Die Bestie mit den roten Händen SIDNEY STUART VORSTELLUNG EINES VERRÜCKTEN »… Herren und Männer. Hört mir bitte mal zu...
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Die Bestie mit den roten Händen SIDNEY STUART VORSTELLUNG EINES VERRÜCKTEN »… Herren und Männer. Hört mir bitte mal zu. Wenn ihr wirklich Erfolg bei den Damen haben wollt…« Hollis Waring drehte sein Brillengesicht der Digitaluhr mit Radio zu, die rechts von seinem sorgfältig gemachten Bett auf dem Bücherbord stand, und zog die Stirn kraus. Die Leuchtziffern gaben drei Uhr fünfzehn an. Es war später, als er angenommen hatte. Nur noch zwei Stunden, und er mußte sich im Elm-Theater einfinden. Doch sein fremdartiges Stirnrunzeln galt nicht nur der späten Stunde. Der schmeichlerische, säuselnd-anmaßende Ton der Stimme aus dem Sender WKMEL in Melville berührte ein Thema, das er bei weitem vorzog, in den dunklen Wäldern seiner Seele zu verbergen. Für ihn war das stets unbetretenes Gebiet geblieben. Wie konnte es dieser Dreckskerl von Sprecher wagen, über so eine private und vertrauliche Sache zu quatschen? War denn nichts heilig? »… Es gibt eine perfekte Methode im Umgang mit dem andern Geschlecht. Ein paar einfache Regeln, und Eva gehört euch, jede Eva – wenn ihr Adam genug seid, euch richtig vorzubereiten. Dann und nur dann werdet ihr im Leben den reichsten Lohn ernten. Die Liebe einer guten Frau…« Die Verkniffenheit in Hollis Warings Gesicht verstärkte sich. Der dünnlippige Mund und die gefurchte Nase nahmen sich merkwürdig zwischen den hohen Backenknochen aus. Die randlosen Brillengläser blitzen über der Hakennase wie Fenster, die aufs äußerste gewienert waren. Die Augen dahinter aber stierten in verschwommener unruhiger Wut. »… dürft ihr nie über euch selber reden. Fragt immer die Lady, was sie denkt, was sie beschäftigt, was sie von der Welt und vom Leben hält. Wenn ihr sprechen müßt, bringt immer was Nettes, Freundliches, Rührendes an. Bringt immer Blumen, Konfekt oder irgendwas, das irgendwie an ein Geschenk erinnert. Vor allem, schreibt Briefe und Nachrichten voller Liebe und Leidenschaft.«
Irgendwo draußen donnerte eine Düsenmaschine über den Himmel. Das Überschalldröhnen schien die Pausen und den Rhythmus der autoritären Sprecherstimme zu akzentuieren. »… benehmt euch wie ein Gentleman, gleich, was es euch kostet. Helft ihr in den Mantel, schiebt ihr den Stuhl unter, gebt ihr Feuer für die Zigarette, helft ihr beim Ein- und Aussteigen und haltet ihr die Tür auf. Geht stets als erster durch unbekannte Türen. Versucht nicht, überstürzt euer Ziel zu erreichen. Bittet vorher oder deutet eure Wünsche durch Worte oder Handlungen an. Steuert sanft und zärtlich auf Umarmung und Küsse zu. Seid überzeugend. Bringt sie dazu, daß sie angebetet und geliebt sein will. Auf diese Weise werdet ihr zwangsläufig euer eigenes Glück und ihre Hingabe erlangen. Denkt daran, eure Angebetete möchte von euch geliebt werden. Und nur von dem einen. Es liegt an euch, diesen Status quo zu erhalten…« Hollis Warings Lippen entblößten die Zähne: ein wildes, verächtliches und verkrampftes Oval der Bosheit. Er knurrte fast unhörbar, seine Finger bohrten sich unabsichtlich in das Zigarettenetui. »… Zeigt Interesse für ihre Freunde, ihre Tätigkeit, ihre Familie. Ihr müßt euch an allem beteiligt zeigen, das in ihrem Leben passiert, und um Gottes willen zeigt euer Interesse deutlich! Sie ist wichtig für euch, also muß ihre Umwelt gleichfalls für euch wichtig sein…« Unerwünschte Namen, seit Jahren vergraben, drangen in Scharen aus der fernen Vergangenheit in das Gehirn Hollis Warings. Trudi Earle, Randy Williams, Estelle Harvey, Rose Richards, Madie Morgan, Georgie Rand, Sophie Garnley, Thelma Brady, Ada Varney, Jessica Thorpe, Ellie Ryan… Rothaarige, bei Gott! Jede einzelne, gottverdammte, war rothaarig! Alle möglichen Töne, Schattierungen und Färbungen von Rot. Aber er konnte sich an kein einziges Gesicht mehr erinnern. Er schwenkte den Kopf hin und her, heftig, als könne die Bewegung die Namen und Farbtöne vertreiben. Aber die Bilder schwollen an, drängten von allen Seiten auf ihn ein, wie um ihn zu verschlingen. »… bringt sie mit zu Freunden. Macht sie voller Liebe und Stolz bekannt. Beweist ihr, daß sie euch alles bedeutet. Präsentiert sie als mehr als den begehrenswerten Preis der Liebe…« Hollis Warring stöhnte in der Stille seines Zimmers. »… nun, das waren nur ein paar Gebote im Eroberungskampf
der Liebe. Der Schlüssel zum Tor eurer Süßen, sozusagen. Wenn ihr euch an diese einfachen und direkten Regeln haltet und sie mit enthusiastischem Nachdruck befolgt und euch wirklich bemüht, werdet ihr sicherlich ein erfolgreicher Liebhaber sein… Im Werben liegen Taktik und Erfolg des Verliebtseins… Es sprach Calivar Lovelace. Ich danke Ihnen fürs Zuhören…« Die Stimme hatte den dümmlichen Monolog beendet, und fast sofort plärrte Musik aus dem Radio. Blech, Gitarre und Klavier. Hollis verzog das Gesicht und ging steif zum Radio. Er knipste es aus. Er war nicht in der Stimmung für Musik, für Werbung oder andere lärmende Massenware. Der Raum war nun von einem Summen erfüllt. Ein anderer Klang, eine andere Aura, kein wirklicher Lärm. Die Luft vibrierte von etwas Lebendigem. Es roch wie die Farbe Rot. Ein moschusartiges, stickiges, erstickendes Aroma, das alles andere im Universum verdrängte. Ein scharlachrotes Chaos. Hollis Waring schaute auf die Uhr. Große weiße Ziffern – 3.30 – starrten ihn an. Zeit sich anzuziehen und zu gehen. Zu tun, was er zu tun hatte. Was er stets tun mußte. Am Ende. Das übelste an der ganzen Sache war, daß er absolut machtlos war und sich nicht zurückhalten konnte. Er hatte diese schlimme Wahrheit nur allzufrüh entdeckt. Fast gleich nachdem er die erste Frau umgebracht hatte. Jetzt mußte er eine zweite töten. Natürlich eine Rothaarige. Nein, eigentlich so viele, wie der Vorrat hergab. Alle mußten rothaarig sein, und sie mußten getötet werden. Er brauchte nun nicht mehr nach Gründen für seine zwanghaften Streifzüge in den Straßen zu suchen. Tags oder nachts, es schien nicht mehr wichtig zu sein. Es mußte getan werden, weiter nichts. Jemand mußte heute nacht sterben. Es mußte eine Frau sein. Und sie mußte rotes Haar haben. Gleich welche Tönung, ob natur oder künstlich. In der prächtigen Farbe Rot lag der Schlüssel zur Gewalttätigkeit. Zum Tod. Zu ungeschmälertem Genuß. Hollis Waring war ein Mann, der mit Wonne Rothaarige tötete. Er hatte keine anderen Laster. Er trank nicht. Er rauchte nicht. Das silberne Zigarettenetui, das er poliert hatte, gehörte seinem Arbeitgeber unten im Elm-Theater. Einem netten Mann, dem er einen Gefallen erwies.
PUPPEN-ALLE Für eine Frau, die sterben sollte, und zwar einen besonders gewaltsamen und scheußlichen Tod, hätte niemand lebendiger aussehen können als Linda Chase, diplomierte Krankenschwester. Tatsächlich stellte Linda, im zweiundzwanzigsten Lebensjahr, in den frühen Morgenstunden jenes unseligen 3. Januar ein Prachtexemplar an Gesundheit, phantastischem Aussehen und Vitalität dar. Ja, man pries sie sogar als die hübscheste Schwester im ganzen General Hospital in Melville. Linda Chase gehörte fast von dem Tag an zur Belegschaft des Krankenhauses, an dem sie das Carson College vor der Stadt verließ. Am Morgen, an dem sie sterben sollte, stellte ihr eine Kollegin in der Notaufnahme die Frage: »Warum heiratest du nicht, Linda? Dann bist du raus aus der Bettpfannenatmosphäre hier. Wer so aussieht wie du, der muß doch ’nen guten Typ kriegen können!« »Ha. Dazu hat’s noch genug Zeit. Ich will erst noch ’ne ganze Weile das Leben kennenlernen, Marymädchen. Außerdem kenne ich keinen, der mir gut genug gefiele.« Aber es war eigentlich überhaupt kaum noch Zeit. Nicht in diesem Leben, wie sich zeigen sollte. Als Mary Watkins Leutnant Arnie Abrams von der Mordkommission tränenüberströmt berichtete, was Linda an diesem Tag zu ihr gesagt hatte, ergab sich, daß das Gespräch etwa gegen sechs Uhr abends stattgefunden hatte – und Linda sollte etwa um drei Uhr morgens sterben. Viertel vor oder viertel nach. Linda fühlte sich an diesem Morgen um halb drei Uhr ein wenig unglücklich. Die Schatten der Nacht bedeckten ganz Melville. Es war auch keiner da, der ihren Verdruß gesehen hätte. Linda hatte leider den letzten Bus aus dem Clay Village verpaßt, wo sie sich die Spätvorstellung im Ritz angesehen hatte. Den Film mochte sie gar nicht. Und es steigerte noch ihr Mißvergnügen, daß sie kein spätes Taxi finden konnte. Also beschloß sie, die zwanzig Minuten quer durch die Stadt bis zu der Pension, in der sie lebte, zu Fuß zu gehen. Es war wohl mehr diese einsame Wanderung durch die ungewöhnlich stillen Straßen mit verschlossenen Geschäften und Bars, die zu ihrem Tod führte, als irgendein anderer Faktor. Eine Person ganz allein bietet sich einem Mörder geradezu an. Fast immer, leider.
Nebenbei sei erwähnt, daß Linda rothaarig war. Und eine prachtvolle Rothaarige überdies. Mit flammendem langem Haar, das sie immer zu einem attraktiven Knoten im Nacken schlang (wegen ihres Berufs). Linda war gern Krankenschwester. Aber ihr schönes langes Haar liebte sie fast ebensosehr und weigerte sich, es abzuschneiden. Als Linda mit straffen athletischen, zielstrebigen Schritten durch die Stadt marschierte, trug sie die weißen Schuhe und die weiße Uniform und die schicke weiße Pelerine um die Schultern, und die flotte Schiffermütze keck auf der roten Haarkrone. Später kam sich Leutnant Abrams vor wie in einer Sackgasse. Er hob verzweifelt die Hände zum Himmel, als sich keine Augenzeugen meldeten, die Linda auf ihrem Weg durch die Stadt zu der Pension in der Rivers Street gesehen hatten, wo sie ihre Freizeit zu verbringen pflegte. Nicht einmal ein Streifenpolizist hatte Linda innerhalb der zwanzig oder mehr Minuten gesehen, bevor sie angefallen wurde. Es war unglaublich, praktisch eine Unmöglichkeit, aber genau das war geschehen. Oder jemand log oder hatte Angst, sich zu melden. Und da niemand Linda sah, konnte niemand den Mann oder die Frau beschreiben, die sie vielleicht verfolgte. Doch irgendwo in diesen menschenleeren Morgenstraßen in einer ungewöhnlich milden Witterung für die Jahreszeit schlich sich jemand leise hinter Linda Chase, während sie den Schlüssel in die ebenerdige Eingangstür der Pension steckte. Das wurde deutlich, als später die Polizei eintraf, die ein schreckstarrer Milchmann namens Hendrikson gerufen hatte, der auf den entstellten Körper gestoßen war. Linda Chases Schlüssel steckte noch. Sie lag, wo sie gestürzt war, im Flur, in dem schwacherleuchteten Vestibül. Sie lag auf dem Rücken, die Arme ausgebreitet wie gekreuzigt, ein wohlgeformtes Bein abgewinkelt ausgestreckt. Die kecke Mütze saß noch auf dem prächtigen roten Haar, die Pelerine war zerfetzt, als habe ein langes scharfes Instrument oder extrem lange Fingernägel sie zu Streifen zerrissen. Oder waren es Tierklauen? Daß es Mord war, darüber gab es keinen Zweifel. Daß es sich um Verstümmelung und Perversion handelte, wurde kaum geleugnet. Selbst die abgebrühtesten Wärter in der Leichenhalle schüttelten die Köpfe. Selten war eine Leiche oder ein Opfer – Mordfall oder nicht – so
brutal und unmenschlich behandelt worden. Die lebende Linda Chase war schön gewesen. Tot war sie abscheulich und häßlich. Die schlanke Kehle war eine einzige rötlich-schwarze Wunde, Lindas früher hübsches Gesicht eine angeschwollene gespenstische blutrote Karikatur. Doch das war nicht alles. Der Mörder war in seiner Brutalität weit über das Würgen mit den Händen hinausgegangen. Weit über das, was ein Durchschnittsmensch tun könnte. Viel, viel weiter. Als Leutnant Abrams den mündlichen Bericht des Gerichtsmediziners hörte, konnte er nicht verhindern, daß ihm die Augen ein wenig aus dem Kopf traten und sein Kinn vor Schreck und Abscheu herabsackte. Abrams hatte in den Jahren seiner Zugehörigkeit zur Polizei alles mögliche Üble und Gute erlebt, doch der jüngste Mörder Melvilles schien den Tiefstand menschlichen Verhaltens erreicht zu haben. »Sie sagen, die Chase wurde mit ’ner Flasche vergewaltigt?« »Genau das, Arnie.« Der Gerichtsmediziner, der J. T. Donne hieß, stand knapp vor der Pensionierung, aber sein schlanker Körper, die dynamische Energie und das volle braune Haar straften sein Alter Lügen. »Nachdem er sie erwürgt hat.« »Jeeesus«, sagte Arnie Abrams. »Wohin zum Teufel ist es mit der Welt gekommen?« Darauf wußte keiner eine Antwort. Obwohl die Frage bei weitem nicht nur rhetorisch gemeint war. Abrams wollte eine Antwort haben. Irgendeine Antwort. J. T. Donne und seine Untergebenen, die sich in dem schäbigen Büro im Zentrum der Kriminalabteilung Mord drängten, konnten ihm keine geben. Entsetzen macht alle sprachlos. Auch Linda Chase konnte es ihm nicht sagen. Sie am allerwenigsten. Linda, die von einem hübschen rothaarigen weiblichen Wesen, das seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Kranken zu helfen, war in eine kalte Leiche verwandelt worden. In einen Fall, eine Nummer. Vier-Fünf-Sieben. Vier-Fünf-Sieben war der offizielle Melviller Polizeijargon für MORD, ein Verbrechen, das immer eine Kategorie für sich darstellt. Auch konnte an jenem scheußlichen Todesmorgen keiner ahnen, daß der Rotschopf-Killer nur zum erstenmal zugeschlagen
hatte. Und daß er nur allzubald wieder zuschlagen würde. Noch ehe die Woche zu Ende war. Und alle seine Opfer würden Puppen sein. Lebendige Puppen – alle.
