Zeitverschwendung, hier zu sitzen und Verschwörungen zu planen. Früher oder später kriegen sie jeden.« »Es ist ein Schachspiel – und wir sind am Zug.« »Nun gut – und wie sieht dein Zug aus?« »Das weiß ich noch nicht. Wir müssen abwarten. Wenn du lange genug am Kamin sitzen bleibst, wird der Nikolaus herunterkommen.« »Wer, im Namen der blauen Sonne, ist der Nikolaus?« fragte Melor ratlos. »Der Mann mit einer Million Lutscher.« »Lutscher?« »Dinge zum Lecken.« »Oh, Kosmos!« sagte Melor. »Welcher Wahnsinnige möchte denn eine Million Dinge zum Lecken haben? Hat das etwas zu tun mit deiner Bemerkung über geschickte Zungen? Wenn ja, dann sind wir geleckt.« »Vergiß es«, gab Harold zurück. »Ich spreche in Rätseln, um mir die Zeit zu vertreiben.« Ein plötzlicher Schmerz pulsierte in seinem Kieferknochen. Er schrie auf, was den ohnehin schon nervösen Melor zutiefst erschreckte. Er steckte zwei Finger in den Mund und löste die Krone von einem der hinteren Backenzähne, holte sie heraus und legte sie auf den Tisch. Ein kleiner Kristallsplitter glitzerte im Inneren der Krone. Der Kristall fluoreszierte. Melor betrachtete ihn fasziniert.
Harold schaltete mit einer raschen Bewegung den Sender-Empfänger ein und ließ ihn warmlaufen. Ein leises, hochfrequentes Pfeifen drang aus seinem kleinen Lautsprecher. Er drehte den Kreisel langsam, das Pfeifen verstärkte sich, wurde dann aber leiser und verschwand gänzlich. Vorsichtig tarierte er den Ring aus, um das Signal zurückzubringen, und drückte einen Knopf. Der Ton wurde lauter. »Diese Seite«, murmelte er und justierte den Kreisel in der Nähe des zuschauenden Melor. Er drehte den Ring wieder in die Position, in der das Pfeifen verstummt war, dann schaltete er den Sender ein, schwang seine gekrümmte Röhrenantenne, bis sie parallel zur Ringantenne des Empfängers stand. Erneut justierte er den Ring, und das Signal kam wieder. Er wartete gespannt. Nach kurzer Zeit verwandelte sich das Signal in drei kurze Pfeiftöne, wurde aber dann konstant. Er drehte dreimal an der Sendeeinstellung. Eine halbe Stunde warteten die beiden, während das Pfeifen sich nicht änderte und in regelmäßigen Intervallen die drei Töne von sich gab. Dann, plötzlich, schwoll das Geräusch an und lieferte einen Heulton. Behutsam wiederholte Harold alle Bewegungen der Antenne, diesmal nach einer anderen Richtung. Drei Piepser ertönten als Ergebnis seiner Bemühungen, und wieder schaltete er den Empfänger erwartungsvoll ein. Eine weitere lange Wartezeit. Dann, langsam und schwach, erklang eine Stimme in seinen Gedanken. Ein Auto. Ein blaues Auto. Er ging zum Fenster und sah hinunter auf die Stra-
ße. Von der Höhe des zehnten Stockwerkes aus hatte er einen genauen Überblick über mehrere Blocks nach beiden Richtungen. Er fand eine Menge Autos auf der Straße, ein halbes Dutzend davon blau. Halte an, steig aus und wieder ein, dachte er. Er wiederholte den mentalen Impuls und strahlte ihn mit maximaler Verstärkung ab. Ein Auto hielt, eine menschliche Gestalt stieg aus, sah sich kurz um und stieg wieder ein. Es war ein blaues Auto. Harold durchquerte den Raum, unterbrach den Kontakt und ging zum Fenster zurück. Er blickte hinab und dachte angestrengt: Ich glaube, ich habe dich. Fahr langsam weiter... langsam... da sind wir... halte hier! Das Gebäude zu deiner Rechten. Zehn Stockwerke hoch. Er beobachtete weiterhin die Straße, als das blaue Auto am gegenüberliegenden Straßenrand einparkte. Zwei Männer stiegen aus und überquerten mit zwangloser Lässigkeit die Straße, verschwanden unter ihm. Kein anderes Fahrzeug hielt, niemand folgte den beiden ins Haus. Eine Stimme drang unvermittelt zu ihm durch. Werden wir verfolgt? Ich sehe nichts. Gut. Melor sagte wehleidig: »Ich weiß, daß du dich mit jemandem unterhältst. Dem Nikolaus vermutlich? Wie du die Zahnschmerzen anderer Leute erkennen kannst, ist mir ein Rätsel.« »Unser Pochen ist auch nicht übler als euer Flimmern.« »Du hüpfst herum«, sagte Melor. »Und in Übereinstimmung mit dir zittern wir. Eines Tages werden wir
auf eine andere Lebensform stoßen, die sich in Kreisen herumkugelt wie mentale Derwische. Oder Wesen, die in der Lage sind, logische Schlüsse zu ziehen, ohne überhaupt zu denken, eine Art Bohr-Denker, der direkt vom Anfang zum Ende springt, ohne die dazwischenliegende Distanz zu berühren.« Er sah sich um und fand den Kristall noch immer auf dem Tisch, er bemerkte, daß das Glühen nachgelassen hatte. »Es ist besser, wenn du deinen Schlüsselfrequenzwandler in dein Gesicht zurücktust, bevor jemand sich einen Ring daraus machen läßt.« Harold lächelte, nahm den Kristall und schraubte ihn an seinen Platz zurück. Als er die Tür öffnete und hinaussah, stieg das Paar aus dem Auto gerade aus dem Schwebefahrstuhl. Er bat sie herein, verschloß die Tür hinter ihnen und stellte sie dem Linganer vor. »Das ist Melor, ein Freund von Linga. Melor, das sind George Richard Eve und Burt Ken-Claudette.« Melor betrachtete die Neuankömmlinge mißtrauisch, geschniegelte Raumuniformen, der silberne Komet glänzte auf ihren Epauletten. »Tja, sie riechen gut, aber sehen schlecht aus«, kommentierte er. »Als nächstes wirst du einen gut riechenden Drane herbitten!« »Wohl kaum.« Harold lachte. Burt setzte sich und sagte zu Harold: »Du kennst die Einheimischen inzwischen. Hältst du sie für klug genug, um diese Sendung ebenfalls empfangen zu haben, und wenn ja, wieviel Zeit werden sie uns geben? Wenn es zu knapp ist, können wir ins Auto gehen und etwas Zeit gewinnen.« »Sie wissen, wie ich das Material bekommen habe,
woher ich es bekommen habe und seinen Verwendungszweck. Und wenn sie nicht gänzlich tolpatschig sind, dann werden sie schon aufgepaßt haben«, antwortete Harold. »Ich schätze, sie brauchen etwa eine halbe Stunde.« »Das genügt.« »Unterhaltet euch doch mental, wenn das einfacher für euch ist«, warf Melor ein. »Mir macht es nichts aus.« »Du bist mit drin«, erklärte Harold ihm, »daher unterhalten wir uns normal. Du hast ein Recht darauf, zuzuhören.« Er wandte sich an Burt. »Was läuft denn so?« »Auf vier von den fünfen ist die Hölle los. Der fünfte erwies sich als nutzlos für unsere Zwecke: Es gibt dort nichts, außer einigen zeitlich amtierenden Bürokraten mit guter Bezahlung. Aber vier sollten genügen, denke ich.« »Nur weiter.« »Alle Auserwählten sind aufgebrochen, und die ersten von ihnen müßten etwa zu dieser Zeit ihre Ziele erreicht haben. Das nächste System ist sechs Tage entfernt, so daß sie genügend Spielraum haben müßten.« Er fuhr sich durch sein dunkles Haar und blickte nachdenklich drein. »Nemo kann jetzt jeden Moment platzen. Das war eine schwierige Aufgabe! Wir bekamen vierzig Leute davon, aber wir mußten den ganzen Ort durchkämmen, um das letzte Paar zu finden. Wir haben sie weggebracht. Sie sind in Sicherheit.« »Gut.« »Das war eine Lehre«, fuhr Burt fort. »Besser als in den Zoo gehen. Auf Nummer drei gibt es ein Unter-
grund-Nachrichtensystem, das man gesehen haben muß, um es glauben zu können. Mit ›Untergrund‹ meinen sie zehntausend Fuß hoch. Wie glaubst du machen sie es?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Harold. »Weiße Vögel! Unter den untergeordneten Lebensformen gibt es eine mit einem Schnabel und Federn. Sie reden mit Vögeln. Sie zwitschern und schnattern mit ihnen, und jeder Vogel versteht, was gemeint ist.« »Orniths«, informierte ihn Melor. »Sie stammen eigentlich von Gronat, der achthundertsten Eroberung des Imperiums. Sie sind weit verstreut, und nur wenige befinden sich hier, vielleicht ein Dutzend oder so. Wenn ihr Zeit habt, das Imperium zu durchreisen, dann werdet ihr noch seltsamere Lebensformen finden. Und die Humanoiden verachten sie nicht alle.« »Es scheint, als mögen sich die Humanoiden untereinander nicht einmal«, meinte Burt. »Für die meisten von ihnen ist ein Bruder von einem Nachbarplaneten ein Fremder.« »Noch immer im Vorschulalter«, sagte Harold. »Rah-rah und das alles.« Burt nickte und sprach weiter: »Wie du weißt, mußten wir zu schnell in zu kurzer Zeit reagieren, um alles wirklich gründlich zu erledigen, aber was getan wurde, scheint zu genügen, um zu demonstrieren, was getan werden könnte – und darauf kommt es an.« Ein abwesender Ausdruck kam in seine Augen. »Als wir triumphierend unsere Brüder über dem Wasser ausstießen, da glaubten wir nicht, daß sie zurückkommen würden – völlig naß.« »Dann hast du eine Bestätigung dessen gefunden?« »Zahllose«, antwortete Burt. »Und du?«
»Einige Hinweise darauf.« Harold ging zum Bücherregal und nahm sich einen dicken Wälzer mit dem Titel Die Wahl des Imperiums. Er überflog die Seiten, bis er eine Illustration fand, die er Burt zeigte. »Schau!« »Puuh!« sagte Burt. »Das Kreuz des Ursprungs«, hauchte George, der über Burts Schulter blickte. »Und der Unendliche Kreis.« »Dieses Regal quillt über vor Informationen«, erzählte Harold, während er das Buch zurückstellte. »Ich habe mir die Bücher durchgesehen wie ein Mann in einem seltsamen Traum.« Er kam zurück und setzte sich. »Noch mehr zu berichten?« »Nicht viel. Jon ist auf Nummer drei geblieben. Er hatte eine Glückssträhne und erwischte den Herrn – eine fette Person namens Amilcare. Zu manchen Zeiten weiß Seine Eminenz nicht, welcher Schuh zu welchem Fuß gehört.« Harold öffnete den Mund zu einer Erwiderung und schloß ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Seine mentale Wahrnehmung sprach an und lauschte aufmerksam. Auch Burt und George waren aufmerksam geworden. Melor begann nervös zu werden. Zum erstenmal sah Harold ein Büschel feinster Haare an den Rändern der Ohren des Linganers, die jetzt voll aufgerichtet waren und zitterten. »Es stinkt nach Feindseligkeit«, erklärte Melor unbehaglich. In seiner leichtfüßigen, gelenklosen Gangart ging er zum Fenster. Ein heller Aufruhr herrschte im Äther, eine verwirrende Gedankenanhäufung, aus der man nicht mehr
als seltsame, zusammenhanglose Phrasen aufschnappen konnte. Stellt sie an diesem Ende auf... rumpel, rumpel, ... ja, besetzt das Erdgeschoß... rumpel, peng, peng... arbeitet euch hoch... rumpel... zehn von euch... achtet besonders auf... vielleicht sind sie... »Ich erwarte Besucher«, sagte George leichthin. Er ging ans Fenster zu Melor. Die anderen folgten, und gemeinsam sahen sie auf die Straße hinunter. Dort herrschte eine Betriebsamkeit wie in einem Ameisenhaufen. Ein Dutzend Autos war an einem Ende der Straße zusammengezogen und blockierte es vollständig. Ein weiteres Dutzend bezog gerade Position, um auch das andere Ende abzuriegeln. Weitere Fahrzeuge sperrten die Seitenstraßen ab. Etwas Unsichtbares dröhnte über ihren Köpfen, es klang wie das Brummen unzähliger Helikopter. Mehr als zweihundert Männer waren in kleineren Gruppen entlang der Gehwege postiert. »Ihre Peilung scheint sehr grob gewesen zu sein.« Burt zog der Kohorte unten eine Grimasse. »Sie haben die Straße herausgefunden, aber nicht das Gebäude. Ich bin enttäuscht über diese Schlamperei.« »Es ist gut genug«, antwortete Harold. Erneut durchkämmte er das telepathische Band, fand aber nur menschliche Gedanken, willkürlich und unkontrolliert. »Wir könnten hinuntergehen und ihnen ein wenig Arbeit abnehmen, aber ich bin neugierig auf diese Spatzenhirne da unten. Sicherlich haben sie etwas Leistungsfähigeres mitgebracht.« »Probier es aus«, schlug Burt vor. Sie öffneten ihre mentale Gedankensperre und ließen ihre Gedanken frei ausströmen, um ihren genau-
en Standort zu verraten. Sofort wurde der Lärm von einem fremdartigen Verstand übertönt, der sich im Äther ausbreitete. Er war klar, scharf, durchdringend und von beachtlicher Stärke. Sie sind in dem Gebäude dort! Zehn Stockwerke hoch! Drei von ihnen und ein Linganer. Sie wollen keinen Widerstand leisten! »Ein Drane«, sagte Harold. Es war weder möglich, in dem Gewirr von Menschen und Fahrzeugen den Standort dieser Kreatur auszumachen, noch gelang es ihm, die ungefähre Richtung herauszufinden, denn nachdem der Fremde alles, was ihm wichtig schien, gesagt hatte, hatte er seine Gedanken wieder verschlossen, und sein mächtiger Impuls war verschwunden. »Den Impulsen nach zu urteilen, war dort unten ein Drane«, offerierte Melor verspätet. »Habt ihr ihn gehört? Ich habe nicht verstanden, was er gedacht hat.« »Er hat unsere Position erfahren. Er hat dein Spektrum erkannt und gesagt, daß sich ein Linganer bei uns befindet.« »Und was sollen wir jetzt unternehmen? Stehen wir hier wie die Schafe und warten, bis sie kommen, um uns zu holen?« »Ja«, informierte Harold ihn. Melors Gesicht zeigte deutlich das erwartete Martyrium, aber er sagte nichts weiter dazu. Die Enthüllung des Drane löste keine nennenswerte Reaktion aus. Aus Gründen, die den Zuschauern verborgen blieben, geschah lange Zeit nichts. Die Ruhe endete mit einem Auto, das die Straße entlangröhrte, von drinnen sprach ein mit Silber übersäter Offizier
durch ein Seitenfenster mit den Leuten. Wie ein Mann stürmten die uniformierten Gruppen dem Eingang des Gebäudes entgegen. Es war Melor, der das Tor öffnete und einen Polizeicaptain und sechs Männer hereinließ. Alle sieben trugen die leeren Gesichter von Männern zur Schau, die sich nicht vorstellbaren Gefahren gegenübersehen, und alle sieben waren bewaffnet. Kleine Blaster, vergleichbar mit dem, den Harold so anrüchig gefunden hatte, lagen schießbereit in ihren Händen. Der Captain, ein großer, kräftiger Mann, aber mit bleichem Gesicht, betrat den Raum mit gezückter Waffe und spulte hastig seine vorbereitete Rede herunter. »Hört mir gut zu, ihr vier, bevor ihr irgendwelche Tricks versucht. Wir haben die Kontrollen dieser Waffen verändert. Sie sind sicher, solange wir die Abzüge gespannt halten, gehen aber sofort los, wenn unser Händedruck nachläßt – und Hypnose ist immer von einer unwillkürlichen Muskelentspannung begleitet, die auch ihr nicht verhindern könnt!« Er schluckt hart. »Jeder noch so clevere Trick wird nichts weiter tun, als diesen Platz in ein Schlachthaus verwandeln. Außerdem sind noch weitere Männer außerhalb, noch mehr auf den anderen Stockwerken und noch mehr auf der Straße. Ihr könnt mit dieser Menge nicht fertigwerden.« Harold lächelte ungezwungen und antwortete: »Sie führen uns in Versuchung, Sie zu zwingen, diese Spielzeuge aus dem Fenster zu werfen und Ihre Unterhosen hinterher. Aber wir wollen mit dem Exekutivrat verhandeln und haben keine Zeit, uns zu vergnügen. Gehen wir.«
Der Captain wußte nicht, ob er sich ärgern oder wundern sollte. Vorsichtig stand er auf der Seite, als die vier durch die Tür gingen. Die Eskorte war ebenfalls argwöhnisch. Sie umringten das Quartett, aber nicht zu nahe, mit der Miene von Männern, die Vipern an ihrer Brust liebkosen müssen. Während sie den Korridor entlang zum Schwebefahrstuhl gingen, stupste Burt den ihm am nächsten gehenden Wächter an und erkundigte sich: »Wie ist Ihr Name?« Der Bursche, ein schlaksiger Mann mit buschigen Augenbrauen, war überrascht und reserviert, als er antwortete. »Walt Bron.« »Tss!« sagte Burt. Dem Wächter gefiel dieses ›Tss‹ gar nicht. Seine Brauen zogen sich zusammen, seine Augen bekamen einen dümmlichen Ausdruck, während sein Geist mit sich selbst sprach: Warum wollte er meinen Namen wissen? Warum ausgerechnet ich? Ich habe ihm doch nichts getan? Was hat er jetzt vor? Burt grinste breit, sein eigener Verstand griff nach denen von George und Harold. Etwas hat sie beunruhigt, da die Höheren es vorgezogen haben, ihnen nicht sehr viel zu erzählen. Ja – es sieht aus, als ob es Ärger in einflußreichen Kreisen gegeben hat und man diesen an den Bullen ausließ. Offensichtlich dringen die Neuigkeiten durch. Pause. Fühlst du eine Sondierung? Nein. Wir ebenfalls nicht. Dieser Drane muß gegangen sein. Pause. Zu dumm, daß wir mit Melor nicht auf diese Art und Weise reden können. Er geht hinter uns, wie ein Fatalist, der seinen sicheren Tod vorhersieht. Pause. Hat eine
Menge Mumm erfordert, wie er uns einfach so vertraute. Ja – wir werden uns um ihn kümmern! Sie erreichten die Aufzüge. Die Etage war überfüllt mit Polizisten, einige drängten sich bereits in das verlassene Apartment, um es zu durchsuchen. Sie bestiegen den Schwebefahrstuhl, das gefangene Quartett und die sieben Wächter, und aktivierten ihn. Die gläsernen Türen schlossen sich. Der stämmige Captain drückte einen Knopf, und der Fahrstuhl fuhr gemütlich in die Höhe, während die Insassen mit unverhohlenem Interesse die Stockwerksanzeige betrachteten. Sie hielten im siebenundzwanzigsten Stock. Der Captain ließ die Türen nicht öffnen. Seine ganze Aufmerksamkeit galt der Anzeige, während sich sein Kalbsgesicht langsam verfärbte. Plötzlich schlug er mit seinem großen Daumen gegen den Knopf des Erdgeschosses, und der Fahrstuhl sauste nach unten. Harold: Wer war das? Burt: Ich. Ich konnte nicht anders. Dann, laut: »Ich habe gar nicht gemerkt, daß die Gewehre losgegangen sind. Ihr etwa?« Die anderen Gefangenen grinsten. Der Captain starrte auf den nach oben eilenden Fahrstuhlschacht, sagte aber nichts. Die Unbehaglichkeit der Eskorte zeigte sich noch offensichtlich auf ihren Gesichtern. Eine beachtliche Ehrengarde hatte sich zwischen der Front des Gebäudes und dem wartenden Auto aufgereiht. Über sechzig Gewehre wurden auf beiden Seiten bereit gehalten – in achtloser Gedankenlosigkeit, denn einer hätte nur irgend etwas anfangen müssen, um dann zuzusehen, wie das Feuer der einen Reihe die Hälfte der anderen Reihe niedermachte, was dem
Tod ein reiches Futter liefern würde. Die vier stiegen in das wartende Auto, der Fahrer wirkte nicht gerade glücklich über ihre Ankunft. Ein Bulle saß zu seiner Unterstützung neben ihm. Das Auto ließ seine Düsen aufheulen und startete, mehr als ein halbes Dutzend Autos voraus und ein volles Dutzend hinterher. Es war eine Prozession, die dem wichtigsten Staatsbegräbnis des Jahres alle Ehre gemacht hätte, auch die Geschwindigkeit war dem angemessen, als sie sich durch ein Gewirr von Seitenstraßen dem Stadtrand näherten. Einhundertfünfzig Meter über ihnen flog ein Helikopter und zwei Gyros, die gewissenhaft jeder Biegung und Kurve ihres Weges folgten. Ihr Ziel stellte sich als immenser, nadelähnlicher Wolkenkratzer heraus, hoch, schlank, ehrerbietig. Er ragte majestätisch aus hübsch angelegten Rasenflächen empor, die von einer hohen Mauer umgeben waren, man konnte die spinnennetzförmige Anordnung eines Fotozellenwarnsystems sehen. Als sie durch das Tor glitten, konnten die Gefangenen einen kurzen Blick auf die Alarmanzeigetafel werfen, die sich versteckt im Innern der steinernen Torfestung befand, eine Gruppe schwerbewaffneter Wachen saß auf einer Bank. »Der Palast des Rates«, informierte Melor. »Hier machen sie Welten und zerbrechen sie – das wird zumindest behauptet.« »Sei still!« fuhr der Bulle vorn ihn an. Dann, mit hoher mechanischer Stimme: »Es sind Feen im Dikkicht meines Gartens!« »Wirklich?« fragte Burt, der ehrliche Überraschung heuchelte.
Das finstere Gesicht des Bullen wurde bleich. Seine Hand umklammerte seinen Blaster, in seiner Angst vergaß er vollkommen, daß ein festerer Druck vollkommen nutzlos war. Laß ihn in Ruhe, Burt! dachte Harold. Ich mag ihn nicht, entgegnete Burt. Seine Ohren stehen ab. »Wie er nach Wahnsinn riecht!« kritisierte Melor offen. Die Unterhaltung erstarb, als die Prozession vor dem reich verzierten Eingang des Wolkenkratzers anhielt. Das Quartett stieg aus und durchschritt eine neue, kriegerische Ehrengarde, betrat dann das Gebäude. Dort wurden sie von weiteren schwarz uniformierten Männern in ein Apartment zwei Stockwerke höher geführt, das ein Stahl-Beryllium-Gitter anstelle einer Tür hatte. Der letzte Mann versperrte das Gitter mit einem monströsen Schlüssel und verschwand. Noch ehe die Gefangenen Zeit gehabt hatten, ihr neues Gefängnis zu untersuchen, erschien ein Aufseher, schob Nahrungsmittel zwischen den Gitterstäben hindurch und sagte: »Ich habe den Schlüssel nicht und habe auch keine Ahnung, wer ihn hat. Ich kann es auch nicht herausfinden. Wenn ihr etwas benötigt, dann ruft nach mir, aber glaubt nicht, daß ihr mich zum Öffnen verleiten könnt. Das könnte ich auch nicht, selbst wenn ich es wollte – was natürlich nicht der Fall ist.« »Mein Lieber«, sagte Burt, »das ist nicht nett von dir.« Er ging zum Gitter, schwang es nach innen und schaute auf den erschrockenen Aufseher. Dann fuhr er fort: »Geh hinunter und sag dem Rat, wir fühlen
uns sehr wohl, und sie sollen sich bereithalten. Wir werden in Kürze nach ihnen rufen lassen.« Der zu Tode erschrockene Aufseher kam wieder zu sich. Er drehte sich um und stob davon, als säße ihm der Teufel im Nacken. »Wie habt ihr das gemacht?« fragte Melor mit weit aufgerissenen Augen. Er schlich geschmeidig zu dem Gitter und schwang es in den Angeln hin und her. »Der Gentleman mit dem Schlüssel schloß ab und anschließend wieder auf, zufrieden, seine Pflicht erfüllt zu haben.« Burt seufzte. »Das Leben ist voller Enttäuschungen.« Er öffnete ein Paket und untersuchte dessen Inhalt. »Calorbix!« stieß er angeekelt hervor und stellte das Paket auf einen Tisch. »Hey, sie kommen!« rief George. Eine Horde kam. Sie verschlossen das Gitter, sicherten es zusätzlich mit zwei schweren Ketten und verschlossen diese wiederum mit Vorhängeschlössern. Die vier sahen in amüsiertem Schweigen zu. Ein eindrucksvoller kleiner Mann, mit viel Silber über seine Brust verteilt, versicherte sich des Gitters, rüttelte mit aller Kraft daran. Zufrieden schnitt er den vieren eine bösartige Grimasse und ging. Die Horde folgte ihm. Burt strolchte ruhelos im Zimmer umher. »Da sind Kameras, die uns beobachten, Mikrofone, die uns belauschen, und, nach allem, was ich weiß, auch einige verfluchte Apparätchen, die uns riechen. Ich hab das alles satt. Laßt uns vor den Rat gehen.« »Ja, es wird Zeit, daß wir das tun«, stimmte George ein. »Je früher, desto besser«, fügte Harold hinzu. Melor sagte nichts dazu. Die Unterhaltung seiner Freunde, so dachte er, war oftmals verwirrend und
schien unlogisch. Sie hatten eine Art, die merkwürdigsten Einstellungen auszusprechen. So beschäftigte er sich damit, auf das Gitter zu starren, das nichts, außer vielleicht einer Art flüssiger Lebensform, durchdringen konnte, und fragte sich, ob Tor und Vern ebenfalls in die Falle getappt waren. Er hoffte es nicht. Besser, ein Linganer wurde exekutiert anstatt dreien. Eine Minute später kam der Mann mit den Schlüsseln zurück, begleitet von zwei Wachen und einem großen, grauhaarigen Offizier in Lindgrün. Das Zeichen des Silbernen Kometen glitzerte auf seinen Schulterklappen. Sein durchdringender Blick ruhte auf dem Aufseher, als dieser griesgrämig die Hängeschlösser öffnete, die Ketten entfernte und das Gitter löste. Dann sagte er zu den vieren: »Beachtlich, beachtlich.« Er wartete auf eine Antwort; als keine erfolgte, fuhr er fort: »Dieser Aufseher hat nicht die geringste Ahnung, was er macht. Wie der Rat vermutet, habt ihr ihn dazu gezwungen, zurückzukehren und das Tor zu öffnen. Wir hielten ihn unter Beobachtung. Es war eine interessante Demonstration, was Hypnose alles erreichen kann.« Sein Lächeln war liebenswürdig. »Aber ihr habt ihn nicht in Begleitung zurückerwartet, he?« »Was spielt das für eine Rolle?« gab Harold zurück. »Ihr Gehirn zeigt an, daß der Rat bereit ist, sich mit uns zu befassen.« »Ich verschwende meinen Atem mit dem Reden.« Der Offizier machte eine Geste der Sinnlosigkeit. »In Ordnung. Folgt mir.«
Der Rat war nicht sehr groß. Seine Stärke bestand aus nur acht Personen, alle, außer zweien, humanoid. Sie saßen an einem langen Tisch, die Menschen in der Mitte, ein Nichthumanoider an jeder Seite. Das Ding an der äußersten Rechten hatte einen Kopf wie eine purpurne Kugel, glatt, glänzend, haarlos, keine Gesichtszüge, ausgenommen ein Paar einziehbarer Augen. Darunter war mantelverhüllte Formlosigkeit, es schien weder Schultern noch Arme zu geben. Es war so abscheulich, wie das Geschöpf zur Linken hübsch war. Der an der linken Seite hatte ein flaches, kreisrundes, goldenes Gesicht, eingerahmt von goldenen Blütenblättern, groß und leuchtend. Der Kopf wurde gestützt von einem kurzen, faserigen, grünen Genick, von dessen Knospen lange, zarte Arme ausgingen, die in Tentakeln endeten. Zwei schwarze, knorrige Staubblätter ragten aus dem Gesicht und ein weiter, beweglicher Mund war unter ihnen zu sehen. Es war sehr schön, wie eine Blume. Zwischen dem Tisch und den staunenden Gefangenen ragte eine Drahtbarriere auf. Harold, Burt und George konnten sehen, daß sie geladen war, ihre Wahrnehmungen untersuchten sie behutsam. Gleichzeitig erkannten sie die Funktionsweise; es handelte sich um eine Wechselstromsammelschiene, über einem pulsierenden Potential. Zweihundert Impulse pro Minute, mit einer minimalen Spannung von viertausend Volt, die nach jedem zehnten Impuls auf siebentausend Volt anstieg. »Hypnotische Abwehr!« erklärte Burt. Er war erstaunt. »Aber das schwächt nicht die Nervenstrahlung. Das sind andere Wellenlängen. Könnt ihr hören, was sie denken?«
»Keinen Ton«, antwortete Harold. »Ich konnte deine Gedanken während du sprachst ebensowenig verstehen.« »Auch ich habe den Kontakt verloren«, warf George ein. »Irgend etwas, aber nicht dieser Schirm, strahlt einen konstanten Basisimpuls aus, der das telepathische Band stört.« Angewidert schnüffelnd warf Melor ein: »Jetzt komme ich zum Zug. Ich kenne den Grund. Es ist ein Drane im Raum. Er macht das.« »Bist du dir dessen sicher?« »Ich kann ihn riechen.« Er deutete auf das blumenähnliche Gebilde zur Linken. »Dranes können nicht sprechen. Sie haben keine vokalen Laute. Die Floraner fungieren als ihre Dolmetscher – darum ist dieser auch hier.« Einer der Menschen des Rates, ein stiernackiger, pausbäckiger Mann, beugte sich nach vorn und sah die vier mit funkelnden Augen an. Seine Stimme war rauh. »Der Linganer hat recht. Da wir uns weder hier versammelt haben, um eure fremdartigen Mätzchen zu bestaunen, noch um uns eure Lügen anzuhören, dafür aber, um die Wahrheit mit Gerechtigkeit und Weisheit herauszufinden, halten wir es für notwendig, einen Drane hinzuzuziehen.« Mit diesen Worten machte er eine dramatische Geste. Der Floraner griff mit einem Tentakel hinter den Tisch, hob den verborgenen Drane empor und setzte ihn auf die polierte Oberfläche. Mentale Vorstellung, erkannte Harold, hatte ihm ein korrektes Bild von Aussehen und Auftreten vermittelt, ihm die Größe aber verborgen. Er hatte fest
angenommen, der Drane habe eine Größe ungefähr vergleichbar mit seiner eigenen. Aber diese Kreatur war nicht größer als seine Faust. Ihre Winzigkeit schockierte ihn. Das Geschöpf war echsenähnlich, aber nicht so sehr wie zuerst vermutet, und nun, da er es von Angesicht zu Angesicht sah, wirkte die winzige, aber perfekte Uniform absurd. Während sie noch darauf starrten, betrachtete das Ding sie, mit Augen wie Nadelstiche flammenden Karmesinrots, gleichzeitig verschwand das mentale Dröhnen, eine psychische Flut durchdrang den Schirm und griff nach ihren Gedanken. Aber die Schilde der drei waren undurchdringlich, während der vierte – der Linganer – die Kraft nur als ein akutes Kribbeln fühlte. Der Druck wurde stärker und stärker, es war erstaunlich, daß ein so kleines Gehirn eine solche mentale Kraft aufbringen konnte. Es fühlte, erprobte, drückte und stach, seine Gewalt vermehrte sich, ohne zu erlahmen. Mit schweißgebadeten Gesichtern starrten die drei ebenso unnachgiebig immer auf dieselbe Stelle der Uniformjacke des Drane, während sie ihre Schilde dem unsichtbaren Angriff entgegensetzten. Melor setzte sich auf den Boden, verbarg den Kopf in den Armen und schaukelte langsam von Seite zu Seite. Der Rat beobachtete das Schauspiel ungerührt. Die Augen des Dranes waren feurige Juwelen. »Hört auf damit«, flüsterte Harold. »Wir sind nahe dran.« Wie es die Eidechsen tun, verharrte der Drane unbeweglich in einer Pose. Seit er auf der Tischoberfläche stand, hatte er seine Haltung nicht verändert, seine verderblichen Augen hatten nicht geblinzelt. Noch
immer stieg seine psychische Ausstrahlung. Dann, plötzlich, griff er nach seiner Jacke, zog die Pfote wieder weg. Eine dünne Rauchfahne stieg aus den Kleidern auf. Als nächstes floh die Kreatur von der Tischoberfläche, der mentale Druck brach zusammen, als sein Erzeuger verschwand. Seine schrille, schmerzerfüllte Stimme drang in ihre Gedanken, als das Ding sich durch eine winzige Tür schlängelte und weiter durch den äußeren Gang hetzte. Die Stimme verblaßte mit der Entfernung. Feuer... Feuer... Feuer! Das Ratsmitglied, das vorhin gesprochen hatte, saß nun stumm und betrachtete durch den Schirm seine Gefangenen. Seine Hand lag auf dem Tisch, seine Finger trommelten nervös auf die Oberfläche. Die anderen Mitglieder stellten ausdruckslose Mienen zur Schau. Er drehte seinen Kopf und schaute den Floraner an. »Was ist geschehen?« »Der Drane sagte, er brenne«, erklärte der Mund in dem blumenähnlichen Gesicht. Seine Worte waren leise, aber präzise. »Sein Geist war sehr erschüttert. Die Gefahr zerstörte seine Konzentration, und er mußte fliehen, um Schlimmem zu entgehen.« »Pyrotiker«, sagte das Ratsmitglied ungläubig. »Es gibt Legenden über solche Wesen.« Seine Aufmerksamkeit wandte sich wieder den Gefangenen zu. »So, ihr seid also Pyrotiker – Brandstifter!« »Einige Ihrer Leute können das auch, wissen es aber nicht«, sagte Harold ihm. »Sie haben unbewußt die meisten unerklärten Feuer entfacht, die Ihnen bekannt sind.« Er machte eine Geste der Ungeduld. »Nun, da wir den Drane losgeworden sind, wie wäre
es, den Weg zu Ihren Gedanken freizugeben? Wir können lesen, was dort geschrieben steht, und wissen den nächsten Zug. Ihr werdet Burkinshaw, Helman und Roka rufen, wonach die Verhandlung beginnen kann.« Stirnrunzelnd, doch ohne eine Entgegnung zu machen, drückte das Ratsmitglied einen roten Knopf auf seinem Pult. Seine Haltung war erwartungsvoll. Nach kurzer Zeit betraten Helman und Roka den Raum und setzten sich an den Tisch. Die Miene des ersteren war mürrisch und verärgert. Letzterer grinste verschlafen zu dem Quartett hinüber, Harold nickte er sogar freundlich zu. Eine Minute nach ihnen kam Burkinshaw III., der Oberbefehlshaber, herein und setzte sich in den zentralen Sessel. Sein ehrfurchtgebietender Name und sein imposanter Titel umgaben ihn wie ein fremder Handschuh, denn er war ein kleiner, dünner Mann, schmalbrüstig, mit Hängeschultern, mit einem bleichen, gefurchten Gesicht. Sein kahler Kopf trug nur noch an den Schläfen dünne, graue Haarbüschel, seine Augen starrten kurzsichtig durch einen randlosen Kneifer. Sein gesamter Eindruck entsprach dem eines sanftmütigen, zerstreuten Professors – aber sein Verstand war kalt, eiskalt. Dieser Verstand war den dreien nun weit geöffnet. Es war ein messerscharfer, klarer und unnachgiebiger Verstand, dessen Aura die der anderen Ratsmitglieder überstrahlte. Er legte sich einige Zettel zurecht, und während sein Blick auf den obersten Zeilen verharrte, begann Burkinshaw zu sprechen, sein Ton war gemessen, die
Worte langsam. »Ich bezweifle nicht, daß Sie meine Gedanken zu lesen in der Lage sind, und sie gerade lesen, aber um dem Linganer, der das nicht kann, und meinen Ratskollegen, die ebenfalls nicht telepathisch sind, gerecht zu werden, muß ich die gewöhnliche Sprache verwenden.« Er rückte den Zwicker zurecht, blätterte ein Papier um und sprach weiter. »Wir, vom Exekutivrat des Imperiums, sind zu dem Schluß gekommen, daß die Sicherheit des Imperiums es verlangt, den Planeten, der uns als KX-724 bekannt ist, zu zerstören, zusammen mit allen anderen Planeten, Monden oder Asteroiden, auf denen die dortige Lebensform beheimatet ist. Wir haben uns hier zusammengefunden, um das letzte Plädoyer dieser Lebensform anzuhören, und es ist die Pflicht jedes einzelnen von uns, aufmerksam zuzuhören, die neugewonnenen Erkenntnisse zu überdenken und darüber zu urteilen, nicht mit Voreingenommenheit und Unrecht, sondern mit Gerechtigkeit.« Nachdem er so gesprochen hatte, nahm der Oberste Herrscher den Zwicker von der Nase und polierte jedes Glas, setzte ihn dann vorsichtig wieder auf und sah die Gefangenen über dessen Ränder hinweg mit dem Ausdruck einer Eule an. Seine Augen waren von einem sehr blassen Blau, schienen schwach und waren es doch nicht. »Haben Sie Ihren Sprecher erwählt?« Ihre Gedanken konferierten rasch, dann sagte Harold: »Ich soll sprechen.« »Sehr gut.« Burkinshaw entspannte sich in seinem Sessel. »Bevor Sie beginnen, ist es nötig, Sie darauf hinzuweisen, daß unsere zerstörerische Entscheidung über das Schicksal Ihres Volkes weder leichtsinnig
noch herzlos ist. Tatsächlich wurde sie mit größtem Widerwillen getroffen. Wir wurden durch die Last der Beweise dazu gezwungen, und, wie ich mit Bedauern sagen muß, durch zusätzliche Informationen, die wir zwischenzeitlich erhielten, die Ihre Verurteilung nötig erscheinen lassen. Augenscheinlich ist Ihre Lebensform eine Bedrohung für die unsere. Die Verantwortung, einen Gegenbeweis zu unserer Zufriedenheit zu erbringen, liegt nun bei Ihnen.« »Und wenn ich das nicht kann?« erkundigte Harold sich. »Werden wir Sie unverzüglich zerstören.« »Wenn Ihnen das möglich ist«, sagte Harold. Die versammelten Gehirne reagierten prompt. Er konnte sie hören, aggressiv und wütend. Das purpurne Ding offenbarte keine Gedanken, strömte aber eine sonderbare Stimmung idiotischer Belustigung aus. Die Ausstrahlung des Floraners war milde Überraschung, verbunden mit Interesse. Burkinshaw war nicht durcheinander. »Wenn es uns möglich ist«, stimmte er zu, in seinem Gehirn machte sich ein leichter Zweifel, ob es ihnen möglich sein würde, breit. »Fahren Sie nach Ihrer Art fort«, sagte er dann. »Sie haben vierzehn Stunden Zeit, um uns darzulegen, daß unsere Entscheidung falsch und undurchführbar ist.« »Sie haben uns dazu gezwungen, kleinere Demonstrationen unserer Macht zu geben«, begann Harold. »Die Anwesenheit des Drane hier war ein offensichtliches Unternehmen; Sie benutzten ihn als Maßstab, um unsere mentalen Fähigkeiten zu ermessen. Aus Ihrem Blickpunkt, schätze ich, haben die Ergebnisse Ihren Standpunkt gestärkt, unseren dagegen ge-
schwächt. Nur, der Maßstab war nicht groß genug.« Burkinshaw fiel nicht auf den Lockvogel herein. Mit zusammengepreßten Fingerspitzen, wie in einem Gebet, starrte er abwesend zur Wand, er sagte nichts. Seine Gedanken waren beherrscht, denn es war ihnen nichts zu entnehmen, außer der Bemerkung: Ein negativer Punkt. »Denken Sie darüber nach«, fuhr Harold fort, »während ich über wahllose Übereinstimmungen rede. Auf meiner Welt ist eine wahllose Übereinstimmung eine rein zufällige Aneinanderreihung äußerer Umstände, sie ist ebenso isoliert und tritt nur unregelmäßig auf. Wenn sich eine scheinbare Übereinstimmung oft genug wiederholt, dann ist es keine wahllose Übereinstimmung mehr. Sie wissen das auch – oder sollten es wissen. Nehmen wir zum Beispiel die einst vermutete Übereinstimmung von Erdbeben und Meteoren. Sie kam so häufig vor, daß schließlich einer Ihrer Wissenschaftler darauf aufmerksam wurde, die Zusammenhänge untersuchte und so die Solardynamischen Raumverzerrungen entdeckte, jene Urtriebkraft, die seitdem Ihre Raumschiffe zu supraräumlichen Geschwindigkeiten beschleunigt. Was ich damit sagen will, ist, daß man Übereinstimmungen nicht einfach außer acht lassen kann, wenn sie zu häufig auftreten.« Ein Vorstoß – aber wohin? sann der Floraner. Keine eindeutige Stellungnahme, dachte Burkinshaw. Ich kann dieses Gebrabbel einfach nicht hören, dachte Helman unbehaglich. Er redet, um Zeit zu gewinnen. Vielleicht versuchen die drei irgendwie diesen Schirm zu durchdringen. Sie verbrannten den Drane durch ihn – oder nicht? Er zappelte in seinem Stuhl herum. Ich teile B's
Vertrauen in diesen Schirm nicht. Verflucht seien Roka und die gesamte Erkundungsmannschaft – einmal werden sie unser Untergang sein. Insgeheim lächelnd, setzte Harold seine Rede fort. »Wir haben herausgefunden, daß das Schachspiel im gesamten Imperium verbreitet ist.« »Prrrsch!« prustete der Mann mit der rauhen Stimme heraus, der zu Burkinshaws Linken saß. »Das ist keine Übereinstimmung. Es breitete sich von einer zentralen Quelle aus, wie jeder, der über ein Mindestmaß an Intelligenz verfügt, wissen sollte.« »Schweigen Sie, Dykstra«, wies Burkinshaw ihn zurecht. »Welcher Quelle?« fragte Harold ihn. Dykstra schien verärgert, als er antwortete. »Uns! Wir haben es weitergegeben. Was soll das?« »Wir hatten dieses Spiel schon lange, bevor ihr mit uns zusammengekommen seid«, erzählte Harold ihm. Dykstra öffnete den Mund und sah Burkinshaw an, schloß den Mund und schluckte heftig. Burkinshaw betrachtete ununterbrochen die Wand. Harold erklärte weiter: »Wir kennen es schon so lange, daß wir nicht mehr wissen, wie lange eigentlich. Dasselbe Spielbrett, dieselben Figuren, dieselben Züge, dieselben Regeln. Wenn Sie sich das vergegenwärtigen, dann werden Sie eine ganze Menge Übereinstimmungen erkennen.« Sie antworteten nicht mit Worten, aber er konnte ihre Reaktion trotzdem erkennen. Vier Mitglieder des Rates waren verwirrt. Überraschend, aber vorstellbar, grübelte der Floraner.
Trotzdem, was soll das? rätselte Dykstras Verstand. Keine Stellungnahme möglich, dachte Burkinshaw kühl. Das Gehirn des purpurnen Dinges gab ein Kichern von sich. »Bron«, sagte Harold. »Walt Bron, Robertus Bron und unzählige andere Brons. Eure Einwohnerverzeichnisse sind voll von ihnen. Meine Welt hat ebenso unzählige Mengen von ihnen, immer in Verbindung mit dem Namen des anderen Elternteils natürlich, und auch Brown geschrieben, die Aussprache ist allerdings dieselbe. Wir haben ebenfalls Roberts und Walters.« Er blickte auf Helman. »Ich kenne vier Männer namens Hillman.« Sein Blick schwenkte zum Obersten Herrscher. »Und unter unseren wenigen Musikern befindet sich einer mit Namen Theodore Burkinshaw-May.« Burkinshaw wandte den Blick vom Sims ab und wieder der Wand zu. Ich sehe, worauf er hinauswill. Warten wir mit unserem Urteil, bis er soweit ist. »Das Schiff, das uns hierherbrachte, trug den Namen Fenix in den Buchstaben ihres Alphabets«, sprach Harold weiter. »In längstvergangenen Tagen, als wir noch Kriegsschiffe hatten, da hatten wir eines mit dem Namen Phoenix. Wir konnten Ihre Sprache unglaublich rasch lernen. Warum? Weil ein Fünftel eures Vokabulars mit dem unseren vollkommen identisch ist. Ein weiteres Fünftel leitet sich aus Veränderungen unserer Worte her. Der Rest setzt sich zusammen aus Worten, die so sehr verändert sind, daß man ihren Ursprung nicht mehr zurückverfolgen kann, oder Worten, die ihr von eroberten Rassen übernommen habt. Aber in den Grundzügen ent-
spricht Ihre Sprache der unseren. Sind das genügend Übereinstimmungen?« »Unsinn!« erklärte Dykstra lautstark. »Unmöglich!« Burkinshaw wandte sich um und betrachtete Dykstra, mit Augen, die mißbilligend hinter dem Zwikker blickten. »Nichts ist unmöglich«, korrigierte er milde. »Machen Sie weiter«, befahl er Harold, seine Gedanken lauteten: Der Anwalt zieht den unausweichlichen Schluß – zu spät. »Sie wissen also, worauf ich hinauswill«, sagte Harold zu ihm. »Nur noch eine letzte Übereinstimmung. Ich war dumm genug, den Imperiumstitel zu mißverstehen. Ich dachte, Sie nennen sich selbst Herren des Terrors. Ein dummer Fehler.« Seine Stimme sank herab. »Ihr Titel ist ein Mysterium, das seine Wurzeln tief in Ihrer Vergangenheit hat. Sie nennen sich selbst Herren von Terra!« »Gute Güte«, sagte Dykstra, »ist das hübsch!« Ohne auf ihn zu achten, sagte Harold zu Roka: »Sie sind nun wach. Gestern nacht klickte etwas in Ihrem Verstand, und Sie erinnerten sich an Dinge, die Sie vergessen hatten. Erinnern Sie sich, wie mein Volk seinen Heimatplaneten nennt?« »Terra«, antwortete Roka sofort. »Ich unterbreitete es dem Obersten Herrscher heute morgen, ihr nennt euch selbst Terrestrier.« Dykstras grobes Gesicht lief dunkelrot an; Beschuldigungen wegen Blasphemie wogten durch seinen Verstand, als Burkinshaws Gedanken seinen Ausführungen folgten. »Der revidierte Bericht Leutnant Rokas und anderer Überlebender seiner Mannschaft liegt nun dem Rat vor.« Er wies auf die Papiere auf dem Tisch. »Er
wurde bereits vom Polizeichef, Inquisitor Helman und mir selbst untersucht. Wir sind jetzt bereit zu glauben, daß die Ausführungen des Sprechers der Wahrheit entsprechen und daß die Neuentdeckung KX-724 der lang verlorene Ausgangspunkt unserer Expansion ist. Wir haben unseren Mutterplaneten gefunden. Die Fenix hatte, ohne unser Wissen, Heimatkurs eingeschlagen.« Die Hälfte des Rates war verblüfft. Nicht so die purpurne Kreatur, was zeigte, daß menschliche Wiederentdeckungen nur geringe Bedeutung für purpurne Geschöpfe haben. Der Floraner dachte ähnlich. Dykstras Verstand war ein verwirrtes Drunter-undDrüber. »Eine Distanz von dreitausend Lichtjahren hat uns zweitausend Jahrhunderte lang isoliert«, erzählte Harold ihnen mit leiser Stimme. »In dieser unvorstellbaren Vergangenheit wurden wir groß und unternehmungslustig. Wir sandten einige Kolonistenkonvois zum nächstgelegenen System, das viereinhalb Lichtjahre entfernt ist. Wir haben nie erfahren, was aus ihnen geworden ist, denn dann folgte der letzte Atomkrieg, der uns zu wandernden Nomaden machte, auf tieferem Niveau als Wilde. Wir haben seitdem den Aufstieg wieder geschafft. Der Pfad unserer Weiterentwicklung hat sich aber sehr von dem euren unterschieden, denn radioaktive Partikel haben seltsame Veränderungen an uns bewirkt. Einige dieser Fähigkeiten sind ausgestorben, einige wurden ausgemerzt, andere blieben und machten uns zu dem, was wir jetzt sind.« »Was seid ihr?« unterbrach das Mitglied neben Roka.
»Verwandelte Menschen«, antwortete Burkinshaw für ihn. »In dem schrecklichen Kampf ums Überleben auf neuen und gefährlichen Welten seid auch ihr gestürzt«, fuhr Harold fort. »Aber ihr habt euch wieder erholt und erneut nach den Sternen gegriffen. Verständlicherweise wähltet ihr das euch am nächsten liegende System, eineinhalb Lichtjahre entfernt, denn ihr hattet die Position eurer Heimatwelt vergessen, von der nur noch uralte Legenden berichteten. Wir waren drei Lichtjahre weiter entfernt als euer nächster Nachbar. Logischerweise habt ihr euch das ausgesucht – und euch von uns entfernt. Ihr fielt erneut, stiegt wieder auf, habt euch weiter ausgebreitet, und ihr seid nicht zurückgekehrt, ehe ihr ein mächtiges Imperium errichtet hattet, an dessen Rand wir warteten und uns veränderten und veränderten.« Mittlerweile hingen alle fasziniert an seinen Lippen. Selbst Dykstra war still, sein Verstand erfüllt mit der Majestät vergangener Jahrtausende. »Diejenigen von euch, die der Brüderschaft des Kreuzes des Ursprungs angehören, wissen, daß das die Wahrheit ist – daß ihr den Kreis geschlossen habt und zurückgekehrt seid zu Sol.« Er machte eine rasche, herausragende Gebärde. Zwei seiner Zuhörer antworteten automatisch. Das hat kaum einen Zweck, erreichten Burts Gedanken ihn deutlich. Sie sind zu wissenschaftlich. Warte. Der Rat verharrte lange Zeit schweigend, schließlich sprach der Floraner. »All das ist sehr ergreifend – aber wie ergreifend wird es sein, wenn sie das Imperium übernehmen?« In Gedanken fügte er hinzu: Und
wir Floraner tauschen einen Herrn gegen den anderen ein. Ich bin dagegen. Besser, den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach. Die dünnen Arme auf dem Tisch aufgestützt, sprach Burkinshaw rechtfertigend zu den Terranern. »Wenn ihnen bekannt wäre, was wir wissen, dann wären die rührseligen Bürger des Imperiums wahrscheinlich gegen eure Ausrottung. Wie auch immer, das Gefüge unseres kosmischen Gebäudes kann nicht durch etwas so Sanftes wie Sentimentalität zum Einsturz gebracht werden. Mehr noch, die verlorenen Söhne haben nicht die Absicht, dieses gemästete Kalb ihren langvergessenen Vätern zu überlassen. Eure Vertilgung von der Bühne des Lebens scheint mir noch immer nötig – vielleicht noch nötiger als je zuvor –, und daß es ein Vatermord sein wird, ändert nichts an dieser Tatsache.« Sein mageres, asketisches Gesicht verriet den einschmeichelnden Wunsch, zu gefallen. »Ich bin mir sicher, ihr versteht unsere Position. Habt ihr noch etwas hinzuzufügen?« »Kein Glück«, flüsterte Melor. »Der Haß ist verschwunden – er ist der Furcht gewichen.« Harold schnitt eine Grimasse und sprach zum Obersten Herrscher. »Ja, ich möchte noch sagen, daß Sie Terra zerstören können, zusammen mit dem ganzen System, aber es wird nichts Gutes daraus erwachsen.« »Wir handeln nicht unter dem Eindruck, uns einen Vorteil zu verschaffen«, erklärte Burkinshaw. »Wir würden auch keine so drastische Maßnahme zu einem solchen Zweck billigen.« Er nahm seinen Zwikker ab und verdrehte die Augen, als er seine Zuhörer ansah. »Das Motiv ist vernünftiger und dringender – wir tun es, um Schaden zu vermeiden.«
»Das wird es nicht tun.« »Warum nicht?« »Weil ihr zu spät kommt.« »Ich habe eine solche Aussage befürchtet«, sagte Burkinshaw; er lehnte sich in seinem Sessel zurück, balancierte seine Brille auf einem Daumennagel. Wenn er mich nicht überzeugt, daß sein Anspruch begründet ist, werde ich den Zeitpunkt vorverlegen. Dann sagte er: »Das müßt ihr beweisen.« »Es gibt Ärger auf vier der fünf Planeten dieses Systems. Sie haben diese Nachricht erst vor kurzem erhalten. Nichts Ernstes, mehr eine Art unerlaubte Abwesenheit, oder Sabotage oder Demonstrationen, aber keinerlei Gewalt. Trotz allem ist es Ärger – und es könnte schlimmer werden.« »Es gibt immer wieder Ärger auf dem einen oder anderen Planeten«, warf Helman säuerlich ein. »Wenn man viertausend verwaltet, kommt man kaum zur Ruhe.« »Sie übersehen die Signifikanz der Zusammentreffen, fürchte ich. Normale Unruhen gibt es mal hier, mal dort, zusammenhanglos. Diese treffen zusammen. Sie sind zeitlich verabredet.« »Wir werden damit fertig«, fauchte Helman. »Daran zweifle ich nicht«, sagte Harold ausgeglichen. »Sie werden ebenfalls mit einem Aufruhr im nächsten System fertig, wenn Sie in Kürze die Nachricht davon erhalten. Sie werden mit vier Planeten gleichzeitig fertig – oder mit vierzig gleichzeitig. Aber vierhundert Planeten gleichzeitig – und schließlich viertausend! Irgendwo ist das eine Zahl, die selbst für die beste Organisation zu groß ist.« »Das ist nicht möglich«, beharrte Helman starrsin-
nig. »Nur zwei Dutzend von euch Terranern sind hier, Roka hat uns das mitgeteilt. Ihr habt das Schiff übernommen und habt zwei Dutzend Terraner gegen Teile seiner Mannschaft eingetauscht, habt falsche Erinnerungen in seinen und die Gehirne der anderen einprogrammiert, damit sie nichts verrieten, bis ihre wahren Erinnerungen plötzlich zurückkehrten.« Er runzelte die Stirn. Die Vene an seiner Schläfe pulsierte merklich. »Sehr klug von euch. Sehr, sehr klug. Aber vierundzwanzig sind nicht genug.« »Wir wissen das. Ohne Rücksicht auf die relativen Kräfteverhältnisse ist eine gewisse Zahl vonnöten, um mit einer gewissen Zahl fertigzuwerden.« Sein kalter Blick glitt von Helman zu Burkinshaw. »Wenn ihr Menschen nicht mehr und nicht weniger menschlich seid, als ihr das vor zweihunderttausend Jahren wart – und ich glaube nicht, daß der Pfad eurer Expansion euch wesentlich verändert hat, ich würde sagen, eure Bürokraten leben noch immer hinter vernagelten Türen. Solange wahrscheinlich abwesende Schiffe sich nicht dem offiziell vorgeschriebenen Berichterstattungsgeschwätz unterzogen haben, so lange wird ihre Abwesenheit stillschweigend als gegeben angenommen. Und zehn zu eins, euer Handelsressort hat noch keine Ahnung, daß die Kriegsflotte etwas verlegt hat.« Die Tatsache des schnellen Handelns sprach für die gedankliche Schnelligkeit des Obersten Herrschers, denn er reagierte bereits, als alle anderen Ratsmitglieder noch darüber nachdachten. Augenblicklich schaltete er das in die Wand an seiner Seite eingelassene Teleset an. Er schaute direkt in den Bildschirm und sagte
scharf: »Geben Sie mir das Handelsressort, Abteilung Truppentransport.« Der Bildschirm verfärbte sich, ein dicker Mann in Zivilkleidung erschien. Ein immenser Respekt straffte seine stattliche Gestalt, als er seinen Gesprächspartner erkannte. »Ja, Eure Exzellenz?« »Die Kriegsflotte hat zwei Schiffe gemeldet, die jenseits des Grenzbereiches festgehalten würden. Es handelt sich um die Callan und die Mathra. Sind sie vor kurzem in irgendwelchen Transportmeldungen registriert worden?« »Einen Moment, Eure Exzellenz.« Der dicke Mann verschwand. Nach einiger Zeit kam er zurück, ein verwirrtes Stirnrunzeln verdunkelte seine Züge. »Eure Exzellenz, diese beiden Schiffe sind bei uns geführt als veraltete Kriegsschiffe, die als Frachter eingesetzt werden. Diese Umwandlung wurde von uns angenommen, seit sie Passagiere und Fracht transportieren. Die Callan hat in den letzten acht Tagen vier Häfen in der Randzone, Sektor B, angelaufen. Die Mathra verließ das Hyperion-System, nach Ablieferung von Passagieren und Fracht auf jedem der neun Planeten. Als Ziel wurde der äußere Randbezirk angegeben, Sektor J.« »Informieren Sie die Kriegsflotte«, befahl Burkinshaw und schaltete ab. Er war das am wenigsten verstörte Wesen am Tisch. Er gab sich ruhig und unerschüttert, als er mit Harold sprach. »Sie bringen also unaufhörlich Terraner oder Terrestrier, oder wie auch immer ihr euch nennen wollt, herein. Die einzig logische Antwort wäre nun, die beiden Schiffe zu zerstören. Ist das möglich?«
»Ich fürchte, nein. Das hängt größtenteils davon ab, ob die Schiffe, die den Zerstörungsauftrag erhalten, unter unserer Kontrolle sind oder nicht. Der Ärger mit Kriegsschiffen, Atombomben und Planetenzerstörern ist, daß diese nur dann nützlich sind, wenn sie arbeiten, wann und wo Sie ihre Arbeit brauchen. Ansonsten sind sie wertlos.« Er machte eine Geste, um auf Burt und George hinzuweisen. »In Übereinstimmung mit meinen Freunden, die für Terra bestimmte Bombe befindet sich auf dem Schiff Warcat, das den Hafen des dritten Planeten verlassen hat. Fragen Sie Amilcare danach.« Es dauerte einige Minuten, den Herrn des dritten Planeten an den Bildschirm zu bekommen. Als er erschien, war sein Bild verzerrt durch statische Störungen. »Wo ist die Warcat?« krächzte Burkinshaw. Das Bild bewegte sich etwas, verschwamm noch stärker, klärte sich dann wieder etwas. »Weg«, sagte Amilcare jovial. »Ich weiß nicht wohin.« »Gemäß wessen Autorität?« »Meiner«, antwortete Amilcare. Sein Kichern war ölig und ein klein wenig irr. »Jon wollte es, daher sagte ich ihm, er solle es nehmen. Ich konnte mir nichts vorstellen, das Ihr erfreulicher finden könntet. Macht Euch keine Gedanken wegen Jon – ich werde ihn für Euch suchen.« Burkinshaw unterbrach die Verbindung. »Dieser Jon ist ein Terraner, vermute ich?« »Ein Terrestrier«, korrigierte Harold. »Gebt eine Suchmeldung nach ihm heraus«, stieß Dykstra zornig hervor. »Nicht alle Polizisten werden
ihrer Sinne beraubt sein.« »Laßt mich das machen«, sagte Burkinshaw. Dann, zu Harold: »Was hat er mit der Warcat getan?« »Er wird jemanden an Bord gebracht haben, der die Mannschaft kontrolliert, und nun werden sie euch demonstrieren, welch ein Ärgernis Planetenzerstörer sein können, wenn sie dort abgeworfen werden, wo sie nicht abgeworfen werden sollten.« »Also ist Angriff eure Verteidigung? Das Blutvergießen hat begonnen? In diesem Fall hat der Krieg bereits begonnen, und wir verschwenden unsere –« »Es wird kein Blutvergießen geben«, unterbrach Harold. »So infantil sind wir nicht. Nie war ein Blutvergießen ferner – ebensowenig wird es einen Krieg geben, wenn er verhindert werden kann. Deshalb sind wir hier – um ihn zu verhindern. Die Tatsache, daß wir jede Unterwerfungs- und Auslöschungsaktion, die ihr gestartet habt, gewinnen, hat uns nicht blind gemacht gegenüber dem Wissen, daß Verlierer sehr blutig verlieren können.« Mit einer Hand winkte er in Richtung des Fernsehgerätes. »Setzt euch mit euren hinter vernagelten Türen lebenden Bürokraten in Verbindung. Fragt eure Astronomen, ob der Asteroid mit der Tankstation noch immer kreist.« Burkinshaw aktivierte den Fernsehschirm zum drittenmal. Alle Augen hingen an dem Bildschirm, als er sprach. »Wo ist Nemo gerade?« »Nemo? Nun, Eure Exzellenz, in diesem Moment nähert er sich der Bahn des letzten Planeten, Drufa, die er in circa zwanzig Stunden überschritten haben wird.« »Ich frage nicht, wo er sein sollte! Ich möchte wissen, ob er sich tatsächlich dort befindet!«
»Verzeihung, Euer Exzellenz.« Die Gestalt verschwand vom Bildschirm und blieb längere Zeit verschwunden. Als der Mann zurückkam, drang seine Stimme hastig und erschrocken aus dem Lautsprecher. »Eure Exzellenz, es will scheinen, als wäre dem Himmelskörper eine sonderbare Katastrophe widerfahren. Ich kann nicht erklären, warum uns die Wahrnehmung entging –« »Ist er da?« krächzte Burkinshaw ungeduldig. »Ja, Eure Exzellenz. Aber in gasförmigem Zustand. Man ist versucht zu glauben, ein Planetenzerstörer hätte –« »Genug!« Ohne sich den Rest anzuhören schaltete er ab. Er legte sich in seinen Stuhl zurück und brütete, unter vollständiger Mißachtung der Tatsache, daß sein Verstand weit geöffnet war, für einige zumindest, nicht für alle. Er achtete nicht darauf, wer seine Gedanken auffing. Wir können zu spät dran sein. Vielleicht waren wir schon zu spät dran an dem Tag, als Roka zurückkam. Zu guter Letzt sind wir in die Falle getappt, die wir immer so sehr fürchteten, die Falle, der wir entgingen, als wir diese Parasitenwelt zerstäubten. Nichtsdestotrotz können wir Terra noch immer zerstören – sie können unmöglich jede Welt und jedes Schiff übernommen haben – und sie vertilgen. Doch zu welchem Nutzen? Rache ist nur dann süß, wenn sie gewinnbringend ist. Wird es uns einen Gewinn bringen? Es hängt alles davon ab, wie viele dieser Leute sich in unsere Reihen eingeschlichen haben und wie viele sich noch einschleichen können, ehe wir ihre Basis zerstören. Helman dachte: Das ist es! Jeder Narr hätte sagen
können, daß dies früher oder später eintritt. Jede neue Welt ist ein Risiko. Wir waren glücklich genug, viertausend zu erforschen, ohne in Schwierig- keiten zu kommen. Aber das Ende hätte schlechter sein können. Letztlich sind sie von unserer Art und sollten uns wie keiner anderen Form wohlwollend gegenüberstehen. Melor murmelte: »Ihr Haß ist verflogen, und ihre Furcht verwandelt sich in persönliche Besorgnis. Ausgenommen der Purpurne und der Floraner. Der Purpurne, der belustigt war, ist nun zornig. Der Floraner, der interessiert und freundlich war, fürchtet sich nun.« »Das liegt daran, daß wir nicht von ihrer Gestalt sind. Rassenhaß und Haß gegenüber Andersfarbigen sind nichts, verglichen mit dem gegenseitigen Mißtrauen zwischen Wesen verschiedener Gestalt. Da liegt der wunde Punkt des Imperiums. Jede Gestalt wünscht sich die Herrschaft über ihr eigenes Territorium. Soweit es uns betrifft, können sie sie haben«, erklärte Harold. Burkinshaw setzte seine Brille wieder auf, seufzte und sagte: »Da ihr beschlossen habt, das Imperium zu übernehmen, ist unser letztmöglicher Ausweg ein genereller Befehl zur unverzüglichen Vernichtung Terras. Egal, wie viele Schiffe versuchen, die Ausführung dieses Befehls zu verhindern, der Gehorsam eines loyalen Raumers wird genügen.« Seine Hand griff nach dem Einschaltknopf des Fernsehgerätes. »Wir werden euer Imperium nicht übernehmen«, erklärte Harold rasch. »Wir hegen auch nicht diesen Wunsch. Wir sind nur darauf bedacht, daß ihr nicht unsere Welt übernehmt. Alles, was wir wollen, ist ein Pakt gegenseitiger Nichteinmischung in die Belange
des anderen und ein paar Linganer als Botschafter, denen gegenüber, mit denen wir uns einen uns angenehmen Kontakt sichern wollen. Wir wollen unseren eigenen Weg, entlang unseres eigenen Pfades gehen, wir sind festen Willens, dieses Recht zu verteidigen, die gegenwärtige Situation ist unsere Art, das zu zeigen. Nichts weiter. Wenn ihr aus Verärgerung unsere Welt zerstört, werden wir aus Rache eure baufällige Weltenkonstruktion zertrümmern, nicht mit unserer eigenen Kraft, sondern durch gezielte Anwendung der euren. Laßt uns in Frieden, so lassen wir euch in Frieden.« »Wo ist eure Garantie dafür?« fragte Burkinshaw zynisch. »Woher sollen wir wissen, daß nicht ein Jahrhundert heimtückischer Zersetzung diesem Pakt folgt?« Er betrachtete die vier, seine blauen Augen scharfsinnig und berechnend, in einem Maß, wie es zuvor nie aufgefallen war. »Im Umgang mit uns habt ihr einen Vorteil, dessen ihr euch bedienen könnt, den weder Floraner noch Linganer noch Rethraner hatten, ihr kennt uns wie eure eigenen Brüder und Verwandten.« Er beugte sich entschlossen nach vorn. »Genausogut kennen wir euch! Wenn ihr tüchtig und geistig gesund seid, werdet ihr stückchenweise absorbieren, was ihr nicht auf einmal hinunterschlucken könnt. Auf diese Weise erwarben wir das Imperium, und auf diese Weise werdet ihr es bekommen!« »Wir haben bewiesen, daß wir es übernehmen könnten«, stimmte Harold zu, »und das ist unser Schutz. Euer Mißtrauen ist der Maßstab für unseres. Ihr werdet niemals erfahren, wie viele von uns sich in eurem Imperium aufhalten, und ihr werdet es auch
niemals herausfinden – aber die Vernichtung unseres Heimatplaneten wird nicht mehr die Vernichtung unserer Lebensform bedeuten. Dessen haben wir uns versichert. Macht euch klar, daß es in diesem Spiel keinen Gewinner gibt. Es ist ein Patt!« Er betrachtete interessiert, wie Burkinshaws Zeigefinger sachte auf dem Knopf verhielt. »Ihr kommt zu spät, viel zu spät. Wir wollen euer Imperium nicht, denn wir sind in derselben Lage – wir kommen zu spät.« Burkinshaws Augen verengten sich, als er antwortete. »Ich verstehe nicht, warum es zu spät für euch sein sollte, das zu tun, wovon ihr so deutlich bewiesen habt, daß ihr es tun könnt.« »Der Wunsch dazu besteht nicht. Wir haben größere Wünsche. Wohl weil wir einen Weg durch eine selbst erschaffene Hölle gegangen sind, der uns verändert hat und unsere Ambitionen mit uns. Weshalb sollten wir uns um territoriale Eroberungen kümmern, wenn unendlich Größeres uns erwartet? Warum sollten wir in Raumschiffen innerhalb der engen Grenzen einer Galaxie umhertreiben, wenn wir eines Tages ungehindert die Unendlichkeit durchqueren können? Wie, glaubt ihr, wußten wir um euer Kommen und bereiteten uns darauf vor, obwohl wir uns eurer Gestalt und eurer Absichten nicht sicher waren?« »Ich höre«, bemerkte Burkinshaw, dessen Finger noch immer mit dem Einschaltknopf spielten, »aber alles, was ich zu hören bekomme, sind Worte. Ungeachtet der vielen Unterschiede gegenüber uns, die ich anerkenne, halte ich mich an das gute alte Sprichwort: Gleiche Gestalt, gleicher Wille, gleiche Ziele.« Harold sah zu Burt und George. Kurze Zeit exi-
stierte eine Verbindung zwischen ihnen. Dann sagte er: »Viel Zeit ist vergangen, und der kleine Spalt zwischen den Pfaden unserer Väter hat sich zu einer gewaltigen Kluft erweitert. Unsere Veränderungen waren gewaltig und zahlreich. Eine Welt harter Strahlung hat uns neu geformt, hat uns zu dem gemacht, was ihr nicht begreifen könnt, ihr seht uns in einer Erscheinung, die unserer gegenwärtigen Mission angemessen ist.« Ohne Warnung glühten seine Augen in Richtung des Purpurnen. »Selbst diese Kreatur, die von Lebenskraft lebt und die ganze Zeit unaufhörlich an uns gesaugt hat, wäre nun tot, hätte er Erfolg gehabt, und auch nur einen einzigen Strahl dessen eingesogen, um das er so inständig bittet!« Burkinshaw machte sich nicht die Mühe, zu dem purpurnen Ding zu blicken, aber er gestand gelangweilt: »Der Rethran war ein Versuch, der scheiterte. Wäre er von Nutzen gewesen, er hätte euch schon lange.« Er fuhr durch sein dünnes Haar und griff wieder nach dem Einschaltknopf. »Ich bin der sinnlosen Geräusche müde. Ihr offenbart nun, daß ihr nicht mehr von unserer Gestalt seid. Ich bevorzuge es allerdings, mich auf den Eindruck meiner Augen zu verlassen.« Seine Augen suchten das Miniaturzeitaufzeichnungsgerät in einem Ring an seinem Finger. »Wenn ich einschalte, mag es das Ende von uns allen bedeuten, aber ihr könnt keine Kamera hypnotisieren, und die Szene, in diesem Raum aufgezeichnet, wird meiner unausgesprochenen Order – Tod für Terra! – äquivalent sein. Ich habe euch im Verdacht, Zeit schinden zu wollen. Wir können keine Zeit mehr erübrigen. Ich gebe euch nun eine Minute Zeit, um zu beweisen, daß ihr inzwischen ebenso verschieden von
uns seid wie dieser Floraner oder dieser Rethraner oder jener Linganer. Wenn euch das gelingt, werden wir uns dieser Tatsache beugen und eine Vereinbarung treffen, wie ihr sie wünscht. Wenn nicht« – er spielte bedeutungsvoll mit dem Knopf –, »wird die Schlacht beginnen. Vielleicht verlieren wir – vielleicht nicht. Es ist eine Chance, die wir wahrnehmen müssen.« Die drei Terrestrier antworteten nicht. Ihre Gedanken waren in vollkommener Übereinstimmung, und ihre Reaktion erfolgte simultan. »Seht! Oh, Ewigkeit, seht doch!« schluchzte Dykstra. Dann sank er auf seine Knie und begann zu stammeln. Die purpurne Kreatur zog ihre Augen schnurstraks in ihren Kopf, damit sie nichts sehen konnte. Burkinshaws Hand glitt herab von dem Knopf, seine Brille fiel zu Boden, wo sie zersplittert liegenblieb, unbeachtet. Roka, Helman und die anderen Menschen am Tisch verbargen ihre Gesichter in den Händen, die langsam tropische Bräune annahmen. Nur der Floraner richtete sich auf. Er erhob sich zu voller Größe, die goldenen Blütenblätter weit geöffnet, seine grünlichen Arme erschauerten in Ekstase. Alle Blumen lieben die Sonne.
Zeitvertreib Das Raumschiff sank in einem Bogen aus dem goldenen Himmel und landete mit Dröhnen und donnerndem Getöse, es verbrannte in einer Meile Umkreis die üppige Vegetation. Eine weitere halbe Meile weiter draußen wurden die Gewächse schwarz und zerfielen unter dem letzten Flackern der Heckdüsen zu Asche. Die Ankunft war spektakulär, die lohenden Flammen einer vier Spalten breiten Meldung in jeder menschlichen Zeitung wert. Aber die nächste Zeitung war eine beachtliche Spanne eines Menschenlebens entfernt, und hier gab es niemanden, der das in dieser Ecke des Kosmos als belanglos geltende Ereignis zur Kenntnis genommen hätte. So kauerte das Raumschiff müde und still am vorderen Ende der zu Asche verbrannten Spur, der Himmel funkelte herab, und die grüne Welt brütete in stummer Erhabenheit. In der Transpex-Kontrollkuppel saß Steve Andler und überdachte die Dinge. Es war seine Art, sorgfältig über die Dinge nachzudenken. Astronauten waren nicht jene impulsiven Hitzköpfe, zu denen die sensationsliebende Öffentlichkeit sie machte. Das konnten sie sich nicht leisten. Die Risiken des Berufes verlangten von ihnen eine unendliche Kapazität für sorgfältiges, gründliches Nachdenken. Fünf Minuten Überlegung hatten schon manchen vor einem Lungenkollaps, einem Herzversagen oder einem gebrochenen Bein bewahrt. Steve schätzte sein Skelett. Er war nicht eingebildet deswegen, und er hatte keinen Grund anzunehmen, es wäre in irgendeiner Form einem anderen Skelett überlegen. Aber er hatte es
schon seit langer Zeit, fand es noch immer zufriedenstellend und hatte den intensiven Wunsch, es zu behalten – intakt. Deshalb saß er, während die Heckdüsen mit dem üblichen Knirschen abkühlten, im Kontrollsessel und blickte nach draußen, mit Augen, die, wegen der tiefen Inanspruchnahme, doch nichts sahen, und machte sich einige Gedanken. Zuerst hatte er eine grobe Einschätzung gemacht, während er sich dieser Welt näherte. Nach seinen ungefähren Schätzungen, war der Planet etwa zehnmal so groß wie Terra. Aber sein Gewicht schien nicht abnormal. Natürlich geht das Gefühl für das eigene Gewicht irgendwie verloren, wenn man einige Wochen ein zu- und abnehmendes Gewicht, unterbrochen von Perioden der Schwerelosigkeit hat. Die gründlichste Schätzung basiert auf der Reaktion der Muskeln. Wenn man sich träge fühlt, wie ein saturnisches Faultier, dann hat das Gewicht zugenommen. Wenn man sich so kräftig fühlt wie Angus McKittricks Stier, dann hat das Gewicht abgenommen. Das Normalgewicht entsprach also der Masse der Erde, ungeachtet des zehnfachen Volumens des Planeten. Das bedeutete leichte Materie. Und das wiederum bedeutete einen Mangel an schweren Elementen. Kein Thorium. Kein Nickel. Keine NickelThorium-Legierung. Ergo: keine Rückkehr. Der Kingston-Kanesche Atomantrieb benötigte Treibstoff in Form von zehnprozentiger Nickel-ThoriumLegierung, die in Drahtform direkt in die Zerstäuber gegeben wurde. Denaturiertes Plutonium tat es auch, aber das kam nicht natürlich vor, man mußte es herstellen. Er hatte noch ungefähr drei Meter Nickel-
Thorium-Draht vorrätig. Nicht genug. Er war für immer hier. Eine wunderbare Sache, die Logik. Du kannst von der simplen Voraussetzung ausgehen, daß dein Hinterteil beim Sitzen nicht flacher ist als sonst auch, und dich zu der unausweichlichen Erkenntnis, kein Reisender mehr zu sein, hocharbeiten. Du bist ein Eingeborener geworden. Die Vorhersehung fand dich geeignet, der erste Ureinwohner zu werden. Steve zog ein häßliches Gesicht und sagte: »Verdammt!« Dazu mußte er sich nicht besonders anstrengen. Die Natur hatte besagter Visage eine ausgezeichnete Grundlage gegeben. Das muß gesagt werden, sie war nicht sehr ansehnlich. Es war ein langes, mageres, nußbraunes Gesicht mit ausgeprägten Kiefermuskeln, vorstehenden Wangenknochen und einer dünnen, krummen Nase. Dies, verbunden mit seinen dunklen Augen und dem schwarzen Haar, verlieh ihm ein raubvogelähnliches Aussehen. Seine Freunde sprachen zu ihm von Wigwams und Tomahawks, wann immer sie ihm ein häusliches Gefühl geben wollten. Nun, er würde nie mehr ein häusliches Gefühl haben; es sei denn, dieser brütende Dschungel beheimatete eine intelligente Lebensform, dämlich genug, um zehnprozentiges Nickel-Thorium gegen ein Paar alter Stiefel einzutauschen. Oder aber eine dämliche Suchtruppe war intelligent genug, um dieses kosmische Staubklümpchen aus einer Wolke anderer Staubklümpchen herauszufinden und ihn heimzubringen. Er schätzte diese Chance nicht größer als eins zu einer Million. Wie auf das Empire State Building zu spucken, in der Hoffnung, eine pfenniggroße
Markierung an einer der Wände zu treffen. Er griff nach seinem Permanentstift und dem Bordbuch, wobei er gedankenverloren einige Eintragungen überflog. Achtzehnter Tag: Das Raumbeben hat mich jetzt aus dem Einflußbereich des Rigel herausgeschleudert. Bin in unerforschte Regionen abgekommen. Vierundzwanzigster Tag. Zentrum des Bebens nun sieben Tage zurück. Der Robot Registrator ist außer Betrieb. Der Abstoßwinkel hat sich heute siebenmal verändert. Neunundzwanzigster Tag: Inzwischen jenseits des Bebenzentrums, gewinne die Kontrolle zurück. Geschwindigkeit noch immer oberhalb der Erfassungsgrenze des Astrometers. Versuche vorsichtig die Bremsraketen einzusetzen. Treibstoffreserve: tausendzwohundertachtzig Meter. Siebenunddreißigster Tag: Versuche ein gerade geortetes Sonnensystem zu erreichen. Er runzelte die Stirn, seine Kiefer mahlten, er schrieb langsam und deutlich: Neununddreißigster Tag: Auf unbekanntem Planeten gelandet, elementare Grundlagen unbekannt, Galaktische Flächenbezugslinie und Sektorennummer unbekannt. Unmittelbar vor der Landung waren keine bekannten Sternbilder zu identifizieren. Eintauchwinkel und Durchgangsgeschwindigkeit nicht registriert und unmöglich zu schätzen. Zustand des Schiffes: einsatzbereit. Treibstoffreserve: Zwohundertsiebenundneunzig Zentimeter. Er schloß das Bordbuch, runzelte erneut die Stirn, rammte den Stift zurück in seine Halterung und murmelte: »Jetzt die Außenatmosphäre abchecken und dann nachsehen, was das hübscheste Mädchen heute macht.« Die Radonsche Registriervorrichtung hatte drei
simple Skalen. Die erste ermittelte den Außendruck zu 13,7 Pfund, ein Wert, den er mit Befriedigung zur Kenntnis nahm. Die zweite gab einen hohen Sauerstoffgehalt an. Die dritte hatte eine zweifarbige Scheibe, halb weiß, halb rot, die Nadel stand in der Mitte des weißen Sektors. »Atembar«, grunzte er und klappte den Deckel des Gerätes herunter. Er durchquerte den kleinen Kontrollraum und glitt hinter eine Metalltafel, um in die gepolsterte Kammer dahinter zu blicken. »Kommst du heraus, meine Schöne?« fragte er. »Liebt Steve Laura?« fragte eine wehleidige Stimme. »Das kannst du annehmen, daß er das tut!« antwortete er leidenschaftlich. Er schob einen Arm in die Kammer und brachte einen buntschillernden Ara zum Vorschein. »Liebt Laura Steve auch?« »Hehe!« gackerte Laura rauh. Der Vogel kletterte seinen Arm hoch und blieb auf seiner Schulter sitzen. Er konnte den Griff der starken Klauen fühlen. Er betrachtete ihn mit einem glänzenden und funkelnden Auge, dann rieb er seinen karmesinroten Kopf an Steves linkem Ohr. »Hehe! Zeit fliegt!« »Erwähn' das nicht«, antwortete er. »Es gibt genügend, das mich an diese Tatsache erinnert, auch ohne dein Geschwätz.« Er griff hoch und streichelte ihren Hinterkopf, wobei sie sich mit alberner Wonne streckte und verbeugte. Er war vernarrt in Laura. Sie war mehr als ein Schoßtierchen. Sie war ein vollgültiges Besatzungsmitglied, hatte ihre eigenen Aufgaben und steuerte ihren Teil bei. Jedes Aufklärungsschiff hatte zwei Besatzungsmitglieder: Einen Mann und einen Ara. Als
er das erstemal davon gehört hatte, war ihm das verrückt erschienen – als er die Gründe erfuhr, erkannte er den Sinn. »Einsame Männer, die die äußersten Regionen der Raumkarten erkunden, haben die merkwürdigsten psychologischen Probleme. Sie benötigen einen Anker, der sie mit der Erde verbindet. Ein Ara leistet die nötige Gesellschaft – und mehr! Es ist der raumtauglichste Vogel, den wir haben, sein Gewicht ist kaum erwähnenswert, er kann reden, unterhalten, er kann für sich selbst sorgen, wenn nötig. An Land spürt er oftmals Gefahren, bevor Sie sie erkennen. Jede fremde Frucht oder Nahrung, die er zu sich nimmt, ist gefahrlos für Sie. Schon viele Aras haben ihren Herren das Leben gerettet. Kümmern Sie sich um den Ihren, mein Junge, dann wird er sich auch um Sie kümmern!« Ja, sie kümmerten sich umeinander, beide Terrestrier. Es war eine Symbiose des Raumfahrtzeitalters. Vor der Ära der Astronavigation hatte niemand an eine solche Verbindung auch nur im entferntesten gedacht, obwohl ähnliches schon vorher bekannt war. Bergarbeiter und ihre Kanarienvögel zum Beispiel. In der winzigen Luftschleuse war es nicht nötig, die Pumpe einzuschalten. Durch den geringen Unterschied zwischen Innen- und Außendruck erübrigte sich das. Er öffnete beide Türen und ließ ein wenig von seiner unter höherem Druck stehenden Luft entweichen, vom Rand der Kabine sprang er hinunter. Laura flatterte von seiner Schulter, als er sprang, folgte ihm mit hastigen Flügelschlägen und packte mit ihren Krallen seine Jacke, als er sich unsicher aufrichtete.