DERSELBE KILLER KILLT WIEDER Hollis Waring war fünfundzwanzig Jahre alt. Seine Ruhe, Beflissenheit, Liebenswürdigkeit und Zurückhaltung waren in der Pension der Mrs. Emma Lawrence eine Zierde. Vom ersten Tag an, da er mit dem Weidenkoffer in der Hand an ihrer Tür erschien, unauffällig gekleidet, brauner Anzug, Krawatte, feste, auf Hochglanz gewienerte Schuhe, und dieser charakteristische verstohlene Blick in den Augen, die haselnußbraun hinter den randlosen achteckigen Gläsern spähten. Mrs. Lawrence, pummelig, mit rosigen Backen und zutiefst davon überzeugt, daß die Jugend die letzten Reste gesellschaftlicher Schicklichkeit ruiniere, fühlte sich sofort zu ihm hingezogen. Und als der junge Mann angab, er sei als Filmvorführer im Elm-Theater an der Farm Street angestellt, brauchte sie nicht zweimal zu überlegen, ob sie dem Neuen das Zimmer im ersten Stock geben könne, das auf die Dale Street mit dem hübschen Blick auf saubere Gehsteige, angenehmen grünen Rasen und Schindelhäuser. Hollis Waring gefiel Mrs. Lawrence von der allerersten Begegnung an. Er war so ruhig, sprach so ruhig und wußte, wie man zu gereifteren Personen zu sprechen hat. Der alten Pensionswirtin tat es in der Seele wohl, ihm zuzuhören. Ihr Mann Paul war seit über zehn Jahren tot, sie war kinderlos und hatte nicht wieder geheiratet. Und innerhalb weniger Tage schaffte er es mit Leichtigkeit, ihr Lieblingsmieter zu werden. Es war so eine Erleichterung, einen jungen Mann zu treffen und mit ihm zu reden, der so ernsthaft war und nicht von Revolution sprach oder von der Zerstörung Amerikas oder der andauernd von dummen jungen Gänsen träumte. Und schließlich, was für einen weiteren Beweis für die ungewöhnlichen Qualitäten des jungen Mannes benötigte sie als seine bedeutende Position als Filmvorführer in einem so erstklassigen Kino wie dem Elm? Er mußte schrecklich gescheit sein, wenn man ihm eine derartige Tätigkeit anvertraute. Trotzdem, bei all seinen offenkundigen Vorzügen, gab es etwas an Hollis Waring, das beunruhigend, ja fast ein wenig erschreckend war – seine Hände. Ihr Lebtag lang hatte Emma Lawrence
Hände wie die von Hollis Waring noch nicht zu Gesicht bekommen. Nicht einmal bei ihrem verstorbenen Gatten Paul. Und es war so komisch, daß der Junge solche Riesenhände hatte. Sicher, er war etwa einsachtzig groß, aber doch eigentlich eher schmal und schien kaum mehr als seine siebzig Kilo zu wiegen. Aber diese Hände! Sie sahen aus, als wenn er mühelos in jeder sechs Basebälle halten könnte. Es sah aus, als hingen sie aus den Ärmeln, wie eingesperrte lebendige Dinger, die sich irgendwie nie bewegten oder dehnten oder zuckten, trotz des Eindrucks, den sie erweckten, als wären sie etwas von dem übrigen Körper Getrenntes. Aber es waren auch ungewöhnlich feine, kräftige Hände. Die Hände eines Scheusals am Leib eines Dichters. Um so mehr galt ihr Respekt dem Jungen, der dermaßen markante Pranken so geschickt für eine Arbeit verwenden konnte, die sich Mrs. Lawrence in ihrer Unwissenheit als pingelige Fingerarbeit, manuelle Präzision erfordernd, vorstellte – die Handhabung der Filmspulen, die auf die breite weiße Leinwand im Elm-Theater projiziert wurden. Es wäre hinterhältig und gar nicht Emma Lawrences Charakter entsprechend gewesen, hätte sie Hollis Waring gegenüber nicht von seinen Händen und dem direkten Eindruck gesprochen, den diese auf sie machten. »Also, ich bin sicher, Mr. Waring, daß man Ihnen schon mal gesagt hat, was für große Hände Sie haben. Also ich sag’ Ihnen, so was habe ich noch nie gesehn.« Hollis schien nicht beleidigt. Sein strahlendes Lächeln deutete an, daß das bei neuen Bekanntschaften für ihn ein altvertrautes Thema sei. »Ja, groß sind sie wohl. Das kann man nicht leugnen. Aber trotzdem sind sie sehr nützlich, Mrs. Lawrence. In mancher Beziehung.« »Oh? Wie meinen Sie das?« »Nun, ich kann damit Sachen verstecken, die andere nicht sehen sollen. Ich kann alles manchmal mit einem Gang erledigen, wenn ich zum Beispiel Toilettensachen vom Schrank zu einem Koffer bringe. Und wenn ich mir mein Teil von irgendwas nehme – na, denn kriege ich wirklich eine ganz schöne Portion von allem zu fassen. Sehen Sie?« »In einer Pension ist das praktisch, wenn Sie zulangen, Mr. Waring.« Mrs. Lawrence kicherte. »Hören Sie auf, Sie nehmen mich
bloß auf den Arm. möcht ich wetten.« Hollis Waring lächelte, um ihr zu zeigen, daß er genau das getan habe, sicher doch, und sie war keine Spielverderberin und ärgerte sich nicht über die schnodderige Antwort. Und genau in diesem Augenblick hatte er sich die Zuneigung Mrs. Lawrences gesichert. Ihre Zuneigung und ihren Respekt. Als sie die bernsteingelbe Tür seines Zimmers zum erstenmal hinter ihm schloß, hatte Emma Lawrence gar das Gefühl, plötzlich und merkwürdig, als schließe sie einen kleinen Jungen, jemand, der vielleicht sogar ihr eigener Sohn sein könnte, für die Nacht in sein Zimmer. Doch statt sie zu beunruhigen, bewirkte dies, daß lange schlummernde Mutterinstinkte ihren rundlichen Körper durchströmten, und während des Restes dieses geschäftigen Tages brummte und pfiff sie glücklich vor sich hin, während sie durch die Pension wuselte, ihr Heim, in dem sie seit dem Tod Paul Lawrences bei einem Jagdunfall vor ach so vielen Jahren Zimmer vermietete. Und so ging es in den folgenden Tagen, Wochen und Monaten weiter. Daß Hollis Waring unter ihrem Dach wohnte, erfüllte sie mit soviel Glück, wie nichts seit Monaten. Nicht einmal jener Abend, an dem sie einen Preis gewonnen hatte (einen Haartrockner bei der Kirchenlotterie im April), konnte es wirklich mit ihrer Freude und Zufriedenheit über den neuen Mieter aufnehmen. Seine Ankunft war fast wie die Heimkehr des verlorenen Sohnes gewesen. Er wohnte hier nun schon fast drei Monate: kam und ging spät nachts zu seiner Arbeit im Elm-Theater, kümmerte sich um niemanden, las viel, führte ein ruhiges Leben, schloß mit keinem anderen Mieter Freundschaft und erschien nie zum Abendbrot, weil er nach sieben Uhr die Abendschicht im Elm-Theater begann. Waring hatte sich an niemanden eng angeschlossen, hatte mit keinem weiblichen Wesen, gleich ob jung oder alt, geflirtet, außer auf amüsant-galante Art mit Mrs. Lawrence, und nicht einmal sie, diese ältliche Romantikerin, dachte jemals daran, in das Privatleben ihres jüngsten Mieters störend einzudringen. Es bot sich ihr nicht einmal die Gelegenheit, sein Zimmer zu betreten, denn er machte sein Bett selbst, reparierte die lautstarke Wasserspülung und machte selber sauber, sehr zur Enttäuschung und widerwilligen Bewunderung seiner Wirtin. Keineswegs erregte es ihren Ver-
dacht. Auch machte sie nie eine Bemerkung über die seltsamen Furchen und Narben auf Mr. Warings gerader Nase. Hände, das ging, aber Deformationen im Gesicht, das war etwas anderes. Dennoch, es war schon sehr merkwürdig, daß so ein nett aussehender junger Mann so eine zernarbte Nase hatte. Dem erfahrenen Auge von Mrs. Lawrence erschienen die seltsamen Linien wie Narben von den Stollen eines Football-Schuhs, als sei er bei einem Spiel getreten worden. Jedenfalls konnte man nicht darüber sprechen, es sei denn Mr. Waring selbst wünschte es. Alles in allem, der abendliche Filmvorführer im Elm-Theater war irgendwie geheimnisvoll. Riesenhände, Brille, zerfurchte Nase, höflich, einsiedlerisch… Er genügte sich selbst, so wie alle Leute sein sollten, es aber so selten sind und sein können. Nur wenige Seelen in Melville und auch in der Pension wußten irgend etwas über ihn. Jedenfalls über den oberflächlichen Augenschein hinaus. Hollis Waring war das natürlich recht so. Keiner kannte ihn wirklich, und wenn es nach ihm ginge, würde sich das auch nicht ändern. Auch Wilma Ferguson kannte ihn nicht. Sie am allerwenigsten. Als sie ihren 69er Ford in der dunklen Sackgasse knapp hundert Meter von der dichten Baumgruppe entfernt parkte, die den Eingang zum ältesten Liebesnest in ganz Melville bildete, wußte Wilma Ferguson nichts von der Existenz Hollis Warings, geschweige von seinen absonderlichen Neigungen. Oder seinem wahnsinnigen Vorhaben. Es war die Nacht des 6. Januar, nur drei Tage nach dem grotesken Ableben der Linda Chase. Drei Tage nutzloser Ermittlungen. Es war Vollmond, die Nacht war frisch und frostig, doch eine fieberhafte Atmosphäre von Leidenschaft und Sex hing in der Luft. Wofür Wilma Ferguson ganz besonders empfänglich und bereit war. Sie war sehr groß, ein roter, geschmeidiger Blickfang. Die vollen Hüften, der Prachtbusen straften ihre Tagesarbeit als Privatpflegerin einer der ältesten und kränklichsten Bewohner Melvilles Lügen. Wilma war fünfzehn Meilen von einer Pflegestelle am Stadtrand gefahren – um einen Mann zu treffen. Einen Typ, der sie stark erregte. Ein Stelldichein um zwei Uhr früh; es war die einzige Stunde, in der sie sich von der quengeligen arthritischen Amanda Phillips
freimachen konnte, die dank eines schweren Schlafmittels die Nacht durchschlafen würde. Um ihren Geliebten treffen zu können, scheute Wilma keine Mühe. Er war verheiratet, lebte in der Nähe im Catling-Distrikt. Name: John Tomkins, Reisevertreter, und er hätte es eigentlich besser wissen sollen. Aber die Fleischeslust und eine ständig nörgelnde und schimpfende Ehehälfte können einen Mann dazu bringen, daß er weiter geht, als er eigentlich möchte oder sollte. Wodurch er unwillentlich einem Mörder bei dessen perversen Absichten Hilfe leistete. Wilmas Haar war ebenso rot, wie es das Linda Chases gewesen war, nur viel, viel kürzer, ein straffer Messerhaarschnitt, der stark mit der bestürzenden Unschuld großer blauer Augen kontrastierte. In ihren sechsundzwanzig Lebensjahren hatte Wilma bisher ein ziemlich ausgefülltes, freizügiges und unbekümmertes Leben geführt. Das war typisch für sie. Es war nicht das erstemal, daß sie einen verheirateten Mann mit ihrer Gunst beglückte. Charakterlich war sie wohl das genaue Gegenteil zu Linda Chase. Obschon, letzten Endes erwies sich das keineswegs als Segen. Sie war Krankenschwester, und sie war rothaarig. Und es sollte das letztemal sein, daß sie versuchte, an verbotenen Früchten zu naschen. Wilma ließ das Standlicht brennen, zündete sich in der gemütlichen Wärme des Wagens eine Filterzigarette an und räkelte sich hinter dem Steuer bequem zurecht, um zu warten. Sie war ein bißchen zu früh gekommen, also vergnügte sie sich damit, die dunklen Autos zu zählen, die schnurrend das Entenwäldchen ansteuerten oder verließen. Die Stelle wirkte belebter als ein Amüsierpark im Sommer. Wilma knipste das Radio an, fand ein blechernschmetterndes Musikprogramm und wackelte mit ihrem ungeduldigen Körper im Rhythmus der Melodien. Ihr Herz schlug heftig in erregter Erwartung. Beim letzten Stelldichein hatte ihr John Tomkins viel Spaß bereitet. Für einen Typ nahe vierzig hatte er noch immer ne Menge Wucht und Ausdauer, und Wilma hatte gerade das schon immer an Männern zu schätzen gewußt. Wahrscheinlich verhinderte das brüllende Radio, daß sie das Klicken der sich öffnenden rechten Tür hörte. Daß sie überhaupt nicht auf die scheußliche Erscheinung vorbereitet war, die sich plötzlich auf sie stürzte wie ein Blitz, der aus dunkelschwarzen Wolkenmassen schießt.
Aber es war schon viel zu spät. Zu spät, zu schreien, wegzulaufen, sich zu wehren. Große nackte Hände wie Flügel, schimmernd wie Geisterkobras im dünnen Licht im Wagen, hatten sich wie durch Zauber um ihren schlanken Hals gelegt. Wilma Fergusons Keilschuhe, die weißen Schwesternschuhe, trommelten einen hilflosen Wirbel auf den Teppichboden des Ford, als wollten sie den Takt schlagen zu dem Dröhnen der Blasinstrumente, dem brüllenden Tempo der Musik aus dem Autoradio. Finsternis brach von überall auf sie herein, explodierte mit der betäubenden Heftigkeit von Rot, Orange, Purpur und Gelb, verschmolz, prallte aufeinander und zerbrach in einem wütenden hektischen Feuerwerk des Irrsinns und der sich nähernden Auslöschung. Dies eine Mal war Sterben eine Gnade, ein Geschenk von irgend jemandem. Wilma Ferguson sah das bösartige Instrument nicht mehr, das im trüben Licht aufblitzte und zustieß. Sie war völlig empfindungslos geworden. So kann selbst der abscheulichste Mord ein Segen sein. Manchmal.
DER MANN UND SEINE HÄNDE Im kleinen Zimmer im ersten Stock an der Dale Street hing ein ovaler Spiegel. Ein altmodisches Überbleibsel aus einer anderen Periode amerikanischen Lebens. Der Spiegel war unverändert geblieben, jahrzehntelang. Länglich, eiförmig, in pseudo-mittelalterlicher Pracht blitzend, schien er jedem, der sich in seine reflektierenden Tiefen vergrub, sagen zu wollen: Ich war hier vor dir, und ich werde hier sein, lange nachdem du fort bist. Der Spiegel war übrigens der erste Einrichtungsgegenstand gewesen, den Hollis bemerkt hatte, als Mrs. Lawrence ihn so zeremoniell im Haus willkommen geheißen und dann in seinem Zimmer zurückgelassen hatte. Alles andere in diesem Zimmer war zunächst verschwommen, bedeutungslos gewesen: alte Möbel, trübselige Vorhänge, alles altbekannt. Nicht so der Spiegel. Nein. Sobald Hollis sich ganz allein fühlte, zwang die ovale Schönheit im Goldrahmen seinen Blick auf sich, hielt ihn fest, wie es nur ganz
wenige unbelebte Objekte in seinem Leben konnten. Hollis fühlte sich bei jedem Aufwachen und sogar vor dem Zubettgehen zu diesem Spiegel gezogen. Er stand oft lange davor und beobachtete sich in dieser Spiegelwelt wie Alice in ihrem Spiegelreich. »Im Spiegelreich«, das hieß für Hollis mehr als nur ein weltberühmtes Zitat. Für ihn bedeutete es alles, was seine Existenz umfaßte. Der Spiegel sagte ihm Dinge, die er wissen mußte. Und in diesem Spiegel bemerkte er zum erstenmal, welche groteske Verwandlung mit ihm vorgegangen war. Wie ein Göttergeschenk oder eine Wohltat vom Teufel selber. Das hing natürlich vom Standpunkt ab. In der Nacht, in der Linda Chase ermordet wurde, war er in sein Zimmer zurückgekehrt und hatte sich eingeschlossen. In seinem Hirn herrschte Leere, nur undeutliche Erinnerungen an den summenden Filmprojektor in dem drangvoll engen Vorführraum im Elm-Theater, eine fast sommerliche Milde in der Nachtluft auf dem Heimweg, irgendwelche blitzenden aufzuckenden Bilder wie die plötzlich gefrorenen Einstellungen eines Avantgardefilms: eine rothaarige Frau, die vor ihm oder vor seinem Anblick zurückschauderte. Er konnte nicht sagen, was es war. Und er hielt sich nicht bei den bildlichen Eindrücken auf. Sie berührten ihn kaum, aber sie verwirrten seine Gedanken auf rätselhafte Weise. Er stand vor dem ovalen Spiegel, der einen Ehrenplatz in der Mitte über dem niedrigen Schreibtisch mit den vier Schubfächern einnahm, und erfuhr zum erstenmal einen Hauch der Wahrheit über sich selbst. Irgend etwas war geschehen, etwas war anders. Und es war der Spiegel an der Wand, der die Verwandlung bloßstellte. Die erschreckende Metamorphose. Die furchtbare Neuheit. Den fast teuflischen Wandel. Irgendwie war er über eine Grenze geschritten. Hatte alle physikalischen Naturgesetze und starren wissenschaftlichen Glaubenssätze überschritten und durchbrochen. Schwarz war zu weiß geworden. Ja. Und ohne Absicht hatte er die fernen Abgrenzungen einer neuen Dimension durchbrochen, war in eine fremdartige Welt vorgestoßen, wo dieser Vorstoß - vielleicht – tödlich sein konnte. Es war viel zu früh, das zu entscheiden. Zu plötzlich, als daß man sicher sein konnte. Der Ovalspiegel reflektierte das ihm nur allzu vertraute Bild. Er zeigte ihm auch, was mit diesem Bild geschehen war. Scharf und
klar. Als wären dunkle Blendkappen von seinen Augen genommen worden. Er mußte heftig blinzeln, die Stirn runzeln, voll Intensität in die gläsernen Tiefen starren, die Brille abnehmen und erneut starren. Es war, als sähe er sich zum allererstenmal wirklich, und der Anblick war eine bestürzende Enthüllung. Zu furchtbar, als daß es hätte die Wirklichkeit sein können. Er sah seine ganz ihm eigenen Gesichter. Das eine, mit der Brille über der zerfurchten Nase. Und das andere – ohne die Brille. Er sah seine Hände. Diese auffallend großen und schönen Hände. Sie waren anders. Unabänderlich? Für immer? Er wußte es nicht. Aber das seltsamste an dieser wunderbaren Verwandlung war, daß er keine Furcht empfand. Keine Panik, keine Aufregung, keine Verstörung. Im Gegenteil, etwas in den Tiefen seiner Seele, seines Hirns, seines Gemüts schien sich zu erheben und die Schwingen zu rühren. Er beugte sich dichter zu dem ovalen Spiegel. Sein Atem hatte sich beruhigt. Es war, als halte er festgefroren auf einem Felskap, einem Gipfel inne und blickte hinab in große fantastische Kessel scharlachroten wirbelnden Nebels. Er kam sich wie ein Titan vor, wie ein Gott. Denn er hatte alles herausgefunden, hatte die immense unbekannte Wahrheit über sich selbst erfahren. Er war mehr als nur ein Mensch. Mehr als Fleisch und Blut. Er war ein Dämon. Und irdische Gesetze und Verhaltensweisen besaßen keine Gültigkeit für ihn. Er starrte in den Spiegel und ergötzte sich an der unglaublichen Schönheit seines zurückblickenden Gesichts, seiner sich biegenden Hände. Ein dreifaches Wunder. Wie köstlich dies war – dieser trunkenmachende Wein flammender Gewalt. Das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegensah, war wundervoll tierhaft und häßlich. Eine überwältigende Verbindung von Mund, Nase, Augen, Ohren, Haar und Kinn und Zähnen zu einer Maske des Schreckens. Hollis blickte scharf hin, und sein Herz pochte wild in seiner Brust, und der lange Körper zuckte vor Ekstase. Er sah nicht eigentlich die Verwandlung. Er konnte sie nicht wirklich erkennen. Doch seine Augen waren groß und brennend, wie von einer inneren wütenden Flamme erfüllt. Die gefurchte Nase wirkte tiefer vernarbt, beide Nüstern blähten sich heftig. Der Mund, der breite, Gorgonenmund des Bösen, eine verzerrte wilde Grimasse, die Lippen bleckend um die scharfen, fangähnlichen Zähne. Speichelbläschen hingen in den Mundwinkeln, das drohende Knurren und
der Ausdruck dieses Gesichts im Oval des Spiegels verliehen ihm eine primitive sinnliche Großartigkeit. In Hollis Warings Seele züngelten Flammen der Freude. Und seine Hände, sie waren die allergrößte Lust für ihn. Sie waren nun nicht größer als zuvor, doch sie hatten mehr Bedeutung und mehr Kraft gewonnen. Die Welt war durch jeden seiner Finger geflossen und hatte sich dort und in den Handflächen festgesetzt. Stärke, Kraft, Weisheit, Brutalität, Majestät und Sieghaftigkeit strahlten aus diesen herrlichen Händen im Spiegel. Es waren haarige Hände, fast zottig durch die schwarzen Büschel. Die Behaartheit glühte im Spiegel, wild und brutal, und an jedem Finger blitzte ein langer drohender Nagel, stieß aufwärts und auswärts, als suche er nach einem Opfer. Aber das Schönste, der letzte Triumph animalischer Wut und Lust war ihre Röte, die scharlachrote Schönheit. Seine Hände waren rot. ROT! Die schönste Farbe der Welt. Das Siegel des Roten Todes. Die einzige Farbe in der Welt Hollis Warings, die für ihn Bedeutung und Gültigkeit besaß. Die Nuance des Sterbens, der Toten - der Lebenden. Hollis stand lange vor dem Spiegel. Er war nicht fähig, sich die furchtbaren Auswirkungen dessen, was mit ihm geschehen war, zu vergegenwärtigen. Es war alles nur eine wunderbare Neugeburt für ihn, eine grandiose Neuartigkeit, ein gigantischer Sprung in ein fremdes Universum. In tiefer unbekümmerter Unschuld ging er zu Bett, voll Entzücken über seine große Entdeckung. Das Herz schlug wie das eines Tieres. Er dachte nicht daran, die Nachttischlampe auszulöschen. In ihm kochte zu vieles, eine zu umfassende weitgespannte Lust über das, was mit ihm geschehen war, erfüllte ihn. Sein großes Abenteuer. Nichts Vernunftbedingtes in ihm zerlegte die Tatsachen, die unmöglichen Folgen, die Tragödie, die ihm widerfahren war. Und er schlief auch wie ein Tier. Ein befriedigter Wolf in seinem Bau nach erfolgreichem nächtlichem Beutezug. Ein wohlgesättigter Wolf. Er träumte nicht, obwohl er hätte träumen müssen. Eine große kahlschwarze Leere verschlang ihn. Ein Nichts. Als er am Nachmittag darauf erwachte und an die Kommode trat, um sich zu kämmen, war jede Erinnerung an die Vorgänge der letzten Nacht wie ausgelöscht. Das müde Gesicht, das ihm
aus dem Ovalspiegel entgegenblickte, trug die altvertrauten unveränderten Züge des Hollis, den er stets gekannt hatte. Nein, nichts war anders. Gar nichts. Außer daß eine Frau namens Linda Chase gestorben war. Und Hollis Waring stieg die Treppe hinunter, trank Kaffee und aß ein Butterbrötchen, während Mrs. Lawrence mit ihm plauderte. Dann stieg er wieder in sein Zimmer hinauf, um an dem Drehbuch zu arbeiten, das er in seiner Freizeit schrieb. Er hatte noch ein wenig Zeit, ehe er sich zur Nachtschicht im Elm-Theater einfinden mußte. Die Verwandlung der Hände und des Gesichts von Hollis Waring trat auch in der Nacht ein, in der Wilma Ferguson in ihrem geparkten Auto nahe dem Entenwäldchen den Tod fand. Und wieder wurde sich Hollis der unglaublichen Verwandlung nicht bewußt, bis er in den frühen Morgenstunden nach Hause zurückkehrte. Wieder war er von heftiger Freude erfüllt, fühlte sich in seiner neugefundenen Pracht und Stärke ekstatisch erhoben. Das kleine Wohnschlafzimmer, das er sein Heim nannte, war eine Zelle, in der Wollust pulsierte, in jeder nur denkbaren Variante schimmernden Rots. Hollis legte sich in einer scharlachroten Laube zum Schlafen nieder. Der Atem ging ihm wie einem Raubtier, das soeben vor dem Verfolger geflohen war, der sich mit der Flinte auf die Jagd nach ihm begab. Aber noch immer vermochte Hollis Waring sich nicht über seine neue Existenz klarzuwerden, über dieses Doppelbild, das ihm der ovale Spiegel zuweilen zeigte. Doch in dieser Nacht träumte Hollis Waring. Unruhige Traumstöße in Zinnoberrot, Scharlachrot, rosenfarbene Bilder. Undeutliche Gesichter, undeutlichere Namen hetzten durch seine Albträume. Völlig willkürlich. Trudi Earle, Randy Williams, Estelle Harvey, Rose Richards, Madie Morgan, Georgie Rand, Sophie Garnley, Thelma Brady, Ada Varney, Jessica Thorpe, Ellie Ryan…. diese Namen, wieder diese nichterinnerten Gesichter! Nur das Haar. Lang oder kurz. Das rote Haar. Erdbeerblond, tizianrot, kirschrot, rostrot, karottenrot, apfelrot…. alle Schattierungen, Färbungen, Tönungen. Er dachte gar nicht an Linda Chase oder Wilma Ferguson. Er kannte sie nicht. Hatte sie niemals gekannt. Er war wie der Bomberpilot, der zehn Tonnen Bombenlast unter seinen Schwingen über einer Stadt ausklinkt und nichts über die Identität der Opfer erfährt. Genauso achtlos und gedankenlos wie er.
Als er am nächsten Morgen vor den ovalen Spiegel trat, um seinen materiellen Körper gemäß den Regeln und Vorschriften der Alltagswelt zu ordnen, starrte ihm Hollis Waring aus dem Glas entgegen. Er sah so normal wie immer aus. Heiter, ruhig und entspannt. Ja, eigentlich kam er sich sogar recht hübsch vor. Fast ein bißchen wie Lord Byron, wie es damals in jenen früheren und weniger hektischen Tagen im Jahrbuch der Wesleyan University über ihn gestanden hatte, als er sich mit vollen Segeln auf eine Karriere als Filmemacher vorbereitet hatte. Ehe er gezwungen war, in Kinos Filme vorzuführen, wo und wann er nur immer einen Job erhielt, weil er Geld brauchte. Ehe er begriffen hatte, daß man sich nicht einfach in Hollywood oder New York einfindet und sagt: Da bin ich, laßt mich einen Film machen! Es gab soviel über das Filmemachen zu lernen. Regie, Schnitt, Redaktion, die richtige Auswahl der richtigen Leute für die Rollen, ein ganz intensives Wissen darüber, was nötig ist, um einen guten Film zu machen. Nicht bloß für einen Film. Man mußte etwas von Bildaufbau verstehen, von Handlungsstruktur, dramaturgischer Technik, eigentlich tausend verschiedene Sachen, die alle in der rechten rhythmischen Reihenfolge zu Sequenzen kombiniert werden mußten, wenn man auf der Leinwand eine Geschichte erzählen wollte. Hollis Waring beabsichtigte, in einer nicht allzu fernen Zukunft, wenn er sich genügend Geld ersparen und ein einigermaßen anständiges Drehbuch produzieren könnte, einen der unabhängigen Filmproduzenten für sich zu interessieren und mit Willen und Talent eine Karriere als Filmemacher aufzubauen. Er verfügte über eine nahezu morbide umfassende Kenntnis auf einem besonderen Gebiet der Filmkunst: dem Horrorfilm. Er hatte sie alle gesehen, geliebt, verabscheut, studiert und analysiert. Hollis Waring war überzeugt, er werde dem Horrorfilm eine neue Dimension geben, ihm ein völlig neues Leben einhauchen können. Die Zeit war reif für eine Neugeburt, eine Rückwendung zu dem, was ein guter Horrorfilm sein sollte und konnte. Jedenfalls gingen seine, Hollis, Absichten in diese Richtung. Doch das war vor Linda Chase. Und vor Wilma Ferguson. Und vor all denen, die noch kommen sollten. Ehe sein Gesicht sich verwandelte. Lange vor – den roten Händen. Lange, lange vor Ruth Botlinger. Seinem dritten Opfer. Dem dritten rothaarigen Opfer. Das nicht einmal sah, was da über sie hereinbrach. Auch dies hätte aus einem Horrorfilm stammen können. Aus ei-
nem Film zum Fürchten, der einer ganzen Welt von Kinobesuchern eiskalte Gänsehaut über den Rücken jagen konnte. Einer, in dem der Begriff Dusche eine plötzlich völlig neue Bedeutung gewönne. Wie Janet Leigh in Hitchcocks Psycho gönnte sich Ruth Botlinger gerade eine sehr angenehme Entspannungsdusche, als das Etwas, zu dem Hollis Waring geworden war, zum ersten, einzigen und letztenmal in ihr Leben trat und Tod und bösartige Gewalttätigkeit mit sich brachte. Ihr Tod überzeugte schließlich die Beamten von der Mordkommission in Melville, daß sie es tatsächlich mit einem wahnsinnigen Killer zu tun hatten. Mit einem Mörder, der aus perverser Lust tötet, nicht aus Gewinnsucht. Der Serienmörder. Der Verrückte, der immer weiter killt und killt. Und nicht aufhört, ehe seine perverse Lust befriedigt ist, oder er gefangen oder sonstwie auf rätselhafte und unerklärbare Weise gestoppt wird. Der brutale Mord an Ruth Botlinger brachte den Funken zum Zünden. Und bewegte Leutnant Arnie Abrams dazu, einen sehr langen und sehr wichtigen Brief zu verfassen, der der ungewöhnlichen Mordserie noch eine zusätzliche sensationelle Wendung gab. So daß alle Frauen jeglichen Alters, die von Natur aus rothaarig waren, sich ernste Gedanken darüber machten, ob sie nicht vielleicht ihr natürliches Haar in einer anderen Farbe tönen lassen sollten. Und alle künstlichen Rothaarigen wechselten prompt zu blond oder brünett über.
SCHÖN UND NACKT UND STERBEND Ob zu Recht oder Unrecht, Ruth Elizabeth Botlinger war eine jener bildschönen Frauen, die Sauberkeit für das Höchste erachten. Wie sich herausstellte, war Sauberkeit in ihrem Fall auch der Anlaß zu ihrem Tod. Soweit sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie jeden Tag ihres Lebens gebadet oder geduscht. Daß Ruth Krankenschwester war, hatte nichts damit zu tun; sie wäre wahrscheinlich ebenso von Seife und Wasser fasziniert gewesen, wäre sie nur Sekretärin oder Hausfrau gewesen. Aber sie war nur einfach eine Frau, die eine erfrischende Dusche brauchte, gleich, wie spät sie abends nach Hause kam. Kürzlich mußte sie nachts um drei Uhr duschen, da ihre Nachtschicht im General Hospital Melvil-
les dank einer Unmenge von eingetretenen Notfällen sehr unregelmäßig geworden war. Das Leben einer Krankenschwester im Melviller Generalkrankenhaus war ziemlich ausgefüllt. Besonders das Leben von Ruth Elizabeth Botlinger. Dreiundzwanzig, mittelgroß und anziehend, ein merkwürdig irisches Gesicht bei einem typisch deutschen Namen. Die Nase ein bißchen stupsig, Haut wie Pfirsich und Sahne, blaue Augen und eine prächtige erdbeerblonde Haarkrone, die in der Station Fünf als Attraktion galt, in der sie als Dienstschwester und zugleich als Operationsschwester arbeitete. Das rosagekachelte Badezimmer im Appartement 3 D des neuen Wohnbaus der Ten-Oaks-Siedlung war die Szene für sämtliche Reinigungsorgien Ruths. Die frühen Morgenstunden des 10. Januar, nur vier kurze Tage nach dem Mord an Wilma Ferguson, bildeten da keine Ausnahme. Es geschah knapp zehn Minuten, nachdem sie sich ausgezogen, die Temperatur eingestellt hatte und hübsch und munter wie eine Nymphe in die Wanne gestiegen war. Die rosa Kacheln machten das Bad wirklich angenehm. Eine andere Welt, in der sie unter dem heißen Wasserstrahl den antiseptischen Krankenhausgeruch und das Genörgel der Oberschwester und den beständigen Kampf um Leben und Tod auf den Stationen von sich abstreifte. Die Alten und Kranken, die Jungen, die Leidenden. Manchmal wollte sie das Ganze sausen lassen und etwas anderes anfangen, vielleicht sogar heiraten, doch wie alle Menschen, die ihre Arbeit wirklich gern tun, empfand sie dies nur in kurzen Momenten, wenn die angenehme, fast einschläfernde Wirkung der Dusche sich einstellte. Ruth hätte bis an ihr Lebensende weiterhin Schwester bleiben können, wäre nicht der Killer mit den roten Händen auf sie gestoßen. Jedenfalls schien das ziemlich sicher. Es war ihr genug, hier in Melville als Schwester nützlich zu sein. Bis zwei Uhr fünfzehn am Morgen des 10. Januar bezog sie aus dieser Tatsache ihre Lebenskraft, als ihr die parfümierte Seife aus der Hand glitt und sie sich bückte, um sie aufzuheben, mit einem leichten Seufzer, die hübsche Figur nach vorn geneigt. Dies war die letzte bewußte Handlung ihres Lebens. Was dann kam, war kreischendes Entsetzen, niederstürzende heiße Wasserfälle, stechendheiße Agonie, völlige Umkehrung aller ihrer Sinne und Wahrnehmungen.