Das Paar umkreiste das Schiff und untersuchte schweigend seinen Zustand. Frontbremsdüsen okay, hintere Steuerruder okay, Heckentriebsdüsen okay. Alles war übel zugerichtet, aber noch immer gebrauchsfähig. Die Außenhülle des Schiffes war ebenso zerschrammt, aber unversehrt. Ein Dreimonatsvorrat an Nahrung und vielleicht neunhundert Meter Draht, und sie könnten nach Hause fliegen – theoretisch. Aber nur theoretisch. Steve gab sich diesbezüglich keinen Täuschungen hin. Die Umstände waren gegen ihn, selbst wenn er Treibstoff bekommen sollte. Wie navigiert man von Ich-weiß-nicht-Wo nach Ichweiß-nicht-Wo? Anwort: Du vertraust einer Hasenpfote und kommst vielleicht in Ich-weiß-immer-nochnicht-Wo an. »Nun«, sagte er und umrundete das Heck. »Es ist etwas, um darin zu leben. Es bewahrt uns davor, eine Hütte bauen zu müssen. Daheim aufs Terra zahlen sie fünfzigtausend Mäuse, um einen metallenen, stromlinienförmigen Bungalow zu bekommen, da sind wir schon ganz schön glücklich dran. Ich werde hier einen Garten anlegen und dort einen Steingarten und dahinter einen Swimmingpool. Du wirst eine hübsche Schürze bekommen und für uns kochen.« »Hehe!« sagte Laura spöttisch. Wenn er sich umdrehte, konnte er einen Blick auf die nächstgelegene Vegetation werfen. Diese hatte alle Höhen, Formen und Größen, alle Farbschattierungen von Grün bis hin zu einem leichten Blauton. Es war etwas Auffälliges mit dem Gestrüpp, doch war er nicht in der Lage, zu sagen, was so merkwürdig wirkte. Es lag nicht daran, daß die Gewächse fremd-
artig und ungewohnt waren – das war auf jeder neuen Welt der Fall –, sondern an einem grundlegenden Etwas, das sie alle teilten. Sie waren umgeben von einem Hauch, nicht ganz richtig zu sein, ein allgegenwärtiges Gefühl, das nicht zu erklären war. Direkt zu seinen Füßen wuchs eine Pflanze. Sie war von grüner Farbe, zirka dreißig Zentimeter hoch und einkeimblättrig. Als einzelne Pflanze an sich betrachtet, war nichts Ungewöhnliches festzustellen. In ihrer Nähe blühte ein Busch von etwas dunklerer Färbung, etwa neunzig Zentimeter hoch, mit grünen, föhrenähnlichen Nadeln anstelle von Blättern und hellen, wächsernen Beeren, die sich über alle Äste verteilten. Auch das war unauffällig genug, wenn man es unabhängig von den Nachbarpflanzen betrachtete. An seiner Seite wuchs eine ähnliche Pflanze, der einzige Unterschied bestand in der Länge der Nadeln, diese waren länger, und in der Farbe der Beeren, die von einem hellen Rosa waren. Hinter diesen ragte ein kaktusähnliches Gewächs auf, das den trunkenen Träumen eines Säufers entnommen schien, und daneben wuchs ein regenschirmartiges Gerippe, das Wurzeln geschlagen hatte und kleine, purpurne Hülsen trieb. Einzeln gesehen waren sie akzeptabel. Im Kollektiv aber suchte der kritische Verstand sofort angestrengt nach etwas Unbekanntem. Dieses unheimliche Hauptmerkmal verblüffte Steve. Was auch immer es war, es gelang ihm nicht, es festzunageln. Da war etwas seltsameres als die übliche Seltsamkeit neuer Formen pflanzlichen Lebens, das war alles. Er verdrängte das Problem mit einem Achselzucken. Er hatte noch Zeit genug, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wenn er sich um die
dringlicheren Probleme, wie etwa das Auffinden der nächsten Wasserstelle und die Reinheit des Wassers, gekümmert hatte. Etwa eine Meile entfernt lag ein See mit einer Flüssigkeit, die Wasser sein konnte. Bei der Landung hatte er die Oberfläche im Sonnenlicht glitzern sehen und sich bemüht, so nahe wie möglich zu landen. Wenn es kein Wasser war, nun, dann war es eben sein Pech, und er mußte anderswo suchen. Im schlimmsten Fall mußte der winzige Treibstoffvorrat eben noch für eine Umkreisung des Planeten aufgebraucht werden, bevor das Schiff für immer festsaß. Wasser mußte er unbedingt haben, wenn er nicht als eine Imitation der Mumie Ramses' des Zweiten enden wollte. Er griff nach oben, umklammerte den Rand der Einstiegsluke und zog sich gewandt hoch und hinein. Einen Augenblick suchte er im Innern des Schiffes herum, schließlich erschien er wieder, mit einer zwanzig Liter fassenden Gefrierkanne, die er hinunterwarf. Dann nahm er seine Knallbüchse, einen Gürtel mit Explosivgeschossen und ließ die Klappleiter zur Oberfläche herunter. Er würde sie brauchen. Zwar konnte er sich mit etwas Muskelschmalz die paar Meter hochziehen, aber nicht mit einer fünfzig Pfund schweren Last auf dem Rücken. Schließlich versperrte er sowohl die innere als auch die äußere Luftschleuse, kletterte die Leiter hinunter und schnappte sich die Kanne. Nach der Art, wie er seine Landung gemacht hatte, mußte der See sich direkt vor dem Bug des Raumschiffes befinden, irgendwo jenseits dieser fernen Bäume. Laura erneuerte ihren Griff um seine Schulter, als er losmar-
schierte. Die Kanne schwang an seiner linken Hand. Seine rechte Hand ruhte vorsichtig auf dem Gewehr. Trotz seiner miesen Situation fühlte er sich einigermaßen sicher, und das aus zwei Gründen: Seine Hand lag bereit auf der Waffe, und es war die nervöseste Hand, die er hatte. Das Vorankommen war anstrengend. Das lag nicht primär daran, daß das Gelände besonders uneben gewesen wäre, sondern daran, daß die Pflanzen ein Hindernis auf seinem Weg darstellten. Im einen Moment ging er über ein knöchelhohes Gestrüpp, um sich als nächstes einem knorrigen Buschwerk gegenüberzusehen, das sich bemühte, ein Baum zu werden. Hinter dieser Pflanze würde wahrscheinlich eine Schlingpflanze kommen, gefolgt von Dornengestrüpp, einem feinen Moosteppich und weiter gewaltige Farne. Seine Fortbewegung bestand darin, über ein Exemplar hinwegzusteigen, sich unter einem weiteren zu ducken, ein drittes zu umgehen und unter einem vierten hindurchzukriechen. Zu spät fiel ihm nun ein, daß er sich all diese Verrenkungen hätte sparen können, wenn er das Schiff mit dem Heck zum See hin gelandet hätte anstatt bugwärts, oder wenn er die Bremsraketen nach der Landung noch einmal hätte aufflammen lassen. All dieses behindernde Gestrüpp wäre, auf halbe Entfernung zum Wasserloch, zu Asche verbrannt worden – zusammen mit jeglicher Form giftigen Getiers, die es beheimaten mochte. Der letzte Gedanke klingelte wie ein Alarmsignal in seinem Kopf, da er gerade dabei war, eine tiefhängende Liane zu umgehen. Auf der Venus gab es
Pflanzen, die sich winden und zupacken konnten, schnell und tödlich. Die Aras vollführten einen Höllenlärm, wenn man sie auch nur auf vierzig Meter an eine solche Pflanze heranbrachte. Es war beruhigend zu sehen, wie Laura vollkommen ruhig auf seiner Schulter saß – trotzdem behielt er den Finger am Abzug. Die undefinierbare Besonderheit der planetaren Vegetation kam ihm, nun, da er sie durchdringen mußte, nur noch stärker zu Bewußtsein. Seine Unfähigkeit, diese namenlose Merkwürdigkeit zu entdekken und zu benennen, nagte an ihm, als er weiterging. Ein selbstentrüstetes Stirnrunzeln erschien auf seinem langen Gesicht, als er sich von einem struppigen, klebenden Busch losriß und auf einen Stein innerhalb einer kleinen Lichtung setzte. Er stellte die Kanne zu seinen Füßen ab und erhaschte prompt einen Blick auf etwas Helles und Schimmerndes wenige Zentimeter von der Kanne entfernt. Er schaute genauer hin. Da sah er den Käfer. Der Käfer war der Größte seiner Art, den je ein Mensch zu Gesicht bekommen hatte. Es gab größere Dinge, selbstverständlich, aber nicht von dieser Gattung. Krebse, zum Beispiel. Aber das war kein Krebs. Der Käfer, der da behutsam über die Lichtung kroch, hätte jedem Krebs einen Minderwertigkeitskomplex verschafft; es war ein hübscher vierundzwanzigkarätiger Käfer. Er war wunderschön. Wie ein Skarabäus. Bis auf den Glauben, daß kleine Insekten gefährlich waren und große dagegen harmlos, plagte Steve keine Insektenphobie. Die Harmlosigkeit größerer Exemplare war einer Erinnerung an seine Schulzeit zuzuschreiben, als er einmal einen acht Zentimeter gro-
ßen Hirschkäfer großgezogen hatte; er hatte ihn damals Edgar genannt. Daher kniete er sich neben den krabbelnden Giganten und stellte ihm seine Handfläche in den Weg. Der Käfer erkundete seine Hand mit zitternden Fühlern, erklomm dann seine Handfläche und verharrte dort nachdenklich. Er funkelte mit einem Hauch metallischen Blaus und wog fast drei Pfund. Er hielt ihn in der Hand, um sein Gewicht zu prüfen, dann setzte er ihn auf den Boden und ließ ihn weiterkriechen. Laura betrachtete seine Gestalt mit einem wachsamen, aber uninteressierten Auge. »Scarabäus Anderii«, sagte Steve mit finsterer Zufriedenheit. »Ich verleihe ihm meinen Namen, aber niemand wird es jemals erfahren!« »Duda ärg're di' net!« schrie Laura mit heiserer Stimme, direkt importiert von Aberdeen. »Duda ärg're! Hör auf mit'm bäten, Weibsbild! S'ist Schmärz g'nug hinta m'am Härz! Duda –« »Sei still!« Steve hob die Schulter, wodurch der Vogel momentan aus dem Gleichgewicht kam. »Warum lernst du diesen barbarischen Dialekt nur schneller als alles andere, he?« »McGillicuddy«, kreischte Laura mit ohrenbetäubender Lautstärke. »McGilli-Gilli-Gillicuddy! Der große schwarze –!« Sie endete mit einem Schimpfwort, bei dessen Klang sich Steves Augenbrauen sträubten; selbst der Vogel schien überrascht. Erstaunt blinzelnd verstärkte der Ara seinen Griff um Steves Schultern, öffnete die Augen wieder, stieß eine Reihe glucksender Laute aus und wiederholte seine Worte mit offensichtlicher Wonne: »Der große schwarze –«
Sie bekam keine Gelegenheit, das neugelernte, wunderschöne Wort noch einmal auszusprechen. Ein heftiger Stoß der Schulter warf sie gerade zur rechten Zeit ab, und protestierend krächzend flatterte sie zum Boden. Scarabäus Anderii kroch hinter einem Busch hervor, sein blauer Panzer glänzte, als wäre er frisch poliert, und er sah Laura vorwurfsvoll an. Dann stieß ein Etwas, zirka fünfzig Meter entfernt, einen Schrei aus, der wie die Trompete des Jüngsten Gerichtes klang, und machte einen Schritt, der die Erde erzittern ließ. Scarabäus Anderii suchte Schutz unter einer hervorstehenden Wurzel. Laura flatterte unverzüglich zu Steves Schulter, wo sie sich verzweifelt festklammerte. Steve hatte seine Waffe gezückt und nach Norden gerichtet, noch ehe der Vogel seine Schulter erreicht hatte. Ein weiterer Schritt. Der Boden erzitterte. Eine Weile herrschte Stille. Steve stand wie eine Statue. Dann ertönte ein monströses Pfeifen, lauter als das einer Lokomotive, die Dampf abläßt. Etwas Gedrungenes, Breites von unglaublicher Länge walzte die Vegetation, die es halb verborgen hatte, nieder, die Erde erzitterte unter seinem Gewicht. Sein unsinniger Vorstoß brachte die Kreatur bis auf zwanzig Meter an Steves Rechte, das Gewehr schwang herum, um dem Wesen zu folgen, doch er feuerte nicht. Steve erhaschte einen Blick auf den schiefergrauen Giganten, dessen Rücken ein gezackter Kamm zierte. Ungeachtet der Gangart des Dinges brauchte es lange, bis es vorbei war. Es schien die mehrfache Länge einer Feuerleiter zu haben. Büsche wurden ausgerissen, die Wurzeln nach
oben, kleinere Bäume zerbrachen, als die Kreatur ihren Weg grimmig fortsetzte, in einer direkten Richtung, die sie weit an dem Schiff vorbeiführte, in die Ferne. Sie ließ eine plattgewalzte Schneise zurück, die eine erstklassige Straße abgegeben hätte. Dann erstarben die Geräusche ihres mächtigen Körpers, und sie war verschwunden. Mit der linken Hand zog Steve ein Taschentuch aus seiner Tasche und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Er behielt das Gewehr in der rechten Hand. Die Explosivgeschosse in dieser Waffe waren etwas Teuflisches; jedes einzelne hätte die Fleischmassen eines Rhinozerosses mit einem Gewicht von zweihundert Pfund töten können. Wenn ein Mensch eines abbekam, dann konnte ihn das von der Erdoberfläche fegen. Aber dem Aussehen des schieferfarbenen Tieres nach zu urteilen, benötigte man ein halbes Dutzend, um es überhaupt zu stören. Eine Fünfundsiebzig-Millimeter-Bazooka wäre da schon eher geeignet, ihm eins zu verpassen, aber die Jungs von den Erkundungsschiffen sind nun mal nicht mit einer solchen Artillerie ausgestattet. Steve beendete sein Wischen, steckte das Taschentuch wieder ein und nahm die Kanne auf. Laura sagte tiefsinnig: »Ich will zu meiner Mama.« Er runzelte die Stirn, und ohne zu antworten, setzte er seinen Weg zum See fort. Das Gefieder noch immer gesträubt, saß Laura auf seiner Schulter und verharrte in Schweigen. Das Zeug im See war Wasser, kühl, von leicht grüner Farbe und etwas bitter im Geschmack. Kaffee würde den Geschmack verbergen. Wenn überhaupt, dann würde es den Geschmack des Kaffees nur ver-
bessern, denn er mochte das leicht Bittere, aber trotzdem mußte es untersucht werden, ehe er es in größeren Mengen zu sich nahm. Einige Gifte reicherten sich im Körper an. Es würde nichts bringen, unmäßig zu trinken und damit eine tödliche Dosis anzusammeln. Er füllte die Gefrierkanne und schleppte sie in Hundertmetersprüngen zum Schiff zurück. Die Schneise half ihm; sie bildete eine leicht begehbare Spur bis nahe an das Schiff. Als er den Fuß der Leiter erreichte, schwitzte er heftig. Im Innern seines Raumschiffes verschloß er beide Türen wieder, öffnete die Luftventile, schaltete die Zusatzbeleuchtung ein und füllte den Peroklator. Der goldene Himmel hatte sich zu einem dunklen Orange verfärbt, violette Streifen flammten vom Horizont empor. Er sah durch die Transplexkuppel und fand, daß der ständig wechselnde Dunst effektvoll den Sonnenuntergang unterstrich. Die Position der Sonne wurde lediglich durch einen etwas helleren Fleck auf einer Seite angezeigt. Bald würde er die Hauptbeleuchtung einschalten müssen. Er zog einen versenkbaren Tisch heraus, stabilisierte diesen mit dem dazugehörigen abklappbaren Fuß und befestigte an seinem Rand den kurzen Stab, der Lauras offiziellen Sitz darstellte. Sie erklomm die Sitzstange unverzüglich und beobachtete genau, wie er ihre Mahlzeit, bestehend aus Wassermelonensamen, Sonnenblumenkernen, Leinsamen und ungeschälten ölhaltigen Nüssen, zusammenstellte. Ihr Benehmen war alles andere als ladylike, denn sie begann sofort zu futtern, ohne auf ihn zu warten. Ein finsterer Ausdruck lag über seinen braunen, muskulösen Zügen, als er am Tisch saß, seinen Kaffee
eingoß und zu essen begann. Er blieb während des ganzen Essens und war noch immer vorhanden, als er sich schließlich eine Zigarette anzündete und abwägend durch die Kuppel hinaussah. Gleich darauf murmelte er: »Ich habe den größten Käfer gesehen, der je existierte. Ich habe auch andere Insekten gesehen. Es waren einige unter einer Schlingpflanze. Eines war lang und braun, hatte viele Füße, wie ein Ohrwurm. Ein anderes war rund und schwarz, mit kleinen roten Punkten auf seinen Flügeln. Ich habe auch eine kleine purpurrote Spinne gesehen und eine noch kleinere grüne von etwas anderer Form, ebenfalls eine Wanze, die wie ein Aphis aussah. Aber keine Ameise.« »Ameise, Ameise«, krächzte Laura. Sie ließ ein Stück der Nuß fallen und kletterte hinterher. »Oiink!« fügte sie vom Fußboden aus hinzu. »Auch keine Biene.« »Biene«, echote Laura freundschaftlich. »Bienenameise. Laura liebt Steve.« Noch immer zur Kuppel hinausblickend, fuhr er fort: »Und das, was mit den Pflanzen faul ist, ist auch so bei den Tieren. Wenn ich es nur einordnen könnte. Warum gelingt mir das nicht? Vielleicht schnappe ich über.« »Laura schnappt gern nach Nüssen.« »Ich weiß, du Technicolorseiltänzer!« sagte Steve herzlich. In diesem Augenblick fiel die Nacht mit unvermittelter Heftigkeit herein. Das Gold und Orange wurden übergangslos von tiefer, undurchdringlicher Schwärze verdrängt, ohne einen Stern und ohne gelegentliches Aufblitzen. Vom
Schimmer der grünen Lichter am Kontrollpult abgesehen, war die Kuppel nun finster, in der Dunkelheit konnte er Lauras ununterbrochenes Fluchen hören. Mit einer Hand schaltete Steve die indirekte Beleuchtung ein. Laura kletterte wieder zu ihrer Stange, in ihrem Schnabel den wiedergefundenen Leckerbissen, konzentrierte sich auf dessen Verzehr und ließ ihn erneut seinen Gedanken nachhängen. »Scarabäus Anderii und ein paar kleinerer Insekten sowie einige Spinnen, alle verschieden. Am anderen Ende der Skala dieser Gigantosaurus. Aber keine Ameise oder Biene. Oder besser: keine Ameisen und keine Bienen.« Der Wechsel von der Einzahl zum Plural sträubte ihm die Nackenhaare. Irgendwie war er an den Kern des Rätsels gestoßen. Keine Ameise – keine Ameisen, dachte er. Keine Biene – keine Bienen. Fast hätte er es gehabt – aber es entglitt ihm wieder. Er gab das Grübeln vorerst einmal auf, räumte den Tisch ab und erledigte einige weniger wichtige Hausarbeiten. Danach entnahm er der Gefrierkanne eine bestimmte Menge Wasser und begann mit den Analysen. Den bitteren Geschmack identifizierte er als Magnesiumsulfat, die Menge war jedoch viel zu gering, um Besorgnis zu erwecken. Trinkbar – das war schon was! Nahrung, Wasser und ein Dach über dem Kopf, das waren die drei Grundlagen des Überlebens. Ersteres hatte er genug für sechs oder sieben Wochen. Der See und das Schiff waren seine zusätzlichen Lebensversicherungen. Er nahm das Bordbuch und trug die jüngsten Ereignisse ein, schlicht und den Tatsachen entsprechend, ohne Ausschmückungen. Er fand es übertrie-
ben, den Planeten nach sich zu benennen. Ander, entschied er sich, würde ihn teuer zu stehen kommen, wenn die Eins-zu-einer-Million-Chance ihn wieder zu den gnadenlosen Spielgefährten des Erkundungsteams bringen würde. Gut genug für einen Käfer, aber nicht für eine Welt. Laura war auch nicht besonders gelungen – besonders, wenn man Laura kannte. Es wäre nicht schicklich, einen großen goldenen Planeten nach einem übergroßen Papagei zu benennen. Beim Nachdenken über den goldenen Schimmer des Himmels dieser Welt fiel ihm Oro ein, und sofort trug er diese Taufe ins Bordbuch ein. Als er damit fertig war, hatte Laura ihren Kopf schon tief unter ihren Flügeln verborgen. Gelegentlich schwankte sie etwas, richtete sich aber immer wieder auf. Es faszinierte ihn immer wieder, wie sie die Balance selbst im Schlaf noch halten konnte. Er beobachtete sie liebevoll, und dabei fiel ihm die unausgesprochene Erweiterung ihres Vokabulars ein. Dadurch schweiften seine Gedanken ab zu einem hitzköpfigen und scharfzüngigen Individuum namens Menzies, dem verschworenen Widersacher eines anderen brodelnden Vulkans mit Namen McGillicuddy. Wenn sich jemals die Gelegenheit dazu bieten würde, dachte er, würde er die Sprachausbildung besagten Menzies' mit einem Schlag auf die Schnauze belohnen. Seufzend legte er das Bordbuch beiseite, zog das Vierzig-Tage-Chronometer auf, entfaltete sein Klappbett und legte sich darauf. Seine Hand löschte das Licht. Noch vor zehn Jahren wäre er angesichts einer Erstlandung die ganze Nacht über wach geblieben, vor Freude ganz aus dem Häuschen. Aber aus diesem
Alter war er heraus. Er hatte das oft genug getan, um sich daran zu gewöhnen. Seine Augen schlossen sich in Erwartung einer angenehmen Nachtruhe, und er schlief auch gut – zwei Stunden lang. Was ihn schließlich nach dieser kurzen Zeit wieder aus dem Schlaf riß, das wußte er nicht, aber plötzlich fand er sich auf der Bettkante sitzend, Ohren und Nerven aufs äußerste angespannt, seine Beine zitterten, wie sie das noch niemals zuvor getan hatten. Sein Körper erschauerte unter der seltsamen Mischung aus Herzklopfen und Schock, die einer knappen Errettung vor dem Untergang folgt. Dies war etwas, das sich nicht mit früheren Erfahrungen vergleichen ließ. Ruhig und sicher suchte und fand seine Hand in der undurchdringlichen Dunkelheit seine Waffe. Er spürte den Kolben in seiner Handfläche, während sein Verstand sich bemühte, einen eventuellen Alptraum in Erinnerung zu rufen, doch er wußte, er litt nicht unter Alpträumen. Laura schaukelte unruhig auf der Stange hin und her, in einem Zustand des Halbschlafs, den er an ihr nicht gewohnt war. Er verwarf die Traumtheorie und stand von seiner Koje auf, um durch die Kuppel zu blicken. Schwärze, die tiefste, dunkelste und undurchdringlichste Schwärze, die man sich nur vorstellen konnte. Und Stille! Die Welt dort draußen schlummerte in dieser Schwärze und Stille wie unter einem schwarzen Leichentuch. Noch niemals zuvor hatte er sich in seiner üblichen Schlafperiode so hellwach gefühlt. Verwirrt drehte er sich langsam um sich selbst, um die gesamte unsicht-
bare Umgebung in sich aufzunehmen, und an einem Punkt ließ er seinen Blick verweilen. Die ihn umgebende Dunkelheit war nicht vollständig. In einiger Entfernung hinter dem Heck des Schiffes bewegte sich ein schwaches, gleichmäßiges Glühen. Wie groß die Entfernung war, ließ sich nicht schätzen, aber der Anblick wühlte seine Seele auf, und sein Herz schlug wie wild. Er erlaubte seinen unkontrollierten Emotionen nicht, seinen disziplinierten Verstand zu verdrängen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Natur des Glühens herauszufinden, während sein Verstand bemüht war, dahinterzukommen, warum der Anblick ihn wie eine Harfensaite erzittern ließ. Er griff nach unten, fand am oberen Bettrand einen kleinen Lederkoffer und holte ein kräftiges Nachtfernglas hervor. Das Glühen bewegte sich noch immer langsam, fast unmerklich von links nach rechts. Er richtete das Fernglas darauf, fokussierte die Linsen, und daraufhin schien das Phänomen plötzlich wesentlich näher zu sein. Das Ding war eine große Säule goldenen Dunstes; es erinnerte stark an den nachmittäglichen Himmel, bis auf diese winzigen silbernen Lichtblitze, die darin aufleuchteten. Es war ein Speer aus glänzendem Nebel mit funkelnden kleinen Sternen. Es war ein Anblick, der üblicherweise nur den Göttern vorbehalten ist. Aber war es Leben? Es bewegte sich, auch wenn die Art der Fortbewegung nicht ersichtlich war. Selbstmotivation ist ein primäres Symptom des Lebens. Es könnte Leben sein, möglich, wenn auch vom menschlichen Standpunkt aus schwer zu glauben. Bewußt sah er es als eine selt-
same, ausschließlich lokale Erscheinung, vergleichbar mit den Sandteufeln der Sahara. Unbewußt war ihm klar, daß es sich um Leben handelte, gewaltig und erschreckend. Er hielt das Fernglas darauf gerichtet, während es langsam in der Ferne verschwand; mit zunehmender Entfernung immer kleiner werdend, glitt es aus seinem Sichtbereich. Schließlich zitterte sein Wahrnehmungsfeld und verlagerte sich, da er nicht mehr in der Lage war, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Und als der Lichtschein endlich verschwunden war und nur ein Trugbild in den Linsen schimmerte, da setzte er sich nieder auf seine Pritsche und fröstelte unter furchtsamer Kälte. Laura schwankte hin und her auf ihrer Stange, inzwischen ebenfalls völlig wach und beunruhigt, aber er war nicht gewillt, das Licht einzuschalten, um die Kuppel zu einem Fanal in der Nacht zu machen. Er streckte seine Hand aus und tastete nach ihr in der Dunkelheit, und sie klammerte sich schutzsuchend um sein Handgelenk und kuschelte sich dann in seinen Schoß. Sie war aufgeregt und gefühlvoll, auf rührende Weise um Zärtlichkeit und Freundschaftsbezeugungen bemüht. Er streichelte ihr Gefieder und liebkoste sie, während sie sich eng an seine Brust drückte und dabei komische, summende Geräusche von sich gab. Eine gewisse Zeitlang besänftigte er sie, und dabei schlief er wieder ein. Unbewußt fiel er nach hinten auf sein Lager. Laura saß auf seinem Unterarm, gluckste ermüdet und verbarg ihren Kopf unter einem Flügel. Er erwachte erst wieder, als die Schwärze verschwand, um wieder der goldenen Helligkeit Platz zu
schaffen, die durch die Kuppel hereindrang. Steve erhob sich und stellte sich auf die Pritsche, von der er einen guten Überblick über das umliegende Terrain hatte. Es sah noch immer genauso aus wie am Tag zuvor. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, während er sein Frühstück einnahm. Besonders erinnerte er sich an die Unruhe, die er im Lauf der Nacht verspürt hatte. Auch Laura schien überwältigt und war stumm. Nur ein einzigesmal zuvor hatte er sie so gesehen – als er mit ihr durch die venusische Sektion des panplanetaren Zoos geschlendert war und ihr dort einen großen Helmadler gezeigt hatte. Der Adler hatte sie mit verächtlicher Erhabenheit angesehen. Obwohl er die ganze Zeitspanne seines Lebens zur Verfügung hatte, verspürte er plötzlich den übermächtigen Drang sich zu beeilen. Mit seinem Gewehr und der Gefrierkanne bewaffnet, unternahm er ein volles Dutzend Streifzüge zum See, er verschwendete keine Minute für die Betrachtung der stillen, rätselhaften Pflanzenwelt und der Insekten. Es war schon später Nachmittag, als er endlich den Zweihundertlitertank des Schiffes gefüllt hatte, mit der Befriedigung, nun ausreichend Flüssigkeit zu haben, um sein Essen erträglicher zu gestalten. Er hatte keinerlei Anzeichen eines Gigantosaurus oder anderer Tiere bemerkt. Nur einmal hatte er etwas in sehr großer Entfernung fliegen gesehen, vogeloder fledermausähnlich. Laura hatte ein scharfes Auge darauf geworfen, aber keinerlei weiteres Interesse bekundet. Momentan war sie viel mehr mit einer neuen Frucht beschäftigt. Steve saß am Rand der äußeren Schleuse und ließ die Beine hinunterbaumeln; er beobachtete den Ara, der an einem etwa dreißig
Meter entfernten kleinen Baum herumturnte. Das Gewehr lag in seinem Schoß, er war bereit, jedem eine zu verpassen, der Laura eine verpassen wollte. Der Vogel sammelte die Früchte des Baumes ein, eine Feldfrucht, ähnlich einer Kokosnuß, aber mit einer blauen Schale. Sie aß eine mit Genuß und grabschte sich sofort die nächste. Steve lehnte sich zurück in die Schleuse, griff nach einem Beutel und sprang dann hinunter auf den Boden, um zum Baum zu gehen. Er probierte eine der Früchte. Das Fleisch war weich, fruchtig, süß und zitronenähnlich. Er füllte den Beutel mit den Früchten und trug ihn zum Schiff. In der Nähe stand ein weiterer Baum, nicht exakt der gleiche aber sehr ähnlich. Er trug Früchte wie der andere, nur daß diese größer waren. Er pflückte eine der Nüsse und gab sie Laura, die sie probierte und sofort voller Abscheu wieder ausspie. Er pflückte eine zweite und kostete vorsichtig das Fruchtfleisch. Soweit er das entscheiden konnte, war es die gleiche. Offensichtlich konnte er sich auf sein Urteil nicht verlassen. Lauras Diagnose ergab, daß es eben nicht die gleiche war. Der Unterschied, für ihn nicht feststellbar, konnte genügen, um ihn schmerzverkrümmt ein unrühmliches Ende nehmen zu lassen. Er warf das Ding weg, begab sich zurück zu seinem Sitz in der Schleuse und dachte nach. Das schwer zu definierende, sonderbare Charakteristikum von Oros Pflanzen und Insekten konnte auf diese beiden Nüsse reduziert werden. Dessen war er sicher. Wenn er – mit der Weisheit des Ara – herausfinden könnte, warum die eine Nuß eine Nuß war und die andere nicht, dann hätte er das Geheimnis in
Händen. Je mehr er über die beiden ähnlichen Früchte nachdachte, desto stärker wurde ihm die Tatsache bewußt, daß seine Finger das Geheimnis berührten – aber er hatte nicht die Kraft, um die Decke zu lüften und zu sehen, was darunter lag. Auf quälende Weise führte ihn sein Nachdenken über dieses Thema wieder zum gleichen Punkt, nämlich nirgendwohin. Das brachte ihn in Zorn, und er ging zurück zu den Bäumen und unterwarf beide einer eingehenden Untersuchung. Seine optische Wahrnehmung sagte ihm, daß es sich um verschiedene Gewächse derselben Spezies handeln mußte. Lauras Sinne und Instinkte behaupteten dagegen, es seien verschiedene Spezies. Ergo, du kannst dem, was deine Augen dir sagen, nicht vertrauen. Aber wenn du deinen Augen nicht trauen kannst, ist es nur natürlich, zu versuchen herauszufinden, warum du ihnen nicht trauen kannst. Aber noch nicht einmal das konnte er herausfinden. Das ärgerte ihn dermaßen, daß er zurück zum Schiff ging, die Tore verschloß, Laura zurückrief auf seine Schulter und eine Erkundung in entgegengesetzter Richtung unternahm. Die Regeln einer Erstlandung waren simpel und vernünftig. Beginne deine Arbeit langsam, kehre rasch zurück und vergiß niemals: Alles, was wir von dir wollen, ist die Gewißheit, ob der Planet für menschliches Leben geeignet ist. Untersuche lieber ein kleineres Gelände sorgfältig, als ein Großes oberflächlich – die Kartographen werden den Rest erledigen. Benutze dein Schiff als Basis und lande dort, wo du leben kannst – vermeide unnötige Bewegungen. Beschränke deine Erkundungsgänge auf Strecken, die du bei Tageslicht erreichen
kannst, und schließe dich in der Nacht ein. War Oro geeignet für menschliches Leben? Das ungeschriebene Gesetz lautete, keinerlei voreilige Schlüsse zu ziehen und zu sagen: Natürlich! Ich lebe ja noch, oder etwa nicht? Cameron, der sein Schiff auf Mithra gelandet hatte, hatte geglaubt, das Paradies gefunden zu haben, bis er am siebzehnten Tag die Schwammpest entdeckte. Er war geflohen, als wären die Dämonen der finstersten Hölle hinter ihm her, und hatte drei Tage schwitzend und fluchend in der lunaren Reinigungsanlage verbracht, ehe man ihn wieder der Öffentlichkeit hatte zeigen können. Die Regierung hatte sein Schiff verdampft. Mithra war seitdem tabu. Jede Welt war eine potentielle Falle, die Schönheit der Landschaft der Lockvogel. Die Aufgabe der Erkundungsmannschaften bestand darin, in die Fallen zu tappen und auch wieder herauszukommen. Ein weiterer Brocken Grundbesitz für Terra – wenn er einem nicht das Genick brach. Vielleicht war Oro zum Leben ungeeignet. Das Ding, das in der Nacht umhergeisterte, grübelte Steve, strahlte einen schrecklichen Eindruck nichtmenschlicher Macht aus. Das tat eine Wasserhose auch, und wer hatte schon jemals von jemandem gehört, der siegreich mit einer Wasserhose gerungen hätte? Wenn diese Oro-Hose zu Empfindungen fähig war, stand es noch schlechter für menschliche Aussichten. Er mußte das ganze Ausmaß davon herausfinden, entschied er, selbst wenn er das Ding durch die schwarzen Alleen der Nacht verfolgen mußte. Er stapfte immer weiter weg vom Heck; das Gewehr in Händen, schlich er gebeugt dahin und übersah völlig die Tatsache, daß er nicht auf einem wirklichen Er-
kundungsausflug war und daß in den nächsten tausend Jahren wahrscheinlich nichts Menschliches auf Oro landen würde. Selbst Raumfahrer können Gewohnheitstiere sein. Ihre Aufgabe: nach dem Tod Ausschau zu halten; sie erfüllen diese Aufgabe auch dann noch, wenn schon längst die Notwendigkeit vorüber ist – in einfacher Nichtbeachtung der Tatsache, daß man, wenn man lange genug nach etwas Ausschau hielt, dieses auch findet. Nach dem Schiffschronometer verblieben ihm noch fünf Stunden bis zur Dunkelheit. Also zweieinhalb Stunden für jeden Weg, sprich zehn Meilen hin und zehn Meilen zurück. Das Wasserholen hatte ihn eine Menge Zeit gekostet. Morgen und auch weiterhin würde er den Radius auf zwölf Meilen ausdehnen und es sich leichter machen. Dann flohen alle Gedanken aus seinem Verstand, als er das Ende der Vegetation erreichte. Der Pflanzenteppich verschwand nicht allmählich, mit Pflanzen, deren Wurzeln sich verzweifelt um Halt in der felsigen Oberfläche bemühten. Er hörte einfach auf, eine scharfe Grenze, wie mit einer Machete gezogen; wo er aufhörte, begann eine andere Art zu wachsen. Die neuen Gewächse waren klein und kristallin. Er akzeptierte das kristalline Gestrüpp ohne große Überraschung, er wußte, daß das Ungewöhnliche ein unvermeidbares Charakteristikum jeder neuen Welt war. Die Dinge waren nur nach menschlichen Maßstäben ungewöhnlich. Außerhalb Terras war nichts normal oder abnormal, ausgenommen vielleicht, wenn es mit seinen eigenen, besonderen Bedingungen nicht übereinstimmte. Es gab zum Beispiel kristalline Gewächse auf dem Mars. Das eine besondere
Merkmal hier war, wie die herkömmlichen Pflanzen endeten und die kristallinen begannen. Er ging zurück zur Grenze und machte eine neue verblüffende Entdeckung über die Grenzlinie. Sie war so gerade, daß der Anblick seine Gehirnwindungen verdrehte. Wie ein Acker. Ein kultivierter Acker. Eine so präzise Genauigkeit mußte künstlich sein. Kleine Schweißperlen bedeckten seinen Rücken. Er kauerte sich auf den Absatz seines rechten Schuhs und sagte zu Laura: »Hühnchen, ich glaube, diese Dinger sind angepflanzt worden. Die Frage ist, wer sie angepflanzt hat.« »McGillicuddy?« schlug Laura leise vor. Mit einem Finger schlug er gegen das grüne, verzweigte, etwa drei Zentimeter hohe Objekt neben seiner Schuhsohle. Der Kristall vibrierte und sagte »Zing!« in einer sanften, hohen Stimme. Er stieß dessen Nachbar an, und dieser sagte »Zong!« in einer etwas tieferen Tonlage. Er stieß einen dritten an, dieser gab keinen Laut von sich, sondern zersplitterte in tausend Scherben. Er erhob sich und kratzte sich am Kopf, wodurch Laura gezwungen wurde, sich mit ihren Krallen einen neuen Halt zu suchen. Einer zingte, einer zongte, und einer zerfiel zu Staub. Zwei Nüsse. Zings und Zongs und Nüsse. Er hatte es im Griff seiner Hand, wenn er sie nur öffnen könnte, um zu sehen, was es war. Dann hob er seinen verwirrten und ein wenig zornigen Blick und sah etwas ziellos über dem Kristallfeld flattern. Es strebte der Vegetation zu. Mit einem heiseren Gackern und einem mächtigen Schlag ihrer
blau-karmesinroten Flügel flog Laura davon. Sie schwebte über dem Objekt und erschreckte es so, daß es strauchelte und nur wenige Zentimeter über Steves Kopf dahintorkelte. Es war ein großer Schmetterling, ähnlich farbenprächtig wie Laura selbst. Der Vogel stieß erneut herab, er erschreckte das Insekt, bedrohte es aber nicht. Er rief sie zurück und begann, das vor ihm liegende Feld zu durchqueren. Kristalle zerbrachen unter seinen schweren Stiefeln zu Staub, während er weitertrampelte. Eine halbe Stunde später – er erklomm gerade einen steilen kristallbedeckten Hang – klickte es in seinen Gedanken, und er blieb so abrupt stehen, daß Laura von seinen Schultern kippte und notgedrungen mit den Flügeln zu schlagen begann. Sie flog einen Kreis und kehrte zu ihrem Sitz zurück, wobei sie sich bitterlich in einer fremden Sprache beschwerte. »Eines von diesem und eines von jenem«, sagte er. »Keine zwei oder drei oder Dutzende. Nichts, was ich gesehen habe, ist mehrmals vorhanden. Da ist nur ein Gigantosaurus, nur ein Scarabäus Anderii, nur ein Exemplar von jedem vorhandenen Ding. Jedes Stück ist einmalig, original, eine individuelle Kreation in ihrem eigenen Reich. Was hat das zu bedeuten?« »McGillicuddy«, meinte Laura. »Um Petrus' willen, vergiß McGillicuddy.« »Um Petrus' willen, um Petrus' willen«, schrie Laura, sehr angetan von diesem Ausspruch. »Der große, schwarze –« Wiederum unterbrach er sie gerade zur rechten Zeit und zwang sie dazu, hochzufliegen, während er sein Selbstgespräch fortsetzte. »Es bedeutet immer-
währende und andauernde Mutation. Jedes Ding erzeugt etwas vollkommen Verschiedenes von sich selbst; es gibt keine dominierenden Linien.« Er runzelte die Stirn angesichts der offensichtlichen Unstimmigkeit in der Theorie. »Aber wie, zur Hölle, pflanzt sich hier überhaupt etwas fort? Wer befruchtet wen?« »McGilli –«, begann Laura, änderte dann aber ihre Absicht und schwieg. »Wie auch immer, wenn nichts sich fortpflanzt, dann sieht es mit dem Nahrungsproblem schlecht aus«, fuhr er fort. »Was an einer Pflanze eßbar ist, das kann an ihrem Abkömmling bereits tödlich sein. Die Nahrung von heute ist das Gift von morgen. Wie soll ein Farmer wissen, was er erntet? Oha, wenn ich richtig vermute, dann wird diese Welt kein halbes Dutzend Schweine am Leben halten.« »Nein, Sir. Keine Schweine. Laura liebt Schweine.« »Sei still«, fuhr er sie an. »Aber was nicht in der Lage ist, ein halbes Dutzend Schweine zu ernähren, soll in der Lage sein, einen Gigantosaurus zu ernähren – und jedes weitere, freie Tier, das hier herumstrolchen mag? Das scheint mir verrückt. Auf der Venus, oder jedem anderen Ort voller Nahrung, könnte Gigantosaurus gedeihen, aber hier, gemäß meiner Theorie, hat der große Kerl kein Recht darauf, am Leben zu sein. Er müßte tot sein.« Mit diesen Worten erklomm er den Hügelkamm und fand das Objekt seiner Gedanken. Es lag ausgestreckt am gegenüberliegenden Hang. Es war tot. Die Art, wie er den Tod des Riesen bestätigte, war ebenso rasch wie einfach und zuverlässig. Der enorme Körper lag über die volle Länge des Hügels aus-
gestreckt, der Drachenkopf, der die Größe eines Rettungsbootes hatte, zeigte in seine Richtung. Der Kopf besaß zwei matte, glanzlose Augen, wie Teller. Er feuerte ein Sprenggeschoß in das rechte Auge, und eine beachtliche Menge Gallert spritzte in alle Richtungen davon. Der Körper bewegte sich nicht. Er hatte die Kugel für das linke Auge schon vorbereitet, für den Fall, die Kreatur würde zu rasendem, rachsüchtigem Leben erwachen, aber der mächtige Koloß blieb stumm liegen. Unter Steves Sohlen zersplitterten weitere Kristalle, als er den Hang hinabging und etwa hundert Meter von seiner direkten Route abwich, um den Leichnam zu umgehen, und den gegenüberliegenden Kamm emporstieg. Im Moment war er an der toten Bestie nicht sonderlich interessiert. Er hatte nur wenig Zeit, und er konnte genausogut morgen wiederkommen, mit einer Colorstereokamera ausgestattet. Gigantosaurus würde sein Porträtfoto bekommen, aber er mußte sich gedulden. Dieser zweite Hügel war ein ordentliches Stück höher und wesentlich schwieriger zu erklimmen. Seine Kuppe stellte die äußerste Grenze des heutigen Ausflugs dar, und er fühlte sich bestrebt, sie zu besteigen, ehe er wieder umkehren mußte. Der charakteristische menschliche Wille, zu sehen, was hinter dem Hügel lag, war noch immer so ausgeprägt wie an dem Tag, als entschlossene Vorfahren die Gipfel der Rocky Mountains erklommen hatten. Er mußte es schaffen, erstens, weil die Höhe ihm eine weite Sicht gab, und zweitens wegen dieses nächtlichen Herumtreibers – und, soweit er das abschätzen konnte, weil dieses Ding hinter jenem Hügel verschwunden war.
Eine Nebelsäule, die vom Himmel herunterhing, mochte sich ziellos bewegen, nach nirgendwohin, aber sein Instinkt sagte ihm, daß das keine gewöhnliche Nebelsäule gewesen war und das Ding doch irgendwohin ging. Wohin? Völlig außer Atem stieg er über den Hügelkamm, schaute hinunter in ein gewaltiges Tal und fand die Antwort. Die kristallenen Gewächse hörten auf der Hügelkuppe auf, wiederum in einer perfekten, geraden Linie. Hinter ihnen fiel ein leichter Lehmboden, frei von Steinen, sanft zum Tal hinunter ab und stieg auf der gegenüberliegenden Seite wieder an. Beide Hügel waren spärlich mit merkwürdigen Klumpen aus einer Gallertsubstanz bewachsen, die unter dem goldenen Glühen des Himmels lagen und sanft zitterten. Am abgeschlossenen Ende des Tals ragte ein großes, glitzerndes Gebilde empor, ein flaches Dach, flache Wände, ein riesiges, quadratisches Loch klaffte in der mittleren Sektion der Frontwand. Es sah aus wie eine kolossale rechteckige Schachtel aus poliertem, milchigweißem Plastik, halb verborgen in einem Sandhügel. Keine Verzierung schmückte die glatte Oberfläche. Keine Straße führte zu der Öffnung an der Frontseite. Irgendwie hatte es den neuen-alten Hauch eines Hauses, das verlassen aussieht, weil es voller Unmenschen ist. Steves Nackenhaare sträubten sich, als er es betrachtete. Eines war nun vollkommen klar – Oro beheimatete intelligentes Leben. Eines war vorstellbar – die goldene Säule repräsentierte dieses Leben. Eines
war wahrscheinlich – die fleischlichen Menschen und die dunstigen Oroner würden es schwer haben, eine gemeinsame Basis für Freundschaft und Zusammenarbeit zu finden. Wogegen Feindschaft keiner Basis bedurfte. Neugier und Vorsicht wollten Steve in zwei entgegengesetzte Richtungen ziehen. Ersteres trieb ihn hinunter in das Tal, während letzteres ihn zur Rückkehr drängte, zur Rückkehr, solange er noch Zeit hatte. Er befragte seine Uhr. Etwas weniger als drei Stunden verblieben ihm noch, in denen er zurückkehren mußte, seine Eintragungen ins Bordbuch erledigen und das Abendessen zubereiten. Dieses milchige Bauwerk war noch ungefähr zwei Meilen entfernt, ein Marsch von einer guten Stunde hin und zurück. Laß es warten. An einem anderen Tag würde er mehr Zeit haben, mit dem Vorteil nötigen Nachdenkens in der Zwischenzeit. Die Vorsicht behielt die Oberhand. Er untersuchte noch den nächstgelegenen Schleimklumpen. Er war flach und maß etwa einen Quadratmeter, grün mit blauen Streifen und vielen kleinen Bläschen, die in seiner Semitransparenz verborgen waren. Das Ding pulsierte langsam. Er berührte es mit einer Schuhspitze, worauf es sich blitzschnell zusammenzog und in der Mitte ausbeulte, dann entspannte es sich zögernd wieder. Keine Amöbe, entschied er. Eine niedere Lebensform, aber trotzdem kompliziert. Laura mochte es nicht. Sie flatterte davon, als er sich darüberbeugte, und machte ihrem Ärger durch Zertrümmern einiger Kristalle Luft. Der Gallertklumpen war nicht wie sein unmittelbarer Nachbar oder wie irgendein anderes Exemplar.
Nur eines von jeder Spezies. Die gleiche Regel: ein Schmetterling, ein Käfer, eine Pflanze, eines von diesen zitternden Dingern. Mit einem letzten Blick auf das ferne Rätsel unten im Tal wandte er sich um und folgte seinen Fußstapfen zurück. Als das Schiff wieder in Sicht kam, beschleunigte er seine Schritte, wie ein Wanderer, der glücklich wieder die Heimat erreicht. Es waren neue Fußspuren in der Nähe des Raumschiffs, große, dreizehige, tief eingegrabene Abdrücke, die zeigten, daß etwas Großes, Schweres und Zweibeiniges in seiner Abwesenheit hier vorbeigekommen war. Offensichtlich ein Tier, denn kein intelligentes Wesen wäre so gleichgültig an dem Eindringling aus dem All vorbeigewandert, ohne diesen auch nur ein einzigesmal zu umkreisen und zu inspizieren. Er verdrängte es aus seinen Gedanken. Es gab nur ein Exemplar davon, dessen war er sicher. Im Schiff angekommen, verschloß er wieder sorgfältig beide Türen, gab Laura ihr Futter und aß sein Abendbrot. Danach zog er sein Bordbuch heraus, verzeichnete die Ereignisse des Tages und genoß den Rundblick von der Kuppel. Erneut erklommen die violetten Streifen den Horizont. Er bedachte die umliegende Vegetation mit einem finsteren Blick. Welche Art von Material hatte all das in der Vergangenheit erzeugt? Was würde in der Zukunft daraus werden? Wie pflanzte es sich fort? Vollständige und radikale Mutation setzte eine Modifikation von Genen durch harte Strahlung in dauerhaften und meßbaren Quantitäten voraus. Auf Planeten mit geringer Dichte gab es keine harte Strahlung, es sei denn, sie fiel vom Himmel her ein.
Hier fiel sie nicht vom Himmel her ein, auch von nirgendwo anders. Tatsächlich gab es überhaupt keine. Dieser Tatsache war er verdammt sicher, denn er war daran besonders interessiert und hatte entsprechende Messungen vorgenommen. Harte Strahlung setzte die Gegenwart von radioaktiven Elementen voraus, die man in einer Notlage vielleicht als Treibstoff hätte verwenden können. Das Schiff war dafür ausgerüstet, solche Elemente aufzuspüren. Unter dem anderen Schrott gab es auch einen Strahlungsmesser, einen Radiumdetektor und eine Goldblattelektrode. Weder der Strahlungsmesser noch die Elektrode hatten auch nur das leiseste Glucksen von sich gegeben; die einzigen Gluckser waren die von Laura gewesen. Die Elektrode, die er bei der Landung aufgeladen hatte, bildete noch immer ein umgekehrtes V. Die Luft war trocken, eine Ionisation nur in unbedeutendem Ausmaß vorhanden, die Goldblätter erweckten nicht den Eindruck, als würden sie sich in den nächsten paar Wochen bewegen. »Etwas ist falsch an meinen Theorien«, erklärte er Laura. »Mein Gedankenapparat tickt nicht richtig.« »Tickt nicht richtig«, echote Laura wortgetreu. Sie knackte eine Nuß mit einem knirschenden Geräusch, bei dem ihm die Zähne klapperten. »Ich sage dir, es ist ein verfluchtes Schiff. Ich werde nicht mitsegeln. Nein, auch nicht, wenn du für mich betest. Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht. Njet. Nix. Wer ist besoffen? Dieser haarige Flachländer Mc –« »Laura!« sagte er scharf. »Gillicuddy«, endete sie mit sanftem Trotz. Erneut brachte sie seine Zähne zum Klappern. »Ringe, größer wie'm Saturn seine. Hab' sie selbst gesehen. Wer
ist ein Lügner? Oirk! Sie ist drunten in Grayway Bay, auf Thetis. Mann, was für eine Figur!« Er sah sie an und sagte: »Du bist verrückt!« »Sicher! Sicher, Kumpel! Verrückt nach Nüssen. Nimm eine von mir.« »Okay«, stimmte er zu und hielt ihr seine Hand hin. Sie spreizte ihr farbenfrohes Gefieder, schnäbelte nach seiner Hand, wählte feierlich eine Nuß aus und gab sie ihm. Er knackte sie und kaute ihren Kern, während er das Licht einschaltete. Es war, als hätte die Nacht nur auf ihn gewartet. Die Dunkelheit kam gerade, als er den Lichtschalter gedrückt hatte. Mit der Dunkelheit beschlich ihn ein heftiges Gefühl des Unbehagens. Die Kuppel machte ihm Sorgen. Sie leuchtete wie ein Signalfeuer, und es gab keine andere Möglichkeit, sie abzudunkeln, als das Licht wieder auszumachen. Signalfeuer zog auch die Nachttiere an, und unter den gegenwärtigen Umständen hatte er wenig Lust, zu einem Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit zu werden. Zumindest nicht in der Nacht. Lange Erfahrung hatte ihm die nötige Vorsicht vor jeglichen fremdartigen Tieren beigebracht, aber fremde Intelligenzen waren eine andere Sache. Er war so erfüllt von der seltsamen inneren Überzeugung, daß das Phänomen der letzten Nacht ein Ding war, das seine Geschäfte verstand, es kam ihm nicht in den Sinn, darüber nachzudenken, ob eine glühende Säule wohl Augen oder äquivalente Einrichtungen zur optischen Wahrnehmung haben könnte. Hätte er darüber nachgedacht, es hätte ihn auch nicht beruhigt. Sein Wunsch, in einer unheimlichen, außersinnlichen
Art und Weise abgeschätzt zu werden, war noch geringer als der Wunsch, von fremden Augen während seines Schlafes betrachtet zu werden. Eine unselige Menge Gedanken und Ideen geisterte noch in seinem Verstand umher, als er die Lichter löschte und sich niederlegte, um zu schlafen. Nichts störte seinen Schlaf in dieser Nacht, doch bei Anbruch der goldenen Dämmerung erwachte er schweißgebadet, und auch Laura hatte wieder in seinen Armen Schutz gesucht. Beim Zubereiten des Frühstücks bemühte er sich, seine Gedanken zu ordnen, während seine Hände flink arbeiteten. Er goß sich eine Tasse Kaffee ein und unterhielt sich mit Laura. »Verdammt soll ich sein, wenn ich mich bei dem Versuch, als einzelner ein Drei-Wochen-System aufzustellen, verzettle, denn genau das sollte ich tun, wenn ich mich unbekannten Kräften gegenübersehe und nicht in der Lage bin, sie zu schlagen. Diese Schreibtischtäter im Hauptquartier sollten sich einmal einer solchen Situation gegenübersehen, etwas, das nicht präzise durch das Handbuch geregelt wird.« »Uurpp!« rülpste Laura verächtlich. »Der, der kämpft und wegzulaufen vermag, der lebt und kämpft am nächsten Tag«, zitierte Steve. »Das ist das Erkundungsgesetz. Es ist ein hübsches, aalglattes, liebliches Gesetz – wenn man weglaufen kann. Wir können nicht!« »Uuuuurpp!« meine Laura mit unnötiger Lautstärke. »Für eine Frau ist dein Benehmen aber ganz schön empörend«, hielt er ihr vor. »Nun, ich werde den kurzen Rest meines Lebens nicht damit verbringen,
ängstlich über die Schulter zu schauen. Der einzige Weg, mit unbekannten Kräften fertigzuwerden, ist, sie in bekannte Kräfte zu verwandeln, die man versteht. Wie meinte Onkel Joe zu Willie, als er ihn zum Zahnarzt schleppte: Je länger wir es hinausschieben, desto schlimmer wird es.« »Duda, ärgre di' net«, deklamierte Laura. »Uuuuurpp Glubbdubb!« Er maß sie mit einem Blick tiefsten Abscheus und fuhr fort: »Daher werden wir versuchen, den Stier bei den Hörnern zu packen. Solche Praktiken bringen den Stier manchmal aus der Fassung.« Er stand auf, grabschte nach Laura und sperrte sie in ihre Reiseunterkunft, wonach er das Fach verschloß. »Wir werden unverzüglich starten.« Er stieg in den Pilotensitz und zog den Hebel der Energiezufuhr. Die Heckdüsen pufften einigemal und brüllten dann ungedämpft auf. Er spielte mit den Kontrollen, um das nötige Gefühl für sie zu bekommen, bis das gesamte Schiff zitterte und die Heckdüsen kirschrot glühten. Langsam begannen die Massen des Schiffes nach vorn zu ziehen; in diesem Augenblick drückte er den Startknopf. Auf einer Feuersäule von einer halben Meile Länge erhob das Erkundungsschiff sich in den Himmel. In einem weiten Bogen schwang er herum und donnerte über die Grenzlinie der Vegetation, die Felder der Kristalle und die dahinterliegenden Hügel. Auf einem Flammenpfeil schoß er in das Tal, die Bremsraketen am Bug erglommen tiefrot. Das war kniffelig. Er mußte den Vorwärtsschub, den Rückstoß und den Abwärtssog koordinieren, aber wie die meisten Piloten war er stolz auf die Leistungen, die er mit
diesen hübschen kleinen Raumschiffen erbringen konnte. Eine staunende Menge war alles, was fehlte, um das Schauspiel perfekt zu machen. Das Schiff landete sanft und behutsam auf dem milchigweißen Dach des fremdartigen Bauwerks, schlitterte noch ein wenig auf den Hügel zu und stand. »Junge, Junge«, schnaufte er. »Bin ich ein Könner!« Er blieb in seinem Sitz, schaute durch die Kuppel und sah sich veranlaßt, hinzuzufügen: »Und viel zu jung zum Sterben.« Mit gelegentlichen Blicken auf das Chronometer wartete er. Das Schiff mußte dem Dach des Gebäudes einen Stoß versetzt haben, der Tote aufwecken konnte. Wenn jemand drin sein sollte, dann würde dieser Jemand bald herausgespurtet kommen, um nachzusehen, wer da mit einhundert Tonnen schweren Flaschen nach seiner Behausung warf. Niemand kam. Er gab ihnen eine halbe Stunde, sein raubvogelähnliches Gesicht erwartungsvoll gespannt. Dann gab er es auf, sagte: »Nun gut« und erhob sich von dem Sitz. Er befreite Laura. Sie kam heraus mit der zerknirschten Würde einer Herzogin, die aus Versehen in einen falschen Raum geraten ist. In seinen Augen waren Frauen schon immer merkwürdige Geschöpfe gewesen, daher ignorierte er ihr Gebaren, öffnete die Schleusentore, nahm sein Gewehr und sprang hinaus auf das Dach. Laura folgte ihm zögernd, sie flog zu seiner Schulter, als ob sie ihm damit eine unendliche Gunst erweise. Er ging am Heck des Schiffes vorbei zum Dachrand und schaute hinunter. Das Gebäude war fast einhundertfünfzig Meter hoch, ihn schwindelte angesichts dieses Abgrunds, und er trat rasch zurück. Genau
unter ihm reichte der Eingang einhundertundzwanzig Meter hoch. Auf dem verbleibenden, dreißig Meter hohen First stand er, und der einzige Weg hinab führte zum entgegengesetzten Rand des Daches, wo er den Hang, in den das Bauwerk eingebettet war, hinuntersteigen konnte. Er legte eine Viertelmeile zurück, ehe er den Hang erreichte; während er ging, untersuchten seine Augen die Beschaffenheit des Daches, doch er konnte weder eine Fuge noch einen Riß in der einförmigen, glatten Oberfläche erkennen. Trotz seiner gewaltigen Größe schien das Bauwerk aus einem Stück geschaffen zu sein – eine Tatsache, die keinerlei Trugschlüsse zuließ. Wer auch immer diese gewaltige Arbeit verrichtet hatte – Wilde waren es nicht gewesen. Vom Boden aus ragte der Eingang gewaltiger denn je empor. Hätte es eine ähnliche Öffnung am anderen Ende gegeben, er hätte ohne weiteres mit dem Schiff zum einen Tor hinein und zum anderen wieder hinausfliegen können, so einfach, wie man einen Faden in ein Nadelöhr einfädelt. Das Fehlen von Toren schien nicht auffällig, es war schwierig, sich eine Tür vorzustellen, die groß genug war, um diese klaffende Öffnung zu verschließen, und gleichzeitig so gut ausbalanciert, daß jemand – oder etwas – sie auch öffnen und schließen konnte. Mit einem letzten, vorsichtigen Blick, der ihm nichts Bewegliches im Tal zeigte, betrat er unverzüglich das Gebäude, die Dunkelheit des Inneren verschwand nach und nach, als seine Augen sich daran gewöhnten und die Erinnerung an das goldene Glühen draußen verblaßte.
Auch im Inneren existierte ein gewisses Glühen, schwächer, gespenstischer, grünlich. Es entströmte dem Boden, den Wänden und Simsen, das Vorhandensein dieser Strahlung genügte vollkommen, um die Halle klar und ohne Schatten zu erhellen. Er schnüffelte, während seine Wahrnehmung sich den veränderten Lichtverhältnissen anpaßte. Ein strenger Geruch nach Ozon lag in der Luft, vermischt mit anderen unidentifizierbaren Gerüchen. Zu beiden Seiten ragten lange Reihen transparenter Behälter über hundert Meter in die Höhe. Er ging zu einem rechts von ihm und untersuchte ihn näher. Es waren Würfel, jeder etwa einen Meter groß und aus einem transpexähnlichen Material hergestellt. Jeder enthielt eine zirka sechs Zentimeter hohe Lehmschicht, auf der ein Kristall ruhte. Keine zwei Kristalle glichen einander, einige waren klein und verzweigt, andere groß und unbeschreiblich kompliziert. Gedankenverloren ging er um eine Ecke des monströsen Behälters und fand einen weiteren, ungefähr zehn Meter dahinter. Und einen weiteren. Und noch einen, und noch einen. Alle voller Kristalle. Ihm schwindelte angesichts der Vielzahl der Formen und Gestalten. Er konnte lediglich die beiden untersten Reihen eines jeden Gerüsts sehen, doch die Behälter erhoben sich Reihe um Reihe über seinem Kopf bis hinauf unter das Dach. Das gleiche Bild auch auf der linken Seite. Abertausende von Kristallen. Während er ein besonders unauffälliges Exemplar eingehender betrachtete, bemerkte er eine Reihe punktähnlicher Symbole, die die Frontseite des Behältnisses bedeckten. Es zeigte sich, daß alle Gefäße markiert waren, lediglich in der An-
zahl und Form der Punkte unterschieden sie sich. Ohne Zweifel eine Art kosmischen Codes für Klassifizierungszwecke. »Das naturgeschichtliche Museum von Oro«, vermutete er flüsternd. »Du verdammter Lügner«, krächzte Laura lauthals. »Ich sage dir, es ist ein verfluchtes –« Sie verstummte verblüfft, als ihre eigene Stimme in der Weite der Halle echote, in tiefen, orgelähnlichen Tönen: »Ein verfluchtes – ein verfluchtes –« »Verflixt und zugenäht, wirst du endlich still sein!« zischte Steve. Er bemühte sich, gleichzeitig den Eingang und das Innere des Gebäudes im Auge zu behalten. Aber die Stimme verhallte in der Ferne, niemand erschien, um ihr Eindringen zu verhindern. Er wandte sich um und huschte eilig hinter die erste Gruppe der Behältnisse zur nächsten Gruppe von Ausstellungsstücken. Gallertklumpen in ähnlicher Anzahl. Kleine Exemplare, keines größer als seine Armbanduhr, nur nach Tausenden zu zählen. Keiner schien am Leben zu sein, wie er bemerkte. Die Sektionen drei, vier und fünf brachten ihn, soweit er das schätzen konnte, ungefähr eine Meile in das Gebäude hinein. Vorbei an Moosen, Flechten und Sträuchern führte ihn sein Weg; alle tot, aber auf wunderbare Weise konserviert. Zu diesem Zeitpunkt glaubte er, den Inhalt von Sektion sechs erraten zu können – Pflanzen. Er irrte sich. Hier gab es Insekten, einschließlich Falter, Schmetterlinge und sonderbare unbekannte Wesen, wie chitingepanzerte Kolibirs. Es gab kein Exemplar von Scarabäus Anderii, es sei denn, dieses befand sich einige hundert Meter über seinem Kopf. Vielleicht gab es aber auch ein leeres Fach, das
ihn erwartete, wenn er seinen letzten Atemzug getan hatte. Wer machte diese Behälter? Und gab es auch einen für ihn? Einen für Laura? Er stellte sich seine sterbliche Hülle vor, für ewig konserviert und eingeordnet in der siebzehnten Schachtel in der fünfundzwanzigsten Reihe des zehnten Gerüsts der Sektion was-weißich-wieviel, die Frontseite säuberlich mit all seinen zugehörigen Daten beschriftet. Es war schon ein lausiges Bild. Seine Stirn krauste sich bei dem Gedanken. Ohne besonderes Ziel vor Augen, schlenderte er immer tiefer und tiefer in das Herz des Bauwerks. Keine Menschenseele, kein Geräusch, keine Fußspur. Nur der allgegenwärtige Geruch und das unveränderliche Glühen. Er hatte das Gefühl, daß dieser Ort gelegentlich besucht wurde, aber keinen festen Wohnsitz darstellte. Ohne sich die Mühe zu machen, stehenzubleiben, ging er an einem riesigen Kasten vorbei, der eine Art Rhinozeros mit einem Bisonkopf enthielt, dann an anderen, wesentlich größeren, die wesentlich größere Ausstellungsstücke enthielten – alle sorgfältig mit der Punktschrift markiert. Schließlich umrundete er eine Kammer, die so gewaltig war, daß sie die gesamte Breite der Halle einnahm. Sie enthielt den Großvater aller Bäume und den Urgroßvater aller Schlangen. Dahinter, zur Abwechslung, ragten einhundertfünfzig Meter hohe Gerüste metallener Schränke empor, jeder Schrank mit einem in die polierte Oberfläche eingelassenen Knopf versehen, jeder beschriftet mit einer größeren Anzahl der mysteriösen Punkte. Er wagte es vorsichtig, den Knopf des nächstgele-
genen Schrankes zu drücken, die Tür schwang mit einem leisen Klicken auf. Das Ergebnis war enttäuschend. Der Kasten war gefüllt mit kleinen gläsernen Scheiben, jede mit Punkten übersät. »Ein Superaktenschrank«, grunzte er und schloß die Tür. »Der alte Professor Heggarty würde seinen rechten Arm hergeben, wenn er das hier sehen dürfte.« »Heggarty«, sagte Laura mit stockender Stimme. »Um Petrus' Willen!« Er betrachtete sie aufmerksam. Sie war aufgeplustert und nervös und zeigte alle Anzeichen zunehmender Unruhe. »Was ist denn los, Hühnchen?« Sie blickte ihn an, dann schweifte ihr Blick in die Richtung, aus der sie gekommen waren, sie trippelte aufgeregt auf seiner Schulter hin und her. Ihre Nakkenfedern sträubten sich. Ein nervöses Glucksen drang aus ihrem Schnabel, sie kauerte sich eng an seine Jacke. »Verdammt!« murmelte er. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte die aufeinanderfolgenden Regalblocks zurück, bis er den zehn Meter breiten Freiraum zwischen dem letzten Block und der Außenwand erreichte. Er hielt seine Waffe schußbereit und suchte wachsam die Front der Regale ab, mit der anderen Hand versuchte er, Laura zu beruhigen. Sie drängte sich dicht an ihn, rieb ihren Kopf an seinem Nacken und versuchte sich unter seinem Unterkiefer zu verbergen. »Ruhig, Liebling«, flüsterte er. »Sei nur ruhig und vertrau auf Steve, dann wird alles gut werden.« Sie blieb ruhig, auch wenn sie zu zittern begonnen
hatte. Sein Herzschlag beschleunigte sich ebenfalls, obwohl er nichts hören und nichts sehen konnte, das das gerechtfertigt hätte. Dann, während er noch schaute und wartete, veränderte sich die Farbe der Halle, das Grün verschwand und wurde mehr goldfarben. Und plötzlich wußte er, was es war, das da kam. Er wußte, was es war! Er fiel auf die Knie, um sich so klein und unauffällig wie möglich zu machen. Nun schlug auch sein Herz wie rasend, und die Kälte seines Verstandes reichte nicht aus, um seinen Schlag auf ein normales Maß zu verlangsamen. Die Stille, die schreckliche Stille seiner Annäherung war ein untrügliches Zeichen. Das Poltern eines schweren Fußes oder Hufes wäre besser gewesen. Derartige Kolosse haben kein Recht, sich so leise wie Geister zu bewegen. Das goldene Glühen verstärkte sich, verdrängte den grünen Schein der Wände und des Bodens und badete die Vielzahl der Gefäßoberflächen in flammendem Licht. Es wurde so kräftig wie der goldene Himmel, ja, noch kräftiger. Es wurde allumfassend, unerträglich, ließ keine dunkle Stelle, um sich zu verbergen, keine Zuflucht für kleine Dinge. Es flammte wie eine aufgehende Sonne oder, besser noch, wie das Herz einer Sonne, die Glorie seiner Ausstrahlung verwirrte den Geist des kauernden Zuschauers. Er bemühte sich fieberhaft, seinen Verstand zu kontrollieren, zu beherrschen, seinem schwächer werdenden Willen zu unterwerfen – und scheiterte. Schweißgebadet und mit verzerrtem Gesicht gelang Steve ein ungehinderter Blick auf den Rand der Säule, die hinter den Regalen im Zentralgang auf-
tauchte. Er sah einen blendenden Streifen brennenden Goldes, in dem ein greller weißer Stern flackerte, dann überflutete ein allgegenwärtiges Brausen sein Gehirn, und er fiel nach vorn in eine Wolke winziger Bläschen. Tiefer, immer tiefer sank er, durch Myriaden Bläschen und Strudel und Wolken irisierenden Schaumes, der aufleuchtete, sich veränderte und immer wieder aufleuchtete, mit tausend unterschiedlichen Farben. Verzweifelt kämpfte sein Verstand, nach oben, nur hinaus, seine Seele zog es in die Höhe mit der Angst eines Ertrinkenden, doch er erreichte die Oberfläche nicht. Hinab in die unergründlichsten Tiefen sank er, während die Bläschen ihn noch immer umwirbelten, Tausende, sie flimmerten in unzähligen Farbschattierungen. Dann verlangsamte sich sein Sturz. Schaum und Gischt verlangsamten ihre wirbelnde Aufwärtsbewegung, stoppten ihr Kreisen, begannen sich in die entgegengesetzte Richtung zu schrauben und zu sinken. Er stieg empor! Er stieg empor, die Spanne eines Lebens, schwebte schwerelos in träumerischer Trance. Die letzte Blase driftete davon und ließ ihn in einer engen Kluft der Nichtexistenz zurück – dann fand er zu sich, in voller Länge auf dem Boden ausgestreckt, mit einer benommenen Laura, die sich an seinen Arm klammerte. Langsam blinzelte er einigemal. Seine Augen waren überanstrengt und entzündet. Sein Herz klopfte noch immer wie rasend, seine Knie waren weich. Es war ein seltsames Gefühl in seinem Magen, als ob die Erinnerung ihn mit einem Schrek-
ken aus lang, lang vergangenen Tagen konfrontiert hätte. Er war nicht in der Lage, sich vom Boden zu erheben, dazu war sein Körper zu ausgelaugt und sein Geist zu sehr durcheinander. Er blieb liegen, während seine Sinne zurückkehrten und er seine Fassung langsam wiedergewann, und stellte fest, daß der goldene Glanz verschwunden war und im Halleninneren wieder der schattenlose Grünton herrschte. Dann fanden seine Augen die Uhr, und er richtete sich erstaunt auf. Zwei Stunden waren verstrichen! Diese Tatsache brachte ihn unsicher auf die Beine. Er spähte um eine Ecke der Aktenschränke und bemerkte, daß nichts sich verändert hatte. Eines erfaßte er instinktiv: Der goldene Besucher war gegangen, und er hatte die Halle wieder für sich. War ihm seine Gegenwart aufgefallen? War dieser Besucher etwa dafür verantwortlich, daß er das Bewußtsein verloren hatte, oder, wenn nicht, warum hatte er es verloren? Hatte er etwas mit dem Schiff auf dem Dach angestellt? Er hob seine wertlose Waffe auf, spannte den Hahn und betrachtete sie verächtlich. Dann halfterte er sie, half Laura auf seine Schulter, wo sie sich, noch immer benommen, festklammerte, ging wieder zur Vorderseite der Regale und drang tiefer in das Gebäude ein. »Schätze, wir sind okay, Liebling«, sagte er zu ihr. »Ich denke, wir sind zu klein, um aufzufallen. Wir sind wie Mäuse. Wer beschäftigt sich schon damit, Mäuse zu fangen, wenn er größere und wichtigere Dinge im Kopf hat?« Er schnitt eine Grimasse; der Vergleich mit der Maus gefiel ihm nicht. Er war nicht sehr schmeichel-
haft für ihn und seine Rasse. Aber ein besserer fiel ihm im Moment nicht ein. »Dann laß uns mal wie kleine Mäuse nach dem Käse suchen gehen. Ich bin nicht bereit, aufzugeben, nur weil so ein großer Brokken vorbeigegangen ist und uns einen Schrecken eingejagt hat. Wir hauen nicht einfach ab, oder, Schätzchen?« »Nein«, sagte Laura enthusiastisch. Ihre Stimme klang noch immer überwältigt, und ihre Augen blinzelten abwesend hierhin und dorthin. »Kein Schrekken. Ich werde nicht mitsegeln, ich hab' es dir gesagt. Leck mir die Heckflossen! Laura liebt Nüsse!« »Ich glaube nicht, daß du mich eine taube Nuß nennen kannst!« »Nüsse! Ich sattle um auf Landwirtschaft – das bringt mehr Kohlen. McGillicuddy, der große –« »Hey!« warnte er sie. Sie verstummte abrupt. Er beschleunigte seinen Schritt, als weigerte er sich zuzugeben, daß er sich leicht zittrig fühlte, eine nervöse Spannung, oder daß ihn etwas beunruhigt hatte. Aber er verspürte nicht den geringsten Wunsch, noch einmal in die Nähe dieses flammenden Giganten zu kommen. Einmal war genug, mehr als genug. Dieser Wunsch entsprang nicht der Angst, es war etwas anderes, etwas, das er nicht erklären konnte. Er erreichte das letzte Regal und sah sich plötzlich einer Maschine gegenüber. Sie war kompliziert und bizarr – und gerade damit beschäftigt, ein kristallines Gewächs herzustellen. In der Nähe stellte eine andere Maschine eine kleine gehörnte Echse her. Es konnte keinen Zweifel an dem Herstellungsprozeß geben, denn beide Gegenstände waren nur zur Hälfte fertig
und nahmen allmählich Form an, während er zuschaute. In wenigen Stunden, vielleicht schon früher, würden sie fertig sein, alles, was sie dann noch brauchten war... war – Seine Nackenhaare sträubten sich, er begann zu rennen. Endlose Maschinen, alle stellten unterschiedliche Dinge her, Pflanzen, Insekten, Vögel und Pilze. Das wurde von Elektropoden vollbracht, die Atom um Atom zusammenfügten wie die Steine eines Hauses. Es war keine Synthese, denn die bestand nur aus einer Montage, wogegen dieses hier Montage plus Wachstum war, in Erwiderung unbekannter Gesetze. Jede dieser Maschinen, soviel wußte er, enthielt einen Code oder einen Schlüssel oder ein Programm, eine unheimliche Meisterkontrolle von unvorstellbarer Komplexität, die das Muster speicherte, welches die Maschine reproduzierte – und die Muster waren völlig verschieden. Hier und da standen vereinzelte Geräte leblos umher, ihre Aufgabe war erfüllt. Gelegentlich sah man auch andere Maschinenteile, entweder zur Reparatur bereitgelegt oder zu einem Umbau. Er blieb bei einer Maschine stehen, die ihre Aufgabe erfüllt hatte. Sie hatte einen zerbrechlich geformten Falter hergestellt, der bewegungslos wie eine diamantene Statue in der Fertigungsmaschine stand. Soweit er das beurteilen konnte, war das Geschöpf perfekt, alles, was ihm fehlte war... war – Schweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn. Alles, was diesem Falter noch fehlte, war der Atem des Lebens! Er verdrängte die Unzahl der Gedanken, die auf ihn einstürmten. Es war der einzige Weg, seinen Halt
zu bewahren. Die Aufmerksamkeit ablenken – wende sie hiervon ab und etwas anderem zu! Schließlich richtete er seine Aufmerksamkeit auf eine ungeheure, teilweise zerlegte Maschine, die in der Nähe lag. Die Verkleidungen waren entfernt worden und zeigten große Feldspulen eines stumpfen, grauen Drahtes. Kleine Stücke eines ähnlichen Drahtes lagen auf dem Fußboden verstreut. Er hob ein kurzes Stück auf, es war überraschend schwer. Er streifte seine Armbanduhr ab, öffnete die Rückseite und hielt den Draht gegen das Uhrwerk. Der aus venusischem Jargo gefertigte Zapfen fluoreszierte sofort. V-Jargo hatte die Eigenschaft, unter dem Einfluß unmittelbarer Strahlung konstant zu glühen. Dieses unbekannte Metall war möglicherweise als Treibstoff verwendbar. Sein Herz vollführte einen Freudensprung bei diesem Gedanken. Sollte er eine der großen Spulen herausnehmen und zum Schiff bringen? Es war sehr schwer, und er benötigte eine beachtliche Menge davon – wenn er es als Treibstoff verwenden konnte. Vermutlich hinterließ das Verschwinden der Rolle Mäusespuren, die entdeckt werden würden; möglicherweise erwartete ihn bei einer erneuten Suche eine Mausefalle. Es zahlt sich aus, sich zu setzen und nachzudenken, wann immer man Zeit hat, sich zu setzen und nachzudenken – das war ein Eckpfeiler der Erkundungstrupp-Philosophie. Er steckte eine kleine Menge des Drahtes in seine Tasche und suchte andere zerlegte Maschinen nach weiteren Stücken ab. Die Suche führte ihn noch tiefer in das Gebäude, er fand es immer schwieriger, sich ausschließlich auf seine
Aufgabe zu konzentrieren. Es war nicht einfach. Da war dieser Hund, zum Beispiel, der dastand wie eine Statue und wartete, wartete. Wenn es doch nur alles andere gewesen wäre als ein offensichtlicher, unverwechselbarer Hund von der Erde. Er war unmöglich zu übersehen. Genauso unmöglich war es, andere, ebenfalls bekannte Gestalten zu übersehen – wenn es sie gab. Nachdem er sieben verschiedene Proben radioaktiven Drahtes gesammelt hatte, gab er die Suche auf. Ein Kakadu beendete seinen Streifzug. Der Vogel stand unbeweglich in seiner Fertigungsmaschine, das blaue Gefieder glatt und leuchtend, die karmesinroten Nackenfedern aufgerichtet, seine klaren Augen enthielten kein Leben, waren aber auch nicht tot. Laura schrillte hysterisch bei diesem Anblick, ihre Schreie hallten tausendfach in der Halle wider, langgezogene Krächzer und Pfiffe, die in der Entfernung verwehten. Lauras Reaktion war zuviel für ihn, er hatte keinen Wunsch nach einer ähnlich hysterischen Reaktion bei ihm selbst. In schnellstmöglichem Lauf durchquerte er das Gebäude, vorbei an den Aktenschränken und den mächtigen Anordnungen der Ausstellungsbehälter, die er nicht mehr beachtete. Er erklomm den lehmigen Hang ebenso rasch, wie er heruntergeklettert war. Als er das Schiff erreichte, atmete er heftig. Seine erste Handlung war das Überprüfen des Schiffes nach Anzeichen von Beeinträchtigungen. Nichts fiel ihm auf. Danach überprüfte er die Instrumente. Die Blätter der Elektrode waren zusammengeklappt. Er lud sie wieder auf und sah zu, wie sie sich entfalteten und erneut zusammenfielen. Der
Zähler zeigte das Vorhandensein von Radioaktivität an. Der Detektor gluckste energisch. Er hatte sich einen Schnitzer geleistet – er hätte es erkennen müssen, wenn er zuerst auf dem Dach gelandet wäre. Wie auch immer, es spielte keine Rolle. Er wußte nun, was unter dem Dach lag, die Instrumente hätten es ihm wahrscheinlich früher gezeigt – aber nicht so informativ. Er fütterte Laura und leistete sich eine hastige Mahlzeit mit ihr. Danach nahm er seine Drahtproben zur Hand. Keine zwei waren von derselben Stärke, ein Stück war augenscheinlich viel zu dick, um durch den Eingabeschlitz des Kingston-Kanes zu passen. Er brauchte eine halbe Stunde, um es auf ein geeignetes Maß herunterzuschmirgeln. Das erste Stück, der stumpfe, graue Draht, wurde auch dem ersten Test unterzogen. Er fütterte es in den Reaktor und stellte die Kontrollen auf minimale Aufwärmintensität ein. Nichts geschah. Er bedachte sich selbst mit einem finsteren Blick. Eines Tages würden sie bessere Geräte als die massiven, aber kniffligen Kingston-Kanes haben, Geräte, die jedes konvertierbare Material konvertierten. Dichte und Radioaktivität waren für diese Antriebe nicht ausreichend, der Stoff, den man ihnen anbot, mußte auch der richtige sein. Er ging zurück zu den Kingston-Kanes und zog den Draht wieder heraus. Das Ende war zur Formlosigkeit zusammengeschmolzen – ein Mißerfolg. Er nahm die zweite Probe, nicht so matt wie der erste Draht, aber auch von grauer Farbe, schob ihn in die Eingabe, kehrte zu den Kontrollen zurück und aktivierte die Energiezufuhr. Sofort fauchten die Heck-
düsen auf, ein tiefer, konstanter Ton, die Schubanzeige zeigte sechzig Prozent der normalen Stärke. Einige Leute wären an diesem Punkt verrückt geworden. Nicht so Steve. Seine langen, raubvogelähnlichen Züge zuckten, er griff in seine Tasche nach der dritten Probe und versuchte es mit dieser. Kein Glück. Auch das vierte Stück war wertlos. Das fünfte erzeugte eine Reihe heftiger, rhythmischer Feuerstöße, die das Schiff vom einen zum anderen Ende durchschüttelten, die Schubanzeige tanzte zwischen einhundertzwanzig und null Prozent hin und her. Steve stellte sich die Erkundungsschiffe vor, wie sie holpernd und schlingend durch das All tuckerten, wie mit Außenbordmotoren versehen, während er den Draht entfernte. Der sechste brachte die Nadel zu einem erfreulichen Ausschlag von einhundertundsiebzig Prozent. Die siebte Probe erwies sich wieder als Fehlschlag. Er warf alles weg, mit Ausnahme der Reste des sechsten Drahtes. Dieser maß etwa drei Millimeter im Durchmesser und war damit für seine Zwecke bestens geeignet. Er hatte eine tiefe kupferrote Färbung, war aber weder so weich wie Kupfer, noch besaß er dessen Masse. Hart, spröde und leicht, wie Telefonkabel. Wenn es noch ungefähr tausend Meter davon da unten gab, und wenn es ihm gelang, diese zum Schiff zu bringen, und wenn dieses goldene Ding nicht kam und seine Arbeit behinderte, dann gelang es ihm vielleicht, zu entkommen. Dann könnte er zu einem zivilisierten Ort gelangen – wenn er einen finden konnte. Seine Zukunft hing von einer ganzen Menge »wenns« ab.