Der Mord an Ruth Elizabeth Botlinger war in einer Weise noch abscheulicher als die beiden vorherigen. Er gehörte in eine Sonderklasse für sich. Abgebrühte Polizisten und Kriminalbeamte schauderten beim Anblick der gefolterten Leiche in der hübschen rosa Badewanne zurück. Leutnant Arnie Abrams, obschon nicht katholisch, hätte beinahe ein Kreuz geschlagen, während ihm der Mageninhalt würgend in die Kehle stieg. Selbst der alte J. T. Donne, der in seiner langen und ehrenwerten Laufbahn bei der Mordkommission zahlreiche Leichen erblickt hatte, fand keine trockenen zynischen Bemerkungen über die Unmenschlichkeit des Menschen seinen Mitmenschen gegenüber, über die Brutalität des Mörders von Frauen. Diesmal hatte der Rothaarigenkiller sämtliche Rekorde geschlagen. Er hatte Herodes »überherodet«, wie Edgar Allan Poe dies einmal in einer abstrusen Erzählung ausgedrückt hatte. König Herodes hatte Kinder abgeschlachtet. Der dritte Mordfall in einer Serie, deren jeder die Hand eines psychotischen Killers aufwies und bei denen stets eine junge rothaarige attraktive Frau das Opfer war, die sich ihren Lebensunterhalt als Krankenpflegerin verdiente, deutete mit Sicherheit auf den Mordfeldzug einer wahnsinnigen Person hin. Eine rothaarige Schwesternleiche war eine Tragödie. Zwei konnten noch reiner Zufall ein. Doch bei dreien gab es nicht mehr den geringsten Zweifel. Jemand hatte die Jagd auf rothaarige Krankenschwestern eröffnet. Der gemeinsame Nenner, das Wahrzeichen aller Serienmorde, stach deutlich hervor. Ein Wahnsinniger mit Methode streifte umher, ein perverser, schlauer und in seinem Irrsinn bedenkenlos vorgehender Typ. Niemand konnte sagen, wann er innehalten würde. Zur äußersten Verzweiflung der Polizei Melvilles und der Bevölkerung der kleinen Gemeinde hielt er nicht inne. Die Zeitungen, Radiostationen und das Fernsehen erfuhren schließlich einige Fakten, begannen die Leichen zu zählen und kamen geschockt zu der Erkenntnis, was da für ein Fluch auf Melville gefallen war. Das Entsetzen wuchs und steigerte sich zur Panik. Der Rothaarigenkiller schlug erneut zu. Zweimal. Beide Male hinterließ er seine Unterschrift, seinen Wahnsinn. Die Verbrechen waren weder elegant noch raffiniert. Nur ein doppeltes Entsetzen nach dem gleichen scheußlichen Muster. Wanda Walters, sechsundzwanzig, schlank, hübsch, als Hausbesuche machende Schwester bei der Wohlfahrt beschäftigt, fand
ihr Ende am kalten Abend des 14. Januar. Nach einem Besuch in der Armengegend der King Street wurde ihre Leiche im Gestrüpp bei der Bushaltestellte Wells Avenue gefunden. Wanda war offensichtlich angegriffen worden, während sie nachts zwischen zwei und drei Uhr auf einen Bus wartete, war in die Sträucher gezerrt und gewürgt und verstümmelt worden, auf ähnliche Weise wie bei den Anschlägen auf die drei früheren Opfer. Der Mörder hatte ihren Körper mit Gewalt entblößt, ehe er sein furchtbares Todesritual an dem kalten Fleisch vollstreckte. Wieder war ein gefährliches spitzes und scharfes Instrument verwendet worden. Was immer es gewesen war, der Killer hatte es mitgenommen. J. T. Donne gab als wissenschaftliche Vermutung an, es sei diesmal ein Federmesser oder eine Nagelfeile gewesen. Melville fand wenig Zeit, über den furchtbaren Mord an Wanda nachzudenken. Vier Tage später hatte der Verrückte erneut gewürgt, getötet und verstümmelt. Wieder ebenso brutal. Wieder zeigte sich das gleiche scheußliche Grundmuster. Zum fünftenmal. Hope Redland wurde auf dem Dach eines Wohnhauses in der Adams Street gefunden. Sie war zu einem Hausbesuch zu den Danielsons gekommen, deren Säugling hohes Fieber hatte. Die Berufskrankenschwester Redland gab Medikamente und Trost, sagte den Danielsons gute Nacht und verließ deren Wohnung kurz nach Mitternacht. Die Untersuchung ergab, daß die ziemlich zierliche Schwester auf dem Flur vor der Wohnung der Danielsons angegriffen wurde, die Treppe zum Dach hinauf geschleppt und dort ermordet worden war. Anscheinend war es ihr nicht möglich gewesen, sich überhaupt zur Wehr zu setzen. Keine Blut- oder Schleifspuren im Flur oder auf den drei Treppen zum Dach. Hope Redland hatte knapp fünfzig Kilo gewogen und war schlank und wohlgeformt gewesen. Für einen Mann mit tierischen Pranken stellte sie wahrscheinlich überhaupt kein Problem dar. Man nahm an, sie sei vor der Wohnungstür oder in der Nähe erwürgt und dann auf dem dunklen Dach nach Eintritt des Todes verstümmelt worden. Die Nacht war kalt und sternenlos gewesen. Der Killer mußte entweder eine Taschenlampe benutzen oder sich auf seinen untrüglichen perversen Instinkt verlassen, um sein Wahnsinnsritual an der Leiche zu vollziehen. Wieder schloß J. T. Donne auf ein Federmesser, eine Nagelfeile oder einen persönlichen Ge-
genstand, den der Rotschopf-Killer mit sich herumtrug. Nachdem ein großes Gezeter ausgebrochen und man in der Verwirrung den Kopf Leutnant Arnie Abrams gefordert hatte, blieb diesem nichts anderes übrig, als sämtliche Methoden der Morduntersuchung einzusetzen und zu beten, daß er auf eine Spur oder neue Wendung stoßen möge, die den Fall lösen halfen. Fünf Leichen in knapp einem Monat waren ja wirklich ein harter Brocken. Besonders für einen Beamten der Mordkommission. Der Mord an Hope Redland unterschied sich nur in einer Kleinigkeit von den anderen. Sie war zweiunddreißig Jahre alt gewesen und somit die älteste der rothaarigen Krankenschwestern, die in der Finsternis der Nacht ihrem Mörder begegneten. Abgesehen davon war sie ebenso rothaarig wie die anderen. Und alles, was jedermann in Melville denken konnte, war: Wann würde der Killer wieder zuschlagen? Wann würden sich die Spuren seiner mörderischen Hände erneut zeigen? Arnie Abrams konnte darauf nicht warten. Die Zeit war kostbar. Er hatte eine Aufgabe. Eine sehr schwere Aufgabe. Und benötigte alle Hilfe, die er finden konnte. Er wäre zu einem Telepathen gegangen, hätte er an dergleichen geglaubt. Er hätte sich mit parapsychologischen Phänomenen abgegeben, wäre er überzeugt gewesen, daß er damit dem Wahnsinnigen mit den Riesenhänden auf die Spur kommen könne. Aber er glaubte an so etwas nicht. Deshalb schrieb er einen Brief. Natürlich hätte er ein Ferngespräch führen und drauflosquasseln können, doch er wollte alle Fakten und Informationen schriftlich festhalten, damit der Experte, an den dieser Brief ging, eine Arbeitsunterlage hatte, etwas, in das er sich verbeißen konnte. Das ihm beim Denken und Entscheiden half, so daß er mit einer Arbeitshypothese herausrücken konnte. Niemand konnte sich vorstellen, auf welche Ideen so ein Verrückter als nächstes verfallen würde. Wenn er sich nun plötzlich entschlösse, daß er Blondinen nicht leiden könne oder daß er alle Glatzköpfe oder alle blauäugigen Frauen beseitigen müsse? Jesus, man konnte überhaupt nicht wissen, was ein Irrer als nächstes tun würde. Das mußte zu einem Ende gebracht werden. Und zwar verdammt schnell!
BRIEF AN EINEN BEFREUNDETEN SEELENBOHRER
Melville 1. Februar 197 Lieber Con, Lang nix mehr gehört, aber wir haben hier ’ne Geschichte, die uns allmählich die Wände hochjagt. Bisher hab ich Radio/TV raushalten können, die Lokalpresse arbeitet mit und versucht die Panik runterzuspielen, aber ein paar ganz Schnelle schießen schon mit Artikeln und Fernsehinterviewkram los, und das macht alles bloß schlimmer. Beim nächsten Mord explodiert die Geschichte im ganzen Land, mein Lieber. Aber da Sie ja der beste Topmann in New York sind und ich mal der beste Kripochef war, den sie aus der großen Stadt rausgeworfen haben, damit ich hier Nachtwache schiebe, hab’ ich mir gedacht, daß Sie vielleicht im Andenken an alte gemeinsame Verbrechen mit ’ner Expertenmeinung anfahren. Ich dank schon im voraus für die Hilfe, falls ich es hinterher vergessen sollte. Erinnere mich gut, wie Sie den richtigen Dreh im Franzetti-Fall (’63?) rausgefunden haben. Sie meinten, daß ein Fettkloß was gegen alle dünnen jungen Ladies haben könnte und sie einfach aus Spaß umlegt. Richtig? Also ich glaub’, unser Melville-Problem sieht mir wie maßgeschneidert für so ’nen gebildeten Iren aus, der aus dem Immigrantengetto zu ’ner Praxis auf der Park Avenue promoviert ist. Also, an diesem 3. Januar wurde eine junge Frau namens Linda Chase im Flur ihrer Pension erwürgt aufgefunden: Tod um drei Uhr morgens. Sie war Schwester im General Hospital in Melville. Gute Personalakte, keine Liebschaften, sauber in jeder Beziehung. Zweiundzwanzig Jahre alt, schön und mit langem rotem Haar gesegnet. Erwürgen erfolgte per Hand, zehn Finger, die Obduktion ergab, daß sie sexuell mißbraucht worden ist. Nicht Vergewaltigung, der Killer ging mit einer Sodawasserflasche vor. Flasche lag neben dem Körper. Der Milchmann fand sie am Morgen. Ein anständiger Kerl, streichen Sie ihn von der Liste der Verdächtigen. Ein Zwerg mit Arthritis in beiden Händen. Konnte es nicht gewesen sein. Die Kehle war von einer Art Preisboxer zerquetscht worden. Unser Arzt sagt, das Mädchen wurde »vergewaltigt«, als sie schon tot war. Notieren Sie das, bitte. Drei Tage später wurde eine gewisse Wilma Ferguson in einem Wagen erwürgt aufgefunden, in unserm örtlichen Liebesnest, dem Entenwäldchen. Mordmethode gleich. Per Hand. Diesmal keine Flasche, sondern im Wagen gefundene Schere. Opfer trug Ver-
letzungen am Unterleib, Schenkeln, Brüsten und Oberarmen. Sie war ebenfalls Krankenschwester, ziemlich sexy, arbeitete aber als Privatpflegerin für alte Leutchen. Nächsten April wäre sie fünfundzwanzig geworden. Kürzeres Haar als bei der Chase, aber genauso rot. Scheint ziemlich lebenslustig und ein bißchen wurstig gewesen zu sein. Sie gab ihrem Pflegefall, einer gewissen Amanda Phillips, ’nen Schlummertrunk, damit sie sich zu ihrem Rendezvous im Wäldchen mit ’nem verheirateten Handelsreisenden namens John Tomkins fortschleichen konnte. Er entdeckte die Leiche, kriegte ’nen Nervenzusammenbruch und holte die Polizei. Er fällt auch flach. Große, ziemlich magere Type, extrem nervös und dünnhäutig. Der könnte keinen Silberfisch zertreten, ohne sich den ganzen Tag lang schuldbeladen zu fühlen. Dann der 10. Januar und wieder ein Prachtdings. Ruth Elizabeth Botlinger. Im Bad ihrer Appartementswohnung erwürgt. Hochhaus in schicker Gegend. Mordmethode wie gehabt. Brieföffner aus Italien, Eigentum der Ermordeten, wie mehrere Bekannte beim Verhör bekundeten. Auch hier läßt alles auf einen Wahnsinnigen schließen. Aber keine Fingerabdrücke, keine Hinweise, nicht mal Hautfetzchen oder von Stoff oder Haare, damit die Laborknaben was zu tun hätten. Wie in den ersten Fällen: wir haben nicht den geringsten Anhaltspunkt. Die Botlinger arbeitete ebenfalls im General Hospital, als Stationsschwester, hatte am Tag zuvor Streit mit der Oberschwester, aber die fällt flach: fast dreiundfünfzig und keineswegs ein Würgeengel. Botlinger war bei allen Kollegen und den Leuten in ihrem Haus beliebt. Anständiger Lebenswandel. Und wenn Sie’s nicht bereits vermutet haben – ja, sie war gleichfalls rothaarig. Jetzt zum 14. Januar. Wieder was für die Statistik - Wanda Walters, sechsundzwanzig, Wohlfahrtspflegerin. Auf dem Heimweg aus einem Elendsviertel. Jemand lauerte ihr an der einsamen Endhaltestelle der Busse an der Wells Avenue auf und zerrte sie in das Gestrüpp daneben. Erwürgt und verstümmelt wie die andern. Der Killer scheint viel Zeit gehabt zu haben. Unser Gerichtsmediziner glaubt, daß ein Federmesser oder eine Nagelfeile benutzt worden ist. Ich sage Quatsch. Keine Zeugen. Keine Schreie. Ich hab’ das Gefühl, daß wie bei den andern Morden der Killer schnell getötet hat und daß keine auch nur einen Pieps rauskriegt… Ziemlich furchterregend, was? Wieder keine Anhaltspunkte. Der Frost macht den Boden der-
maßen hart und glatt, daß wir keine Fußspuren und so sichern können. Und keins der Opfer hat sich anscheinend gewehrt. Bei allen fanden wir unter den Fingernägeln nichts als den gewöhnlichen Dreck, Bakterien und Staub. Notieren Sie: die Walters hatte kurzes, sehr leuchtendes kastanienrotes Haar. Und zu guter Letzt der 18. Januar. – Hope Redland (ist der Name ein bloßer Zufall oder?), erwürgt auf dem Dach eines Wohnhauses in der Adams Street. Sie war sehr zierlich, hatte gerade bei einem kranken Säugling eine Behandlung gegen hohes Fieber durchgeführt. Die Danielsons, die Eltern des Kindes, gaben folgendes an: sie sahen die Redland zuletzt kurz nach Mitternacht, als sie aus der Wohnung ging. Wir meinen, daß sie im Treppenhaus oder auf den Treppen angegriffen worden sein muß, erwürgt, dann aufs Dach getragen oder geschleppt wurde, wo der Rest stattfand. Und der war wirklich nicht schön. Wieder keine Waffe. Die Danielsons kommen nicht in Frage. Er ist Botaniker, sie Hausfrau, und die beiden würden Sie an sanfte Meerschweinchen erinnern. Die Haare der Redland, falls ich das sagen muß, waren so rot und dicht wie die der Chase. Der einzige merkwürdige Faktor war das Alter. Zweiunddreißig, und damit ist die Redland die Seniorin in diesem Leichenklub. Verzeihen Sie den »Humor«. Ich glaube, Sie haben schon einen Eindruck von der Sache. Fünf Frauen, alle relativ jung, sogar die Redland, alle Krankenschwestern oder Kranke pflegend. Alle rothaarig, alle unverheiratet – keine Wohnpartner, keine festen Männerbekanntschaften in ihrem Leben. Und alle erwürgt und von einem Irrsinnigen mit irgendeinem Instrument verstümmelt. Ich weiß wirklich nicht weiter. Aber haben wir’s hier mit einer Mordserie zu tun oder nicht? Etwas ist Ihnen bestimmt aufgefallen, nämlich daß sämtliche Morde gegen drei Uhr morgens, bzw. im Redland-Fall kurz nach Mitternacht stattgefunden haben. Damit müßte automatisch jeder ausgeschaltet werden, der in dieser Zeit arbeitet, also Arbeiter in der Nachtschicht, aber es bleiben zig tausend andere, die frei haben, und mir macht das scheußliche Kopfschmerzen. Natürlich überprüft mein Dezernat bei allen Bundesstaaten, ob da irgendwo Patienten aus einem Irrenhaus entlassen worden oder ausgebrochen sind, die ähnliche Krankengeschichten haben
wie unser Typ, und wir verfolgen auch unsere hiesigen Beknacksten. Aber im Moment steh ich vor ’ner Mauer, die höher ist als der Mount Everest. So, da haben Sie’s, Connors O’Hanlon, alter Junge! Ich hab Ihnen bloß die mageren Knochen vorgeworfen. Wir arbeiten Tag und Nacht ununterbrochen an der Sache. Die Lokalpresse versucht die Geschichte herunterzuspielen, aber der Redland-Mord hat wirklich einen Wirbel verursacht. Ich meine: fünfmal hat der Irre es fertiggekriegt, und fünfmal stehen wir da wie die Idioten. Und wenn der Rotschopf-Killer (so nennen wir ihn hier) jetzt erst richtig Geschmack an der Sache kriegt, dann, lieber Jesus, dann steht uns etwas bevor! Dann rollen Köpfe sag’ ich Ihnen! Schreiben Sie mir doch, ob da irgendwas bei Ihnen zu klingeln anfängt, was ich da erzählt hab, ja? Ich brauch’ alles, was ich an sachkundiger Hilfe kriegen kann. Und umsonst natürlich. Ach ja, noch was, Con. In ganz Melville ist nur noch eine einzige rothaarige Krankenschwester/Pflegerin übrig, die einigermaßen in Frage kommt. Name: Deanna Watts, fünfundzwanzig, arbeitet in Nachtschicht in einer Privatklinik hier: Masterson Arms. Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, daß wir sie im Auge behalten. Gott sei Dank haben wir fast keine rothaarigen Schwestern mehr. Bis bald im Psychopathenland, Ihr Arnold Abrams, Morddezernat Melville, Polizeipräsidium Arnie Abrams schickte diesen wichtigen Brief per Einschreiben. Er rechnete nicht mit einer sofortigen Antwort, denn schließlich mußte auch eine Leuchte wie Dr. Connors O’Hanlon sich zumindest ein paar Tage lang die Fakten überlegen. Doch das Leben, das dazu neigt, nur ganz selten mit der Polizei zusammenzuarbeiten, gab wieder einmal dem Würfel einen für Abrams äußerst ungünstigen Schubs. Der schlanke, große, gutaussehende, intelligente und mit einer zauberhaften Frau und drei wohlgeratenen Kindern gesegnete Dr. Connors O’Hanson schritt über die Fifth Avenue in Manhattan, um Karten für die Wochenendvorstellung des Pantomimen Marcel Marceau im City Center zu erstehen, als eine Limousine um die Ecke der Zweiundfünfzigsten Straße schoß und ihn mit ihren Rä-
dern gegen den Randstein drückte. O’Hanlon wurde ins Roosevelt-Hospital katapultiert. Er hatte einen Schock erlitten, war schwerverletzt und wurde während der ersten angsterfüllten Stunden, in denen man befürchtete, daß er den Unfall nicht überleben werde, unter Narkotika gehalten. Man rief einen katholischen Geistlichen zu ihm. Er war jedenfalls nicht in der Lage, den Einschreibebrief zu öffnen, der am späten Nachmittag in seiner Praxis in der Park Avenue eintraf. Der Rotschopf-Killer hatte damit in seiner persönlichen Kampagne gegen alle rothaarigen Krankenpflegerinnen einen wichtigen Vorsprung gewonnen. Kostbare Zeit. Zeit zum Atemholen, sich umzusehen und seine Spuren noch etwas besser zu verwischen. Fünf Leichen, das war schon eine beachtliche Mordliste. Aber Dr. Connors O’Hanlon war ein ausgezeichneter Spezialist in seinem Fach: Untersuchung, Diagnose und Erforschung abnormer Verhaltensweisen beim Menschen. Vielleicht hätte er Abrams gerade die besonders wichtigen Punkte zu dem Fall sagen können. Abrams, seinem alten Freund aus den Tagen, als er, O’Hanlon, als Assistenzarzt am Bellevue-Krankenhaus arbeitete und Abrams nur ein einfacher kleiner Streifenpolizist an der New Yorker East Side war und sie beide über ihre Träume, ihre Ideen sprachen und Freunde wurden, bevor man Abrams dann in seiner Abteilung eine Falle stellte, um ihn aus der Stadt zu kriegen. Knöpfe wurden gedrückt, Drähte liefen heiß – und Abrams war gefeuert. Genau wie bei dem eingeschriebenen Brief war das Glück niemals auf der Seite von Arnie Abrams.
EINS VON DEN MÄDCHEN »Die Kriminalpolizei und die Behörden Melvilles«, intonierte der nüchterne, vorzeitig ergraute Walter Kennedy auf dem Farbbildschirm in Mrs. Lawrences sonnigem Wohnzimmer, »sind eindeutig ratlos. Eine Serie aufeinanderfolgender Morde liefert sie dem Hohn der Öffentlichkeit aus, Morde, die so entsetzlich sind, daß plötzlich die ganze Stadt in Panik und Schrecken verfiel, so daß man glauben konnte, Jack-the-Ripper oder der Würger von Boston neueren Datums seien zurückgekehrt. Ganz Melville fragt,
und auch wir fragen, welche Fortschritte in den Ermittlungen tatsächlich erzielt sind und warum die Polizei die Bestie noch nicht zur Stecke gebracht hat…« »Gib’s ihnen, Walter!« schnaubte Emma Lawrence heftig, doch ihre plumpen geschäftigen Finger, die Ellen roter Wolle zu etwas Pulloverähnlichem strickten, unterbrachen keinen Moment lang die Arbeit. Sie saß allein in ihrem Wohnzimmer, die Zimmer ihrer Pensionsgäste waren gemacht, auch sonst war alles erledigt, und nun saß sie da und genoß ihre halbe Stunde mit Walter Kennedy. Diese scheußlichen Mordgeschichten, die da passierten! Alle Hausgäste waren entweder bei der Arbeit oder sonstwohin gegangen, und der liebe Mr. Waring schlief nach der harten Nachtarbeit oben in seinem Zimmer. »…fünf junge Frauen, alle Anfang Zwanzig, mit Ausnahme des letzten Opfers, Hope Redland, die zweiunddreißig war. Fünf Frauen, alle erwürgt aufgefunden, an unterschiedlichen Orten in einem Zeitraum von zwei Wochen im Januar. Sämtliche Opfer waren ausgebildete Krankenschwestern. Einige arbeiteten im General Hospital, andere waren private Pflegerinnen für die Armen oder verdingten ihre Hilfe an die Reichen. Aber alle waren sie jung, attraktiv und hatten noch das ganze Leben vor sich. Bis ein Wahnsinniger, eine gottlose, perverse, verlorene Seele sie sich auswählte und vernichtete. Warum suchte sich ein geisteskranker Killer Linda Chase, Wilma Ferguson, Ruth Botlinger, Wanda Walters und Hope Redland als Beute aus? Warum…?« Walter Kennedy, der Veteran der Nachrichtensprecher, hielt bedeutungsvoll inne. Desgleichen Mrs. Lawrences Stricknadeln. »…die Behörden sind der Überzeugung, daß jede dieser Krankenschwestern ermordet wurde, weil sie rothaarig war! Stellen Sie sich, das vor, meine Damen und Herren! Bei der Suche nach einem gemeinsamen Nenner, einem Motiv, das diesen üblen Verbrechen gemeinsam ist, fand die Mordkommission Melvilles heraus, daß die Farbe rot von Bedeutung ist… Würden Sie es für möglich halten, meine Freunde, daß aufgrund dieser erstaunlichen Schlußfolgerung die Presse in Melville, die Polizeisprecher und leider auch ein paar leicht zu beeindruckende Mitglieder unserer Handelskammer sich bemüßigt sahen, den mörderischen Schlächter von fünf unschuldigen Frauen mit dem Etikett ›Rotschopf‹-Killer zu bedenken…« »Ach geh, Walter«, protestierte Mrs. Lawrence. »Du machst
dich über mich lustig!« Doch das tat Walter Kennedy nicht. Gesicht und Augen waren viel zu grimmig dafür. »… mir will scheinen, daß ein derartiger Spitzname bei aller offensichtlichen Angemessenheit nur ein armseliger Ersatz für echte polizeiliche Ermittlungsarbeit ist. Wir brauchen keine augenfälligen Phrasen, keine Slogans und Legenden, die zu Lasten der Wahrheit gehen. Was wir brauchen, ist Gerechtigkeit und rasche Vergeltung, und daß jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, ob rothaarig oder nicht, das Gefühl haben können, wieder frei und sicher auf den Straßen Melvilles gehen zu können.« »Dazu sage ich Amen«, seufzte Mrs. Lawrence, und die Nadeln flitzten wieder rascher. Walter Kennedy setzte sein berühmtes tolerantes Lächeln auf. »Mehr ist dazu nicht zu sagen. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag. Es sprach Walter Kennedy. Für heute und jetzt: auf Wiedersehen.« Als zu den Klängen der bekannten Erkennungsmelodie sein Gesicht verschwand und eine schmalzige Werbesendung folgte, seufzte Mrs. Lawrence erneut und griff nach der Fernsteuerung. Sie schaltete aus. Walter Kennedy konnte weiß Gott die Dinge beim Namen nennen. Man stelle sich bloß vor, diese Polizisten glaubten doch wirklich, daß der Irre Mädchen nur umbrachte, weil sie rothaarig waren! Was für eine blöde Idee! Reiner Quatsch! Wahrscheinlich bloß die verflixten Zufälle. Wie wenn man sagt, daß die Hälfte der verheirateten Menschheit Männer sind – allerdings, das stimmte ja auch nicht mehr immer heutzutage, weiß Gott nicht. Mrs. Lawrences Mund verkniff sich zu einem Strich, während sie an die zahlreichen verqueren Leute dachte, die man heutzutage sah. Auch so ein Ergebnis der sexuellen Freizügigkeit. So viele verwöhnte Kinder in dieser Zeit. Nicht Mr. Waring, Gott segne ihn. Der war prachtvoll. Sie hatte bisher noch keinen Grund gesehen, ihre Meinung über Hollis Waring zu ändern, seit er vor etwa vier Monaten unter ihr Dach gezogen war. Immer noch war er der junge Gentleman. Ein äußerst seltener Mensch, wirklich. Das Klingeln an der Haustür brach in die sonnige Stille des Wohnzimmers ein. Mrs. Lawrence blinzelte, blickte auf die Uhr auf dem Kaminsims, sah, daß es erst 12.31 Uhr war, und fragte sich,
wer wohl zu solch ungewöhnlicher Zeit an der Tür sein könne. Alle ihre Pensionäre hatten einen eigenen Schlüssel. Sie zuckte die Achseln, legte die Handarbeit beiseite und hievte sich aus dem Sessel. Sie tapste in Pantoffeln in den Flur. Durch das Schmelzglasfenster der Haustür sah sie eine ziemlich wohlgeformte Gestalt. Sah wie eine junge Frau aus, ein Teenager, aber das konnte man heutzutage ja nie wissen. Und ihre Augen waren auch nicht mehr die besten. Eine junge Frau, die aussah, als komme sie gerade von der Oberschule, stand etwas verlegen auf der hölzernen Veranda. Sie hatte einen Ledermantel an, der ihr bis zu den Knien reichte. Helle, gesunde, schlanke Beine endeten in flachen abgetretenen braunen Latschen. Doch jeglicher Zweifel verschwand, als sich auf dem Gesicht der überraschenden Besucherin ein Lächeln ausbreitete. Unter einem regenbogenbunten Kopftuch strahlte ein Gesicht hervor, das sogar dem Heiligen Vater gefallen hätte. Nie zuvor hatte Mrs. Lawrence so ebenmäßige weiße Zähne gesehen, so funkelnde dunkle Augen, solch wohlgeschnittene Nase und Mund in einem zauberhaften herzförmigen Gesichtchen. Das Mädchen wirkte gleichzeitig gesund und schön. Etwas Unglaubliches, Seltenes. Mrs. Lawrences Erzürntheit verwehte, machte Neugierde und einer fast sofortigen Zuneigung Platz. Es war recht ähnlich der Art, in der Hollis Waring sich in ihr Herz geschlichen hatte. Sie nickte der Fremden zu. »Ach«, sagte das Mädchen mit einer hellen musikalischen Stimme. »Sie sind doch nicht den ganzen Weg von der Bushaltestelle bis hierher gekommen, junge Frau, um auf meiner Veranda zu stehen und bloß das zu sagen, oder?« Das Mädchen runzelte die Brauen, kicherte und wedelte mit einer gefalteten Zeitung. »Also, woher wissen Sie, daß ich von der Bushaltestelle komme?« »Keine Gedankenleserei, Kind, wirklich nicht.« »Aber woher?« »Gar kein Trick dahinter. Erstens Ihre Zeitung, die Nachmittagsausgabe vom Telegraph, und die können Sie bloß an der Bushaltestelle kriegen, außer sie wird ins Haus geliefert, bevor sie an den Kiosken landet. Ihre Zeitung ist gefaltet und man sieht die
Annoncen. Das heißt, Sie haben meine ›Zimmer-frei‹-Anzeige gelesen. Außerdem sehen Sie aus, als wären Sie hier fremd in der Gegend, wenn Sie gestatten.« »Das ist wirklich sehr gut«, sagte das Mädchen, scheinbar tief beeindruckt, doch die dunklen Augen blitzten. »Sherlock Holmes kann Ihnen gar nichts vormachen, möchte ich wetten.« »Na, ich könnte ihm schon noch was beibringen«, stimmte Mrs. Lawrence geschmeichelt über das Kompliment zu. »Haben Sie kein Gepäck?« »Hab ich im Busbahnhof im Schließfach gelassen, für den Fall, daß ich durch die ganze Stadt tigern muß. Das hier ist doch Dale Street 1305? Ich konnte nirgendwo die Nummer finden.« »Die ist vor ’n paar Tagen runtergefallen, und ich bin noch nicht dazu gekommen, das in Ordnung zu bringen. Normalerweise hängt sie direkt über dem Briefkasten. Sie wollen sich das Zimmer anschaun, junge Dame?« »Und wie! Ich nehme es ungesehn. Es war ein solches Vergnügen, durch Ihr Viertel hier zu laufen. Die Häuser sind alle so sauber und frisch und überhaupt hübsch.« Emma Lawrence beäugte das junge Mädchen mit wachsender Befriedigung, aber sie zögerte, sie hereinzubitten. »Also, nehmen Sie mir’s nicht übel, Liebes, aber würden Sie mir vielleicht ein bißchen was über sich selber erzählen?« »Zum Beispiel?« »Wie alt sind Sie?« »Einundzwanzig.« Die Antwort kam rasch und bescheiden. »Und wo kommen Sie her und wie lange gedenken Sie zu bleiben?« »Also komm ich nicht zu spät? Das Zimmer ist noch frei. Gut!« Das Mädchen seufzte erleichtert. »Ich stamme aus Akron. Ich heiße Victoria Helm, aber meine Freunde nennen mich Vickie. Und ich schwöre Ihnen, Mrs. Lawrence, ich bin nicht von zu Hause ausgerissen und ich habe keinen Mann und kein Baby in Akron zurückgelassen, die mir schmerzlich nachweinen.« »Das will ich auch hoffen.« Emma Lawrence schnaubte abwehrend durch die Nase. »Weiter. Erzählen Sie mir mehr, Vickie.« »Also, ich, mein Traum ist es, Schauspielerin zu werden. Ich habe eine Urkunde als Beweis. Darum haben mich meine Leute hierherziehen lassen, damit ich bei Ihrer Theatertruppe Erfahrungen sammeln kann, weil sie gut ist, und zum Glück hat man mich
gebeten zu kommen. Inzwischen werde ich mir eine Arbeit in der Stadt suchen, und – ach, Mrs. Lawrence, könnten wir nicht das Zimmer ansehen? Ich fühle mich schon richtig zu Hause bei Ihnen. Melville kommt mir vor wie eine wirklich freundliche Stadt.« Emma Lawrence hatte bereits vor Minuten die Waffen gestreckt. Ihre romantische Seele begann sich bereits mit der Möglichkeit vertraut zu machen, daß dieses liebe und bildschöne Mädchen die Richtige für ihren Hollis Waring war. Und Vickie Helm war Schauspielerin! Wie gut das paßte, da ja Mr. Waring Filmregisseur werden wollte. Und außerdem war es höchste Zeit, daß ein paar lebensfrohe junge Leute in die Räume der Dale Strett Nr. 1305 einzogen. »Kommen Sie rein, Vickie«, lud sie das Mädchen in das warme Haus. »Sie haben sich ja ne schöne Zeit ausgesucht, um Melville kennenzulernen.« »Ich verstehe nicht?« »Haben Sie denn die Zeitung da nicht gelesen? Wir haben hier so was wie ’ne echte Verbrechensflut in der Stadt. Der Wahnsinnige, der all die Krankenschwestern umbringt, wissen Sie?« Victoria Helm wußte es nicht. »Das klingt ja scheußlich!« »Es ist scheußlich. Und man hat den Mann noch nicht erwischt. Nur hier die Treppe rauf, Liebes. Das Zimmer gleich oben am Absatz. Hat ’nen hübschen Blick auf die Rosen im Hintergarten. Der letzte Mieter hat ganz rasch nach Nevada zurückfahren müssen, weil seine Mutter gestorben ist. Simms hieß er. Er kommt nicht zurück. Genau am andern Ende vom Flur wohnt Mr. Waring. Netter junger Mann. Bißchen älter als Sie, aber nicht viel. Ihr zwei müßtet euch eigentlich prächtig verstehen. Vorsicht bei der letzten Stufe…« Vickie stolperte ein wenig, fing sich und lachte. »Jetzt sagen Sie mir das mit der Stufe! Nein, nichts passiert, danke. Huch, eine Verbrechensflut? Der arme geistesgestörte Mann. Also ich hoffe, keiner wird mich umbringen wollen. Ich bin ein ganz kleines Häschen…« Sie zog sich das bunte Kopftuch vom Haar und faltete es ordentlich. Durch das Fenster am Ende des Flurs drang genug Sonne, um das schulterlange Haar Vickie Helms aufleuchten zu lassen. Fast so bezaubernd wie ihr Gesicht war es und umrahmte ihre Schönheit. Ein schimmernder Wasserfall. Leuchtende Karmesintöne fingen das Licht auf, reflektierten es und verschwanden,
als Vickie in das Zimmer trat. Das Haar war rot. Sehr rot. So rot wie ein Feuerwehrauto. Emma Lawrence fröstelte, als sie sich an Walter Kennedys gräßliche Worte in der Mittagssendung erinnerte, dann schüttelte sie ein aufsteigendes Gefühl der Vorahnung von sich ab. Diese blöden Zeitungsleute sollen doch zum Teufel gehen. Schnatternde Fischweiber! Nur gut, immerhin war Vickie Helm nicht auch noch Krankenschwester. Die Opfer des Rotschopf-Mörders mußten doch immer Krankenschwestern sein, nicht wahr? »Im Grunde ist es ein nettes Zimmer«, plapperte Emma Lawrence weiter, während Vicky sich im Raum umsah. Sie mietete das Zimmer schließlich für elf Dollar die Woche. Und hatte keine Ahnung, worauf sie sich damit einließ. Was Mrs. Lawrence betraf, so konnte auch sie nicht wissen, daß sie einen Pullover für eine Bestie strickte. Einen wandelnden Teufel. Sie hatte Hollis Waring nichts davon gesagt, daß sie an einem Geburtstagsgeschenk für ihn arbeite. Das Datum hatte sie aus ihm herausgelockt. Es war der 21. Februar. Genau in einem Monat. Emma Lawrence war sicher, daß sie den Sweater bis dahin fertighaben würde. Sie wollte in der Zeit noch eine ganze Reihe anderer Dinge hinkriegen. Die Bekanntschaft zwischen Vicky Helm und Hollis Waring, zum Beispiel. Ihrer Ansicht nach waren die zwei wie füreinander geschaffen. Jawohl, Hollis Waring und Vickie Helm mußten miteinander bekanntgemacht werden. Es war unumgänglich. Es stand in den Sternen, wie bei Romeo und Julia. Die Schöne und die Bestie wären richtiger gewesen, doch das konnte Mrs. Lawrence nicht wissen. Sie wäre wahrscheinlich kreischend auf die Straße gerannt, wenn sie es gewußt hätte. Aber keiner in Melville wußte Bescheid. Kein einziger Mensch. Und darin lag das Entsetzliche an der Geschichte.