Der einfachste und einleuchtendste Weg, um an den benötigten Schatz heranzukommen, bestand darin, ein Loch in das Dach zu sprengen, ein Kabel hinunterzulassen und den Draht mit Unterstützung der kleinen Winde des Schiffes hochzuziehen. Problem: Wie sprengt man ein Loch ohne geeignete Explosivstoffe? Antwort: Bohre ein Loch, gib das enthülste Pulver der Explosivgeschosse hinein, sprich ein Gebet und zünde das Zeug elektrisch. Er versuchte es mit einem Handbohrer. Die Spitze brach ab, als hätte er versucht, einen Diamanten anzubohren. Er holte sein Gewehr und ballerte ein Sprenggeschoß auf das Dach, das mit einem lauten, trockenen Knall explodierte, Bruchstücke der Hülle heulten in den Himmel davon. Wo es aufgetroffen war, zeigten sich ein Pulverfleck und einige kleinere Kratzer. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als hinunterzusteigen und soviel er tragen konnte auf seine Schultern zu heben. Und es wegzutragen. Aber lange bevor er damit fertig sein würde, würde die Dunkelheit hereinbrechen, und er wollte dem goldenen Ding nicht im Dunkeln begegnen. Das war im Licht des Tages schon verhängnisvoll genug, oder im grünlichen Glühen im Inneren des Gebäudes, aber dieses Etwas hinter sich zu wissen, während er mit seiner Last durch die Nacht stolperte, war etwas, das er sich lieber nicht vorstellte. Er verschloß das Schiff und ließ Laura im Inneren zurück, ging entlang der meilenlangen Reihen der Schachteln und Käfige zur Maschinensektion und wieder zurück. Er hielt unterwegs kein einzigesmal an, um etwas näher zu betrachten. Er wollte nichts mehr untersuchen. Der Draht zählte, nur der Draht.
Und überdies, weltliche Gedanken über weltlichen Draht verhinderten, daß seine Gedanken sich verwirrten und er nicht mehr in der Lage war, sich zu konzentrieren. Trotzdem stand sein Gehirn in Flammen, während er suchte. Die Hälfte davon hatte ihre Aufmerksamkeit einer unerwarteten Rückkehr der goldenen Säule zugewandt; die andere Hälfte erschauerte unter der Freude einer baldmöglichen Rückkehr. Nach außen hin zeigte sein Benehmen nichts davon, es war ruhig, zielstrebig und methodisch. Nach ungefähr zehn Minuten hatte er eine große Rolle des kupferähnlichen Metalls gefunden, eine eiförmige Spule, kompliziert zusammengerollt, die neben einer zerlegten Maschine lag. Er versuchte sie aufzuheben, aber er konnte sie keinen Zentimeter bewegen. Das Ding war viel zu groß und zu schwer für ihn allein. Um den Draht auf das Dach zu bringen, war er gezwungen, diesen zu zerschneiden und in vier Portionen zu transportieren – und einige der inneren Windungen waren zusammengeschweißt. So weit, so gut! Seine Freiheit hing davon ab, ob er in der Lage war, einen Metalldraht ungefähr einhundertfünfzig Meter in die Höhe zu schaffen. Er mummelte einige Worte aus Lauras Vokabular vor sich hin. Obwohl er die Kneifzange schon in Händen hatte, nahm er sich noch Zeit zum Nachdenken und entschied, sich noch etwas umzuschauen, bevor er mit dieser Arbeit anfing. Es war eine kluge Entscheidung, die belohnt wurde, denn wenige hundert Meter weiter hinten fand er eine weitere Rolle, vollkommen rund und in gutem Zustand, einfach aufzurollen. Auch diese war zu schwer, um sie zu tragen, aber mit
einer immensen Muskelanstrengung gelang es ihm, sie umzukippen, so daß er sie vor sich herrollen konnte wie einen riesigen Reifen. Einigemal mußte er anhalten, die Rolle gegen den nächstgelegenen Kasten lehnen und sich ausruhen. Der letzte dieser Kästen erzitterte unter der Last der gewichtigen Rolle, sein durchscheinender, spinnenartiger Bewohner erschauerte in einer kurzen Imitation von Leben. Sein Unbehagen vor der Spinne machte ihm zu schaffen, er verkürzte seine Rast und rollte die Spule weiter. Violette Streifen waren erneut am Horizont zu erkennen, als er seine Last durch den mächtigen Eingang rollte und mit ihr den Fuß des Hügels erreichte. Dort ließ er sie liegen, zerschnitt den Draht mit seiner Kneifzange, nahm das freie Ende und erklomm den Hügel damit. Der Draht ließ sich ohne Hindernis aufrollen, bis er das Schiff erreichte, wo er ihn an der Winde befestigte, seine Beute einspannte und auf der Rolle des Reaktors wieder aufrollte. Die Nacht brach mit einem einzigen, raschen Schlag herein. Seine Hände zitterten unmerklich, doch sein Raubvogelgesicht war entschlossen und gleichmütig, als er vorsichtig das Ende des Drahtes in den automatischen Injektor und in die Zufuhr der Kingston Kanes einfädelte. Nachdem er das getan hatte, öffnete er die Tür zu Lauras Kabine und gab ihr einige der Früchte, die sie von dem Orobaum geerntet hatten. Sie akzeptierte das Mahl widerstandslos, noch immer überwältigt und nicht zum Reden aufgelegt. »Bleib hier drinnen, Liebling«, beruhigte er sie. »Wir verschwinden bald von hier und fliegen nach Hause.«
Er schloß sie wieder ein und setzte sich in den Pilotensessel, wobei er den Bugscheinwerfer einschaltete, der die Dunkelheit durchdrang und die vorausliegende Klippe beleuchtete. Dann drückte er die Energiezufuhr und wärmte die Düsen an. Ihr Heulen war gewaltig und beruhigend. Mit siebzig Prozent Überschuß an Energie mußte er bedeutend vorsichtiger sein: Es wäre zu dumm, wenn er sein eigenes Heck abschmelzen würde, nun wo er so kurz vor dem Erfolg stand. Er raste fast vor Ungeduld, als könne er das Verrinnen der Minuten, ja, der Sekunden, spüren. Aber er hielt sich zurück, heizte die Rückstoßdüsen an, ließ die steuerbord liegenden Stabilisatoren kurz aufflammen und sah den Hang zur Seite gleiten, als das Schiff sich auf seinem Torso drehte. Ein weiterer Flammenstoß, dann noch einer, bis das Raumschiff mit der Schnauze zum vorderen Ende des Daches zeigte. Da schien eine blasse Aura in der Dunkelheit vor ihm zu sein, er schaltete den Bugscheinwerfer aus, um sie besser sehen zu können. Es war ein heller, gelblicher Dunst, der über den Rand des gegenüberliegenden Hanges schien. Seine Nackenhaare sträubten sich prompt, als er es sah. Der Dunst nahm Form an, stieg höher. Seine Augen traten aus den Höhlen, als er seine Beobachtung fortsetzte, seine Hände waren an den Kontrollen festgefroren. Sein Rücken fühlte sich feucht an. Hinter ihm, in ihrer Reisekabine, verharrte Laura stumm, sie ging nicht unruhig auf und ab, wie sie das sonst immer tat. Er fragte sich, ob sie sich fürchtete. Mit einer unheimlichen Willensanstrengung, die ihn wie nichts zuvor erschöpfte, gelang es ihm, seinen
Kontrollhebel einige Zentimeter weiter zu bewegen, wodurch sich die Feuersäule der Heckdüsen verlängerte. Die ganze Zelle vibrierte, als das Schiff sich vorwärtsbewegte. Mit letztem Willen zwang Steve seine widerstrebenden Hände, die Startkontrollen zu handhaben. Mit einem donnernden Knall, der von den Felswänden widerhallte, schoß das kleine Raumschiff in den Himmel, getragen von einer mächtigen Feuersäule. Er blickte durch die Transpexkuppel nach unten und sah ein letztesmal hinab zu der großen, goldenen Säule, die majestätisch über die Hügel glitt; im nächsten Moment schon hatte er sie weit zurückgelassen, seine Flugbahn führte ihn den Sternen entgegen. Eine immense Erleichterung durchströmte seine Seele, obwohl er nicht wußte, was es dort unten zu fürchten gegeben hätte. Aber die Erleichterung war da, und sie war so groß, daß er sich keine Gedanken darüber machte, in welche Richtung er flog und wie lange er unterwegs sein würde. Das Glück blieb ihm treu, sein Optimismus war nicht vergeblich gewesen, denn während er noch immer unter völlig fremden Konstellationen flog, fing er, am siebenundzwanzigsten Tag seiner Fahrt, das Peilsignal von Hydra III auf. Er schrie seine Freude mit einem lauten »Juhuuuu!« hinaus, in der Meinung, niemand außer Laura könne ihn hören – doch er wurde auch noch anderswo gehört. Unten auf Oro, tief in der gigantischen Maschinenhalle, hielt der goldene Riese in seiner Arbeit inne, als lauschte er. Dann glitt er lautlos die immensen Regale entlang, ein Fach öffnete sich, und zwei gläserne
Karteikarten kamen heraus. Für einen Augenblick berührten die Platten die seltsame, funkelnde Substanz des Oroers, wobei sie mit kleinen Pünktchen versehen wurden. Dann verschwanden sie wieder in dem Fach, die Tür schloß sich. Die goldene Glorie mit den funkelnden Sternen glitt daraufhin wieder geräuschlos zurück in die Maschinenhalle. Etwas, den Göttern vergleichbar, hatte sich Notizen gemacht. Nichts, das in der Skala des Lebens tiefer gestanden hätte, wäre imstande gewesen, sie zu übersetzen, oder ihren ganzen Sinn zu erfassen. In einfachsten Worten hätte man den Text der einen Platte wohl folgendermaßen wiedergeben können: Zweibeiner, aufrecht, Rosa, Homo Intelligensis, Typ P. 739, angesiedelt auf Sol III, Archivnummer BDB – durchschnittlicher Erfolg. Vergleichsweise hätte der Text der anderen Platte lauten können: Flatterflügler, groß, krummschnabelig, mehrfarbig, Periquito Macao, Typ K, angesiedelt auf Sol III, Archivnummer BDB – durchschnittlicher Erfolg. Aber der funkelnde Bastler hatte die Aufzeichnungen seines Zeitvertreibs bereits wieder vergessen. Er hauchte seine Lebensessenz gerade einem diamantenen Falter ein.
Nächtliches Finale Commander Cruin stieg die ausfahrbare Leiter hinunter, zögerte auf der letzten Sprosse ein wenig und setzte dann erst einen Fuß auf das neue Territorium, schließlich auch den anderen. Das machte ihn zum ersten Wesen seiner Art auf einer unbekannten Welt. Unten blieb er im Sonnenlicht stehen, ein Bär von einem Mann, für diese Gelegenheit übertrieben pingelig gekleidet. Nicht ein Fleck verunzierte seine makellose grau-grüne Uniform, auf der juwelenbesetzte Orden für Tapferkeit funkelten und blitzten. Seine Stiefel glänzten, wie sie es seit ihrem Abflug von der Heimatwelt nicht mehr getan hatten. Die goldenen Glöckchen seines Ranges klingelten an seinen Sporen, als er behutsam einen Fuß vor den anderen setzte. Im tiefen Schatten unter dem Visier seines reichverzierten Helmes blitzten seine kalten Augen selbstzufrieden. Ein Mikrofon schwang aus der Luftschleuse, die er gerade verlassen hatte, zu ihm herunter. Er nahm es in eine gewaltige linke Pranke, seinen Blick unverwandt voraus gerichtet, mit der gespannten Aufmerksamkeit eines Mannes, der lange Visionen der Vergangenheit und noch längere Visionen der Zukunft sieht. In der Tat, dies war ein ebenso visionärer Augenblick wie es schon unzählige in der Geschichte seiner Welt gegeben hatte. »Im Namen Hulds und der Bewohner von Huld«, deklamierte er offiziell, »ergreife ich Besitz von diesem Planeten.« Dann salutierte er, geschwind und geschickt, wie ein Automat.
Bei seiner Geste feuerten zweiundzwanzig lange schwarze Raumschiffe gleichzeitig einen Böllerschuß aus ihren Bugkanonen ab, ihre Flaggenmasten trugen die rot-schwarz-goldenen Farben von Huld. Im Innern der Raumschiffe standen zweiundzwanzig Besatzungen à siebzig Mann in Habachtstellung, salutierten ebenfalls und stimmten die hervorragend einstudierte Hymne »Oh himmlisches Vaterland Huld« an. Als sie mit dem Lied fertig waren, salutierte Commander Cruin erneut. Die Besatzungen wiederholten ihren Salut. Die Flaggen wurden eingezogen. Cruin erklomm die Leiter, betrat sein Flaggschiff. Alle Schleusen waren verschlossen. Entlang der Talsohle lagen die zweiundzwanzig Invasoren in militärischer Formation, in exakt gleichen Abständen, Nasen und Hecks in einer Linie ausgerichtet. Auf einem niederen Hügel, ungefähr eine Meile entfernt, in östlicher Richtung, sandte ein Feuer eine dicke Qualmwolke himmelwärts. Es prasselte und loderte über den Überresten dessen, was das dreiundzwanzigste Schiff gewesen war – und das achte in der Reihe der Verluste, seit die Flotte vor drei Jahren aufgebrochen war. Dreißig damals. Zweiundzwanzig heute. Der Preis des Imperiums. In seiner Kabine angekommen, plazierte Commander Cruin seine Masse in dem Sessel hinter seinem Schreibtisch, nahm seinen schweren Helm ab und zupfte eine Tapferkeitsmedaille zurecht, die zum Teil hinter einer anderen verborgen war. »Schritt Nummer vier«, stieß er zufrieden hervor.
Der stellvertretende Kommandeur Jusik nickte respektvoll. Er überreichte dem anderen ein Buch. Cruin öffnete es und meditierte laut. »Schritt Nummer eins: Untersuche sorgfältig die Planeten, die für unsere Lebensform geeignet scheinen.« Er rieb seinen gewaltigen Unterkiefer. »Wir wissen, daß er geeignet ist.« »Jawohl, Sir. Dies ist ein großer Triumph für Sie.« »Vielen Dank, Jusik.« Ein schroffes Lächeln umspielte kurz eine Seite von Cruins breitem Gesicht. »Schritt Nummer zwo: Verweile im planetaren Schatten, nicht weniger als einen Planetendurchmesser entfernt, während Erkundungsboote die Welt nach Anzeichen höherer Lebensformen untersuchen. Drei: Wähle einen Landeplatz weit entfernt von Quellen möglichen Widerstandes, aber nahe genug an einer solchen Quelle, die bezwungen werden kann. Vier: Erkläre Hulds Besitzansprüche zeremoniell, wie es in der Vorschrift für Verhalten und Disziplin beschrieben ist.« Wieder bearbeitete er seinen Kiefer. »Das haben wir alles getan.« Das Lächeln kehrte zurück, und er sah zufrieden durch eine kleine Luke in der Nähe seines Stuhles hinaus. Die Luke umrahmte die Rauchsäule auf dem Hügel. Sein Ausdruck verwandelte sich in eine finstere Grimasse, seine Kiefermuskulatur verkrampfte sich. »Durchtrainiert und voll qualifiziert«, grollte er sardonisch. »Trotzdem eine Bruchlandung. Wieder ein Schiff und eine Besatzung verloren. Der achte Verlust. Im Astronautenausbildungslager werden Köpfe rollen, wenn ich zurückkehre.« »Jawohl, Sir«, stimmte Jusik pflichtbewußt zu. »Es
gibt keine Entschuldigung dafür.« »Es gibt für nichts eine Entschuldigung«, entgegnete Cruin. »Nein, Sir.« Verächtlich schnaubend schaute Cruin in das Buch. »Schritt Nummer fünf: Triff alle Vorbereitungen, die in der Verteidigungsanleitung festgelegt sind.« Er sah auf in Jusiks langes, glattrasiertes Gesicht. »Jeder Captain ist mit einer Verteidigungsvorschrift ausgestattet worden. Führen sie diese Befehle aus?« »Ja, Sir. Sie haben bereits begonnen.« »Das will ich ihnen auch geraten haben. Ich sollte eine Degradierung des Langsamsten veranlassen.« Er befeuchtete seinen großen Daumen und blätterte eine Seite um. »Schritt Nummer sechs: Wenn ein Planet Lebensformen von wahrscheinlicher Intelligenz beheimatet, verschaffe dir ein Exemplar.« Er legte sich in seinen Sessel zurück, grübelte einen Augenblick und bellte dann: »Nun, worauf warten Sie noch?« »Verzeihung, Sir?« »Beschaffen sie mir einige Exemplare«, brüllte Cruin. »Selbstverständlich, Sir.« Ohne zu zögern, salutierte Jusik und ging hinaus. Der Selbstschließer schloß die Tür hinter ihm. Cruin verfolgte ihn mit voreingenommenem Blick. »Zum Teufel mit den Trainingszentren«, grummelte er. »Sie haben ganz schön an Wert verloren, seit ich dort war.« Er stemmte die Beine gegen den Tisch und wakkelte mit den Füßen, um die Glöckchen zum Klingeln zu bringen, während er auf die Exemplare wartete.
Drei Exemplare erschienen aus freiem Willen. Sie standen mit großen Augen in einer Reihe nahe dem Bug des zweiundzwanzigsten Schiffes, dem letzten in der Reihe. Captain Somir lieferte sie persönlich ab. »Schritt Nummer sechs verlangt nach Eingeborenen, Sir«, erklärte er Commander Cruin. »Ich weiß, daß Sie bessere benötigen, aber diese fand ich unter unserem Bug.« »Unter Ihrem Bug? Sie landen, und innerhalb kürzester Zeit werden fremde Lebensformen bei Ihrem Raumschiff gesichtet? Wie sieht es mit Ihren Sicherheitsvorkehrungen aus?« »Sie sind noch nicht völlig fertiggestellt, Sir. Das braucht noch etwas Zeit.« »Was machen Ihre Alarmposten – schlafen?« »Nein, Sir«, versicherte Somir verzweifelt. »Sie hielten es nicht für notwendig, einen allgemeinen Alarm zu schlagen, wegen denen da.« Zögernd wurde Cruin die Lage klar. Sein Blick schweifte geringschätzig über das Trio hinweg. Drei Kinder. Einer war ein Junge, kniegroß, stupsnasig, der an einem winzigen Daumen lutschte. Dann ein mageres Mädchen mit Pferdeschwanz, offensichtlich älter als der Junge. Das dritte war ebenfalls ein Mädchen, fast so groß wie Somir, auch von magerer Erscheinung, aber mit einer Andeutung kommender Formen unter ihrem dünnen Kleid. Alle drei waren sommersprossig, alle hatten flammendrotes Haar. Das große Mädchen sagte zu Cruin: »Ich bin Marva – Marva Meredith.« Sie stellte ihre Gefährten vor. »Das ist Sue und das dort Sam. Wir wohnen dort drüben, in Williamsville.« Sie lächelte ihn an, und plötzlich bemerkte er, daß ihre Augen von einem tie-
fen und erstaunlichen Grün waren. »Wir suchten nach Blaubeeren, als wir Sie herunterkommen sahen.« Cruin grunzte und verschränkte die Arme über seinem Wanst. Die Tatsache, daß die Lebewesen dieses Planeten von seiner Gestalt waren, überraschte ihn nicht. Daß es auch anders sein könnte, das war ihm nie eingefallen. Nach huldischer Meinung mußten alle intelligenten Lebewesen von humanoider Form sein, und keine Entdeckung hatte bisher etwas Gegenteiliges erbracht. »Ich verstehe ihr fremdartiges Gebabbel nicht, und sie spricht nicht Huldisch«, sagte er zu Somir. »Sie muß blödsinnig sein, ihre Worte so zu verschwenden.« »Ja, Sir«, stimmte Somir zu. »Soll ich sie den Tutoren übergeben lassen?« »Nein. Das sind sie nicht wert.« Er betrachtete die Flecken des kleinen Jungen mit Abscheu, noch niemals zuvor hatte er ein solches Phänomen gesehen. »Sie sind böse gefleckt und leiden vielleicht an einer Krankheit. Brrrrr!« Er verzog das Gesicht angewidert. »Sind sie durch die Strahlensterilisationskammer gegangen, als sie hereinkamen?« »Selbstverständlich, Sir. Ich war sehr vorsichtig in dieser Beziehung.« »Verfahren Sie ebenso vorsichtig mit allen anderen, die Sie noch entdecken.« Langsam glitt sein autoritärer Blick von dem Jungen zu dem Mädchen mit dem Zopf und schließlich zu dem großen Mädchen. Er wollte sie nicht ansehen, doch er wußte, daß er es tun würde, das stimmte ihn etwas unbehaglich. Unwillig traf er ihre Augen. Sie lächelte erneut mit kleinen
Grübchen. »Schaffen Sie sie hinaus!« fuhr er Somir an. »Wie Sie befehlen, Sir.« Er stupste sie an und deutete auf die Tür. Die drei nahmen einander bei den Händen und gingen hinaus. »Tschüs!« zwitscherte der Junge ernsthaft. »Tschüs!« sagte Zöpfchen scheu. Das große Mädchen drehte sich unter der Tür um. »Auf Wiedersehen!« Er blickte sie verständnislos an und rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her. Sie lächelte ihm zu, dann schloß sich die Tür. »Auf Wiedersehen.« Er sagte das seltsame Wort zu sich selbst. Unter den Umständen, in denen es ausgesprochen worden war, war es wahrscheinlich ein Abschiedsgruß. Somit wußte er schon die Bedeutung von einem Wort ihrer Sprache. »Schritt Nummer sieben: Erreiche eine Verständigung durch Unterrichten von Exemplaren, bis sie des Huldischen mächtig sind.« Lehre sie. Laß sie nicht dich lehren – lehre sie. Die Sklaven müssen von den Herren lernen, nicht die Herren von den Sklaven. »Auf Wiedersehen.« Er wiederholte es mit wilder Selbstanklage. Eine unbedeutende Kleinigkeit, und doch ein Ungehorsam gegenüber dem Buch der Vorschriften. Es gibt für nichts eine Entschuldigung. Lehre sie. Die Sklaven. Raketen donnerten und fauchten ohrenbetäubend, als die Schiffe sich in die in der Verteidigungsvorschrift
beschriebenen Positionen begaben. Einige Stunden vorsichtigster Korrekturen waren dazu nötig. Am Ende hatte die Reihe sich zu zwei elfzackigen Sternen geformt, die Schnauzen zum Zentrum, die Hecks nach außen. Die Asche verbrannten Grases, verkohlter Büsche und Bäume bedeckte ein weites Gelände jenseits der drohenden Ringe der Hauptantriebsdüsen, die alles innerhalb einer Meile einäschern konnten. Nachdem das vollbracht war, zerrten schwitzende, verdreckte Besatzungen die Frontbewaffnung heraus und rejustierten sie auf die Räume zwischen den Raumschiffen. Die hinteren Waffen wurden dazu verwendet, nach hinten und oben zu decken. Bewaffnung und Heckdüsen bildeten nun einen beachtlichen Feuerschirm um den Doppelring der Raumschiffe. Das war ein huldischer Meisterplan, erdacht von huldischen Meisterplanern. In einem anderen, etwas fremdartigeren Vergleich war es die altbekannte Technik der Wagenburg, so unglaublich alt, daß man sie vergessen hatte und nur wenige Altertumsforscher noch damit vertraut waren. Aber keiner der Invasoren wußte das. Im Umkreis darum verteilten sie die kleinen, wendigen und wohlbewaffneten Erkundungsboote, von denen es zwei pro Schiff gab. Schnauzen nach außen, Hecks nach innen gerichtet, bereit für einen raschen Start, plazierte man sie paarweise neben den Mutterschiffen unter den Beschleunigungsdüsen und außerhalb der Reichweite der Ladebatterien. Es war eine Menge Herumgefliege nötig, um die Erkunder alle in exakt den gleichen Entfernungen und den gleichen Winkeln aufzustellen. Das gesamte Arrangement hatte die geometrische Exakt-
heit, die einem militärischen Verstand so gut gefällt. Von der Gangway, die über die saubere Oberfläche seines Flaggschiffes führte, betrachtete Commander Cruin seine Arbeitsmannschaften zufrieden. Organisation, Disziplin, Energie, blinder Gehorsam – das waren die primären Pfeiler der Leistungsfähigkeit. Auf ihnen war Huld groß geworden. Auf ihnen würde Huld noch größer werden. Er erreichte das Heckende und lehnte sich auf das Geländer, sein Blick glitt über die konzentrischen Ringe breiter, kurzer Raumschiffe. Seine eigene Mannschaft überprüfte die Winkel der beiden in Position gebrachten Erkunder. Vier Wachen, schwer bewaffnet, kamen, von Jusik angeführt, durch die Asche marschiert. Sie hatten sechs Gefangene. Als er ihn sah, bellte Jusik: »Halt!« Wachen und Bewachte stoppten mit einem Stampfen der Füße und einer Staubwolke. Jusik sah zu ihm hoch und salutierte. »Sechs Exemplare, Sir.« Cruin betrachtete sie ungerührt. Ein halbes Dutzend Männer im Durchschnittsalter in eintönigen, enganliegenden Kleidern. Er hätte kein Fingerschnipsen für sechstausend von ihnen gegeben. Der größte der Gefangenen, der zweite von links, hatte rotes Haar und saugte an etwas, das Rauch ausströmte. Seine Schultern waren breiter als die Cruins, aber er schien nicht halb so schwer. Unwillkürlich fragte der Commander sich, ob der Kerl grüne Augen hatte, aus dieser Entfernung konnte er das nicht sagen. Ihn unauffällig musternd, nahm dieser Gefangene das Rauchding aus dem Mund und sagte tonlos:
»Beim Hokuspokus – ein hoher Offizier!« Dann schob er das Ding wieder zwischen seine Lippen und fuhr fort, blauen Dunst zu erzeugen. Die anderen blickten zweifelnd drein, als verstünden sie nicht, oder glaubten seinen Worten nicht. »Gute Güte, nein!« sagte der zur Rechten, ein hageres Individuum mit dünnen, finsteren Gesichtszügen. »Wenn ich es dir sage«, beharrte Rotschopf mit gleicher, flacher Stimme. »Soll ich sie zu den Tutoren bringen, Sir?« fragte Jusik. »Ja.« Cruin trat vom Geländer zurück und zupfte sorgfältig seine weißen Handschuhe zurecht. »Und belästigen Sie mich erst wieder mit ihnen, wenn sie bescheinigt bekommen, daß sie reden können.« Er erwiderte den Gruß des anderen und ging die Gangway zurück. »Siehst du?« sagte Rotschopf und hob seine Füße gleichzeitig mit den Wachen. Es schien ihm eine sonderbare Freude zu bereiten, Gleichschritt mit den Wachen zu halten. Er winkte dem nächsten Gefangenen, wobei er eine Wolke aromatischen Rauches aus seinem Mund entweichen ließ. Die Tutoren Fane und Parth ersuchten am folgenden Abend um eine Unterredung. Jusik führte sie herein, und Cruin sah gereizt von dem Bericht, an dem er gerade schrieb, auf. »Nun?« Fane sagte: »Sir, diese Gefangenen schlugen vor, wir sollen eine gewisse Zeit ihre Behausungen mit ihnen teilen und sie dort das Sprechen lehren.« »Wie schlugen sie das vor?«
»Hauptsächlich durch Zeichen«, erklärte Fane. »Und was ließ Sie glauben, ein solch unsinniger Plan enthalte hinreichende Stichhaltigkeit, um ihn mir zu unterbreiten?« »Da gibt es Aspekte, hinsichtlich derer man Sie konsultieren sollte«, fuhr Fane unbeirrt fort. »Die Vorschrift für Verhalten und Disziplin verlangt, solche Angelegenheiten vor den kommandierenden Offizier zu bringen, dessen Entscheidung endgültig ist.« »Sehr richtig, sehr richtig.« Er betrachtete Fane nunmehr aus etwas wohlwollenderen Augen. »Um welche Angelegenheiten handelt es sich?« »Die Zeit spielt eine große Rolle für uns, je schneller diese Gefangenen unsere Sprache lernen, desto besser ist es. Hier sind ihre Gedanken abgelenkt durch ihre Abwesenheit. Sie denken zu oft an ihre Freunde und Familien. In ihren eigenen Häusern wäre das anders, und sie könnten wesentlich schneller lernen.« »Eine fadenscheinige Ausrede«, spottete Cruin. »Das ist noch nicht alles. Sie sind von Natur aus naiv und freundlich. Ich denke, wir müssen uns vor ihnen nicht fürchten. Wären sie uns feindlich gesinnt, hätten sie wohl schon längst angegriffen.« »Nicht unbedingt. Es ist weise, vorsichtig zu sein. Die Verteidigungsvorschrift weist wiederholt auf diese Tatsache hin. Diese Kreaturen wollen vielleicht erst unsere Kräfte erkunden, bevor sie versuchen, mit uns fertigzuwerden.« Fane erdreistete sich, anderer Meinung zu sein. »Ihr letzter Vorbehalt, Sir, ist ebenso der meine. Hier sind sie sechs Paar Augen und sechs Paar Ohren, mitten unter uns, und ihre Abwesenheit könnte in ih-
rer Heimatstadt Grund zur Unruhe geben. Brächten wir sie zurück, ihre Unversehrtheit würde die Unruhe verdrängen – und wir wären die Augen und Ohren!« »Wohl gesprochen«, fügte Jusik, der sich einen Moment vergaß, hinzu. »Schweigen Sie!« Cruin starrte ihn an. »Ich entsinne mich keiner Regel in den Vorschriften, die sich mit einem solchen Vorschlag befaßt. Lassen Sie mich das nachprüfen.« Er angelte nach seinen Büchern und suchte diese durch. Er verschwendete eine lange Zeit darauf, gab schließlich auf und sagte: »Die einzige diesbezügliche Regel scheint mir die über ›Nicht in den Vorschriften behandelte, unvorhersehbare Umstände‹ zu sein, die Entscheidung liegt somit völlig bei mir, sie muß im Licht besagter Umstände getroffen werden, unter der Voraussetzung, daß keinerlei andere Regelungen dadurch verletzt werden, die auch auf diese Situation anwendbar wären, und daß meine Entscheidung in keinster Weise die Kompetenzen eines anderen höheren Offiziers verletzt, in dessen Autorität sie hineingreift.« Er holte tief Atem. »Ja, Sir«, sagte Fane. »Selbstverständlich, Sir«, sagte Parth. Cruin runzelte heftig die Stirn. »Wie weit sind die Behausungen dieser Gefangenen entfernt?« »Eine Stunde Fußmarsch.« Er machte eine überzeugende Geste. »Sollte uns irgend etwas zustoßen – was ich für sehr unwahrscheinlich halte –, könnte ein Erkundungsboot ihre kleine Stadt auslöschen, noch ehe sie bemerken, was los ist. Ein Erkunder, eine Bombe, eine Minute!« Gerade noch rechtzeitig fügte er hinzu: »Auf Ihren Befehl, Sir.«
Cruin fühlte sich sichtlich geschmeichelt. »Ich sehe keinen Grund, warum wir uns ihre Dummheit nicht zunutze machen sollten.« Seine Augen blickten fragend zu Jusik, doch dieser schien das nicht zu bemerken. »Ihr beiden Tutoren habt mir euren Plan vorgetragen, ich heiße ihn gut und beauftrage euch, ihn durchzuführen. Nehmt zwei Psychologen mit – Kalma und Hefni.« »Sehr gut, Sir.« Er salutierte leidenschaftslos und ging hinaus, Parth folgte. Mit einem abwesenden Blick auf seinen halbfertigen Bericht spielte Cruin einige Zeit mit seinem Federhalter, blickte schließlich empor zu Jusik und meinte: »Worüber lächeln Sie?« Jusik verdrängte das Lächeln von seinem Gesicht und blickte ernst. »Nun kommen Sie schon. Heraus damit.« »Ich dachte gerade daran, Sir«, antwortete Jusik langsam, »daß drei Jahre in einem Schiff eine lange Zeit sind.« Cruin warf seinen Federhalter auf den Schreibtisch und stand auf. »War es für andere denn länger als für mich selbst?« »Für Sie«, sagte Jusik kühn, aber respektvoll, »war es wohl die längste Zeit von allen Besatzungsmitgliedern.« »Hinaus!« schrie Cruin. Er sah den anderen gehen, sah, wie der Selbstschließer die Tür zuzog, wartete auf das letzte Klikken. Sein Blick wandte sich der Luke zu, und seine kalten Augen sahen die hereinbrechende Dämmerung. Seine Sporenglöckchen waren still, als er so unbe-
weglich dastand und betrachtete, wie die unsichtbare Sonne ihre letzte Strahlenflut verschwenderisch über dem Himmel ausschüttete. Nach kurzer Zeit strömten zehn Gestalten durch das Zwielicht, dem fernen, baumbewachsenen Hügel zu. Vier davon trugen Uniformen, sechs waren in graue, formlose Kutten gehüllt. Während sie gingen, unterhielten sie sich mit vielen Gesten, einer von ihnen lachte. Er nagte auf seiner Unterlippe, sein Blick folgte ihnen, bis sie verschwunden waren. »Schritt Nummer acht: Schlage anfängliche Angriffe zurück, verwende die Techniken, die in der Verteidigungsvorschrift beschrieben sind.« Cruin schnob, eine Hand strich über die Orden für Tapferkeit und Verdienste. »Es gab keine Angriffe«, sagte Jusik. »Diese Tatsache ist mir nicht unbekannt.« Der Commander funkelte ihn an. »Ich hätte einen Angriff vorgezogen. Wir sind bereit. Je früher sie ihre Kräfte mit den unseren messen, desto früher erkennen sie auch, wer jetzt hier der Boß ist!« Er hakte beide Daumen in seinen silberverbrämten Gürtel ein. »Und außerdem würde es den Leuten etwas zu tun geben. Ich kann sie nicht immerzu die Vorschrift für Verhalten wiederholen lassen. Wir sind nun schon neun Tage hier, und nichts ist passiert.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu. »Schritt Nummer neun: Antworte mit einem Gegenschlag auf den Angriff unter Anwendung der Angriffstechniken, die in der Verteidigungsvorschrift näher beschrieben sind.« Erneut schnob er. »Wie kann einer auf etwas reagieren, das gar nicht erfolgte?«
»Das ist unmöglich«, wagte Jusik zu antworten. »Nichts ist unmöglich«, gab Cruin heftig zurück. »Schritt Nummer zehn: In dem unwahrscheinlichen Fall, daß fremde Individuen sich indifferent oder freundschaftlich verhalten, verharre in der Verteidigungsposition, während einigen Exemplaren die Sprache beigebracht wird, entsende in der Zwischenzeit Erkundungsboote, die das umliegende Land erkunden, bis an die Grenzen ihrer Flugzeit, verwende dabei nicht mehr als ein Fünftel der zu dieser Zeit vorhandenen Erkunder.« »Das erlaubt uns, acht oder neun Erkunder einzusetzen«, bemerkte Jusik gedankenverloren. »Worin besteht unser autorisierter Gegenschlag, wenn sie nicht zurückkehren?« »Warum fragen Sie das?« »Diese acht Erkunder, die ich, auf Ihren Befehl, aussandte, sind seit vier Perioden überfällig.« Heftig erregt warf Commander Cruin sein Buch beiseite. Sein breites, massiges Gesicht war dunkelrot. »Zweiter Commander Jusik, es war Ihre Aufgabe, mir diese Tatsache in dem Augenblick zu melden, als die Schiffe überfällig wurden.« »Das habe ich«, sagte Jusik unerschüttert. »Sie haben eine Flugkapazität von vierzig Perioden, wie Sie wissen. Sie hätten vor kurzem zurück sein müssen. Nun sind sie zu spät dran.« Cruin trampelte zweimal durch den Raum, seine Orden klimperten, seine Sporenglöckchen klingelten. »Die Antwort auf Nichterscheinen besteht in einem unverzüglichen Absuchen des Geländes, in dem sie vermißt sind.« »Welches Gelände, Sir?«
Cruin hielt im Schritt inne und bellte: »Sie sollten das wissen! Diese Erkunder hatten sorgfältig ausgearbeitete Flugrouten, oder etwa nicht? Es ist eine einfache Angelegenheit, zu –« Er verstummte, als ein schrilles Wimmern über ihnen erklang, in der Ferne zu einem dumpfen Brummen absank und sich wieder heulend näherte. »Nummer eins.« Jusik betrachtete den kleinen Zeitmesser an der Wand. »Spät, aber angekommen. Vielleicht werden die anderen nun auch eintreffen.« »Irgend jemand wird eine gehörige Lektion erhalten, wenn das nicht der Fall ist!« »Ich werde sehen, was er zu berichten hat.« Jusik salutierte und eilte zur Tür hinaus. Cruin starrte durch seine Luke und betrachtete den pflichtvergessenen Erkunder, dessen Schiff auf dem Bauch zur nächsten Formation glitt. Er kaute unentwegt auf seiner Unterlippe, ein langsames, abwesendes Kauen, das zeigte, daß seine Gedanken in den Labyrinthen ihrer selbst wandelten. Hinter der Schneise aus dumpfer, toter Asche blühten goldene Butterblumen im Gras, Bienen summten, und die Blätter der Bäume säuselten unentwegt im Wind. Vier Maschinenraumarbeiter hatten diese Zuflucht entdeckt und im Schatten eines Baumes niedergelegt. Mit geschlossenen Augen, ihre Hände zupften müßig im sie umgebenden Gras, führten sie eine lässige, zusammenhanglose Unterhaltung, wodurch sie das Klingeln der sich nähernden Glöckchen von Cruins Sporen überhörten. Mit auffallend greller Gesichtsfarbe stand er vor ihnen und brüllte: »Steht auf!«
Sie schossen empor auf ihre Füße und standen bewegungslos, Schulter an Schulter, die Gesichter ausdruckslos, die Augen geradeaus, die Hände an die Seiten gepreßt. »Eure Namen?« Er schrieb sie in sein Notizbuch, gehorsam wiederholten sie sie in präziser, unberührter Ausdrucksweise. »Ich werde mich später um euch kümmern«, versprach er. »Marsch!« Gemeinsam salutierten sie und marschierten mit einem rhythmischen Anschlag der Stiefel davon, einszwo-drei-hup! Sein ärgerlicher Blick folgte ihnen, bis sie den Schatten ihres Schiffs erreichten. Keine Sekunde früher wandte er sich um und ging weiter. Er erklomm den Hügel, eine unruhige Hand ständig im kalten Griff seiner Waffe, erreichte den Kamm und sah hinunter in das Tal, das er gerade verlassen hatte. In exakten, sauberen Positionen standen da die beiden Sternformationen der Schiffe von Huld, stumm und bedrohlich. Seine kalten, autoritären Augen wandten sich der anderen Seite des Hügels zu. Dort war die Landschaft idyllisch. Ein bewaldeter Hang fiel hinab zu einem kleinen Fluß, der sich in der dunstigen Ferne verlor, auf der anderen Seite war ein breites Muster kultivierter Felder zu erkennen, in denen drei Häuser standen. Er setzte sich auf einen großen Felsen und schob seine Waffe in ihre Halterung, ließ seinen Blick vorsichtig umherschweifen, brachte einen kleinen Stapel Ausarbeitungen aus seiner Tasche zum Vorschein und überflog diesen zum zwanzigstenmal. Ein kaum wahrnehmbarer Geschmack nach Kräutern und Harz umschmeichelte seine Nase beim Lesen.
»Ich umkreiste diesen Landeplatz in geringer Höhe und hielt ihn fotografisch fest, wobei ich sorgfältig darauf achtete, alle vorhandenen Maschinen zu erfassen. Zwei weitere Maschinen, die in der Luft waren, setzten ihren Weg fort, ohne den Versuch einzuschreiten. Es kam mir zu Bewußtsein, daß die Signale, die sie mir gaben, Einladungen zu einer Landung sein mochten, und ich entschied, die Gelegenheit zu nützen, wie es in der Vorschrift für Verhalten angeraten wird. Deshalb landete ich. Sie dirigierten mein Erkundungsschiff zu einem Abstellplatz am Ende der Landebahn und hießen mich willkommen.« Etwas zwitscherte melodisch in einem der nahen Bäume. Cruin sah auf, seine Hand griff automatisch nach seinem Halfter, aber es war nur ein Vogel. Er übersprang einige Teile des Berichts und las stirnrunzelnd die folgenden Worte: »... Unkenntnis der herkömmlichen Sprache machten es schwer für mich abzulehnen, und nach dem sechsten Trunk während meiner Tour durch die Stadt war ich plötzlich belastet mit einer merkwürdigen Paralyse der Beine und brach in den Armen meiner Begleiter zusammen. In der Meinung, sie hätten mich arglistig vergiftet, bereitete ich mich auf meinen Tod vor... kribbelte meine Kehle, während ich unartikulierte Laute von mir gab... ich war ein wenig krank.« Cruin rieb sich verwirrt sein Kinn. »Erst nachdem sie sich meiner Wiedergenesung versichert hatten, brachten sie mich zurück zu meinem Schiff. Sie winkten mir, als ich abhob. Ich entschuldige mich bei meinem Captain für die verspätete Rückkehr, möchte aber hinzufügen, daß Faktoren außerhalb meiner Kontrolle sie verursacht haben.«
Der Zwitscherer flog vor Cruins Beine und trällerte ihm wehleidig zu. Er stellte den Kopf schräg, als er Cruin aus hellen, klaren Augen anblickte. Er blätterte die Seite, die er gerade gelesen hatte, um und wandte sich der nächsten zu. Sie war in Maschinenschrift geschrieben und sorgfältig unterzeichnet mit Parth, Fane, Kalma und Hefni. »Scheinen nicht in der Lage, völlig einzuschätzen, was vorgefallen ist... scheinen das Eintreffen einer huldischen Flotte nur als belangloses Ereignis einzustufen. Sie verfügen über eine beachtliche Selbstsicherheit, die insoweit unverständlich ist, daß wir nichts entdecken konnten, das dieses Gebaren rechtfertigen würde. Eine Herrschaft über sie sollte so einfach sein, daß unser Heimatschiff, wenn es nicht zu schnell startet, die Nachricht einer Eroberung zusätzlich zu einer Entdeckung mit sich bringen kann.« »Eroberung«, murmelte er. Das Wort hatte einen mächtigen, imponierenden Klang. Es würde einen Aufschrei der Freude über den ganzen Planeten Huld erschallen lassen. Schon fünf vor ihm hatten Schiffe mit einer Entdeckungsmeldung zurückgesandt, aber noch niemand war so weit gereist wie er, niemand war so lange und erschöpfend geflogen, niemand war mit einem so großen, üppigen und reizvollen Planeten belohnt worden – und niemand hatte die Beschaffenheit der Funde gemeldet. Man kann keine Steinwüste erobern. Aber dies... In auffälligem und gebrochenen Huldisch sagte eine Stimme hinter ihm leise: »Guten Morgen!« Er fuhr herum, sein Gesicht verhärtete sich autoritär.
Ihre reinen, grünen Augen lachten ihn aus. »Erinnern Sie sich an mich – Marva Meredith?« Ihr flammendes Haar war windzerzaust. »Sie sehen«, fuhr sie in langsamen, ungeschickten Silben fort. »Ich spreche bereits ein wenig Huldisch. Nur ein paar Worte.« »Wer hat dir das beigebracht?« fragte er ungehobelt. »Fane und Parth.« »Ist es euer Haus, zu dem sie gegangen sind?« »O ja. Kalma und Hefni gastieren bei Bill Gleeson, Fane und Parth bei uns. Vater brachte sie zu uns. Sie teilen sich das Gästezimmer.« »Gästezimmer?« »Natürlich.« Sie hockte sich auf seinen Felsen und zog die schlanken Beine an, das Kinn auf die Knie aufgestützt. Er bemerkte, daß ihre Beine, wie ihr Gesicht, gesprenkelt waren. »Natürlich. Jeder hat ein Gästezimmer, oder nicht?« Cruin sagte nichts. »Haben Sie kein Gästezimmer in Ihrem Haus?« »Haus?« Seine Augen wichen den ihren aus und suchten den Vogel. Er war nicht mehr da. Irgendwie war seine Hand vom Halfter abgeglitten, er hatte es nicht bemerkt. Er hielt seine Hände zusammen, jede liebkoste die andere, umklammerte sie, als trösteten sie einander. Ihr Blick ruhte auf seinen Händen, als sie sanft und beharrlich sagte: »Sie haben doch sicher auch ein Zuhause... irgendwo... Oder nicht?« »Nein.« Ihre Beine glitten herab, sie stand auf. »Oh, das tut mir so leid.« »Du hast Mitleid mit mir?« Seine Augen fuhren zu
ihr herum. Sie enthielten Unglauben, Erstaunen und eine Spur Ärger. Seine Stimme war rauh. Er benötigte eine ganze Weile, bis er antwortete. »Du mußt ganz einfach dumm sein.« »So?« fragte sie demütig. »Kein Mitglied meiner Expedition hat ein Zuhause«, sprach er weiter. »Jeder Mann wurde sorgfältig ausgewählt. Jeder Mann wurde Prüfungen unterzogen, mußte die exaktesten Tests absolvieren. Intelligenz und technische Kompetenz genügten nicht, jeder mußte jung, kräftig und frei von Bindungen jeglicher Art sein. Sie wurden ausgewählt nach dem Gesichtspunkt, ob sie der Aufgabe gewachsen sind, ihre Arbeit zu verrichten, ohne hinderliche, moraluntergrabende Sentimentalitäten über die Leute, die dabei untergehen.« »Ich verstehe viele Ihrer langen Worte nicht«, erklärte sie. »Und Sie reden auch viel zu schnell.« Er wiederholte es langsamer und mit deutlicherer Betonung und fügte hinzu: »Die langen Reisen der Raumschiffe, die nur selten in der Heimat sind, können nicht durch heimwehkranke Mannschaften gefährdet werden. Wir haben Männer ohne Zuhause ausgewählt, weil sie Huld verlassen können, ohne sich etwas daraus zu machen. Sie sind Pioniere!« »Jung, stark, ohne feste Bindungen«, zitierte sie. »Und das macht sie stark?« »Eindeutig«, bestätigte er. »Männer, speziell für den Weltraum ausgewählt. Starke Männer.« Ihre Wimpern verbargen ihre Augen, sie sah hinunter auf ihre schmalen Beine. »Aber jetzt sind sie nicht im Weltraum. Sie sind hier, auf festem Boden.«
»Und wenn schon«, entgegnete er. »Nichts.« Sie breitete die Arme weit aus und atmete tief ein. »Wirklich nichts.« »Du bist noch ein Kind«, erinnerte er sie verächtlich. »Wenn du älter wirst –« »Wirst du vernünftiger sein«, endete sie für ihn, sie sang mit hoher, lieblicher Stimme. »Wirst du vernünftiger sein, wirst du vernünftiger sein, tra-la-la-lala!« Irritiert auf der Unterlippe kauend, folgte er ihr hinunter ins Tal zu den Schiffen. »Wohin gehen Sie?« »Zurück!« fauchte er. »Gefällt es Ihnen etwa da unten?« Ihre Augenbrauen hoben sich erstaunt. Zehn Schritte entfernt blieb er stehen und sah sie finster an. »Ist das etwa deine Angelegenheit?« »Ich wollte nicht neugierig sein«, entschuldigte sie sich. »Ich fragte, weil – weil –« »Warum?« »Ich fragte mich, ob Sie meinem Haus nicht einen Besuch abstatten wollen.« »Unsinn! Unmöglich!« Er stieg weiter den Hügel hinunter. »Vater hat das vorgeschlagen. Er glaubte, Sie würden uns gern einmal zum Essen besuchen. Frisches Essen. Ein Wechsel in der Diät. Etwas, um die Monotonie Ihres Alltags zu durchdringen.« Der Wind hob ihr karmesinrotes Haar und spielte damit, als sie ihn fragend ansah. »Er fragte Fane und Parth. Sie hielten es für eine ausgezeichnete Idee.« »Das taten sie?« Seine Züge schienen aus Eisen gegossen. »Sag Fane und Parth, ich erwarte sie bei Son-
nenuntergang zum Bericht.« Er pausierte, sagte dann: »Ohne Verspätung!« Sie setzte sich wieder auf den Felsen und betrachtete ihn, wie er schwerfällig den Hang hinunterstapfte, dem Doppelstern entgegen. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß, fast so, wie er seine gehalten hatte. Aber die ihren suchten einander nicht. In vollkommener Ruhe lagen sie bewegungslos, mit der erhabenen Geduld von Händen, alt wie die Zeit selbst. Da er die üble Laune des anderen erkannte, enthielt sich Jusik einiger Vorschläge, die ihm durch den Kopf gingen. »Rufen sie die Captains Drek und Belthan«, befahl Cruin. Als der andere gegangen war, legte Cruin den Helm auf den Tisch und betrachtete sich im Spiegel. Er war noch immer damit beschäftigt, die Ermüdungserscheinungen von seinem Gesicht zu tilgen, als sich nähernde Fußtritte ihn offiziell hinter seinen Schreibtisch drängten. Beim Eintreten salutierten die beiden Captains und blieben unbeweglich in Habachtstellung stehen. Cruin starrte sie drohend an, sie behielten allerdings ihre hölzernen Mienen bei. Endlich sagte er: »Ich fand vier Männer wie undisziplinierte Strolche außerhalb der Sicherheitszone herumlungern.« Er sah zu Drek. »Sie waren von Ihrem Schiff.« Der Blick glitt zu Belthan. »Sie sind der heutige Offizier vom Wachdienst. Hat mir einer von Ihnen etwas zu sagen?« »Sie hatten Freizeit und die Erlaubnis, das Schiff zu verlassen«, erklärte Drek. »Sie wurden gewarnt, die Aschezone nicht zu verlassen.«
»Ich habe keine Ahnung, wie sie durchkommen konnten«, sagte Belthan in offizieller Monotonie. »Offensichtlich haben die Wachen ihre Pflicht vernachlässigt. Der Fehler lag bei mir.« »Das wird in der Beförderungsliste gegen Sie zählen«, versprach Cruin. »Bestrafen Sie die vier sowie die verantwortlichen Wachen, wie es in der Vorschrift für Verhalten und Disziplin vorgeschrieben ist.« Er lehnte sich gegen den Schreibtisch, um sie eingehender zu observieren. »Eine Wiederholung wird Ihnen eine zeremonielle Degradierung einbringen!« »Jawohl, Sir«, antworteten sie im Chor. Ohne sie zu beachten, wandte er sich an Jusik. »Wenn die Tutoren Fane und Parth sich melden, schicken Sie sie unverzüglich zu mir.« »Wie Sie befehlen, Sir.« Cruin sah einen Augenblick weg, dann kehrte sein Blick zum Ausgangspunkt zurück. »Was ist los mit Ihnen?« »Mit mir?« Jusik straffte sich. »Nichts, Sir.« »Sie lügen! Man muß mit einer Person zusammenleben, um sie zu kennen. Ich lebe seit drei Jahren an Ihrer Seite. Ich kenne Sie zu gut, um mich täuschen zu lassen. Etwas geht Ihnen im Kopf herum.« »Es ist wegen der Leute«, gab Jusik resigniert zu. »Was ist mit ihnen?« »Sie sind unruhig.« »Sind sie das? Nun, dagegen weiß ich eine Kur. Warum sind sie denn unruhig?« »Verschiedene Dinge, Sir.« Cruin wartete, während Jusik stumm stehenblieb, schließlich brüllte er: »Was ist, soll ich Sie vielleicht bitten?«
»Nein, Sir«, protestierte Jusik unwillig. »Es sind viele Dinge. Die Inaktivität. Die Durchführung langweiliger Routinearbeiten. Das ewige Warten, Warten, Warten, nach dreijährigem Eingesperrtsein. Sie warten – und nichts geschieht.« »Was noch?« »Das Wissen um familiäres Zusammenleben direkt hinter der Asche. Die Erkenntnis, daß Fane und Parth das mit Ihrer Erlaubnis genießen. Die Geschichten der Erkunder über ihre Erfahrung bei der Landung.« Sein Blick war starr, als er fortfuhr. »Wir haben inzwischen fünf Geschwader Erkundungsboote ausgesandt, insgesamt vierzig Schiffe. Nur sechs davon kamen pünktlich zurück. Der gesamte Rest kam zu spät, mit einer mehr oder weniger plausiblen Entschuldigung. Die Piloten haben geredet und den Männern zahlreiche Souvenirfotos und Geschenke gezeigt. Einer von ihnen erwartet eine Bestrafung wegen Einschmuggelns einiger Flaschen der Paralysemixtur. Aber der Schaden ist angerichtet. Ihre Geschichten haben die Männer durcheinandergebracht.« »Noch mehr?« »Ich bitte um Verzeihung, Sir, es war auch Ihr Anblick beim Streifzug auf den Hügel. Sie beneiden Sie selbst darum!« Er sah Cruin offen an. »Auch ich beneidete Sie.« »Ich bin der Commander«, sagte Cruin. »Jawohl Sir.« Jusik sah ihn unverwandt an, sagte aber nichts mehr. Wenn der Zweite Commander einen Zornesausbruch erwartet hatte, so wurde er enttäuscht. Eine komplizierte Folge von Emotionen jagten einander über das
breite, bullige Gesicht seines Vorgesetzten. Als er sich in seinem Sessel zurücklegte, sahen Cruins Augen abwesend durch die Luke, während sein Verstand Jusiks Worte abwog. Plötzlich krächzte er: »Ich habe mehr beobachtet, mehr vorhergesehen und den Gründen mehr Nachdenken gewidmet als Sie vielleicht wahrhaben wollen. Ich sehe etwas, das vielleicht Ihrer Aufmerksamkeit entgangen ist. Das hat mir einiges Unbehagen verursacht. Wenn es uns nicht gelingt, mit der Zeit Schritt zu halten, dann finden wir uns unter Umständen in einer sehr mißlichen Situation wieder.« »In der Tat, Sir?« »Ich möchte nicht, daß Sie das irgend jemandem gegenüber erwähnen: Ich habe den Verdacht, wir sind in eine Situation hineingeschlittert, auf die sich keine Regel in den Vorschriften anwenden läßt.« »Wirklich, Sir?« Jusik leckte sich die Lippen, er fühlte, wie seine Aussagen in eine unerwartete Richtung führten. »Betrachten Sie unsere gegenwärtige Situation«, sprach Cruin weiter. »Wir haben uns hier niedergelassen und verfügen über Kräfte, diesen Planeten zu unterjochen. Jede Bombe aus unserem Vorrat wäre in der Lage, ein Stück der Oberfläche des Planeten wegzufegen, von Horizont zu Horizont. Aber sie sind von keinerlei Nutzen, wenn wir sie nicht effektiv einsetzen. Wir können sie nicht irgendwo wahllos abwerfen. Wenn wir so sorglos mit ihnen umgehen, wird das unsere Gegner nicht überzeugen und nicht den harten Kern ihres Widerstandes brechen, wir fänden uns unbewaffnet in einer feindlichen Welt. Keine weiteren Bomben. Keine näher als sechs Jahre, drei
hin und drei zurück. Daher müssen wir unsere Kräfte einsetzen, wo sie am besten zur Geltung kommen.« Er begann sein massiges Kinn zu massieren. »Wir wissen nicht, wo wir sie einsetzen sollen.« »Nein, Sir«, stimmte Jusik tonlos zu. »Wir müssen herausfinden, welche Städte das Rückgrat ihrer Zivilisation bilden, welche Personen die anerkannten Führer dieses Planeten sind und wo sie sich befinden. Wenn wir zuschlagen, dann an den Nervenzentren. Das heißt, wir sind unfähig, ehe wir nicht die nötigen Informationen haben. Das wiederum bedeutet, wir müssen die Verständigung mit Hilfe der Tutoren ausbauen.« Er begann seine Kiefermuskulatur zu massieren. »Und das kostet Zeit!« »Sicher Sir, aber –« »Aber während die Zeit verrinnt, verdunstet die Moral der Männer. Dies ist unser zwölfter Tag, und die Männer sind unruhig. Morgen werden sie es noch mehr sein.« »Ich habe eine Lösung hierfür, Sir, wenn Sie mir verzeihen wollen, daß ich sie Ihnen unterbreite«, sagte Jusik eifrig. »Auf Huld hat jeder jeden fünften Tag frei. Sie können hingehen, wo sie wollen, und tun, was sie wollen. Wenn Sie nun einen Befehl bekanntmachen würden, der den Männern einen freien Tag in zehn Tagen zusichert, wir würden nicht mehr als zehn Prozent unserer Stärke pro Tag einbüßen. Wir können diese Verringerung verkraften, wenn man sich unsere Macht betrachtet, besonders, wenn mehr der anderen mit unseren Leuten beschäftigt werden.« »So erfahre ich nun doch noch, was in Ihrem Verstand vor sich geht. Es offenbart sich in einer raschen
Wortflut.« Er lächelte grimmig, als der andere aufbrauste. »Ich habe auch schon daran gedacht. Ich bin nicht ganz so bar jeder Vorstellungskraft, wie Sie mich vielleicht einschätzen.« »Ich sehe Sie nicht auf diese Art und Weise, Sir«, protestierte Jusik. »Vergessen Sie's. Lassen wir es dabei. Um zu diesem freien Tag zurückzukommen – da liegt die Falle! Das ist das Dilemma, über das keine Vorschrift Auskunft gibt, die Situation, für die ich keine offiziell vorbereitete Formel finden kann.« Er legte seine Hand auf sein Pult und klopfte ungeduldig auf die Oberfläche. »Wenn ich diesen Männern ein klein wenig Freiheit gewähre, dann werden sie noch unruhiger werden natürlich. Wenn ich ihnen die Freiheit gebe, die sie sich wünschen, werden sie Erfahrungen austauschen mit Lebewesen, die, wenn auch fremdartig, einen normalen Lebenswandel führen und wiederum unruhiger werden – natürlich!« »Erlauben Sie mir, letzteres zu bezweifeln, Sir. Unsere Mannschaften sind Huld gegenüber loyal. Möge der schwärzeste Weltraum etwas anderes verhüten!« »Sie waren loyal. Vielleicht sind sie es noch immer.« Cruins Gesicht zuckte, als seine Erinnerung die folgenden Worte zutage förderte. »Sie sind jung, gesund und ohne feste Bindungen. Im All bedeutet das etwas bestimmtes. Hier etwas anderes.« Er erhob sich langsam, groß, bullig und imposant. »Ich weiß das!« Jusik sah ihn an und fühlte, daß er es in der Tat wußte. »Ja, Sir«, plapperte er gehorsam nach. »Daher fällt die Entscheidung, was das beste ist, allein mir zu. Ich muß die Initiative ergreifen. Als Zweiter Commander ist es Ihre Aufgabe, sich um die
ordnungsgemäße Ausführung meiner Befehle zu kümmern.« »Ich kenne meine Pflicht, Sir.« Jusiks scharfgeschnittene Züge zeigten Anzeichen steigenden Unbehagens. »Und es ist meine letzte Entscheidung, die Männer müssen vor einem weiteren Kontakt mit unseren Gegnern zurückgehalten werden, ohne eine Ausnahme, abgesehen von den vier Technikern, die gemäß meinen Anweisungen operieren. Den Mannschaften darf es nicht gestattet werden, die Ascheregion zu verlassen. Jeglicher Keim von Widerstand ihrerseits muß unverzüglich und hart bestraft werden. Sie werden die Captains instruieren, auf unwilliges Murmeln unter ihren Besatzungen zu achten, und dieses, sofort, wenn sie es bemerken, zum Verstummen zu bringen.« Sein Kiefer war gespannt, als er den anderen musterte, seine Augen kalt wie Eis. »Alle Erkundungsflüge werden ab sofort untersagt, alle Erkundungsschiffe verbleiben am Boden. Keines wird ohne meinen persönlichen Befehl bewegt.« »Dadurch werden uns eine Menge Informationen entgehen«, hielt Jusik ihm entgegen. »Der letzte Flug in den Süden führte zur Entdeckung von zehn verlassenen Städten, darin liegt eine Signifikanz, die wir –« »Ich sagte, die Flüge werden untersagt!« brüllte Cruin. »Wenn ich sage, die Schiffe werden hellrosa angemalt, dann werden sie hellrosa angemalt, ausnahmslos und vollständig, von Anfang bis Ende. Ich bin der Commander!« »Wie Sie befehlen, Sir.« »Zuletzt werden Sie den Captains mitteilen, daß sie ihre Schiffe für eine Inspektion meinerseits am mor-
gigen Nachmittag vorzubereiten haben. Das wird den Besatzungen Arbeit geben.« »Sehr wohl, Sir.« Er salutierte ärgerlich und öffnete die Tür, um hinauszugehen. »Hier sind Fane, Kalma, Parth und Hefni, Sir.« »Führen Sie sie herein.« Nachdem Cruin seinen Ansichten nachdrücklich Ausdruck verliehen hatte, sagte Fane: »Wir erkennen die Dringlichkeit, Sir, und wir tun unser Bestes, aber es ist zweifelhaft, ob sie in den nächsten vier Wochen flüssig sprechen lernen. Sie lernen sehr langsam.« »Ich möchte keine flüssige Sprechweise«, brummte Cruin. »Alles, was sie brauchen, sind die Worte, die sie benötigen, um uns alles, was wir wissen wollen, zu sagen, alles, was wir wissen müssen, ehe wir weitere Schritte unternehmen können.« »Ich meinte hinreichende Flüssigkeit«, erinnerte Fane. »Im Augenblick machen sie sich noch größtenteils durch Zeichen verständlich.« »Das flammenhaarige Mädchen tat das nicht.« »Sie ist sehr schnell«, wandte Fane ein. »Wahrscheinlich besitzt sie eine überdurchschnittliche Sprachbegabung. Unglücklicherweise hat sie keine Ahnung vom Militär und ist deshalb völlig wertlos für uns.« Cruin maß ihn mit unheilvollen Blicken. Seine Stimme wurde leise und bedrohlich. »Sie haben mit diesen Leuten viele Tage lang zusammengelebt. Ich betrachte Ihre Züge und finde sie verändert. Woran liegt das?« »Verändert?« Die vier tauschten fragende Blicke aus.
»Ihre Gesichter haben ihre Linien verloren, ihre Weltraumschärfe. Ihre Wangen sind plump und wohlgefärbt. Ihre Augen nicht mehr müde. Sie glänzen. Sie haben den selbstzufriedenen Ausdruck eines fetten Skodar, der in seinem Trog watschelt. Es ist offensichtlich, daß Sie gut für sich selbst gesorgt haben.« Er beugte sich nach vorn, den Mund häßlich verzogen. »Ist es möglich, daß Sie keine große Eile haben, ihre Aufgabe zu erfüllen?« Sie waren sichtlich schockiert. »Wir haben gut gegessen und regelmäßig geschlafen«, sagte Fane. »Wir fühlen uns besser dadurch. Unsere physische Konstitution hat es uns seither erlaubt, um so härter zu arbeiten. Nach unserer Meinung unterstützt der Feind uns widerwillig mit seiner Gastfreundschaft, und da die Vorschriften –« »Gastfreundschaft?« unterbrach Cruin ihn scharf. Fane verlor fast sein geistiges Gleichgewicht, als er nach einem weniger freundschaftlichen Begriff suchte. »Ich gebe Ihnen eine weitere Woche«, sagte der Commander frostig. »Nicht mehr. Keinen einzigen Tag mehr. Zu diesem Zeitpunkt, eine Woche von heute an gerechnet, werden Sie sich mit sechs Gefangenen bei mir melden, die unsere Sprache hinreichend verstehen, um meine Fragen beantworten zu können.« »Das wird schwierig sein, Sir.« »Nichts ist schwierig. Nichts ist unmöglich. Es gibt für nichts eine Entschuldigung.« Er starrte Fane unter zusammengezogenen Brauen an. »Sie kennen meine Befehle – gehorchen Sie ihnen!« »Ja, Sir.«
Sein kalter Blick wanderte zu Kalma und Hefni. »Soviel zu den Tutoren; nun zu Ihnen. Was haben Sie mir zu sagen? Was haben Sie herausgefunden?« Mit nervösem Blinzeln sagte Hefni: »Es ist nicht sehr viel. Das Sprachproblem ist –« »Möge die Gewaltige Sonne aufflammen und das Sprachproblem vernichten! Wieviel habt ihr herausgefunden, während ihr euch die Bäuche vollgeschlagen habt?« Mit einem Blick auf seinen Uniformgürtel, als würde er sich plötzlich schmerzlich dessen Enge bewußt, sagte Hefni: »Sie sind über die Maßen sonderbar insofern, als sie außerordentlich hoch zivilisiert zu sein scheinen, allerdings nur in einer domestiken Weise, aber primitiv in allem anderen. Diese MeredithFamilie lebt in einem festen, wohleingerichteten Haus. Sie haben jeden erdenklichen Komfort, einschließlich eines Farbfernsehempfängers.« »Sie träumen! Wir suchen noch immer nach den Geheimnissen der ebenen Bildübertragung auf Huld selbst. Farbe ist undenkbar.« Kalma warf ein: »Nichtsdestotrotz haben sie es. Wir haben es selbst gesehen.« »So ist es«, bekräftigte Fane. »Schweigt!« Cruin verbrannte ihn mit seinem Blick. »Ich bin fertig mit Ihnen. Ich beschäftige mich jetzt mit den beiden anderen.« Seine Aufmerksamkeit wandte sich wieder dem bebenden Hefni zu. »Fahren Sie fort.« »Es umgibt sie ein merkwürdiges Geheimnis, das wir bis heute noch nicht verstanden haben. Sie haben kein Zahlungssystem. Sie tauschen Güter gegen Gü-
ter, ohne Rücksicht auf den relativen Wert, den sie haben. Sie arbeiten, wenn sie Lust dazu haben. Wenn sie keine Lust haben, dann arbeiten sie nicht. Trotzdem, dessen ungeachtet, arbeiten sie die meiste Zeit.« »Warum?« fragte Cruin ungläubig. »Wir fragten sie. Sie sagten, man arbeitet, um der Langeweile zu entgehen. Wir können diese Einstellung nicht verstehen.« Hefni machte eine Geste des Scheiterns. »An vielen Orten haben sie kleine Fabriken, die sie in ihrer fremden und pervertierten Logik als Vergnügungszentren bezeichnen. Diese Zentren arbeiten nur, wenn Leute zum Arbeiten kommen.« »Hm?« Cruin schien verblüfft. »In Williamsville, zum Beispiel, einer kleinen Stadt, eine Stunde zu Fuß vom Heim der Merediths entfernt, ist eine Schuhfabrik. Sie arbeitet jeden Tag. Machmal sind nur zehn Arbeiter anwesend, manchmal auch fünfzig oder hundert, aber niemand kann sich erinnern, daß die Fabrik je stillgestanden hätte, aus Mangel an nur einem Arbeiter. Merdediths älteste Tochter, Marva, hat während unserer Anwesenheit drei Tage dort gearbeitet. Wir fragten sie nach den Gründen.« »Was hat sie gesagt?« »Zum Spaß.« »Spaß... Spaß... Spaß?« Cruin kämpfte um seine Beherrschung. »Was soll das bedeuten?« »Das wissen wir nicht«, erklärte Hefni. »Die Sprachbarriere –« »Rote Flammen mögen die Sprachbarriere verschlingen!« bellte Cruin. »War ihre Anwesenheit erzwungen?« »Nein, Sir.«
»Sind Sie sich dessen sicher?« »Definitiv. Man arbeitet nur in der Fabrik, wenn einem danach zumute ist.« »Für welchen Lohn?« »Alles oder nichts.« Hefni sprach es aus wie ein Träumender. »Eines Tages brachte sie ein Paar Schuhe für ihre Mutter mit. Wir fragten sie, ob das der Lohn für ihre Arbeit wäre. Sie verneinte das und meinte, jemand namens George habe sie gemacht und sie ihr gegeben. Der Rest der Produktion der Fabrik für diese Woche wurde zu einer anderen Stadt gebracht, die um Schuhe nachgefragt hatte. Diese andere Stadt sendet dafür eine Lieferung Leder, niemand weiß, wieviel – und niemanden scheint es zu kümmern.« »Sinnlos«, definierte Cruin. »Das ist richtiggehender Schwachsinn.« Er betrachtete Hefni, als unterstelle er ihm, er erfinde verwirrende Daten. »Es ist selbst für die primitivsten Organisationen unmöglich, derart wahllos zu verfahren. Offensichtlich haben Sie nur einen Teilausschnitt des Gemäldes gesehen, der Rest wurde vor Ihnen verborgen, oder aber Sie waren zu begriffsstutzig, um es zu verstehen.« »Ich stimme Ihnen zu, Sir«, antwortete Hefni. »Lassen Sie es gut sein«, unterbrach Cruin. »Warum sollte ich mir über ihr ökonomisches System Gedanken machen. Im Endeffekt werden sie arbeiten, wie wir das wollen!« Er stützte seinen massigen Kiefer mit einer Hand. »Da gibt es andere Angelegenheiten, die mich mehr interessieren. Zum Beispiel brachten unsere Erkunder die Nachricht über viele Städte. Einige sind organisiert, aber größtenteils unterbevölkert, andere sind völlig verlassen. Erstere ha-
ben ordentlich instand gehaltene Landeplätze mit Luftfahrzeugen, die sie benutzen. Wie können so primitive Wesen Luftfahrzeuge haben?« »Einige machen Schuhe, einige machen Luftfahrzeuge, einige treten im Fernsehen auf. Sie arbeiten ihren Begabungen und Neigungen entsprechend.« »Besitzt dieser Meredith ein Luftfahrzeug?« »Nein.« Der niedergeschlagene Ausdruck von Hefnis Gesicht verstärkte sich. »Wenn er eines wolle, dann würde er im Beschaffungs- und Anfrageprogramm des Fernsehens inserieren.« »Was dann?« »Früher oder später würde er eines bekommen, neu oder second-hand, entweder im Tausch oder als Geschenk.« »Nur indem er danach fragt?« »Ja.« Er erhob sich und ging in seinem Büro auf und ab. Die stählernen Absätze seiner Stiefel klackten auf dem Metallboden im Rhythmus mit seinen Glöckchen. Er war verärgert, ungeduldig und unzufrieden. »In all diesen Verrücktheiten gibt es nichts, das uns etwas über ihren wahren Charakter oder ihre Organisation erzählen würde.« Cruin unterbrach sein Aufund-ab-Gehen und sah Hefni an. »Sie erklärten mir, Sie würden die Augen und Ohren sein.« Er schnaufte lautstark. »Blinde Augen und taube Ohren! Nicht ein Wort über ihre zahlenmäßige Stärke, nicht ein –« »Verzeihung, Sir«, unterbrach Hefni ihn hastig. »Es gibt siebenundzwanzig Millionen von ihnen.« »Ah!« Cruin zeigte gespannte Aufmerksamkeit. »Nur siebenundzwanzig Millionen? Warum, auf
Huld gibt es die hundertfache Anzahl Einwohner, wobei die Landoberfläche auch nicht größer ist.« Er dachte einen Moment nach. »Größtenteils unterbevölkert. In vielen Städten wohnt keine Menschenseele. Sie verfügen über Luftfahrzeuge und andere Dinge, die an eine Zivilisation erinnern, die größer als ihre jetzige war. Sie verwenden die Überbleibsel eines ökonomischen Systems. Sie erkennen, was all das bedeutet?« Hefni blinzelte, antwortete aber nicht. Kalma blickte gedankenverloren. Fane und Parth waren ohne jeden Ausdruck. »Es bedeutet zwei Dinge«, erklärte Cruin weiter. »Krieg oder Krankheit. Das eine oder das andere – oder beides – und in größerem Ausmaß. Ich möchte Informationen darüber. Ich möchte wissen, welche Art von Waffen sie in ihrem Krieg verwendet haben, wie viele davon noch übrig sind und wo sie sind. Oder, im Gegensatz dazu, was für eine Krankheit sie so stark dezimiert hat, ihre Ursachen und die Heilung.« Er klopfte gegen Hefnis Brust, um seine Worte zu unterstreichen. »Ich möchte wissen, was sie vor uns verborgen halten, was sie von Ihrem Wissen erfahren wollen, das sie zu gegebener Zeit gegen uns verwenden könnten. Über all dem aber möchte ich wissen, was für Leute Befehlsgewalt für ihre Generaloffensive haben und wo sie sich befinden.« »Ich verstehe, Sir«, sagte Hefni zweifelnd. »Diese Art von Informationen brauche ich von Ihren sechs Exemplaren. Ich möchte Informationen, keine Einladungen zum Essen!« Er grinste häßlich, als er sah, wie Hefni zusammenzuckte. »Wenn Sie diese Informationen aus ihnen herausbekommen, ehe Sie
wieder bei mir vorsprechen müssen, dann werde ich das in Ihren Personalien positiv vermerken. Aber wenn ich, Ihr Commander, Ihre Arbeit tun und es selbst aus ihnen herauspressen muß, dann –« Vielsagend ließ er den Satz unbeendet. Hefni öffnete seinen Mund, schloß ihn wieder und sah nervös zu Kalma, der starr und stumm an seiner Seite stand. »Sie können gehen«, fuhr Cruin die vier an. »Sie haben eine Woche. Wenn Sie mich enttäuschen, werde ich das als Vergehen erster Ordnung betrachten und es, in Übereinstimmung mit dem Abschnitt über den Aktiven Dienst der Vorschrift für Verhalten und Disziplin bestrafen.« Sie waren bleich, als sie salutierten. Er sah sie hinausgehen, und seine Lippen kräuselten sich verächtlich. Er ging zur Luke und blickte hinaus in die umgehende Dunkelheit, wo ein Stern im Osten funkelte. Nieder und weit entfernt war er – aber nicht so weit wie Huld. Zur Mittagszeit des sechzehnten Tages erschien Commander Cruin sauber herausgeputzt und mit Orden überhäuft und dirigierte seine Füße, von Glöckchenklingeln begleitet, zum Hügel. Eine sauer dreinblickende Wache salutierte am Rand der Asche mit mehr als nachlässiger Gebärde. »Können Sie das nicht besser?« Er starrte in die verdrießlichen Augen des anderen. »Wiederholen Sie es!« Die Wache salutierte erneut, diesmal etwas schneller. »Sie sind aus der Übung«, informierte Cruin ihn.
»Wahrscheinlich sind alle Mannschaften aus der Übung. Wir werden ein Mittel dagegen finden. Wir werden jeden Tag eine bestimmte Zeit das Salutieren üben.« Sein Blick erforschte langsam das Gesicht der Wache. »Sind Sie stumm?« »Nein, Sir.« »Schweigen Sie!« brüllte Cruin. Er spannte seine Brust. »Setzen Sie Ihre Patrouille fort.« Die Augen des Wachsoldaten brannten vor Groll, als er zum drittenmal salutierte und sich mit dem üblichen Klicken der Absätze umdrehte, um weiter entlang der Grenze zu marschieren. Er erklomm den Hügel und setzte sich auf den Stein auf der Spitze. Sein Blick wanderte zu den Schiffen im Tal und zurück zur gegenüberliegenden Szenerie mit den Bäumen, Feldern und entfernten Häusern. Der metallene Helm mit den verzierten Schwingen drückte gegen seinen Kopf, doch er setzte ihn nicht ab. Im Schatten des Visiers suchten seine kalten Augen die Landschaft von einer Seite zur anderen ab. Endlich kam sie. Seit eineinhalb Perioden saß er schon, als sie kam – er hatte gewußt, sie würde kommen, ohne den sonderbaren Instinkt zu kennen, der es ihm verraten hatte. Sicherlich, er verspürte keinen Wunsch, sie zu sehen – überhaupt keinen Wunsch. Sie trippelte leichtfüßig unter den Bäumen, zusammen mit Sue und Sam und drei anderen Mädchen ihres Alters. Die Neuankömmlinge hatten große, dunkle, freundliche Augen, ihr Haar war dunkel, und sie waren langbeinig. »O, hallo!« Sie blieb stehen, als sie ihn sah. »Hallo!« echote Sue und wackelte mit ihren Zöpfen.
»'lo!« pfiff Sam, um nicht ausgelassen zu werden. Cruin starrte sie finster an. Seine Stiefel waren auf Hochglanz poliert, sein Helm glänzte in der Sonne. »Das sind meine Freunde«, sagte Marva in ihrem seltsam-akzentuierten Huldisch. »Becky, Rita und Joyce.« Die drei lächelten ihn an. »Ich brachte sie, um ihnen die Schiffe zu zeigen.« Cruin sagte nichts. »Es macht Ihnen nichts aus, wenn sie sich die Schiffe ansehen, oder?« »Nein«, grollte er mit Widerwillen. Schlaksig, aber würdevoll setzte sie sich ins Gras. Die anderen folgten unverzüglich ihrem Beispiel, mit Ausnahme von Sam, der mit seinen dicken Beinen breit stehenblieb, an seinem Daumen lutschte und feierlich Cruins dekorierte Jacke betrachtete. »Vater war enttäuscht, weil Sie uns nicht besuchen konnten.« Cruin antwortete nicht. »Möchten Sie heute abend kommen?« »Nein.« »An einem anderen Abend?« »Junge Lady«, sagte er schroff. »Ich mache keine Besuche. Niemand macht Besuche.« Sie übersetzte das den anderen. Sie lachten so herzlich, daß Cruin errötete und aufstand. »Was ist daran so lustig?« fragte er. »Nichts, nichts.« Marva war verwirrt. »Wenn ich es Ihnen sagen würde, ich hätte Angst, Sie würden es nicht verstehen.« »Ich würde es nicht verstehen.« Seine grimmigen Augen wurden wachsam und berechnend, während
sie über die drei Freunde glitten. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie über mich lachen. Dafür lachen sie über etwas, das ich nicht weiß. Sie lachen über etwas, das ich wissen müßte, das du mir aber nicht zu sagen wünschst.« Er beugte sich über sie, riesig und muskulös, während sie ihn mit ihren großen grünen Augen ansah. »Und welcher Ausspruch von mir enthüllte meine erheiternde Unwissenheit?« Ihr steter Blick verweilte auf ihm, aber sie antwortete nicht. »Ich sagte, niemand macht Besuche«, antwortete er. »Das war der erheiternde Ausspruch – niemand macht Besuche. Und ich bin kein Narr!« Er straffte sich und wandte sich um. »Daher werde ich das Namensverzeichnis abfragen!« Er konnte ihre Blicke auf sich fühlen, als er zum Tal hinunterging. Sie waren stumm, ausgenommen Sams kieksiges, kindliches »Tschüs!«, das er ignorierte. Ohne noch einmal zurückzublicken, betrat er sein Flaggschiff, stieg die metallene Leiter empor, ging zu seinem Büro und bat Jusik zu sich. »Befehlen Sie den Captains, die Namenslisten abzufragen.« »Stimmt etwas nicht, Sir?« erkundigte sich Jusik ängstlich. »Fragen Sie die Namenslisten ab!« bellte Cruin und zog seinen Helm ab. »Dann werden wir wissen, ob etwas nicht stimmt.« Wutentbrannt hing er seinen Helm an einen Kleiderhaken, setzte sich und rieb sich die Stirn. Fast eine ganze Periode lang blieb Jusik weg. Schließlich kehrte er zurück, graugesichtig, ernst.
»Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß achtzehn Männer fehlen, Sir.« »Sie lachten«, sagte Jusik bitter. »Sie lachten – weil sie es wußten!« Die Knöchel seiner Hand, die die Stuhllehne umklammerte, traten weiß hervor. »Verzeihung, Sir?« Jusiks Augenbrauen hoben sich. »Wie lange sind sie schon weg?« »Elf von ihnen hatten bis heute morgen Dienst.« »Das heißt, die anderen sieben werden seit gestern vermißt?« »Ich fürchte ja, Sir.« »Aber niemand hielt es für nötig, mir diese Tatsache mitzuteilen?« Jusik wand sich. »Nein, Sir.« »Haben Sie noch etwas herausgefunden, von dem man mich nicht informiert hat?« Der andere wand sich erneut, schien schmerzerfüllt. »Heraus damit, Mann!« »Dies ist nicht das erste Vergehen der Abwesenden«, sagte Jusik schließlich mit Schwierigkeiten. »Auch nicht ihr zweites. Vielleicht nicht einmal ihr sechstes.« »Wie lange geht das schon so?« Cruin wartete eine Weile, brüllte schließlich: »Machen Sie schon! Sie sind doch in der Lage, zu sprechen!« »Ungefähr zehn Tage, Sir.« »Wie viele Captains wußten davon und unterließen es, das zu melden?« »Neun Sir. Vier davon erwarten Ihre Einladung draußen.« »Was ist mit den anderen Fünf?« »Sie... sie –«, Jusik leckte sich die Lippen. Cruin richtete sich auf, seine Miene war gefährlich.
»Sie können die Wahrheit nicht verbergen, indem Sie sie einfach verschweigen.« »Sie sind unter den Abwesenden, Sir.« »Verstehe!« Cruin stapfte zur Tür und blieb dort stehen. »Wir können es als gegeben voraussetzen, daß auch andere sich ohne Erlaubnis entfernt haben, aber sie waren schlau genug, sich bis zum Appell wieder hier einzufinden. Das ist ihr Glück. Die wirkliche Anzahl der Ungehorsamen kann unmöglich festgestellt werden. Sie schlichen hinaus wie nächtliche Tiere, und ebenso schlichen sie wieder zurück. Alle sind der Feigheit im Angesicht des Feindes schuldig. Es gibt nur eine Strafe dafür.« »Sicherlich, Sir, betrachtet man aber die Um –« »Nichts betrachtet!« Cruins Stimme schwoll zu einem zornigen Brüllen an. »Tod! Die Strafe ist der Tod!« Er ging zum Tisch und schlug mit der Faust auf die daraufliegenden Bücher. »Unverzügliche Exekution, wie sie in der Vorschrift für Verhalten und Disziplin beschrieben ist. Desertation, aufrührerisches Verhalten, Widerstand gegen einen vorgesetzten Offizier, Verschwörung, um die Vorschriften zu hintertreiben, Mißachtung meiner Befehle – alles durch den Tod bestrafbar!« Seine Stimme sank ebenso rasch wie er sie erhoben hatte. »Wie auch immer, mein lieber Jusik, wenn wir diese Zersetzung nicht bestrafen und man dieses Scheitern unserer vorsätzlichen Mißachtung der Vorschriften zuschreiben kann, welches wird dann die Strafe sein, die man über uns verhängt? Was wird es sein, eh?« »Tod«, gab Jusik zu. Er sah zu Cruin. »Auf Huld, jedenfalls.«
»Wir sind auf Huld! Dies ist Huld! Ich habe diesen Planeten im Namen Hulds betreten, und deshalb gehört er zu Huld.« »Nur ein Schritt, Sir, wenn ich sagen darf –« »Jusik, stellen Sie sich mit diesen Aufrührern meiner Autorität entgegen?« Cruins Augen glitzerten. Seine Hand lag an seiner Waffe. »O nein, Sir!« Das Gesicht des Zweiten Commanders spiegelte seine widerstreitenden Gefühle wider. »Aber erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, Sir, daß wir eine brüderliche Gemeinschaft sind, die eine lange, lange Zeit eng zusammengepfercht waren und Verluste ertragen haben, die wir während der Herfahrt erlitten, und zweifellos auch auf der Rückfahrt erleiden werden. Man kann nur schwerlich von den Männern verlangen –« »Ich verlange Gehorsam!« Cruins Hand verweilte auf der Waffe. »Ich verlange eiserne Disziplin und unbedingten, willigen Gehorsam ohne Fragen. Mit diesem erobern wir. Ohne ihn werden wir scheitern.« Er wies zur Tür. »Sind diese Captains auf eine Examination, wie die Vorschriften sie verlangen, vorbereitet?« »Ja, Sir. Sie sind waffenlos und bewacht.« »Führen Sie sie herein.« Er lehnte sich auf die Kante seines Schreibtischs und bereitete sich darauf vor, seine Kameraden zu richten. Die Minute, die er auf sie warten mußte war lang, lang wie keine Minute seines Lebens zuvor. Es war ein Aroma in ihrem Haar. Und ihre Augen waren kühl und grün. Eiserne Disziplin muß aufrechterhalten werden. Der Preis der Macht.
Die Vorschrift bot einen Ausweg. Während er die vier Captains musterte, mußte er erkennen, daß er dieses legale Hintertürchen vorzog, Degradierung anstatt der drastischeren, letzten Bestrafung. Er trampelte im Raum umher, während sie in einer Reihe standen, mit bleichen Gesichtern, starr, ihre Tuniken ohne Abzeichen, ohne die traditionellen Gürtel, die Wachen bewegungslos zu beiden Seiten von ihnen, er tobte, schwor und knüppelte sie mit verbaler Gewalt nieder, seine zur Faust geballte rechte Hand schlug unaufhörlich in die Handfläche seiner Linken. »Aber da Sie beim Appell anwesend waren und daher technisch nicht der Desertation schuldig sind, und da Sie sich meiner Gerichtsbarkeit unterstellten, unverzüglich, nachdem ich Sie dazu aufgefordert hatte, degradiere ich Sie hiermit zum untersten Dienstgrad, die Umstände machen einen Eintrag dieser Strafe in Ihre Akten nötig.« Er entließ sie mit einem Winken seiner weißbehandschuhten Hand. »Das ist alles.« Sie gingen stumm hinaus. Er sah zu Jusik. »Informieren Sie die entsprechenden Captain-Leutnants, daß sie zu vollwertigen Captains ernannt werden und nun Nachfolger für ihre freigewordenen Ämter empfehlen müssen. Diese müssen mir noch vor Einbruch der Nacht vorliegen.« »Wie Sie befehlen, Sir.« »Weisen Sie sie auch darauf hin, ein aus kommandierenden Offizieren zusammengesetztes Kriegsgericht zusammenzustellen, das sich mit den niederen Rängen der Flüchtlinge befaßt, sobald oder wenn diese eintreffen. Informieren Sie Captain Somir, daß er
zum Kommandeur der Schießgruppe ernannt ist, die die Urteile dieses Gerichts vollstreckt, sobald sie ausgesprochen sind.« »Jawohl, Sir.« Hager und hohläugig drehte Jusik sich mit einem Klicken der Absätze um und entfernte sich. Als der Schließer die Tür zugezogen hatte, saß Cruin an seinem Schreibtisch, stützte die Ellbogen auf die Oberfläche und verbarg das Gesicht in den Händen. Wenn die Deserteure nicht zurückkamen, konnten sie auch nicht bestraft werden. Keine Gewalt und keine Autorität kann ein Urteil an einem abwesenden Körper vollstrecken. Das Gesetz war wirkungslos, wenn die Betroffenen nur durch gänzliche, unübersehbare Abwesenheit glänzten. Alle Gesetze Hulds waren nicht in der Lage, die Erinnerungen an verlorene Männer vor die Gewehre der Schießgruppen zu bringen. Es war unbedingt nötig, ein Exempel zu statuieren. Die verstohlenen, heimlichen Ausflüge in das Lager des Feindes, vermutete er, waren oft genug wiederholt worden, um zu einem festen Brauch zu werden. Zweifellos fühlten die Flüchtlinge sich nun heimisch, wo immer sie auch Besuche gemacht hatten, teilten Heime – Gästezimmer –, genossen Nahrung, Freundschaft, Gelächter. Zweifellos hatten sie begonnen, Gewicht anzusetzen, verloren die harten Linien des Weltraums auf Wangen und Stirn, das Feuer in ihren Augen hatte von neuem zu brennen begonnen; sie hatten sich durch Gebärden und Bilder verständigt, Spiele gespielt, versucht, Rauch einzusaugen und waren mit Mädchen durch die Felder und Wiesen gestrolcht. Etwas pulsierte unaufhörlich in seinem Stiernak-
ken, als er durch die Luke und auf die ersten Anzeichen, daß der dreifache Ring der Wachen jemanden auf dem Rückweg gefangen hätte, wartete. Tief, tief, unglaublich tief in seinem Inneren, in einer Tiefe, zu gewaltig, als daß er es hätte eingestehen können, lag die unloyale Hoffnung, keiner werde zurückkehren. Ein Deserteur bedeutete den langsamen, schlurfenden Schritt der Gruppe, die heiseren Rufe »Legt an!« und »Feuer!« und das Vortreten von Somir, die Waffe in Händen, um den Gnadenschuß zu geben. Zum Teufel mit den Vorschriften. Am Ende der ersten Periode nach Einbruch der Nacht stürmte Jusik in das Büro, salutierte, atmete heftig. Das Licht der indirekten Beleuchtung vertiefte die Furchen seiner mageren Züge, verdeutlichte die Stoppeln an seinem unrasierten Kinn. »Sir, ich muß melden, daß die Männer außer Kontrolle geraten!« »Was meinen Sie?« Cruins buschige Brauen zogen sich zusammen, er starrte den anderen grimmig an. »Sie wissen von den vollzogenen Degradierungen, natürlich. Sie wissen ebenfalls um das Gericht, das sich mit den Flüchtlingen befassen soll.« Erneut holte er tief Luft. »Und sie kennen auch das Ausmaß der Strafe, das die Flüchtlinge erwartet.« »So?« »Daher sind noch mehr von ihnen desertiert – sie wollen die anderen warnen, nicht zurückzukehren.« »Aha!« Cruin lächelte böse. »Die Wachen ließen sie hinausgehen, he? Einfach so?« »Zehn der Wachsoldaten sind mit ihnen«, sagte Jusik.
»Zehn?« Cruin erhob sich rasch, näherte sich dem anderen und betrachtete ihn fragend. »Wie viele sind insgesamt gegangen?« »Siebenundneunzig.« Er griff nach seinem Helm, setzte ihn auf, zog den metallenen Kinnhalter über seine Kiefermuskeln. »Mehr als eine komplette Mannschaft.« Er untersuchte seine Waffe, schob sie wieder zurück, legte eine zweite an. »Bei diesen Zahlen werden sie bis zum Morgengrauen alle verschwunden sein.« Er blinzelte zu Jusik. »Glauben Sie nicht auch?« »Das befürchte ich, Sir.« Cruin dekorierte seine Schulter. »Die Antwort, Jusik, ist sehr einfach – wir werden unverzüglich starten.« »Starten?« »Aber natürlich. Die gesamte Flotte. Wir werden einen stationären Orbit einnehmen, der es jedem Mann unmöglich macht, ein Schiff zu verlassen. Das wird mir Zeit geben, gründlicher über die Situation nachzudenken. Wahrscheinlich werden wir erneut landen, an einem Ort, wo niemand den Wunsch verspüren wird, durchzubrennen, weil er nirgendwo hin kann. Ein Erkunder kann Fane und seine Leute zu gegebener Zeit abholen.« »Ich bezweifle, ob sie die Befehle zum Start befolgen werden, Sir.« »Wir werden sehen, wir werden sehen.« Er lächelte wieder, hart und schroff. »Wie Sie wüßten, hätten Sie die Vorschriften sorgfältig studiert, ist es nicht schwierig, eine beginnende Meuterei zu zerschlagen. Alles, was man tun muß, ist die Rädelsführer zu beseitigen. Kein Mob ist aus Männern als solchen zu-
sammengesetzt. Er besteht aus einigen Rädelsführern und einer Horde dummer Nachfolgender.« Er musterte seine Waffen. »Sie können einen Rädelsführer immer erkennen – unweigerlich wird er zuerst das Maul aufreißen!« »Jawohl, Sir«, antwortete Jusik, von bösen Ahnungen erfüllt. »Geben Sie den Ruf für allgemeine Versammlungen durch.« Die Sirenen des Flaggschiffes jammerten schmählich durch die Nacht. Lichter flammten von Schiff zu Schiff auf, erstaunte Vögel erwachten und kauerten sich in den Ästen der Bäume jenseits der Asche nieder. Langsam, besonnen, beeindruckend stieg Cruin die Leiter herab und betrachtete die versammelte Menge, deren Gesichter weiße Flecken im Strahl der Schiffsscheinwerfer waren. Die Captains und Captainleutnants bauten sich hinter ihm und zu beiden Seiten von ihm auf. Jeder trug eine zusätzliche Waffe. »Nach drei Jahren untertäniger Dienste für Huld«, stieß er schwülstig hervor, »haben einige Männer mich enttäuscht. Es scheint, als hätten wir Schwächlinge unter uns, Schwächlinge, die die Spannung einiger zusätzlicher Tage vor unserem endgültigen Triumph nicht ertragen können. Pflichtvergessen mißachten sie Befehle, verbrüdern sich mit dem Feind, lassen sich mit den Frauen unserer Gegner ein und versuchen, einige persönliche Vorteile auf Kosten aller zu gewinnen.« Seine harten, vorwurfsvollen Augen glitten über sie hinweg. »Zu gegebener Zeit werden sie aufs härteste bestraft werden.« Sie starrten ausdruckslos zu ihm herüber. Er
konnte die Ohren eines rennenden Mannes auf fünfundzwanzig Meter Entfernung treffen, und er wartete darauf, daß sein Ziel sich selbst bestimmen würde. Genau wie die, die an seiner Seite standen. Keiner sprach. »Unter Ihnen mögen sich andere, ebenfalls Schuldige befinden, die unerkannt blieben. Sie können sich beglückwünschen, denn sie werden keine weitere Gelegenheit zu einer Straftat bekommen.« Sein Blick streifte über ihre Köpfe, seine Hand blieb bereit an seiner Seite. »Wir werden die Schiffe in Ordnung bringen und starten, um in eine Kreisbahn einzuschwenken. Das bedeutet Schlafmangel und ein hübsches Stück harter Arbeit, das Sie Ihren treulosen Kameraden zu verdanken haben.« Er schwieg einen M oment und endete dann: »Hat jemand etwas zu sagen?« Ein Mann hielt tausend. Stille. »Machen Sie sich zum Start fertig«, schnappte er und wandte ihnen den Rücken zu. Captain Somir, der ihm nun ins Gesicht sah, gellte: »Sehen Sie hinaus, Commander!« und zog seine Waffe, um über Cruins Schulter zu feuern. Cruin wollte herumfahren, als er den Aufschrei hinter sich hörte, im Umdrehen zog er seine Waffen. Er hörte das Krachen von Somirs Waffe nicht, sah nichts mehr von seinen Männern, als ihr Aufschrei abrupt verstummte. Ein unsäglich schweres Gewicht schien auf seinem Schädel zu lasten, das Gras kam ihm entgegen, er ließ seine Waffen fallen, um seinen Sturz abzufangen. Dann verschwanden die unruhig tanzenden Lichter aus seiner Sicht, und alles war Schwarz.
Tief in seinem Schlaf hörte er vage und undeutlich ein ausgedehntes Stampfen von Füßen. Es waren schwer zu definierende Geräusche, unverständlich und gedämpft wie das ferne Rufen von Leuten, weit, weit entfernt. Dies alles zog sich über eine beachtliche Zeit hin, es endete in einer Serie gewaltiger Erschütterungen, die den Boden unter seinem Körper erbeben ließen. Jemand spritzte ihm Wasser ins Gesicht. Er setzte sich auf und hielt sich den dröhnenden Schädel, sah die bleichen Finger der Dämmerung von einer Seite her nach dem nächtlichen Himmel greifen. Er blinzelte mit seinen schmerzenden Augen, um die Sicht zu klären, dann erkannte er Jusik, Somir und acht andere. Alle waren schmutzig, die Gesichter verschwollen und blutig, ihre Uniformen zerrissen und verdreckt. »Sie stürmten los, in dem Augenblick, als Sie ihnen den Rücken zuwandten«, erklärte Jusik mit Grabesstimme. »Hundert von ihnen voraus. Sie stürmten gegen uns, in einem kollektiven Wahnsinn, und die anderen folgten. Es waren zu viele für uns.« Er bemerkte seine hervorquellenden, rotumränderten Augen. »Sie waren die ganze Nacht ohne Bewußtsein.« Unsicher kam Cruin auf die Füße, schwankte hin und her. »Wie viele wurden getötet?« »Keiner. Wir feuerten über ihre Köpfe. Nach diesem – es war zu spät.« »Über ihre Köpfe?« Er winkelte die Schultern an, fühlte einen stechenden Schmerz in der Mitte seines Rückens, den er jedoch ignorierte. »Für was gibt es Gewehre, wenn nicht zum Töten?« »Es ist nicht einfach«, sagte Jusik mit einem fein-
sten Hauch von Ungehorsam. »Nicht, wenn es sich um die eigenen Kameraden handelt.« »Stimmen Sie darin überein?« Der Blick des Commanders fragte die anderen. Sie nickten niedergeschlagen, Somir sagte: »Wir hatten wenig Zeit, Sir, und wenn jemand zaudert, wie wir das taten, so –« »Es gibt für nichts eine Entschuldigung. Sie hatten Ihre Befehle, es lag an Ihnen, sie zu befolgen.« Sein flammender Blick verbrannte einen nach dem anderen. »Sie sind beide nicht geeignet für Ihren Dienstgrad. Sie sind beide degradiert!« Sein Kiefer schob sich nach vorn, häßlich und aggressiv, als er brüllte: »Geht mir aus den Augen!« Sie schlichen davon. Ungestüm erklomm er die Leiter, betrat das Schiff und untersuchte es von einem Ende zum anderen. Keine lebende Seele befand sich an Bord. Mit zusammengepreßten Lippen fand er schließlich die Ursachen der erderschütternden Detonationen. Die Treibstofftanks waren explodiert, hatten die Maschinen zerstört und somit das gesamte Schiff in eine nutzlose Masse Metall verwandelt. Er verließ das Schiff und inspizierte den Rest der Flotte. Mit jedem Schiff war es das gleiche, verlassen und zerstört, jenseits jeder Möglichkeit einer Reparatur. Die Aufrührer waren letztlich sorgfältig und logisch bei ihrer Sabotage vorgegangen. Bevor nicht ein Raumschiff zur Berichterstattung zurückkehrte, hatte Huld keine Möglichkeit, zu erfahren, wo die Flotte gelandet war. Ungeachtet einer breitangelegten und systematischen Suche konnte es gut tausend Jahre dauern, ehe wieder ein huldisches Schiff diesen speziellen Planeten fand. Effektiv, die Rebellen hatten
sich für die Spanne ihrer Leben von der Außenwelt abgeschnitten und sich somit der huldischen Vergeltung entzogen. Die Bitternis seines Scheiterns voll auskostend, verharrte er am Fuß der Leiter des zweiundzwanzigsten Schiffes und betrachtete die Doppelsternformation, die seine vernichtete Armada repräsentierte. Die Kanonen ragten nutzlos über das umliegende Terrain. Zwölf der Erkundungsboote waren, wie er bemerkte, verschwunden. Die anderen waren ebenso fluguntauglich gemacht worden wie ihre Mutterschiffe. Sein Blick erhob sich zum Hügel, er sah Silhouetten, die sich gegen die Dämmerung abhoben, wo Jusik, Somir und die anderen die Kuppe erklommen hatten und ihn verließen, hinuntergingen in das Tal, das er so oft betrachtet hatte. Vier Kinder trafen sie auf dem Hügel, hüpften an ihrer Seite, während sie weitergingen. Langsam verschwand die Gruppe unter der aufgehenden Sonne aus seiner Sicht. Cruin begab sich zurück zum Flaggschiff, um einen Sack mit persönlichen Gegenständen vollzupacken, den er sich über die Schultern warf. Ohne einen letzten Blick auf seine einstmals so mächtige Flotte zu werfen, wandte er seine Schritte davon, die Sonne im Rücken, schlug er eine Richtung ein, die derjenigen seiner letzten Männer genau entgegengesetzt lag. Seine Stiefel waren matt und verschmutzt. Seine Orden für Tapferkeit und Verdienste hingen unsymmetrisch, seine Jacke wies ein Loch auf, wo man ihm einen Orden abgerissen hatte. An seinem rechten Schuh fehlte das Glöckchen, er ertrug das KlingKlang, Kling-Klang des anderen siebenundzwanzig
Schritte, dann schraubte er auch dieses ab und warf es weg. Der Sack auf seinem Rücken wog schwer, aber bei weitem nicht so schwer wie die immense Bürde in seinem Geist. Grimmig und halsstarrig stapfte er weg von den Schiffen, weit, weit hinein in die morgendlichen Nebel – sah der neuen Welt allein ins Antlitz. Dreieinhalb Jahre hatten tiefe Spuren an den Schiffen von Huld hinterlassen. Noch immer lagen sie in dem Tal, mit mathematischer Präzision ausgerichtet, Bugs nach innen, Hecks nach außen, wie nur Autorität sie plazieren konnte. Aber der Rost hatte sich inzwischen durch ihre dicken metallenen Leiber gefressen, die Leitern waren morsch und trügerisch. Die Feldmäuse hatten unter ihnen Schutz gefunden, Spinnen und Vögel hatten in ihrem Inneren Zuflucht gesucht. Üppige Vegetation war der umliegenden Asche entsprungen und verbarg die Grenze für alle Zeiten. Der Mann, der gegen Nachmittag dort vorbeikam, rastete und betrachtete sie stumm aus der Ferne. Er war groß, bullig, seine Haut von der Farbe alten Leders. Seine unergründlichen grauen Augen waren sanft und gedankenverloren, als er die kräftigen Efeuranken sah, die den Bug des Flaggschiffs überwucherten. Nachdem er die Schiffe eine nachdenkliche halbe Stunde lang betrachtet hatte, schulterte er sein Bündel wieder und wanderte weiter, den Hügel empor, über die Kuppe und hinunter in das gegenüberliegende Tal. Er bewegte sich gewandt in seiner schlichten, weiten Kleidung, sein Schritt war überlegt und methodisch.
Bald erreichte er eine Straße und folgte ihr zu einer aus Steinen erbauten Hütte, in deren zugehörigem Garten eine geschmeidige, dunkelhaarige Frau Blumen schnitt. Er beugte sich über den Zaun und sprach sie an. Seine Sprache war flüssig, aber merkwürdig akzentuiert. Sein Ton rauh, aber herzlich. »Guten Tag.« Sie beugte sich empor, die Arme voller farbenprächtiger Blumen, und sah ihn aus schwarzen Augen an. »Guten Tag.« Ihre vollen Lippen verzogen sich erfreut. »Seid Ihr auf der Durchreise? Möchten Sie unser Gast sein? Ich bin sicher, Jusik – mein Mann – würde sich über Ihre Anwesenheit freuen. Unser Gästezimmer wurde nicht mehr benutzt seit –« »Es tut mir leid«, warf er ein. »Ich suche die Merediths. Können Sie mir den Weg zeigen?« »Das nächste Haus die Straße hoch.« Geschickt fing sie eine fallende Blume und drückte sie an ihre Brust. »Wenn ihr Gästezimmer schon einen Bewohner hat, bitte vergeßt uns nicht.« »Ich werde es nicht vergessen«, versprach er. Während er sie beifällig betrachtete, verzog sein breites Gesicht sich zu einem Lächeln. »Vielen herzlichen Dank.« Er schulterte sein Bündel und ging weiter, ihrer Augen, die auf ihm ruhten, bewußt. Er kam an das Tor des nächsten Grundstücks, ein langes, verschachteltes, bildschönes Haus inmitten eines Blumengartens. Ein Junge spielte beim Tor. Der Junge sah auf, als der andere in seiner Nähe stehenblieb, und sagte: »Seid Ihr auf Reisen, Sir?« »Sir?« echote der Mann. »Sir?« Sein Gesicht zuckte. »Ja, Kleiner, ich bin auf Reisen. Ich suche die Merediths.« »Oh, ich bin Sam Meredith!« Plötzliche Freude er-
hellte das Gesicht des Jungen. »Möchtet Ihr unser Gast sein?« »Wenn ich das darf.« »Jippiee!« Er huschte außer sich den Gartenweg entlang, wobei er so laut wie möglich schrie: »Mama, Papa, Marva, Sue – wir haben Besuch!« Ein großer, rothaariger Mann kam zum Tor, eine Pfeife im Mund. Kühl und ruhig musterte er den Besucher. Nach einer kleinen Weile nahm der Mann die Pfeife aus dem Mund und sagte: »Ich bin Jake Meredith. Bitte kommen Sie herein.« Er trat beiseite, um den anderen einzulassen, dann rief er: »Mary, Mary, kannst du eine Mahlzeit für einen Gast zubereiten?« »Bin schon dabei«, entgegnete eine fröhliche Stimme aus dem Inneren. »Folgen Sie mir.« Er führte den anderen zur Veranda und bot ihm einen Lehnstuhl an. »Sie können sich ausruhen, während Sie warten. Mary braucht Zeit. Sie ist erst zufrieden, wenn die Beine des Tisches fast zusammenbrechen – und tödlich beleidigt, wenn Ihr auch nur ein Stück liegen laßt.« »Ihr seid sehr gütig.« Der Besucher tat einen tiefen Atemzug, als er sich setzte und die friedliche Szenerie vor seinen Augen betrachtete. Meredith nahm sich einen anderen Stuhl und entzündete seine Pfeife neu. »Habt Ihr das Postschiff gesehen?« »Ja, es kam gestern frühmorgens an. Ich hatte Glück und sah es direkt über meinen Kopf hinwegfliegen.«
»Sie hatten wirklich Glück, bedenkt man, daß es nur alle vier Jahre einmal kommt. Ich selbst habe es nur zweimal gesehen.« »Sehr!« stimmte der Besucher mit nachdrücklicher Betonung zu. »Es schien mir über fünf Meilen lang zu sein, eine unglaubliche Leistung. Seine Masse muß viele Male größer sein als die jener fremden Schiffe im Tal.« »Viele Male«, stimmte Meredith zu. Der andere beugte sich vor und betrachtete seinen Gastgeber. »Ich frage mich oft, warum diese Fremden die kleinen Bevölkerungszahlen einer Krankheit oder einem Krieg zuschrieben und weder an eine große Auswanderungsquote dachten, noch an die sich daraus ergebenden Konsequenzen.« »Ich bezweifle, ob sie dem außergewöhnliche Bedeutung beimaßen, angesichts der Tatsache, daß sie ihre Schiffe zerstört haben und sich unter uns ansiedelten.« Er zeigte mit dem Kopf seiner Pfeife in eine Richtung. »Einer von ihnen lebt in der Hütte dort u nten. Jusik ist sein Name. Netter Kerl. Er heiratete ein hier wohnendes Mädchen. Sie sind sehr glücklich.« »Dessen bin ich mir sicher.« Einige Zeit schwiegen sie beide, dann begann Meredith zu sprechen, abwesend, als spräche er mit sich selbst. »Sie brachten Waffen von beachtlicher Stärke mit sich, nicht wissend, daß wir über eine unüberwindliche Waffe verfügen.« Mit einer Handbewegung erfaßte er die ganze Welt. »Wir benötigten Tausende von Jahren, um die vollkommene Unüberwindbarkeit seiner Idee zu erkennen. Das ist es, was wir haben – eine Lebensart, eine Idee. Nichts kann diese in Trümmer legen. Nichts kann eine Idee zer-
stören, ausgenommen eine bessere Idee.« Er steckte sich die Pfeife wieder in den Mund. »Bisher ist es uns nicht gelungen, eine bessere zu finden.« »Sie kamen zur falschen Zeit«, fuhr Meredith fort. »Zehntausend Jahre zu spät.« Er blickte zur Seite zu seinem Zuhörer. »Unsere Geschichte berichtet über einen langen, langen Tag. Er war so grell, daß er in jeder Minute von neuem begann. Aber auch ihm folgte das nächtliche Finale.« »Ihr philosophiert, eh?« Meredith lächelte. »Ich sitze oft hier, um mich an der Stille zu erfreuen. Ich sitze hier und denke. Unweigerlich komme ich dabei immer zum selben Ergebnis.« »Und das wäre?« »Wenn ich, persönlich, den alleinigen Besitz über alle sichtbaren Sterne hätte sowie deren Unzahl von Planeten, ich würde mich doch immer einer fundamentalen Grenze gegenübersehen« – er klopfte die Pfeife auf seinem Absatz aus –, »nämlich der: Kein Mann kann mehr essen als sein Magen fassen kann.« Er stand auf, groß, mit weiter Brust. »Hier kommt Marva, meine Tochter. Möchten Sie sich von ihr Ihr Zimmer zeigen lassen?« Im Inneren des Gästezimmers sah sich der Besucher anerkennend um. Das komfortable Bett, die geschmackvolle Einrichtung. »Gefällt es Ihnen?« fragte Marva. »Ja, sehr.« Er wandte sich ihr zu und betrachtete sie mit seinen grauen Augen. Sie war groß, rothaarig und grünäugig, ihre Figur war zu junger, weiblicher Schönheit herangereift. Er massierte langsam seine
Kiefermuskeln, als er fragte: »Glauben Sie, ich sehe Cruin ähnlich?« »Cruin?« Ihre sanft geschwungenen Brauen hoben sich in Unverständnis. »Der Befehlshaber dieser fremden Expedition.« »Ach, der!« Ihre Augen lachten, die Grübchen erschienen auf ihren Wangen. »Wie absurd! Sie sehen ihm kein bißchen ähnlich. Er war alt und streng. Ihr seid jung – und wesentlich stattlicher.« »Es ist nett von Ihnen, das zu sagen«, murmelte er. Seine Hände bewegten sich unruhig in offensichtlicher Verlegenheit. Er wand sich etwas unter ihrem freimütigen, selbstbeherrschten Blick. Schließlich ging er zu seinem Bündel und öffnete es. »Es geziemt sich für den Gast, seinem Gastgeber ein Geschenk zu machen.« Ein Anflug von Stolz schwang in seiner Stimme mit. »So habe auch ich eines mitgebracht. Ich habe es selbst gemacht. Ich brauchte lange Zeit, um es zu lernen... lange Zeit... mit diesen ungeschickten Händen. Mehr als drei Jahre.« Marva warf einen Blick darauf, schoß durch die Tür hinaus, lehnte sich über die Balustrade und rief entzückt hinunter: »Paps, Mutti, unser Gast hat ein wundervolles Geschenk für uns. Eine Uhr. Eine Uhr mit einem metallenen Vogel, der die Zeit sagt.« Unter ihr erklangen Schritte im Korridor, Marys Stimme rief empor: »Darf ich es sehen? Bitte, laß es mich sehen.« Eilig kam sie die Treppe herauf. Als er auf sie wartete, die Schultern gestrafft, den Körper gestreckt, wie bei einer Parade, erzitterte die Uhr in seinen Händen, und der kleine Vogel flötete leise zweimal. Die Stunde des Triumphs.
Lieber Teufel Das erste marsianische Raumschiff senkte sich mit dem langsamen, stetigen Fall eines Fesselballons zur Erde herab. Es ähnelte einem Ballon vor allem wegen seines sphärischen Aufbaus und des seltsam schwebenden Eindrucks, der sich kaum mit der metallenen Konstruktion vertrug. Mit dieser oberflächlichen Ähnlichkeit aber endete auch jeglicher Vergleich mit etwas Irdischem. Es gab keine Raketen, keine flammenden Düsen, keinerlei äußere Anbauten, abgesehen von einem großflächigen Solarakkumulator, der, unter Ausnutzung kosmischer Felder, das Schiff in jede gewünschte Richtung dirigieren konnte. Es gab keinerlei Beobachtungsluken. Jegliche Beobachtung wurde durch einen transparenten Plastikstreifen getätigt, der sich ganz um den dicken Korpus der Kugel zog. Die blauen Alptraummannschaften waren vollzählig hinter diesem Plastikstreifen versammelt und besahen sich diese neue Welt aus großen, facettenreichen Augen. Gemeinsam starrten sie schweigend hinab, um diese Welt, Terra genannt, zu untersuchen. Selbst wenn sie der Sprache mächtig gewesen wären, hätten sie in diesem Augenblick wahrscheinlich nichts gesagt. Aber niemand besaß die Fähigkeit, Sprachlaute zu produzieren, und in diesem schweigenden Augenblick benötigte sie auch keiner. Die Szenerie außerhalb zeigte vollkommene Trostlosigkeit. Dürres, blaugrünes Gras klammerte sich an den ausgelaugten Boden, über die gesamte Land-
schaft, bis hin zum Horizont mit den zerklüfteten Bergen. Hier und dort kämpften verkrüppelte Büsche ums Überleben, einige in dem pathetischen Bemühen, zu Bäumen zu werden, wie ihre Ahnen es gewesen waren. Zur Rechten erstreckte sich eine lange, gerade Narbe durch das Gras, das durch sterilen Fels in seltsamster Anordnung verdrängt wurde. Zu schroff und zu schmal, um jemals eine Straße gewesen zu sein, schien es sich um nichts anderes zu handeln als um die verwitterten Überreste einer längst zerfallenen Mauer. Und über die ganze Weite dieses deprimierenden Ödlandes spannte sich ein totenbleich leuchtender Himmel. Captain Skhiva betrachtete seine Mannschaft und sprach sie mit seinem Zeichensprachetentakel an. Die Alternative hierzu bot die Kontakttelepathie, die eine physische Berührung nötig machte. »Es ist offensichtlich, daß das Glück uns verlassen hat. Eine Landung auf dem toten Satelliten hätte nicht schlimmer sein können. Wie auch immer, unseren Instrumenten nach zu urteilen ist es ungefährlich, weiterzumachen. Jeder, der den Wunsch verspürt, eine Weile zu erkunden, kann das tun.« Einer von ihnen gestikulierte eine Antwort. »Captain, möchten Sie nicht der erste sein, der diese Welt betritt?« »Das hat keinerlei Bedeutung. Wenn jemand es als Ehre betrachten sollte, kann er es tun.« Er zog den Hebel, der beide Luftschleusen öffnete. Der Druck erhöhte sich geringfügig, als dichtere, schwerere Luft hereinströmte. »Beugen Sie Überanstrengungen vor«, warnte er, als sie hinausgingen. Der Poet Fander berührte ihn mit der Spitze seiner
Tentakel, sandte seine Gedanken durch ihre Nervenenden. »Captain, all unsere Erwartungen während des Anfluges haben sich somit erfüllt. Ein verwundeter Planet, weit fortgeschritten in seinem Todeskampf. Was glauben Sie, hat das verursacht?« »Ich habe nicht die geringste Idee. Natürlich würde es mich ebenfalls sehr interessieren. Falls es durch eine kosmische Katastrophe verursacht wurde – wie groß sind die Chancen einer Wiederholung auf dem Mars?« Sein besorgter Verstand sandte ein Kribbeln des Unbehagens Fanders berührenden Tentakel entlang. »Zu dumm, daß dieser Planet nicht jenseits unserer Umlaufbahn kreist, anstatt sonnennäher, dann hätten wir vielleicht das vorgefallene Phänomen erkennen und studieren können. Es ist so schwierig, diese Welt gegen den ständigen Glanz der Sonne zu studieren.« »Das gilt in noch stärkerem Umfang für die nächste Welt, die nebelverhangene«, bemerkte Poet Fander. »Ich weiß es. Ich beginne mich vor dem, was wir dort finden könnten, zu fürchten. Sollte sie sich als ähnlich tot herausstellen, so wäre das ein großes Unglück für uns, vielleicht gar eine Katastrophe. Wir wären unentrinnbar eingesperrt, ehe wir den großen Sprung nach draußen machen können.« »Der zu unseren Lebzeiten nicht mehr möglich sein wird.« »Ich bezweifle es«, stimmte Captain Skhiva zu. »Mit der Hilfe von Freunden könnten wir rasch und effektiv vorwärtskommen. Allein sind wir langsam, vielleicht zu langsam.« Er wandte sich um, um seiner Mannschaft zuzusehen, die in verschiedenen Richtungen die unfreundliche Landschaft durchstreifte.
»Sie erfreuen sich daran, auf festem Boden zu stehen. Aber was ist eine Welt ohne Leben und Schönheit? In kurzer Zeit schon werden sie ihrer überdrüssig sein.« Fander sagte nachdenklich: »Trotzdem würde ich gern mehr von dieser Welt sehen. Kann ich das Rettungsboot haben?« »Sie sind ein Singvogel, kein Pilot«, erinnerte Skhiva. »Ihre Funktion besteht darin, mit Ihrer Unterhaltung die Moral aufrechtzuerhalten, nicht in einem Rettungsboot herumzufliegen.« »Aber ich weiß, wie man es bedient. Jeder von uns wurde mit der Handhabung vertraut gemacht. Lassen Sie es mich nehmen, damit ich mehr sehen kann.« »Haben wir nicht schon genug gesehen, ehe wir landeten? Was könnte es schon noch zu sehen geben? Zerstörte und entstellte Straßen, die ins Nirgendwo führen. Jahrhundertealte Städte, verlassen und verfallen, die zu Staub vergehen. Zerschmetterte Gebirge und verbrannte Wälder und Krater, nur wenig kleiner als die des Mondes. Keine Anzeichen einer überlebenden höheren Lebensform. Nur das kärgliche Gras und die verkrüppelten Büsche sowie verschiedene Tiere, zwei- oder vierbeinig, die bei unserer Annäherung sofort fliehen. Warum wünschen Sie, mehr zu sehen?« »Poesie liegt selbst im Tod«, sagte Fander. »Das mag sein, doch ist sie widerwärtig.« Skhiva erschauerte leicht. »Nun gut. Nehmen Sie das Rettungsboot. Wer bin ich schon, die schicksalhaften Gedanken eines nichttechnischen Verstandes zu beurteilen?« »Vielen Dank, Captain.« »Nichts zu danken. Sehen Sie zu, bei Einbruch der
Dämmerung wieder zurück zu sein.« Damit unterbrach er den Kontakt, begab sich zur nächstgelegenen Schleuse, wand sich schlangengleich über deren äußeren Rand und dachte nach, ohne die fremde Welt zu berühren. So viele Hoffnungen, so viele Taten – für eine so geringe Belohnung. Als das Rettungsboot den Hangar verließ und himmelwärts schoß, erheiterte seine düstere Stimmung sich etwas. Seine facettenreichen Augen beobachteten ausdruckslos die aufgeladenen Gitter, die ihren Winkel veränderten, als das Boot sich in eine Kurve legte und wie eine kleine Seifenblase davonschwebte. Er war überempfindlich gegenüber der Sinnlosigkeit. Die Mannschaft kehrte wohlbehalten vor Einbruch der Dunkelheit zurück. Ein paar Stunden genügten. Nur Gras, Gestrüpp und Jungbäume, die nicht in der Lage waren, weiterzuwachsen. Zwei Männer der Besatzung hatten eine Meile entfernt ein steriles Rechteck gefunden, das möglicherweise einmal Teil eines Wohnsitzes gewesen war. Sie brachten ein Stück der Grundmauern mit, einen Klumpen verkohlten Betons, den Skhiva zwecks späterer Untersuchungen beiseite legte. Ein anderer hatte ein kleines, braunes, sechsbeiniges Insekt gefunden, aber seine übersensitiven Nervenenden hatten seinen Angstschrei gehört, als er es aufhob, daher hatte er es hastig wieder abgesetzt und freigelassen. Kleine Tiere waren unbeholfen in der Ferne herumgehoppelt, doch waren sie alle in Höhlen verschwunden, ehe ein neugieriger Marsianer sich ihnen nähern konnte. In einem allerdings war die Mannschaft sich einig: Die majestätische Stille und
Würde einer längstvergangenen Rasse war unübersehbar. Fander kam erst eine halbe Zeiteinheit nach Sonnenuntergang zurück. Seine Kugel schwebte unter einer großen schwarzen Wolke, sank herab auf Höhe des Schiffes und dann hinein. Einen Augenblick später begann es zu regnen. Es strömte in unfaßbaren Mengen herab, während sie hinter dem transparenten Band standen und herauslugten und sich wunderten über so viel Wasser. Nach einer Weile sagte Captain Skhiva zu ihnen: »Wir müssen akzeptieren, was wir finden. Hier haben wir eine Niete gezogen. Die Ursache für den Zustand dieser Welt ist ein Rätsel, das von anderen gelöst werden muß, die über mehr Zeit und eine bessere Ausrüstung verfügen. Wir müssen diese Grabeswelt verlassen und versuchen, den Nebelplaneten zu erreichen. Wir werden morgen in aller Frühe starten.« Niemand bemerkte etwas dazu, doch Fander folgte ihm in seine Kabine und stellte mit seinem Tentakel den Kontakt her. »Man könnte hier leben, Captain.« »Dessen bin ich mir nicht so sicher.« Skhiva warf sich auf die Couch und ließ seine Tentakel träge in den dafür vorgesehenen Vertiefungen liegen. Der blaue Schimmer seiner schuppigen Haut wurde von der metallenen Wand reflektiert. »An einigen Stellen gibt es Steine, die Alphastrahlen aussenden. Sie sind gefährlich.« »Selbstverständlich, Captain, aber ich kann sie spüren und ihnen ausweichen.« »Sie?« Skhiva starrte zu ihm hoch. »Ja, Captain. Ich möchte hierbleiben.«
»Was? An diesem Ort erschreckender Düsternis?« »Eine allgegenwärtige Stimmung von Häßlichkeit und Vernichtung umgibt ihn«, stimmte der Poet Fander zu. »Jede Zerstörung ist häßlich. Aber aus Zufall fand ich einen Hauch der Schönheit. Das berührte mich tief. Der abgrundtiefe Kontrast ließ es funkeln wie einen Edelstein in der Dunkelheit. Ich würde gern die Ursprünge davon herausfinden.« »Von welcher Schönheit sprechen Sie?« fragte Skhiva. Fander bemühte sich, das Unverständliche in verständliche Begriffe zu kleiden. Es war unmöglich. »Zeichnen Sie es mir auf«, befahl Skhiva. Gehorsam zeichnete Fander es für ihn und reichte ihm die Bilder. »Hier – das ist es.« Lange verweilte sein Blick darauf, schließlich gab Skhiva das Bild an Fander zurück und sprach durch die Nerven des anderen. »Wir sind individuelle Persönlichkeiten mit allen daraus resultierenden Rechten. Als Individualist bin ich der Meinung, die Bilder sind nicht ein Schwanzzucken eines einheimischen Arlan wert. Ich muß zugeben, dies ist nicht häßlich, ja, es ist auf eine fremdartige Weise sogar erfreulich.« »Aber, Captain –« »Als Individualist«, fuhr Skhiva fort, »haben Sie ein ebensolches Recht zu Ihrer eigenen Meinung, so seltsam sie auch sein mag. Wenn es wirklich Ihr Wunsch ist, zu bleiben, dann kann ich Ihnen das nicht verwehren. Es könnte ein Fehler von mir sein, Sie zu hindern. Ich bin lediglich geneigt, Sie für etwas verrückt zu halten.« Er sah Fander fragend an. »Wann hoffen Sie, wieder abgeholt zu werden?«
»Dieses Jahr, nächstes Jahr, vielleicht niemals.« »Es könnte sehr wohl niemals sein«, warnte Skhiva. »Sind Sie bereit, dieser unerfreulichen Aussicht ins Antlitz zu schauen?« »Man muß immer bereit sein, die Konsequenzen seines eigenen Handelns zu tragen«, legte Fander dar. »Richtig.« Skhiva zögerte, sich geschlagen zu geben. »Aber haben Sie diese Entscheidung auch gründlich überdacht?« »Ich bin eine nichttechnische Komponente. Ich lasse mich nicht durch meine Gedanken leiten.« »Wodurch denn?« »Von meinen Wünschen, Emotionen, Instinkten. Von meinen inneren Gefühlen.« Skhiva stieß leidenschaftlich hervor: »Mögen die Zwillingsmonde uns beistehen!« »Captain, singen Sie mir ein Lied der Heimat und spielen Sie mir die klingende Harfe.« »Seien Sie nicht kindisch. Dazu bin ich nicht in der Lage.« »Captain, bedürfte es dazu nichts weiter als eines gründlichen Nachdenkens, wären Sie dann dazu in der Lage?« »Ohne Zweifel«, stimmte Skhiva zu, der wohl die Falle sah, ihr aber nicht mehr ausweichen konnte. »Hier habe ich Sie!« bemerkte Fander spitz. »Ich gebe auf. Ich kann nicht mit jemandem streiten, der die Regeln der Logik mißachtet und sich seine eigenen Regeln schafft. Sie operieren mit Begriffen, denen ich nicht gewachsen bin.« »Dies ist keine Sache der Logik oder Unlogik«, erklärte Fander ihm. »Es ist eine Sache des eigenen Standpunktes. Sie sehen die Angelegenheiten auf Ihre
Weise, ich auf die meine.« »Zum Beispiel?« »Damit wird es Ihnen nicht gelingen, mich zu schlagen. Ich kann eine Menge Beispiele anführen. Zur Verdeutlichung: Erinnern Sie sich an die Formel zur Bestimmung der Abschnitte eines reihengeschalteten Stromkreises?« »Selbstverständlich.« »Dessen war ich mir sicher. Sie sind ein Techniker. Sie haben sie für alle Zeit in Ihrem Gedächtnis gespeichert, als eines der Grundgesetze der Technik.« Er verstummte, um sein Gegenüber nachdenklich zu betrachten. »Auch ich kenne diese Formel. Sie wurde mir zufällig vor vielen Jahren mitgeteilt. Sie ist von keinerlei Nutzen für mich – trotzdem habe ich sie nie mehr vergessen.« »Weshalb?« »Weil sie einen wunderschönen Rhythmus hat. Sie ist ein Gedicht.« »Das kann ich nicht erkennen«, sagte Skhiva seufzend. »Einen über R nach Omega L minus Einen über Omega C«, rezitierte Fander. »Ein perfekter Hexameter.« Amüsiert registrierte er die Überraschung des anderen. Nach einer Weile gestand Skhiva: »Man könnte es singen, dazu tanzen.« »Auch dies hier ist ein Lied, ein fremdartiges und vielleicht trauriges, aber ein Lied.« Fander zeigte ihm seine grobe Skizze. »Es ist schön. Wo es Schönheit gibt, da hat auch einmal ein Talent existiert – existieren vielleicht noch die Überreste eines Talentes, nach allem, was wir wissen. Wo Talent vorhanden ist, gibt
es auch Größe. In den Gefilden dieser Größe finden wir vielleicht mächtige Freunde. Wir brauchen solche Freunde.« »Sie haben gewonnen.« Skhiva gestikulierte kapitulierend. »Wir werden Sie morgen früh Ihrem selbsterwählten Schicksal überlassen.« »Vielen Dank, Captain.« Dieselbe starrsinnige Ader, die Skhiva zu einem ausgezeichneten Befehlshaber machte, trieb ihn dazu, kurz vor dem Start einen letzten Versuch zur Umstimmung bei Fander zu unternehmen. Er beorderte ihn in seine Kabine und sah den Poeten berechnend an. »Sind sie noch immer derselben Meinung?« »Ja, Captain.« »Dann kommt es Ihnen kein bißchen seltsam vor, daß ich entschlossen bin, diesen Planeten zu verlassen, selbst wenn es noch Spuren einstiger Größe geben sollte?« »Nein.« Skhiva erstarrte ein wenig. »Warum nicht?« »Captain, ich glaube, Sie haben ein klein wenig Angst, weil Sie vermuten, was auch ich vermute, nämlich, daß es keine Naturkatastrophe gab, sondern, daß sie das selbst getan haben – sich selbst angetan haben.« »Dafür haben wir keinen Beweis«, sagte Skhiva unbehaglich. »Nein, Captain, das haben wir nicht.« »Wenn das wirklich ihr eigenes Werk ist, wie groß sind dann unsere Chancen, Verbündete zu finden, unter einem Volk, das man so sehr fürchten muß?«
»Gering«, gab Fander zu. »Aber das, Auswurf kalter Vernunft, bedeutet mir wenig. Warme Hoffnung treibt mich voran.« »Sie sind wieder soweit, jegliche Vernunft zu mißachten angesichts eines hehren Traumes. Hoffen, hoffen, hoffen – Unmögliches zu erreichen suchen.« »Das Schwierige kann sofort getan werden; das Unmögliche braucht etwas mehr Zeit.« »Ihre Gedanken verwirren meinen disziplinierten Verstand. Jeder Ausspruch ist eine schiere Verleugnung der Vernunft.« Skhiva übermittelte das Äquivalent eines kläglichen Lachens. »Aber nun, wir leben, um zu lernen.« Er trat nach vorn, näher zu dem anderen. »Ihre gesamte Ausrüstung ist draußen. Es bleibt nichts übrig als Ihnen auf Wiedersehen zu wünschen.« Sie umarmten und küßten sich auf marsianische Art. Er verließ die Schleuse und sah, wie die riesige Kugel erzitterte und in die Höhe trieb. Sie erhob sich lautlos, bis sie nur noch ein kleiner Punkt war, der in den Wolken verschwand. Dann war sie verschwunden. Er blieb noch stehen und betrachtete die Wolken lange, lange Zeit. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Lastschlitten zu, der seine Ausrüstung enthielt. Er bestieg den kleinen offenliegenden Frontsessel und betätigte die Kontrolle, die die Fließgitter mit Energie versorgte, ließ den Schlitten ein wenig in die Höhe schweben. Je höher er stieg, desto größer der Energieverbrauch. Er wollte Energie sparen, er wußte nicht, wie lange er sie benötigen würde. Daher ließ er den Schlitten in geringer Höhe und mit mäßiger Geschwindigkeit in die ungefähre Richtung
schweben, in der er die Schönheit gesehen hatte. Später fand er eine Höhle in dem Berg, auf dem das Objekt seiner Fantasie stand. Er brauchte zwei Tage, um vorsichtig und behutsam die Höhle mit dem Strahler zu erweitern und einen weiteren halben Tag, um mit einem Ventilator den Silikatstaub hinauszublasen. Danach verstaute er seine Ausrüstung im hinteren Teil, parkte den Schlitten nahe dem Eingang und verschloß diesen mit einem schützenden Energieschirm. Nun war die Höhle im Hügel sein Zuhause. Der Schlaf kam nicht leicht in dieser ersten Nacht. Er lag im Inneren der Höhle, ein zähes, knotiges Ding von durchscheinend blauer Farbe mit enormen, bienenähnlichen Augen, und lauschte nach Harfen, die sechzig Millionen Meilen entfernt erklangen. Seine Tentakel griffen um sich in vergeblicher Suche nach kontakttelepathischen Liedern, die von den Harfen begleitet wurden, und griffen ins Leere. Die Dunkelheit wurde immer tiefer, die Welt war von allgegenwärtiger Stille umhüllt. Seine Ohren suchten vom Abendanbruch bis zum Erscheinen des Vollmondes nach dem heimischen Flip-flop von Sandfröschen, aber es gab keine Frösche. Er wollte das anheimelnde Summen der Nachtkäfer hören, aber auch Nachtkäfer gab es keine. Mit einer Ausnahme, als etwas auf herzzerreißende Weise den Mond anheulte, war es still, still. Am Morgen wusch er sich, aß, nahm den Schlitten und erkundete Ruinen, die einst eine kleine Stadt gewesen waren. Dort gab es wenig, um seine Neugier zu befriedigen, nur formlosen Schutt über verwitterten Fundamenten. Es war ein Friedhof längst gestor-
bener Gebäude, verfallen und überwuchert, fast völlig der Vergessenheit anheimgefallen. Der Blick aus einhundertfünfzig Meter Höhe verschaffte ihm nur noch eine zusätzliche Information: Die Grenzen der Außenbezirke der Stadt zeigten das exakte und methodische Vorgehen der unbekannten Bewohner. Aber Exaktheit bedeutet noch lange nicht Lieblichkeit. Er kehrte zurück zum Gipfel des Hügels und suchte Trost bei dem Ding, das Schönheit besaß. Tag für Tag setzte er seine Erkundungen fort, nicht in der systematischen Weise, wie Skhiva sie vorgezogen hätte, sondern seinen wechselnden Launen entsprechend. Mitunter sah er viele Tiere, allein oder in Gruppen, nichts erinnerte ihn an den Mars. Die meisten von ihnen flohen mit höchster Geschwindigkeit, wenn er sich ihnen näherte. Einige von ihnen verschwanden in Erdhöhlen, wobei sie eine kurze Bewegung absurder Schwänze zeigten. Andere, mit vier Beinen, grimmigen Gesichtern und langen Zähnen, jagten in Rudeln und bellten ihn gemeinsam mit rauhen, höhnischen Stimmen an. Am siebzigsten Tag sah er in einer tief im Schatten liegenden Lichtung im Norden eine noch nie zuvor gesehene Form in einer Reihe hintereinander dahingehen. Er erkannte sie auf den ersten Blick, kannte sie so gut, daß seine Augen ein unverzügliches Gefühl des Triumphes an sein Gehirn weitergaben. Sie waren zerlumpt, schmutzig und nicht mehr als halbwüchsig, doch das Ding der Schönheit hatte ihm verraten, was sie waren. Eng an den Boden geschmiegt, schwebte er in einer weiten Kurve, die ihn zum fernen Ende des kleinen Tales brachte, herum. Sein Schlitten paßte sich der
Vertiefung an, als er in die Lichtung hineinschwebte. Er konnte sie jetzt deutlicher sehen, selbst das schmutzige Rosa ihrer dünnen Beine. Sie bewegten sich von ihm weg, ihm ihre Rücken zugewandt, ohne seine Gegenwart zu bemerken. Ihre Bewegungen zeugten von äußerster Vorsicht, als fürchteten sie einen unsichtbaren Gegner. Die vollkommene Stille seiner Annäherung von hinten warnte sie nicht. Der letzte der verstohlenen Gruppe narrte ihn im letzten Augenblick. Er hing mit ausgestreckten Tentakeln über eine Seite des Schlittens, bereit, um den letzten, den mit dem wilden, gelben Haarschopf zu ergreifen, als das erkorene Opfer sich, einer Art sechstem Sinn gehorchend, flach auf den Boden warf. Fanders Griff faßte ins Leere, er sah ein paar verschreckter grauer Augen, bevor ein gezieltes Schwenken des Schlittens ihm Gelegenheit gab, seinen Fehler wiedergutzumachen und sich den nächsten in der Reihe zu greifen. Dieser war dunkelhaarig, etwas größer und kräftiger. Er bekämpfte die ihn umschlingenden Gliedmaßen wie von Sinnen, während der Schlitten an Höhe gewann. Dann erkannte er plötzlich die seltsame Natur seiner Fesseln und fuhr herum, um ihm genau ins Gesicht zu sehen. Das Resultat war unerwartet. Seine Züge wurden bleich, er schloß die Augen und wurde vollkommen schlaff. Er war noch immer schlaff, als Fander ihn in die Höhle trug, doch sein Herz schlug noch immer, und seine Lungen atmeten. Er legte ihn behutsam in die Weichheit seines Bettes und zog sich zum Höhleneingang zurück, um auf sein Erwachen zu warten. End-
lich rührte er sich, setzte sich auf und betrachtete verwirrt die gegenüberliegende Wand. Seine schwarzen Augen glitten langsam umher, um die Umgebung in sich aufzunehmen. Dann sahen sie Fander. Sie weiteten sich ungeheuerlich, und ihr Besitzer begann schrille, entnervende Schreie auszustoßen, als er versuchte, durch die solide Wand zu entkommen. Er schrie so sehr, ein anschwellender Laut nach dem anderen, daß Fander schließlich aus der Höhle schlich, um aus der Sicht des Wesens zu gelangen, und im kalten Wind wartete, bis die Geräusche erstarben. Einige Stunden später näherte er sich wieder vorsichtig der Höhle, um Nahrung anzubieten, doch die Reaktion kam so rasch, hysterisch und herzzerreißend, daß er seine Nahrungsmittel fallen ließ und sich verbarg, als wäre die Furcht des Wesens seine eigene. Zwei volle Tage lang blieb die Nahrung unberührt. Am dritten war ein bißchen davon gegessen. Fander zeigte sich erneut. Obwohl der Marsianer sich nicht näherte, kauerte der Junge sich entfernt nieder und sagte: »Teufel! Teufel!« Seine Augen waren rot und von dunklen Ringen umgeben. »Teufel!« wiederholte Fander in Gedanken, nicht in der Lage, das fremde Wort zu wiederholen, er wunderte sich, was es bedeuten mochte. Er benutzte seinen Zeigetentakel in dem heroischen Versuch, etwas Beruhigendes zu übermitteln. Das Bemühen war vergeblich. Der andere besah das schlängelnde Winden mit einer Mischung aus Angst und Abscheu und zeigte einen völligen Mangel an Verständnis. Daraufhin ließ Fander einen Haupttentakel sacht vorwärtsgleiten, in der Hoffnung auf einen Gedankenkontakt.
Der Junge wich wie vor einer suchenden Schlange zurück. »Geduld«, ermahnte Fander sich selbst. »Das Unmögliche braucht etwas mehr Zeit.« In regelmäßigen Abständen zeigte er sich nun mit Nahrung und Wasser. Nachts schlief er unregelmäßig im Freien, auf einfachem, feuchten Gras unter einem bedrohlichen Himmel – während der Gefangene als sein Gast die Wärme des Bettes genoß, die Wärme der Höhle und die Sicherheit des Energieschirmes. Es kam die Zeit, da Fander eine völlig unpoetische Pfiffigkeit an den Tag legte und anhand des Magens des anderen die Situation beurteilte. Als am elften Tag die Nahrung regelmäßig angenommen wurde, nahm er am Rand der Höhle selbst eine Mahlzeit ein, unter den Augen des anderen, dessen Appetit, wie festzustellen war, nicht darunter litt. In dieser Nacht schlief er selbst in der Höhle, nahe am Energieschirm und so weit vom Jungen entfernt wie möglich. Der Gefangene blieb wach und betrachtete ihn, behielt ihn immerzu im Auge, aber endlich schlief er doch ein paar Stunden ein. Ein weiterer Versuch mit der Zeichensprache brachte ähnlich schlechte Resultate wie zuvor; der Junge weigerte sich noch immer, die dargebotene Tentakelspitze zu berühren. Dessen ungeachtet begann Fander langsam Boden zu gewinnen. Seine Kontaktversuche wurden noch immer abgelehnt, aber mit weitaus weniger Abscheu. Langsam, ganz, ganz langsam wurde die marsianische Gestalt vertraut und somit akzeptabel. Der süße Geruch des Erfolges wurde Fander in der Mitte des sechzehnten Tages zuteil. Der Junge hatte
verschiedene Stadien emotionellen Unwohlseins durchlaufen, in deren Verlauf er auf dem Bauch lag, zitterte und schwache Geräusche von sich gab, seine Augen wässerten unaufhörlich. Zu diesen Zeiten fühlte der Marsianer sich seltsam hilflos und fehl am Platze. Bei einer solchen Gelegenheit, während eines neuerlichen Anfalls, machte er sich den Mangel an Aufmerksamkeit des Leidenden zunutze und schlich näher, um sich die Schachtel, die beim Bett stand zu schnappen. Aus der Schachtel nahm er seine kleine Elektroharfe, steckte die Kontakte zusammen, schaltete sie sein und strich sanft und liebkosend über die Saiten. Langsam begann er zu spielen und sang einen Begleittext tief in seinem Inneren. Denn er hatte keine Stimme, um laut zu singen, so mußte die Harfe für ihn sprechen. Das Zittern des Jungen erstarb, er setzte sich auf, seine ganze Aufmerksamkeit galt dem geschickten Spiel der Tentakel und der Musik, die sie erzeugten. Und als er bemerkte, daß er den Verstand seines Zuhörers gefangen hatte, beendete Fander mit zärtlichen Akkorden sein Spiel und reichte ihm behutsam die Harfe. Der Junge zeigte Interesse und Zögern zugleich. Behutsam, um ihm nicht näher zu kommen, nicht einen Zentimeter näher, hielt Fander ihm die Harfe eine ganze Tentakellänge entfernt hin. Der Junge mußte vier Schritte gehen, um sie zu erreichen. Er ging sie. Das war der Anfang. Sie spielten zusammen, Tag für Tag und mitunter sogar in die Nacht hinein, während die Distanz zwischen ihnen unmerklich geringer wurde. Und schließlich saßen sie zusammen, Seite an
Seite, zwar hatte der Junge noch nicht Lachen gelernt, doch zeigte er kein Unbehagen mehr. Es gelang ihm inzwischen, dem Instrument eine einfache Melodienfolge zu entlocken, und er war auf eine stille Art mit seinen Leistungen zufrieden. Eines Abends, als die Dunkelheit hereinbrach und diese Dinge, die manchmal den Mond anheulten, erneut heulten, bot er ihm zum hundertstenmal seine Tentakelspitze dar. Immer schon war die Geste unmißverständlich gewesen, auch wenn das Motiv nicht ersichtlich war, und immer war sie zurückgewiesen worden. Aber jetzt, jetzt schlossen sich fünf Finger darum, in dem schüchternen Bemühen, freundlich zu sein. Mit einem inbrünstigen Gebet, daß die menschlichen Nerven ebenso funktionierten wie die marsianischen, ließ Fander seine Gedanken hinüberströmen, rasch, ehe der warme Griff sich wieder lösen konnte. »Fürchte dich nicht vor mir. Ich kann genausowenig etwas für meine Gestalt wie du. Ich bin dein Freund, dein Vater, deine Mutter. Ich brauche dich so dringend wie du mich benötigst.« Der Junge ließ ihn los und gab leise, halberstickte, wimmernde Geräusche von sich. Fander legte seine Tentakel um seine Schulter und machte damit tätschelnde Bewegungen, von denen er verrückterweise annahm, sie wären etwas typisch Marsianisches. Aus einem unerklärlichen Grund verschlimmerte das die Situation. Am Ende seiner Weisheit, was er tun sollte, welche Tat den terrestrischen Normen am nächsten kam, gab er das Nachdenken auf, gehorchte seinen Instinkten und umfing den Jungen mit einem langen, zähen Tentakel, mit dem er ihn wiegte, bis der Schlummer kam und die Geräusche erstarben. Da er-
kannte er, daß das Kind, das er entführt hatte, wesentlich jünger war als er vermutet hatte. Die ganze Nacht über hätschelte er es. Viel Übung war nötig, um eine Unterhaltung zu gewährleisten. Der Junge mußte lernen, seine Gedanken mental zu verstärken, da es nicht in Fanders Macht lag, sie aus ihm herauszusaugen. »Wie ist dein Name?« Fander erhielt ein Bild von dünnen Beinen, die schnell rannten. Er wiederholte es fragend. »Speedy?« Zustimmung. »Mit welchem Namen nennst du mich?« Eine wenig schmeichelhafte Ansammlung von Monstern. »Teufel?« Das Bild wirbelte umher, wurde verwirrt. Es gab Anzeichen von Verlegenheit. »Teufel wird genügen«, versicherte Fander. Er fuhr fort: »Wo sind deine Eltern?« Mehr Verwirrung. »Du mußt Eltern gehabt haben. Jeder hat einen Vater und eine Mutter, oder nicht? Erinnerst du dich nicht an sie?« Undeutliche Geisterbilder. Erwachsene, die Kinder aussetzen. Erwachsene, die Kindern aus dem Weg gingen, als fürchteten sie sie. »Was ist das erste Ding, an das du dich erinnerst?« »Großer Mann geht mit mir. Trägt mich ein Stück. Geht wieder.« »Was geschah mit ihm?« »Ging fort. Sagte, er ist krank. Sagte, er wird mich auch krank machen.«
»Schon lange her?« Verwirrung. Alles bis zum Erwachen der Erinnerung war ›lange her‹. Das konnte gar nicht anders sein. Fander änderte seine Fragen. »Was ist mit diesen anderen Kindern – haben sie auch keine Eltern?« »Alle haben niemanden.« »Aber du hast jetzt jemanden, nicht wahr, Speedy?« Zweifelnd: »Ja.« Fander ging noch weiter: »Möchtest du lieber mich haben oder diese anderen Kinder?« Er zögerte einen Augenblick, ehe er hinzufügte: »Oder beide?« »Beide«, sagte Speedy, ohne zu zögern. Seine Finger spielten mit der Elektroharfe. »Willst du mir helfen, morgen nach ihnen zu suchen und sie hierherzubringen? Und wenn sie Angst vor mir haben, wirst du ihnen helfen, nicht zu erschrecken?« »Sicher!« Speedy leckte sich die Lippen mit geschwollener Brust. »Dann«, schlug Fander vor, »hast du vielleicht nichts dagegen, heute einen Spaziergang mit mir zu machen. Du steckst schon viel zu lange in diesem Käfig. Möchtest du mich zu einem Spaziergang begleiten?« »Ja, alles klar.« Seite an Seite unternahmen sie einen kleinen Ausflug, der eine schritt schnell aus, der andere glitt mehr. Die Lebensgeister des Kindes erwachten zusehends bei diesem Exkurs ins Freie; es war, als ließen die Sicht des Himmels und die Berührung des Grases es erkennen, daß es nicht eigentlich ein Gefangener war.
Seine zuvor noch ernsten Züge wurden munter, mitunter machte er einige Ausrufe, die Fander nicht verstehen konnte, und einmal lachte er, aus keinem anderen Grund als der schieren Freude daran. Bei zwei Gelegenheiten ergriff er Fanders Tentakelspitzen, um ihm etwas zu erzählen, beidemale tat er das, als wäre es ebenso natürlich wie seine eigene Sprache. Am Morgen nahmen sie den Lastschlitten heraus, Fander übernahm den Frontsitz und die Kontrollen; Speedy kauerte hinter ihm und hielt sich an seinem Sicherheitsgurt fest. Mit geringer Aufwärtsbewegung glitten sie der Lichtung entgegen. Viele kleine weißschwänzige Tiere verschwanden in ihren Löchern, als sie darüber hinwegflogen. »Gut zu essen«, bemerkte Speedy, der ihn berührte und durch die Berührung sprach. Eine entsetzliche Übelkeit durchpulste Fanders Inneres. Fleischesser! Erst als ein sonderbares Gefühl von Scham und Rechtfertigung zu ihm herüberkam, wußte er, daß der andere seinen Widerwillen gespürt hatte. Er wünschte, er wäre schnell genug gewesen, um diese Reaktion zu verbergen, bevor der Junge sie spüren konnte, aber man konnte ihm daraus keinen Vorwurf machen, da die Erklärung ihn so völlig unvorbereitet getroffen hatte. Wie auch immer, das hatte einen neuen Schritt in ihren gegenseitigen Beziehungen eingeleitet – Speedy legte Wert auf seine Stellungnahme. Schon nach fünfzehn Minuten war das Glück ihnen hold. An einem Punkt, etwa eine halbe Meile südlich der Lichtung, stieß Speedy einen schrillen Schrei aus und deutete nach unten. Eine kleine goldhaarige Ge-
stalt stand dort an einem sacht ansteigenden Hang und starrte fasziniert empor zu dem Phänomen am Himmel. Eine weitere kleine Gestalt, mit rotem Haar, das aber ebensolang war, stand am Fuß des Hügels und starrte in ähnlicher Verwunderung. Als ihnen der Schlitten entgegenglitt, erwachten sie aus ihrer Erstarrung und flohen. Ohne auf das Ziehen an seinem Gurt und die schrillen Schreie der Freude zu achten, wendete Fander und erwischte zuerst den einen, dann den anderen. Dadurch verblieben ihm gefährlich wenige Extremitäten zum Steuern des Schlittens und um Höhe zu gewinnen. Hätten die Opfer sich gewehrt, es hätte seiner ganzen Aufmerksamkeit bedurft, um durchzukommen. Sie wehrten sich nicht. Sie schrien nur als er sie schnappte. Der Schlitten stieg und glitt eine Meile in einhundertfünfzig Metern Höhe. Fanders Aufmerksamkeit wurde zwischen seiner schlaffen Beute, den Kontrollen und dem fernen Horizont hin und her gerissen, als plötzlich ein donnerndes Rattern an der Basis des Schlittens erklang, der gesamte Rahmen erzitterte, ein dünner Metallstreifen riß von der Führungskante ab, und irgendwelche Dinge schossen mit pfeifenden Geräuschen in den Himmel. »Der alte Graypate«, schrie Speedy, der vergaß, den Kontakt herzustellen. Er warf sich umher, blieb aber dem Rand des Schlittens fern. »Er schießt auf uns!« Die Bedeutung der gesprochenen Worte konnte der Marsianer nicht verstehen, auch hatte er keinen Tentakel mehr frei, um einen Kontakt herzustellen. Verbissen hielt er den Schlitten gerade und stellte auf
volle Energie. Was auch immer beschädigt war, die Wirkungsweise war nicht davon beeinträchtigt; er schoß vorwärts mit einer Geschwindigkeit, bei der die goldenen und roten Haare seiner Gefangenen im Wind wehten. Notgedrungen fiel seine Landung bei der Höhle etwas holperig aus. Der Schlitten plumpste hinunter und schlitterte noch vierzig Meter über das Gras. Das wichtigste zuerst. Er nahm das schlaffe, bewußtlose Paar mit in die Höhle und machte es ihnen auf dem Bett bequem, erst dann kam er wieder heraus und untersuchte den Schlitten. Da waren etwa ein halbes Dutzend tiefe Kerben in der flachen Unterseite sowie zwei helle Kratzer. Er stellte Kontakt mit Speedy her. »Was hast du versucht, mir zu sagen?« »Der alte Graypate schoß auf uns.« Die Gedankenbilder brachen plötzlich intensiv über ihn herein, mit einem elektrisierenden Effekt, das Bild eines großen, weißhaarigen, ernst dreinblikkenden Mannes mit einer röhrenförmigen Waffe auf der Schulter, die unaufhörlich Feuer nach oben spuckte. Ein weißhaariger, alter Mann. Ein Erwachsener! Sein Griff umschloß den Arm des anderen fester. »Was ist dieser alte Mann für dich?« »Nicht viel. Er lebt nahe unseren Unterkünften in den Zelten.« Das Bild eines langen, staubigen Zementbaus, übel heruntergekommen, die Decke zeigte noch Spuren eines Beleuchtungssystems, das zu einem Nichts verrottet war. Der alte Mann lebte einem Eremiten ähnlich in der einen, die Kinder in der anderen Seite. Der
alte Mann war verschlossen und wortkarg, ließ die Kinder nur selten näher kommen, sprach kaum mit ihnen, doch war er blitzschnell zur Stelle, wenn sie bedroht wurden. Er besaß Waffen. Einmal hatte er zwei wilde Hunde getötet, die zwei der Kinder aufgefressen hatten. »Die Leute ließen uns in der Nähe des Schuppens, weil der alte Graypate da war und Gewehre hatte«, informierte Speedy. »Aber warum hielt er sich von euch fern? Mag er keine Kinder?« »Weiß nicht.« Speedy dachte einen Moment nach, fuhr dann fort: »Einmal sagte er uns, alte Menschen können sehr krank werden und dadurch auch junge krank machen, dann müßten wir alle sterben. Vielleicht hat er davor Angst, uns totzumachen.« Also gab es hier doch eine gefürchtete Krankheit, etwas hochgradig Ansteckendes, für das Erwachsene besonders anfällig schienen. Ohne zu zögern, setzten sie ihre Kinder beim ersten Anzeichen einer Infizierung aus, in der Hoffnung, die Kinder würden letztlich überleben. Selbstopfer um Selbstopfer, damit die Überbleibsel der Rasse überleben konnten. Gebrochene Herzen in zahlloser Folge, wenn die Eltern einen einsamen Tod erwählten, um ihre Abkömmlinge nicht zu gefährden. Trotzdem wurde Graypate selbst als sehr alt beschrieben. War das die Aufschneiderei eines kindlichen Verstandes? »Ich muß mich mit Graypate treffen.« »Er wird schießen«, erklärte Speedy definitiv. »Er weiß inzwischen, daß du mich mitgenommen hast. Er
hat gesehen, wie du die anderen mitgenommen hast. Er wird dich erwarten und niederschießen, sobald er dich sieht.« »Wir müssen einen Weg finden, das zu verhindern.« »Wie?« »Wenn diese beiden meine Freunde geworden sind, genauso wie du mein Freund geworden bist, werde ich euch alle drei zurück zum Schuppen bringen. Ihr könnt dann Graypate suchen, und ihm erzählen, daß ich nicht so häßlich bin wie ich aussehe.« »Aber du bist nicht häßlich«, meinte Speedy sachlich. Das Fander-Bild, das ihm mit dieser Bemerkung übermittelt wurde, gab ihm ein seltsames Gefühl der Freude. Es war ein undeutlicher, verschwommener und verzerrter Körper mit einem deutlich menschlichen Gesicht. Die beiden neuen Gefangenen waren Weibchen. Fander wußte das, auch ohne daß man es ihm hätte erzählen müssen, sie waren zierlicher als Speedy und hatten einen warmen, süßen, weiblichen Geruch. Daraus resultierten einige Komplikationen. Vielleicht waren sie noch Kinder, und vielleicht hatten sie auch in ihrer Unterkunft zusammengelebt, aber er war entschlossen, das nicht zu dulden, solange sie unter seiner Verantwortung waren. Fander mochte nach lokalen Standards als fremdländisch gelten, doch er hatte ein zimperliches, schulmeisterliches Wesen. Deshalb schuf er eine weitere kleinere Höhle für sich und Speedy. Keines der Mädchen sah ihn in den folgenden vier
Tagen. Immer darauf bedacht, ihnen nicht unter die Augen zu kommen, ließ er Speedy das Essen hineinbringen und sich mit ihnen unterhalten und sie auf die Figur dessen, was sie erwartete, vorbereiten. Am fünften Tag erst zeigte er sich ihnen aus einiger Entfernung. Trotz der Vorwarnungen wurden sie kreidebleich, klammerten sich aneinander, gaben aber keine entsetzten Geräusche von sich. Er ging näher zu ihnen und spielte seine Harfe eine Weile, verschwand wieder, kehrte am Abend zurück und spielte wieder für sie. Ermutigt durch Speedys fortwährende selbstsichere Aufmunterungen, griff eine der beiden am nächsten Tag nach seiner Tentakelspitze. Was durch die Nervenenden des Marsianers übermittelt wurde, war weniger ein klares Bild, sondern mehr ein Stöhnen, ein Wunsch, ein kindliches Schluchzen. Er zog sich aus der Höhle zurück und suchte etwas Holz und verbrachte die ganze Nacht damit, aus dem Holz eine kleine, menschenähnliche Figur zu schnitzen, wobei er den schlafenden Speedy als Modell nahm. Er war kein Bildhauer, doch besaß er eine natürliche Begabung, und der Poet in ihm suchte durch seine Gliedmaßen einen Weg nach draußen und hauchte der Figur seinen Atem ein. Er machte seine Arbeit gründlich, kleidete das Modell nach terrestrischer Art, bemalte sein Gesicht und zeichnete auf die Züge diese Freudengrimasse, die die Menschen als ein Lächeln bezeichnen. Er gab ihr die Puppe, als sie am Morgen erwachte. Sie nahm sie hastig, fast hungrig, mit großen, glücklichen Augen. Sie drückte sie an ihren noch unausgeprägten Busen und summte Lieder für sie – und da
wußte er, die seltsame Einsamkeit in ihrem Inneren existierte nicht mehr. Obwohl Speedy seine Arbeit in offener Verachtung als Zeitverschwendung bezeichnete, begann Fander ein zweites Modell herzustellen. Es dauerte nicht so lange wie beim erstenmal, die Übung hatte ihn rascher und geschickter gemacht. Gegen Nachmittag konnte er sie dem anderen Kind überreichen. Sie akzeptierte das Geschenk mit scheuer Anmut, preßte die Puppe fest an sich, als bedeute sie ihr mehr als ihre gesamte traurige Welt rings umher. In ihrer aufgeregten Konzentration auf das Geschenk vergaß sie seine Nähe völlig, und als er ihr eine Tentakelspitze anbot, da nahm sie sie. »Ich habe dich lieb«, sagte er einfach. Ihr Verstand war zu untrainiert, um zu antworten, doch ihre großen Augen füllten sich mit einem warmen Glanz. Fander saß auf dem gelandeten Schlitten ungefähr eine Meile östlich von der Lichtung und sah den drei Kindern nach, die Hand in Hand zu den verborgenen Schuppen gingen. Speedy war offensichtlich der Führer, der sie antrieb und sie mit der lautstarken Selbstsicherheit eines weit Herumgereisten, der sich als welterfahren betrachtet, beaufsichtigte. Dessen ungeachtet blieben die Mädchen in unregelmäßigen Intervallen stehen, drehten sich um und winkten dem knorrigen, bienenäugigen Ding, das sie zurückließen, zu. Und Fander winkte pflichtschuldigst zurück, wobei er immer den Signaltentakel benutzte, denn es kam ihm nicht in den Sinn, daß ein anderer Tentakel für diesen Zweck genausogut gebraucht werden könne.
Hinter einer Anhöhe verschwanden sie aus seinem Sichtbereich. Er blieb bei dem Schlitten, sein vielfacettiger Blick erkundete die nähere Umgebung oder studierte den düsteren Himmel, der nun Regen mit sich trug. Der Grund bestand aus einem dunklen Graugrün, das sich bis zum Horizont erstreckte. Es gab keine Abwechslung in dieser eintönigen Farbe, kein Fleckchen Weiß, Gold oder Karmesinrot, wie das in den Wüsten des Mars der Fall war. Nur das ewige Graugrün existierte und sein eigenes, brillantes Blau. Vor ihm tauchte ein finstergesichtiges, vierfüßiges Ding im Gras auf, das ihn hungrig anstarrte. Es stieß seine Schnauze in den Himmel und heulte. Der Ton war ein widerliches, durchdringendes Wehklagen, das über die Landschaft hallte und in der Ferne verstummte. Auf diesen Ruf hin erschienen andere seiner Rasse, zwei, zehn, zwanzig. Ihr Mut stieg mit der Zahl, bis eine große Gruppe von ihnen anwesend war, die mit zurückgezogenen Lippen und gefletschten Zähnen auf ihn zukamen. Plötzlich erging ein nicht wahrnehmbarer Herdenruf, der sie veranlaßte, ihr Näherkriechen aufzugeben und vorwärtszuspringen. Geifer troff von ihren Lefzen. Sie taten das mit der ausgehungerten, rotäugigen Wut von Tieren, die durch etwas, nur dem Wahnsinn vergleichbares, motiviert werden. Abstoßend wie es war, dieses Bild von Kreaturen, die nach Fleisch lechzten – selbst fremdem, blauem Fleisch – so beunruhigte es Fander doch nicht. Er zog die Höhensteuerung des Schlittens eine Kerbe nach oben, die Schwebegitter drehten sich, und der Schlitten schoß fünf Meter in die Höhe. Diese leichte, leise Errettung, so sorgfältig ausge-
führt, erregte die wilde Hundemeute über alle Maßen. Unter dem Schlitten herumtobend, machten sie sinnlose Sprünge in die Höhe, fielen zurück auf ihre eigenen Artgenossen, bissen und verletzten sich gegenseitig und versuchten wieder und wieder, ihn zu erreichen. Der Höllenlärm, den sie von sich gaben, bestand aus Knurren, Schreien, Bellen und Grunzen. Ein durchdringender Geruch nach trockenem Fell und Tierschweiß entströmte ihnen. Mit einer Miene würdevoller Verachtung ließ Fander die irrsinnige Meute unter sich toben. Sie rannten in kleinen Kreisen umher, schrien in ohnmächtiger Wut zu ihm auf und bissen sich gegenseitig. Das ging geraume Zeit so weiter, bis es durch eine Reihe superschneller, pfeifender Explosionen aus der Richtung der Lichtung beendet wurde. Acht Hunde fielen tot zu Boden. Zwei fielen und versuchten davonzukriechen. Zehn jaulten schmerzerfüllt auf und schleppten sich auf drei Beinen weg. Die unverletzten Exemplare rannten weg zu einem Platz, wo sie auf die Verwundeten warten und sich auf diese stürzen konnten. Fander senkte den Schlitten. Speedy stand am Kopf des Hügels, zusammen mit Graypate. Letzterer verbarg die Waffe in seinem Ellbogen, rieb sich nachdenklich das Kinn und kam langsam auf ihn zu. Ungefähr fünf Meter vor dem wartenden Marsianer blieb der alte Erdenmensch erneut stehen und rieb sich das Kinn mit seinen Stoppeln und sagte: »Das ist das verwünschteste Ding, wirklich das verwünschteste Ding!« »Ihn anzureden hat keinen Sinn«, erklärte Speedy
ihm. »Du mußt ihn berühren, wie ich es dir gesagt habe.« »Ich weiß, ich weiß.« Graypate drängte die Ungeduld des Alters zurück. »Alles zu seiner Zeit. Ich werde ihn berühren, wenn ich soweit bin.« Er blieb noch eine Weile stehen und betrachtete Fander mit Augen, die sehr bleich und sehr scharf waren. »Nun gut, fangen wir an.« Er bot seine Hand an. Fander legte ein Tentakelende hinein. »Jesus, wie kalt er ist«, kommentierte Graypate, der seinen Griff schloß. »Kälter als eine Schlange.« »Er ist keine Schlange«, fuhr Speedy ihn an. »Sei ruhig, sei ruhig – das habe ich auch nicht gesagt.« Graypate schien begeistert von sich wiederholenden Phrasen. »Er fühlt sich auch nicht wie eine Schlange an«, beharrte Speedy, der in seinem ganzen Leben noch keine Schlange berührt hatte und es auch nicht wünschte. Fander jagte einen Gedanken hinüber. »Ich komme vom vierten Planeten, wissen Sie, was das bedeutet?« »Ich bin nicht ungebildet«, entgegnete Graypate. »Es ist nicht nötig, mündlich zu antworten. Ich empfange Ihre Gedanken so deutlich wie Sie die meinen. Ihre Antworten sind viel stärker als die des Jungen, ich kann Sie gut verstehen.« »Hmmph!« war Graypates einzige Antwort dazu. »Ich habe mich sehr intensiv darum bemüht, einen Erwachsenen zu finden, denn die Kinder können mir nicht genug erzählen. Ich möchte Ihnen gern einige Fragen stellen; werden Sie sie mir beantworten?« »Das kommt darauf an«, sagte Graypate argwöhnisch.
»Achten Sie nicht darauf. Beantworten Sie nur die, die Sie beantworten wollen. Mein einziger Wunsch ist es, Ihnen zu helfen.« »Ist er das?« fragte Graypate mit offener Skepsis. »Warum?« »Weil wir intelligente Freunde benötigen.« »Warum?« »Weil unsere Ressourcen gering sind und unsere Zahl klein. Der Besuch dieser Welt sowie des Nebelplaneten hat uns an den Rand unserer technischen Möglichkeiten gebracht. Aber mit einer gewissen Hilfe könnten wir weiter gelangen, sehr viel weiter. Ich glaube, wenn ich Ihnen helfe, wird eine Zeit kommen, wo Sie uns helfen.« Graypate dachte sorgfältig darüber nach, er vergaß völlig, daß die inneren Arbeiten seines Verstandes für den anderen weit offenstanden. Fortwährendes Mißtrauen war die Schlüsselnote seiner Gedanken, Mißtrauen, das auf Lebenserfahrung und Erinnerungen an die jüngere Geschichte fußte. Aber die inneren Gedanken wurden in beide Seiten übertragen, und Graypate spürte nichts als Aufrichtigkeit in Fanders Geist. Deshalb antwortete er: »Tadellos. Was möchten Sie wissen?« »Was hat all das verursacht?« fragte Fander und schwenkte einen Tentakel, um die Welt als Ganzes zu bezeichnen. »Krieg«, sagte Graypate mit schrecklicher Sachlichkeit. »Der letzte Krieg, den wir haben werden. Der gesamte Planet wurde verrückt.« »Wie kam es dazu?« »Darauf kommen wir gleich.« Graypate überdachte
das Problem ernsthaft. »Es war nicht ein Grund. Es war eine Vielzahl von Gründen, die sich gegenseitig noch erschwert haben.« »Wie etwa?« »Rassenunterschiede. Einige waren von der Körperfarbe verschieden, andere in ihren Vorstellungen, und sie konnten nicht zusammen existieren. Einige breiteten sich rascher aus als andere, wollten mehr Raum, um zu expandieren, einen größeren Anteil an der Nahrung der Welt. Aber es gab keinen weiteren Raum und keine weitere Nahrung. Die Welt war übervölkert, und niemand konnte irgendwo hingehen, ohne die Rechte eines anderen zu verletzen. Mein alter Herr hat mir einiges erzählt, bevor er starb, und er meinte immer, wenn die Leute Verstand genug gehabt hätten, um ihre Anzahl geringer zu halten dann –« »Ihr alter Herr?« unterbrach Fander. »Ihr Vater? Aber geschah denn das alles nicht zu Ihren Lebzeiten?« »Aber nein. Ich habe davon nichts gesehen. Ich bin der Sohn eines Sohnes eines Überlebenden.« »Laß uns zurück zur Höhle gehen«, warf Speedy ein, gelangweilt von dieser stummen Zwiesprache. »Ich möchte ihm unsere Harfe zeigen.« Sie nahmen keine Notiz von ihm. Fander fuhr fort: »Glauben Sie, daß es noch viele Überlebende gibt?« »Wer weiß?« Graypate war niedergeschlagen. »Es gibt keine Möglichkeit, zu sagen, wie viele noch auf der anderen Seite des Erdballs umherwandern, vielleicht noch immer einander töten, oder verhungern, oder an der Krankheit sterben.« »Was für eine Krankheit ist das?«
»Ich kann Ihnen nicht sagen, wie man sie nennt.« Graypate kratzte sich verwirrt den Kopf. »Mein alter Herr hat es mir einigemale gesagt, aber ich habe es schon lange vergessen. Es würde mir keinen Vorteil bringen, das zu wissen, verstehen Sie! Er erzählte mir, sein Vater hätte ihm erzählt, daß sein Vater ihm erzählt hat, das wäre ein Bestandteil des Krieges gewesen, es wurde erfunden und vorsätzlich ausgestreut. Sie existiert noch immer, nach allem, was ich weiß.« »Wie sind die Symptome?« »Man wird heiß und schwindelig. Man bekommt schwarze Geschwüre in den Achselhöhlen. Nach zwanzig Stunden stirbt man. Alte Leute scheinen sich zuerst zu infizieren. Dann bekommen es auch die Kinder, es sei denn, man verläßt sie so schnell wie möglich.« »Das ist mir etwas völlig Unbekanntes«, sagte Fander, der sich eine künstlich gezüchtete Beulenpest nicht vorstellen konnte. »Ich bin allerdings auch kein medizinischer Experte.« Er sah Graypate fragend an. »Aber Sie scheinen immun zu sein.« »Reines Glück«, entgegnete Graypate. »Vielleicht kann ich sie auch nicht bekommen. Während des Krieges erzählte man oft von Leuten, die eine natürliche Immunität besitzen. Fragen Sie mich nicht, warum, ich weiß es nicht. Es könnte sein, daß ich einer der Immunen bin – aber darauf möchte ich nicht schwören.« »Daher versuchen Sie, eine gewisse Entfernung zu diesen Kindern zu wahren?« »Sicher.« Er betrachtete Speedy. »Ich hätte wirklich nicht mit diesem Kind kommen sollen. Seine Chancen sind schlecht genug, auch ohne daß ich die Gefahr noch erhöhe.«
»Das ist sehr tapfer von Ihnen«, bemerkte Fander. »Besonders die Einsicht, einsam sein zu müssen.« Graypate schien erzürnt, seine Gedanken wurden leicht aggressiv. »Ich sehne mich nicht nach Freundschaft. Ich kann selbst für mich sorgen, das tue ich, seit mein alter Herr weggegangen ist und starb. Ich stehe auf meinen eigenen Füßen, genauso wie jeder andere.« »Das glaube ich Ihnen«, sagte Fander. »Sie müssen mir verzeihen, wenn ich etwas Falsches sage. Ich bin ein Fremder hier, verstehen Sie? Ich urteile nach meinen eigenen Gefühlen. Hin und wieder fühle ich mich sehr einsam.« »Wieso das?« fragte Graypate. »Sie wollen mir doch nicht erzählen, sie hätten Sie allein hier zurückgelassen und sich selbst überlassen?« »Doch, das hat man getan.« »Mann!« Es folgte ein Bild, das größtenteils dem Speedys glich, eine verschwommene Vision mit einem eindeutig menschlichen Gesicht. Der alte Mann reagierte auf dieses Ereignis, das er mehr als Bestrafung denn als freie Entscheidung zu betrachten schien, mit einer Woge von Sympathie. Fander reagierte hart und rasch. »Sie sehen meine Lage. Die Freundschaft wilder Tiere bedeutet mir nichts. Ich brauche jemanden, intelligent genug, daß ihm meine Musik gefällt, der meinem Äußeren keine Bedeutung beimißt, jemanden, der intelligent genug ist –« »Ich bin mir nicht sicher, ob wir so klug sind«, warf Graypate ein. Er ließ seinen scharfen Blick mit Grabesmiene über die Landschaft streichen. »Nicht, wenn ich diesen Friedhof betrachte, und mir vorstel-
le, wie das zu meines Großvaters Zeiten ausgesehen haben muß.« »Jede Blume erblüht aus dem Staub von hundert toten Blumen«, antwortete Fander. »Ja? Was sind Blumen?« Das schockte den Marsianer. Er hatte das Gedankenbild einer Trompetenlilie erzeugt, rot und strahlend. Graypates Gehirn hatte es aufgegriffen und gerätselt, ob es sich um Fleisch, Fisch oder Vogel handelte. »Pflanzliche Gewächse, wie diese hier.« Fander zupfte einige Grashalme aus der Erde. »Aber wohlgeformter, sehr bunt und von lieblichem Geruch.« Er übertrug das brillante Bild eines unermeßlichen Feldes voller Trompetenlilien, rot und glühend. »Gute Güte«, sagte Graypate. »Etwas Vergleichbares haben wir nicht.« »Nicht hier«, stimmte Fander zu. »Nicht hier.« Er deutete zum Horizont. »Anderswo gibt es vielleicht sehr viele. Wenn wir beisammenbleiben, könnten wir uns gegenseitig unterstützen, könnten gegenseitig voneinander lernen. Wir könnten unsere Ideen, unsere Bemühungen teilen und nach den fernen Blumen suchen. Vielleicht würden wir auch weitere Menschen finden.« »Herzlich wenig Gutes würden wir tun. Die Leute wollen einfach nicht in größeren Gruppen zusammenleben. Sie leben in Gemeinschaften, nicht größer als eine Familie – bis die Pest sie zerbricht –, dann setzen sie die Kinder aus. Je größer die Menge, je größer das Risiko, daß ein einzelner die Mehrheit ansteckt.« Graypate lehnte sich über sein Gewehr und ließ seine Gedankenbilder mit stumpfer Ernsthaftig-
keit entstehen. »Wenn jemand sich die Krankheit zugezogen hat, geht er weg, um allein zu sterben. Niemand ist da, der ihn unterstützt oder es ihm leichter macht. Der Tod ist ein persönlicher Kontakt zwischen ihm und seinem Gott, ohne Zeugen. Sterben ist heutzutage eine rein private Angelegenheit.« »Was aber nach all den Jahren? Glauben Sie nicht, die Krankheit könnte ihren Fluch verloren und sich erschöpft haben?« »Ich würde darauf setzen«, sagte Fander. »Sie sind nicht wie wir. Vielleicht können Sie sich gar nicht anstecken.« »Oder es wirkt bei mir noch schlimmer, und ich sterbe unter größeren Schmerzen.« »Vielleicht«, gab Graypate zweifelnd zu. »Wie auch immer, Sie sehen das aus einem völlig anderen Blickwinkel. Sie wurden hier sich selbst überlassen. Was haben Sie zu verlieren?« »Mein Leben«, sagte Fander. Graypate dachte stirnrunzelnd darüber nach. »Ja, das stimmt. Man kann keinen größeren Einsatz wagen.« Wie zuvor schon rieb er über die Stoppeln unter seinem Kinn. »Also gut, also gut, ich will Sie bei Ihrer Wette unterstützen. Sie können mit zu den Schuppen kommen und mit uns leben.« Seine Knöchel wurden weiß, als er den Griff um sein Gewehr verstärkte. »Um eines aber klarzustellen, wenn Sie sich krank fühlen, dann gehen Sie unverzüglich und für immer. Wenn Sie das nicht tun, werde ich Sie erschießen und wegschaffen, auch wenn ich mich selbst infiziere. Die Kinder haben Vorrang, verstanden?« Die Schuppen waren wesentlich geräumiger als die
Höhle. Achtzehn Kinder lebten dort, alle schlank wegen ihrer anhaltenden Diät aus Wurzeln, eßbaren Früchten und natürlichen Kaninchen. Die Jüngsten und Empfindlichsten gewöhnten sich innerhalb von zehn Tagen an Fanders Anblick. In erstaunlich kurzer Zeit schon war seine gleitende, knorrige, blaue Gestalt zu einem festen Bestandteil ihrer kleinen begrenzten Welt geworden. Sechs der Kinder waren Jungen, älter als Speedy, einer von ihnen sogar sehr viel älter, aber doch noch nicht erwachsen. Fander betörte sie mit seiner Harfe, lehrte sie, das Instrument zu spielen, hin und wieder erlaubte er ihnen Zehn-Minuten-Flüge mit dem Schlitten als besondere Belohnung. Er machte Puppen für die Mädchen und seltsame, konisch geformte Puppenhäuser sowie Stühle aus geflochtenem Gras für diese Häuser. Keine dieser Spielsachen waren von eindeutig marsianischer Form, aber auch keine von eindeutig terrestrischer. Sie repräsentierten einen rührenden Kompromiß seiner Vorstellungen: Die marsianische Anschauung terrestrischer Modelle, wenn es solche noch gegeben hätte. Aber heimlich, ohne die jüngeren Kinder zu vernachlässigen, richtete er sein Hauptinteresse auf Speedy und die sechs älteren Jungen. Nach seiner Meinung waren sie die Hoffnung für diese Welt – und für den Mars. Zu keiner Zeit fiel es ihm ein, darüber nachzudenken, daß ein nichttechnisches Gehirn nicht ohne herausragende Tugenden ist, oder es Zeiten und Umstände gibt, wo es wertvoll sein kann, kurzfristig Praktikables fallenzulassen zugunsten des auf weite Sicht Möglichen. Daher konzentrierte er sich so gut es ging auf die
älteren sieben, unterrichtete sie in den sich dahinschleppenden Wochen und Monaten, stimulierte ihre Gedanken, entfachte ihre Neugier und konfrontierte sie unaufhörlich mit der Einsicht, daß Furcht vor einer Krankheit zu einem menschenisolierenden Dogma werden kann, wenn es ihnen nicht gelang, es in ihren Seelen zu überwinden. Er brachte ihnen bei, den Tod als einen natürlichen Vorgang zu sehen, den man philosophisch akzeptieren muß und dem man mit Würde begegnet. Es gab Zeiten, da vermutete er, ihnen nichts Neues beizubringen, sondern sie lediglich an vergessenes Wissen zu erinnern, denn in ihrem wachsenden, expandierenden Verstand existierte ein uralter Schatz terrestrischen Wissens, der bereits vor zehn- oder zwanzigtausend Jahren zu ähnlichen Ergebnissen gekommen war. Doch er bemühte sich, den Alpdruck der Krankheit von ihren Gehirnen zu nehmen und ihre kindliche Logik rascher in den Weitblick Erwachsener zu überführen. In dieser Hinsicht zumindest war er zufrieden, denn sehr viel mehr konnte er ohnehin nicht tun. Nach einiger Zeit organisierten sie Gruppenkonzerte, summten oder gaben singende Geräusche zu den Klängen der Harfe von sich, improvisierten gelegentlich Klangfiguren, um Fanders Melodien zu unterstreichen, diskutierten den bewußten Einsatz gesprochener Worte, bis sie durch einen Ausleseprozeß ein Lied beisammen hatten. Als die Lieder zu einem gewissen Repertoire anwuchsen und der Gesang zauberhafter und schöner wurde, da kam auch der alte Graypate zu dem einen oder anderen Konzert, bis er sich durch diesen Brauch zu einer Art Ein-
mannpublikum und Kritik hochgearbeitet hatte. Eines Tages kam der älteste Junge, sein Name war Rotschopf, zu Fander und ergriff eine Tentakelspitze. »Teufel, kann ich deine Nahrungsmaschine bedienen?« »Du meinst, ich soll dir zeigen, wie sie funktioniert?« »Nein, Teufel, ich weiß, wie sie funktioniert.« Der andere starrte überzeugt in seine großen Bienenaugen. »Dann sag mir einmal, wie sie funktioniert.« »Du füllst den Sammelbehälter mit zarten Grasschößlingen, achtest sorgfältig darauf, keine Wurzeln und Erde mit hineinzubringen. Du achtest auch darauf, nicht einzuschalten, bevor der Behälter nicht gefüllt und gut verschlossen ist. Dann drehst du den roten Schalter, bis er auf zweihundertundachtzig steht, drehst den Behälter um und stellst den grünen Schalter auf siebenundvierzig. Schließlich drehst du beide Schalter zurück, nimmst die warme Masse aus dem Behälter heraus und gibst sie in die endgültigen Formen, wo du sie preßt, bis die Kekse fest und trokken sind.« »Wie hast du das alles herausgefunden?« »Ich habe dir viele Male zugesehen, wie du Kekse für uns gemacht hast. Heute morgen, während du beschäftigt warst, habe ich es selbst versucht.« Er hob eine Hand. Sie enthielt einen Keks. Fander nahm ihn, um ihn zu untersuchen. Fest, trocken und gutgeformt. Er versuchte ihn. Perfekt. Rotschopf wurde er erste Mechaniker der Welt, der mit einem marsianischen Energiepremastikator um-
gehen konnte. Sieben Jahre später, lange nachdem die Maschine zu funktionieren aufgehört hatte, schaffte er es, sie zu reparieren, schwächer zwar, aber sie funktionierte; es gelang ihm mittels Staub, der Alphastrahlen aussandte. Nach zwei weiteren Jahren hatte er ihn verbessert und beschleunigt. Nach zwölf Jahren hatte er einen zweiten gebaut und verfügte über das technische Wissen, um Premastikatoren in großer Anzahl herzustellen. Fander wäre niemals in der Lage gewesen, ihm diese Leistung nachzumachen; als ein Nichttechnischer verfügte er über kein besseres Wissen als der durchschnittliche Terrestrier über die Funktionsbasis, nach der die Maschine operierte. Auch wußte er nicht, was man unter Flächenheizungsabsorption und Proteinanreicherung verstand. Er konnte nicht mehr tun, als Rotschopf zu motivieren und den Rest dem beachtlichen Genius des Jungen zu überlassen. Auf ähnliche Weise enthoben ihn Speedy und zwei andere Jungen namens Blacky und Großohr der Verantwortung über seinen Schlitten. Aus wichtigem Anlaß erlaubte er ihnen, den Schlitten für einstündige Ausflüge allein zu bedienen. Diesmal waren sie vom Morgengrauen bis zur Dämmerung unterwegs. Graypate schlich besorgt umher; eine Waffe im Arm, eine weitere in seinem Gürtel, ging er gelegentlich zum Hügel und suchte den Himmel in alle Richtungen ab. Die Delinquenten schwebten bei Sonnenuntergang heran und brachten einen fremden Jungen mit sich. Fander bestellte sie zu sich. Sie hielten sich bei den Händen, damit er sich durch einen Kontakt mit allen dreien verständigen konnte.
»Ich mache mir Sorgen. Der Schlitten verfügt nur über einen begrenzten Energievorrat. Wenn dieser zu Ende ist, funktioniert er nicht mehr.« Sie sahen einander entgeistert an. »Unglücklicherweise verfüge ich weder über das Wissen noch über die technischen Möglichkeiten, den Schlitten wieder aufzuladen, wenn der Energievorrat erschöpft ist. Mir fehlt das Wissen der Freunde, die mich hier zurückließen – deshalb schäme ich mich.« Er schwieg, sah sie traurig an und sprach dann weiter: »Alles, was ich weiß, ist, daß die Energie nicht sehr schnell versiegt. Wenn er nicht zu häufig benutzt wird, müßten die Vorräte für viele Jahre reichen.« Eine weitere Pause, ehe er hinzufügte: »In absehbarer Zeit werdet ihr erwachsene Männer sein und den Schlitten wesentlich häufiger brauchen als das heute der Fall ist.« Blacky sagte: »Aber, Teufel, wenn wir Männer sind, sind wir doch viel größer und schwerer. Der Schlitten wird mehr Energie verbrauchen, um uns zu transportieren.« »Woher weißt du das?« fragte Fander scharf. »Mehr Gewicht, mehr Energie, um es zu transportieren«, entgegnete Blacky mit einem Ton, als sei seine Logik unwiderlegbar. »Darüber muß man nicht nachdenken. Es ist offensichtlich.« Sehr langsam und sanft sagte Fander: »Ihr könnt es. Mögen die Zwillingsmonde eines Tages auf euch herabscheinen, ich weiß, daß ihr es könnt.« »Was können, Teufel?« »Tausend Schlitten wie den meinen bauen, oder bessere – und damit die ganze Welt erforschen.« Von da an beschränkten sie die Zeitdauer ihrer
Ausflüge strikt auf eine Stunde und unternahmen auch viel weniger als zuvor, untersuchten statt dessen aber immer häufiger die Kraftzellen im Inneren. Auch Graypates Charakter änderte sich mit dem langsamen Starrsinn des Alters. Als zwei und schließlich drei Jahre ins Land gegangen waren, kam er öfter aus seiner Hütte, war nicht mehr so schweigsam und war bereit, öfter mit denen zusammenzukommen, die langsam, aber sicher zu seiner Größe heranwuchsen. Ohne sich völlig darüber klarzuwerden, was er tat, unterstützte er Fander und gab den Kindern sein Wissen über die Vergangenheit, wie er es von seinen Vätern kannte, weiter. Er unterrichtete die Jungen in der Bedienung und Handhabung der Gewehre, von denen er ganze elf Stück besaß, wenn auch manche nur zur Beschaffung von Ersatzteilen für die anderen verwendet wurden. Gelegentlich ging er mit ihnen auf Munitionssuche, dann gruben sie tief unter zerfallenen, halbverschütteten Kellern, um Munition zu finden, die noch nicht zu sehr korrodiert war. »Gewehre sind nutzlos ohne Munition, und Munition hält nicht ewig.« Auch begrabene Munition hält nicht ewig. Sie fanden keine. Aus seinem eigenen Wissensvorrat hielt Graypate eine Sache immer unter Verschluß, bis Speedy, Blacky und Rotschopf es eines Tages förmlich aus ihm herauszwangen. Dann endlich, mit der Miene eines Vaters, der sich dem Henker gegenübersieht, erzählte er ihnen die Wahrheit über Babies. Er zog keinen Vergleich zu den Bienen, denn es gab keine Bienen, auch zu den Blumen nicht, denn es gab ebenfalls keine
Blumen. Man kann keine Vergleiche zu nichtexistenten Dingen ziehen. Nichtsdestoweniger gelang es ihm, ihnen die Geschichte mehr oder weniger zu ihrer Zufriedenheit zu verdeutlichen, danach strich er sich den Schweiß von der Stirn und kam zu Fander. »Diese Jüngelchen werden viel zu neugierig für meinen Geschmack. Sie haben mich gefragt, wie die Kinder zur Welt kommen.« »Haben Sie es ihnen gesagt?« »Selbstverständlich.« Er setzte sich und fuhr sich erneut über die Stirn. »Es macht mir nichts aus, den Jungs nachzugeben, wenn ich sie nicht mehr länger hinhalten kann – aber ich will verdammt sein, wenn ich es auch den Mädchen erzähle.« Fander sagte: »Auch ich bin schon diesbezüglich gefragt worden. Ich konnte allerdings nicht sehr viel erzählen, da ich mir in keinster Weise sicher war, ob euer Brutvorgang ähnlich abläuft wie der unsere. Aber ich habe ihnen erzählt, wie es bei uns abläuft.« »Auch den Mädchen?« »Natürlich.« »Jesus! Wie haben sie es aufgenommen?« »Genauso, als hätte ich ihnen erklärt, warum das Wasser naß oder der Himmel blau ist.« »Das muß irgendwie an der Art und Weise liegen, wie Sie es ihnen erzählt haben.« »Ich sagte ihnen, es handle sich um Poesie zwischen Personen.« Immer wieder gibt es im Verlauf der Geschichte, marsianisch, venusisch oder terrestrisch, einige Jahre, die erwähnenswerter sind als andere. Das sechzehnte Jahr nach Fanders Ankunft war herausragend für eine Serie von Ereignissen, jedes einzelne unbedeutend
in kosmischer Sicht, und doch von immenser Wichtigkeit für die kleine Lebensgemeinschaft. Zu Beginn entwickelten die sieben Ältesten – inzwischen bärtige Männer – die Verbesserungen Rotschopfs an dem Premastikator sowie einige verwandte Techniken weiter und brachten den stillstehenden Schlitten wieder in Gang. Das erstemal nach vierzig Monaten erhoben sie sich wieder triumphierend in die Lüfte. Experimente zeigten, daß der marsianische Lastträger nun langsamer war, weniger Gewicht tragen konnte, aber die Reichweite hatte sich wesentlich erhöht. Sie benutzten ihn, um die Ruinen ferner Städte zu besuchen, auf der Suche nach Altmetall, das sie zum Bauen weiterer Schlitten verwenden konnten. Früh im Sommer hatten sie einen erbaut, größer als das Original, schwerfällig bis fast zur Gefährlichkeit, aber immerhin ein Schlitten. Bei einigen Ausflügen fanden sie kein Metall, entdeckten dafür aber Menschen, seltsame Familien, die in unterirdischen Unterkünften überlebt hatten, sich grimmig an das Leben klammerten und nur noch über Bruchstücke ihres einstigen Wissens verfügten. Aber all diese Kontakte fanden ausnahmslos von Mensch zu Mensch statt, ohne eine unheimliche, tentakelbewehrte Gestalt, die die andere Gruppe erschreckte, und da die meisten die Angst vor der Pest besser ertragen konnten als die schreckliche Einsamkeit, kehrten viele Familien bereitwillig mit den Kundschaftern zurück, siedelten sich in den Schuppen an, akzeptierten Fander und stellten ihre Überlebenskünste der Gruppe zur Verfügung. Auf diese Weise wuchs die Bevölkerungszahl auf siebzig Erwachsene und vierhundert Kinder. Als Tri-
but an ihre Angst vor der Pest verteilten sie sich weitläufig in den vorhandenen Unterkünften, gruben halbverschüttete und früher unbenutzte Gebäude wieder aus und bildeten zwanzig oder dreißig kleinere Gruppen, von denen jede einzelne ohne weiteres isoliert werden konnte, sollte der ansteckende Tod auftreten. Die wachsende Moral, geboren aus zunehmender Stärke und Vertrauen in die gestärkte Anzahl, zeigte sich bald in vier weiteren Schlitten, noch immer schwerfällig, aber weniger risikoreich im Gebrauch. Das erste aus Steinen gefertigte Haus erschien auf der Erdoberfläche, mit vier soliden Wänden stand es solide unter dem grauen Himmel, ein deutliches Zeichen, daß die Menschheit sich noch immer einige Stufen höher einschätzte als Ratten und Kaninchen. Die Gemeinschaft übergab das Haus an Blacky und Sanftstimme, die den Wunsch zusammenzuleben geäußert hatten. Ein Erwachsener, der behauptete, die üblichen Bräuche noch zu kennen, sprach einige feierliche Worte zu dem glücklichen Paar, während Fander nach bester marsianischer Weise aufwartete. Gegen Ende des Sommers kehrte Speedy von einer viele Tage währenden Schlittenfahrt zurück und brachte einen alten Mann, einen Jungen und vier Mädchen mit sich, alle von seltsamem, fremdländischen Aussehen. Sie waren von gelblicher Farbe, hatten schwarzes Haar, mandelförmige Augen und sprachen eine Sprache, die keiner verstehen konnte. Bis die Neuankömmlinge die lokale Sprache gelernt hatten, mußte Fander als Dolmetscher fungieren, denn sowohl seine als auch ihre Gedankenbilder bedurften keiner gesprochenen Worte. Die vier Mäd-
chen waren schweigsam, höflich und ausgesprochen hübsch. Innerhalb von drei Monaten heiratete Speedy eine von ihnen, deren Name ein sanft klingender Laut war und Wunderschönes Juwel Ling bedeutete. Nach dieser Hochzeit suchte Fander Graypate auf und reichte ihm eine Tentakelspitze in die rechte Hand. »Es gibt Unterschiede zwischen dem Mann und dem Mädchen, unterschiedliche Züge, unähnlicher als wir auf dem Mars sie kennen. Sind diese einige der Unterschiede, die euren Krieg verursacht haben?« »Weiß nicht. Habe noch nie so ein Völkchen zuvor gesehen. Sie müssen ein schönes Stück entfernt leben.« Er kratzte sich am Kopf, um seinen Gedanken auf die Sprünge zu helfen. »Ich weiß nur, was mein Vater mir erzählt hat, was dessen Vater wiederum ihm erzählt hat. Es gab zu viele Menschen von zu vielen verschiedenen Rassen.« »Sie können so verschieden nicht sein, wenn sie sich ineinander verlieben können.« »Wahrscheinlich nicht«, stimmte Graypate zu. »Was wäre, wenn die in dieser Welt verbliebenen Menschen sich alle zusammentun würden und Kinder hätten, die weniger verschieden sind, und diese wiederum Kinder mit noch weniger Unterscheidungsmerkmalen. Würden sie nicht alle unterschiedslos zu einem werden – zu Erdmenschen?« »Vielleicht.« »Alle würden dieselbe Sprache sprechen und dieselbe Kultur teilen. Wenn sie sich langsam von einer zentralen Quelle ausbreiten würden, ständig durch die Schlitten in Verbindung, ständig dasselbe Wissen teilen würden, denselben Fortschritt, würde da noch
Raum bleiben für neuerliche Unterschiede?« »Ich weiß es nicht«, sagte Graypate ausweichend. »Ich bin nicht mehr so jung wie einst, und ich kann auch nicht mehr träumen wie einst.« »Nun, das macht nichts, solange die Jungen träumen können.« Fander dachte einen Moment nach, fuhr dann fort: »Wenn Sie beginnen, in sich einen Außenseiter zu sehen, so sind Sie damit nicht allein. Die Dinge entgleiten so langsam meinen Händen, zumindest was mich betrifft. Der Zuschauer sieht das meiste von dem Spiel, vielleicht liegt es daran, daß ich für dieses besondere Gefühl empfänglicher bin als Sie.« »Welches Gefühl?« fragte Graypate. »Daß Terra sich erneut hochentwickelt. Es hausen nun viele Leute hier, wo einst nur wenige waren. Ein Haus wurde gebaut, weitere werden folgen. Sie reden von sechs weiteren. Danach werden sie von sechzig reden, von sechshundert und schließlich von sechstausend. Andere planen, die alten Rohrleitungen wieder auszugraben, um Wasser von dem nördlichen See herzupumpen. Schlitten werden gebaut, Premastikatoren werden bald folgen, ebenso wie schützende Energieschirme. Die Kinder werden unterrichtet. Immer seltener hört man von der Pest, und niemand, den ich kenne, ist daran gestorben. Ich fühle eine dynamische Woge von Energie und Unternehmungsgeist und Genie, die sich mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit ausbreiten wird, bis sie schließlich zu einer reißenden Flut werden wird. Ich fühle das, auch mich haben die Ereignisse hinter sich gelassen.« »Unfug!« sagte Graypate. Er spie auf den Boden. »Wenn man oft genug träumt, wird hin und wieder
auch ein Alptraum dabei sein.« »Vielleicht liegt das daran, daß so viele Aufgaben übernommen wurden – und wesentlich besser ausgeführt werden, als ich das konnte. Ich habe es versäumt, mich nach neuen Aufgaben umzusehen. Wenn ich ein Techniker wäre, dann hätte ich inzwischen ein Dutzend davon. Unglücklicherweise bin ich kein Techniker, ich bin ein Nichtkönner.« Er stieß einen mentalen Seufzer aus. »Ich glaube, diese Zeit ist so gut wie jede andere auch, um eine Arbeit auszuführen, die ich noch getan wissen will. Ich benötige Ihre Hilfe.« »Was haben Sie vor?« »Vor langer, langer Zeit habe ich ein Gedicht gemacht. Es ist dem wunderschönen Gegenstand gewidmet, dessen Aussehen mich zum Hierbleiben bewog. Ich weiß nicht genau, was der Erschaffer damit aussagen wollte, oder ob meine Augen es so sehen, wie er sich das gewünscht hätte, aber ich habe dieses Gedicht gemacht, um auszudrücken, was ich fühle, wenn ich mir dieses Kunstwerk betrachte.« »Hummph!« meinte Graypate, nicht sehr begeistert. »Unter seiner Basis steht ein solides Felsstück hervor, das ich glätten könnte, um es als Tafel zu benutzen, auf der ich meine Worte schreiben kann. Ich möchte sie gern zweimal niederschreiben, in marsianischen und in irdischen Schriftzeichen.« Er zögerte etwas und fuhr dann entschuldigend fort: »Ich hoffe, niemand findet das anmaßend von mir. Aber es ist schon viele Jahre her, seit ich etwas geschrieben habe, das alle lesen sollten – vielleicht erhalte ich später nie mehr eine Chance dazu.«
»Ich verstehe, was Sie wollen. Sie möchten, daß ich Ihr Gedicht in unserer Sprache niederschreibe, damit Sie es abschreiben können«, sagte Graypate. »Ja.« »Geben Sie mir einen Stift und Papier.« Er nahm es und kauerte sich auf einen Stein; er beugte sich ungelenkig nach vorn, denn er begann die Last seiner Jahre zu spüren. Er legte das Papier auf seine Knie, hielt das Schreibgerät in seiner rechten Hand, während seine Linke noch immer einen Tentakel umklammerte. »Also los.« Als Fanders Gedankenbilder zu ihm durchdrangen, begann er mit großen, schwerfälligen Buchstaben zu schreiben, vergrößerte die Buchstaben und ließ sie alle weit auseinander. Als er fertig war, reichte er das Blatt hinüber. »Asymmetrisch«, entschied Fander, als er die seltsamen Lettern betrachtete. Zum erstenmal wünschte er sich, die Erdsprache gelernt zu haben. »Können Sie diesen Teil nicht mit dem angleichen und jenen mit dem anderen?« »Es ist so, wie Sie es mir gesagt haben.« »Es ist Ihre eigene Übersetzung meiner Worte. Ich möchte es etwas ausgeglichener haben. Würden Sie es noch einmal versuchen?« Er versuchte es. Vierzehn Entwürfe waren nötig, bis Fander zufrieden war mit dem Erscheinungsbild von Buchstaben und Worten, die er nicht verstand. Er nahm das Papier und sein Strahlengewehr, ging zum Grundstein des schönen Gebildes und zerstäubte die gesamte Vorderfront zu einer glatten Fläche. Er justierte seine Waffe, um eine V-förmige Vertiefung von zwei Zentimetern zu erreichen, und be-
gann, sein Gedicht in den langen, nichtinterpunktierten Linien der marsianischen Sprache zu schreiben. Mit weit weniger Vertrauen, aber dafür um so größerer Vorsicht begann er den Vers in irdischen Schriftzeichen zu wiederholen, in unbeholfenen und eckigen Buchstaben. Diese Arbeit war lang und anstrengend. Fünfzig Leute sahen ihm zu, als er endlich fertig war. Niemand sagte etwas. In vollkommener Stille betrachteten sie die Inschrift und den schönen Gegenstand und standen noch immer feierlich nachdenkend da, als er sich entfernte. Einer nach dem anderen der Gemeinschaft betrachtete seine Arbeit am nächsten Tag, sie kamen und gingen mit der Miene von Pilgern, die ein uraltes Heiligtum besuchen. Alle standen sie lange Zeit da und gingen ohne einen Kommentar geäußert zu haben wieder davon. Niemand lobte Fanders Arbeit, niemand verurteilte sie, niemand warf ihm vor, ein typisch irdisches Kunstwerk durch seine marsianischen Schriftzeichen verunstaltet zu haben. Die einzige Resonanz – zu subtil, um bemerkt zu werden – bestand in einer noch größeren und zielsichereren Dynamik der wachsenden Erdbevölkerung. In dieser Beziehung hatte Fander wesentlich mehr bewirkt als ihm selbst bewußt wurde. Im nächsten Jahr kehrte der Pestschrecken zurück. Zwei Schlitten hatten Familien von weit entfernt mitgebracht, und eine Woche nach deren Ankunft wurden die Kinder krank und bekamen Flecken. Metallene Gongs verkündeten den Alarm, die gesamte Arbeit wurde niedergelegt, die betroffene Sek-
tion wurde abgeriegelt und bewacht, während die Mehrheit sich zu einer Flucht vorbereitete. Es war eine schreckliche Bedrohung aller Dinge, für die so viele sich so lange abgerackert hatten, ein zerstörerisches Rütteln an den Grundfesten der gerade erst wiedererstarkten Zivilisation. Fander fand Graypate, Speedy und Blacky bis zu den Zähnen bewaffnet, sie standen einer finsteren, unruhigen Menge gegenüber. »Mehr als hundert Leute sind in dieser abgeriegelten Sektion eingeschlossen«, erzählte Graypate den Zuhörern. »Sie sind nicht alle krank. Vielleicht bekommen sie es auch nicht. Wenn sie es nicht bekommen, könntet auch ihr euch als immun herausstellen. Wir müssen abwarten und sehen. Bewahrt inzwischen die Ruhe.« »Hört, wer das sagt«, warf eine skeptische Stimme ein. »Wenn Sie nicht immun wären, hätte es Sie schon vor vierzig Jahren erwischt.« »Das gilt auch für jeden anderen«, bellte Graypate. »Ich bin kein gewandter Volksredner, darum sage ich einfach, daß niemand von hier verschwindet, ehe wir nicht sicher wissen, ob das wirklich die Pest ist oder etwas anderes.« Er brachte eine Waffe unter seinem Arm zum Vorschein und hielt sie gegen die Menge, wobei er den Verschluß schnappen ließ. »Hat jemand Lust, eine Kugel abzubekommen?« Der Zwischenrufer drängte sich durch die Menge nach vorn. Es war ein dunkelhäutiger, muskulöser Mann, seine dunklen Augen blickten streitsüchtig in die Graypates. »Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung. Wenn wir jetzt gehen, bleiben wir am Leben und können zurückkehren, wenn es wieder sicher ist
– wenn es das je wieder werden sollte. Und Sie wissen das. Ich habe Ihren Bluff durchschaut, sehen Sie?« Mit gestrafften Schultern ging er davon. Graypates Finger spannte sich bereits um den Abzug, als er Fanders Tentakel auf seinem Arm spürte. Er stand da, als lauschte er geflüsterten Worten, dann senkte er die Waffe und rief dem Weggehenden etwas zu. »Ich gehe in die abgeriegelte Sektion, und Teufel wird mich begleiten. Wir stellen uns den Ereignissen – und laufen nicht vor ihnen davon. Ich konnte es noch nie leiden, einfach wegzulaufen.« Einige Zuhörer wurden unruhig und murmelten zustimmend. »Wir werden versuchen, herauszufinden, was los ist. Vielleicht sind wir nicht in der Lage, alles wieder einzurenken, aber wir haben dann zumindest unser Bestes versucht.« Der Weggehende blieb stehen, drehte sich um und sagte: »Das könnt ihr nicht machen.« »Warum nicht?« »Ihr werdet euch anstecken. Ihr seid von keinem großen Nutzen, wenn ihr tot und verwest seid.« »Und was ist mit meiner Immunität?« fragte Graypate grinsend. »Teufel wird sich anstecken«, stieß der andere hervor. Graypate wollte gerade hitzig antworten: »Was kümmert Sie das schon?«, aber er zögerte unmerklich unter Fanders Kontaktgedanken. »Kümmert Sie das?« sagte er weicher. Das brachte den Angreifer etwas aus dem Gleichgewicht. Er wurde ein wenig verlegen angesichts seiner Gedanken und vermied es, den Marsianer anzusehen.
»Ich sehe keinen Sinn darin, wenn irgend jemand ein Risiko eingeht«, sagte er schließlich schwach. »Er geht Risiken ein, weil es ihn kümmert«, gab Graypate zurück. »Und ich gehe sie ein, weil ich zu alt und nutzlos bin, um noch von Wert zu sein.« Mit diesen Worten ging er voran und schritt starrköpfig auf die abgeriegelte Station zu. Fander glitt an seine Seite. Derjenige, der vor kurzem noch fliehen wollte, blieb und starrte ihnen nach. Die Menge schnaufte unruhig, sie schienen alle von zwei Wünschen gleichzeitig beseelt: die Situation zu akzeptieren und zu bleiben, und andererseits Graypate und Fander zu ergreifen und an ihrem Vorhaben zu hindern. Speedy und Blacky schickten sich an, den beiden zu folgen, wurden aber zurückgewiesen. Kein Erwachsener erkrankte, niemand starb. Die Kinder in der abgeriegelten Sektion durchliefen nacheinander die verschiedenen Stadien der Krankheit, Fieber und Flecken, bis die Masernepidemie vorüber war. Erst als der letzte Kranke von etwas in seiner eigenen Konstitution geheilt worden war, kamen Fander und Graypate wieder zum Vorschein. Der harmlose Verlauf und das plötzliche Verschwinden dieser vermeintlichen Pest ließen das Pendel des Vertrauens wieder weit in eine Richtung ausschlagen. Die Moral schoß fast bis zur Arroganz hinauf. Mehr Schlitten erschienen, mehr Techniker, die sie warteten, mehr Piloten, die sie flogen. Immer mehr Menschen von weit außerhalb kamen, die immer mehr Seltsamkeiten vergangenen Wissens mit sich brachten. Die Menschheit hatte für ihren Neubeginn einen fliegenden Start mit der verwilderten Saat eines ver-
gangenen Wissens und dem Willen zu überleben. Die Gepeinigten der Erde waren keine Wilden, sondern Überlebende einer Größe, die, obwohl zu neun Zehnteln zerstört, noch immer vorhanden war, jeder steuerte seine technischen Kenntnisse dazu bei, das wiederherzustellen, was einst im atomaren Feuer untergegangen war. Als es Rotschopf endlich gelang, den Premastikator zu kopieren, standen bereits achttausend Steinhäuser um den Hügel verteilt. Eine Gemeinschaftshalle, siebzigmal so groß wie ein Haus, mit einem großen, grünen Kuppeldach aus handgearbeitetem Kupfer, erhob sich an der nördlichen Grenze der Siedlung. Ein Damm staute den See im Norden. Ein Krankenhaus wurde im Westen erbaut. Die Stile, Energien und Talente von fünfzig Rassen hatten das Stadtbild geprägt und prägten es noch immer. Unter den Bewohnern der Stadt gab es zehn Polynesier, vier Isländer und ein mageres, rötliches Kind, der letzte Nachkomme der Semiolen. Farmen begannen sich auszubreiten. Eintausend Kolben indianischen Maises, die man in einem geschützten Tal in den Anden gerettet hatte, waren aufgegangen und zu einem vierzig Hektar großen Maisfeld herangewachsen. Wasserbüffel und Ziegen waren von weit hergebracht worden, die man anstelle von Pferden und Schafen hielt, die man nie mehr auf der Erde sehen würde – niemand wußte, warum eine Spezies überlebt hatte und die andere nicht. Pferde waren ausgestorben, während Wasserbüffel überlebten. Die Hunde waren verwildert und jagten in großen Rudeln, die Katzen waren verschwunden. Einige Arten hatten sich als resistent der harten Strahlung
gegenüber erwiesen, andere wiederum als sehr anfällig, die ersteren hatten überlebt, die letzteren waren ausgestorben. Doch gab es keinen Biologen, der die Gründe hierfür hätte analysieren können. Alle kleineren Früchte, alle Knollengewächse sowie die meisten der getreideliefernden Pflanzen hatten sich in Landstrichen mit geringer Radioaktivität gehalten und weiterentwickelt. Diese wurden gerettet und angebaut für hungrige Mägen – aber es gab keinerlei Blumen für den hungrigen Geist. Die Menschheit lebte weiter, mit allem, was erreichbar war. Nichts weiter konnte getan werden. Fander war hinter den Ereignissen zurückgeblieben, ein Nachzügler. Er hatte nichts mehr, für das er leben konnte, ausgenommen seine Lieder und seine Liebe zu den anderen. In allem, mit Ausnahme seiner Harfe und seiner Melodien, waren die Terrestrier ihm weit voraus. Er konnte nichts mehr tun als seine Liebe geben, wofür sie ihm die ihre gaben, und sein Ende erwarten, mit der ausgeglichenen Geduld von jemandem, dessen Arbeit getan ist. Am Ende dieses Jahres begruben sie Graypate. Er starb im Schlaf, mit der undramatischen Gleichgültigkeit eines Mannes, der niemals im Mittelpunkt stand. Sie begruben ihn in einem Feld hinter der Gemeinschaftshalle, Fander spielte ihm ein Klagelied und Schönes Juwel, Speedys Frau, bepflanzte das Grab mit wohlriechenden Kräutern. Im Frühling des darauffolgenden Jahres versammelte Fander Speedy, Blacky und Rotschopf bei sich. Er lag auf einer Couch, blau und zitternd. Sie hielten sich bei den Händen, so daß er mit allen gleichzeitig reden konnte.
»Ich stehe kurz vor dem Beginn meiner Amafa.« Es bereitete ihm einiges Kopfzerbrechen, das in verständliche Gedankenbilder zu übertragen, da es sich um etwas weit jenseits ihres irdischen Verständnisses handelte. »Das ist ein unabdingbarer altersbedingter Wechsel, bei dem meine Art nicht gestört werden darf.« Sie reagierten, als wäre diese Besonderheit seiner Rasse eine fremdartige und seltsame Enthüllung, ein neuer Aspekt seines Charakters, den man nie zuvor beachtet hatte. »Ich muß alleingelassen werden, bis die Hibernation zu ihrem natürlichen Ende kommt.« »Und wie lange wird das dauern, Teufel?« fragte Speedy ängstlich. »Es kann sich von vier Monaten bis zur Länge eines Jahres hinziehen, oder –« »Oder was?« Speedy wartete nicht auf eine Bestätigung. Sein agiler Verstand war schnell genug, um die ferne Gefahr zu spüren, die in den Gedanken des Marsianers lag. »Oder sie wird niemals enden?« »Auch das kann geschehen«, gab Fander widerwillig zu. Er erschauerte erneut und wickelte seine Tentakel eng um sich. Die Brillanz seines Blaus verblaßte nun zusehends. »Die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber sie besteht.« Speedys Sorge übertrug sich auf die anderen. Sie waren bemüht, ihre Gedanken zu ordnen und sich damit abzufinden, daß Fander nicht etwas Zeitloses war, für alle Zeiten unter ihnen. »Auch wir Marsianer leben nicht ewig«, legte Fander mit besänftigender Gründlichkeit dar. »Jedes Lebewesen ist sterblich, hier auf der Erde wie auch auf dem Mars. Wer überlebt, ist amaja, er hat viele, viele,
viele glückliche Jahre vor sich. Aber einige überleben nicht. Diesem Geschick muß man ins Auge sehen, wie man jedem Ereignis ins Auge sehen muß.« »Aber –« »Unsere Zahl auf dem Mars ist nicht groß«, fuhr Fander fort. »Wir brüten langsam, und viele sterben bereits nach der Hälfte ihrer natürlichen Lebensspanne. Nach kosmischen Maßstäben sind wir ein schwaches Volk, das außerordentlich auf die Hilfe von Klugen und Starken angewiesen ist. Sollte mein Volk euch jemals wieder besuchen, oder sollten einst mächtigere Besucher kommen, so vergeßt nie, auch ihr seid stark und klug.« »Wir sind stark«, echote Speedy verträumt. Sein Blick glitt über die Tausende Dächer, den Kupferdom, das schöne Ding auf dem Hügel. »Wir sind stark.« Ein neuerliches Zittern ließ die großäugige Gestalt erschauern. »Ich möchte nicht hier bleiben, ein müßiger Schläfer in der Mitte seines Lebens, ein schlechtes Beispiel für die Jugend. Ich möchte lieber in der kleinen Höhle ruhen, wo wir unsere Freundschaft begründeten und zu gegenseitigem Verständnis heranwuchsen. Verschließt sie und laßt eine Tür für mich. Verbietet jedem, mich zu berühren oder mich dem Tageslicht auszusetzen, bis zu der Zeit, wo ich aus eigenem Willen wieder auftauche.« Fander erhob sich ungeschickt, seine einst gelenkigen Gliedmaßen bewegten sich eckig. »Ich muß euch bitten, mich zu tragen. Bitte verzeiht mir. Ich habe es ein wenig zu lange hinausgeschoben und kann... kann... kann es nicht mehr allein schaffen.«
Ihre Gesichter glichen Bildern der Angst, ihre Gedanken waren sorgenumwölkt. Die Männer liefen und holten Stangen, aus denen sie eine Bahre fertigten, legten ihn darauf und trugen ihn zur Höhle. Eine lange Prozession folgte ihnen, als sie sie erreicht hatten. Während sie ihn hineintrugen und ihn bequem betteten und anschließend begannen, den Eingang zuzumauern, da beobachtete die Menge sie mit der gleichen feierlichen Stille, mit der sie einst sein Gedicht gelesen hatte. Er hatte sich zu einem kleinen, blauen Ball zusammengerollt, seine Augen waren trübe, als sie ihn seinem Schlummer in der Dunkelheit überließen. Am nächsten Tag kam ein kleiner, braunhäutiger Mann mit acht Kindern vorbei, die ihre Puppen eng an sich drückten. Während die Jüngeren ihn mit aufgerissenen Augen betrachteten, befestigte er einen aus zwei Worten bestehenden Namen an der Tür, es waren große metallene Buchstaben, und er erfüllte seine Aufgabe sehr genau und sorgfältig. Das marsianische Schiff sank mit dem langsamen, stetigen Fall eines Fesselballons zur Erde herab. Hinter dem transparenten Band war die blaue, alptraumähnliche Besatzung versammelt und betrachtete aus großen, facettenreichen Augen die dichte Wolkendecke. Das Bild erinnerte an ein rosa angehauchtes Schneefeld, unter dem der Planet verborgen lag. Captain Rdina betrachtete das als einen erhebenden, erfreulichen Moment, auch wenn sein Raumschiff nicht die Ehre hatte, als erstes eine Landung zu machen. Ein Captain Skhiva, inzwischen längst im Ruhestand, war schon vor vielen Jahren einmal hier-
gewesen. Dessen ungeachtet hatte auch diese zweite Landung ihren eigenen Reiz. Jemand umrundete ein Drittel des Weges um den Korpus des Schiffes und näherte sich mit größter Geschwindigkeit, als ihr Kurs sie näher an die rötlich schimmernden Wolken brachte. Der Signaltentakel des Ankommenden vibrierte mit seltener Heftigkeit. »Captain, wir haben gerade ein künstliches Objekt am Horizont entlangfliegen sehen.« »Wie sah es aus?« »Es erinnerte an einen gigantischen Lastschlitten.« »Das kann nicht sein.« »Nein, Captain, natürlich nicht – aber genauso hat es ausgesehen.« »Wo befindet es sich jetzt?« »Es verschwand im Nebel unter uns.« »Sie müssen sich geirrt haben. Langanhaltende Vorfreude kann die sonderbarsten Trugbilder hervorzaubern.« Beim Beobachtungsband blieb er einen Moment stehen und wurde von einer vorübereilenden Wolke verschleiert. Nachdenklich betrachtete er die Wand aus grauem Nebel, die mit der Abwärtsbewegung des Schiffes nach oben davonglitt. »Der alte Bericht betont ausdrücklich, daß es nichts außer Zerstörung und wilden Tieren gibt. Dort gibt es kein intelligentes Leben, ausgenommen ein unbedeutender Narr von einem Poeten, den Skhiva zurückließ. Ich wette, er ist inzwischen gestorben, zwölf zu eins. Die Tiere haben ihn aufgefressen.« »Aufgefressen? Fleisch?« brach es mit Übelkeit aus dem anderen hervor. »Alles ist möglich«, bekräftigte Rdina, erfreut über die Abgründe, die sein Geist ihm aufzutun in der La-
ge war. »Mit Ausnahme eines Lastschlittens. Das ist einfach lächerlich!« In diesem Augenblick hatte er keine andere Wahl, als das Thema fallenzulassen, aus dem einfachen Grund, weil das Schiff die Wolkendecke durchdrang und der fragliche Schlitten direkt an ihrer Seite schwebte. Jedes Detail war deutlich zu erkennen, und selbst ihre Instrumente sprachen auf die starke Ausstrahlung der Schwebegitter an. Die zwanzig Marsianer an Bord der Kugel starrten aus ihren Bienenaugen auf dieses enorme Ding, das die halbe Größe ihres eigenen Schiffes hatte. Die vierzig Menschen auf dem Schlitten starrten ebenso gebannt zurück. Schiff und Schlitten sanken gemeinsam Seite an Seite der Erdoberfläche entgegen, beide Mannschaften betrachteten sich mit uneingeschränkter Aufmerksamkeit, bis sie gleichzeitig den Boden berührten. Erst als er den Ruck des aufsetzenden Schiffes verspürte, war Captain Rdina in der Lage, seinen Blick wieder anderen Dingen zuzuwenden. Er sah die Ausdehnung der Häuser, die grüne Kuppel, das schöne Ding auf dem Hügel, die vielen hundert Erdenmenschen, die ihre Häuser verließen und dem Raumschiff entgegenströmten. Keines dieser seltsamen, zweibeinigen Lebewesen, bemerkte er, zeigte die geringste Spur von Abneigung oder Furcht. Sie kamen herbeigeeilt, mit einer anmaßenden Selbstsicherheit, die er in jedem anderen Winkel des Kosmos, aber keinesfalls hier vermutet hätte. Es schüttelte ihn ein wenig. Er wiederholte immer und immer wieder für sich: »Sie sind nicht entsetzt –
warum solltest du es sein? Sie sind nicht entsetzt – warum solltest du es sein?« Er unterdrückte seine inneren Gefühle und ignorierte die Tatsache, daß viele von ihnen Waffen trugen, und ging hinaus, um die ersten von ihnen persönlich zu begrüßen. Der Anführer der Erdenmenschen, ein großer, stämmiger, bärtiger Zweibeiner, ergriff seinen Tentakel, als wäre das eine alte Gewohnheit. Dann folgte ein Gedankenbild sich schnell bewegender Gliedmaßen. »Mein Name ist Speedy.« Das Schiff leerte sich innerhalb von Minuten. Kein Marsianer, der in der Lage war, die neue Luft um seine Tentakel wehen zu lassen, wollte drinnen bleiben. Ihr erster Besuch, in ihrer gleitenden Gangart, galt dem schonen Ding. Rdina betrachtete es schweigend, seine Mannschaft stand in einem Halbkreis hinter ihm, das Erdenvolk als stumme Zuschauer noch dahinter. Es war das große, steinerne Abbild einer Erdenfrau. Sie war breitschultrig, mit einem vollen Busen, geschwungenen Hüften, sie trug weit fallende Gewänder, die bis zu den Sohlen ihrer Schuhe herabfielen. Die Pose der Gestalt strömte unsagbare Traurigkeit aus. Ihr Rücken war gebeugt, ihr Kopf nach vorn gesunken und das Gesicht in den Händen verborgen, tief in ihren abgearbeiteten Händen. Rdina bemühte sich vergeblich, die müden Züge hinter den Händen zu sehen, hinter den gefalteten Fingern. Er betrachtete die Statue eine lange Zeit, bevor sein Blick tiefer glitt, um die Inschrift zu lesen. Die irdischen Schriftzeichen beachtete er nicht, seine Augen nahmen hurtig die geschwungenen, marsiani-
schen Schnörkel in sich auf. Um ihn her las auch die Mannschaft das heimische Gedicht. Weine nicht, mein Land, um die entschlafenen Söhne, die deinen, Um die Asche der Heimat, die Türme, die wanken, Weine mein Land, o mein Land, du mußt weinen, Um die Vögel stumm, die Blumen vergeß'ner Gedanken, Um das Ende aller Dinge, Die schweigenden Stunden, Weine, mein Land, weine! Es trug keine Unterschrift. Rdina dachte lange darüber nach, während seine Mannschaft untätig verharrte. Dann wandte er sich an Speedy und deutete auf die marsianische Schrift. »Wer hat das gemacht?« »Ein Angehöriger Ihres Volkes. Er ist tot.« »Ah!« sagte Rdina. »Der Singvogel von Skhiva. Ich habe seinen Namen vergessen. Ich bezweifle, ob jemand sich daran erinnern kann. Er war nur ein kleiner, unbedeutender Poet. Wie ist er gestorben?« »Er befahl uns, ihn für einen langen und dringenden Schlaf einzuschließen, und –« »Das Amafa«, warf Rdina ein. »Und dann?« »Wir taten, was er wollte. Er warnte uns, daß er vielleicht nie mehr herauskommen würde.« Ungeachtet Rdinas, der seine Gedanken lesen konnte, blickte Speedy traurig zum Himmel empor. »Seit beinahe zwei Jahren ist er nun schon dort drinnen und hat sich bisher noch nicht gezeigt.« Der Blick wandte sich wieder herab und verharrte fest auf Rdina. »Ich weiß nicht, ob Sie das völlig verstehen können, aber
er war einer von uns.« »Ich glaube, ich verstehe.« Rdina überlegte eine Weile, schließlich fragte er: »Wie lange ist diese Periode, die Sie zwei Jahre nennen?« Zusammen gelang es ihnen, die Zeitspanne in das marsianische Zeitsystem umzurechnen. »Das ist lange«, meinte Rdina. »Viel länger als das durchschnittliche Amafa. Aber es ist nicht ungewöhnlich. Gelegentlich kommt es vor, aus unerfindlichen Gründen, daß eine Amafa länger dauert. Und außerdem, Erde ist Erde, und Mars ist Mars.« Er rief nach einem Mitglied seiner Mannschaft. »Physiker Traith, wir haben einen Fall von überlanger Amafa. Aber vielleicht sind wir noch nicht zu spät dran. Nehmen Sie Ihre Öle und Essenzen und folgen sie mir.« Als der andere zurückkam, befahl er Speedy: »Zeigen Sie uns, wo er liegt.« Als sie das zugemauerte Tor erreichten, nahm Rdina sich die Zeit, den in sauberen, unverständlichen, irdischen Schriftzeichen geschriebenen Namenszug zu betrachten. Er lautete: LIEBER TEUFEL. »Was bedeutet das?« fragte der Physiker Traith und deutete darauf. »Nicht stören«, riet Rdina achtlos. Er öffnete das Tor, ließ dem anderen den Vortritt und schloß es hinter sich wieder, um jeden weiteren Menschen fernzuhalten. Zwei Stunden später kamen sie wieder heraus. Zu diesem Zeitpunkt war die komplette Stadtbevölkerung vor der Höhle versammelt, um die Marsianer zu sehen, wie er vermutete. Er fragte sich, warum seine Mannschaft diese natürliche Neugier nicht gestillt hatte – er konnte sich nicht vorstellen, daß eine so
große Menge am Schicksal eines unbedeutenden Poeten Anteil nehmen konnte. Dreißigtausend Augen ruhten auf ihnen, als sie herauskamen ins Sonnenlicht und die Tür wieder verschlossen. Rdina stellte Kontakt mit Speedy her und teilte ihm die Neuigkeiten mit. Er streckte sich in dem Licht, als wolle er nach der Sonne greifen, dann sprach Speedy mit lauter, überglücklicher Stimme zu den Menschen. »In etwa zwanzig Tagen wird er wieder herauskommen.« Mit einemmal schien eine harmlosere Form des Wahnsinns die Zweibeiner zu überkommen. Sie verzogen die Gesichter zu Freudengrimassen, gaben seltsame Laute von sich, ja, manche gingen sogar soweit, sich gegenseitig auf die Schultern zu schlagen. In derselben Nacht schienen zwanzig Marsianer gemeinsam mit Fander die Erschöpfung zu teilen. Die marsianische Konstitution ist nicht unempfindlich gegenüber Gefühlen.
Rasch fällt die Dämmerung Es war eine alte Welt, unglaublich alt, mit einem pokkennarbigen Mond und einer sterbenden Sonne und einem Himmel, zu dünn, um eine Sommerwolke zu halten. Es gab Bäume auf der Oberfläche, aber nicht die Bäume aus alten Zeiten, denn sie waren die Resultate äonenlanger, fortschreitender Anpassung. Sie atmeten in weit geringerem Umfang als ihre uralten Vorfahren, und sie sogen hartnäckiger an der betagten Erde. So taten es auch die Kräuter. Und die Blumen. Aber die blütenlosen, wurzelfreien Kinder dieser Sphäre, diejenigen, die in der Lage waren, sich nach eigenem Gutdünken zu bewegen, diese konnten nicht kompensieren, indem sie an einem Platz sitzen blieben und die Erde aussaugten. So langsam, so ungeheuer langsam hatten sie mit diesem einstigen Grundbedarf gebrochen. Sie konnten sehr gut mit dem kleinen Sauerstoffrest auskommen. Oder in Notlagen mit überhaupt nichts, wobei sie dann nichts weiter als ein mildes Unbehagen verspürten, eine vorübergehende Mattigkeit. Alle waren dazu in der Lage, ohne Ausnahme. Die Kinder dieser Welt waren Insekten. Und Vögel. Und Zweibeiner. Falter, Elstern und Menschen, alle waren verwandt. Alle hatten sie die gleiche Mutter: Eine uralte Kugel, die sich um einen schwach glühenden, orangeroten Ball drehte, der eines Tages flackern und erlöschen würde. Die Vorbereitungen für diesen Tag waren
langwierig, anstrengend, etwas unfreiwillig und etwas besonnen gewesen. Das war ihre Zeit: Das Zeitalter der Erfüllung, von allen geteilt, allen gehörend. Insofern war es keinesfalls seltsam, daß Melisande mit einem kleinen Käfer sprach. Er saß aufmerksam auf dem Rücken ihrer bleichen, langfingrigen Hand, ein winziges Geschöpf, schwarz, mit karmesinroten Tupfern, sauber und glänzend, wie nach stundenlangem Polieren. Ein Marienkäferchen. Eine erfreuliche, spielzeugähnliche Erscheinung, der nur eine winzige Kurbel zum Aufziehen zu fehlen schien. Natürlich konnte das Marienkäferchen kein Wort von dem Gesagten verstehen. So intelligent war es nicht. Die Zeit war verronnen und die Atmosphäre so dünn geworden, daß die Flügel des Insekts sich dem angepaßt hatten, sie hatten nun die doppelte Größe wie die von Marienkäferchen aus vergangenen Tagen. Und mit der physischen Veränderung hatte auch eine geistige Veränderung stattgefunden; das stecknadelkopfgroße Gehirn hatte sich ebenfalls gewandelt. Nach den Maßstäben seiner eigenen, bescheidenen Art war es mehrere Sprossen die Leiter des Lebens emporgeklettert. Obwohl es nicht in der Lage war, Meinungen zu unterscheiden, so konnte es doch fühlen, wenn es angesprochen wurde, suchte die menschliche Gesellschaft und erfreute sich an einer menschlichen Stimme. Ebenso wie die anderen. Die Vögel. Die Bienen der letzten Tage. All die furchtsamen Geschöpfe, die sich einst in ein Versteck verkrochen oder Zuflucht in der Dunkelheit gesucht hatten.
Die wenigen, die überlebt hatten – sehr viele Arten hatten das nicht –, waren nicht länger scheu. Ganz gleich aber, ob sie die Laute eines Mundes verstanden, sie liebten es, angesprochen zu werden, ihre Existenz wurde anerkannt. Sie konnten stundenlang zuhören, was sie auch taten, und zogen eine seltsame Freude aus der Vertrautheit der Geräusche. Aber war diese Freude seltsam? Wahrscheinlich nicht, denn es gab Zeiten, in denen diese tonale Freundschaft umgekehrt war und die Menschen fasziniert den eigentümlichen, spezifischen Klängen einer Amsel oder einer Nachtigall, die ihre Seele in den Gesang legten, gelauscht hatten. Es war die gleiche undefinierbare Ekstase. Verstehen Sie? Daher redete Melisande, während sie dahinschritt, und Kleiner Rotrock hörte ihr zu, mit seiner ganzen Insektenfreude, bis sie endlich mit ihrer Hand winkte, lachte und sang: »Marienkäferchen, Marienkäferchen, flieg nach Hause.« Es erhob die farbigen Überflügel, breitete hauchdünne Schwingen aus und flog fort. Melisande blieb stehen und betrachtete die Sterne. In diesen Zeiten konnte man sie mit ungetrübter Brillanz und Klarheit sehen, sowohl bei Tag als auch in der Nacht, ein Phänomen, das ihre luftliebenden Ahnen mit der Furcht erfüllt hätte, daß der Hauch des Lebens bald verwehen würde. Kein derartiges Gefühl erfüllte sie, als sie die Sterne betrachtete. Nur Neugier und Mutmaßung, die von rein persönlichen Gründen herrührten. Für sie waren die fünf Meilen hohe Atmosphäre, die flackernde Sonne und die funkelnden Sterne alltäglich. Oft
blickte sie auf zu den Sternen, sortierte sie aus, identifizierte sie und stellte sich wieder und wieder die gleiche Frage. »Welcher nur?« Und der Himmel antwortete nur: »Ja, welcher?« Sie gab ihre Spekulationen auf und folgte leichtfüßig dem schmalen Waldweg, der hinunter ins Tal führte. Zu ihrer Linken, an der Krümmung des Horizontes, schoß etwas Langes, Schmales, Metallisches vom Himmel herab und verschwand hinter der Erdkrümmung. Wenig später drang ein sehr gedämpftes Donnern an ihre Ohren. Weder der Anblick noch das Geräusch errangen ihre Aufmerksamkeit. Sie waren zu gewöhnlich. Die Schiffe aus dem Weltraum besuchten oft diese alte Welt, manchmal nur eines im Monat, dann wieder zwei an einem Tag. Selten nur glichen sich zwei. Selten erinnerte die Besatzung des einen an die Besatzung des anderen. Sie sprachen keine gemeinsame Sprache, diese Besucher aus dem glitzernden Dunkel. Sie redeten in einer Vielzahl von Zungen. Einige konnten nur durch Gedanken reden, in mächtigen, projizierten Bildern. Einige waren nichtvokal und nichttelepathisch, konnten überhaupt nicht sprechen, diese verständigten sich durch komplizierte Fingerbewegungen, den Vibrationen von Fühlern oder anderen Gesten. Einmal, noch nicht sehr lange her, war sie kurzzeitig amüsiert gewesen über die schieferfarbenen, gepanzerten Bewohner des Schiffes von Khva, einer Welt, undenkbare Distanzen hinter Andromeda gelegen. Sie waren vollkommen blind und taub gewesen, hatten sich mit superschnellen Gliedmaßensignalen
verständigt, die durch sensitive Organe aufgenommen wurden. Sie hatten zur ihr gesprochen ohne Stimme und sie betrachtet ohne Augen. Das alles machte das Lernen unsagbar schwer. Im Alter von siebenhundert Jahren hatte sie gerade ihre letzten Prüfungen abgelegt und den Status einer Erwachsenen erhalten. Vor langer, langer Zeit einmal hatte man das Wissen einer Ära in einem Jahrhundert erlernen können. In weiter zurückliegenden Tagen vielleicht in einem Jahrzehnt. Aber nicht mehr heute. Nicht heute. Nun, in diesen ernsten Zeiten der letzten Jahrhunderte war die Menge des zu erlernenden Wissens einfach zu gewaltig, um ein rasches Aufnehmen zu gewährleisten. Es war eine immense Informationsflut, hervorgebracht von dem mächtigen Kosmos, der aus Welten ohne Zahl bestand. Ein jedes Schiff fügte der Masse weitere Einzelheiten hinzu, und somit war der ganze Berg des Wissens nichts, verglichen mit den titanischen Mengen, die noch dazu kommen würden – wenn diese Welt lange genug lebte, um sie zu erfahren. Wenn! Da lag das Problem. Die Schöpfung wurde erobert und zu Sklaven der Lebensformen gemacht, die sie hervorgebracht hatten. Das Atom und die in ihm verborgenen Kräfte waren Werkzeuge in den Händen oder Pseudohänden von Materieformen, die in der Lage waren, zu denken und sich zu bewegen. Makrokosmos und Mikrokosmos waren gleichermaßen die Spielzeuge derer, deren Schiffe die unermeßlichen Weiten nach fernen Zielen durchstreiften. Aber niemand konnte ein verlöschendes Sonnen-
feuer wieder entfachen. Es konnte nicht in der Theorie durchgeführt werden, weniger noch in der Praxis. Es war unmöglich. So würde auch weiterhin hier und da, in großen Intervallen, eine alte Sonne emporflackern, in sich zusammenstürzen und erneut flackern wie ein kraftloses Ding, in einem letzten Lechzen nach Leben, um schließlich für immer zu sterben. Ein winziges Lichtlein in der Dunkelheit, plötzlich ausgeblasen, von der grenzenlosen Finsternis weder beachtet noch vermißt, die Schwärze, die weiterbesteht. Immer bedeutete ein Erlöschen eine Tragödie, unmittelbar in einem Fall, verspätet in einem anderen. Einige Lebensformen konnten der Kälte länger trotzen als andere, letztlich aber unterlagen sie doch. Durch ihre überlegene Technik konnten einige sich selbst und ihre Welt erwärmen, bis die Rohstoffquellen ihrer Heizung erschöpft waren. Dann wurden auch sie, als hätten sie niemals existiert. Jedes System, dessen Zentrum zu einem enormen Schlackehaufen heruntergebrannt war, wurde zum Reich eines großen, weißen, allesverschlingenden Narren mit Namen Überirdischer Frost. Dieser würde sein trostloses Königreich nur mit den Toten teilen. An all diese Dinge dachte Melisande, als sie das Tal erreichte. Aber diese Gedanken waren nicht morbid, sie enthielten weder Traurigkeit noch Groll. Sie war ein Wesen ihrer Rasse, und das war eine Lebensform, reich an Erfahrung und beachtlichem Scharfsinn. Sie hatte schon tausendfach dem Unausweichlichen gegenübergestanden und die Sinnlosigkeit, diesem mit hocherhobenem Haupt entgegenzutreten, eingesehen.
Sie wußten, wie man einem unbeweglichen Objekt zu begegnen hatte: Entweder man kletterte darüber hinweg, oder grub sich darunter hindurch, oder umging es seitlich. Man gebraucht sein Gehirn, weil es zum Gebrauch da ist. Unausweichlichkeit muß nicht gefürchtet werden. Was man nicht ertragen kann, dem muß man ausweichen, mit Geschick und Erfindungsgabe. Ein großer, marmorner Palast erhob sich am Ende des Tales. Zu einer Seite hin wurde er von strauchbegrenzten, blumenübersäten Terrassen begrenzt, mit Rasenflächen und sprudelnden Springbrunnen. Die nähergelegene Fassade bildete die Rückwand, sie überblickte nichts anderes als das Tal. Melisande näherte sich ihm immer von der rückwärtigen Wand, denn der Pfad durch den Wald war eine Abkürzung zu ihrem Zuhause. Sie stieg die Stufen empor und fühlte eine plötzliche Freude beim Betreten des gewaltigen Bauwerks. Weiträumige Korridore, die Böden geschmückt mit kostbaren Mosaiken, die Wände bedeckt mit farbenfrohen Wandgemälden, führten sie zum Ostflügel, von wo sie ein gedämpftes Murmeln von Stimmen vernahm, aber auch den durchdringenden Ton einer Rufposaune. Mit vor Vorfreude glänzenden Augen betrat sie eine riesige Halle, deren Sitze sich in halbkreisförmigen Terrassen zu einer beachtlichen Höhe erhoben. Sie war erbaut, um eine viertausendköpfige Menge aufzunehmen. Nun aber waren nicht mehr als zweihundert Menschen anwesend – jede Person hätte gut zwanzig Stühle belegen können. Der Ort erweckte ei-
nen kahlen Eindruck. Die Stimmen der wenigen Besucher hallten dumpf durch den weiten Torso, wurden von den geschwungenen Wänden zurückgeworfen und von der Kuppel des Daches reflektiert. So war es auf der ganzen Welt: Räumlichkeiten für Tausende, bewohnt von Dutzenden. Städte mit Kleinstadtbevölkerungen, Kleinstädte, nur mehr von einer Dorfbevölkerung bewohnt, und Dörfer, die oft nur aus wenigen Familien bestanden. Ganze Häuserreihen, von denen ein halbes Dutzend bewohnt wurden und die anderen verlassen, stumm und kaltäugig vor sich hinstarrten, dem Himmel entgegen. Es gab nur noch etwa eine Million Menschen auf dieser Welt. Vor langer Zeit einmal hatte die Zahl viertausend Millionen betragen. Die verschwundenen Menschen waren längst zu fernen Sternen gereist, nicht wie Ratten, die ein sinkendes Schiff verlassen, sondern kühn und zuversichtlich, wie jemand, dessen Schicksal sich emporgereckt hat, bis es zu groß wurde für die engen Grenzen eines einzelnen Planeten. Den wenigen Zurückgebliebenen blieb es, zu folgen, wenn sie dazu bereit waren. Und aus diesem Grund hatten die zweihundert sich hier versammelt, warteten in der Halle, unruhig schwatzend; ein klein wenig nervös lauschten sie dem Klang der Rufposaune. »Acht-zwo-acht Hubert«, erklang es plötzlich. »Zimmer sechs.« Ein blonder Riese erhob sich von seinem Sitz und stapfte den Gang hinunter, verfolgt von zweihundert Augenpaaren. Die Stimmen flüsterten nur noch leise. Er ging vorüber an Melisande, die lächelte und murmelnd zu ihm sprach.
»Viel Glück.« »Danke.« Dann war er durch das ferne Tor verschwunden. Die Gespräche wurden wieder aufgenommen. Melisande setzte sich an das Ende einer Sitzreihe, in die Nähe eines mageren, dunkelhäutigen Jungen von vielleicht siebeneinhalb Jahrhunderten, nur wenig älter als sie selbst. »Ich habe mich etwas verspätet«, flüsterte sie. »Haben sie schon viele aufgerufen?« »Nein«, versicherte er. »Dieser letzte Name war der vierte.« Er streckte seine Beine von sich, zog sie an, streckte sie wieder aus, untersuchte seine Fingernägel, wälzte sich in seinem Sitz umher und zeigte ein vages Unbehagen. »Ich wollte, sie würden sich etwas mehr beeilen. Die Spannung ist –« »Neun-neun-eins Jose-Pietro«, verkündete die Trompete. »Zimmer zwanzig.« Er nahm es mit offenem Mund und verblüfften Augen zur Kenntnis. Linkisch und langsam kam er auf seine Beine. Er leckte über seine dünnen Lippen, die plötzlich trocken waren, und warf Melisande einen flehenden Blick zu. »Das bin ich!« »Man muß Sie gehört haben.« Sie lachte. »Nun, wollen Sie nicht gehen?« »Doch, natürlich.« Er ging an ihr vorüber und betrachtete die Tür, hinter der Hubert verschwunden war. »Aber wenn es soweit ist, dann werden mir bestimmt die Knie weich.« Sie machte eine nachlässige Geste. »Niemand will Ihnen den Kopf abreißen. Sie werden einfach ein Dokument überreichen; vielleicht ist es sogar eines mit
einem goldenen Siegel.« Mit einem Blick stiller Dankbarkeit beschleunigte er seinen Schritt, etwas mehr Selbstvertrauen straffte seine Gestalt. »Sieben-sieben Jocely – Zimmer zwölf.« Und unverzüglich danach: »Zwo-vier-null Bestibelle – Zimmer neunzehn.« Zwei Mädchen gingen hinaus, die eine dunkel und plump, sie lächelte, die andere groß, schlank, rothaarig und ernst. In rascher Reihenfolge wurden nun weitere Namen aufgerufen: Lurton, Irene, George, Teresa-Maria, Robert und Elena. Dann nach einer kurzen Pause, die Aufforderung, auf die sie wartete. »Vier-vier Melisande – Zimmer zwo.« Der Mann im Zimmer zwei hatte hellgraue Augen, schneeweißes Haar und glatte Züge, frei von Altersfurchen. Er hätte im mittleren Alter sein können – oder aber alt, unglaublich alt. Es war sehr schwer, das tatsächliche Alter einer Person festzustellen, die über tausend Jahre lang ein faltenloses Gesicht und weißes Haar haben konnte. Er wartete, bis sie sich gesetzt hatte, dann sagte er: »Nun, Melisande, ich bin glücklich, Ihnen sagen zu können, daß Sie es geschafft haben.« »Vielen Dank, mein Lehrmeister.« »Ich war mir dessen sicher. Ich habe das immer als eine gegebene Tatsache angesehen.« Er lächelte ihr über den Tisch hinweg zu und fuhr fort: »Und nun möchten Sie von mir wissen, wo Ihre Schwächen und Stärken liegen. Das sind die essentiellen Details, nicht wahr?«
»Ja, mein Lehrmeister.« Sie sagte es zögernd, mit leiser Stimme, ihre Hände sittsam im Schoß gefaltet. »Ihre Allgemeinbildung ist exzellent«, informierte er sie. »Darauf können Sie stolz sein – dieses immense Wissensgebäude, das man mit dem unpassenden Ausdruck Allgemeinwissen bezeichnet, zu beherrschen. Ihre Leistungen sind auch in Soziologie zufriedenstellend, ebenso in Massenpsychologie und Klassischer und Moderner Philosophie sowie Transkosmischer Ethik.« Er lehnte sich nach vorn und sah sie an. »Aber Sie sind sehr schwach in Allgemeiner Kommunikation.« »Das tut mir leid, mein Lehrmeister.« Sie biß sich auf die Unterlippe, unzufrieden mit sich selbst. »Sie sind nichttelepathisch und scheinen auch eine nur schwach ausgebildete rudimentäre Empfänglichkeit zu besitzen. Wenn es zu einer visuellen Verständigung kommt, wird es etwas besser, aber eben nicht gut genug. Ihre Kommunikationsrate ist unsicher, Ihre Fehler zahllos, Sie scheinen durch eine Art taktile Unsicherheit behindert zu sein.« »Ich bedaure das, mein Lehrmeister.« Sie sah auf den Boden, ihr Gesicht zeigte Anzeichen von Scham. »Da gibt es nichts zu bedauern«, wies er sie scharf zurecht. »Man kann nicht in allen Fächern glänzen, so sehr man das auch möchte.« Er wartete, bis ihr Blick sich wieder hob, dann erst sprach er weiter. »Um bei den vokalen Kommunikationsformen zu bleiben, Sie sind nur mittelmäßig in den gutturalen Sprachen.« Eine Pause, dann: »Aber superb in den flüssigen solchen.« »Aha!« Ihre Züge erhellten sich.
»Ihre mündlichen und schriftlichen Tests in den flüssigen Sprachen wurden in den Sprachschablonen der Valreaner des Sirius abgenommen. Ihre Fehlerzahl war exakt null. Ihre Vokalrate lag bei dreihundertzwanzig Worten pro Minute. Der Vergleichswert der Valreaner selbst liegt bei dreihundertundvierzehn Worten. Das heißt, Sie sprechen deren Sprache ein klein wenig besser als sie selbst.« Er lächelte stolz über die Tatsache, daß einer seiner Schüler in der Lage war, die Begründer einer linguistischen Methode selbst zu übertreffen. »Und nun, Melisande, ist die Zeit gekommen, um ernsthafte Entscheidungen zu treffen.« »Ich bin bereit, mein Lehrmeister.« Ihr Blick war direkt, ehrlich und beharrlich. »Zuerst muß ich Ihnen dies übergeben.« Er überreichte ihr eine dünne Schriftrolle, die gehalten wurde von einem roten Band, das mit einem goldenen Siegel endete. »Ich gratuliere Ihnen.« »Vielen Dank.« Sie nahm es, hielt es, berührte es, als wäre es etwas unschätzbar Wertvolles. »Melisande«, fragte er sanft. »Wünschen Sie sich Kinder?« Sie antwortete rasch, ruhig, ohne Anzeichen von Verlegenheit. »Noch nicht, mein Lehrmeister.« »Dann betrachten Sie sich als frei, um hinauszugehen?« Sein Blick winkte zum Fenster, hinter dem Milliarden Lichter blinkten und glimmerten. »Ja.« Sein Gesicht wurde feierlich. »Aber Sie wollen nicht jeglichen Gedanken an Kinder von sich weisen? Sie wollen sich nicht so weit herablassen und Ihre eigene Gestalt und Rasse vergessen?«
»Ich glaube nicht«, versprach sie. »Ich bin sehr glücklich darüber, Melisande. Wir sind weit verstreut in kleinen Gruppen über eine Unzahl von Orten, weit entfernt. Es besteht keinerlei Grund, unsere Zahl im Kosmos zu verstärken, wirklich kein Grund. Aber wir sollten diese Zahl auch nicht reduzieren. Wir sollten sie konstant halten. Nur auf diese Weise erlangen wir als Gattung die Unsterblichkeit.« »Ja, ich weiß. Ich habe oft darüber nachgedacht.« Sie betrachtete ihre Schriftrolle, ohne sie wirklich zu sehen. »Ich werde meine unbedeutende Rolle spielen, wenn die Zeit dazu gekommen ist.« »Sie haben noch eine Menge Zeit. Sie sind sehr jung.« Er seufzte, als wünsche er, das auch von sich selbst sagen zu können. Er ging quer durch das Zimmer zu einer Maschine, die an der Wand stand, öffnete eine Klappe an ihrer Seite und entnahm ein Bündel Karten. »Wir wollen die Anmeldungen durchsehen und die geeignetsten heraussuchen.« Eine nach der anderen gab er die Karten in die Maschine. Es handelte sich bei ihnen lediglich um Rechtecke aus dünnem, weißem Plastik, jede trug eine Nummer am oberen Ende, alle anderen Informationen waren in einem Code aus rechteckiger und runder Perforation. Nachdem der größte Teil eingegeben worden war, öffnete er eine Klappe und legte eine kleine Tastatur frei. Er tippte das Wort »Nichtvokal« und drückte einen Schalter. Die Maschine klickte und wirbelte und spie in rascher Reihenfolge wieder Karten aus. Als der Prozeß beendet war, sah er in den Ausgabeschlitz. »Vierundachtzig sind übrig.«
Erneut glitten seine Finger über die Tastatur, diesmal tippte er »Guttural«. Die Maschine antwortete durch Auswerfen weiterer Karten. »Ultraschall.« Weitere Karten. »Stakkato«. Nur wenige Karten erschienen. »Pfeiftöne.« Kein Resultat. »Einundzwanzig.« Er sah seine Schülerin an. »Alle sind nun flüssig gesprochen, aber ich glaube, es wäre gut, wenn wir die langsamen Sprachen ausklammern, meinen Sie nicht auch?« Er registrierte ihr Nicken und tippte in die Tastatur: »300-max.« Einige Karten wurden ausgeworfen. Die verbliebenen nahm er und hielt sie behutsam, wobei er die Sterne durch die Fenster beschaute. »Noch elf sind übrig, Melisande. Sie haben elf Welten zur Auswahl.« Er gab die erste Karte in einen anderen Teil der Maschine, regulierte einige Anzeigen und drückte einen Knopf. Der Apparat gab ein leises Brummen von sich, während er sich aufwärmte, dann sprach eine Stimme aus einem verborgenen Lautsprecher. Sie sagte: »Antragnummer 109, 747, Valrea, eine Union bestehend aus vier Planeten, gelegen –« Abrupt brach sie ab, als er angesichts einer abwehrenden Handbewegung Melisandes einen anderen Knopf drückte. »Sie sind nicht interessiert?« »Nein, mein Lehrmeister. Vielleicht sollte ich es sein, denn ich spreche ihre Sprache gut, und das würde eine Menge Schwierigkeiten ersparen. Aber sie haben bereits einige von uns, nicht wahr?« »Ja. Sie ersuchten um vierhundert. Wir sandten ihnen sechsunddreißig und sehr viel später weitere zwanzig.« Er betrachtete sie mit väterlicher Sorge.