ICH, DER DÄMON »Wieder ein Riesenerfolg, Holly.« »Jawohl, Mr. Fletcher.« »Sie sind wirklich ganz wild auf diese Horrorfilme, was?« »Sieht so aus, ja.« »Boris Karloff lieben sie. Künstlerische Filme verabscheuen sie.
Zeig ihnen Bela Lugosi, den Wolfmenschen und ein prähistorisches Ungeheuer, und sie stürmen das Kino. Ist das zu glauben? Wir bringen einen französischen Film, der ein Dutzend Preise gewonnen hat, und ich krieg ’ne Erkältung, wenn ich die leeren Plätze unten sehe. Da soll einer schlau draus werden.« »Horrorfilme sind eine Flucht vor der Wirklichkeit«, gab Hollis Waring mit ruhiger Stimme zurück. »Niemand stirbt an Krebs, es gibt keine Helden und Heldinnen mit tiefen Seelenabgründen, wie man die Miete zahlen soll, ist kein Problem. Verstehen Sie? Da gibt’s nur ein Ungeheuer, einen Zustand, Panik in der ganzen Stadt, und zum Schluß wird das Ungeheuer gefangen oder in eine Falle gelockt oder vernichtet. Man darf es den Leuten nicht vorhalten, daß sie stärker nach Ersatzbefriedigungen, Ersatzgänsehaut suchen.« »Weißt du was, Holly, ich glaube, du hast das Ganze prima durchschaut, und ich glaube, du hast verdammt recht.« Arnos Fletcher, der seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs alleiniger Besitzer und Manager des Elm-Theaters in der Farm Street war, hatte schon Dutzende von Filmvorführern beschäftigt. Aber er mußte zugeben, daß Hollis Waring der bisher beste war. Nie eine Panne während der Vorstellung, nie schlich er sich auf eine Zigarette oder einen Drink weg, und noch kein einziger Kinobesucher hatte sich über schlecht projizierte Filme, schlechtes Licht, verschwommene Bildqualität oder dergleichen beklagt. Arnos Fletcher war noch nie einem jungen Mann begegnet, der seine Arbeit dermaßen ernst nahm. Fletcher hielt sich für eine Autorität auf zahlreichen Gebieten. Aber er mußte sich eingestehen, daß der Junge ihm intelligenzmäßig in vielen Bereichen das Wasser reichen konnte und ihn sogar übertraf. »Also, Holly. Da kommen sie schon wieder. Man könnte glauben, wir machen hier ’nen Totalausverkauf. Hab ich dir gesagt, daß ich dir mehr bezahlen will, Holly? Fünf Dollar die Woche. Okay? Du hast es verdient, weißt du.« »Danke, Mr. Fletcher.« »Höchste Zeit, daß du mich Arnos nennst, Holly. Hast du dir verdient. Du bist der zuverlässigste Typ, den ich je da oben hatte.« »Nett von Ihnen, daß Sie mir das sagen.« »Es ist die reine Wahrheit, Junge. Was wäre das für ’ne Welt, wenn die Leute nicht sagen, was sie denken, oder zu dem stehen,
was sie sagen. Ich bin im Büro, Holly, falls du mich brauchst. Muß mir noch mal die Verleihlisten durchsehen. Ich hab ’ne Chance, billig an Goldfinger ranzukommen, muß mir’s aber noch überlegen.« Hollis nickte, seine Brillengläser glänzten in dem gedämpften Licht des Foyers auf. Er wandte sich ab und glitt geschmeidig die roten Plüschstufen hinauf. Arnos Fletcher starrte ihm noch einen Augenblick lang nach, dann begab er sich in sein kleines Büro neben dem Haupteingang. Seltsamer Bursche. Einzelgänger. Keine Puppen, keine Freunde, keins von den gängigen Lastern. Rauchte nicht, trank nicht, anscheinend ein Bücherwurm reinsten Wassers. Das Geschäft im Elm war bereits seit Wochen blendend gelaufen. Zum großen Teil war das sicher auf den Publikumsgeschmack zurückzuführen, wie Holly das so selbstsicher behauptet hatte, aber Arnos Fletcher dachte doch ein wenig realistischer. Wie das Schicksal es bestimmt hatte, hatte sich Arnos Ende Dezember dazu entschlossen, im Januar ein Horrorfilm-Festival zu riskieren. Seine Planung und sein Glück hätten nicht besser übereinstimmen können. Denn wie hätte er vorher wissen sollen oder damit rechnen können, daß ein Irrer in der Stadt Amok laufen würde? Sein Elm-Theater profitierte nun davon, und natürlich er, Arnos Fletcher, ältester Kinobesitzer der Stadt. In der Nacht, in der Linda Chase im Flur ihrer Pension starb, gab es im Elm Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die alte Fassung mit Spencer Tracy, ungekürzt, mit der klassischen Traumsequenz und den meisterhaften Kameratricks, durch die sich der Arzt und Herr in einen knurrenden, haarigen, bestialischen Dämon verwandelte, der in verbrecherischer Lust das Böse aus seiner Seele ausstieß. Als Wilma Ferguson ihr schreckliches Ende im Auto fand und die Verbrechen allmählich die Öffentlichkeit zu beunruhigen begannen, mußte er im Elm-Theater Stehplätze einräumen, und sein erstauntes Lächeln verwandelte sich in ein genüßliches Grinsen. Es gelang ihm, den Traey-Film noch eine Woche zu verlängern, ehe er die Spulen an den Verleiher zurücksenden mußte, der sie anderweitig benötigte. Unterdessen hatte Ruth Botlinger ihre letzte Dusche genommen, und die Aufregung, die am Tag darauf in Melville herrschte, wischte die letzten Zweifel beiseite: ein mordender Irrer strich umher und erwürgte rothaarige Krankenschwestern.
Der Kartenverkauf im Elm verdoppelte sich. HENRY Hull als DER WERWOLF VON LONDON. Die Menge stürmte das Elm-Theater, als spürte jeder einzelne den Drang, sich zu vergewissern, als könne ein Film, in dem gezeigt wurde, wie ein kühler Wissenschaftler sich in einen schreckeinflößenden Werwolf verwandelt, den beruhigenden Hinweis dafür liefern, wie jemand zur Bestie werden kann, die umherstreift und schöne junge Frauen ermordet. Allerdings lieferte der Hull-Klassiker keinen Balsam für die unsicheren Seelen, nur Unterhaltung mit Gänsehaut. Ein Werwolf griff Dr. Glendon in den fernen Eiswüsten des Himalaya an, und damit hatte es sich. Zurück in London, verwandelte er sich, und so biß wieder ein verrückter Wissenschaftler ins Gras. Wie bei Tracy als Jekyll-Hyde war die Verwandlung das Ergebnis einer fragwürdigen Herumspielerei mit dem Bösen. Doch beide Filme bewirkten, daß das Publikum eifrig und begierig zu spekulieren begann. Was brachte den Rotschopf-Killer zum Ticken? Ein Zaubertrank? Der Vollmond? Ein alter verborgener Groll? DER WERWOLF VON LONDON lief noch, als Wanda Walters im Gestrüpp am Busbahnhof an der Wells Avenue gefunden wurde. Jede Vorstellung ausverkauft. Und an jenem scheußlichen Abend, als später in der Nacht Hope Redland auf ein Dach gezerrt, besudelt und ihres Lebens beraubt wurde, gab es einen neuen Film im Elm-Theater. Dracula, das alte Ungeheuer, in der Personifizierung durch Bela Lugosi für die Ewigkeit konserviert, durch sein Kauern, seine blutbedeckten lächelnden Lippen, jagte dem Publikum wieder einmal Schauer über den Rücken. »…hör sie dir an«, klang die schleppende Stimme Dracula-Lugosis von der Wendeltreppe seines zerberstenden Schlosses ins Ohr Dwight Fryes, unten auf den Stufen, zitternd vor Furcht. Dann der einschläfernde Blick. »…die Kinder der Nacht… welch schöne Musik sie machen…« Er meinte die Hunde und die andern Geschöpfe, die in der finstern Nacht draußen vor den Schloßmauern heulten und ihr Unwesen trieben, doch irgendwie spürte jedermann in Melville, daß Lugosi über den Rotschopf-Killer sprach. Schließlich, war der nicht auch vielleicht eines jener Unwesen? Ein Kind der Nacht? Ein Geschöpf, ein Tier, dem nichts Menschliches anhaftet? Das war doch wohl möglich, oder? Alles war in dieser verrückten Zeit möglich
und vorstellbar. Arnos Fletcher fühlte sich nicht dazu bewegt, darüber ernsthaft und kritisch nachzudenken. Er kaufte einfach weitere Horrorfilme für sein Festival im Januar. Und es brachte ihm guten Gewinn und viel Spaß und außerdem war er auch stolz auf seine Leistung. Sein Elm-Theater überrundete die großen Kinopaläste am Ort haushoch, nahm ihnen die ganze Kundschaft weg. Und das war ja schließlich der geheime Traum aller Theaterbesitzer in der ganzen Welt: die Großen mit ihren Kinoketten auszustechen. Besonders die unabhängigen Kinobesitzer wie Arnos Fletcher dachten so. Aus ihm hatte die Orgie des Rotschopf-Killers einen Sieger gemacht. Drei Tage nach dem Mord an Hope Redland wurde die Bela-Lugosi-Reklame für Dracula am Elm-Theater abgenommen und machte dem bislang saftigsten Bissen in Arnos Fletchers kleinem Kino Platz. »KARLOFF« – »FRANKENSTEIN« – mehr stand nicht auf dem Plakat, und mehr war auch nicht nötig. Der Urgroßvater aller Monsterfilme war nach Melville gekommen. Die piece de resistance auf dem Sektor »wahnsinniger Gelehrter plus vernunftlose Kreatur«, im Film. Und mit Boris Karloff, dem absoluten König des Horrorkinos. Arnos Fletcher fühlte sich so, als habe er nun auch noch das vierte As gezogen, zu den dreien, die er schon in der Hand hielt. Er konnte nicht verlieren. Nicht mal ein »Full-House« konnte ihn schlagen. Und ein volles Haus Tag für Tag und Abend für Abend war alles, was er sich vor allem in diesem Leben wünschte. Der rundliche Besitzer und Manager des Kinos trat beiseite. Sein mönchskahler Kopf schimmerte – er machte sich zum Empfang der Menschenfluten bereit, die in seinen Saal strömten. Und sie kamen. Sie strömten schiebend, drängend, fast wie eine entfesselte Masse herbei und forderten, eingelassen zu werden. Das Horrorfilm-Festival war plötzlich die Mode in der Stadt geworden… Was Hollis Waring betraf, der saß in seinem verdunkelten Projektionsraum, ein Chefzauberer über seinen Schaltern und Kontrollknöpfen, und wartete. Bis er seinem Zeitplan gemäß beginnen würde. Aufzuspulen und abzuspulen. Und er führte weiterhin einen Horrorfilm nach dem andern vor, während ganz Melville ebenfalls wartete. Daß sich der RotschopfKiller wieder meldete.
Frankenstein hatte sich in den etwa vierzig Jahren um kein Jota verändert, trotz der Wandlungen in der modernen Welt. Nein, kein bißchen war er anders, keine einzige Einstellung. Da erwachte Boris Karloff auf dem unter Hochspannung stehenden Operationstisch in Colin Clives abstoßendem Laboratorium zum Leben. Da gab es die Szene auf dem Friedhof, wo die Leiche wegen der entscheidenden Körperteile gestohlen wird. Dann der unselige Diebstahl des beschädigten Gehirns durch den furchtzitternden Dwight Frye. Das kleine Mädchen, das die Bestie ertränkt, weil sie nichts versteht. Die wütenden Dorfbewohner mit ihren Fackeln nachts in der Gegend, die das Untier suchen, das vernichtete und tötete, weil es ebenfalls eine angstzerfetzte Mißgeburt war, die sich an den Menschen, an die Zivilisation anzupassen vermochte. Es gab nicht einen einzigen Zuschauer im Elm-Theater, der den Film nicht als Kind gesehen hätte, niemand, der jemals die Schlußsequenz mit der brennenden Windmühle vergessen hätte, in der das Untier angeblich verbrannte. Die Kulissen, die Ausleuchtung, die brillante Kameratechnik, die zwingende Kraft des Spiels von Boris Karloff, das alles übertraf bei weitem das meiste an simplem Know-how im Filmemachen. Aber dennoch, es bestand ein Unterschied zwischen dem Ungeheuer in Frankenstein und dem Rotschopf-Killer. Ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Ein fundamentaler, ein äußerst grundlegender Unterschied: Der bedauernswerte Untermensch des Dr. Frankenstein war ein gehetztes, verwirrtes nur halb denkfähiges Geschöpf, mit dem das Publikum trotz des gruseligen Entsetzens Mitgefühl empfinden konnte. Der Rotschopf-Killer war etwas ganz anderes. Das Ungeheuer, das durch Melville tigerte, war der Böse, der Feind. Ein brutaler Mörder. Und für ihn konnte weiß Gott niemand Sympathie aufbringen.