»Sie hätten Gesellschaft dort, Melisande. Sie könnten mit anderen Menschen zusammenkommen, wenn es auch nur wenige sind.« »Das mag sein«, gab sie zu. »Aber ist es gerecht, daß ein Volk wie die Valreaner, die bereits bekommen haben, was sie wollten, noch mehr bekommen, während andere, die nichts haben, auch weiterhin leer ausgehen?« »Nein, das ist nicht gerecht.« Er gab eine neue Karte ein. »Antragnummer 118, 451«, sagte die Maschine. »Brank. Ein einzelner Planet im Pferdekopfnebel, Sektion A 71, Untersektion D 19. Masse 1.2. Zivilisationstyp F. Die dominierende Lebensform ist zweibeinig und besitzt eine Wirbelsäule, wie im Bild zu sehen ist.« Ein Bildschirm über der Maschine erwachte zu buntem Leben, er zeigte eine Gruppe magerer, grünhäutiger Geschöpfe mit langen, spindeldürren Armen und Beinen, siebenfingrigen Händen, haarlosen Schädeln und riesigen, gelben Augen. In den folgenden zwei Minuten gab die Maschine eine Flut von Daten von sich, die Brank und seine abgemagerten Einwohner betrafen. Danach wurde sie still. »Vor dreißig Jahren baten sie um einhundert von uns«, sagte er zu Melisande. »Wir sandten ihnen zehn. Nun hat man ihnen weitere sechs zugesprochen, unter denen auch Sie sein können, wenn Sie sich das wünschen.« Er sah, daß sie nicht begeistert war, und gab eine weitere Karte ein. »Antrag 120, 776. Nildeen, ein Planet mit einem gro-
ßen Satelliten, dicht besiedelt, gelegen im Mahlstrom, Sektion L 7, Untersektion CC 3.« So ging es weiter und weiter. Die angesprochene Lebensform erschien auf dem Bildschirm, mit Tentakeln versehene augenlose Lebewesen mit ESPOrganen, die von ihren Köpfen abstanden wie die Fühler eines Insekts. Die Nildeens hatten vierzig von Melisandes Art und wollten noch mehr. Sie lehnte ab. Die elfte und letzte Karte erregte ihr größtes Interesse, sie beugte sich nach vorn mit gespitzten Ohren und wachsamen Augen. »Antrag 141, 048. Zelam, ein einzelner Planet, gelegen am Rand der bekannten Regionen, Referenznummer und Koordinaten noch nicht übermittelt. Erstkontakt. Masse 1. Zivilisationstyp J. Die dominierende Lebensform ist reptilienähnlich, wie das Bild zeigt.« Sie erinnerten schwach an aufrechtgehende Alligatoren, doch das wußte Melisande nicht. Alle echsenähnlichen Bewohner ihrer Welt waren schon vor einer Million Jahre ausgestorben. Es gab keine heimischen Lebensformen, mit denen sie diese schuppenhäutigen, langkiefrigen Zelamiten hätte vergleichen können. Nach den Normen der ältesten Vergangenheit waren sie ausgesprochen häßlich; nach den Maßstäben ihrer besonderen Welt und ihres besonderen Zeitalters waren sie es nicht. Sie waren vielmehr ein weiterer individueller Aspekt des einen universellen Dinges mit Namen Intelligenz. Sicherlich, die variierenden Formen können auch variieren in der Sorgfalt, mit der sie diese schwer definierbare, aber kosmosweite Eigenschaft reflektieren, aber auf lange Sicht gesehen handelte es sich auch
nur um eine zeitlich abhängige Variation. Manche hatten eben einfach mehr Jahrhunderte nachzuholen als andere. Einige waren schon früh auf der Bühne des Alls erschienen, das war ihr Vorteil. Andere waren spät erst aufgetaucht, das war ihr Unglück. Die Situation entsprach der von unterschiedlich behinderten Läufern auf ein und derselben Rennstrecke, weitverstreut, einige voraus, andere weit hinterher, aber alle mit demselben Ziel vor Augen. Die Zelamiten waren unter den Nachzüglern. »Zu ihnen werde ich gehen«, verkündete sie ihren unabänderlichen Entschluß. Er warf die elf Karten über seinen Schreibtisch und maß sie mit einem ärgerlichen Blick. »Sie baten um sechzig. Jeder bittet um viel zu viele, besonders die Neulinge. Wir haben momentan keine Reserven für sie. Aber wir möchten keinen zurückweisen.« »So?« »Es wurde vorgeschlagen, ihnen einen zu schicken, nur einen, als Anfang. Nur um unseren guten Willen zu demonstrieren, nicht mehr.« »Ich bin eine Person«, wies sie darauf hin. »Ja, ja, ich weiß es.« Er sprach mit dem resignierten Ton eines Mannes, der eingekeilt ist ohne Möglichkeit des Entkommens. »Wir würden ein männliches Wesen vorziehen.« »Warum?« »Lieber Himmel!« Es verschlug ihm nahezu die Sprache. »Es gibt keinen besonderen Grund, wir würden es einfach vorziehen.« »Sicherlich, mein Lehrmeister, wäre es ein Rückschritt, und unserer nicht wert, grundlos auf eine ge-
troffene Entscheidung zu beharren?« »Nicht wenn daraus kein Unheil erwächst«, gab er zurück. »Darin liegt der wahre Kern – ob es Unheil oder Gutes bringt.« »Bringt es den Zelamiten Gutes, ihnen den geeigneten Partner zu verweigern?« »Wir verweigern ihnen nichts, Melisande. Aber es gibt noch andere, außer Ihnen. Vielleicht hat noch jemand anderes Zelam ausgewählt. Nur einer kann gehen. Andere mögen später folgen.« »Bitte finden Sie es für mich heraus«, bat sie. Etwas unwillig legte er einen Schalter an seinem Pult um und sprach in das danebenliegende silberne Instrument. »Wie viele haben sich für Zelam entschieden, Nummer 141, 048?« Es dauerte lange Zeit ehe die Antwort kam: »Niemand.« Er schaltete ab, lehnte sich zurück und betrachtete sie nachdenklich. »Sie werden einsam sein.« »Alle Erstankömmlinge sind einsam.« »Es könnten unvorstellbare Gefahren auf Sie zukommen.« »Die werden die gleichen bleiben, ob sie sich gegen eine Einzelperson richten, oder von hundert Leuten geteilt werden«, gab sie unbeeindruckt zurück. Er suchte verzweifelt nach einem letzten Grund, um sie zu verängstigen, schließlich sagte er: »Die Zelamiten sind Nachtlebewesen. Sie werden von Ihnen verlangen, nachts zu arbeiten und am Tag zu schlafen.« »Diejenigen von uns, die auf Brank sind, haben das auch getan, jahrelang, wie viele andere auch. Mein
Lehrmeister, sollte es für mich härter sein als für sie?« »Nein, das sollte es nicht.« Er kam zu ihr herüber. »Ich sehe, daß Ihr Entschluß feststeht. Wenn es Ihr Wunsch ist, so ist es nicht an mir, ihn Ihnen abzuschlagen.« Wie es die traditionelle Geste der Verabschiedung verlangte, ergriff er ihre Hand, zog sie empor und hauchte einen Kuß auf ihre Fingerspitzen. »Viel Glück, Melisande. Ich schätze mich glücklich, Sie als Schüler gehabt zu haben.« »Vielen Dank, mein Lehrmeister.« Ihre Urkunde eng an die Brust gepreßt, blieb sie unter der Tür stehen und schenkte ihm mit glücklichen Augen ein letztes Lächeln. »Und ich bin sehr stolz, Sie gehabt zu haben.« Noch lange nachdem sie gegangen war, starrte er abwesend auf die Tür. Sie kamen und sie gingen, einer nach dem anderen. Jeder kam an als ein vollkommen Fremder und ging wie eines seiner eigenen Kinder, jeder nahm etwas von der substantiellen Essenz seines Lehrmeisters mit sich. Und jeder von ihnen, der für immer in den unermeßlichen Weiten fremder Sterne verschwand, machte seine sterbende Welt ein wenig ärmer, kahler, lebloser. Es ist nicht leicht, in einer lange geliebten Sphäre zu verbleiben, die sich ihrem Ende nähert, zuzusehen, wie die Flamme langsam erlischt, die Schatten zu sehen, die wachsen und wachsen. Selbst mit den ungeheuren Möglichkeiten dieser Zeit war die Reise nach Zelam lang und ermüdend, sie erstreckte sich über Tage und Wochen zu vielen Monaten. Häufiges Umsteigen war nötig, zuerst von einem gigantischen Hyperraumroutenschiff in ein klei-
neres Raumboot, das eine Nebenstrecke befuhr, dann in eine hellblaue Kugel, die den stummen Xanthianern gehörte, weiter in ein arg verschrammtes altes Raumschiff, dessen Besatzung eine bunt zusammengewürfelte Meute war, darunter auch zwei Zweibeiner von Melisandes eigener Rasse. Schließlich in ein seltsames, keilförmiges Schiff, getrieben von geheimnisvollen Antriebskräften, welches die geschmeidigen, schillernden Haldisier zum Handel innerhalb einer kleinen Gruppe von Systemen benutzten, dem auch der Zelam genannte Planet angehörte. Hinter dieser Grenze befand sich nur Schwärze, in der Ferne unterbrochen von einem brillanten Nebelstreifen, der eventuell von größeren und besseren Schiffen hätte erreicht werden können. Eine weitere Insel im Universum. Ein weiterer mächtiger Hort lebender Wesen und Lebensformen, von denen die höchstentwickelten ein Ding gemeinsam teilten – und sich dadurch qualifizierten, es wieder zu empfangen. Aber die Länge der Reise hatte auch ihre Vorteile gehabt. Mit Hilfe eines phonetischen Wörterbuchs sowie eines rudimentären, auf Zelam programmierten Phonographen und aufgrund ihrer eigenen Begabung war es ihr möglich, die zelamische Sprache recht gut zu sprechen, als der Planet in Sicht kam. Da sie weder über Leitern, Rampen noch sonstige Einrichtungen verfügten, entledigten die Haldisier sich ihrer, indem sie sie einfach zur Luftschleuse hinauswarfen. Eine Kraft, hervorgerufen durch sie selbst oder einen unsichtbaren Apparat im Innern des Schiffes, fing ihren Sturz ab und brachte sie wohlbehalten zum zwölf Meter tiefer liegenden Boden. Ihr Gepäck folgte auf gleiche Weise, ebenso zwei Mannschafts-
mitglieder. Zwei weitere kamen heraus, doch schwebten sie nach oben zur flachen Oberseite des Schiffes, wo sie die Frachtluken öffneten. Eine kleine zelamische Deputation erwartete sie, die Nachricht von ihrer Ankunft hatte man schon vor einigen Tagen übermittelt. Sie waren größer, als sie sich das vorgestellt hatte, da das Bild des Sichtschirms ihr das relative Größenverhältnis nicht hatte angeben können. Der Kleinste von ihnen überragte sie immer noch um Kopf- und Schulterhöhe, sie hatten schmale Kiefer von der Länge ihres Armes, die mit scharfen Zähnen besetzt waren, sie erweckten den Eindruck, als könnten sie Melisande mittendurch zerteilen, mit nur einem Biß. Der größte und älteste der Gruppe, ein stämmig gebautes, warziges Wesen, kam ihr entgegen, um sie zu begrüßen, während die anderen hastig nach ihrem Gepäck griffen. »Ihr seid die, die man Melisande nennt?« »Das bin ich«, stimmte sie zu. Darauf antwortete er mit einem grimmigen Zähnefletschen. Sie mißverstand diese Grimasse in keinster Weise. Ihre Art hatte schon vor vielen Jahrhunderten gelernt, daß Wesen mit andersartigen Gesichtskonturen und Knochenstrukturen zwangsläufig andere Ausdrucksformen haben mußten. Sie wußte, diese erschreckende Geste war nichts anderes als ein freundliches Lächeln. Der Klang seiner Stimme bewies das, als er fortfuhr: »Wir sind sehr erfreut, Sie bekommen zu haben.« Seine orangeroten Augen mit den schlitzartigen Pupillen studierten sie kurz, bevor er mit mildem Vorwurf sagte: »Wir hatten um hundert gebeten und
gehofft, zehn oder zwanzig zu bekommen.« »Zu gegebener Zeit werden weitere kommen.« »Das ist auch unsere Hoffnung.« Er warf dem Schiff, dessen Ladung gerade gelöscht wurde, einen signifikanten Blick zu. »Die Haldisier haben zwanzig. Wir sind ihrer Angebereien darüber müde. Wir glauben, daß wir mindestens ebensoviel wert sind.« »Sie starteten mit zwei von uns«, erklärte sie ihm. »Die anderen kamen später wie es auch hier der Fall sein wird. Wir haben keine andere Wahl, als die Bewerbungen strikt der Reihe nach zu bearbeiten.« »Nun gut –« Er spreizte die Finger einer Hand im zelamischen Äquivalent eines Schulterzuckens, führte sie zu einem sechsrädrigen Fahrzeug, das in der Nähe parkte, verstaute eigenhändig ihre Koffer und nahm dann an ihrer Seite Platz. »Ich muß Ihnen ein Kompliment wegen Ihrer flüssigen Redeweise machen. Das ist beachtlich.« »Vielen Dank.« Während sie mit höchster Geschwindigkeit stadteinwärts fuhren, konzentrierte sie sich auf die Landschaft, das blaue Moos und die gelben Blumen. Sein Körper strömte einen feinen stechenden Geruch aus, den ihre Nase wahrnahm, ihr Verstand aber ignorierte. Auch dies war eine uralte Lektion; andere Lebensformen erzeugen andere körperliche Reaktionen. Wie langweilig wäre doch das Universum, wären alle seine Bewohner gleich. Sie hielten vor einem langen, flachen, aus Steinen gemauerten Gebäude mit steil geneigten Dächern und Plastikfenstern. Der Ort wirkte sehr imposant, hauptsächlich durch die Länge der Fassade. Diese er-
streckte sich über nahezu eine halbe Meile, ein blauer Moosteppich war ihr vorgelagert, der zu beiden Seiten von einem umzäunten Hof begrenzt wurde. »Dies ist Ihre Lehranstalt.« Er deutete auf das nähere Ende. »Und dort ist Ihre Wohnung.« Er suchte in ihrem Gesicht nach Spuren einer Gefühlsäußerung, wonach er erklärend hinzufügte: »Natürlich können wir nicht mehr erwarten, als eine Person tun kann. Wir werden Unterkünfte für zehn weitere Menschen bauen, mit Raum zur weiteren Ausdehnung, sollten wir glücklich genug sein, weitere von Ihnen zu bekommen.« »Ich verstehe.« Sie stieg aus und sah zu, wie ihr Gepäck ins Innere gebracht wurde. Ungeachtet der Jahrhunderte des Trainings, der freien Wahl ihres Zieles und den Monaten der Vorbereitung während des Fluges war doch eine gewisse Zeit der Anpassung vonnöten. »Und dies ist Ihre Wohnung«, hatte er gesagt. Es würde bestimmt eine Woche, wenn nicht gar einen Monat dauern, bis sie sich hier heimisch fühlen konnte. Wahrscheinlich sogar noch länger, denn die häusliche Routine stand Kopf, solange sie tagsüber schlief und nachts arbeitete. »Bevor Sie eintreten«, schlug er vor, »wie wäre es mit etwas zu essen?« »Gütiger Himmel, nein.« Sie ließ ein glockenhelles Lachen ertönen. »Die Haldisier bestanden auf einem Abschiedsdinner. Sie fanden kein Ende. Ich glaube, ich bin so voll, daß ich in den nächsten Tagen kein Essen mehr sehen kann.« »Umpf!« Die Grimasse seines Reptiliengesichts zeigte deutlich, daß er es vorgezogen hätte, wenn sie
der haldisischen Einladung nicht so ausführlich zugesprochen hätte. »In diesem Fall ist alles, was ich Ihnen anbieten kann, eine Ruhepause zur Entspannung. Glauben Sie, daß Sie in der Lage sind, morgen abend mit Ihrer Arbeit zu beginnen?« »Aber sicher.« »Wir können Ihnen auch eine längere Pause geben...« »Bis morgen abend ist ausreichend«, versicherte sie. »Gut – ich werde das Nathame mitteilen. Er ist unser höchster Kulturbeamter und von Einfluß in Regierungskreisen. Er wird Sie zu sich bitten, kurz bevor Sie beginnen.« Mit einem weiteren spitzzahnigen Lächeln aus aufgerissenen Kiefern verabschiedete er sich von ihr. Sie sah ihm nach und wandte sich schließlich um, um ihre Eingangstür zu betrachten, die die Gepäckträger einladend offen gelassen hatten. Es handelte sich um einen simplen vertikalen Schließmechanismus, der durch eine seitlich angebrachte Klinke bewegt werden konnte, von der Innenseite konnte man nur durch einen kleinen Bolzen absperren. Dahinter lag der Korridor, solide, schmucklos; man mußte darin gehen, er schien nicht für einen automatischen Transport geeignet. Die Beleuchtung mußte man per Knopfdruck einschalten, da sie eine veränderliche Beleuchtungsregelung nicht zu kennen schienen. Aber es war nichtsdestotrotz ihr Heim. Sie ging hinein. Nathame kam zur Dämmerung des nächsten Tages. Ein kaltäugiges, wachsames Exemplar des zelamiti-
schen Lebens, seine Schultern waren geschmückt mit silbernen Insignien, er gab sich autoritär und selbstsicher. Eine Weile schwatzte er belanglos über dies und jenes, sein kühler Blick wich keine Sekunde von ihrem Gesicht, schließlich nörgelte er, wenn eine Person die Anzahl wäre, die man einer Welt zur Verfügung stellt, die um hundert bittet, dann wäre es besser, von Anfang an um zehntausend zu bitten, um die Zahl zu bekommen, die man wirklich will. Er verstummte einen Moment, gefangen von seinen eigenen Gedanken, schließlich sagte er: »Bevor wir mit anderen Völkern zusammentrafen, hatten wir keine Geschichte, außer unserer eigenen. Nun müssen wir die Lehren der gesamten Galaxis lernen. Diese sind ein Bündel, dessen Bewältigung sehr wohl eine ganze Lebensspanne betragen kann. Dessen ungeachtet habe ich mich näher damit befaßt und dabei eines gelernt: daß Ihre eigene Lebensform außerordentlich klug ist.« »Glauben Sie?« Sie betrachtete ihn neugierig. »Ich glaube das nicht. Ich weiß es.« Er führte das näher aus. »Die Geschichte erzählt von sechzig bis siebzig Rassen, die von der Bühne des Universums verschwunden sind. Einige bekriegten sich und zerstörten gegenseitig die Welten. Andere wurden die Opfer kosmischer Kollisionen, die weder vorhersehbar, noch zu verhindern waren. Sie verschwanden – Puff! – einfach so! Die große Mehrheit aber starb aus, als ihre Sonnen starben, die Wärme ihrer Welten verschwand, um einer immerwährenden Kälte zu weichen.« Seine orangefarbenen Augäpfel betrachteten sie noch immer unbeweglich. »Das beweist eines: Eine ganze Rasse kann ausgelöscht werden und ver-
schwinden, als hätte es sie niemals gegeben.« »Nicht unbedingt«, widersprach sie, »denn –« »Aha!« Er hob eine Hand, um sie zu unterbrechen. »Wahrhaftig, Ihre Art wird diese Wahrscheinlichkeit Lügen strafen. Wer oder was kann eine Rasse ausrotten, die über eine Milliarde Welten verstreut ist? Nichts! Niemand!« »Ich glaube nicht, daß jemand wünscht, das zu versuchen.« »Nicht wenn er nicht vollkommen verrückt wäre«, stimmte er ihr zu. »Ihr habt euch selbst unangreifbar gemacht. Ihr habt euch für die Ewigkeit vorbereitet. Ich nenne das Klugheit, im höchsten Grad.« Er schnitt eine Grimasse. »Und wie habt ihr das gemacht?« »Wie stellen Sie es sich vor?« entgegnete sie. »Durch Verwendung eurer großen Erfahrung und des immensen Wertes eures Wissens, um den Großmut untergeordneter Rassen auszubeuten.« »Ich sehe es nicht in diesem Licht.« Ohne auf sie zu achten, fuhr er gezielter fort. »Ihr Volk ahnte die Katastrophe voraus. Sie sahen voraus, daß im Fall eines Kollapses Ihrer Sonne kein anderer Planet oder kein anderes System einen nach Milliarden zählenden Flüchtlingsstrom würde aufnehmen können oder wollen. Aber niemand stört sich an wenigen Dutzenden oder Hunderten, besonders wenn diese zum Prestige ihrer Gastgeber beitragen. Nun kommt das Meisterstück: Ihr überredet sie, nach Selbstachtung zu jagen, wie Kinder, die von Geschenken geblendet sind. Ihr überzeugt sie, euch zu wollen.« »Aber sicherlich –« Er brachte sie erneut zum Schweigen, klatschte auf
seltsam gekünstelte Weise in die Hände, tippelte geziert durch den Raum und sprach dann zu ihr, hochnäsig und langgezogen, wobei er einen Charakter imitierte, der ihr fremd war. »Wirklich, Thasalmie, es würde uns nicht im Traum einfallen, unsere Kinder zur staatlichen Schule zu schicken. Wir brachten sie zur zentralen Lehranstalt nach Hei. Fürchterlich teuer, natürlich. Sie haben terranische Lehrer dort, und es macht einen gewaltigen Unterschied im späteren Leben, wenn man sagen kann, man wäre von Terranern unterrichtet worden.« Er entspannte sich wieder zu einer normalen Pose und sagte: »Sehen Sie? Seit das erste haldisische Schiff uns entdeckte, hatten wir Besuche von etwa zwanzig Lebensformen. Jede einzelne nahm eine begünstigende Haltung ein. Wie? Sie haben keine Terraner? Gute Güte, ihr müßt rückständig sein! Ha! – wir haben zwanzig auf unserer Welt – oder vierzig, oder fünfzig, wie auch immer die Zahlen sein mögen.« Seine Nasenlöcher blähten sich, als er laut schnob. »Sie protzten und prahlten und gaben sich so überlegen, daß jeder auf dieser Welt einen Minderwertigkeitskomplex bekam und unverzüglich der Ruf nach Terranern laut wurde.« »Prahlerei und Protzerei werden nicht auf Terra gelehrt«, informierte sie ihn. »Wir kennen so etwas nicht.« »Vielleicht nicht, aber das ist der Effekt unter denen, die nicht von Terranern ausgebildet wurden. Sie wirken blaß unter dem Glanz der anderen. So sage ich erneut, daß ihr außerordentlich klug seid, und das aus drei Gründen. Erstens: Ihr macht euch die Tatsache zunutze, daß Lebewesen, je intelligenter sie sind,
desto weniger für dumm gehalten werden wollen. Zweitens: Auf diese Weise habt ihr euer Überleben für alle Zeiten gesichert. Drittens: Durch das Konstanthalten eurer Anzahl, ohne diese augenscheinlich zu erhöhen, behaltet ihr gleichzeitig das Vertrauen eurer Gastgeber. Niemand beobachtet ängstlich eine fremde Kolonie, die niemals wächst.« Sie lächelte ihn an. »Anscheinend haben Sie mich nur eingeladen, um zu sagen: ›Seht, wen ihr vor euch habt!‹, nicht wahr?« »Ja, aber Sie sind zu diplomatisch.« Er rückte näher und sprach mit mehr Ernst weiter. »Wir baten um hundert von Ihrer Art. Hätten wir sie bekommen, wir hätten noch mehr verlangt. Und danach noch mehr. Nicht wegen des Prestiges, sondern aus anderen und wichtigeren Gründen.« »Zum Beispiel?« »Wir sehen weit voraus. Die Haldisier, die das besser als wir wissen müssen, sagen, eure Welt besitze eine Sonne mit einer sehr kurzen Lebensdauer. Das bedeutet ein Ende mit dem Ende eurer Welt. Wir müssen den gleichen Weg betrachten, da wir keinen anderen wissen. Den Pfad, den Ihre Rasse ging, den kann unsere Rasse ebenso betreten. Die Nachfrage nach Terranern ist größer als das Angebot – und es gibt nicht mehr viele von euch, oder nicht?« »Nicht sehr viele«, gab sie zu. »Vielleicht eine Million. Die alte Welt hat nicht mehr viel Zeit.« »Eines Tages werden wir das auch sagen müssen. Es wäre schön, wenn zu dieser Zeit die Zelamiten ein akzeptabler Ersatz für die Terraner geworden wären.« Er machte eine herrische Geste. »Hier also liegt Ihre Aufgabe, sofern sie von einer einzelnen erfüllt
werden kann. Mit unseren jüngsten Kindern angefangen, müssen Sie uns klüger machen, um Ihren Segen zu teilen.« »Wir werden unser Bestes tun«, versprach sie, bewußt im Plural sprechend. Es entging ihm nicht. Sein Gesicht zeigte Genugtuung. Er grüßte sie und verabschiedete sich. Sie ordnete ihre Gedanken, richtete sie unverzüglich auf die vor ihr liegende Aufgabe und eilte den Hauptkorridor entlang, bis sie eine Tür erreichte, hinter der ein schrilles Stimmengewirr erklang. Stille fiel wie ein schwerer Vorhang, als sie eintrat. Sie nahm ihren Platz beim Pult ein und betrachtete die hundertköpfige Schar der langschnauzigen, schlitzäugigen Gesichter, die sie ihrerseits mit jugendlicher Offenheit musterten. »Wir werden uns heute mit den Grundlagen der transkosmischen Ethik beschäftigen«, informierte sie. Sie wandte sich um und sah das schwarze Rechteck, das kein Gegenstücke auf Terra hatte, nahm den weißen Stift, der darunter lag, und begann mit klarer, sicherer Hand zu schreiben. »Lektion eins: Intelligenz ist wie Zucker. Sie äußert sich in einer unendlichen Vielfalt von Formen, Größen und Farben, von denen keine weniger beachtenswert ist als eine andere.« Sie warf einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, daß sie ihre Aufmerksamkeit errungen hatte, und sah sie den Satz mitschreiben, die gelben Augen gespannt aufgerissen. Einer hatte die Zunge draußen, ihre rosa Spitze folgte sorgfältig jeder Bewegung des Schreibstiftes. Unwillkürlich fiel ihr Blick durch das transparente
Dach hinaus auf den galaktischen Hort, der sanft herabblickte. Irgendwo in diesem glitzernden Schwarm war ein kleines rotes Licht, schwach und gedämpft. Ganz in der Nähe befand sich ein weiterer Punkt, silber und blau, er schien bis zum letzten Atemzug. Der Urquell. Der leitende Stern. Die alte Mutter Erde.
Ich bin Niemand David Korman krächzte: »Senden Sie ihnen ein Ultimatum.« »Ja, Sir, aber –« »Aber was?« »Das könnte einen Krieg bedeuten.« »Na und?« »Nichts, Sir.« Der andere suchte nach einem Ausweg. »Ich dachte lediglich –« »Sie werden nicht bezahlt, um zu denken«, sagte Korman ätzend. »Sie werden nur bezahlt, um Befehlen zu gehorchen.« »Aber natürlich, Sir. Selbstverständlich.« Er sammelte die Papiere zusammen und buckelte sich hurtig hinaus. »Ich hätte das Ultimatum an Lani schon längst erklären sollen.« »In der Tat!« Korman starrte über seinen reich verzierten Schreibtisch hinweg, als die Tür sich schloß. Dann stieß er ein angewidertes »Bäh!« hervor. Ein Speichellecker. Er war umgeben von Speichelleckern, Feiglingen und Schwächlingen. Auf allen Seiten waren diese Rückgratlosen bereit, nach seiner Pfeife zu tanzen und sich bei ihm einzuschmeicheln. Sie bedachten ihn mit falschem Lächeln, waren flugs mit geheuchelter Zustimmung zu Stelle, wenn er auch nur ein Wort sprach, und begegneten ihm mit ausgewähltem Respekt, der ihre innere Angst verbergen sollte. Natürlich gab es für all das einen Grund. Er, David Korman, war stark. Er war stark nach den unzähligen Gesichtspunkten, die Stärke bedeuteten. Mit seinem
massigen Körper, den gewaltigen Kiefern, den buschigen Brauen und den kalten, grauen Augen sah er dem, was er war, genau gleich: ein Geschöpf von maßloser Stärke, geistig und physisch. Es war gut, daß er so war. Es ist ein Naturgesetz, daß die Schwachen den Starken weichen müssen. Ein durchaus vernünftiges Gesetz. Denn die Welt von Morcine brauchte einen starken Mann. Morcine war nur eine Welt in einem Kosmos voller potentieller Konkurrenten, die alle von einer nebligen, längstvergessenen Welt nahe einer verlorenen Sonne namens Sol stammten. Morcines selbstgesetzte Pflicht war es, auf Kosten der Schwachen stärker zu werden. Einem Naturgesetz folgend. Sein schwerer Daumen fand einen Knopf auf seinem Schreibtisch; er drückte ihn und sprach in das silberne Mikrofon. »Senden Sie mir unverzüglich den Flottencommander Rogers.« Es klopfte an der Tür, und er bellte: »Herein!« Dann, als Rogers den Schreibtisch erreicht hatte, sagte er: »Wir haben das Ultimatum ausgesprochen.« »Wirklich, Sir? Glauben Sie, sie werden es akzeptieren?« »Es spielt keine Rolle, ob sie das tun oder nicht«, erklärte Korman. »In beiden Fällen werden wir unsere eigenen Wege gehen.« Der Blick, der den anderen maß, veränderte sich. »Ist die Flotte in Bereitschaft, wie es befohlen wurde?« »Das ist sie, Sir.« »Sehr gut. Das sind meine Befehle: Die Flotte wird die Ankunft des Kuriers auf Lani überwachen und somit auch die Überreichung unserer Note. Wir werden ihnen vierundzwanzig Stunden Zeit geben für
eine befriedigende Anwort.« »Und wenn keine erfolgt?« »Wird die Flotte eine Minute später mit voller Stärke zuschlagen. Ihre vordringliche Aufgabe wird es sein, einen Brückenkopf auf dem Planeten zu bilden und diesen zu halten. Haben Sie das erreicht, dann kann Verstärkung nachkommen und die territoriale Eroberung des Planeten fortsetzen.« »Ich verstehe, Sir.« Rogers schickte sich an, zu gehen. »Gibt es noch mehr?« »Ja«, sagte Korman. »Ich habe eine weitere Order. Wenn die Basis bezugsfertig ist, muß das Schiff meines Sohnes das erste sein, das landet.« Rogers blinzelte und protestierte nervös. »Aber, Sir, als junger Leutnant befehligt er einen kleinen Aufklärer, der nur mit zwanzig Mann besetzt ist. Sicherlich sollte doch eines unserer mächtigsten Kriegsschiffe –« »Mein Sohn landet zuerst!« Korman stand auf und beugte sich nach vorn über seinen Schreibtisch. Seine Augen waren eiskalt. »Das Wissen, daß Reed Korman, mein einziges Kind, in vorderster Front kämpft, wird eine exzellente psychologische Wirkung auf die hiesigen Massen haben. Daher dieser Befehl.« »Und wenn ihm etwas zustößt?« murmelte Rogers. »Was, wenn er verwundet wird, oder gar getötet?« »Das«, legte Korman dar, »wird den Effekt noch verstärken.« »Zu Befehl, Sir.« Rogers schluckte und eilte hinaus, sein Gesicht war totenbleich. War somit die Verantwortung für Reed Kormans Sicherheit auf seine Schultern gelegt? Oder war der Charakter hinter dem Tisch aufrichtig in seinem gün-
stigen und schrecklichen Fatalismus? Er wußte es nicht. Er wußte nur, daß man Korman nicht mit gewöhnlichen Maßstäben messen durfte. Mit ausdruckslosen Gesichtern stand die Polizeieskorte präzise zur Seite, während Korman aus dem großen, offiziellen Auto ausstieg. Er betrachtete sie mit dem üblichen strengen Blick, der Chauffeur wartete, seine Hand hielt die Tür offen. Dann betrat Korman die Stufen zu seinem Heim, er hörte das Schließen der Autotür auf der sechsten Stufe. Unveränderlich war es immer die sechste Stufe, niemals die fünfte oder die siebte. Im Inneren wartete das Mädchen immer an derselben Stelle des Teppichs, ihre Hände warteten auf den Hut, die Handschuhe und den Mantel. Sie war steif und förmlich und sah ihn niemals direkt an. Nicht ein einziges Mal in vierzehn Jahren waren sich ihre Augen begegnet. Mit einem verächtlichen Räuspern ließ er sie zurück, betrat das Eßzimmer, nahm seinen Platz ein und betrachtete seine Frau über die lange Bahn weißen Stoffs, die mit Silber und Kristall übersät war. Sie war groß, blond und blauäugig und war einst außerordentlich schön gewesen. Mit Freude hatte er an die gertenschlanke Gestalt gedacht, die sich in seinen Armen gewunden hatte wie eine Schlange. Inzwischen waren ihre sanften Kurven eckig geworden. Ihre ergebenen Augen umgaben Linien, die ganz sicher keine Lachfältchen waren. »Ich hatte genug von Lani«, erklärte er. »Wir werden ein Exempel statuieren. Das Ultimatum wurde bereits übergeben.«
»Ja, David.« Er hatte erwartet, daß sie das sagen würde. Er hätte es an ihrer Stelle sagen können. Es war ihre Art, so zu sprechen, war es immer gewesen, würde es immer sein. Vor vielen Jahren hatte er mit sanftmütiger Höflichkeit gesagt: »Mary, ich möchte dich heiraten.« »Ja, David.« Sie hatte es nicht gewollt – nicht in dem Sinn, wie er es gewollt hatte. Ihre Familie hatte sie zu dieser Verbindung gedrängt, und sie tat, wie ihr geheißen wurde. So war das Leben: Befehlende und Ausführende. Mary gehörte letzterer Klasse an. Dieser Umstand hatte der Romanze die Würze genommen. Die Eroberung war zu einfach. Korman bestand auf Eroberungen, aber auf großen. Keinen kleinen. Später, als die geeignete Zeit gekommen war, hatte er gesagt: »Mary, ich möchte einen Sohn.« Sie hatte es präzise arrangiert, wie befohlen. Keine Schnitzer. Sie hatte ihm keine fette und unverschämte Tochter präsentiert, was einer unglücklichen Geburtsrebellion gleichgekommen wäre. Ein Sohn von acht Pfund, später Reed genannt. Er hatte den Namen ausgesucht. Ein etwas finsterer Ausdruck lag über seinen Zügen, als er sagte: »Mit ziemlicher Sicherheit bedeutet das einen Krieg.« »Tut es das, David?« Sie sagte es ohne Vibrato oder Emotion. Gleichgültig, ihre bleichen, ovalen Züge ausdruckslos, ihre Augen ergeben. Hin und wieder fragte er sich, ob sie ihn haßte, mit einem feurigen, unlöschbaren Haß, so verzehrend, daß er zurückgehalten werden mußte, koste es, was es wolle. Er konnte sich dessen nie sicher sein.
Eines allerdings war sicher: Sie fürchtete ihn, wie sie es vom ersten Augenblick an getan hatte. Jeder fürchtete ihn. Jeder, ohne Ausnahme. Diejenigen, die ihn beim ersten Zusammentreffen nicht fürchteten, lernten es sehr bald. Er sorgte auf die eine oder andere Weise dafür. Es war gut, gefürchtet zu sein. Es war ein ausgezeichneter Ersatz für andere Gefühle, die man nie gekannt hat. Als Kind hatte er seinen Vater gefürchtet, lange und heftig, ebenso seine Mutter. Nun war er an der Reihe. Auch das war ein Naturgesetz, gerecht und logisch. Was man von einer Generation lernt, sollte auch auf die nachfolgende übertragen werden. Was verleugnet wird, sollte ebenfalls verleugnet werden. Gerechtigkeit. »Reeds Aufklärer ist der Flotte für die weiteren Aktionen zugeteilt.« »Ich weiß, David.« Seine Augenbrauen hoben sich. »Woher weißt du das?« »Vor einigen Stunden habe ich einen Brief von ihm bekommen.« Sie reichte ihn hinüber. Langsam entfaltete er das störrische Stück Papier. Er wußte, welches die ersten beiden Worte sein würden. Als er ihn geöffnet hatte, sah er, daß er ihn verkehrt herum hielt; er drehte ihn um und las. »Liebe Mutter.« Das war ihre Rache. »Mary, ich möchte einen Sohn.« Also hatte sie ihm einen geschenkt – und dann wieder weggenommen.
Es kamen immer wieder Briefe, manchmal zwei in einer Woche, manchmal nur einer in zwei Monaten, je nachdem, wie gerade Schiffe unterwegs waren. Immer waren sie an beide adressiert, immer bekundeten sie formell Zuneigung für beide und die formelle Hoffnung, beide mögen gesund sein. Aber immer begannen sie mit »Liebe Mutter«. Niemals mit »Lieber Vater«. Rache! Die Stunde Null kam und verrann. Morcine war in einem Fieber der Vorfreude und der Vorbereitung. Niemand wußte, was im fernen Weltall geschah, nicht einmal Korman. Die ungeheure Zeitspanne resultierte aus der gewaltigen Entfernung. Die Signale, die von der Flotte abgestrahlt wurden, benötigten viele Stunden, bis sie ankamen. Das erste Wort traf ein und wanderte unverzüglich zum Schreibtisch des wartenden Korman. Es besagte, daß die Lanianer mit einem Protest geantwortet hatten und mit einem Appell an die Vernunft. In Übereinstimmung mit seinen Instruktionen hatte der Flottencommander dies als unzulänglich zurückgewiesen. Der Kampf hatte begonnen. »Sie plädieren für Vernunft«, grummelte er. »Das bedeutet, sie erhoffen sich ein sanftes Vorgehen unsererseits. Aber das Leben ist nicht für die Sanften.« Er warf dem Überbringer der Nachricht einen Blick zu. »Oder doch?« »Nein, Sir«, stimmte der Bote eifrig zu. »Sagen Sie Bathurst, er soll das Band erneut abspielen.« »Jawohl, Sir.«
Als der andere gegangen war, schaltete er sein Mikroradio ein und wartete. Nach zehn Minuten hörte er sie, diese langatmige, rollende und großsprecherische Stimme, die er bereits vor über einem Monat aufgenommen hatte. Sie kannte nur zwei Themen: Rechtschaffenheit und Stärke, besonders Stärke. Die vorgeblichen Gründe für den Krieg wurden in aller Ausführlichkeit dargelegt, grimmig, doch ohne Zorn. Dieser Mangel an Empörung war ein rhetorischer Trick, denn er wies auf die vollkommene Unausweichlichkeit der gegenwärtigen Situation hin und auch darauf, daß die Mächtigen zu viel rechtfertigendes Selbstvertrauen haben, um nachzugeben. Als er die Gründe hörte, wurde er ärgerlich. Allein der Starke weiß, daß es nur eine Ursache für einen Krieg gibt. All die anderen unzähligen Gründe, die in den Geschichtsbüchern aufgezeichnet sind, sind keine wirklichen Gründe. Sie sind nichts anderes als plausible Ausreden. Es existiert nur eine Wurzel aller Ursachen für Kriege, die weit zurück in den fernen Tagen des Dschungels liegt. Wenn zwei Affen dieselbe Banane wollen, dann bedeutet das Krieg. Natürlich unterließ es das Band für die Rundfunkanstalten, so schonungslos und enthüllend auf diesen Umstand hinzuweisen. Weichlinge benötigten ein Breichen. Rotes Fleisch ist den Starken vorbehalten. Daher trugen die großen Antennen des Weltrundfunknetzes diesem Umstand Rechnung und befriedigten den Willen der Bevölkerung nach verschleiernder Diät. Nachdem die Rundfunksendung mit einer herzerweichenden Nachricht über Morcines unschlagbare Macht zu Ende gegangen war, lehnte er sich in sei-
nem Stuhl zurück und dachte über die Dinge nach. Es war keine Frage, Lani bis zur Kapitulation zu bombardieren und zwar aus den obersten Schichten der Atmosphäre. Alle Städte dort befanden sich unter bombensicheren halbkugelförmigen Kraftfeldern. Doch selbst wenn sie völlig schutzlos gewesen wären, hätte er ihre Zerstörung nicht befohlen. Es ist ein nichtiger Sieg, ein paar Krater voller Schutt zu erobern. Er hatte genug nichtige Siege gehabt. Instinktiv wanderten seine Augen zum Bücherschrank, wo die Fotografie stand, die er nur selten ansah, und wenn, dann meist nur unbewußt. Schon seit Jahren war sie da, wie ein unterbewußt betrachtetes Gebrauchsgut, wie das Tintenfaß oder der runde Heizkörper, nur nicht so nützlich wie diese beiden. Sie war ihrem Bild heute nicht mehr ähnlich. Nun, da er gerade daran dachte, eigentlich war sie ihm nie ähnlich gewesen, auch damals nicht. Sie hatte ihm Gehorsam und Furcht entgegengebracht, noch ehe er die Notwendigkeit dazu gelernt hatte, anstelle von anderen Notwendigkeiten. Zu dieser Zeit hatte er etwas anderes gewollt, das er nicht bekommen hatte. Soweit er sich zurückerinnern konnte, bis in seine frühesten Jahre, hatte er es nie bekommen, von niemandem, niemals, niemals, niemals. Er zwang seine Gedanken, sich wieder auf Lani zu konzentrieren. Die Lage dieses Ortes und die Art seiner Verteidigung schränkten die Möglichkeiten einer Eroberung ein. Ein Brückenkopf mußte gewonnen werden, den man unaufhörlich mit Truppen, Waffen und benötigter Ausrüstung versorgen mußte. Von dort aus mußten die Truppen von Morcine operieren
und Stück um Stück alle ungeschützten Territorien übernehmen, bis die letzten bewehrten Städte in völliger Isolation allein dastanden. Dann wären die Städte gezwungen, bis zum Hungertod unter ihren Schilden zu sitzen. Die Gewinnung feindlichen Territoriums war das eigentliche Ziel. Das bedeutete, trotz raumtüchtiger Schiffe, Energieschirmen und all den anderen Errungenschaften modernster Technik hing der Endsieg noch immer vom gewöhnlichen Infanteristen ab. Maschinen können stürmen und zerstören. Nur Menschen können einnehmen und halten. Deshalb würde das kein harmloser Fünfminutenkrieg werden. Er würde sich über einige Monate hinziehen, vielleicht sogar ein Jahr, mit Landschlachten nach alter Tradition, wenn strategische Punkte angegriffen und verteidigt wurden. Ein Bombenangriff würde sich auf solche strategischen Punkte beschränken, Straßenkreuzungen, Truppenansammlungen, Räume zur Neuformierung und ungeschützte Dörfer, die Widerstand leisteten. Das würde einige Zerstörungen geben, einige Opfer. Aber es war besser auf diese Weise. Eine wirkliche Eroberung führt auch über wirkliche Hindernisse, nicht über eingebildete. In der Stunde des Triumphes würde Morcine gefürchtet sein. Korman würde gefürchtet sein. Und die Gefürchteten werden respektiert, und das ist nicht mehr als recht. Wenn man nichts anderes haben kann. Am Ende des Monats kamen Bildberichte in Farbe und mit Ton. Die erste Vorführung fand vor einem kleinen Publikum in Kormans privater Wohnung
statt, anwesend waren neben ihm und seiner Frau eine Regierungsdelegation, Offiziere und einige andere hohe Tiere. Von der lanianischen Luftwaffe ungehindert, die von Anfang an schwach und mittlerweile völlig ausgelöscht war, ergossen sich die langen, schwarzen Schiffe von Morcine in die sich ständig vergrößernde Basis und luden unaufhörlich immense Quantitäten Nachschub aus. Truppen stürmten vorwärts gegen eine harte, aber nur vereinzelt auftretende Opposition. Die Kamera schwenkte über eine enorme Brücke, deren Tragebalken fantastisch verdreht waren und durchzogen von großen Löchern. Sie führte die Zuschauer durch sieben bekämpfte Ortschaften, die der Feind entweder verteidigt hatte oder vorgehabt hatte zu verteidigen. Es folgten Aufnahmen von kraterübersäten Straßen, den Skeletten von Häusern, einem niedergebrannten Stall und einem aufgeblähten Pferd, das in einem Feld lag. Und dann die Aufnahme der Eroberung eines Farmhauses. Eine Patrouille, plötzlich beschossen, duckte sich und funkte zurück. Ein Monster auf lauten Ketten beantwortete ihren Ruf, rumpelte bis auf vierhundert Meter an das Haus heran, sein Turmgeschütz feuerte laut und verschwenderisch. Eine große Menge einer Flüssigkeit ergoß sich über das Dach des Farmhauses und explodierte dort dröhnend, Flammen schlugen hoch. Einzelne Gestalten kamen aus dem Haus gerannt und suchten Schutz in einem nahegelegenen Dickicht. Ratternde Geräusche drangen aus dem Lautsprecher. Die Gestalten fielen hin, überschlugen sich, streckten sich aus und lagen still.
Der Streifen endete, und Korman sagte: »Ich gebe ihn für die Öffentlichkeit frei.« Er erhob sich aus seinem Stuhl, sah sich finster um und fügte hinzu: »Eines muß ich kritisieren. Mein Sohn hat den Befehl über eine Infanteriekompanie übernommen. Er erledigt seine Aufgabe wie jeder andere Mann auch. Warum wurde er nicht gezeigt?« »Wir wollten ihn nicht ohne Ihre Zustimmung filmen, Sir«, entgegnete jemand. »Ich wünsche das nicht nur – ich befehle es. Stellen Sie sicher, daß er das nächste Mal gezeigt wird. Nicht herausragend. Nur hintergründig, daß die Leute sehen, er ist da und nimmt alle Härten und Risiken auf sich.« »Sehr wohl, Sir.« Sie standen auf und entfernten sich. Er schlenderte unruhig auf dem dicken Teppich vor dem Fernsehgerät herum. »Es wird ihnen guttun zu wissen, daß Reed unter den Truppen ist«, begann er. »Ja, David.« Sie hatte sich ein Strickzeug geholt, die Nadeln machten unaufhörlich Klick-Klick. »Er ist mein Sohn.« »Ja, David.« Er stoppte sein Auf- und Abgehen und kaute verärgert auf seiner Unterlippe. »Kannst du nichts anders sagen als das?« Sie hob ihre Augen. »Wünschst du, daß ich das tue?« »Ob ich das wünsche!« echote er. Seine Fäuste waren geballt, als er sein Gehen wieder aufnahm und sie sich wieder ihrem Strickzeug zuwandte. Was wußte sie schon von Wünschen? Was wußte überhaupt jemand?
Am Ende des vierten Monats betrugen die territorialen Eroberungen eintausend Quadratmeilen, während Männer und Waffen noch immer abgeliefert wurden. Sie kamen langsamer voran als erwartet. Es hatte kleinere Reibereien in unerwartet großer Zahl gegeben, einige jener unvorhersehbaren Schwierigkeiten, die sich unweigerlich bei längeren Kampfhandlungen ergeben, der Widerstand war stark gewesen, wo man ihn am wenigsten erwartet hatte. Nichtsdestotrotz, sie kamen voran. Wenn auch etwas verspätet, das Unausweichliche blieb unausweichlich. Korman kam heim, er hörte auf der sechsten Stufe, wie die Autotür sich schloß. Alles war wie immer, ausgenommen des Teils der Bevölkerung, der darauf bestand, ihn hochleben zu lassen, bis er im Inneren verschwand. Das Mädchen wartete, um ihm seine Sachen abzunehmen. Er stapfte mit schweren Schritten in das Zimmer. »Reed ist zum Captain befördert worden.« Sie antwortete nicht. Er stand aufgerichtet vor ihr, als er fragte: »Nun, interessiert dich das nicht?« »Aber natürlich, David.« Sie legte ihr Buch zur Seite und faltete ihre langen, dünnen Finger, wonach sie zum Fenster hinaussah. »Was ist los mit dir?« »Was los ist?« Die blonden Augenbrauen bogen sich aufwärts, als ihre Augen hochblickten. »Nichts ist los mit mir. Warum fragst du?« »Ich kann reden.« Sein Ton verschärfte sich etwas. »Und ich kann vermuten. Dir gefällt es nicht, daß Reed dort draußen ist. Du verübelst es mir, ihn dir weggenommen zu haben. Du denkst von ihm als dei-
nem Sohn, nicht als meinem. Du –« »Du bist wahrscheinlich müde, David. Und besorgt.« Sie sah ihn ruhig an. »Ich bin nicht müde«, verneinte er mit unnötiger Lautstärke. »Und auch nicht besorgt. Die Schwachen sind besorgt.« »Die Schwachen haben Gründe.« »Ich nicht.« »Dann bist du wahrscheinlich nur hungrig.« Sie setzte sich an den Tisch. »Komm und iß etwas. Danach wirst du dich besser fühlen.« Unzufrieden und verstimmt brachte er das Abendessen hinter sich. Mary hielt etwas vor ihm zurück, er wußte das mit der Erfahrung, die das halbe Leben an ihrer Seite hinterlassen hatte. Aber er mußte es nicht durch selbstherrliche Methoden aus ihr herauspressen. Wenn er das Essen beendet hatte, und nur dann, würde sie ihr Geheimnis schon freiwillig preisgeben. Die Art und Weise, wie sie das tat, forcierte den drohenden Krach nur noch. »Es ist ein weiterer Brief von Reed gekommen.« »Ja?« Das Essen hatte ihn beschwichtigt, doch das wollte er nicht zugeben. »Ich weiß, daß er glücklich ist, gesund und unversehrt. Wenn etwas schiefgeht, bin ich der erste, der davon erfährt.« »Möchtest du nicht wissen, was er zu sagen hat?« Sie nahm den Brief aus einem kleinen Nußbaumsekretär und gab ihn ihm. Er betrachtete ihn, ohne danach zu greifen. »Oh, ich denke, es ist der übliche Schnickschnack über den Krieg.« »Ich glaube, du solltest ihn lesen«, beharrte sie. »Glaubst du?« Er nahm ihn ihr aus der Hand und
betrachtete sie neugierig, ohne ihn zu öffnen. »Warum sollte ausgerechnet dieses Schreiben meine Aufmerksamkeit erringen. Unterscheidet es sich so sehr von den anderen? Ich weiß, ohne darauf zu sehen, daß er für dich ist. Nicht für mich. Für dich! Noch niemals in seinem Leben hat Reed einen Brief speziell an mich geschrieben.« »Er schreibt uns beiden.« »Warum kann er dann nicht mit ›Lieber Vater und liebe Mutter‹ beginnen?« »Wahrscheinlich ist es ihm noch nie eingefallen, daß dich das ärgern könnte. Außerdem ist es schwerfällig.« »Unsinn!« »Nun, du liest ihn besser, anstatt über ihn zu streiten, ohne den Inhalt zu kennen. Früher oder später mußt du es erfahren.« Die letzte Bemerkung gab den Ausschlag. Er öffnete ihn und grunzte, als er die Eröffnungsworte sah, dann las er sich durch zehn Abschnitte, die den Kriegszustand auf einem anderen Planeten beschrieben. Die Sorte Zeug, die jeder Soldat nach Hause schickt. Nichts Besonderes daran. Er drehte ihn um und las den kurzen Schluß. Sein Gesicht wurde straff und dunkler in der Färbung. Erzähle Dir besser, daß ich zum willigen Sklaven eines lanianischen Mädchens geworden bin. Ich fand sie in den wenigen Überresten des Dorfes Bluelake, das von unserer schweren Artillerie heftig beschossen worden war. Sie war ganz allein und, soweit ich das beurteilen kann, der einzige Überlebende. Mutter, sie hat nieman-
den mehr. Ich sende sie auf dem Hospitalschiff Istar nach Hause. Der Captain scheute sich zwar, wagte jedoch nicht, einem Korman etwas abzuschlagen. Bitte erwarte sie und kümmere Dich um sie, bis ich wieder zurück bin. Er warf das Papier heftig auf den Tisch und fluchte ausgiebig und inbrünstig; er endete mit den Worten: »Der junge Narr.« Mary blieb stumm und betrachtete ihn mit zusammengepreßten Händen. »Die Augen einer ganzen Welt blicken auf ihn«, ereiferte er sich. »Als eine öffentliche Figur, als Sohn seines Vaters sollte er ein Beispiel abgeben. Und was tut er?« Sie blieb stumm. »Er wird zum leichten Opfer eines berechnenden kleinen Weibsbildes, das sich schnell genug seine Freundschaft erschleicht. Eine feindliche Frau!« »Sie muß sehr hübsch sein«, sagte Mary. »Es gibt keine hübschen Lanianer«, stieß er in einer Lautstärke hervor, die einem Schrei sehr nahe kam. »Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?« »Nein, David, natürlich nicht.« »Warum gibst du dann so dumme Äußerungen von dir? Ein Idiot in der Familie ist genug!« Mit der geballten Faust der rechten Hand schlug er mehrmals in die Handfläche der linken. »Gerade zu einer Zeit, wo die anti-lanianische Stimmung ihren Höhepunkt erreicht hat, kann ich mir gut vorstellen, welchen Einfluß es auf die öffentliche Meinung hat, wenn bekannt wird, daß wir eine feindliche Ausländerin beherbergen, ein angemaltes und gepudertes Flittchen verhätscheln, das ihre Klauen in Reed geschlagen
hat? Ich kann mir schon vorstellen, wie sie stolz umherspaziert, eine der Eroberten, die davongekommen ist, weil sie sich einen Schwachkopf geangelt hat. Reed muß den Verstand verloren haben.« »Reed ist dreiundzwanzig«, gab sie zu bedenken. »Na und? Nimmst du an, das sei ein spezielles Alter, in dem jeder Mann das Recht hat, einen Narren aus sich zu machen?« »David, das habe ich nicht gesagt.« »Du wolltest es ausdrücken.« Weitere Faustschläge in seine Handfläche. »Reed hat einen unerwarteten Schwächeanfall gezeigt. Das kommt nicht von meiner Seite.« »Nein, David, das tut es nicht.« Er starrte sie an, um zu ergründen, was unausgesprochen hinter dieser Äußerung lag. Es entzog sich ihm. Ihr Verstand war nicht der seine. Er konnte nicht in ihren Begriffen denken. Nur in seinen. »Ich werde diesen Wahnsinn zu einem raschen Ende bringen. Wenn Reed eine Charakterschwäche zeigt, dann ist es meine Aufgabe, das zu verhindern.« Er ging zum Telefon und fügte von dort hinzu: »Es gibt Tausende Mädchen auf Morcine. Wenn Reed der Meinung ist, er müßte eine Romanze haben, dann kann er das zu Hause tun.« »Er ist nicht zu Hause«, erinnerte Mary. »Er ist weit entfernt.« »Für einige Monate. Ein schieres Nichts.« Das Telefon summte, und er bellte hinein: »Hat die Istar Lani bereits verlassen?« Es dauerte eine Weile, dann stellte er das Gerät zurück und brummte giftig: »Ich hätte sie hinauswerfen lassen, aber es ist zu spät. Die Istar startete kurz nachdem das Postschiff diesen Brief ge-
bracht hat.« Er zog eine Grimasse, die alles andere als erfreulich war. »Das Mädchen wird morgen hier sein. Sie besitzt die Stirn, eine himmelschreiende Unverschämtheit. Es enthüllt ihren Charakter schon bevor sie da ist.« Er starrte die große, langsamtickende Wanduhr an, als wäre ›morgen‹ schon in den nächsten Minuten. Sein Verstand rang mit dem Problem, das so plötzlich über ihn hereingebrochen war. Nach einer Weile sprach er erneut. »Diese hinterlistige Dirne wird sich keine komfortable Ecke in meinem Haus ergattern, ganz egal, was Reed von ihr denkt. Ich will sie nicht haben, verstehst du?« »Ich verstehe, David.« »Wenn er schon schwach ist, ich bin es nicht. Wenn sie auftaucht, werde ich ihr die schrecklichste Stunde ihres Lebens verschaffen. Wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie mehr als glücklich sein, mit dem nächstmöglichen Schiff wieder zurück nach Lani zu können. Sie wird sehr schnell wieder verschwinden und vor allem für immer.« Mary sagte nichts. »Aber ich werde eine derartige, schmutzige Familienangelegenheit in der Öffentlichkeit nicht mit ihr regeln. Nicht einmal diese Befriedigung werde ich ihr geben. Ich möchte, daß du sie vom Raumhafen abholst, mich unverzüglich anrufst und sie danach in mein Büro bringst. Ich werde mich dort mit ihr befassen.« »Ja, David.« »Und vergiß nicht, mich vorher anzurufen. Das wird mir Zeit geben, die Leute zu beschäftigen und
mein Privatleben vor der Öffentlichkeit zu verbergen.« »Ich werde daran denken«, versprach sie. Gegen halb drei am nächsten Nachmittag erreichte ihn der Anruf. Er warf einen Flottenadmiral, zwei Generäle und einen Direktor des Geheimdienstes hinaus, überflog noch rasch die dringlichsten Papiere, räumte seinen Schreibtisch auf und bereitete sich auf die vor ihm liegende unangenehme Aufgabe vor. Nach kurzer Zeit schon krächzte sein Interkom, und die Stimme seiner Sekretärin erklang: »Zwei Leute wünschen Sie zu sprechen, Sir – Mrs. Korman und Miss Tatiana Hurst.« »Bitten Sie sie herein.« Er lehnte sich zurück und gab seinem Gesicht die nötige Strenge. Tatiana, dachte er. Ein ausländischer Name. Es war einfach, sich die Art von Wildfang vorzustellen, die ihn trug: ein flatterhaftes Ding, frühreif mit einem ausgezeichneten Blick für ihre Chance. Die Sorte Frau, die ein leichtes Opfer aus einem jungen unerfahrenen und schwärmerischen Menschen wie Reed machen konnte. Zweifellos war sie in dem sicheren Glauben, den alten Mann genauso um den Finger wickeln zu können, ohne Ärger zu bekommen. Hah, das war ihr Fehler. Die Tür wurde geöffnet, und sie standen vor ihm, ohne zu sprechen. Etwa eine halbe Minute musterte er sie, während seine Gedanken immer wieder abglitten und er sich bemühte, seinen Verstand zu kontrollieren. Schließlich erhob er sich und sprach zu Mary, seine Stimme klang nur mühsam beherrscht. »Nun, wo ist sie?«
»Dies«, informierte Mary ihn mit unverhohlener, unübersehbarer Befriedigung, »ist sie.« Er plumpste zurück in seinen Stuhl und starrte ungläubig auf Miss Tatiana Hurst. Sie hatte schlanke Beine, die bis etwa in Kniehöhe sichtbar waren. Ihre Kleidung war so schäbig, daß man sich kaum vorstellen konnte, daß jemand sie trug. Ihr Gesicht war hohlwangig, ein bleiches Oval, aus dem ein Paar große, dunkle Augen sahen, blicklos und in sich gekehrt, als betrachte sie mehr ihr Inneres als die Dinge um sie herum. Eine kleine weiße Hand hielt die von Mary, die andere umklammerte einen riesigen, brandneuen Teddybär, dessen Herkunft er sich vorstellen konnte. Sie war ungefähr acht. Sicherlich nicht älter als acht. Es waren ihre Augen, die ihn am tiefsten trafen, schrecklich ernst, schrecklich tief, als wollten sie nichts sehen. Eine eisige Kälte erklomm seinen Rükken, als er sie betrachtete. Sie war nicht blind. Sie konnte ihn sehen – doch sie sah, ohne ihn wahrzunehmen. Die großen dunklen Pupillen konnten sich ihm zuwenden und die äußerliche Gestalt seines Wesens erkennen, und doch sahen sie die ganze Zeit über nur die geheimnisvollen Orte in ihr selbst. Es war im höchsten Grad unheimlich und mehr als beunruhigend. Er betrachtete sie fasziniert und versuchte die herausragende Eigenschaft dieser Augen zu ergründen. Was er erwartet hatte, war Unverschämtheit, Hohn, Trotz, Leidenschaft, alle Gefühle, deren ein räuberisches Weibsbild fähig war. Nun, unter diesen radikal veränderten Umständen konnte er kindliche Verlegenheit, Selbstbewußtsein und Schüchternheit fest-
stellen. Aber sie war nicht schüchtern, entschied er. Es war etwas anderes. Letztlich identifizierte er den schwer definierbaren Faktor als Abwesenheit. Sie war hier und doch irgendwie anderswo, tief in ihrem Inneren, in ihrer eigenen Welt. Mary unterbrach sein Nachdenken mit einem plötzlichen »Nun, David?« Er erstaunte beim Klang ihrer Stimme. Eine gewisse Verwirrung hatte sich in seinem Verstand breitgemacht, da dieses Zusammentreffen so erheblich von seinen Vorstellungen abwich. Mary hatte eine halbe Stunde Vorbereitungszeit gehabt, um den Schock zu überwinden. Er nicht. Er saß ihm noch immer frisch und kräftig im Nacken. »Laß sie einige Minuten mit mir allein«, schlug er vor. »Ich rufe dich, wenn ich fertig bin.« Mary ging mit der Art einer Frau, die sich tief und persönlich über etwas freut. Eine unerwartete Befriedigung, mit der sie schon fast nicht mehr gerechnet hatte. Korman sagte mit ungewohnter Milde: »Komm her, Tatiana.« Sie kam ihm entgegen, jeder Schritt überlegt und vorsichtig, berührte den Schreibtisch und blieb stehen. »Komm herüber, bitte, näher zu meinem Stuhl.« In dergleichen, fast roboterhaften Art tat sie, wie geheißen, ihre dunklen Augen blickten ausdruckslos geradeaus. Bei seinem Stuhl angekommen, verharrte sie schweigend. Er atmete einmal tief durch. Es schien ihm, als wäre eine innere Stimme für ihr Gebaren verantwortlich, die immerzu sagte: »Ich muß gehorsam sein. Ich muß
tun, was mir gesagt wird. Ich kann nur das tun, was mir befohlen wird.« Und das tat sie auch, wie jemand, der gezwungen ist, so zu handeln, ohne Möglichkeit des Widerstandes. Es war eine Auslieferung an die gestellten Ansprüche, um einen verborgenen und wertvollen Ort intakt zu halten. Es gab keine andere Möglichkeit. Ziemlich entsetzt sagte er: »Du kannst doch sprechen, oder nicht?« Sie nickte unmerklich und nur einmal. »Aber das ist keine Sprache«, wies er sie hin. Sie verspürte keinen Wunsch, dies in Abrede zu stellen oder ihre Sprechfähigkeit zu demonstrieren. Sie nahm seine Bemerkung als gegeben hin und beließ es dabei. Still und ungeheuer ernst klammerte sie sich an ihren Bär und wartete darauf, daß Kormans Welt aufhören würde, ihre eigene zu stören. »Bist du glücklich, hier zu sein, oder traurig?« Keine Reaktion. Nur inneres Nachdenken. Abwesenheit. »Nun, bist du glücklich?« Ein vages Halbnicken. »Du bist nicht traurig, hier zu sein?« Ein noch vageres Kopfschütteln. »Würdest du lieber hier bleiben als zurückgehen?« Sie sah ihn an, nicht so sehr, um ihn zu sehen, sondern um sicherzustellen, daß er sie sah. Er klingelte und sagte zu Mary: »Bring sie heim.« »Heim, David?« »Du hast richtig gehört.« Ihm gefiel die übertriebene Sanftheit ihrer Stimme nicht. Das hatte etwas zu bedeuten, aber er konnte nicht herausfinden, was. Die Tür schloß sich hinter dem Paar. Seine Finger
trommelten unruhig auf die Oberfläche des Schreibtisches, als er sich diese Augen in Erinnerung rief. Etwas Kleines, Bitterkaltes machte sich in seinem Inneren breit. Im Verlauf der nächsten paar Wochen schien sein Verstand mehr denn je mit Problemen belastet zu sein. Wie viele Männer seines Kalibers hatte er die Möglichkeit, mehrere Gedankengänge zugleich zu überdenken, aber nicht die Einsicht, zuzugeben, wenn einer über die anderen dominierte. In den ersten zwei oder drei Tagen ignorierte er den bleichen Eindringling in seinen Haushalt vollkommen. Trotzdem war ihre Anwesenheit nicht zu verleugnen. Sie war immerzu gegenwärtig, stumm, gehorsam, selbstbescheiden, hohlwangig und großäugig. Oft saß sie lange Zeit, ohne sich zu bewegen, wie eine Puppe, die von ihrem Besitzer vergessen wurde. Von Mary oder den Mädchen angesprochen, blieb sie stumm gegenüber belanglosen Bemerkungen, antwortete jedoch auf direkt und herrisch gestellte Fragen oder Befehle. Sie antwortete unter minimaler Bewegung des Kopfes oder der Hände, wenn dies überhaupt nötig war, und sprach einsilbig mit einer dünnen kleinen Stimme, jedoch nur dann, wenn das Sprechen unumgänglich war. In dieser Zeit unterhielt Korman sich überhaupt nicht mit ihr – doch war er gezwungen, ihre fatalistische Einsicht, daß sie nun Teil seines komplizierten Lebens war, zur Kenntnis zu nehmen. Nach dem Abendessen des vierten Tages erwischte er sie allein, beugte sich nieder auf ihre Höhe und fragte: »Tatiana, was ist los mit dir? Bist du unglücklich hier?«
Ein kurzes Kopfschütteln. »Warum spielst du dann nicht und lachst, wie andere?« Er verstummte abrupt, als Mary den Raum betrat. »Habt ihr zwei eine private Plauderei?« erkundigte sie sich. »Als ob wir das könnten«, fauchte er. Am selben Abend noch sah er die neueste Bildberichterstattung von der Front. Das verschaffte ihm nur eine geringe Befriedigung. Tatsächlich ärgerte es ihn. Der Schwung fehlte. Sehr viel von dem erhabenen Gefühl der Eroberung war auf seltsame Weise aus den Bildern verschwunden. Nach vierzehn Tagen hatte er mehr als genug davon, auf eine Stimme zu hören, die selten sprach, und Augen zu begegnen, die nicht sahen. Es war, als lebe man mit einem Geist zusammen – so konnte es nicht weitergehen. Ein Mann hat das Recht auf eine gewisse Entspannung in seinem eigenen Haus. Sicherlich, er konnte sie zurückschicken nach Lani, wie er es ursprünglich auch vorgehabt hatte. Damit allerdings würde er eine Niederlage zugeben. Korman konnte keine Niederlage von anderen Händen entgegennehmen, am wenigsten aber aus denen eines in sich gekehrten Kindes. Sie versuchte nicht, ihn aus seinem eigenen Haus zu vertreiben, noch zwang sie ihn dazu, sie selbst hinauszuwerfen. Sie war eine Herausforderung, der er in einer für ihn zufriedenstellenden Weise begegnen mußte. Er beorderte seinen Chefratgeber für technische Belange zu sich in sein Büro und erklärte diesem gereizt: »Sehen Sie, ich bin belastet mit einem milieugeschädigten Kind. Mein Sohn hat sich ihrer angenom-
men und sie von Lani hierherbringen lassen. Sie macht mir sehr zu schaffen. Was kann man für sie tun?« »Es tut mir leid, ich kann Ihnen nicht helfen, Sir.« »Warum nicht?« »Ich bin Physiker.« »Nun, können Sie jemand anderen vorschlagen?« Der andere dachte ein wenig nach, dann antwortete er: »Für diesen Fall gibt es niemanden in meiner Abteilung, Sir. Aber die Wissenschaft besteht nicht nur darin, Apparätchen zu erfinden. Sie benötigen einen Spezialisten für weniger greifbare Angelegenheiten.« Eine Pause, dann: »Vielleicht können Ihnen die Krankenhausautoritäten weiterhelfen.« Er rief unverzüglich das nächste Hospital an und erhielt die Antwort: »Sie brauchen einen Kinderpsychologen.« »Wer ist der beste auf diesem Planeten?« »Dr. Jäger.« »Benachrichtigen Sie ihn für mich. Ich möchte ihn heute abend bei mir im Hause sehen, nicht später als neunzehn Uhr.« Dick, im mittleren Alter und jovial, paßte Jäger ausgezeichnet in die Rolle eines alten Freundes, der gerade zufällig vorbeikommt. Er redete eine Menge dummes Zeug, indem er ihr seltsame Bemerkungen zuwarf, und hielt sogar ein vorgetäuschtes Gespräch mit ihrem Teddybär. Zweimal in jener Stunde kam sie so weit in seine Welt, daß sie ihm mit einem leichten Lächeln antwortrtete. Am Ende dieser Unterhaltung wollte er mit Tatiana allein gelassen werden. Korman ging hinaus mit der Befürchtung, daß kein Fortschritt gemacht worden
war oder gemacht werden würde. Auf dem Sofa sitzend, sah Mary auf. »Wer ist unser Besucher, David? Oder geht mich das nichts an?« »Eine Art Gehirnspezialist. Er untersucht Tatiana.« »Wirklich?« Wieder war die Sanftheit bitter. »Ja«, sagte er schroff. »Wirklich.« »Ich dachte, du wärst nicht an ihr interessiert.« »Bin ich auch nicht«, erklärte er. »Aber Reed ist es. Hin und wieder erinnere ich mich daran, daß Reed mein Sohn ist.« Sie ließ das Thema fallen. Korman beschäftigte sich mit einigen offiziellen Papieren, bis Jäger fertig war. Dann ging er in das Zimmer zurück und verließ Mary, die in ihr Buch versunken war. Er sah sich um. »Wo ist sie?« »Das Mädchen nahm sie mit. Sie sagte, es wäre Zeit für sie, zu Bett zu gehen.« »Oh.« Er setzte sich in einen Sessel und wartete darauf, mehr zu hören. Jäger lehnte sich gegen die Tischkante und erklärte: »Ich habe meine eigene Methode, mich mit Kindern zu befassen, die nicht reden wollen. In neun von zehn Fällen funktioniert es.« »Was ist es?« »Ich bringe sie dazu, zu schreiben. Ich schlage ihnen zum Beispiel vor, einen Aufsatz zu schreiben, über alles, was sie sehr beeindruckt hat. Die Ergebnisse können sehr aufschlußreich sein.« »Und haben Sie –« »Einen Moment, bitte, Mr. Korman. Bevor ich fortfahre, möchte ich Ihnen erklären, daß Kinder eine
herausragende Eigenschaft haben, die vielen Autoren fehlt. Sie können sich mit beachtlicher Lebhaftigkeit in einer simplen Sprache ausdrücken, bei einer großen Sparsamkeit in der Wortwahl. Sie erreichen einen erzählenden Effekt sowohl mit dem, was sie schreiben, als auch mit dem, was sie auslassen.« Er betrachtete Korman abwägend. »Sie kennen die Umstände, unter denen Ihr Sohn dieses Kind gefunden hat?« »Ja, er teilte sie uns in einem Brief mit.« »Nun, betrachten Sie diese Umstände, wenn Sie dies lesen, dann werden sie es wohl außergewöhnlich finden, in der Art einer Horrorstory etwa.« Er hielt ihm ein Stück Papier hin. »Sie hat es ohne Unterstützung geschrieben.« Er griff nach seinem Mantel. »Sie gehen?« fragte Korman überrascht. »Wie lautet Ihre Diagnose? Welche Behandlung schlagen Sie vor?« Dr. Jäger blieb stehen, die Hand am Türgriff. »Mr. Korman, Sie sind ein intelligenter Mann.« Er deutete auf das Papier, das der andere hielt. »Ich denke, das ist alles, was sie benötigen.« Dann verabschiedete er sich. Korman betrachtete das Blatt. Es war nicht mit Worten gefüllt, wie er das vermutet hatte. Für eine Story war es ziemlich kurz. Er las es. Ich bin nichts und niemand. Mein Haus ist kaputt gegangen. Meine Katze wurde gegen eine Mauer geschlagen. Ich wollte sie aufheben. Sie ließen mich nicht. Sie haben sie weggeworfen. Das kalte Ding in seinem Rücken schwoll an. Er las es wieder. Und wieder. Er ging zum Fuß der Treppe
und sah hoch, wo sie schlief. Der Feind, dem er nichts getan hatte. Der Schlaf floh ihn in dieser Nacht. Üblicherweise konnte er seinen Verstand besänftigen und zu jeder Zeit und sich bietenden Gelegenheit ein Nickerchen machen. Nun war er seltsam unruhig und unsicher. Sein Gehirn war angeregt, er wußte nicht, von was, seine Gedanken folgten merkwürdig verschlungenen Pfaden. Die vereinzelten Wachperioden waren voller fantastischer Vorstellungen, in denen er durch eine unendliche, widerliche graue Szenerie taumelte, von der es nichts sonst gab, keine Geräusche, keine Stimme, kein anderes Wesen. Seine Träume waren ebenso schrecklich, voller sich windender Landschaften, speiender, dunstiger Kolonnen, mit Dingen, die klagend zum Himmel jaulten, mit großen, krötenähnlichen Monstern, die auf metallenen Ketten umherkrochen, mit langen Reihen verschwommener Männer, die einen äonenalten, vergessenen Gesang intonierten. »Du hast eine zerbrochene Puppe hinterlassen.« Er erwachte sehr früh mit rotgeränderten Augen und einem müden Verstand. Eine Unmenge kleinerer Bagatellen verschwor sich an diesem Morgen im Büro gegen ihn. Seine Konzentrationsfähigkeit war erheblich beeinträchtigt, und mehr als einmal ertappte er sich bei kleineren Fehlern, die er gemacht hatte oder im Begriff stand zu machen. Ein- oder zweimal saß er versunken da, seine Augen starrten geradeaus und sahen doch nicht die Szenerie, die sich ihnen darbot, dafür aber er-
blickten sie Dinge, die sie noch nie zuvor geschaut hatten. Um drei Uhr nachmittags rief ihn seine Sekretärin über Interkom. »Astroführer Warren wünscht Sie zu sehen, Sir.« »Astroführer?« echote er und fragte sich, ob er richtig gehört hatte. »Einen solchen Titel gibt es bei uns nicht.« »Es ist ein drakanischer Weltraumrang.« »Oh, ja, natürlich. Ich kann mich gerade um ihn kümmern.« Er wartete mit einer dumpfen Vorahnung. Die Drakaner bildeten eine mächtige Vereinigung von zehn Planeten, sehr weit von Morcine entfernt. Sie waren so weit entfernt, daß es nur selten zu einem Kontakt kam. Nur zweimal in seinem Leben war es vorgekommen, daß eines ihrer Kriegsschiffe einen Höflichkeitsruf übermittelt hatte. Dies war also ein sehr seltenes Zusammentreffen. Der Besucher trat ein, ein kräftig gebauter junger Mann in hellgrüner Uniform. Er schüttelte die dargebotene Hand mit aufrichtiger Freude und Herzlichkeit und setzte sich in den angebotenen Stuhl. »Eine Überraschung, nicht wahr, Mr. Korman?« »Sehr.« »Wir kamen in höchster Eile, doch die Reise kann nicht in einem Tag vollbracht werden. Entfernungen fordern Zeit, unglücklicherweise.« »Ich weiß.« »Der Fall ist der«, begann Warren seine Erklärung. »Schon vor geraumer Zeit erhielten wir einen Ruf von Lani, der uns von verschiedenen untergeordneten Planeten, die als Relaisstationen dienten, übermittelt
wurde. Sie teilten uns mit, in einen ernsthaften Disput verwickelt zu sein, sie fürchteten einen Krieg. Sie baten uns, als nichtbetroffene Neutrale zu verhandeln.« »Das also ist der Grund Ihres Kommens?« »Ja, Mr. Korman. Wir wußten, die Chancen, rechtzeitig zu erscheinen, waren sehr gering. Wir konnten nichts weiter tun, als so rasch wie eben möglich aufzubrechen und das Beste zu hoffen. Der Rolle als Friedensvermittler kann sich niemand, der zivilisiert ist, entziehen.« »Wirklich?« fragte Korman und betrachtete ihn. »Wir zumindest können es nicht.« Er beugte sich nach vorn und sah sich Korman Auge in Auge gegenüber. »Wir haben Lani auf dem Flug hierher angefunkt. Sie wünschen den Frieden. Sie werden den Kampf verlieren. Deshalb möchten wir nur eines wissen: Kommen wir zu spät?« Das war die Stichfrage: Kommen wir zu spät? Ja oder nein? Korman dachte darüber nach, ohne zu bedenken, daß vor gar nicht so langer Zeit seine Antwort prompt und automatisch erfolgt wäre. Ja oder nein? Ja bedeutete einen militärischen Sieg, Macht und Furcht. Nein bedeutete – ja, was? Nun, nein bedeutete Vernunft anstelle von Starrsinnigkeit. Nein bedeutete eine tiefgreifende Meinungsänderung. Plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß man eine beachtliche Charakterstärke besitzen muß, um einen lange vertretenen Standpunkt über Bord zu werfen und einen neuen einzunehmen. Dazu gehörte moralische Tapferkeit. Die Weichen und Zaudernden konnten eine solche niemals aufbringen. »Nein«, antwortete er langsam. »Es ist noch nicht zu spät.«
Warren erhob sich, sein Gesicht zeigte deutlich, daß das nicht die Antwort war, die er erwartet hatte. »Sie meinen, Mr. Korman –« »Ihre Reise ist nicht vergeblich gewesen. Sie können vermitteln.« »Zu welchen Bedingungen?« »Für beide Seiten die gerechtesten, die Sie ausarbeiten können.« Er aktivierte das Mikrofon und sprach hinein. »Sagen Sie Rogers, daß ich unseren Streitkräften weitere Kämpfe untersage. Truppen werden die Grenzen des lanischen Brückenkopfes bewachen und Friedensverhandlungen vorbereiten. Bürgern der Drakanischen Konföderation wird ein Passieren unserer Linien nach beiden Seiten gestattet werden.« »Sehr wohl, Mr. Korman.« Er schob das Mikrofon beiseite und sprach weiter mit Warren. »Obwohl viele Meilen entfernt, ist Lani uns nach kosmischen Maßstäben sehr nahe. Es würde mich freuen, wenn die Lanianer einer Union zwischen unseren Welten zustimmen würden, mit einer gemeinsamen Bürgerschaft und gemeinsamer Nutzung der natürlichen Ressourcen. Aber ich bestehe nicht darauf. Ich äußere lediglich einen Wunsch – in dem Wissen, daß einige Wünsche sich niemals erfüllen.« »Diesem Wunsch wird trotzdem eine ernsthafte Betrachtung zuteil werden«, versicherte Warren. Er schüttelte die Hand des anderen mit jungenhaftem Enthusiasmus. »Sie sind ein großer Mann, Mr. Korman.« »Bin ich das?« Er lächelte verzerrt. »Ich bemühe mich, mich etwas in eine andere Richtung zu verän-
dern. Der alte Starrsinn ist aufgebraucht.« Als der andere gegangen war, warf er einen ganzen Stapel Dokumente in den Papierkorb. Die meisten von ihnen waren nun nutzlos. Merkwürdig, wie ihm mit einemmal das Atmen leichter zu fallen schien, seine Lungen sogen die Luft viel tiefer ein, als hätte man eine Last von ihm genommen. In seinem Vorzimmer gab er bekannt: »Es ist noch früh, aber ich werde trotzdem nach Hause gehen. Rufen Sie mich dort an, wenn etwas Dringendes sein sollte.« Der Chauffeur schloß die Wagentür, als er die sechste Sprosse betrat. Ein Schwächling, dachte Korman, als er sein Haus betrat. Ein Schwachkopf, dem der Mut fehlte, seinen alten Trott abzuwerfen. Man kann einem solchen alten Trott zu lange folgen. »Wo ist meine Frau?« fragte er das Mädchen. »Sie ist vor etwa zehn Minuten ausgegangen, Sir. Sie wollte in einer halben Stunde wieder zurück sein.« »Nahm sie –« »Nein, Sir.« Das Mädchen sah zur Diele hinüber. Vorsichtig betrat er die Diele und fand das Kind in einem Sessel sitzend, mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen. Ein Radio spielte leise in der Nähe. Er bezweifelte, daß sie es selbst eingeschaltet hatte oder zuhörte. Wahrscheinlich hatte jemand anders vergessen, es auszumachen. Auf Zehenspitzen ging er über den dicken Teppich und schaltete die Musik aus. Sie öffnete die Augen und setzte sich auf. Er ging zu dem Sofa, nahm den
Bären von ihrer Seite, setzte ihn auf einen Arm und ließ sich neben ihr nieder. »Tatiana«, fragte er mit rauher Zärtlichkeit. »Warum bist du ein Niemand?« Stille. Sie sah hinab auf ihre Schuhe, ihre großen Augen teilweise unter den Lidern verborgen. Eine andere Reaktion zeigte sie nicht. Sein Blick glitt blind über das Zimmer, während sein Geist pausenlos ihre Mauer des Schweigens umkreiste. Gab es denn keinen Weg nach innen, wirklich keinen Weg? Es gab ihn. Er erkannte ihn fast unwissentlich. Mehr zu sich selbst als zu ihr sprach er, sein leiser Ton war kaum wahrnehmbar. »Seit meiner frühesten Jugend bin ich von Menschen umgeben. Mein ganzes Leben lang gab es unheimlich viele Menschen. Aber keine gehörten mir. Nicht einer gehörte wirklich mir. Auch ich bin ein Niemand.« Sie berührte seine Hand. Der Schock war fürchterlich. Über alle Maßen erstaunt sah er hinab, ihre erste Berührung, ihre Hand tätschelte ihn dreimal freundlich und wurde dann zurückgezogen. Er drehte sich zur Seite und setzte sie auf seinen Schoß, umschlang sie mit seinen Armen und preßte seine Nase gegen das weiche Fleisch ihres Nackens, schnüffelte hinter ihrem Ohr und strich ihr mit seiner großen Pranke durchs Haar und gab leise, beruhigende Geräusche von sich. Sie weinte. Sie war vorher nicht in der Lage gewesen, zu weinen. Sie weinte, nicht wie eine Frau, leise
und unterdrückt, sondern wie ein Kind, mit lautem Schluchzen, das sie heftig zu unterdrücken suchte. Ihr Arm lag um seinen Nacken, eng angeschmiegt, sie drückte sich noch enger an ihn, während er schaukelte und sie streichelte, sie »Liebling« nannte und sinnlose Laute von sich gab. Dies war ein Sieg. Kein nichtiger. Erfüllung. Ein Sieg über sich selbst ist immer eine Erfüllung.