ZWISCHENSPIEL Sie begegneten einander auf der Treppe der Pension. Er kam herunter, sie ging hinauf. Es war der Nachmittag des 3. Februar, und seit Mitte Januar hatte es in Melville keinen Mord mehr gegeben. Der Rotschopf-Killer schien auf Nimmerwiedersehen verschwunden zu sein. Aufgetaucht und verschwunden wie Jack the
Ripper vor fast einem Jahrhundert. »Oh«, sagte Vickie Helm und versuchte ihm auszuweichen. »Tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen.« »Es ist meine Schuld«, sagte Hollis Waring steif und wollte beiseite treten. Und wie es sich in solchen Momenten der Verwirrtheit und des Bemühens um Höflichkeit ergibt, brachten die beiden jungen Leute es fertig zusammenzustoßen. Dabei segelte ein dicker Packen Manuskriptseiten, den Hollis unter dem Arm getragen hatte, zu Boden. Vickie atmete vor Verlegenheit hastig aus und versuchte zu retten, was zu retten war, doch dabei stieß sie erneut mit Hollis zusammen. Und dann versuchten beide die über die ganze Treppe verstreuten Schreibmaschinenblätter einzusammeln. Manche waren sogar bis in das Erdgeschoß gesegelt. Es sah aus wie nach einer wilden Party. »O Mann, es tut mir schrecklich leid! Bitte verzeihen Sie mir.« »Ach, es ist nicht schlimm. Hoffentlich habe ich Ihnen nicht weh getan, als ich so in Sie hineinrannte.« »Wissen Sie was? Das alles ist wie aus einem Film der Marx Brothers, nicht wahr? Bloß ist es nicht komisch, wie?« »Ach, das macht nichts. So. Das sind alle. Vielen Dank. Sie hätten sich wirklich nicht zu bemühen brauchen.« »Mußte ich aber. Geteilte Schuld, geteilte Mühe, richtig?« »Sie müssen Vickie Helm sein. Mrs. Lawrence sprach von Ihnen.« »Und Sie sind Hollis Waring. Natürlich. Freut mich, Sie kennenzulernen. Selbst auf diese dumme Art.« »Das Vergnügen ist ganz meinerseits. Also…« »Sagen Sie, das sieht mir ganz wie ein Rollenbuch aus. Sind Sie Bühnenautor oder so was? Hat Mrs. Lawrence es Ihnen erzählt? Ich bin Schauspielerin!« »Wirklich? Nein, sie hat nichts gesagt. Ja, es ist ein Drehbuch für einen Film, den ich plane. Bin noch nicht fertig, aber es scheint ganz gut zu laufen.« »Ich würde es wahnsinnig gern mal lesen. Darf ich?« »Ich bin noch lange nicht fertig damit, aber – natürlich können Sie es lesen. Warum nicht?« »Ja, warum eigentlich nicht?« Darüber mußten beide lachen, und es fiel ihnen überhaupt nicht auf, daß sie immer noch mitten auf der Treppe standen. Hollis Waring verhielt sich in einer Weise wie noch niemals zu-
vor gegenüber einer Frau. Das Mädchen war so freimütig und köstlich unängstlich und unverlegen, daß er fast automatisch auf ihre übersprudelnde innere Fröhlichkeit und den Humor reagiert hatte. Es war ihm vollkommen unmöglich gewesen, sich in sich selbst zurückzuziehen, wie er dies mit einem anderen Typ Frau sofort getan hätte. Ihre körperliche Anziehungskraft, ihr Charme und das beinahe hinreißend schöne Gesicht trugen nur wenig dazu bei, daß Hollis sich, fast ohne zu denken, zu ihr hingezogen fühlte. Er vermochte ihre funkelnden Augen, die feine Nase, den rosigen Mund und das flammende tizianrote Haar zu sehen, ohne ein einziges Mal blinzeln zu müssen. Äußerlichkeiten bedeuteten ihm sehr wenig. Doch das, was im Innern von Vickie Helm lag, dieser Lebensfunke, diese ursprüngliche Lebhaftigkeit und Ehrlichkeit, machte aus ihr für ihn etwas völlig Unweibchenhaftes. Es war ein offenkundiger Widerspruch, doch es war Hollis nicht gegeben, die Ironie seiner Reaktionen auf den neuen Pensionsgast im Hause Lawrence zu begreifen. Und Vickie Helm blickte hinter die Fassade, die Hollis Waring der Welt und Melville präsentierte. Sie sah, daß er groß war, sah das ausdruckslose Gelehrtengesicht mit der randlosen Brille, den ruhigen schmalen Mund. Sie sah auch die gerade Nase mit den merkwürdigen Narbenlinien, doch sie dachte nicht weiter darüber nach. Sie sah einen sehr ernsten, zu reifen jungen Mann, der sich nie richtig aus seiner Schale herausgewagt hatte und der wahrscheinlich ganz in Ordnung sein würde, wenn er es endlich tat. Und da er außerdem Drehbücher schrieb und also wohl ein Filmnarr war, war er genauso an der Welt des schönen Scheins interessiert wie sie. Ein schöpferischer Mitmensch. Einer aus der Familie. Einer, der Menschen unterhalten wollte, anstatt Bürohengst, Lkw-Fahrer oder Bankier sein zu wollen. Und dies sprach eindeutig mehr für Hollis Waring. Sie sprachen die gleiche Sprache und brauchten dazu keine Dolmetscher. Sie konnten über eine Menge Sachen reden, und taten es auch. Wie zwei, die sich seit Jahren kannten. »Sie sind also Filmvorführer.« »Ja, im Elm-Theater. Eins der besten Kinos in der Stadt.« »Das ist richtig, Hollis, wirklich.« »Wieso, Vickie?« »Machen Sie Spaß? Sie wollen ein Filmemacher werden und
Drehbücher schreiben und voila! Sie verdienen sich Ihre Brötchen durch Filmvorführen. Das ist, wie wenn man dafür bezahlt wird, daß man seine Schularbeiten macht.« »Ja, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Ja, ich glaube, das stimmt wohl.« »Natürlich stimmt’s. Schauen Sie mich an. Ich wünsche mir eine Karriere wie Julie Harris und gastiere ein bißchen bei den Melville Players, aber ich muß mir wohl einen Job suchen, wenn mir das Geld ausgeht. Meine Eltern konnten mir nicht allzuviel mitgeben. Aber ich beklage mich gar nicht. Es ist herrlich, lebendig zu sein. Und eine großartige Zeit, heute jung zu sein. Die Luft steckt voller Ereignisse.« »Glauben Sie das wirklich, Vickie? Leute in unserm Alter werden doch gewöhnlich von den älteren Leuten beschuldigt, daß wir unsere Zeit überhaupt nicht schätzen.« »Hollis, das Getöns machen doch bloß alte Knacker aus der Generation vor uns, die nicht mehr mitkommen. Die den Kontakt zu ihrer Umwelt nicht schaffen. Wann war die Jugend in einem Land je ernsthafter mit den Ereignissen beschäftigt als wir? Na, wann denn?« »Ich vermute, Sie haben recht. Wir sagen unsere Meinung über den Krieg, über die Bürgerrechte, über den Frieden und - über die Liebe.« »Weiß Gott. Und wann gab es in den guten alten USA jemals eine Bewegung wie die Women’s Lib? Oder die Umweltkampagnen? Ich sage Ihnen, Hollis, wir leben wahrscheinlich in der wichtigsten Zeitperiode seit hundert Jahren. Und keiner kann wissen, wie weit wir kommen können.« »Solange wir nicht zu weit gehen, Vickie. Mäßigung über alles. Das ist eine sehr gesunde Verhaltensregel. Für jeden, würde ich sagen. Sie nicht?« »Hollis, in diesem Leben muß man Risiken eingehen. Auf Nummer Sicher setzen, das ist einfach zu verflixt vernünftig, wenn Sie verstehen, was ich sagen will. Man ergreift die große Chance, das ist alles.« »Ich weiß. Und Chance ist nur ein anderes Wort für Fehler, die man macht.« »Oh, Holly!« Der verächtliche Ton ihrer Stimme betäubte ihn einen Augenblick lang. »Was ist denn?« Die Verachtung bestürzte ihn.
»Sie können nicht Silvester ohne Feuerwerk haben, Holly. Und Sie müssen einfach ein paar Eier zerschlagen, wenn Sie – « » – ein Omelett essen wollen.« Er entspannte sich, die Furcht war verschwunden, denn Vickies Humor sprudelte wieder hervor. »Das ist ja eine richtige Borgiaphilosophie, Vickie. Der behauptete, daß das Ziel die Mittel heilige, als er mehr als die Hälfte seiner Verwandten vergiften ließ. Manchmal ist das aber eine ziemlich armselige Entschuldigung.« Aber auch dem war Vickie gewachsen. »Das ist, nicht das gleiche, Hollis Waring, mein guter messerscharfer Intelligenzprotz. Und außerdem weichen Sie aus, vermeiden das allgemeine Thema.« »Und wie, bitte, tu ich das?« »Gut, ich will’s Ihnen sagen. Da Sie so drauf brennen, es zu wissen. Also, folgendes möchte ich der wohlgeschützten stählernen Falle, die Sie als Gehirn benutzen, einhämmern…« Sie waren rasch zu Freunden geworden, fast sofort. Und sie gewannen Bedeutung auf vielen Gebieten füreinander, so einfach, wie wenn man mit den Augen zwinkert oder ein Zigarettenetui poliert. Ihre Diskussionen waren harmonisch, ob es sich nun um gemeinsame Interessengebiete oder um ein Streitgespräch handelte. Sie bildeten eine gemeinsame Front gegen die Welt außerhalb der Mauern der Pension. Und sehr rasch wurden sie füreinander alles. Alles, nur nicht Liebende. Trotz Vickie Helms Feuer und freizügiger schönen Seele, trotz ihres schönen bereitwilligen Körpers, war Hollis Waring dafür noch nicht bereit. Das sollte noch sehr viel länger dauern. Das erforderte Freundschaft, Gespräche, Gemeinsamkeit. Und Herz. All das hatte Hollis Waring bisher noch nicht in sich selbst entdeckt. Sie fragte ihn nur einmal über seine Einstellung zu Frauen. Nur ein einziges Mal. Und das war genug. »Wie steht’s damit, Holly?« »Womit?« »Sie wissen schon. Mit der Liebe.« »Oh.« »Na? Waren Sie jemals völlig durcheinander und verrückt wegen eines Mädchens? Wegen einer von uns?« »Nein, nie. Ich – hab’ einfach nie die Zeit dazu gehabt.« Vickie Helm kicherte gurrend in einem Ton, den nur ein anderes
weibliches Wesen als das erkannt haben würde, was er war: »Das ist äußerst interessant, Mr. Waring.« »Ich verstehe nicht, was daran interessant sein soll«, gab Hollis zurück, und er meinte es wirklich so. Er wußte es nicht besser. Vickie hatte wie nebenbei begonnen, ihn »Holly« zu nennen, und mit dieser warmen freundlichen Anrede begann ein merkwürdiges viertes Leben für Hollis Waring. Eines, gegen das sich zu wehren ihm die Waffen fehlten. In einer Welt war er ein Einzelgänger ohne Bindungen, der in einer Pension lebte, Bücher las, Drehbücher schrieb, von Filmen träumte. In einer zweiten Welt war er Vorführer und ließ Zelluloidbilder auf einer breiten weißen Leinwand aufleben. Ebenfalls ein sehr einsames Leben. In einer dritten Welt schließlich war er der geistesgestörte Mörder, der tötete ohne Erinnerung, der die Körper hübscher Frauen zerstörte und entweihte. Doch diese vierte Welt, sein viertes Leben, zeigte ihn als den Freund und behutsamen Kameraden der Vickie Helm. Die vier Welten würden eines Tages zusammenprallen, aber Hollis Waring besaß keine Maßstäbe, in denen Furcht oder Unruhe oder eine Katastrophenwarnung Platz gehabt hätten. Wenn er vor dem Ovalspiegel in seinem Zimmer stand, konnte er mit nichts dem lächelnden Spiegelbild, das ihn daraus anblickte, Einhalt gebieten. Mit nichts den Wahnsinn durchbrechen. Das Entsetzliche. Wenn sein Gesicht sich verwandelte, seine beiden Riesenhände sich zu bläulichen Monstren verformten, dann widerfuhr das nicht Hollis Waring. Es geschah einem andern Mann. Dem Rotschopf-Killer. Der bestialischen, jaulenden, blutdürstigen Schöpfung der Bewohner Melvilles. Ein solches Geschöpf vermochte doch sicherlich nicht am lichten Tag und im Lichte klarer kühler Vernunft zu existieren. So etwas, derartige Ungeheuer konnte es einfach nicht geben. Es war ganz unvorstellbar. Und wenn es so ein Untier gab, wohin war es verschwunden? Und warum? Warum hatte es sich so lange nicht gezeigt? Wo war es? Niemand wußte es, keiner konnte es sagen oder vermuten. Am wenigsten Hollis Waring.
»Wie steht’s mit dem Drehbuch, Holly?« »Ganz gut, glaube ich. Noch ein paar Szenen, dann das große Finale, und dann muß ich’s noch mal durchackern! Es sieht so aus, als wenn’s was würde, aber ich muß noch ziemlich viel daran feilen. Andauernd fällt einem was ein, was man vergessen hat, irgend etwas Technisches oder im Spiel, wodurch es besser werden könnte.« »Jetzt wissen Sie also, warum Schauspieler für ein gutes Drehbuch ihre Seele verkaufen würden. Sagen Sie, ist’s nicht Zeit, daß Sie zur Arbeit gehen? Es geht auf sechs Uhr.« »Tatsächlich? Ich vergesse vollkommen die Zeit, wenn ich tief in dem Text stecke. Danke, Vickie.« »Abgang zum Elm. Und was, wenn mir die Frage erlaubt ist, wird in diesem ehrenwerten Kinotheater jetzt geboten?« »Neues Programm heute. Gott sei Dank sind wir den Frankenstein endlich los. Der alte Fletcher allerdings hätte ihn gern bis zum Jüngsten Tag gezeigt. Über zwei Wochen hat er ihn schon laufen. Aber jetzt werden Sie mit Entzücken vernehmen, daß die Mumie ein paar Tage unter uns weilt.« »Horrorfilme, brrr.’ Gibt’s denn bei euch nichts anderes? Man könnte doch annehmen, daß die Leute das Zeug mittlerweile satt haben. Ich bin mehr für Carnal Knowledge oder Midnight Cowboy.« »Die Leute, von denen Sie sprechen«, sagte Hollis mit einem seltsamen Blitzen in den Augen hinter den randlosen Gläsern, »diese Leute scheinen aber die Programme im Elm zu mögen. Über Geschmack läßt sich bekanntlich nicht streiten, wie?« »Weiß Gott nicht«, sagte Vickie theatralisch. »Also, einen angenehmen Abend und überanstrengen Sie sich nicht. Bis morgen früh. Ich muß eine Rolle lernen. Könnten Sie sich mich als ›Stella‹ in Endstation Sehnsucht vorstellen?« »Kann ich, jawohl«, sagte Hollis lächelnd und erfreut über ihre Begeisterung wie stets. »Apropos Ungeheuer, ich kann mir kein scheußlicheres vorstellen als den ›Stanley Kowalski‹ bei Tennessee Williams. Also wirklich, Vickie, das war ein echtes Tier. Brutale Männlichkeit. Zähnefletschend.« »Jaa«, seufzte Vickie. »Ein männlicher Chauvinist mit Flügeln. Aber die gute alte ›Blanche DuBois‹ hätte ja auch nicht grad so
ein leichtes Stück sein brauchen.« »Sie war krank, seelisch gestört und…« Hollis lachte verlegen und betastete seine Brillengläser. »Können wir später darüber diskutieren? Ich muß jetzt wirklich gehen.« »Aber ja doch.« Vickie schenkte ihm ein verwirrendes Lächeln der Zuneigung. »Ich bin morgen zu Hause, Holly. Außerdem werden Sie sich mit meiner Gesellschaft abfinden müssen. Das ist Ihnen doch klar, oder? Ich gehe nirgendwohin.« »Ich weiß«, sagte Hollis Waring, ohne einen weiteren Kommentar zu liefern. Als er spät in der Nacht aus dem Kino heimkam, langsam die stille Treppe in der frühmorgendlichen Ruhe der Pension der Mrs. Lawrence hinaufstieg, sah er Licht unter Vickies Tür. Er ging auf Zehenspitzen weiter und trat erst wieder fest auf, nachdem er seine Tür hinter sich geschlossen hatte. Er drehte sehr vorsichtig den Schlüssel um. Es war sehr spät, aber Vickie lernte noch ihre Rolle oder las oder sonstwas. Was sie tat, spielte keine Rolle. Hollis verspürte ein starkes Bedürfnis nach Ungestörtheit. Der Vorführraum war ihm an diesem Abend heiß und stickig erschienen. Das Summen und Zittern, schwache Geräusche, doch zugleich irgendwie schrecklich eindrucksvoll und mächtig, waren ihm wie Donner erschienen in dieser Nacht. Er hatte Kopfschmerzen bekommen, die durch ihre Intensität beinahe furchteinflößend waren. Auch wenn er den Film auf dem Monitor verfolgte, fand er keine Erleichterung. Im Gegenteil, das Pochen nahm nur zu. Zu sehen, wie Boris Karloff aus seinem Mumiensarkophag stieg, sich in der modernen Welt suchend nach seiner Reinkarnation der ägyptischen Prinzessin umschaute und sie nach siebenunddreißig Jahren in Gestalt eines schönen jungen Mädchens in England fand. Boris Karloffs Maske war hervorragend, die Szenen hatten Atmosphäre und waren meisterhaft gestaltet, und Zita Johann war genau richtig in der Rolle des Mädchens, doch ein Horrorfilm war keine Medizin für das, was Hollis Waring quälte. Sosehr er Karl Freunds brillante Kameraarbeit genoß, in dieser Nacht war seine Stimmung eindeutig äußerst menschlich. Er litt plötzlich, war plötzlich durch einen betäubenden Kopfschmerz sehr sterblich geworden, dessen Ursache geheimnisvoll und unbekannt blieb. Außerdem war sie tödlich.