Der wunde Punkt Die große Flotte der schwarzen Schiffe sprang aus dem Sternenfeld und nahm Demeter binnen dreißig Stunden. Es gab sehr wenig Zerstörungen und noch weniger Schlächtereien. Der Ansturm war zu schnell und exakt zur richtigen Zeit gekommen, der Überraschungseffekt war zu groß, um den Garnisonen eine optimale Verteidigung zu ermöglichen. Demeter fiel innerhalb eines Tages und einer Nacht. Es war ein Triumph für die Barbs und eine Niederlage für das Imperium. Die Barbs überrannten den unterlegenen Planeten und freuten sich hämisch. Was sie errungen hatten, bestand aus einer mittelgroßen, aber bewohnbaren Welt mit drei Städten, elf Dörfern, zweiundfünfzig Minen, vierzehn Fabriken, einem großen hydroelektrischen Kraftwerk, einem modernen Raumhafen sowie siebentausend Gefangenen. Alles in gutem Zustand und bereit zur Weiterverwendung. Mehr noch, nun besaßen sie eine Raumbasis und einen potentiell gefährlichen militärischen Vorposten unter dreißig weiteren um den Rand des Imperiums, ihr eigenes Acht-Planeten-System mit eingerechnet. Betrachtet man, daß besagtes Imperium aus fünfzehnhundert Sonnensystemen mit zusammen über sechstausend Welten bestand, so standen die Barbs angesichts ihrer geringen Zahl gar nicht übel da. Die Sieger pulsten die Nachricht nach Hause, wo sie ein kriegerisches Freudengeheul auslöste. Millionen marschierten durch die Straßen, in Reihen zu vierzig Mann, sie marschierten in militärischem
Rhythmus, schwenkten Banner, bliesen silberne Hörner und sangen Kriegslieder. Kalandar, der Oberste Herrscher, posierte auf einem Balkon, lächelte und winkte, während ein immenser Mob in den Straßen seine Freude hinausheulte und drohend die Fäuste zum Himmel schwang. Der Größe des unterlegenen Gegners bewußt, freute die Menge sich an dem Gedanken: Je höher sie steigen, desto tiefer ist ihr Fall. Auch Kalandar vergaß diesen Punkt nicht. Sicher, Demeter war nur eine bewohnbare Welt, und das Imperium besaß eine ganze Menge mehr. Aber was einmal gelungen ist, kann wieder gelingen – und wieder und wieder. So ließ er bei seinem Grinsen seine Zähne sehen und bedankte sich für die Schreie und den tosenden Applaus durch Verbeugungen und Salute. Die Situation war eine der größten Alltäglichkeiten der Geschichte: Kampf, Eroberung und die Trunkenheit des Siegers. Es unterschied sich von allen ähnlichen Fällen in einem einzigen Detail, von dem Kalandar und seine Kriegerhorden allerdings keine Ahnung hatten, nämlich dem, daß tief im Herzen des Imperiums eine kleine Gruppe von Führern mit ihnen feierte. Demeter war gefallen, hurra, hurra! In dem großen, grünen Zimmer des Regierungspalastes saßen siebzehn Männer um einen hufeisenförmigen Tisch versammelt, das waren die führenden Geister des Imperiums. Vor den Fenstern ragten die zahllosen Türme und Gebäude von Gilstrand, der Hauptstadt von sechstausend Welten in die Höhe. Eldon, ein weißhaariger, grobknochiger Mann mit
einer immensen Schulterbreite, nahm ein Stück Papier von einem leichtfüßigen Boten entgegen, las es durch und sagte unverzüglich zu den anderen: »Die Barbs haben heute morgen Demeter erobert.« »Hmhm!« sagte einer. »Saubere Arbeit«, meinte ein anderer mit der Miene eines Mannes, der eine Gunst zu schätzen weiß. »Natürlich müssen wir das beste daraus machen«, fuhr Eldon fort. Er wandte seine Aufmerksamkeit einer krummnasigen Person mit stechenden Augen zu. »Auf, auf, Wanstell. Machen Sie es bekannt.« Wanstell nickte und ging hinaus. Die verbleibenden sechzehn fuhren in ihrer ursprünglichen Unterhaltung fort, als ob Krieg und der Verlust einer Welt zu den alltäglichen Dingen gehörten. Sie redeten eine Stunde, kühl, beherrscht, ohne Hast mit dem Gebaren von Männern, die ihre Kapazität für das Melodramatische schon vor zwanzig, fünfzig oder gar hundert Generationen verloren haben. In dieser Eigenschaft unterschieden sie sich radikal von den echsenhäutigen, aber sonst humanoiden Barbs, die beim geringsten Anlaß aus der Haut fuhren und überschäumten. Die Barbs waren von Natur aus heißblütige Kämpfer, ungestüm, grausam, ruhelos, hitzig und wahrscheinlich nur durch eine vollkommene Ausrottung schlagbar. Die siebzehn Führer des Imperiums waren von Natur aus kaltblütige Rechner, Männer, die die Gabe, zwei und zwei zusammenzählen zu können, wichtiger nahmen als die Macht des Schwertes. Daher saßen sie am Hufeisentisch, nicht beunruhigt, und schwatzten, bis sie ihre verschiedenen Ent-
scheidungen getroffen hatten und ihrer verschiedenen Wege gingen. Nachdem der letzte gegangen war, stand Eldon am Fenster und betrachtete die orangeroten Strahlen, die der Sonnenuntergang über den Himmel zauberte. Endlich begab er sich zu seinem Pult, setzte sich und studierte ein Plakat, das an der gegenüberliegenden Wand aufgehängt war. Es war mit goldenen Buchstaben bedeckt. Nur in seinen Augenwinkeln saß ein Schmunzeln, als er den Text las. »Ein Insekt kann einen Löwen beißen – aber das Insekt bleibt trotzdem ein Insekt und der Löwe trotzdem ein Löwe.« Wanstell, als Chef der Imperialen Nachrichtenabteilung, gab die Neuigkeit offiziell an den größten Teil der Galaxis. »Die Regierung gibt den Verlust des äußeren Sonnensystems T. K. 490 bekannt, das vier Planeten enthält, von denen einer, Demeter, bewohnbar und besiedelt ist. Siebentausend Menschen befanden sich auf Demeter, als der Planet heute von den Streitkräften der Barbs überrannt wurde. Die Regierung unterbreitet ein Verhandlungsangebot über den Austausch von Gefangenen, in kurzer Zeit werden Schritte unternommen werden, um Demeter zurückzuerobern. Alle Bürger des Imperiums können beruhigt sein, daß die Situation unter Kontrolle ist und kein Grund zur Unruhe besteht.« Aalglatte politische Worte wie diese wurden schon seit grauer Vorzeit benutzt, als eine kleine Wasserwelt mit Namen Terra zur Geburtsstätte des Imperiums geworden war. Und genau wie es in jenen lange
vergangenen Tagen gewesen war, heizten die unabhängigen Nachrichtenanstalten das Feuer noch weiter an und brachten den Topf zum Überkochen. RASCHER SIEG DER BARBS schrien die Rundfunkanstalten des Sirius. DEMETER VERLOREN WÄHREND DIE STREITKRÄFTE SCHLAFEN brüllten die immer ärgerlichen, oppositionell eingestellten Videos des Wolfsystems. DIE ZEIT IST REIF verkündeten die primitiven, aber einflußreichen Nachrichtenblätter der fernen Rimboldgruppe. »In den letzten zwanzigtausend Jahren«, verkündete der hochtrabende Gilstrander Wächter, »und niemand weiß, wie lange vorher schon, waren die Barbaren ein unbehindertes Ärgernis. Solange sie als Streitmacht unbekannter Stärke weiterexistieren, bleiben die äußeren Grenzen des Imperiums unsicher. Solange sie weiterhin einmal pro Jahrhundert unsere Grenzen im All verletzen können, kann es keine Sicherheit unseres Hoheitsbereichs geben. Es ist höchste Zeit, mit unseren entgegengesetzten Interessen übereinzukommen, unser nutzloses Geschwätz einzustellen und uns Schulter an Schulter zu erheben, um diese Bedrohung ein für allemal zu beseitigen.« Und so weiter. Jedes Sonnensystem wetterte in Übereinstimmung mit den genannten Meinungen. So viel Zeit war verstrichen, alle Mitglieder des Imperiums, obwohl Menschen, hatten sich zu unterschiedlichen Gruppierungen mit unterschiedlichen Kulturen entwickelt, verschiedenen Antriebskräften und verschiedenen Denkweisen. Das Imperium umfaßte fünfzehnhundert neue Rassen mit fünfzehnhundert verschiedenen Standpunkten zu jedem Thema. Das Echo, das dem Fall einer relativ unbedeuten-
den Welt folgte, hallte über den ganzen Kosmos und bewies, daß Schlag und Gegenschlag zwar entgegengesetzt sind, sich aber selten in den gleichen Größenordnungen bewegen. Dieser Effekt ähnelte in gewisser Weise den Wogen der Empörung, die über die Alte Welt rasten, wenn die Sioux ein nicht erwähnenswertes Gemetzel angerichtet hatten. Solche Dinge waren zu erwarten. Tatsächlich, Experten in entsprechenden Angelegenheiten konnten sie voraussagen, wie weit das Pendel der aufgebrachten Emotionen ausschlagen würde, selbst wenn es sich um einen nur spärlich besiedelten Planeten irgendwo weit entfernt handelte. Die Barbs arbeiteten mit der ungestümen Energie, die typisch war für ihre Art. Ihre Schiffe sausten hin und her und brachten Truppen und Versorgungsgüter nach Demeter, um hastig ihre Position zu konsolidieren, ehe das Imperium zu seinem Gegenschlag ausholen konnte. Niemand zweifelte daran, daß eine solche Konteraktion unweigerlich folgen würde, und wenn, dann würde sie hart und gut vorbereitet sein. Denn sie kannten das Imperium ebenso gut, wie das Imperium sie kannte. Die beiden Kontrahenten hatten lange Zeit, sehr lange Zeit sogar, in aneinandergrenzenden Positionen gelebt. Sie erfreuten sich des wechselseitigen Verständnisses zweier Parteien, die schon äonenlang in einer Art platonischen Hasses miteinander lebten. Während die Barbs Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um aus Demeter eine unbezwingbare Raumfestung zu machen, eilten viele ihrer Schiffe zu
der neutralen Welt Kvav, wo die Gefangenen feierlich ausgetauscht wurden. Dies war eine Nach-SiegFormalität, die ihnen, ehe die expandierenden Ausläufer des Imperiums sie erreichten, nicht im Traum eingefallen wäre. In den alten Zeiten wurden Gefangene versklavt, arbeiteten, bis sie umfielen, und wurden dann geschlachtet. Das Imperium hatte das Tauschsystem angeboten, und nach einer Periode finstersten Argwohns hatten die Barbs sich ihm angepaßt. Obwohl nach ihren eigenen Vorstellungen ein Barb zehn Imperiumsbürger wert war, standen sie in einer langen Reihe vor dem Austauschzähler, bereit zu einem Austausch im gleichen Verhältnis. Der Gefangenenaustausch hatte das Gesicht des niemalsendenden Krieges verändert, soweit es die Barbs betraf. Raumschlachten und territoriale Kämpfe genügten nicht länger. Nun mußten zusätzlich noch Überfälle gemacht werden, um Gefangene zu machen, wann immer die Zahlen, die beide Seiten gefangen hielten, aus dem Gleichgewicht gerieten. Aus unerfindlichen Gründen mußten die Barbs wesentlich häufiger die Zahlen angleichen als das Imperium. Heute stellte es schon einen gewaltigen Sieg dar, tausend Imperiumsbürger zu fangen und dafür tausend ihrer eigenen Leute freizukaufen. Eine kleinere Schwadron der Barbs pendelte zwischen Demeter und Kvav, um siebentausend feindliche Wesen abzusetzen und dafür eine ebensolche Anzahl des eigenen Volkes mitzunehmen; einige der Barbs warteten schon seit vier oder fünf Jahren auf Rettung. Die gesamte Prozedur lief präzise wie ein Uhrwerk ab. Niemand störte die Ausgeglichenheit durch Auf-
bringen eines an- oder abfliegenden Barbschiffes. Das Imperium hatte selbst große Flotten, die irgendwo patrouillierten. Und niemand fand das seltsam. Eldon und Wanstell saßen wie üblich an ihrem Tisch und gingen Geheimdienstmeldungen durch. In ihren Augen waren die Reaktionen der imperialen Nachrichtenmedien zufriedenstellend. Auch die Aktivitäten der Barbs waren erfreulich. Beide Männer waren sich auf humorige Weise des Problems bewußt, daß es unmöglich war, Kalandar einen Orden zu verleihen, ohne Krawalle bei fünfzehnhundert Sonnen auszulösen. Sie, wie auch die abwesenden Mitglieder, hatten eine Aufgabe, die auch der kleinste Maschinist als jenseits jeglicher Glaubwürdigkeit betrachtet hätte: Sie waren die geschickten Bediener einer gewaltigen Maschine, die noch besser funktionierte, wenn man einen Schraubenschlüssel ins Getriebe warf. Der Beweis lag vor ihnen. Auf Quimper war eine blutige Revolte der Jungen gegen die Alten geplatzt wie eine Seifenblase, als die Rädelsführer sich hitzig zu den Streitkräften meldeten. Vierundzwanzig Welten, die eine unabhängige Zollunion hatten bilden wollen, gaben diesen Vorsatz auf, zu Gunsten eines gemeinsamen Vorstoßes ins All. Zweihundertachtzig höchst unwillige Randwelten, die gestern noch in großem Maße einer zentralen Autorität ablehnend gegenüberstanden, waren heute aufgeschreckt und flehten um Beistand. Die pazifistischen Rigelier waren bereit, ihren Anteil zur Verteidigung beizusteuern, was sie zuvor immer abgelehnt
hatten. Das Zwillingssystem nahe Bootes hatte die dumme Idee eines Partisanenkrieges aufgegeben und wollte fortan nur noch rivalisieren, wer den Barbs den größten Schaden zufügte. Die öffentliche Meinung des Arkturus hatte sich erhoben und sich mit großer Mehrheit gegen eine Lossagung vom Imperium ausgesprochen. Tausend weitere Mitteilungen mit ähnlichem Inhalt bewiesen, daß unter den gegebenen Umständen ein geworfener Schraubenschlüssel durchaus eine große prozentuale Wirkung haben kann. Nur etwas schickte sich an, das Spiel empfindlich zu stören, von dem sie bisher noch nichts ahnten. Draußen betrat gerade ein Trio langsam die Stufen, das einen Schraubenschlüssel – wenn dieser Vergleich auch weiterhin verwendet werden soll – trug, der viel zu groß war. Einer der drei, ein Beamter des Regierungspalastes, klopfte und trat ein, wobei er die anderen hinter der Tür zurückließ. Er sagte zu Eldon: »Sir, wir haben geringfügige Komplikationen beim Austausch der Gefangenen.« »In welcher Weise?« erkundigte Eldon sich. »Kalandar verlangt die Rückkehr seines jüngsten Sohnes, Jazan, eines früheren Piloten. Wir fingen ihn vor zweieinhalb Jahren, wenn Sie sich erinnern.« »Ich erinnere mich nicht«, sagte Eldon stirnrunzelnd. »Trotzdem, er ist von keinerlei Wichtigkeit für uns. Es ist eine strikte Regel, daß die Gefangenen von uns wechselseitig ausgetauscht werden, ohne Rücksicht auf Herkunft und Rang. Ich sehe keinen Grund, warum wir ihn nicht austauschen sollten.« Er schielte
zu dem anderen hinüber. »Gibt es einen Grund, der dagegen spricht?« »Ja, Sir.« »Was für einen?« »Jazan möchte nicht zurückkehren – jetzt nicht.« »Möchte nicht zurückkehren?« echote Eldon ungläubig. Einen Barb, der nicht bereit war, sich wieder ins Kampfgetümmel zu stürzen, hatte es noch nie gegeben. »Warum nicht?« »Das, Sir, sollte besser der Kaplan erläutern, wenn Sie ihn zu sehen wünschen.« »Führen Sie ihn herein«, befahl Eldon. Der andere ging zur Tür und brachte einen plumpen Geistlichen mit ernstem Gesicht herein. Nach Eldons Geste setzte sich der Neuankömmling und faltete die Hände im Schoß. »Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, bin ich der Kaplan von Lager Nummer zwölf«, erklärte er. »Das ist eine schwierige Aufgabe. Man muß versuchen, eine kleine Herde aus einem Rudel Wölfe zu machen. Und dabei ist mir eine beachtliche Sinneswandlung gelungen.« »Jazan?« »Ja.« Er dachte einen Augenblick nach, wobei er irgendwie unruhig aussah. »Sie kennen die Natur der Barbs. Sie sind emotionell überschäumend und neigen zum Fanatismus. Der Herr hat sie so erschaffen aus Gründen, die nur Ihm allein bekannt sind.« »Nun?« »Einfach gesagt, ein bekehrter Barb versucht zehnmal so christlich zu sein wie jeder andere Christ. Seiner Veranlagung entsprechend, kann nichts ihn zurückhalten. Er möchte hinausziehen und die ge-
samte Schöpfung retten. Er hat den angeborenen Charakter eines Missionars – und eines Märtyrers.« »Was folgt daraus für uns?« »Jedes Ding ist für einen guten und weisen Zweck erschaffen«, erklärte der Kaplan. »Jazan glaubt, daß seine Rasse dazu bestimmt ist, zu Missionaren des Imperiums zu werden, die in den großen Weiten des Alls, die noch zu erforschen sind, tätig sein sollen. Er möchte die Gründe mit Ihnen besprechen und erst dann nach Hause zurückkehren, wenn er das getan hat.« Eldon warf Wanstell einen Seitenblick zu, doch dieser studierte mit aller Hingabe die Decke. Daraufhin wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Kaplan zu. »Nun gut, ich will ihn sehen – allein.« Jazan hatte die typische magere Gestalt, Größe und Echsenhaut seiner Rasse. Ebenso hatte er die heißblütigen Augen, wenn diese sich auch durch das Licht eines inneren Mysteriums verändert hatten. Er stand vor Eldon, den Kopf leicht gebeugt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und sprach mit leiser Stimme. »Es ist meine Aufgabe, meinen Vater auf den Pfad der Wahrheit zu führen. Ebenso meine Brüder und mein Volk. Ich bitte Sie, gleichzeitig mit meiner Rückkehr alle Feindseligkeiten einzustellen.« »Und wenn ich das nicht tue?« »Werde ich für Sie beten wie für jeden anderen Sünder auch.« »Wir werden unsere Feindseligkeiten einstellen, nachdem Ihr Volk seinen guten Willen bewiesen hat,
nicht eher«, erklärte Eldon leichthin. »Und das wird noch eine sehr, sehr lange Zeit in Anspruch nehmen.« »Sie werden das Licht sehen. Und wenn sie es gesehen haben, werden sie es weiter verbreiten. Ihre Schiffe werden friedlich den Pfaden folgen, die unsere Füße geebnet haben.« »Wir werden es versuchen, wenn der Tag gekommen ist«, sagte Eldon. »Aber noch ist er nicht gekommen.« Ein momentanes Feuer loderte in Jazans Augen. Ein charakteristischer blauer Blutstrom schoß ihm ins Gesicht, doch er bezwang sein Temperament. Für einen Barb besaß er eine außergewöhnliche Intelligenz und Selbstdisziplin. Er sagte: »Ich werde mein Volk läutern, ob Sie mit mir kooperieren oder nicht. Die Demütigen sollen erhoben werden, die Stolzen aber erniedrigt. Sie sollten bereit sein, mir zu helfen. Eines Tages könnte meine Rasse sehr nützlich werden.« Sein gesenkter Kopf hob sich, seine Augen blickten gerade in die Eldons. Er fügte hinzu: »Weit nützlicher, als sie es heute sind.« »Was meinen Sie damit?« fragte Eldon. »Als wahrer Gläubiger habe ich etwas über die wahre Macht des Imperiums gelernt. Es ist unendlich viel größer, als mein Volk das annimmt. Es ist so gewaltig, das es uns über Nacht zerstören könnte, ja, es schon vor Jahrhunderten hätte tun können.« Sein Blick begegnete wieder dem des anderen. »Warum habt ihr uns nicht zerstört?« Eldon deutete zu dem Plakat. »Ihr könnt dem Löwen keinerlei Schaden zufügen, sosehr ihr ihn auch beißt.« »Warum uns überhaupt erlauben, zu beißen?«
Er lehnte sich gegen die Kante des Schreibtischs. Dann sagte Eldon: »Ich werde eine simple Analogie verwenden. Sie wissen, wie ein Dampfkessel funktioniert?« »Ja, natürlich.« »In der Theorie kann ein wunder Punkt an einem Dampfkessel zu einer Explosion führen. In der Praxis ist das nicht der Fall. Soll ich Ihnen erklären, warum?« »Machen Sie weiter.« »Weil der menschliche Verstand vorausschauen kann. Wenn wir einen Dampfkessel erbauen, werden wir einen wunden Punkt einplanen, der Dampf entweichen läßt, wenn der maximale Arbeitsdruck überschritten wird. Der Unfall eines explosionsartigen Druckausgleichs kommt niemals zustande, da er durch einen geregelten Druckausgleich verhindert wird. Der eingebaute wunde Punkt wird Sicherheitsventil genannt. Es läßt überschüssigen Druck entweichen.« »Ich verstehe das sehr gut.« »Das Imperium«, fuhr Eldon in seiner Erklärung fort, »kann man sehr gut mit einem enormen Dampfkessel vergleichen, der unter einer Vielzahl verschiedener Drucke steht, hervorgerufen durch Konkurrenz, Rivalitäten, entgegengesetzte Interessen und unzählige weitere unvermeidbare Einflüsse.« »Ich verstehe.« »In der Zwischenzeit fungiert Ihr kriegerisches Volk als Ventil, um überschüssigen Druck abzulassen. Das ist sehr freundlich von euch. Solange ihr eure Aufgabe weiterhin erfüllt, brauchen wir keine Angst vor einer Explosion zu haben.«
»Haben Sie einen Einwand dagegen, daß ich dies meinem Volk mitteile?« »Und Sie lehnen es ab, den Krieg zu beenden?« »Wir können nichts beenden, das wir nicht als erste begonnen haben«, sagte Eldon. »Sehen Sie, wenn Sie sich die Geschichte vergegenwärtigen, werden Sie sehen, daß das Imperium niemals zuerst zugeschlagen hat. Es hat immer gewartet, bis es angegriffen wurde, ehe es einen Gegenangriff startete, vorsichtig und vernünftig, um eure Funktion als ein nötiger Feind nicht zu beeinträchtigen. Aggression ist eure Aufgabe. Wir verspüren keinen Wunsch, euch ihrer zu berauben.« »Das bedeutet, die Initiative liegt bei uns«, stellte Jazan verärgert fest. »Und Sie können uns nicht Ihre Verwendung dafür diktieren – ich werde Sie mit dem Problem des Friedens konfrontieren.« »Wenn Ihr kriegslüsternes Volk Sie lange genug am Leben läßt.« Jazan verschwand geräuschlos. Eldon durchquerte zweimal den Raum, genehmigte sich seinen üblichen Blick aus dem Fenster, dann kehrte er zu seinem Pult zurück. Er wählte einen Knopf aus und sprach zu einer Stimme, die antwortete. »Sanders, die Zeit verrinnt uns für meinen Geschmack zu schnell unter den Fingern. Den Forschungen über die Supraraumgeschwindigkeit muß von nun an größte Priorität zukommen.« Er schwieg, lauschte und sagte dann: »Zum Teufel mit der Ausweitung der Kriegsflotte! Ich sagte größte Priorität!« Der Abgrund war der wirkliche Gegner.
Technischer Bluff Schon seit langer Zeit war die Bustler nicht mehr so still gewesen. Sie lag im sirianischen Raumhafen, die Düsen kalt, die Außenhülle zerschrammt vom Staub des Weltraums, wie ein Marathonläufer am Ziel seiner Rennstrecke. Es gab einen guten Grund dafür: Sie war unversehrt von einer sehr langen Reise zurückgekehrt. Jetzt im Hafen wurde die wohlverdiente Ruhe gewährt, wenn auch nur zwischenzeitlich. Friede, süßer Friede. Kein Ärger mehr, keine Krisen, keine größeren Meinungsverschiedenheiten, keine gefährlichen Situationen, wie sich zweimal täglich im freien Fall zu rasieren. Nur Friede. Ha! Captain McNaught war in seiner Kabine geblieben, er hatte die Füße auf dem Tisch liegen und kostete die Entspannung aufs höchste aus. Die Maschinen waren tot, ihr höllisches Dröhnen verstummt, das erstemal seit Monaten. Draußen, im Gewühl der großen Stadt, vergnügten sich vierhundert Männer seiner Besatzung unter den Strahlen der scheinenden Sonne. Diesen Abend, wenn sein Erster Offizier Gregory zurückkam, um seine Stelle einzunehmen, würde er selbst hinausgehen in das angenehme Zwielicht und sich die neonbeleuchtete Zivilisation ansehen. Das gehörte zu den Schönheiten einer Landung nach einer langen Reise. Die Männer konnten endlich wieder sie selbst sein und überschüssigen Dampf ablassen, jeder auf seine Weise. Keine Pflichten, keine Sorgen, keine Gefahren, keine Verantwortung im
Raumhafen. Ein Paradies der Sicherheit und des Komforts für ermüdete Reisende. Endlich wieder, ha! Burman, der Funkoffizier betrat die Kabine. Er gehörte zu dem halben Dutzend, das an Bord Schicht tun mußte, und trug den Ausdruck eines Mannes zur Schau, der zwanzig bessere Dinge weiß, die er tun könnte. »Dieses Relaissignal ist gerade eingetroffen, Sir.« Er übergab das Papier und wartete darauf, daß der andere es lesen würde. McNaught nahm die Füße vom Tisch, setzte sich aufrecht hin und las die Nachricht laut vor. Terranisches Hauptquartier an die BUSTLER. Verbleiben Sie in Siriusport, bis weitere Befehle eintreffen. Konteradmiral Vane W. Cassidy wird am Siebzehnten eintreffen. Feldman. Amt. Flottencommander. Sek. Sirius. Er blickte auf, jegliche Zufriedenheit war von seinen ledernen Zügen gewichen. »O Gott«, stöhnte er. »Stimmt was nicht?« fragte Burman leicht aufgeschreckt. McNaught deutete auf drei dünne Bücher auf seinem Schreibtisch. »Das mittlere. Seite zwanzig.« Burman blätterte es durch und fand eine Notiz, die besagte: Vane W. Cassidy, K-Ad. Generalinspekteur Schiffe und Ausrüstung. Burman schluckte hart. »Bedeutet das –« »Ja, das tut es«, sagte McNaught freudlos. »Zurück zur Ausbildungsstätte mit all dem Drill. Malen und
Abseifen, Wienern und Polieren.« Er zog eine gestrenge Grimasse und sprach mit verstellter Stimme, um die Wirkung noch zu steigern. »Captain, Sie haben nur siebenhundertneunundneunzig Notfallrationen. Ihr Soll ist aber achthundert. Keine Eintragung in Ihrem Logbuch beschäftigt sich mit der fehlenden. Wo ist sie? Was ist mit ihr geschehen? Wie kommt es, daß einem Ihrer Männer von der offiziellen Ausrüstung ein paar Hosenträger fehlt? Haben Sie diesen Verlust gemeldet?« »Warum bloß hat er uns ausgesucht?« fragte Burman erschrocken. »Er hat noch nie etwas von uns gewollt.« »Eben darum«, informierte ihn McNaught, der finster die Wand musterte. »Jetzt werden wir an den Pranger gestellt.« Sein Blick suchte den Kalender. »Wir haben drei Tage – und die werden wir gewiß brauchen! Sagen Sie dem Zweiten Offizier Pike, er soll sofort zu mir kommen.« Burman verschwand mit knallrotem Kopf. Schon nach kurzer Zeit trat Pike ein. Sein Gesicht bestätigte die alte Redensart, daß schlechte Nachrichten sich rasch verbreiten. »Schreiben Sie einen Anforderungszettel«, befahl McNaught. »Über einhundert Gallonen Plastikfarbe, Marinegrau, beste Qualität. Schreiben Sie einen weiteren über dreißig Gallonen weißen Lack für die Innenräume. Bringen Sie beide unverzüglich zu den Vorratslagern des Hafens. Sagen Sie ihnen, sie sollen es bis heute abend sechs Uhr liefern, zusammen mit der nötigen Anzahl Bürsten und Pinsel. Besorgen Sie jegliches Reinigungsmaterial, dessen Sie habhaft werden können.«
»Den Männern wird das nicht gefallen«, erinnerte Pike mit dünner Stimme. »Ganz im Gegenteil, es wird ihnen sogar sehr gefallen«, korrigierte McNaught. »Ein glänzendes, sauberes Schiff, alles blitzblank, ist gut für die Moral. So behauptet es jedenfalls dieses Buch. Beeilen Sie sich, das Verlangte herbeizuschaffen. Wenn Sie zurückkommen, suchen Sie die Material- und Ausrüstungslisten und bringen Sie sie zu mir. Wir müssen unsere Bestände kontrollieren, bevor Cassidy ankommt. Wenn er erst einmal hier ist, dann haben wir keine Chance mehr, Fehlbestände aufzufüllen oder überzähliges Material wegzuschaffen.« »Sehr wohl, Sir.« Pike ging hinaus, er hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie Burman. McNaught lag zurückgelehnt in seinem Stuhl und murmelte vor sich hin. Er hatte das verdammte Gefühl in den Knochen, daß etwas in letzter Minute einen Knall geben würde. Das Fehlen eines Gegenstandes konnte schlimm genug werden, besonders wenn der Verlust nicht in einem früheren Bericht erwähnt wurde. Ein Überschuß wäre auch schlecht, sehr schlecht. Ersteres hieß Unachtsamkeit oder Unglück. Letzteres bedeutete einen schamlosen Diebstahl von Regierungseigentum unter vom Commander geduldeten Umständen. Zum Beispiel gab es da diesen Fall Williams vom Schweren Kreuzer Swift. Er hatte gerüchteweise in der Nähe von Bootes davon gehört. Williams hatte sich im unerlaubten Besitz von elf Rollen Draht für elektrische Zäune befunden, obwohl seine offizielle Anzahl nur zehn Rollen betrug. Es hatte eines Ge-
richtsverfahrens bedurft, um zu zeigen, daß die übrigen Rollen – die auf einem bestimmten Planeten einen beachtlichen Tauschwert hatten – nicht aus Staatsbeständen gestohlen worden war, oder »an Bord teleportiert«, wie das im Raumfahrerjargon hieß. Trotzdem hatte man Williams einen Verweis erteilt. Das half ihm gewiß nicht, befördert zu werden. Er grübelte noch immer unzufrieden, als Pike zurückkam und einen Ordner voller Kanzleipapier mitbrachte. »Sofort anfangen, Sir?« »Bleibt uns nichts anderes übrig.« Er erhob sich umständlich, in Gedanken winkte er seiner Freizeit und den Neonlichtern zum Abschied zu. »Es wird lange genug dauern, uns vom Bug bis zum Heck durchzuarbeiten. Ich werde die Inspektion der Ausrüstung der Männer bis zuletzt aufheben.« Er marschierte aus der Kabine und schlug die Richtung zum Bug ein. Pike folgte mit nachdenklichem Zögern. Als sie die offene Hauptschleuse passierten, wurden sie von Peaslake gesehen, der sofort die Gangway hochgetrabt kam und hinter ihnen hertrottete. Ein erstklassiges Besatzungsmitglied, er war ein riesiger Hund, dessen Vorfahren mehr Enthusiasmus als Rassebewußtsein an den Tag gelegt hatten. Mit Stolz trug er ein dickes Halsband, auf dem stand: Peaslake – Eigentum des R. S. Bustler. Seine Hauptaufgabe bestand darin, fremde Nagetiere von Bord zu halten, sowie, in seltenen Fällen, Gefahren zu wittern, die die Menschen nicht erkennen konnten. Zu dritt gingen sie weiter, McNaught und Pike mit
den Gesichtern von Männern, die zornig eine Freude hinter der Pflicht zurückstellen müssen, Peaslake freudig bereit zu jedem neuen Spiel, egal welchem. In der Bugkabine angekommen, setzte McNaught sich in den Pilotensitz und nahm den Ordner entgegen. »Sie kennen sich hier besser aus als ich – ich glänze im Kartenraum. Daher werde ich vorlesen, und Sie überprüfen alles.« Er öffnete den Ordner und begann mit der ersten Seite. »K 1. Strahlenkompaß, Typ D, ein Exemplar.« »Klar«, sagte Pike. »K 2. Richtungs- und Entfernungsanzeiger, elektronisch, Typ II, ein Exemplar.« »Klar.« Peaslake legte seinen Kopf in McNaughts Schoß, blinzelte herzerweichend und winselte. Er begann den Standpunkt des anderen zu verstehen. Dieses systematische Katalogisieren und Nachlesen war schon ein recht albernes Spiel. McNaught legte ihm tröstend eine Hand auf den Kopf während er weiter vorlas. »K 187. Polstersitze, Kunststoff, Pilot und Copilot, ein Paar.« »Klar.« Als der Erste Offizier eintraf, hatten sie sich bis zu der kleinen Interkomkammer vorgearbeitet, in deren Halbdunkel sie sich herumschubsten. Peaslake war schon längst aus lauter Ärger verschwunden. »M 24. Ersatzlautsprecher, mikro, sechs Zentimeter, Typ T 2, Set bestehend aus sechs Exemplaren.« »Klar.« Gregory sah herein, riß die Augen auf und fragte: »Was, zum Teufel, ist hier los?« »In Kürze findet eine Generalinspektion statt.« Er
sah auf seine Uhr. »Sehen Sie nach, ob das Vorratslager etwas abgeliefert hat, und wenn nicht, warum nicht. Dann unterstützen Sie mich und gönnen Pike ein paar Stunden Ruhe.« »Bedeutet das, daß der Landurlaub gesperrt ist?« »Darauf können Sie Ihren Kopf verwetten – bis das Donnerwetter wieder vorbei ist.« Er sah Pike an. »Wenn Sie in die Stadt kommen, dann suchen Sie jedes Besatzungsmitglied, das Sie finden können, und schicken es zurück. Keine Ausreden oder Entschuldigungen. Das ist ein Befehl.« Pike schien unglücklich. Gregory funkelte ihn an, ging weg, kam zurück und sagte: »Das Lager wird das Material in zwanzig Minuten hersenden.« Er sah dem verschwindenden Pike böse nach. »M 47. Interkomkabel, geflochten, Draht, drei Trommeln.« »Klar«, sagte Gregory, der sich für seine verfrühte Rückkehr hätte ohrfeigen können. Bis spät in die Nacht arbeiteten sie, und schon frühmorgens nahmen sie ihre Aufgabe wieder auf. Zu dieser Zeit waren dreiviertel der Besatzung hart am Arbeiten, innerhalb und außerhalb des Schiffes, sie erfüllten ihre Aufgaben mit den Mienen von Männern, die die schlimmsten Verbrechen zwar geplant, nicht aber ausgeführt haben. Das Umhergehen in den Gängen und Korridoren mußte nach Krebsart vor sich gehen, mit nervösen Seitenblicken. Einmal mehr wurde bewiesen, daß die terranische Lebensform unter der Angst vor der Verantwortung litt. Der erste Schmierfink hätte zehn Jahre seines unglücklichen Lebens geopfert.
Unter diesen Umständen zeigte es sich am Nachmittag des zweiten Tages, daß McNaughts Gefühl in den Knochen ihn nicht getrogen hatte. Er las die neunte Seite vor, während Jean Blanchard die Anwesenheit und Vollzähligkeit aller aufgeführten Gegenstände nachwies. Im unteren Drittel der Seite aber liefen sie auf ein Riff auf und begannen rasch zu sinken, wenn dieser Vergleich gestattet ist. McNaught sagte gelangweilt: »V 1097 Trinkgefäß, Emaille, ein Stück.« »Is dieses«, sagte Blanchard und berührte es. »V 1098. Bodund, ein Exemplar.« »Quoi?« fragte Blanchard erstaunt. »V 1098. Bodund, ein Exemplar«, wiederholte McNaught. »Nun, stehen Sie nicht da wie vom Donner gerührt. Das ist die Bordküche, und Sie sind der Schiffskoch. Sie wissen, was in der Küche sein müßte, oder nicht. Wo ist dieser Bodund?« »Noch nie von ihm ge'ört«, sagte Blanchard unwillig. »Sie müssen ihn kennen. Dies ist die Ausrüstungsliste, sauber und klar geschrieben. Und sie sagt ›Bodund, ein Exemplar‹. Es war hier, als wir vor vier Jahren übernommen haben. Wir haben es selbst überprüft und dafür unterschrieben.« »Isch 'abe für nischts untärschrieben, was Bodund 'eißt«, widersprach Blanchard. »In dieser Küsche gibt es kein solches Ding.« »Sehen Sie!« McNaught zeigte ihm mit ärgerlicher Grimasse das Papier. Blanchard sah und schniefte verärgert. »Isch 'abe 'ier den elektronischen Ofen. Isch 'abe Dampfkoch-
töpfe. Isch 'abe Bratpfannen, sechs Stück. Aber keinen Bodund. Nie von ihm ge'ört. Ich weis' nischt von iihm.« Er breitete die Arme aus und hob die Schultern. »Er muß hier sein«, beharrte McNaught. »Wenn Cassidy kommt und den Bodund nicht findet, wird er uns die Hölle heiß machen.« »Dann finden Sie iihn«, schlug Blanchard vor. »Sie haben ein Zeugnis von der Internationalen Hotelkochschule. Sie haben ein Zeugnis vom Cordon Bleu Institut für Kochkunst. Sie haben ein Zeugnis mit drei Sternchen von der Nahrungsabteilung der Streitkräfte«, stieß McNaught hervor. »All das – und Sie wissen nicht, was ein Bodund ist?« »Nom d'un chien!« fluchte Blanchard und fuchtelte mit den Armen. »Isch 'abe I'nen schon zehntaus'nd Mal gesagt, 'ier ist kein Bodund, 'ier war noch nie ein Bodund. Auch kein Admiral kann 'ier einen Bodund finden, wenn es 'ier keinen Bodund gibt!« »Es muß sich um einen Teil der Küchenausrüstung handeln«, sagte McNaught. »Einfach deshalb, weil es auf Seite neun aufgeführt ist. Und Seite neun besagt, sein hauptsächlicher Aufenthalt ist in der Küche, unter Aufsicht des Schiffskochs.« »Sum Teufel ist es das«, entgegnete Blanchard. Er deutete auf ein metallenes Kästchen an der Wand. »Interkomempfänger. Ge'ört das mir?« McNaught dachte darüber nach, schließlich gab er zu: »Nein das gehört Burman. Sein Material ist im ganzen Schiff verteilt.« »Dann fragen Sie iihn nach seinem verflixten Bodund«, sagte Blanchard triumphierend. »Das werde ich. Wenn es nicht Ihnen gehört, dann
muß es ein Teil von ihm sein. Aber lassen Sie uns erst die Überprüfung beenden. Wenn ich nicht systematisch und gründlich bin, dann wird Cassidy mir die Hosen mitsamt den Dienstgradabzeichen herunterlassen.« Seine Augen suchten die Liste. »V 1099. Beschriftetes Halsband, Leder, messingverziert, Hund, zum Gebrauch des –. Sie brauchen nicht nachsehen, Blanchard. Ich habe es selbst noch vor fünf Minuten gesehen.« Er hakte den Gegenstand ab und fuhr fort: »V 1100. Schlafkorb, geflochten, ein Exemplar.« »Ist 'ier«, sagte Blanchard und kickte ihn in eine Ecke. »V 1101. Kissen, Schaumgummi, zugehörig zu Schlafkorb, ein Exemplar.« »'älfte davon«, meinte Blanchard. »In vier Ja'ren wird er auch andere 'älfte aufgefressen 'aben.« »Vielleicht läßt Cassidy uns ein neues anfordern. Das macht nichts. Solange wir wenigstens die Hälfte vorzeigen können, kann uns nichts passieren. Das ist alles für hier.« McNaught stand auf und schloß den Ordner. »Nun werde ich wegen dem fehlenden Stück zu Burman gehen.« Burman schaltete einen Kurzwellenempfänger aus, zog den Kopfhörer ab und hob fragend eine Augenbraue. »In der Küche fehlt uns ein Bodund«, erklärte McNaught. »Wo ist er?« »Warum fragen Sie mich das? Die Küche ist Blanchards Revier.« »Nicht ausschließlich. Eine Menge Ihrer Kabel führen hindurch. Sie haben zwei Verteilerkästen unten, ebenso einen automatischen Schalter und einen Inter-
komempfänger. Wo ist der Bodund?« »Nie davon gehört«, gab Burman baff zu. McNaught schäumte. »Erzählen Sie mir das nicht! Das gleiche hat mir Blanchard schon zum Erbrechen gesagt. Vor vier Jahren hatten wir einen Bodund. Dies hier besagt es. Das ist unsere Kopie dessen, was wir untersucht und unterschrieben haben. Deshalb müssen wir einen haben. Wir müssen ihn finden, bevor Cassidy kommt.« »Tut mir leid, Sir«, meinte Burman freundschaftlich. »Ich kann Ihnen nicht helfen.« »Aber Sie können nachdenken«, erklärte McNaught. »Oben im Bug gibt es einen Richtungsund Entfernungsmesser. Wie nennen Sie ihn?« »Ein Tüt-tüt«, sagte Burman geheimnisvoll. »Und«, meinte McNaught weiter, und zeigte auf den Wellenabstrahler, »wie nennen Sie das?« »Den Holterpolter.« »Kindernamen, sehen Sie? Tüt-tüt und Holterpolter. Nun strengen Sie Ihr Gehirn mal etwas an und sagen Sie mir, was vor vier Jahren Bodund genannt wurde.« »Nichts«, versicherte Burman, »wurde jemals Bodund genannt, soweit ich weiß.« »Warum«, entgegnete McNaught, »bei den blauen Flammen, haben wir dann dafür unterschrieben?« »Ich habe für nichts unterschrieben. Sie haben alle Unterschriften gegeben.« »Während Sie und andere überprüft haben. Vor vier Jahren, wahrscheinlich in der Küche, habe ich gesagt ›Ein Bodund‹, und entweder Sie oder Blanchard haben darauf gezeigt und gesagt ›Klar‹. Ich habe mich auf Ihr Wort verlassen. Ich muß mich auf die
Worte anderer Spezialisten verlassen können. Ich bin ein Experte für Navigation, vertraut mit allen Arten navigatorischer Geräte, aber mit keinen anderen. Daher bin ich gezwungen, mich auf Leute zu verlassen, die wissen, was ein Bodund ist, oder es wissen sollten.« Burman hatte eine zündende Idee. »Die seltsamsten Dinge wurden in der Luftschleuse, im Korridor oder in der Küche gestapelt, als wir übernommen haben. Wir mußten uns durch eine Menge Gerümpel durcharbeiten und es dort verstauen, wo es wahrscheinlich hingehörte, erinnern Sie sich? Dieses Bodund-Ding kann heute überall sein. Es gehört nicht unbedingt in meinen oder Blanchards Verantwortungsbereich.« »Ich werde mich erkundigen, was die anderen Offiziere dazu zu sagen haben«, stimmte McNaught zu, der das einsah. »Gregory, Worth oder Sanderson oder einer der anderen könnten den Gegenstand ebenfalls haben. Aber wo immer er auch ist, wir müssen ihn finden.« Er ging hinaus. Burman schnitt eine Grimasse, zog den Kopfhörer wieder auf und setzte das Herumspielen an seinem Gerät fort. Eine Stunde später kam McNaught wieder, mit heftig gerunzelter Stirn. »Definitiv«, sagte er ärgerlich. »Es gibt keinen solchen Gegenstand auf dem Schiff. Niemand weiß etwas davon. Niemand kann sich etwas darunter vorstellen.« »Haken Sie es ab und melden Sie es als verloren«, schlug Burman vor. »Jetzt, wo wir uns auf festem Boden befinden? Sie wissen ebensogut wie ich, daß ein Verlust oder eine Beschädigung sofort gemeldet werden muß, wenn sie
eintritt. Wenn ich den Bodund bei Cassidy als Verlust melde, dann will er sofort wissen, wann, wo, wie, und vor allem, warum ich den Verlust nicht sofort gemeldet habe. Der Ärger geht aber erst richtig los, wenn sich herausstellt, daß das Ding eine halbe Million Kredit wert ist. Ich kann das nicht mit einer Handbewegung abtun.« »Was für ein Ausweg bleibt also?« fragte Burman, der geradewegs in die Falle hineintappte. »Es gibt nur einen einzigen«, gab McNaught bekannt. »Sie werden einen Bodund herstellen.« »Wer? Ich?« fragte Burman und raufte sich die Haare. »Sie und kein anderer. Ich bin mir noch immer sicher, daß es sich um einen Ihrer Gegenstände handelt.« »Warum?« »Weil es ein typischer Kosename ist, wie er für Ihre Art Ausrüstung gebräuchlich ist. Ich wette ein Monatsgehalt, daß ein Bodund eine Art technischer Kosename ist. Vielleicht hat es etwas mit Nebel zu tun, vielleicht eine Art Anflugtaster für Blindflug.« »Der Blindflugtaster heißt ›Fummler‹«, entgegnete Burman. »Da haben wir es!« sagte McNaught, als wäre damit das Thema erledigt. »Daher werden Sie einen Bodund herstellen. Er wird bis morgen abend sechs Uhr fertig und zu meiner Inspektion bereit sein. Es ist besser für Sie, wenn er mich zufriedenstellt, oder mehr noch, erfreut.« Burman stand auf, ließ seine Hände schlaff herunterbaumeln und sagte heiser: »Wie zum Teufel soll ich einen Bodund machen, wenn ich keine Ahnung
habe, was das überhaupt ist?« »Cassidy weiß das ebensowenig«, fuhr McNaught ihn an. »Alles, was er macht, ist die Anzahl zu überprüfen. Er sieht sich die Dinge kurz an, zählt sie, bescheinigt, daß sie da sind und nimmt Meldungen entgegen, daß sie entweder funktionieren oder ausgesondert sind. Alles, was wir tun müssen, ist einen beeindruckenden Bluff präsentieren, und ihm sagen, das wäre der Bodund.« »Heiliger Moses!« sagte Burman heftig. »Wir wollen uns nicht auf die unsichere Hilfe biblischer Gestalten verlassen«, entgegnete McNaught. »Benutzen wir die Gehirne, die Gott uns gegeben hat. Sortieren Sie ihr Altmetall durch und stellen Sie mir einen tipptopp Bodund her, und zwar bis morgen abend sechs Uhr. Das ist ein Befehl.« Konteradimiral Vane W. Cassidy kam pünktlich auf die Minute an. Er war ein kurzer, bäuchiger Typ mit rosiger Gesichtsfarbe und Augen wie ein schon lange toter Fisch. Seine Gangart war die eines gespreizt aufgeplusterten Gecken. »Ah, Captain, ich nehme an, Sie haben alles tipptopp.« »Alles ist in Ordnung«, versicherte McNaught. »Dazu stehe ich.« »Gut!« Cassidy nickte beifällig. »Ich mag Captains, die ihre Verantwortung ernst nehmen. Sosehr es mir auch leid tut, das sagen zu müssen, es gibt viele Captains, die das nicht tun.« Er stolzierte durch die Hauptschleuse, seine Fischaugen erfaßten das frische, weiße Emaille. »Wo sollen wir beginnen, Bug oder Heck?«
»Meine Ausrüstungsunterlagen beginnen im Bug. Wir können alles der Reihe nach von dort aus durchgehen.« »Sehr gut.« Er stapfte aufgeplustert dem Bug entgegen, hielt unterwegs an, um Peaslake zu tätscheln, wobei er dessen Halsband untersuchte. »Sie haben gut darauf geachtet, wie ich sehe. Hat sich das Tier als nützlich erwiesen?« »Er hat auf Mardia eine Warnung gebellt und dadurch fünf Menschenleben gerettet.« »Die Details sind in Ihr Logbuch eingetragen, vermute ich?« »Ja, Sir, das Log ist im Kartenraum, bereit zu Ihrer Inspektion.« »Wir werden uns zu gegebener Zeit darum kümmern.« In der Bugkabine angekommen, setzte Cassidy sich, nahm den Ordner von McNaught entgegen und begann mit geschäftiger Miene. »K 1. Strahlenkompaß, Typ D, ein Exemplar.« »Das ist er, Sir«, sagte McNulty und zeigte das Gerät. »Arbeitet er noch einwandfrei?« »Ja, Sir.« Sie machten weiter, kamen in die Interkomkammer, den Computerraum und eine Menge anderer Orte, bis hin zur Küche. Dort stand Blanchard in frisch gebügelter weißer Kleidung und betrachtete den Neuankömmling unbehaglich. »V 147. Elektronikofen, ein Exemplar.« »Ist 'ier«, sagte Blanchard und deutete ärgerlich darauf. »Zufriedenstellend?« fragte Cassidy. »Nischt groos genug«, nörgelte Blanchard. Er deu-
tete mit einer eindrucksvollen Geste auf die Küche als Ganzes. »Nichs is groos genug. Viel zu wenig Platz. Alles is' su klein. Isch bin Küschenschef, aber is' Küche wie Rumpelkammer.« »Dies ist ein Kriegsschiff und kein Luxusraumer«, fuhr Cassidy ihn an. Stirnrunzelnd beugte er sich wieder über die Liste. »V 148. Zeiteinstelluhr, elektronischer Ofen, dort angebracht.« »Is' dies«, fauchte Blanchard, bereit, das Gerät durch die nächste Luftschleuse zu werfen, sollte Cassidy auch noch die beiden Zeiger namentlich aufführen. Cassidy leierte die Liste herunter, während sich allmählich eine nervöse Spannung aufbaute. Dann kam er zu dem kritischen Punkt und sagte: »V 1098. Bodund, ein Exemplar.« »Morbleu!« sagte Blanchard, seine Augen versprühten kleine Blitze gegen den anderen. »Isch 'abe gesagt zuvor, isch sage wieder, 'ier 'at es noch niemals einen –« »Der Bodund ist im Funkraum, Sir«, unterbrach McNaught ihn hastig. »Wirklich?« Cassidy bedachte das Papier mit einem näheren Blick. »Warum ist er aber dann zusammen mit der Küchenausrüstung aufgeführt?« »Zur Zeit der Übernahme befand das Gerät sich in der Küche, Sir. Es handelt sich um einen jener tragbaren Ausrüstungsgegenstände, deren Standort uns überlassen bleibt.« »Hmhm! Dann hätte es in die Liste des Funkraums übernommen werden müssen. Warum ist das nicht geschehen?«
»Ich hielt es für besser, Ihre Entscheidung abzuwarten, Sir.« Die Fischaugen blickten geschmeichelt. »Ja, das war sehr klug von Ihnen, Captain. Ich werde es unverzüglich übertragen.« Er strich das Stück auf Seite neun aus, signierte die Streichung, übertrug es auf die Seite sechzehn und unterzeichnete dort wieder. »V 1099. Beschriftetes Lederhalsband... oh, ja, das habe ich gesehen. Der Hund hatte es an.« Er hakte es ab. Eine Stunde später betrat er den Funkraum. Burman sprang auf und straffte die Schultern, doch die nervösen Bewegungen seiner Finger konnte er nicht verbergen. Seine Augen blinzelten unmerklich, und sein Blick glitt zu McNaught, wie in stummem Flehen. Er sah aus wie ein Mann, der einen Igel in seiner Hose hat. »V 1098. Bodund, ein Exemplar«, sagte Cassidy mit seinem üblichen Ton, der keinen Unsinn zuließ. Burman bewegte sich mit der Unbeholfenheit eines leicht beschädigten Roboters, er brachte einen kleinen Kasten zum Vorschein, an dessen Vorderseite Skalen, Knöpfe und Lichter angebracht waren. Es sah aus wie die bildgewordene Vorstellung eines Funkers von einem Entsafter. Er drückte eine Reihe von Schaltern, woraufhin die Lichter unterschiedlich zu blinken begannen. »Dies ist er, Sir«, erklärte er stockend. »Ah!« Cassidy verließ seinen Stuhl, um das Ding näher in Augenschein zu nehmen. »Ich erinnere mich nicht, so etwas schon früher einmal gesehen zu haben. Aber es gibt ja so viele verschiedene Ausführungen eines Gegenstandes. Arbeitet er noch zufriedenstellend?«
»Ja, Sir.« »Es ist eines der nützlichsten Dinge an Bord«, erklärte McNaught, um das Maß voll zu machen. »Wie arbeitet er denn?« erkundigte sich Cassidy, um Burman die Möglichkeit zu geben, eine Perle aus seinem Erfahrungsschatz preiszugeben. Burman erbleichte. McNaught ergriff hastig das Wort. »Eine vollständige Erklärung wäre zu kompliziert und technisch, aber, um es in einfachen Worten zu sagen, es ermöglicht uns einen Ausgleich zwischen einander entgegengesetzten Gravitationsfeldern. Der Wechsel der Lichtzeichen zeigt eine Unausgeglichenheit zu jeder beliebigen Zeit an.« »Das ist eine ausgezeichnete Idee«, fügte Burman, durch den Wechsel der Ereignisse ermutigt, hinzu. »Er basiert auf der Finagleschen Konstante.« »Ich verstehe«, sagte Cassidy, der nichts verstand. Er ging zu seinem Sitz zurück, hakte den Bodund ab und fuhr fort. »Z 44. Bedienungstafel, automatisch, für Vierzig-Spur-Interkom, ein Exemplar.« »Hier ist es, Sir.« Cassidy betrachtete es und senkte seinen Blick wieder in das Buch. Die anderen benutzten diesen Augenblick momentaner Unachtsamkeit, um sich den Schweiß von den Stirnen zu wischen. Der Sieg war errungen. Alles war in Ordnung. Zum drittenmal: Ha! Konteradimiral Vane W. Cassidy verabschiedete sich freundlich und mit Komplimenten. Innerhalb einer Stunde verschwand die Mannschaft in die Stadt. McNaught erfreute sich zusammen mit Gregory an
den bunten Neonlichtern. In den kommenden fünf Tagen sollte Friede und Eintracht herrschen. Am sechsten Tag brachte Burman eine Depesche herein, warf sie auf McNaughts Schreibtisch und wartete auf eine Reaktion. Es umgab ihn eine Selbstzufriedenheit, die auf die Würdigung seiner Arbeit zurückzuführen war. Terranisches Hauptquartier an die BUSTLER. Kehren Sie unverzüglich zurück zur Überholung und Neuaufrüstung. Verbesserte Triebwerksanlage wird eingebaut. Feldman. Amt. Flottencommander. Sek. Sirius. »Zurück nach Terra«, kommentierte McNaught glücklich. »Und ein Überholen heißt mindestens vier Wochen Heimaturlaub.« Er sah Burman an. »Sagen Sie den diensttuenden Offizieren, sie sollen wieder in die Stadt gehen und die Mannschaft zusammentrommeln. Die Männer werden gerannt kommen, wenn sie erfahren, warum.« »Ja, Sir«, sagte Burman grinsend. Alle grinsten noch immer zwei Wochen später, als der sirianische Raumhafen weit hinter ihnen lag und Sol zu einem vagen Fleck in dem funkelnden Sternenfeld geworden war. Noch immer elf Wochen zu fliegen, aber das war die Sache wert. Zurück nach Terra. Hurra! In der Kabine des Captains verschwand das Grinsen abrupt von den Gesichtern, als Burman plötzlich kalte Füße bekam. Er marschierte in die Chefunterkunft, nagte nervös an seiner Unterlippe und wartete, bis McNaught seine Eintragung im Log beendet hatte. Endlich legte McNaught das Buch beiseite, sah auf
und runzelte die Stirn. »Was ist los? Haben Sie Bauchweh oder so etwas?« »Nein, Sir. Ich habe nachgedacht.« »Und, tut das so weh?« »Ich habe nachgedacht«, beharrte Burman mit Grabesstimme. »Wir fliegen zurück zum Überholen. Sie wissen, was das bedeutet? Wir verlassen das Schiff, und eine Horde Experten wird es betreten.« Mit tragischer Miene musterte er den anderen. »Experten, sagte ich.« »Natürlich wird es sich um Experten handeln«, stimmte McNaught zu. »Die Ausrüstung kann nicht von Schwachköpfen getestet und aufgemöbelt werden.« »Es wird mehr als einen Experten brauchen, um den Bodund zu überholen«, deutete Burman an. »Dazu wird ein Genie nötig sein.« McNaught fiel zurück, sein Ausdruck veränderte sich, als hätte er eine Maske gewechselt. »Heiliger Strohsack! Ich habe dieses Ding völlig vergessen! Wenn wir nach Terra kommen, wird es uns kaum gelingen, die Wissenschaftler damit hinters Licht zu führen.« »Nein, Sir«, entgegnete Burman. Er fügte nichts mehr hinzu, doch sein Gesicht sagte genug. »Sie haben mich da hineingezogen. Nun holen Sie mich auch wieder heraus.« Er wartete geraume Zeit, während McNaught angestrengt nachdachte, dann sagte er: »Was schlagen Sie vor, Sir?« Langsam kehrte das zufriedene Lächeln in McNaughts Gesicht zurück, als er antwortete. »Nehmen Sie das Ding und werfen Sie es in den Müllschlucker.«
»Das wird das Problem nicht lösen«, entgegnete Burman. »Der Bodund wird uns dann noch immer fehlen.« »Nein, das wird er nicht. Denn ich werde den Verlust unverzüglich an die Raumbehörden weitermelden.« Er schloß ein Auge zu einem vertraulichen Blinzeln. »Wir befinden uns im freien Fall.« Er griff nach dem Meldeblock und kritzelte etwas drauf, während Burman, nur zum Teil beruhigt, wartete. BUSTLER an das Terranische Hauptquartier. Ausrüstungsgegenstand V 1098, Bodund, unter Gravitationseinfluß beim Passieren der Doppelsonne Hektor Alpha und Beta explodiert. Überreste als Treibstoff verwendet. McNaught, Commander. BUSTLER. Burman nahm den Schrieb mit zum Funkraum und strahlte ihn zur Erde ab. In den nächsten beiden Tagen war alles wieder friedlich und in Ordnung. Als er das nächstemal in die Kabine des Captains kam, rannte er. »Allgemeiner Rundruf, Sir«, rief er außer Atem und drückte dem anderen die Nachricht in die Hand. Terranisches Hauptquartier, zur Weiterübermittlung an alle Stationen. Dringend und wichtig. Alle gelandeten Schiffe verbleiben im Standort. Schiffe, die in offiziellem Auftrag unterwegs sind, suchen unverzüglich den nächsten Raumhafen auf und warten auf weitere Befehle. Welling. Alarmierungs- und Rettungskommando. Terra. »Was Größeres passiert«, meinte McNaught leichthin. Er ging in den Kartenraum. Burman folgte. Er über-
flog die Karten, dann griff er nach dem Interkom und erwischte Pike im Bug, dem er befahl: »Es ist eine Panik ausgebrochen. Alle Schiffe müssen landen. Wir müssen den Zaxted-Raumhafen anfliegen, der drei Tage entfernt ist. Siebzehn Grad Steuerbord, Neigung zehn.« Er unterbrach und fügte hinzu: »Futsch ist er, der schöne Monat auf Terra. Dabei habe ich Zaxted noch nie gemocht. Mist. Die Mannschaft wird einen schönen Haß haben, und ich kann es ihnen nicht verübeln.« »Was, glauben Sie, ist vorgefallen, Sir?« fragte Burman. »Das weiß der Himmel. Der letzte Rundruf erging vor sieben Jahren, als die Starider auf halber Strecke zum Mars explodierte. Sie ließen jedes Schiff landen, während sie den Fall untersuchten.« Er rieb sich das Kinn, zögerte und sprach dann weiter. »Und der Ruf davor erging, als die ganze Mannschaft der Blowgun verrückt wurde. Was auch immer es diesmal ist, Sie können sicher sein, es ist ernst.« »Könnte es der Beginn eines Weltraumkrieges sein?« »Gegen wen?« McNaught machte eine verneinende Geste. »Niemand verfügt über Schiffe, mit denen er uns entgegentreten könnte. Nein, es muß etwas Technisches sein. Vielleicht können wir etwas daraus lernen. Sie werden's uns schon sagen, ehe wir Zaxted erreichen, spätestens kurz danach.« Sie sagten es ihnen. Nach sechs Stunden kam Burman erneut hereingerannt, das nackte Entsetzen im Gesicht. »Was ist denn nun schon wieder mit Ihnen los?« fragte McNaught und starrte ihn an.
»Der Bodund«, stotterte Burman. Er gestikulierte, als fange er unsichtbare Schmetterlinge. »Was ist damit?« »Das war nur ein Schreibfehler. In Ihrer Liste müßte es heißen ›Bordhund‹.« »Bordhund?« sagte McNaught mit einer Stimme, als habe er ein heißes Ei im Mund. »Sehen Sie selbst.« Er warf den Zettel auf den Tisch und rannte hinaus, die Tür schwang heftig hinter ihm. McNaught sah ihm stirnrunzelnd nach und las die Nachricht. Terranisches Hauptquartier an BUSTLER. Betrifft Ihren Bericht über V 1098, Bordhund Peaslake. Erläutern Sie die näheren Umstände und Gegebenheiten, unter denen das Tier unter Gravitationseinfluß explodierte. Verhören Sie die Besatzung und melden Sie alle außergewöhnlichen Symptome, die die Mannschaft in diesem Augenblick fühlte. Dringend und wichtig. Welling. Alarmierungs- und Rettungskommando. Terra. In der Abgeschiedenheit seiner Kabine begann McNaught, auf seinen Fingernägeln zu kauen. Hin und wieder schielte er etwas, als er sich vergewisserte, daß er noch nicht in das Fleisch der Finger biß.
Des Menschen bester Freund Morfad saß mittschiffs in der Kabine und starrte düster zur gegenüberliegenden Wand. Er war besorgt, diese Tatsache konnte er nicht verbergen. Die ganze augenblickliche Situation entsprach auf frustrierende Weise einer Rattenfalle. Man konnte ihr nur mit der vereinten Hilfe aller anderen Ratten entkommen. Aber die anderen würden nur schwerlich einen Finger, zu seinen oder ihrer aller Gunsten, bewegen. Dessen war er sich sicher. Wie kann man jemanden dazu bringen, aus einem Schlamassel herauszukommen, wenn man ihn nicht überzeugen kann, daß er bis zum Hals drinsteckt? Eine Ratte rennt nur deshalb in ihrer Fall herum, weil sie sich ihrer grimmig bewußt ist. Solange sie von der Tatsache, gefangen zu sein, nichts weiß, tut sie auch nichts. Auf dieser verdammten Welt hatten eine Unmenge Fremder in ihrer ganzen Geschichte nichts getan. Und fünfzig skeptische Altairaner konnten schwerlich etwas ausrichten, wo dreitausend Millionen Terraner versagt hatten. Er saß noch immer da, als Haraka hereinkam und ihm mitteilte: »Wir starten bei Sonnenuntergang.« Morfad sagte nichts. »Es tut mir leid, zu gehen«, fügte Haraka hinzu. Er war der Captain des Schiffes, ein großes, bulliges Exemplar altairanischen Lebens. Er rieb seine beweglichen Finger gegeneinander und sprach weiter. »Wir hatten Glück, diesen Planeten zu entdecken, großes Glück sogar. Wir wurden zu Blutsbrüdern einer Lebensform, deren Intelligenzstand dem unsrigen ent-
spricht, sie bereisen das All wie wir und sind friedlich und kooperativ.« Morfad sagte nichts. »Der Empfang, den man uns bereitete, war überaus herzlich«, fuhr Haraka enthusiastisch fort. »Unser Volk wird hocherfreut sein, wenn es unseren Bericht hört. Vor uns liegt eine große Zukunft, daran gibt es keinen Zweifel. Eine terranisch-altairanische Allianz wird unschlagbar sein. Gemeinsam können wir die gesamte Galaxis erobern und unter uns aufteilen.« Morfad sagte nichts. Harakas Enthusiasmus verschwand, er blickte den anderen stirnrunzelnd an. »Was ist los mit Ihnen? Kummer?« »Ich bin nicht übermäßig glücklich.« »Das sehe ich sehr wohl. Ihr Gesicht erinnert an einen sehr verärgerten Shamsid auf einem alten, verkümmerten Busch. Und das in der Stunde des Triumphs. Sind Sie krank?« »Nein.« Morfad drehte sich langsam um und sah ihm genau in die Augen. »Glauben Sie an psionische Fähigkeiten?« Haraka reagierte, als hätte man ihn mit Eiswasser übergossen. »Nun, ich weiß nicht. Ich bin ein Captain, ein ausgebildeter Navigator, und als solcher kann ich nicht behaupten, ein Fachmann für außergewöhnliche Fähigkeiten zu sein. Sie fragen mich etwas, das ich Ihnen nicht beantworten kann. Wie steht es mit Ihnen? Glauben Sie daran?« »Das tue ich – jetzt.« »Jetzt? Wieso jetzt?« »Ich bin dazu gezwungen.« Morfad zögerte und sprach dann mit einem Anflug von Verzweiflung
weiter. »Ich habe festgestellt, daß ich ein Telepath bin.« Haraka musterte ihn mit leichtem Unglauben und sagte: »Sie haben es festgestellt? Sie meinen, es ist plötzlich über Sie gekommen?« »Ja.« »Seit wann?« »Seit wir auf Terra angekommen sind.« »Ich verstehe das nicht ganz«, meinte Haraka unsicher. »Sie wollen also sagen, irgend etwas in Terras Umgebung hat Sie in die Lage versetzt, meine Gedanken zu lesen?« »Nein. Ich kann Ihre Gedanken nicht lesen.« »Aber Sie haben doch gerade gesagt, Sie wären ein Telepath geworden.« »Das bin ich auch. Ich kann Gedanken so deutlich verstehen, als wären die Worte laut ausgesprochen worden. Aber nicht Ihre Gedanken oder die eines anderen Mannschaftsmitglieds.« Haraka beugte sich mit angespanntem Gesicht nach vorn. »Aha, Sie haben terranische Gedanken gelesen, eh? Und was Sie da erfahren haben, hat Sie beunruhigt. Morfad, ich bin Ihr Captain, Ihr Commander. Es ist Ihre heilige Pflicht, mir alles Verdächtige über diese Terraner zu sagen.« Er wartete einen Augenblick, bevor er ungeduldig hervorstieß: »Kommen Sie schon, sprechen Sie!« »Ich weiß nicht mehr über diese Humanoiden als Sie auch«, sagte Morfad. »Ich habe jeden Grund anzunehmen, daß sie zuvorkommend und freundlich sind, aber ich weiß nicht, was sie denken.« »Bei den Sternen, Mann, Sie –«
»Wir reden aneinander vorbei«, unterbrach ihn Morfad. »Ob ich die Gedanken eines Terraners lesen kann oder nicht, das hängt allein davon ab, was man unter einem Terraner versteht.« »Also«, sagte Haraka geduldig. »Wessen Gedanken lesen Sie?« Morfad wappnete sich innerlich und sagte leichthin. »Die von terranischen Hunden.« »Hunden?« Haraka fuhr zurück und starrte ihn an. »Hunden? Ist das Ihr Ernst?« »Ich war noch nie ernster. Ich kann Hunde hören und nichts anderes. Fragen Sie mich nicht nach dem Warum, ich weiß es nicht. Eine Laune des Schicksals.« »Und Sie haben deren Gedanken gelesen, schon seit wir auf der Erde sind?« »Ja.« »Was haben Sie gehört?« »Die Juwelen eines fremden Wissens wurden vor mir ausgeschüttet«, erklärte Morfad. »Und je länger ich sie betrachte, desto höllischer erschrecken sie mich.« »Versuchen Sie, mich auch mit einigen Beispielen zu erschrecken«, forderte Haraka, der ein Lächeln unterdrückte, ihn auf. »Zitat: Herausragendes Beispiel für Intelligenz ist die Möglichkeit, ein Leben der Freude zu leben, ohne zu arbeiten«, zitierte Morfad. »Zitat: Die Art Vergeltung zu üben ist am effektivsten, wenn diese vor jedem Argwohn verborgen werden kann. Zitat: Die schärfste, subtilste und effektivste Waffe im ganzen Kosmos ist die Einschmeichelung.« »Uh?«
»Zitat: Wenn ein Wesen denken kann, dann denkt es gern, es wäre Gott – behandle es wie einen Gott, und es wird zu deinem willigen Sklaven werden.« »Oh, nein!« stöhnte Haraka. »Oh, ja!« beharrte Morfad. Er winkte mit einer Hand zur nahegelegenen Luke. »Dort draußen gibt es dreitausend Millionen kleiner Götter. Sie sind unaufhörlich umgeben, umschmeichelt und angehimmelt von verehrenden Augen. Götter sind sehr gnädig denen gegenüber, die sie verehren.« Er gab einen speienden Laut von sich, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Die Liebenden wissen es – Liebe kostet nichts.« Haraka sagte unbehaglich: »Ich glaube, Sie sind verrückt.« »Zitat: Um erfolgreich zu herrschen, dürfen die Beherrschten dessen nicht gewahr werden.« Wieder das speiende Geräusch. »Ist das verrückt? Ich glaube nicht. Es ergibt einen Sinn. Es funktioniert. Es funktioniert dort draußen.« »Aber –« »Sehen Sie sich das an.« Er warf Haraka einen kleinen Gegenstand zu. »Erkennen Sie es?« »Ja, hier nennt man es ›Keks‹.« »Korrekt. Um das herzustellen, bearbeiten die Terraner ihre Felder bei jedem Wetter, ob Regen, Wind oder Sonnenschein, säen und ernten den Ertrag mit riesigen Maschinen, die andere Terraner im Schweiß ihres Angesichts gebaut haben. Sie transportieren den Weizen, lagern ihn, mahlen ihn, reichern das Mehl durch verschiedene Prozesse an, backen es, packen es zusammen und verschiffen es über die ganze Welt. Wenn ein Mensch einen Keks will, dann sind dazu
Stunden härtester Arbeit nötig, um ihn zu bekommen.« »Was –« »Wenn ein Hund einen will, dann setzt er sich hin, hebt seine Vorderpfoten und verehrt seinen Gott. Das ist alles. Nur das.« »Aber, verdammt, Hunde sind doch relativ unintelligent.« »So scheint es zumindest«, sagte Morfad trocken. »Sie können nichts wirklich Effektives tun.« »Das hängt davon ab, was man als effektiv betrachtet.« »Sie haben keine Hände.« »Brauchen sie auch nicht – sie haben Gehirne.« »Sehen Sie mal«, erklärte Haraka mit offenem Ärger. »Wir Altairaner haben Raumschiffe erfunden und gebaut, die in der Lage sind, den Weltraum zwischen den Sternen zu durchdringen. Die Terraner haben das auch getan. Die terranischen Hunde haben es nicht getan und werden es auch in den nächsten Jahrmillionen nicht tun. Wenn ein Hund das Gehirn und die Möglichkeit hat, zu einem anderen Planeten zu reisen, dann verzehre ich meine Mütze.« »Damit können Sie unverzüglich anfangen«, schlug Morfad vor. »Wir haben zwei Hunde an Bord.« Haraka grunzte verächtlich. »Die Terraner haben sie uns als ein Geschenk gegeben.« »Sicher, das haben sie getan – aber auf wessen Geheiß?« »Es war eine spontane Geste.« »War es das?« »Wollen Sie etwa sagen, die Hunde hätten ihnen diese Idee eingegeben?« fragte Haraka.
»Ich weiß, daß sie es getan haben«, entgegnete Morfad, der grimmig dreinschaute. »Und man hat uns nicht zwei Männchen oder zwei Weibchen gegeben. Oh, nein, Sir, ganz und gar nicht. Ein Männchen und ein Weibchen. Die Überbringer sagten, wir könnten sie züchten. So kann auch in kürzester Zeit unsere eigene Welt erleuchtet werden mit der unsterblichen Liebe des besten Freundes des Menschen.« »Unsinn!« sagte Haraka. Morfad gab zurück: »Sie glauben noch immer an die alte, überholte Idee, daß eine Invasion von Aggression begleitet sein muß. Aber eine völlig fremdartige Spezies kann auch völlig fremdartige Wege gehen, können Sie das nicht verstehen? Es liegt nicht in ihrer Möglichkeit, uns mit Kriegsschiffen, Gewehren und einem riesen Tohuwabohu zu überrennen. Aber es liegt in ihrer Möglichkeit und in ihrer Natur, heranzukriechen, ihre Augen glänzend vor Heldenverehrung. Wenn wir uns nicht in acht nehmen, dann werden wir bald von einer Herde liebender Krieger regiert.« »Ich glaube, ich bin in der Lage, ein beschreibendes Wort für Ihren Geisteszustand zu erfinden«, sagte Haraka. »Sie leiden an Kaniphobie.« »Aus guten Gründen.« »Aus eingebildeten Gründen.« »Gestern habe ich mir einen Schönheitssalon für Hunde angesehen. Wer hat sie gebadet, einbalsamiert, gepudert und gestriegelt? Waren das andere Hunde? Hah! Weibliche Menschen haben sich eiligst um sie gekümmert. Ist das Einbildung?« »Das kann man als terranische Exzentrität bezeich-
nen. Das hat keine Bedeutung. Auch wir haben seltsame Bräuche.« »Damit sind Sie beim Thema«, stimmte Morfad zu. »Und ich kenne auch einen von Ihnen. Ebenso wie die gesamte Besatzung.« Haraka kniff die Augen zusammen. »Sie können es ruhig aussprechen. Es macht mir nichts aus wie andere mich sehen.« »Nun gut. Sie haben mich darum gebeten. Sie halten sehr viel von Kashim. Er hat immer Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie hören selbst dann noch auf seinen Rat, wenn Sie auf keinen anderen mehr hören. Alles, was er sagt, klingt vernünftig – für Sie.« »Sie sind also eifersüchtig auf Kashim, eh?« »Nicht im geringsten«, versicherte Morfad. »Ich verabscheue ihn, aus den gleichen Gründen, aus denen ihn alle anderen auch verabscheuen. Er ist ein perfekter Schleimbeutel. Er verbringt die meiste Zeit damit, um Sie herumzukriechen, Ihnen zu schmeicheln und Ihr Selbstgefühl zu polieren. Er ist von Natur aus ein Kriecher, der Ihnen die gleiche Aufmerksamkeit entgegenbringt wie ein terranischer Hund. Und das gefällt Ihnen. Sie sonnen sich darin. Es möbelt Sie auf wie eine Droge, gegen die es kein Mittel gibt. Es funktioniert – und erzählen Sie mir nicht, es funktioniert nicht, denn jeder von uns weiß, daß es das tut.« »Ich bin kein Narr. Ich bin mir über Kashims Verhalten durchaus im klaren. Er umschmeichelt mich nicht in dem Ausmaß, wie Sie es vermuten.« »Dreitausend Millionen Terraner sind sich über das Verhalten von vierhundert Millionen Hunden im klaren, und kein Terraner glaubt, daß ein Hund Einfluß
haben könnte auf eine Sache, die auch nur einen Pfifferling wert ist.« »Ich glaube das nicht.« »Natürlich nicht. Ich hatte auch nur wenig Hoffnung. Morfad erzählt Ihnen diese Dinge, und Morfad ist entweder verrückt oder ein Lügner. Aber wenn Kashim Ihnen das erzählen würde, während er vor Ihrem Thron im Staube liegt, dann würden Sie seinen Worten glauben, voll und ganz. Kashim hat den Verstand eines Terrahundes und benutzt die Logik eines Terrahundes, verstehen Sie?« »Mein Unglaube beruht auf einer solideren Grundlage.« »Zum Beispiel?« erkundigte Morfad sich. »Einige Terraner sind selbst telepathisch. Es scheint mir sehr unwahrscheinlich, daß ihnen die heimliche Regierung der Hunde entgangen sein soll. Wüßten sie es, kein Hund wäre auf diesem Planeten mehr am Leben.« Haraka schwieg, um dann seine Schlußfolgerung zu präsentieren. »Sie wissen es nicht.« »Die terranischen Telepathen können die Gedanken ihrer eigenen Artgenossen verstehen, aber nicht die von Hunden. Ich dagegen höre die Gedanken von Hunden und keiner anderen Rasse. Wie ich schon gesagt habe, ich habe keine Ahnung, warum. Ich weiß lediglich, daß es so ist.« »Das scheint mir unsinnig zu sein.« »Klar. Ich glaube, man kann Ihnen wohl keinen Vorwurf aus Ihrer Einstellung machen. Meine Position ist schwierig; ich scheine der einzige Hörende in einer Welt voller Tauber zu sein.« Haraka dachte darüber nach und sagte nach einer Weile: »Nehmen wir einmal an, ich würde alles, was
Sie mir gesagt haben, für bare Münze nehmen, was sollte ich Ihrer Meinung nach denn tun?« »Die Hunde wieder zurückgeben«, entgegnete Morfad sofort. »Das ist leichter gesagt als getan. Gute Beziehungen mit den Terranern sind sehr wichtig. Wie kann ich ein großzügiges Geschenk ablehnen, ohne die Überbringer zu beleidigen?« »Also gut, weisen Sie es nicht zurück. Bitten Sie lediglich um einen Austausch. Verlangen Sie zwei weibliche oder zwei männliche Hunde. Erzählen Sie ihnen etwas von einem altairanischen Gesetz, das die Einfuhr von Tieren untersagt, die sich natürlich fortpflanzen können.« »Das kann ich nicht. Dazu ist es zu spät. Wir haben die Tiere bereits angenommen und unseren Dank ausgedrückt. Außerdem ist die Möglichkeit der Fortpflanzung ein wesentlicher Teil des Geschenks. Sie haben uns eine neue Spezies geschenkt, eine ganze Hunderasse.« »Sie sagen es!« stimmte Morfad zu. »Aus den gleichen Gründen können wir sie auch nicht daran hindern, sich zu vermehren, wenn wir wieder zu Hause sind«, ergänzte Haraka. »Von nun an werden Terraner und Altairaner einander gegenseitig oft besuchen. Wenn sie erfahren, daß unsere Hunde sich nicht reproduziert haben, dann werden sie uns großzügig und sentimental mit einem weiteren Dutzend beehren. Damit wären wir noch schlechter dran als vorher.« »Also gut, also gut.« Morfad zuckte in müder Resignation die Achseln. »Wenn Sie zu jedem Vorschlag einen unwiderlegbaren Einwand haben, dann können
wir uns auch kampflos ergeben. Wir müssen uns eben damit abfinden, eine weitere von Hunden beherrschte Spezies zu geben.« Er warf Haraka einen säuerlichen Blick zu. »Wenn es nach mir ginge, ich würde warten, bis wir draußen im freien Weltraum sind, und dann die beiden Hunde mit einem kräftigen Tritt zur Luftschleuse hinausbefördern.« Haraka grinste, als wolle er dieser unsinnigen Geschichte den letzten Todesstoß versetzen. »Und wenn Sie das tun würden, dann würden Sie damit eingestehen, einer Täuschung zu unterliegen.« Mit einem tiefen Seufzer fragte Morfad: »Warum denn das?« »Sie würden damit zwei Angehörige der Herrenrasse hinauswerfen. Einer der Beherrschten, eh?« Haraka grinste erneut. »Hören Sie, Morfad, nach Ihren eigenen Worten wissen Sie etwas, das zuvor noch niemand gewußt oder auch nur vermutet hat, und Sie sind der einzige, der es weiß. Das sollte Sie zu einer ungeheuren Bedrohung der Hunderasse machen. Sie würden Sie nicht lange genug am Leben lassen, um sie zu bedrohen oder gar um die Wahrheit zu verbreiten. Sie wären in Kürze ebenso tot wie ein uraltes Fossil.« Er stand auf, ging zur Tür und brachte von dort aus den letzten Stich an. »Sie sehen aber noch immer recht gesund aus.« Morfad schrie zu der sich schließenden Tür: »Aus der Tatsache, daß ich ihre Gedanken lesen kann, folgt noch lange nicht, daß sie meine lesen können. Ich bezweifle das sogar, denn es ist nichts weiter als eine Laune –« Mit einem Klicken schloß sich die Tür. Er funkelte sie böse an, ging zwanzig Mal in seiner Kabine auf
und ab und schließlich zu seinem Stuhl zurück, wo er sich den Kopf nach einer zufriedenstellenden Lösung zermarterte. »Die schärfste, subtilste und effektivste Waffe im ganzen Kosmos ist die Einschmeichelung.« Ja, er suchte nach einer Möglichkeit, um mit den vierbeinigen Kriegern fertigzuwerden, die meisterhaft mit der Handhabung der schärfsten Waffe der Schöpfung vertraut waren. Professionelle Schmeichler, Kriecher und Verehrer, menschenliebende Tiere, die sich das Selbstgefühl eines Wesens zunutze machten, in ungezählten Generationen zur Perfektion gelangt in einer Art, gegen die es keine Verteidigung zu geben schien. Wie die bevorstehende Attacke zurückschlagen, bekämpfen, mit ihr fertigwerden? »Ja, Gott.« »Wie Ihr wünscht, Gott.« Wie sollte man sich gegen diese heimtückische Art und Weise schützen, wie sie eindämmen oder – Bei den Sternen! Das war es – eindämmen! Auf Pladamine, jener nutzlosen Welt, dem Planeten, den keiner haben wollte. Dort konnten sie sich vermehren, soviel sie wollten, und in der Zwischenzeit über Gräser und Insekten herrschen. Und den Terranern konnte man damit immer eine zufriedenstellende Antwort geben. »Die Hunde? Aber sicher, wir haben sie immer noch, sehr viele inzwischen. Es geht ihnen gut. Sie haben eine hübsche Welt ganz für sich allein, Pladamine genannt. Wenn Sie sie sehen wollen, das läßt sich machen.« Eine großartige Idee. Es würde das Problem lösen,
ohne die Terraner vor den Kopf zu stoßen. Es würde sich auch in Zukunft als nützlich erweisen. Einmal nach Pladamine gebracht, konnte kein Hund aus eigenem Willen entkommen. Jeder Besucher von Terra, der Hunde mitbrachte, konnte überzeugt werden, sie im Hundehimmel, den die Altairaner erfunden hatten, abzuliefern. Dort wären die Hunde nicht in der Lage, irgend etwas zu beherrschen, das höher entwickelt ist als Hunde, und auch wenn es ihnen nicht gefiel, sie konnten nichts dagegen machen. Es hatte allerdings keinen Sinn, dem offensichtlich voreingenommenen Haraka diesen Plan zu unterbreiten. Er würde es zu Hause den zuständigen Autoritäten unterbreiten. Selbst wenn sie seiner Geschichte keinen Glauben schenkten, sie würden diese notwendige Aktion befehlen, in dem Wissen, daß Vorsorge besser ist als eine schlechte Erfahrung. Ja, ganz bestimmt würden sie zustimmen und die Hunde nach Pladamine deportieren. Er stand auf einem Stuhl und sah hinaus durch eine Luke. Eine riesige Menge Terraner stand dort unten und wartete darauf, das startende Schiff zu verabschieden. Hinter der Menge sah er eine terranische Frau, die einen närrisch herausgeputzten Hund an einer Kette hatte, der sie hinter sich herzog. Armes Mädchen, dachte er. Der Hund führt, sie folgt, immer in dem Glauben, sie nimmt ihn irgendwohin mit. Er griff nach seiner Farbbildkamera und überprüfte die Kontrollen, dann machte er sich auf den Weg durch die Korridore zur offenen Luftschleuse. Es wäre hübsch, ein Bild dieser riesigen Menschenmenge, die sich zum Abschied versammelt hatte, zu haben. Am Rand der Luftschleuse stolperte er plötzlich über
etwas Vierfüßiges, Stummelschwänziges, das sich vor seine Füße warf. Er stürzte hinaus, die Kamera noch immer in Händen und fiel rasch hinunter, während der Wind um ihn her pfiff und das Raunen der Menge zu einem schrillen Schrei des Entsetzens anschwoll. Haraka sagte: »Das Begräbnis hat uns zwei Tage gekostet. Wir müssen versuchen, die Zeit so gut es geht wieder hereinzuholen.« Er dachte einen Moment nach, dann fügte er hinzu: »Es tut mir sehr leid um Morfad. Er war ein kluger Kopf, doch gegen Ende zerbrach er. Nun, es ist trotzdem erfreulich, daß die Expedition mit so wenig Verlusten abgeschlossen wird.« »Es hätte schlimmer kommen können, Sir«, antwortete Kashim. »Auch Sie hätten umkommen können.« »Ja, es hätte auch mich erwischen können.« Haraka betrachtete ihn neugierig. »Hätte Sie das betroffen gemacht, Kashim?« »Aber sehr sogar, Sir. Ich glaube, niemand an Bord hätte diesen Verlust schmerzlicher empfunden. Mein Respekt und meine Bewunderung sind so –« Er verstummte, als etwas leichtfüßig in die Kabine getapst kam und den Kopf in Harakas Schoß legte, wobei es dem Captain einen schmachtenden Blick zuwarf. Kashim runzelte ärgerlich die Stirn. »Guter Junge!« lobte Haraka und kraulte die Ohren des Neuankömmlings. »Mein Respekt und meine Bewunderung«, wiederholte Kashim etwas lauter, »sind so –« »Guter Junge!« sagte Haraka erneut. Er zog sanft
an dem einen Ohr und betrachtete erfreut den wedelnden Schwanz. »Ich sagte, Sir, mein Respekt –« »Guter Junge!« Taub gegenüber allem anderen ließ Haraka seine Hand sinken und kraulte unter dem Kiefer. Kashim warf dem guten Jungen einen Blick unauslöschlichen Hasses zu. Der Hund wandte ein braunes Auge seitwärts und betrachtete ihn ausdruckslos. Von diesem Augenblick an war Kashims Schicksal besiegelt.
Das ruhige Beamtenleben »Was mich verrückt macht«, sagte Purcell bitter, »ist die Tatsache, daß man nichts bekommen kann außer auf der Basis der schnöden Notwendigkeit, es haben zu müssen.« »Yeah«, sagte Hancock, ohne sein Schreiben zu unterbrechen. »Wenn jemand alles bekommt«, fuhr Purcell, der sich für seine Ausführungen zu erwärmen begann, fort, »dann aus Gründen, die nichts mit Notwendigkeit oder Dringlichkeit zu tun haben. Man bekommt es aus dem Grund, und wirklich nur aus dem einen Grund, weil man ein korrektes Formular sorgfältig und korrekt ausgefüllt hat, es gezeichnet und gegengezeichnet ist von den zuständigen Großköpfen, und es durch die zuständigen Kanäle den zuständigen Männern auf Terra zugeführt wurde.« »Yeah«, sagte Hancock, die Spitze seiner Zunge folgte freundschaftlich dem Schreibstift. »Yeah, yeah, yeah«, echote Purcell mit leicht erhobener Stimme. »Kannst du nichts anderes als yeah sagen?« Hancock seufzte, hörte mit dem Schreiben auf und wischte sich mit einem verschwitzten Taschentuch die Stirn. »Komm, wir wollen tun, wofür wir bezahlt werden, ja? Die Grübelei bringt uns nicht weiter.« »Nun, wofür werden wir denn bezahlt?« »Ich persönlich bin der Meinung, Piloten, die durch Verletzungen nicht mehr fliegen können, sollten auf andere Weise beschäftigt werden. Sie finden sich niemals mit der Routine ab.«
»Das beantwortet nicht meine Frage.« »Wir befinden uns hier auf Alipan in dem neubesiedelten System B 417«, informierte Hancock gemächlich, »um die Einfuhr wichtiger Güter zu koordinieren, wobei wir uns bemühen, den zur Verfügung stehenden interstellaren Frachtraum optimal auszunutzen. Wir sind auch hier, um uns mit internen Anfragen nach Waren zu befassen und diesen Prioritäten zuzuweisen.« »Priorität, daß ich nicht lache«, sagte Purcell. Er schnappte nach einem Formular und schwenkte es in der Luft. »Welche Art Priorität sollte vierundzwanzig Kartons Gin eingeräumt werden?« »Würdest du dir die Mühe machen, nachzusehen, dann wüßtest du es«, gab Hancock zurück. »Ich muß momentan nicht bei Sinnen gewesen sein. Wer sagt denn, daß Gin Priorität vor Druckflaschen mit Sauerstoff hat, zum Beispiel?« »Letheren.« Hancock spielte stirnrunzelnd mit seinem Stift. »Ich bin ja auch nicht damit einverstanden. Ich halte es für eine Ungerechtigkeit. Aber Letheren ist ein alter Beamtenhase. Als Pilot hast du vielleicht manchen alten Beamten mit einem schiefen Blick gemustert und bist gegangen. Aber du bist kein Pilot mehr. Du bist nur ein weiterer Schreibtischhengst. Und als solcher lernst du besser, daß es nicht gut ist, einen alten Hasen vor den Kopf zu stoßen. Sie steigen und kommen herum, wenn noch ältere Hasen an Herzverfettung sterben. In fünf oder zehn Jahren kann Letheren mein Boß sein. Zu dieser Zeit werde ich in seinen Fußstapfen gehen. Ich möchte nicht, daß er sich dann umdreht und mir in die Fresse tritt.« »Denkst du wirklich so, nach der ganzen Zeit, die
er an dir herumnörgelt, weil du es ablehnst, ihm seinen Gin zu beschaffen?« fragte Purcell ungläubig. »Nein. Ich werde ihn beschaffen. Er wird keinen Grund zum Meckern haben.« »Was für ein System!« sagte Purcell. Er starrte durch das Fenster auf die Sonne B 417. Der grünliche Schein machte ihn krank. »Nun sehe ich, was ich vor Jahren nur vermuten konnte; der Weltraum wird langsam, aber sicher erobert von einigen verrückten Sumpfhühnern, nicht wegen Terra, sondern ungeachtet Terras. Das wird getan von einer Bande von Hitzköpfen, denen es gefällt, in Raumschiffen herumzudüsen. Und sie erzielen Resultate, gleich welches Hindernis wir ihnen in den Weg legen.« »Da du selbst ein Pilot warst, bist du natürlich voreingenommen«, sagte Hancock verteidigend. »Irgend jemand muß eben den Papierkram erledigen.« »Dem würde ich zustimmen, wenn der Papierkram notwendig und sinnvoll wäre.« »Wenn der Papierkram nicht wäre, dann wären wir beide arbeitslos.« »Da bringst du mich auf etwas. Auf diesem Planeten gibt es zweitausend von uns, wir sitzen auf unseren Hinterteilen und versorgen uns gegenseitig geschäftig mit Arbeit. In kurzer Zeit schon werden es fünftausend sein, dann zehntausend.« »Das sehe ich auch voraus«, sagte Hancock strahlend. »Das bedeutet Beförderung. Und je mehr Untergebene wir haben, desto größer ist unser Status.« »Das mag sein. Ich werde das nicht so ruhigen Gewissens hinnehmen, aber ich werde es hinnehmen müssen.« Purcell betrachtete stirnrunzelnd seinen Schreibtisch und sprach weiter. »Ich nehme an, ich
bin noch nicht alt und zynisch genug, um diese maßlose Verschwendung von Zeit und Arbeitskraft zu akzeptieren. Es gibt Augenblicke, da könnte ich mit einem lauten Knall aus der Haut fahren. Dies ist einer davon.« Hancock, der gerade seinen Stift wieder aufgenommen hatte, legte diesen wieder weg und fragte resigniert: »Was exakt ärgert denn deinen reformistischen Geist im Moment?« »Es gibt hier so einen Kerl, einen Wanzologen –« »Einen Entomologen«, korrigierte Hancock. »Wenn du mir freundlicherweise erlauben würdest, meine eigenen Worte zu wählen«, schlug Purcell vor. »Dieser Wanzologe also... oder Entomologe, von mir aus, der also möchte eine Kobalt-60Bestrahlungsausrüstung. Die wiegt dreihundertachtzig Pfund.« »Wofür?« »Um das große Waldgebiet von einer Krankheiten übertragenden Fliege zu befreien.« »Wie möchte er das denn anstellen?« »Gemäß des Abschnitts D 7 seines Antragsformulars, unter der Überschrift BEGRÜNDUNG, sagt er, daß alle behandelten männlichen Fliegen irreversibel alle weiblichen Fliegen, mit denen sie sich paaren, sterilisieren. Wenn es ihm gelingt, genug Männchen einzufangen, sie zu bestrahlen und wieder freizulassen, so kann er die ganze Spezies ausrotten. Außerdem meint er, vor vielen Jahrhunderten wäre Terra auf die gleiche Weise von Spulwürmern, Tsetse- und anderen Fliegen befreit worden. Er behauptet, den größten Teil des großen Waldes erkund- und be-
wohnbar machen zu können, er sagt, damit rette er Hunderte von Menschenleben. Deshalb bittet er um Top-Priorität.« »Das scheint vernünftig«, äußerte Hancock. »Du würdest seinem Antrag Top-Priorität geben, he?« »Sicher. Ein Import Klasse A.« »Das ist aber wirklich hübsch«, flötete Purcell. »Es berührt mich zutiefst, jemanden mit Sinn für Vernunft zu finden, auch wenn dieser fett hinter einem Schreibtisch sitzt und seine Unterhosen vor Öl triefen.« Er warf das Formular dem anderen hinüber. »Irgendein schwachsinniger Halbidiot hat es als Klasse L abgetan. Das heißt, dieser Wanzologe wird seinen Fliegentöter frühestens in sieben Jahren bekommen.« »Ich war das nicht«, protestierte Hancock und starrte das Blatt an. »Ich erinnere mich aber jetzt wieder daran. Ich erhielt den Antrag vor vier Monaten und habe ihn an Rohm zur weiteren Bearbeitung gegeben.« »Warum?« »Weil seine Abteilung sich mit dem Wald beschäftigt.« »Großer Gott!« sagte Purcell. »Was haben denn Fliegen mit Waldwirtschaft zu tun?« »Das große Waldgebiet ist Rohms Verantwortlichkeit unterstellt. Alle diesbezüglichen Anträge müssen über seinen Schreibtisch gehen.« »Und er hat es als Klasse L abgestempelt. Er muß übergeschnappt sein.« »Wir können einer anderen Abteilung keinen Pfusch vorwerfen«, erklärte Hancock. »Vielleicht gibt
es Tausende anderer Dinge, die Rohm dringend benötigt. Medikamente, zum Beispiel.« »Ja, um die Leute von ihren Schwindelanfällen zu heilen, nachdem sie von den Fliegen gestochen wurden«, sagte Purcell zynisch. »Würden die Weltraumfahrer ebenso arbeiten wie wir, dann würden sie ständig Fotokopien von Geburts- und Heiratsurkunde dabeihaben, falls sie zu einer Fremdrasse kommen, die sie sehen will.« Er nahm das Formular zurück und betrachtete es angewidert. »Letherens Gin verdrießt mich außerordentlich. Ich habe das Zeug immer gehaßt. Es schmeckt so, wie ein toter Hund riecht. Wenn er sich einen Karton voll von Alkohol bestellen kann, warum können wir keinen Kobalt-60Strahler bestellen?« »Du kannst das System nicht beeinflussen«, erklärte Hancock. »Erst wenn du einer der großen Köpfe bist.« »Ich werde es ab jetzt beeinflussen«, fuhr Purcell ihn an. Er griff nach einem neuen Formular und begann, es auszufüllen. »Ich werde einen Antrag von Top-Priorität aus dem Antrag für einen Fliegentöter für Nemo machen.« »Nemo?« fragte Hancock dümmlich. »Was ist denn das?« Purcell winkte achtlos zum Fenster. »Der neuentdeckte Planet dort draußen.« Hancock schob seinen Stuhl zurück, watschelte zum Fenster und sah lange Zeit hindurch. Er konnte nichts sehen. Nach einer Weile kam er zurück, pustete, wischte sich erneut die Stirn und griff nach dem Interkomsprechgerät.
»Leg das hin!« schnappte Purcell. Hancock ließ den Hörer fallen, als wäre er glühend heiß, und sagte: »Wenn sie Arbeiten an einem neuen Planeten begonnen hätten, dann hätte Collisters Abteilung uns sicher in der üblichen Art davon unterrichtet. Ich denke da an seine lässige Methode, Neuigkeiten mündlich in der Mittagspause zu überbringen. Aber wesentliche Informationen müßten schriftlich eingebracht und an alle Leute weitergereicht werden, die davon betroffen sind.« »Collisters Leute wissen nichts über Nemo.« »Nicht? Weshalb nicht?« »Weil ich ihn gerade erfunden habe«, antwortete Purcell sofort. »Du hast ihn erfunden?« »Ich sagte es bereits.« Nachdem er das Formular zu Ende geschrieben hatte, nahm er einen großen Stempel und drückte in Rot die Buchstaben TP darauf, dann einen kleineren mit der Aufschrift »Lieferung über Alipan B 417«. Während Hancock ihn aus großen Augen anglotzte, beendete er seine Arbeit, unterschrieb und warf es in die pneumatische Röhre. Binnen vier Minuten würde das Radiofaksimile zur Erde geblitzt werden. »Du mußt verrückt sein«, sagte Hancock entgeistert. »Schlau wie ein Fuchs«, entgegnete Purcell unbeeindruckt. »Sie werden eine Bestellung für einen nichtregistrierten Planeten, dessen offizielle Erkundung und Lagemeldung nicht vorliegen, nicht akzeptieren, schon gar nicht, wenn keine Koordinaten beigelegt sind.«
»Die Bestellung ist eine solche Meldung, außerdem habe ich Koordinaten beigefügt.« »Sie werden Erkundigungen einziehen«, warnte Hancock. »Bei wem? Bei dem für Nemo zuständigen Amt?« »Das gibt es nicht«, entgegnete Hancock. »Richtig. Sie werden sich bei Sankt Nimmerlein erkundigen müssen.« »Früher oder später werden sie herausfinden, daß man sie an der Nase herumgeführt hat. Das wird Ärger geben. Ich möchte dich darauf hinweisen, Purcell, daß ich jegliche Verantwortung dafür ablehne. Offiziell weiß ich nichts davon. Es ist einzig und allein deine Sache.« »Mach dir keine Gedanken. Ich werde alle Folgen meiner lobenswerten Tat tragen. Auf jeden Fall wird der Wanzologe bis dahin seine Ausrüstung haben, und alle Fliegen werden tot sein.« Hancock sank für fünf Minuten in sich zusammen, dann kam ihm ein neuer Gedanke, und mit einem Blick abgrundtiefen Schreckens sah er auf. »Wenn sie dreihundertachtzig Pfund technischer Last laden, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie den Gin nicht mitbringen, sehr groß.« »Das würde mich außerordentlich freuen.« »Letheren wird Amok laufen.« »Laß ihn«, sagte Purcell. »Er hält sich für einen unsinnig Großen. Für mich ist er nur ein großer Unsinniger.« »Purcell, ich werde keine Verantwortung dafür übernehmen.« »Du sagtest es bereits.« Dann fügte er mit einem drohenden Unterton hinzu: »Aber vergiß eines nie-
mals, Hancock – ich sehe nicht so verrückt aus, wie ich wirklich bin.« Auf Terra landete der Antrag auf Bonhoeffers Schreibtisch, eines Beauftragten des Amtes für ankommende Post (Vorsortierung). Bonhoeffer war der ideale Mann für eine Frau, groß, stattlich, muskulös, dumm. Seine hohe Stellung verdankte er einzig und allein der Tatsache, daß die hereinkommende Post innerhalb von zehn Jahren um zwölf Prozent zugenommen hatte, die seiner Untergebenen dagegen um einhundertvierzig Prozent. Das stimmt mehr oder weniger mit den Regeln, die von einem gewissen Professor C. Northcote Parkinson aufgestellt worden waren, dem Parkinsonschen Gesetz, überein. Bonhoeffer nahm das Formular mit sichtlichem Widerwillen auf. Es war das einzige Schreiben auf seinem Tisch. Die Sklaven kümmerten sich um alle Angelegenheiten der täglichen Routine; nichts wurde ihm persönlich überbracht, wenn es nicht von außerordentlicher Wichtigkeit war. Daher wußte er im voraus schon, daß dieses wichtige Formular gespickt sein würde mit administrativen Spitzfindigkeiten, die er ganz allein und ohne fremde Hilfe meistern mußte. Langsam und sorgfältig las er es viermal von Anfang bis Ende durch. Soweit er feststellen konnte, war alles in Ordnung damit. Das irritierte ihn. Er war somit gezwungen, das Individuum zu sich zu rufen, dem der unsichtbare Fehler aufgefallen war, und ihm die Ehre antun, ihn nach seinen Gründen zu fragen. Er untersuchte die linke Ecke des Blattes, um zu sehen, wem diese Ehre zuteil werden würde. Die dort
hingekritzelten Initialen waren F. Y. Der Verantwortliche war also Fjodor Yok. Vielleicht hatte er das erwartet. Yok war ein Klugscheißer, ein Büroangeber. Er sah aus wie Rasputin mit einem Bürstenschnitt. Er trug ständig das blöde Grinsen eines erfolgreichen Schürzenjägers zur Schau. Bonhoeffer würde lieber tot umfallen als Yok auch nur nach der Uhrzeit zu fragen. Das komplizierte die Dinge. Er studierte die Anfrage weitere viermal, und noch immer schien sie korrekt genug, um selbst einem begeisterten Fehlersucher wie Yok zu entgehen. Dann fiel ihm ein, daß es einen Ausweg aus dieser Zwickmühle gab. Auch er konnte das Schriftstück weitergeben, vorzugsweise an einen ähnlichen Streber. Das war das einfachste. Er schaltete sein Tischsprechgerät ein und sagte: »Schicken Sie mir Quale herein.« Quale kam mit der gewohnten Eile. Er hatte die Figur eines unterernährten Kaninchenmannes und versuchte dies durch übertriebene militärische Unterwürfigkeit wieder wettzumachen. Sein Blick war demütig, und er gehörte zu der Sorte von Kriechern, die salutieren, wenn sie einen Offizier am Telefon haben. »Ah, Quale«, begann Bonhoeffer mit herablassender Gunst. »Ich habe Ihren Aufstieg mit einigem Interesse verfolgt.« »Wirklich, Sir?« sagte Quale, seine Zähne blitzten bei seinem geschmeichelten Lächeln. »Ja, in der Tat. Ich habe auf jeden ein wachsames Auge, auch wenn ich bezweifle, daß das sehr vielen bewußt ist. Der untrüglichste Test für Manager-Können liegt in
der Frage, ob jemand Verantwortung übernehmen kann. Um eine solche Entscheidung zu treffen, muß man jeden Mann einzeln kennen. Natürlich sind einige besser geeignet als andere. Sie verstehen, was ich meine?« »Ja, Sir«, stimmte Quale zu, in dem Bemühen, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. »Yok hielt es für nötig, mir dieses Formular zur persönlichen Einsicht zu übergeben.« Bonhoeffer gab das Blatt hinüber. »Ich war gerade im Begriff, die nötigen Schritte einzuleiten, als es mir zu Bewußtsein kam, daß es von Nutzen sein könnte, zu sehen, ob ein anderer bezüglich der Anfrage zu den gleichen Ergebnissen kommt wie ich und Yok, und ob dieser ebenso rasch entscheiden kann, was zu tun ist. Ich dachte an Sie.« Quales Glorienschein verschwand, sein Gesicht nahm den Ausdruck einer in die Enge getriebenen Ratte an. In völliger Stille las er das Formular mehrmals ganz durch. Schließlich erklärte er mit unsicherer Stimme: »Ich kann nichts Falsches darin entdecken, Sir, außer daß es sich um eine Anforderung für Nemo handelt. Ich erinnere mich nicht, den Planeten auf der Versorgungsliste gesehen zu haben.« »Sehr gut, Quale, sehr gut«, lobte Bonhoeffer. »Und was sollten wir Ihrer Meinung nach tun?« »Nun, Sir«, fuhr Quale fort, etwas mutiger, aber noch immer mit weichen Knien. »Da die Anfrage von Alipan kommt, das auf der Liste ist, würde ich sagen, sie ist stichhaltig, soweit unsere Abteilung betroffen ist. Daher würde ich es an das Technische Amt weitergeben, damit die angegebenen Gründe und die
Korrektheit der Spezifizierung geprüft werden.« »Exzellent, Quale. Ich kann getrost sagen, daß Sie meine Erwartungen voll und ganz erfüllt haben.« »Vielen Dank, Sir.« »Ich bin dafür bekannt, dort zu fördern, wo es angebracht ist.« Bonhoeffer bedachte den anderen mit einem schiefen Grinsen. »Da Sie das Formular nun schon in Händen haben, können Sie sich auch weiterhin damit befassen. Yok brachte es herein, doch ich glaube, Sie werden es ebenso gut bearbeiten.« »Vielen Dank, Sir«, wiederholte Quale, sein Glorienschein explodierte zu einer strahlenden Lichterflut. Er ging hinaus. Bonhoeffer lehnte sich zurück und betrachtete zufrieden den leeren Schreibtisch. Innerhalb kürzester Zeit – das heißt in etwa drei Wochen – hatte das Technische Amt herausgefunden, daß es tatsächlich einen Artikel wie den Kobalt-60Strahler gab und man mit ihm tatsächlich Fliegen beeinflussen konnte, sich einander in sinnlosem Bemühen hinzugeben. Daher heftete Quale dieses etwas obszöne Zertifikat der Anforderung bei und gab sie unverzüglich an das Amt für Einkauf weiter, mit der Bitte um sofortige Bearbeitung. Er hielt sein Tun für vollkommen richtig, ungeachtet der Tatsache, daß Nemo in keiner offiziellen Versorgungsliste auftrat. Schließlich hatte ja Bonhoeffer selbst ihn beauftragt, die nötigen Schritte zu unternehmen, und die Technische Abteilung hatte bewiesen, es gab etwas, das der Anforderung entsprach. Somit war er von beiden Seiten abgedeckt.
Quale war in einer bombensicheren Lage, ein sehnlich herbeigewünschter Existenzzustand. Das Formular und das beigefügte Gutachten wurden damit an Stanisland weitergereicht, einen jähzornigen Charakter, der allgemein als Sohn einer Hündin betrachtet wurde. Stanisland las beides begleitet von mehreren Grunzern und fand sich in dem üblichen Dilemma. Vom Amt für Einkauf wurde angenommen, daß es die primären Quellen zu allen Gütern kannte, angefangen von Erdnüssen bis hin zu synthetischen Hormonen. Es verfügte über eine Referenzbibliothek, in der es einer voll ausgerüsteten Expedition bedurfte, um auch nur bis zum Buchstaben F vorzudringen. Diese Bibliothek wurde jedoch ausschließlich benützt, um die totale Überlastung zu demonstrieren, wenn ein höhergestellter Beamter anwesend war; der sicherste Platz befand sich auf einer Leiter. Es war einfacher, die richtige Frage am richtigen Ort zu stellen, als eine Safari durch die meilenlangen Buchreihen zu unternehmen. Mehr noch, Stanisland konnte keine Unwissenheit zugeben, vor all den Dummköpfen, die ihn umgaben. Daher griff er auf seine erfolgreichste Taktik zurück. Er sah sich finster um, um sicherzustellen, daß keiner ihn beobachtete, stopfte sich das Papier in die Tasche, erhob sich, wobei er heiser etwas von der Herrentoilette murmelte, und ging hinaus. Dann folgte er drei Korridoren, die ihn zu einigen privaten Telefonanschlüssen führten, wählte die Nummer des Technischen Amtes und verlangte Williams. Er stieß den Namen verächtlich hervor, denn in seinen Augen war Williams nur von der Natur er-
schaffen worden, um sein Leben in einer Gummizelle zu verbringen. Als der andere kam, sagte er: »Hier Stanisland, Amt für Einkauf.« »Was haben wir denn auf dem Herzen?« fragte Williams mit dem Wissen, dem anderen nicht unterstellt zu sein. Ohne darauf zu achten, fuhr Stanisland fort: »Sie haben uns das Gutachten D 2794018 über einen Kobalt-60-Strahler auf Anfrage von Alipan überreicht.« »Ich verlasse mich nicht auf Ihr Wort«, sagte Williams. »Wiederholen Sie die Nummer und warten Sie, bis ich die Kopie herausgesucht habe.« Stanisland wiederholte und wartete. Er stand zehn Minuten da, während er genau wußte, daß Williams zum Suchen nur eine Minute brauchte und sich in den restlichen neun Minuten darüber freute, wie der andere sich die Füße in den Bauch stand. Aber es war ihm nicht möglich, etwas dagegen zu unternehmen. Schließlich kam Williams zurück. »He, sind Sie immer noch da?« fragte er in sarkastischer Überraschung. »In Ihrem Amt muß es ja ganz schön ruhig zugehen.« »Wenn wir ebenso wenig zu tun hätten wie andere Ämter, dann müßten wir diese nicht dauernd konsultieren«, schrie Stanisland. »Dann hätten wir nämlich genügend Zeit, um die Informationen, die wir brauchen, selbst nachzuschlagen.« »Aha!« sagte Williams häßlich triumphierend. »Sie wissen nicht, wo Sie einen Strahler herbekommen sollen, he?« »Das ist keine Frage des Wissens«, entgegnete Stanisland. »Sondern eine Frage der Zeitersparnis, es
herauszufinden. Wenn ich unter K wie Kobalt suche, dann werde ich nichts finden. Es wird auch nicht unter Strahler geführt werden. Genausowenig wie unter S wie sechzig. In einer Woche finde ich dann vielleicht heraus, daß es unter H wie Hyperintensives Brimborium steht, weil das die exakte technische Bezeichnung ist. Die Dinge wären wesentlich einfacher, wenn ihr Eierköpfe euch angewöhnen könntet, eine Schiefertafel auch Schiefertafel zu nennen, und dann immer bei dieser einen Bezeichnung bleiben würdet.« »Schändlich«, sagte Williams. »Weiterhin«, sprach Stanisland mit zufriedener Boshaftigkeit weiter, »bekommen wir jede ergänzte Neuauflage des Katalogs immer mit siebenjähriger Verspätung. Warum? Weil Ihre Leute ihn einlagern und erst herausrücken, wenn die Bücher bereits zu stinken beginnen.« »Wir benötigen sie, um selbst auf dem laufenden zu bleiben«, erklärte Williams. »Das Technische Amt kann es sich nicht leisten, hinter der Zeit zurückzubleiben.« »Da haben wir es«, heulte Stanisland triumphierend. »Ich möchte nicht wissen, wer Strahler baute, als das Fernsehen noch zweidimensional war, sondern ich möchte wissen, wer sie heute herstellt. Und ich möchte Abelson keine offizielle Benachrichtigung über zurückgehaltene Daten und willkürliche Behinderung übergeben müssen.« »Wollen Sie mir drohen, Sie triefäugiger Fettwanst?« fragte Williams. Stanisland schrie von neuem. »Ich möchte Abelson nicht mit dem Zaunpfahl winken. Sie wissen, wie er ist.«
»Ja, ich weiß, ich weiß.« Williams seufzte resigniert. »Warten Sie noch ein wenig.« Diesmal dauerte es zwölf Minuten, bis er zurückkam und eine kurze Namensliste vorlas. Stanisland ging zurück zu seinem Pult, schrieb die Liste noch einmal sorgfältig neu, fügte sie Formular und Gutachten bei und übergab das ganze an einen Untergebenen. Mit einer Stimme, die im ganzen Büro zu hören war, sagte er: »Welch ein Glück, daß ich diese Anfrage bearbeitet habe. Wie es der Zufall will, habe ich alle Firmen, die diesen seltenen Apparat herstellen, im Kopf. Nun holen Sie sich so schnell es geht deren Urteile ein und reichen Sie sie mir weiter.« Dann sah er sich glücklich um, musterte alle und jeden, freute sich über ihre toten Gesichter; er wußte, wie sehr sie ihn aus tiefstem Herzen haßten. Bei Gott, er hatte ihnen wieder einmal gezeigt, wer eine Beförderung am meisten verdiente. Forman Atomics bescheinigte den geringsten Preis und die kürzeste Lieferfrist. Einen Monat später erging an sie eine Anfrage mit der Bitte um Zusendung ihrer Befugnis als zugelassene Händler. Sie schickten sie unverzüglich zurück. Drei Tage später wurden sie gebeten, eine eidesstattliche Erklärung zurückzusenden, daß nicht weniger als zehn Prozent ihrer Angestellten sich aus ausgedienten Raumfahrern zusammensetzten. Sie sandten sie. Zwei Geheimagenten besuchten ihr Hauptbüro, um sich persönlich davon zu überzeugen, daß die Flagge, die am Fahnenmast wehte, eine terranische war. In der Zwischenzeit durchforschte ein Angestellter
des Finanzamtes (Ausgaben) die Aktenschränke des Amtes für Firmenkontrolle (Registrierte Statistiken), unterstützt von zwei kleineren Angestellten, die diesem Hafen der Ruhe angehörten. Sie versicherten sich, daß aber auch nicht ein Dollar des Formanschen Firmenkapitals von ausländischen Mächten kontrolliert wurde, in Person oder nominell. Eigentlich existierte überhaupt nichts, das man als ›ausländische Macht‹ hätte bezeichnen können, aber das stand ja nicht zur Diskussion. Zu diesem Zeitpunkt hatte die eigentliche Anfrage sich um folgendes erweitert: 1.) Das Gutachten des Technischen Amtes. 2.) Ein abteilungsinterner Zettel, unterschrieben von Quale, in welchem er Stanisland informierte, daß die Anfrage ihm zur weiteren Bearbeitung übergeben worden war. 3.) Ein ähnlicher Zettel von Bonhoeffer, in dem er bescheinigte, Quale mit den weiteren Schritten beauftragt zu haben. 4.)–11.) Acht Kostenvoranschläge über Strahler, der von Forman Atomics war mit dem Stempel »Mit der Lieferung des Gerätes beauftragt« versehen. 12.) Eine Kopie von Formans Handelsbefugnis. 13.) Formans eidesstattliche Erklärung. 14.) Ein Geheimdienstbericht, mit der Bemerkung, was auch immer mit Forman nicht stimmte, es konnte nichts nachgewiesen werden. 15.) Eine Erklärung des Finanzamtes, die das gleiche in weitschweifigeren Worten aussagte. Punkt zwölf stellte einen alten und vollkommen hoffnungslosen Versuch dar, das System zu beeinflussen. Vor langer, langer Zeit einmal hatte jemand
den Fehler begangen, ein promoviertes Mitglied des Instituts für Zusammenarbeitsstatistiken der Columbia Universität einzustellen. Unter der Illusion, daß eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist, hatte der Neuling ein umfassendes System von Regierungsanfragen erfunden, von denen er verrückterweise annahm, diese würden die Punkte dreizehn, vierzehn und fünfzehn überflüssig machen. Dieser hinterhältige Versuch, drei Ämter auf einen Streich aufzulösen, war zu einem verdienten Ende gebracht worden; umgehend wurde ein neues Amt gegründet, das sich mit Punkt zwölf befaßte, während die anderen blieben. Für das Verdienst, dieses neue Amt ins Leben gerufen zu haben, wurde der Erfinder hastig befördert und irgendwo jenseits Bootes versetzt. Stanisland fügte das sechzehnte Schriftstück hinzu, in Form einer eigenen abteilungsinternen Benachrichtigung, mit der er Taylor, den Chef des Amtes für Einkauf, informierte, daß nach seinem Wissen und Glauben keine Fragen mehr verblieben und es somit an ihm sei, die weiteren Schritte einzuleiten. Taylor, der auch nicht von gestern war, zeigte, was er von dieser unangebrachten Hast hielt. Er warf den beigelegten Zettel weg und fügte seinen eigenen hinzu, sicherte den Papierberg mit einer überdimensionierten Büroklammer und ließ ihn an Stanisland zurückgehen. Der Zettel besagte: »Sie wissen, oder sollten wissen, daß ein Gerät von der beschriebenen Größe nicht unbedingt mehr im Aufgabenbereich des Amtes für Warentestung (Geräte) liegen muß. Ist das nicht der Fall, so benötigen wir ein Gutachten der Leistungsfähig-
keit vom Büro für Norm- und Seriengeräte. Führen Sie die nötigen Verhandlungen.« Nach Erhalt dieser Mitteilung unternahm Stanisland einen raschen Gang durch die Korridore, wobei der überschüssige Dampf zu seinen Ohren herauspfiff. Er hatte Taylor noch niemals gemocht, der sich so offensichtlich an seiner Macht erfreute und jeden zwang, vom ersten Stock über den Keller auf das Dach zu gehen, nur weil er seine sadistische Freude daran hatte. Der Kerl verbrachte seine gesamte Freizeit damit, gescheckte Mäuse zu züchten. Mit seinen Knopfaugen und seinen dünnen Schnurrbarthaaren sah er dabei seinem geliebten Ungeziefer außerordentlich ähnlich. Als der Druck in seinem Innern wieder das Normalmaß erreicht hatte, kehrte Stanisland zu seinem Schreibtisch zurück, rief einen Untergebenen und gab ihm das Bündel, dazu einen Zettel mit der Bemerkung: Können Sie dieses Gerät testen? Nach zehn Tagen kamen alle Papiere, mitsamt der beigehefteten Antwort zurück. Nur die Emission. Nicht die Wirksamkeit für den angegebenen Verwendungszweck. Um letztere zu überprüfen, würden wir eine adäquate Menge der betreffenden Subjekte benötigen, nämlich die erwähnten Nemo fliegen. Übergeben Sie an das Amt für Importe (Krankheitskontrolle). So telefonierte er mit Chase, der beim Fenster ein Sonnenbad nahm, wodurch dieser gezwungen war, zu seinem Schreibtisch zurückzukehren, wo er mit unnötiger Schärfe sagte: »Einfuhr verboten.« »Können Sie die entsprechenden Vorschriften zitieren?« fragte Stanisland. »Sicherlich«, fauchte Chase. »Schlagen Sie nach in
der Akte über Abwehr von Bakterien, Band drei trägt den Titel ›Außerirdische Insekten‹, Kapitel vierzehn, ›Bekannte oder vermutete Krankheitsüberträger‹, ich zitiere wörtlich –« »Bemühen Sie sich nicht«, sagte Stanisland hastig. »Ich besitze die entsprechenden Schriftstücke selbst.« »Nun gut. Geben Sie mir die Referenznummer, damit ich Ihnen ein Verbotsdokument ausstellen kann.« »Ich kann mir nicht vorstellen, wie das Amt für Warentestung sich unter diesen Umständen verhalten wird.« »Das ist deren Problem, nicht das Ihre«, meinte Chase. »Leben Sie wohl!« Nach kurzer Zeit – das heißt, weiteren drei Wochen – traf das Verbot von Chase ein, säuberlich gestempelt, gezeichnet und gegengezeichnet. Es wurde dem wachsenden Aktenberg beigefügt. Stanisland sah sich nun mit der sehr ernsthaften Frage konfrontiert, ob der alleinige Test der Emission ausreichend war und den Regeln genügte. Um das Problem auf die eine oder andere Weise zu lösen, bedurfte es einer AEntscheidung. Und diese konnte nur von einem Beamten der Verantwortungsposition getroffen werden. Ha, Taylor! Bei der Aussicht, Taylor zu konsultieren, überfiel ihn eine große Traurigkeit. Es implizierte, daß er, Stanisland, nicht in der Lage war, all seinen Mut zusammenzunehmen. Doch die Alternative war ungleich schlechter, es hätte erfordert, seine Autorität zu überschreiten. Er erbleichte bei dem bloßen Gedanken daran.
Zwei Tage lang ließ Stanisland die Papiere unberührt liegen, während er sich den Kopf nach einem Ausweg zermarterte. Aber es gab keinen Ausweg. Wenn er das Bündel in Taylors Abwesenheit auf dessen Schreibtisch legte und dann krank würde, so würde dieser es bis zu seiner Genesung zurückhalten. Gab er es an eine andere Abteilung weiter, würde er es mit hämischem Grinsen zurückbekommen, zusammen mit einer Note, die auf das Fehlen einer Anweisung hinwies. Offensichtlich mußte er zu Taylor gehen. Er hatte nichts zu fürchten als die Furcht selbst. Endlich faßte er sich ein Herz, begab sich in Taylors Büro, gab ihm die Dokumente und deutete auf die letzten beiden Ergänzungen. »Wie Sie sehen, Sir, kann ein entsprechender Test wegen eines Einfuhrverbotes nicht durchgeführt werden.« »Ja, mein lieber Stanisland«, sagte Taylor mit einer Liebenswürdigkeit, die alles nur noch schlimmer machte. »Ich selbst habe mit ähnlichen Schwierigkeiten gerechnet.« Stanisland sagte nichts. »Ich bin etwas überrascht, daß Sie nicht in der Lage waren, das vorherzusehen«, meinte Taylor deutlicher. »Mit allem Respekt, Sir, ich habe eine Menge Arbeit, und ich kann nicht alle Schwierigkeiten vorhersehen.« »Leistungen überzeugen mich mehr als Entschuldigungen«, kommentierte Taylor mit zuckersüßer Stimme. »Und soweit es mich betrifft, besteht der Test für die Leistungsfähigkeit darin, wenn jemand in der Lage ist, potentiell kontroverse Angelegenheiten der-
art zu bearbeiten, daß dieses Amt, wenn es dazu aufgefordert wird, in der Lage ist, über jede gefällte Entscheidung eine schriftliche Rechtfertigung vorzulegen. Mit anderen Worten, solange in unserem Amt keine Routinefehler auftreten, ist es nicht unsere Sache, welche Schnitzer andere Ämter sich erlauben. Verstehen Sie das, mein lieber Stanisland?« »Ja, Sir«, sagte Stanisland mit geheuchelter Unterwürfigkeit. »Gut!« Taylor lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ihn, als wäre er eine gescheckte Maus. »Nun, haben Sie mir die Order bereit zur Unterzeichnung vorgelegt?« Stanisland lief rot an und schluckte hart. »Nein, Sir.« »Und weshalb nicht?« »Es schien mir notwendig, Sie um Ihre Meinung zu fragen, ob ein Emissionstest hinreichend ist.« »Meine Meinung?« Taylor hob eine Augenbraue in amüsierter Überraschung. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Ich treffe niemals Entscheidungen für andere Abteilungen!« »Ja, Sir, aber –« »Jeder, der den moralischen Mut besitzt, den Tatsachen ins Antlitz zu sehen«, unterbrach Taylor, der mit einem langen, dünnen Zeigefinger auf den Papierstapel klopfte, »kann erkennen, daß wir eine schriftliche Erklärung des Amtes für Bewilligung benötigen, die besagt, dieses Gerät kann getestet werden. Das ist alles was wir brauchen. Die Frage, wie es getestet wird oder wofür es getestet wird, belastet uns nicht im geringsten. Wir haben schon genug Verantwortung, auch ohne eine zusätzliche Aufbürdung der Aufga-
ben anderer Ämter.« »Ja, Sir«, stimmte Stanisland zu, der nicht wagte, der Ausführung zu widersprechen. »Es hat schon viel zu viele Verzögerungen bei der Bearbeitung dieser Anfrage gegeben«, fuhr Taylor fort. »Das Formular ist bereits ein Jahr alt. Ungeheuerlich!« »Ich versichere Ihnen, Sir, daß es keineswegs meine Schuld –« »Verschonen Sie mich mit Ihren Entschuldigungen und lassen Sie mich Taten sehen.« »Wünschen Sie, daß ich eine Anweisung ausstelle, Sir?« »Nein, Sie brauchen sich nicht zu bemühen. Holen Sie Ihr Anweisungsbuch, geben Sie es meiner Sekretärin und sagen Sie ihr, ich möchte mich persönlich damit befassen.« »Selbstverständlich, Sir.« Stanisland entfernte sich schwitzend, halb verärgert, halb erleichtert. Er fand das Anweisungsbuch und brachte es der Sekretärin. Sie war eine Frau mit frostigem Gesicht, die keine Gelegenheit ungenutzt ließ, seine Unfähigkeit hervorzuheben. Ihr Name war Hasel, nach einer terranischen Nuß. Im Lauf der Ereignisse war nun eine Veränderung eingetreten. Eine Anfrage war eingereicht worden, man hatte diese Anfrage überprüft, bestätigt und anerkannt, hatte Kostenvoranschläge bekommen und die Anweisung ausgestellt. Es blieb Forman Atomics überlassen, den Bestrahler zu liefern, dem Amt für Warentestung, ihn zu testen, dem Amt für Frachtverschiffung (Ausfuhr), die Beförderung nach Alipan zu
beantragen und dem Frachtverladeamt (Weltraumzuweisungen), das Gerät an Bord des richtigen Schiffes zu verladen. Sicherlich, ein weiteres Dutzend Ämter mußten sich noch mit der wachsenden Papiermasse befassen, die inzwischen den Umfang eines überdimensionalen Aktenordners erreicht hatte. Diese zankten nun weitere zwei Jahre miteinander, ehe der Berg widerwillig dem Dokumentarischen Amt (Akten) überlassen wurde. Bei allen handelte es sich jedoch ausnahmslos um Ämter, die sich nach der Verschiffung mit den Angelegenheiten beschäftigten, die Tage, Wochen und Monate, die sie damit verbrachten, mit den Dokumenten zu spielen, spielten keine Rolle mehr, wenn die Fracht erst einmal unterwegs war. Jede verärgerte Bitte um Beschleunigung der Bearbeitung, die Alipan von nun an einreichte, konnte unverzüglich und direkt mit der Erklärung beantwortet werden, daß die nötigen Schritte eingeleitet worden waren. Stanisland besänftigte seine Seele in galligem Frieden, zufrieden, daß er ein gewaltiges Hindernis überwunden hatte, lediglich begleitet von einigen Anpfiffen von seiten Taylors. Letzteres kompensierte er, indem er ständig jedem im Büro gegenüber erwähnte, er sei in der Lage, Informationen über seltene Apparate jederzeit aufzufinden, ohne stundenlanges Suchen in der Bücherei. Nachdem er diese Tatsache in ihren Gehirnen verankert hatte, widmete er sich wieder der Routinearbeit und begann die Angelegenheit langsam zu vergessen. Doch der Friede währte nicht lange. In weniger kurzer Zeit – was soviel hieß wie zweimal drei Wochen – schrillte sein Telefon, und eine
Stimme sagte: »Hier spricht Keith, vom Aufsichtsamt.« »Ja?« antwortete Stanisland ungehalten. Er hatte noch nie von Keith gehört und noch weniger diesen persönlich getroffen. »Es gibt hier eine Schwierigkeit«, sprach Keith weiter und schmatzte mit den Lippen. »Ich war beim Frachtverladeamt, die mich an das Frachtverschiffungsamt verwiesen, die mich an das Amt für Warentestung verwiesen, die mich an das Einkaufsamt verwiesen. Wie ich aus den Papieren entnehmen kann, wurde die Anweisung von Taylor ausgestellt, die Sache bearbeitet hatten jedoch Sie.« »Was stimmt nicht?« fragte Stanisland, dem das rasche Herannahen einer unerwünschten Störung zu Bewußtsein kam. »Das Ladungsverzeichnis der Starfire enthält ein Ding, das Kobalt-60-Strahler genannt wird, welches nach Alipan transportiert werden soll. Es wurde von Forman Atomics geliefert, laut der Anweisungsnummer BZ 12-10 127 Ihrer Abteilung.« »Was ist damit?« »Das Amt für Warentestung hat eine Garantie über die zufriedenstellende Emission erstellt«, fuhr Keith fort. »Sie wissen, was das bedeutet.« Stanisland hatte nicht die geringste Idee, was das bedeutete, doch er wollte das nicht zugeben. Er umging diese Tatsache, indem er fragte: »Nun, was hat das mit dieser Abteilung zu tun?« »Mit einem Amt hat es eine ganze Menge zu tun. Sie können nicht alle die Verantwortung ablehnen.« Noch immer völlig im dunkeln tappend, sagte Stanisland vorsichtig: »Eigentlich müßte ich Taylor oder
gar Abelson hiervon unterrichten. Sie werden, wie ich auch, darauf bestehen, daß Sie Ihr Anliegen in exakter Formulierung wiederholen. Gibt es irgendwelche Gründe, warum Sie es nicht schriftlich einreichen können?« »Ja«, sagte Keith. »Dazu reicht die Zeit nicht aus. Das Schiff startet heute abend.« »Also gut. Was präzise soll ich Taylor mitteilen?« Keith tappte in die Falle und gab die Informationen preis. »Dieser Kobalt-60-Apparat kann keine zufriedenstellende Emission haben, wenn er nicht radioaktiv ist. Daher fällt er unter die Bezeichnung Schädliche Güter. Er kann von der Starfire nicht befördert werden, ohne daß wir ein Gutachten bekommen, das die sichere Abschirmung des Gerätes bescheinigt, und wir sicher sein können, keine Kontamination der anderen Fracht damit zu verursachen.« »Oh!« sagte Stanisland, der wieder einmal überdeutlich spürte, daß das einzige Hindernis zwischen ihm und der Spitze der Erfolgsleiter die Leiter selbst war. »Die Ausstellung eines solchen Gutachtens wäre von höchster Wichtigkeit gewesen«, fügte Keith hinzu, womit er den letzten Rest von gutem Ton vergaß. »Jemand hat hier eindeutig geschlampt. Ich habe einen Papierberg von drei Zoll Stärke vorliegen, und alles ist da, nur das Wichtigste nicht.« Durch solche Worte verärgert, bellte Stanisland: »Ich bin nicht in der Lage zu sehen, warum die Erstellung eines Gutachtens über Nichtkontamination als Aufgabe dieses Amtes betrachtet wird.« »Das Amt für Warentestung sagt, sie hätten lediglich die zufriedenstellende Emission überprüft und
Sie hätten das akzeptiert«, gab Keith zurück. »Wie die Dokumente beweisen, ist diese Aussage korrekt. Ich habe alles hier deutlich vor Augen.« »Das ist nichts als eine Ausrede«, ereiferte Stanisland sich. »Es ist Ihre Aufgabe, für eine Rücknahme des Gerätes und eine Überprüfung der Abschirmung zu sorgen.« »Aber ganz im Gegenteil«, fauchte Keith zurück. »Es ist nicht, war noch nie und wird auch niemals die Aufgabe meines Amtes sein, die Schludrigkeiten der anderen Ämter wieder auszubügeln. Die Starfire startet heute abend um zehn Uhr. Kein Gutachten, kein Transport. Alles weitere liegt bei Ihnen.« Er legte auf, um vorsorglich weiteren Gegenargumenten vorzubeugen. Stanisland brütete lange über die Ungerechtigkeit nach, ehe er sich aufmachte, um erneut bei Taylor vorzusprechen, diesmal sah er aus wie ein Häufchen Elend. Taylor meditierte laut und blumig über Leute, die nicht in der Lage sind, einen Fußboden zu streichen, ohne sich selbst in einer Ecke einzusperren. Dann griff er nach dem Telefon und hielt zehn Minuten lang Rücksprache mit Jorgensen vom Amt für Warentestung. Jorgensen, ein eingefleischter Junggeselle, lehnte es brüsk ab, den Schwarzen Peter zu übernehmen. Mit einem vernichtenden Seitenblick auf Stanisland versuchte Taylor nun, das Problem auf das Technische Amt abzuwälzen. Alles, was er erntete, waren dumme Sprüche von Williams. Vor sich hinmurrend, rief er Keith an, der ihn mit einem gehässigen Ha-ha! begrüßte und mit Grabesstimme seine Worte wieder-
holte: Kein Gutachten, kein Transport. Schließlich schob er das Telefon beiseite und sagte: »Nun, mein lieber Stanisland, da haben Sie uns ja etwas Schönes eingebrockt.« »Ich?« fragte Stanisland, wie betäubt von diesen heimtückischen Worten. »Ja, Sie.« Das war zuviel. Stanisland explodierte. »Aber Sie haben doch die Anweisung genehmigt und sich selbst darum gekümmert.« »Das tat ich unter der Annahme, daß alle Routineaspekte der Angelegenheit geregelt wären, mit der Tüchtigkeit, die ich mir von meinen Angestellten verspreche. Offensichtlich war mein Vertrauen nicht angebracht.« »Das ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, Sir, denn –« »Schweigen Sie!« Taylor sah wichtigtuerisch auf seine Uhr. »Wir haben noch sieben Stunden bis zum Start der Starfire. Weder das Amt für Warentestung noch das Technische Amt wollen das Dokument ausstellen, das Keith benötigt. Wir selbst besitzen nicht die Autorität, es eigenhändig zu schreiben. Aber von irgendwoher müssen wir es bekommen. Sie sehen das doch ein, nicht wahr, Stanisland?« »Ja, Sir.« »Und da Sie die primäre Ursache für diesen Mißstand sind, ist es auch Ihre Aufgabe, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Gehen Sie jetzt und lassen Sie Ihre Phantasie spielen, wenn Sie so etwas haben sollten. Und kommen Sie mir erst wieder unter die Augen, wenn Sie einen verwendungsfähigen Einfall gehabt haben.«
»Ich kann mir kein Gutachten aus den Fingern saugen«, protestierte Stanisland. »Das hat auch niemand von Ihnen verlangt«, stieß Taylor ätzend hervor. »Die Lösung, wenn es eine gibt, muß in Übereinstimmung mit den Verordnungen stehen und den Fragen einer höheren Autorität auch standhalten können. Es liegt bei Ihnen, eine solche zu finden. Und lassen Sie sich nicht zu lange Zeit.« Stanisland kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, ließ sich in den Sessel fallen und zermarterte sein Gehirn. Doch dieses Nachdenken vertiefte seine Verzweiflung nur noch. Er zernagte sich die Fingernägel, dachte angestrengt nach und kam doch immer wieder zu dem gleichen Ergebnis; niemand, aber auch wirklich niemand würde ein Schriftstück anfertigen, um damit den Schnitzer eines anderen Amtes zu decken. Nach einer Weile unternahm er einen Spaziergang zu den Telefonzellen, wo er privat sprechen konnte, rief das Technische Amt an und fragte nach Williams. »Williams«, sagte er ölig. »Ich war dabei, als Taylor Sie vor einer Stunde belästigt hat. Mir gefiel sein Benehmen nicht.« »Mir ebensowenig«, sagte Williams. »Sie waren schon in vielen Fällen eine große Hilfe für uns«, lobte Stanisland mit großer Anstrengung. »Ich möchte Ihnen gerne mitteilen, daß ich das zu schätzen weiß, auch wenn Taylor es nicht tut.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen«, entgegnete Williams mit einem drohenden Glucksen. »Aber damit werden Sie sich von diesem Amt kein Gutachten erschleichen, zu dessen Erstellung wir nicht berechtigt sind.«
»Das versuche ich auch gar nicht«, versicherte Stanisland. »Taylor versuchte es. Er muß glauben, wir wären eine Horde blöder Gimpel.« »Ich weiß«, sagte Stanisland, der die sich aus dieser Bemerkung ergebenden Möglichkeiten dankbar zur Kenntnis nahm. »Um es direkt zu sagen, ich fragte mich, ob Sie bereit wären, mir dabei zu helfen, Taylor eins auszuwischen.« »Wie?« »Indem Sie mir einige Vorschläge machen, wie ich aus dieser leidigen Angelegenheit mit der schädlichen Fracht wieder herauskomme.« »Und warum sollte das dazu beitragen, Taylor eins auf die Rübe zu geben?« »Weil er glaubt, mich dort zu haben, wo er mich haben will. Ich möchte ihm gern beweisen, daß das nicht so ist. Einige dieser Senioren verdienen eine gehörige Lektion.« Er legte eine rhetorische Pause ein und fügte dann kräftig hinzu: »Abelsen zum Beispiel.« Die bloße Erwähnung dieses Namens gab den Ausschlag, und ohne auch nur einen Augenblick zu zögern sagte Williams: »Also gut, ich werde Ihnen etwas erzählen.« »Was?« »Keine angesehene Firma wie Formans würde einen solchen Apparat ohne die nötigen Abschirmungen ausliefern. Wahrscheinlich besteht siebzig Prozent des Gewichts aus eben diesen Abschirmungen. Fragen Sie Forman – sie werden es Ihnen schriftlich bestätigen.« »Williams«, sagte Stanisland stürmisch, »das werde
ich Ihnen nie vergessen.« »Sie werden«, widersprach Williams. »Aber ich nicht.« Daraufhin rief Stanisland Forman an und legte die Angelegenheit in aller Breite dar. Die Antwort kam unverzüglich: Sie wollten sofort eine schriftliche Garantie für die Sicherheit erstellen und diese durch einen speziellen Boten binnen zwei Stunden zu Keith bringen lassen. Stanisland fiel ein Stein vom Herzen, er seufzte laut. Es schien Augenblicke zu geben, in denen die Tüchtigkeit der freien Wirtschaft der der Bürokratie fast gleichkam. In den folgenden Tagen wartete Stanisland mit heimlicher Freude darauf, daß Taylor ihn zu sich rufen ließ. Das geschah nie. Ohne sein Wissen hatte Taylor bei Keith angerufen, um herauszufinden, was geschehen war, wenn überhaupt. Taylor erkannte daraufhin eines sofort: Ein Interview mit Stanisland würde diesem Gelegenheit zu innerem Triumph geben. Es war undenkbar von einem Senior, einem Untergebenen Grund zur Schadenfreude zu geben. Er würde Stanisland dann, und nur dann zu sich bitten, wenn er einen Grund hatte, diesen den Krokodilen zum Fraß vorzuwerfen. So wartete Stanisland auch weiterhin, zuerst mit wachsender Verärgerung, dann mit dumpfer Resignation, und schließlich vergaß er. Die Wochen verstrichen, während die Papierflut sich weiter durch zahllose Büros wälzte, in jedem wurde die Masse noch erhöht. Dann eines Tages kam sie beim Amt für Dokumente (Letzte Überprüfung) an. Sie wog inzwischen fünf Pfund und war übersät mit Worten, Erläuterungen, Stempeln, Namen und Unterschriften.
Aus diesem Berg von Papier griff ein dienstbeflissener Tüftler dort das seltsame Wort Nemo heraus. Er unternahm sofort einige Nachforschungen und vergewisserte sich, daß a) jemand geschlampt hatte, und b) dieser Kretin sich nicht in seinem eigenen Büro befand. Dann übersandte er den Stoß an das Amt für Weltraumstatistik. Weit entfernt, auf Alipan, landete eine Kopie des Frachtverzeichnisses der Starfire auf Hancocks Schreibtisch. Er las sie sorgfältig durch. Die meisten Güter waren bereits vor drei oder vier Jahren bestellt worden. Aber sein Gedächtnis funktionierte tadellos, und in dem Augenblick, als er einen Strahler fand, klingelte eine Alarmglocke in seinem Kopf. Rasch übergab er das Verzeichnis an Purcell. »Damit beschäftigst du dich besser.« »Ich? Warum? Hast du einen Schreibkrampf oder so etwas?« »Das Schiff bringt ein teures Geschenk für einen Planeten, der nicht existiert. Ich kümmere mich nicht um Lieferungen für imaginäre Welten.« »Muffe, eh?« sagte Purcell. »Vernunft«, sagte Hancock. Während er das Verzeichnis durchsah, brummelte er: »Das hat aber auch lange genug gedauert. Da hat sich auch keiner ein Bein ausgerissen, um es hierherzubringen. Wenn die Erkundungspiloten mit der gleichen Geschwindigkeit arbeiten würden, dann würden Lewis und Clarke noch immer ihre eingepferchten Hunde entlang der Oregonlinie transportieren.« »Ich habe«, erklärte Hancock, »diese dauernden
Anspielungen auf die Erkundungspiloten durch und durch satt.« »Und wo wärst du ohne sie?« »Auf Terra.« »Und was würdest du tun?« »Ein ehrbares Leben führen«, sagte Hancock. »Yeah – Formulare ausfüllen«, sagte Purcell. Hancock überhörte das und gab vor, beschäftigt zu sein. »Nun, dies ist der Punkt, wo unser Recht, Prioritäten zu setzen, den Gipfel der Nützlichkeit erreicht«, fuhr Purcell fort, wobei er das Verzeichnis schwenkte, als wäre es die Freiheitsflagge. »Nun werden wir eine übergeordnete Priorität bekanntgeben, wonach unser Wanzologe eine wesentlich dringendere Verwendung hat als Nemo. Danach wird ihm der Fliegentöter überschrieben werden, und zwar ohne Gegenargument, denn niemand stellt ein Formular in Frage, das sauber ausgefüllt ist, sauber gestempelt und sauber unterschrieben. Damit haben wir der Menschheit einen großen Dienst erwiesen.« »Du kannst jedes ›wir‹ und ›unser‹ streichen«, befahl Hancock. »Ich habe damit nichts zu tun.« Erneut schob er hoffnungslose Überlastung vor, während er als eine Art Nachgedanken hinzufügte: »Ich sagte es schon einmal, du kannst das System nicht beeinflussen.« »Ich habe es beeinflußt.« »Noch nicht«, sagte Hancock treffend. Ohne auf ihn zu achten, schrieb Purcell das Prioritätsformular, stempelte es, unterzeichnete es, studierte es noch einmal von oben nach unten und unterzeichnete noch einmal.
»Ich habe – soeben – deine Unterschrift gefälscht. Macht es dir sehr viel aus?« »Ja«, schrie Hancock. »Ich verstehe dich laut und deutlich.« Purcell untersuchte die Fälschung mit unverhohlener Zufriedenheit und ohne eine Spur von Scham. »Zu dumm. Aber nun ist's passiert. Was einmal geschehen ist, kann man nicht wieder ungeschehen machen.« »Ich möchte, daß du dir über eines ganz genau im klaren bist, Purcell, wenn dieses Dokument entlarvt wird, dann werde ich nicht zögern, meine Unterschrift als Fälschung zu enthüllen.« »Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Purcell enthusiastisch. »Ich werde beschwören, daß meine ebenfalls falsch ist.« »Das würdest du nicht wagen«, stieß Hancock entsetzt hervor. »Es würde sie zehn Jahre kosten, um herauszufinden, wer ein Lügner ist, und selbst dann könnten sie es nicht mit absoluter Sicherheit sagen«, fuhr Purcell mit ungebührlicher Freude fort. »In dieser Zeit werde ich beweisen, daß vielleicht jedes Dokument auf Alipan und die Hälfte der terranischen gefälschte Unterschriften haben, von Untergebenen gefälscht, die etwas vor ihren Vorgesetzten verbergen wollten, wie etwa eigene Fehler, oder um einer Kritik aus dem Weg zu gehen. Das resultierende Chaos wird ausreichen, um zehntausend Prüfer mit Arbeit zu versorgen.« »Du hast den Verstand verloren«, erklärte Hancock. »Nun, du wirst mir gleich Gesellschaft leisten können«, sagte Purcell. Er hielt das Manifest in einer Entfernung hoch, die es dem anderen unmöglich machte,
ein Wort zu lesen. »Ich habe Neuigkeiten für dich.« »Welche?« »Kein Gin.« Für eine kurze Zeit schnaufte Hancock tief, dann sagte er: »Daran bist nur du schuld.« »Unsinn! Ich habe nicht zu entscheiden, was Terra verlädt und was nicht.« »Aber –« »Ehe du dich wiederholst«, fuhr Purcell unbarmherzig fort. »Du hast mir bereits hundertmal gesagt, daß ein alipanisches Amt unter gar keinen Umständen die Verantwortung für eine auf Terra getroffene Entscheidung übernehmen kann. Korrekt?« »Korrekt«, stimmte Hancock zu, als liefere er sich damit einem Feind aus. »Nun gut. Du hast den Gin bestellt, und du kannst das beweisen. Du hast dem höchste Priorität gegeben und kannst das beweisen. Du bist von allen Seiten abgesichert. Alles, was du tun mußt, ist Letheren aufsuchen und ihm sagen: ›Tut mir leid, kein Gin.‹ Wenn er daraufhin tobt und rotiert, dann sagst du einfach ›Terra!‹ und Schluß. Es ist so einfach, ein sprechender Pudel könnte das erledigen.« »Ich kann es kaum erwarten, bis du dich Nemos auf gleiche Weise entledigst«, sagte Hancock, und es klang sadistisch. »Niemand hat auch nur ein Wort über Nemo verloren. Niemand ist auch nur im geringsten neugierig, was Nemo betrifft. Warum sollte dann ich, James Walter Armitage Purcell, mich darum kümmern?« »Du wirst dich noch darum kümmern«, versprach Hancock.
Nach kurzer Zeit – auf Alipan bedeutete das soviel wie drei Monate – heulte ein Interkomsprecher an der Wand, und eine Stimme verkündete frostig: »Mr. Purcell vom Amt für Anforderungen (Prioritäten) möchte sich um elf Uhr im Büro von Mr. Vogel melden.« Hancock sah auf seine Schreibtischuhr, grinste häßlich und sagte: »Du hast exakt siebenunddreißig Minuten Zeit.« »Wofür?« »Um dich auf den Tod vorzubereiten.« »Huh?« »Vogel ist ein Höchstrang mit zweiundneunzig Untergebenen. Er kontrolliert vier Ämter, einschließlich des terranischen Amtes für Zusammenarbeit.« »Ja und?« »Es ist sein Hobby, sich um alle Beanstandungen von seiten Terras persönlich zu kümmern. Jeder, der zu ihm gerufen wird, ist von vornherein auf verlorenem Posten, es sei denn, er hält ein Dokument, das hieb- und stichfest seine Unschuld bezeugt, in seiner kleinen, heißen Hand.« »Hört sich nach einem netten Menschen an«, kommentierte Purcell, in keiner Weise beunruhigt. »Vogel«, informierte Hancock, »ist ein ehemaliger Werbemanager, der sich die Sohlen durchlief, wenn er seine Anschlagbretter um den Block kontrollierte. Er ist ein Naturtalent, wenn es um Routinegespräche geht. Er ist emporgeklettert auf den Schultern einer wachsenden Menge von Unterlingen, und er steigt noch immer.« Er schwieg und fügte dann angewidert hinzu: »Ich kann ihn nicht ausstehen.« »Das merkt man«, sagte Purcell trocken.
»Eine ganze Menge Leute können ihn nicht ausstehen. Letheren haßt seinen bloßen Anblick.« »Tut er das? Ich nehme an, Vogel verspürt ähnliche Gefühle für Letheren, eh?« »Vogel liebt nichts außer der Macht – die in seinen Augen durch einen hohen Rang repräsentiert wird.« »Hm-mm-m!« Purcell dachte nach, ging hinaus, kam nach zwanzig Minuten zurück und dachte erneut nach. »Wo bist du gewesen?« fragte Hancock. »In der Rechnungsabteilung.« »Hast du dich auszahlen lassen, weil es besser ist, rechtzeitig zu gehen?« »Nein. Ich habe mich lediglich davon überzeugt, daß einhundertundfünf ebensoviel ist wie siebzehnhundert.« »Das würde dich nicht retten, selbst wenn es einen Sinn ergäbe.« Hancock fuhr fort, sich eifrig mit nichts zu beschäftigen, während er mit einem Blick ständig die Uhr im Auge behielt. Als der Augenblick gekommen war, sagte er: »Mach dich auf die Socken. Ich hoffe, du überstehst es.« »Danke.« Purcell öffnete seinen Schreibtisch und brachte eine gewaltige Papierrolle zum Vorschein, die er sich unter den Arm klemmte. Er stapfte hinaus, fand den Weg zu dem Stelldichein und betrat das Büro. Vogel, dunkelhaarig, dunkeläugig und dunkelhäutig, betrachtete ihn ausdruckslos. »Setzen Sie sich, Purcell.« Er entblößte eine Reihe langer, scharfer Zähne und brachte es irgendwie fertig, wie Sitting Bulls Großmutter auszusehen. »Terra hat mich über eine Bestellung für einen Planeten mit
Namen Nemo informiert.« »Das, Sir, ist –« Vogel winkte ungehalten mit der Hand. »Bitte seien Sie still, Purcell, bis ich ausgeredet habe. Ihre eigenen Erklärungen haben später noch Zeit.« Erneutes Entblößen der Zähne. »Eine Menge wertvoller Zeit wurde für die Überprüfung dieses Falles aufgewendet. Ich habe gern alle bekannten Tatsachen, ehe ich die betroffenen Personen befrage.« »Ja, Sir«, sagte Purcell, der nervös mit seiner Papierrolle spielte und sich alle Mühe gab, beeindruckt zu wirken. »Zuerst überzeugte ich mich von der Korrektheit der terranischen Anfrage; eine solche Bestellung wurde in der Tat gemacht, und Sie haben sie bearbeitet. Zum zweiten, daß der Gegenstand der Bestellung, ein Strahler, von Ihnen an eine Adresse auf diesem Planeten überschrieben wurde. Drittens wurde keinem Planeten, der vor oder nach diesem Datum entdeckt wurde, der Name Nemo gegeben.« Er faltete die Hände, was ihm das Aussehen eines Predigers gab. »Man kann sich all den Ärger und Zorn, den das auf Terra verursachte, gut vorstellen. Ich hoffe, Sie, Purcell, können mir eine hinreichend zufriedenstellende Erklärung geben.« »Ich denke, das kann ich, Sir«, sagte Purcell schlagfertig. »Es freut mich, das zu hören.« »Der ganze Ärger ist jemandem auf Terra zuzuschreiben, der zu dem irrigen und ungerechtfertigten Schluß kam, Nemo sei der Name eines Planeten, wo es sich doch tatsächlich um einen Code handelt, der von meiner Abteilung verwendet wird, um eine pro-
visorische Priorität von einer definitiven zu unterscheiden.« »Eine provisorische Priorität?« echote Vogel und zog mit sardonischer Miene die Augenbrauen hoch. »Was ist das für ein Unsinn? Ist Ihnen nicht bekannt, Purcell, daß alle Bestellungen strikt in der Reihenfolge von Dringlichkeit und Nützlichkeit behandelt werden müssen, wobei es keinerlei Ermessensspielraum gibt? Wie also kann etwas eine provisorische Priorität haben?« »Es fällt mir sehr schwer, Ihnen das zu erklären, Sir«, sagte Purcell, der eine Aura von Selbstrechtschaffenheit ausstrahlte. »Ich bestehe auf einer Erklärung«, gab Vogel zurück. Mit gerade der richtigen Mischung aus Schmerz und Verlegenheit sagte Purcell: »Seit der Weltraumfrachtverkehr so strengen Beschränkungen unterliegt, ist die Aufgabe, Prioritäten zu gewähren, sehr schwierig geworden. Und wenn ein hoher Bürobeamter meinem Amt praktisch befiehlt, seiner Bestellung eine höhere Priorität zu geben als ihr eigentlich zusteht, dann müßte ich eigentlich, wenn ich gehorche, etwas von immenser Bedeutung mit einer geringeren Priorität klassifizieren als eigentlich angebracht ist. Aber die Vorschriften erlauben es mir nicht, den Status einer Bestellung mit höchster Priorität zu senken. Deshalb bin ich gezwungen, ihr eine provisorische Priorität zu geben, was bedeutet, daß der nötige Frachtraum bereitgestellt wird, vorausgesetzt, niemand greift ein und untersagt das.« Verstehen leuchtete in Vogels Augen auf. »Und das ist in diesem Fall geschehen?«
»Ich befürchte es, Sir.« »Mit anderen Worten, Sie dulden eine ungerechtfertigte Einmischung in die Belange Ihres Amtes?« »Dies«, sagte Purcell mit Anzeichen von Widerwillen, »drückt den Sachverhalt etwas härter aus als mir lieb ist.« »Purcell, wir müssen dieser Angelegenheit auf den Grund gehen, dies ist nicht der rechte Zeitpunkt, um über Worte zu streiten. Was hat man Ihnen denn exakt befohlen, mit höchster Priorität zu beschaffen?« »Gin, Sir.« »Gin?« Eine Mischung aus Entsetzen und Unglauben erschien auf Vogels Gesicht. Doch diese verschwand rasch, um unterdrücktem Triumph zu weichen. »Wer befahl Ihnen, Gin zu importieren?« »Das werde ich nicht sagen, Sir.« »War es Letheren?« Purcell sagte nichts, doch er machte ein Gesicht wie jemand, der um Letherens Seele fürchtet. Damit zufrieden, schnurrte Vogel. Er rieb sich die Hände, seine Stimme wurde positiv vertraulich. »Nun, Purcell, es scheint mir, als wären Sie nur eines geringen Vergehens schuldig. Sollten Sie es für nötig finden, Codewörter aus Gründen administrativer Bequemlichkeit zu benutzen, so ist es offensichtlich, daß man Terra hiervon über die entsprechenden Kanäle informieren sollte. Ohne reguläre Informationen würde Terra vielleicht selbst beginnen, sich ein unverständliches Jargon anzueignen. Eine unmögliche Situation, wie Sie jetzt ja wohl zweifellos einsehen, eh, Purcell?« »Ja, Sir«, sagte Purcell demütig und dankbar. »Aber unter den gegebenen Umständen erscheint
es mir nicht angebracht, Terra von der wahren Bedeutung Nemos zu unterrichten. Das zu tun wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, daß unser Prioritätensystem abhängig ist von den Launen eines einzelnen. Ich hoffe, Sie verstehen, worauf ich hinaus will, Purcell?« »Voll und ganz, Sir.« »Daher werde ich an Terra melden, der Gebrauch dieses Wortes sei ein Amtsfehler, der aus Überarbeitung und Personalmangel herrührt.« Er entblößte die Zähne. »Das wird ihnen hoffentlich Stoff zum Nachdenken geben.« »Ich bin sicher, das wird es, Sir.« »Purcell, ich fordere Sie auf, keine weiteren Codeworte zu verwenden, es sei denn mit meinem Wissen und meiner Zustimmung. In der Zwischenzeit werde ich die nötigen Schritte einleiten, um einer weiteren Einmischung in Ihr Amt vorzubeugen.« »Vielen Dank, Sir.« Purcell erhob sich, fummelte an seiner Papierrolle herum und sah unschlüssig aus. »Ist sonst noch etwas?« fragte Vogel. »Ja, Sir.« Purcell drückte Zweifel und Zögern aus, dann ließ er die Worte in einem Rutsch hervorsprudeln. »Ich dachte mir, dies könnte der geeignete Moment sein, um Ihnen ein neues Formular zu zeigen, das ich erfunden habe.« »Ein Formular?« »Ja, Sir.« Er entrollte es und gab es Vogel. Das andere Ende reichte bis fast zur Wand. »Das, Sir, ist ein Meisterformular, das auszufüllen ist mit Herkunft, Zweck, Details, dem weiteren Weg und dem Ziel jedes anderen Formulars, das ausgefüllt werden muß. Es ist, sozusagen, das Formular der Formulare.«
»Wirklich?« sagte Vogel stirnrunzelnd. »Das bedeutet«, fuhr Purcell schleimig fort, »es wird damit möglich sein, den Weg eines Formulars Schritt für Schritt zu verfolgen, um Unterlassungen oder Fehler unverzüglich zu erkennen und den Verantwortlichen herauszufinden. Sollte ein Formular verlorengehen, wird es relativ einfach sein, den Ort zu finden, wo es verschwand, und die Person, die es verloren hat.« Er gab dem anderen Zeit, das zu verdauen, dann erst sprach er weiter: »Von allen inneramtlichen Irrungen, die mir bekannt sind, wurden sehr viele vor den Bürovorständen verborgen. Ich schätze, dieses Formular würde es ermöglichen, etwa zwanzigtausend Arbeitsstunden jährlich einzusparen.« »Ist das so?« sagte Vogel, wenig interessiert. »Ein Hindernis gibt es allerdings«, fuhr Purcell fort. »Um all diese Arbeit einzusparen, wird es nötig sein, mehr Leute einzustellen. Da deren Arbeit vollkommen koordinierbar wäre, würden sie wahrscheinlich Ihnen unterstellt werden, was Ihre Verantwortung noch erhöhen würde.« »Ah!« sagte Vogel hellhörig. »Tatsächlich würden wir ein neues Amt schaffen müssen, um die zu bewältigenden Aufgaben zu reduzieren. Ich habe mich mit dieser Sache sehr intensiv befaßt und glaube, daß wir mit einem Minimum von dreizehn Leuten auskommen.« »Dreizehn?« echote Vogel und zählte mit den Fingern. Er begann das Formular zu studieren, während eine unverhohlene Freude über ihn kam. »Purcell, ich glaube, Sie haben da etwas entworfen. Ja, das glaube ich wirklich.«
»Vielen Dank, Sir. Ich wußte, daß Sie in der Lage sein würden, die Möglichkeiten einzuschätzen. Darf ich Ihnen das Formular zur weiteren Betrachtung hierlassen?« »Alle Wetter, Purcell.« Vogel war nun beinahe jovial. Zärtlich streichelte er das Formular, seine Finger liebkosten es. »Aber sicherlich müssen Sie es bei mir lassen.« Er sah auf, strahlend. »Wenn hiermit etwas getan wird, Purcell, dann brauche ich jemanden der das neugeschaffene Amt beaufsichtigt. Jemand, der seinen Job versteht und in den ich vollstes Vertrauen habe. Ich kann mir keinen besseren Kandidaten als Sie selbst vorstellen.« »Es ist sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen, Sir«, sagte Purcell unterwürfig. Er verabschiedete sich, doch als er ging, drehte er sich unter der Tür um, und einen Augenblick fanden sich ihre Augen. Sie tauschten einen Blick gegenseitigen Verständnisses aus. Zurück in seinem eigenen Büro, ließ Purcell sich in einen Stuhl fallen und rezitierte: »Wann immer zwei Wahrsager einander auf der Straße begegnen, unweigerlich lächeln sie einander zu.« »Wovon sprichst du?« fragte Hancock. »Ich zitierte ein altes Sprichwort.« Er hielt zwei eng zusammengepreßte Finger in die Höhe. »Vogel und ich stehen so miteinander.« »Mich kannst du nicht zum Narren halten«, spottete Hancock. »Deine Ohren sind immer noch knallrot.« »Vogel mag mich, und ich mag Vogel. Ich habe ihn genau an seiner schwachen Stelle getroffen.«
»Er hat keine schwachen Stellen, verstehst du?« »Alles, was ich getan habe«, sagte Purcell, »war, ihm klarzumachen: Wenn die Zahl seiner Untergebenen von zweiundneunzig auf einhundertfünf erhöht wird, dann wird er automatisch von einem Beamten der Klasse neun zu einem Beamten der Klasse acht befördert. Das wird ihm weitere siebzehnhundert Mäuse pro Jahr einbringen, plus zusätzlicher Privilegien und natürlich eine höhere Pension.« »Niemand muß Vogel das erzählen – das weiß er besser als jeder andere.« »Also gut. Sagen wir, ich habe ihn lediglich daran erinnert. Umgekehrt hat er mich daran erinnert, daß ein gescheiterter Held, der zwölf Unterlinge beaufsichtigt, wesentlich besser dran ist als einer, der das Büro mit einem Faulpelz teilt.« »Ich frage weder nach der wahren Geschichte deiner Demütigung, noch erwarte ich, sie zu hören«, brummelte Hancock. »Daher brauchst du auch nicht mit deinem verrückten zweideutigen Geschwätz anzugeben.« »Eines Tages«, eröffnete Purcell grinsend, »wird es dir vielleicht dämmern, daß es durchaus möglich ist, ein System zu beeinflussen. Alles, was du tun mußt, ist den Schalthebel in seine normale Richtung zu drücken, nur etwas weiter.« »Ach, sei still«, sagte Hancock. »Und mach den Mund erst wieder auf, wenn du in der Lage bist, vernünftig zu reden.«