Beinahe übermannte ihn die Übelkeit, und er mußte sich am Fuß des gewaltigen Projektors festklammern. Doch es ging vorbei. Der Film lief glatt weiter, ohne Bruch, und zog das dichtgedrängte Publikum unten im Saal in seinen Bann. Entsetzte weibliche Besucher keuchten in der Dunkelheit, und als sich der in Binden gewickelte Leichnam Boris Karloffs wirklich bewegte, schrie eine Besucherin tatsächlich vor Entsetzen auf. Der Abend wollte kein Ende nehmen, aber dann war das Kino wieder dunkel, er hatte sich von dem lächelnden Arnos Fletcher unter der ausgeknipsten Leuchtreklame verabschiedet und war so rasch wie möglich nach Hause geeilt. Er wartete nicht auf den Bus, sondern nahm ein Taxi. Er, der normalerweise so knauserig war und auf allen Luxus verzichtete. Sobald er wieder in seiner eigenen kleinen Welt war, geschützt vor dem restlichen Universum, stellte sich Hollis Waring vor den ovalen Spiegel. Hollis hatte weder den Mantel ausgezogen noch geatmet. Er mußte es wissen. Er mußte es selbst sehen. Etwas war verändert. Völlig verändert. Noch nie zuvor hatte er sich so wie jetzt gefühlt. Nie! Auch nicht in jenen anderen Nächten, in denen ihm die Spiegelwelt eine Erscheinung gezeigt hatte, die kein Mann und keine Frau, kein Sterblicher, sehen konnte, ohne in absolutem Entsetzen zu fliehen, schreiend vor Abscheu. Hollis Waring spürte, daß eine unglaubliche Verwandlung stattgefunden hatte. Und diesmal war er sich der Verwandlung bewußt! Nie zuvor war das der Fall gewesen. Begonnen hatte es im Vorführraum, kroch in ihn hinein unter dem Deckmantel des Kopfschmerzes, versteckt hinter Übelkeit, maskiert als fremdartiges Gefühl. Noch nie hatte er eine solche Vorwarnung erfahren. Früher hatte sich die Metamorphose einfach eingestellt, sie war passiert und wieder verschwunden, ohne daß er sich an das Zuvor oder Danach erinnern konnte. Eine Erscheinung in dunkler wirbelnder Leere. Doch diesmal! Diesmal war es anders! Hollis Waring stierte stumm in den Spiegel, in das schwach im Licht der kleinen Lampe auf dem Tisch neben der Tür schimmernde Oval. Ein tiefes Stöhnen bildete sich in seiner Kehle, drang nach oben und stieß als Knurren durch die zusammengebissenen Zähne. Ein tierisches Knurren, in dem der Dschungel mitschwang und uralte Zeiten und nichtdenkende Primitivität in Ton und
Rhythmus des knurrenden Fauchens. Der Mann, der Hollis aus der Spiegeltiefe anstierte, war ein Ungeheuer. Das Böse in Menschengestalt. Große, weitaufgerissene Kinnbacken, gebleckte Reißzähne, geblähte Nüstern, die Augen zu Schlitzen verengt, blitzend in der haarbedeckten Maske des Gesichts. Da waren auch zwei Hände im Spiegel. Zwei unglaubliche, riesige, krallenbewehrte, zottige rote Hände. Scharlachrote Finger, glühende Handflächen. Hollis Waring hatte erneut eine Verwandlung durchgemacht. Nach einem zweiwöchigen Schlaf, einer Pause im Entsetzlichen. Einer langen Pause. Wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde ein und derselbe Mann waren, so war auch Hollis Waring und der Rotschopf – Killer ein Wesen. Ein und derselbe. Die randlose Brille lag auf dem Teppich, er bemerkte sie nicht, als er katzenhaft zur Tür sprang, sie geräuschlos öffnete, die dunkle Treppenflucht hinunterhuschte, dicht an Vickie Helms Tür vorbei, unter der noch Licht schimmerte. Er hätte ein gleitender Schatten sein können, so lautlos und rasch huschte er dahin und verschmolz mit den anderen Schatten im Haus. Das Etwas in Hollis Warings Körper hatte ein bestimmtes Ziel. Einen Ort. Er war wieder auf der Jagd. Hinaus in die Nacht in Melville, auf der Suche nach einer schlanken weißen Kehle, einem wehrlosen Gebilde aus Fleisch, einem weiblichen Wesen, das er vernichten würde. Es war offen, wo er seine Beute finden würde. Doch es mußte sie irgendwo geben. So sicher, wie jedes Richtungsschild, jede Hausnummer, jeder Straßenname ihn zu seiner Beute führte. Die Beute trug den Namen Deanna Watts. Nach dem nicht zugestellten Brief, den Arnie Abrams von der Melviller Mordkommission an Dr. Connors O’Hanlon geschrieben hatte, war sie die letzte lebende rothaarige Krankenschwester in der Stadt. Deanna Watts, fünfundzwanzig, arbeitete in einer teuren Privatklinik namens Masterson Arms im Bezirk Delmont. Abrams und seine Leute behielten sie ständig im Auge. Tag und Nacht, vierundzwanzig Stunden lang. Auch wenn sie schlief. Damit es ihr erspart bleiben möge, das sechste Opfer des abscheulichen Mörders zu werden. Hollis Waring rannte auf lautlosen Sohlen durch die Nacht. Glitt, hüpfte, sprang mit einer Geschmeidigkeit und Raschheit durch die
Viertel der Stadt, die niemand für menschlich hätte halten können, die nicht von dieser Welt waren, und geisterhafte Kumpane glitten mit seinem flüchtigen Schatten dahin: Mr. Hyde, Jack the Ripper, Kürten aus Düsseldorf, der Axtmann aus New Orleans. Auch sie waren Ungeheuer, und auch sie hatten gelebt. Gelebt und wie Dämonen in der Nacht Lebendiges geschlachtet. Und waren zu abstoßenden Legenden geworden. Zu einer Schmach und Schande für die ganze Menschheit.
BITTE BRING HEUT NACHT NICHT NUMMER SECHS UM! »Ich hab’ sie gekillt!« verkündete das junge Wrack mit dem schütteren Bart und den fieberglänzenden Augen in seinem Drehsessel vor dem Schreibtisch Arnie Abrams. »Jede einzelne der gottverfluchten Huren. Und es tut mir überhaupt nicht leid!« »Das haben wir uns gedacht, Collins.« Abrams betrachtete die vorspringenden Knöchel an seinen zusammengepreßten Händen. Hinter Collins stand mit unbewegtem Gesicht und scharfem Blick ein Detektiv, falls der Junge gewalttätig werden oder fliehen wollte. Das Büro war staubig und wirkte irgendwie grau, trotz der gelben Beleuchtung von einer Stehlampe und dem grellen Licht der Straßenbeleuchtung, das durch die Fenster kam. »Also, wir wollen folgendes wissen: wie und warum! Überzeug mich, und ich hol ’ne Sekretärin rein, und wir machen ein Protokoll. Wir müssen den Schreibkram in Ordnung haben, Collins.« »Als wenn ich das nicht wüßte. Wir leben in einem Computeruniversum, was, Chef?« Hammond Collins’ Stimme wirkte kultiviert und gebildet, aber sein Teenagerkörper steckte in Lumpen. Dünne blauweiße Leinenhosen, von einem Strick auf den Hüften gehalten, ein Hemd mit zerfetzten Ärmeln, ein Mantel, nachlässig über die Schultern gelegt, alles sah aus, als hätte er das Zeug aus einer Mülltonne gefischt. »Alles muß einem Zweck dienen, stimmt’s? Das ist eine inhärente Gesetzmäßigkeit, was?« »Stimmt«, pflichtete Arnie Abrams ihm bei. »Also spuck’s schon aus. Bloß damit alles seine Richtigkeit hat und wegen der Fakten. Was kannst du bloß gegen die hilflosen Puppen gehabt haben, daß du sie auf die Tour killen mußtest?« Hammond Collins lehnte sich schaukelnd in dem Sessel zurück. Dann hob er den Kopf, als erblickten seine Augen das Licht des
Heiligen Geistes. Er lächelte voller Triumph. »Sie waren Sünderinnen. Weiber. Gefäße des Bösen. Sie mußten der Vernichtung anheimfallen. Also habe ich sie in die Vernichtung geschickt. Die Welt ist besser dran ohne sie.« »Aha. Also hast du sie vernichtet. Aber wie hast du das gemacht?« Der Junge zuckte hoch, wie von einer Schnur gezogen. Aber er hielt nur seine Hände vor. Große Hände, mächtig trotz der Schmalheit des restlichen Körpers. Verdickte, schwielige, fettigverschmutzte Hände. »Damit, Chef. Damit hab’ ich ihnen das Leben rausgequetscht. Jeder einzelnen. Und wenn ich fertig war, hab ich ihre widerlichen Leiber zerfetzt. Sie waren Krankheitsträger, voller Gift. Ich wollte sie nicht mit meinen Händen berühren. Nein, niemals! Für sie gab’s bloß die Schere, die Flasche, den Brieföffner.« Abrams zuckte mit keinem Muskel. Sein Gesichtsausdruck war, wenn überhaupt vorhanden, müde, hauptsächlich aber traurig. Das Gesicht eines Bullen, dem alles schon bekannt ist. »Du sagst, daß alle deine Opfer an einer – hm – an einer Art sozialem Übel, einer Krankheit litten, stimmt das? Syphilis? Geschlechtskrankheiten?« Es gelang Hammond Collins, erstaunt dreinzublicken. Ja, sogar ein wenig enttäuscht. »Aber natürlich doch. Ist das nicht Grund genug? Welchen anderen Grund hätte ich haben sollen, sie zu vernichten? Morden ohne Grund ist nicht meine Art.« »Nein, das glaube ich auch nicht, Collins. Aber ich hatte gehofft, daß du sie vielleicht umgebracht hast, weil sie alle rothaarige Krankenschwestern waren.« »Das spielte überhaupt keine Rolle. Sie waren voller Gift! Nur das war wichtig. Die hätten Filmstars sein können, und ich hätte genau das gleiche gemacht. Ihre verseuchten Körper mußten einfach weggemacht werden.« Arnie Abrams nickte, als stelle ihn die Antwort zufrieden. Dann fragte er scharf: »Was hast du mit dem Pelzmantel von Hope Redland gemacht, nachdem du sie weggemacht hast?« Hammond Collins griente schlau. »Hab ich versteckt! Wo Sie’n niemals finden. Denkste ich bin verrückt? Dafür krieg ich ’ne Menge Piepen, für den Mantel.« »Und was ist mit dem Brillantring bei der Wanda Walters?«
»Das sag ich Ihnen nich’, Chef. Die Beute meiner Mühen, sozusagen. Sie verstehen mich schon.« Abrams schaukelte auf seinem Stuhl vor und zurück und räusperte sich, als stecke ihm etwas in der Kehle. »Sperr ihn ein, Hal. Stadtstreicherei. Behaltet ihn über Nacht und übergebt ihn morgen der Psycho-Abteilung.« Hammond Collins setzte sich steif in seinem Sessel auf. Er war ein sehr hochgewachsener junger Mann. »Sie sind mir vielleicht ’n Polyp! Richtige Spitzenklasse, was? Ich bin der Rotschopf-Killer, Sie mieser Null-acht-fünfzehn-Bulle! Verhaften Sie mich und machen Sie meiner Mordlust ein Ende!« »Ein andermal, Raskolnikow. Heute sind wir ausgebucht mit Geständiswilligen und Hippys, die’s drauf anlegen, ihre verkaterten Schuldgefühle abzuladen. Wiedersehn, Kleiner. Tu mal, was der Doktor dir sagt. Vielleicht kann er dir helfen.« Detektiv Hal führte den protestierenden Collins aus dem staubigen Büro. Abrams versenkte das Gesicht in die Hände und rieb sich die Augenlider. Plötzlich hatte er Kopfschmerzen. Einen bohrenden pulsierenden Schmerz im Augapfel. Kein Wunder. Die ununterbrochene Arbeit an dem Fall des Rotschopf-Killers hatte einen alten Mann aus ihm gemacht. Seit zwei Wochen hatte der Mörder sich nicht gerührt, als wäre er vom Antlitz der Erde verschwunden, und Deanna Watts war noch immer lebendig. Aber das war kein echter Trost, denn schließlich war es ja dem Mörder von fünf Frauen gelungen, unentdeckt zu entwischen. Anscheinend. Und ohne die geringsten Spuren. Das Morddezernat jedenfalls hatte überhaupt keine. Und Doc Connors O’Hanlon tauchte sehr, sehr langsam aus der Bewußtlosigkeit auf in seinem Zimmer in irgendeinem Krankenhaus in New York. Und beinahe wäre er gestorben. Knapp fünf Minuten später kam Hal zurück, rückte sich den Sessel zurecht, in dem Collins gesessen hatte, und ließ sich hineinfallen. Er zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. »Warum machen die das?« Abrams lächelte müde. »Sie wollen doch darauf nicht wirklich Antwort haben, oder?« »Natürlich nicht. Aber ich krieg’ eine Gänsehaut dabei. Das war jetzt der dritte junge Bursche in einer Woche, der hier reinkommt und sich mit den fünf übelsten Morden, die hier je passiert sind, brüstet. Man kann sich bloß wundern.«
»Wundern Sie sich nicht. Bei denen stimmt was nicht im Kopf. Ob sie jung sind oder alt. Vielleicht ist es bloß ’n Ersatz für die Kirche. Ein Ventil für Vietnam.« »Gott ist tot, Arnie?« »So ungefähr.« Hal holte ein Päckchen Zigaretten hervor, bot Arnie keine an, zündete sich bedächtig eine an. Abrams war anscheinend in die Betrachtung des unbewegten Gesichts seines Gegenübers vertieft. »Wo ist Deanna Watts in diesem Augenblick?« fragte er ruhig. Hal blickte mit verkniffenen Augen zu der altmodischen runden Wanduhr hinter dem Schreibtisch. »Im Krankenhaus, beim Dienst. Und sie dreht sich dauernd um und zuckt bei jedem Geräusch zusammen. Wenn wir den Typ nicht erwischen, Arnie, landet die in der Klapsmühle.« »Steht das nicht uns allen bevor?« Abrams seufzte und stand auf. Er hakte den Pfeffer-und-Salz-Mantel vom Kleiderständer links vom Schreibtisch. »Na los. Wir müssen noch mal mit ihr reden. Außerdem wird es ihren Nerven guttun, wenn sie mal mit zwei hartgesottenen Exemplaren der Mordkommission reden kann.« »Sicher.« Hal gab ein humorloses Lachen von sich. Alles war besser, als herumzusitzen und auf einen Telefonanruf zu warten oder auf ein Rundschreiben oder wieder eine Mordmeldung. Vier-Fünf-Sieben, der Killercode. Komisch, das mit den Morden. Meist erfuhr man so davon. Über einen kalten unpersönlichen Fernschreiber oder durch eine tonlose Stimme über Funk. Vielleicht hatte Hammond Collins in gewisser Beziehung doch recht. Ja, es war wohl wirklich eine computerisierte Welt. Arnie Abrams und Detektiv Hal Wallace verließen das Gebäude, stiegen in einen geschlossenen Wagen ohne polizeiliche Markierungen, der in einer Reihe anderer Fahrzeuge in der Garage hinter dem Polizeipräsidium stand, und fuhren durch die Nacht in das Belmontviertel, in dem die Gebäudekomplexe des Masterson Arms seit einem Vierteljahrhundert lagen. Beide konnten nicht ahnen, daß sie knappe fünfzehn Minuten zu spät kamen, um dem Rotschopf-Killer zu begegnen. Der nämlich war gerade dabei, Deanna Watts umzubringen. Und zwar fast vor den Augen von sechs patrouillierenden Polizisten.
Eine Affäre, mit der die Polizei in Melville wohl nie fertigwerden konnte. Eine Sache, die innerhalb kürzester Zeit Geschichte und Legende werden sollte. In so kurzer Zeit, wie der Dämon brauchte, um zuzuschlagen, zu erwürgen und in der Nacht zu verschwinden wie ein Teufel aus den Tiefen der Hölle. Und in dieser Nacht war Melville wieder einmal Schauplatz des infernalischen Bösen. Wild und blutrot und schwarz und höllisch. Und sinnlos und böse. »Ich schreibe dies ins Protokoll«, sagte Arnie Abrams zwei Stunden später mit leiser Stimme in das Mikrophon des Tonbands, »weil kein Mensch glauben wird, was passiert ist, und weil eine Reihe unserer Leute auf unfaire Weise beschuldigt werden könnten, den Tod der Deanna Watts fast direkt vor dem Haupteingang des Krankenhauses Masterson Arms nicht verhindert zu haben. Als Detektiv Wallace und ich heute morgen gegen drei Uhr dort eintrafen, konnten wir mit gutem Recht annehmen, daß Miß Watts am Leben sei. Ich hatte sie seit zwei Wochen von sechs Mann in je drei Schichten überwachen lassen, zu Hause, auf der Straße und in der Klinik. Die Männer erledigten ihre Aufgabe gut. Vielleicht aber nicht gut genug, könnte jemand sagen, denn jetzt ist Deanna Watts tot. Erwürgt, verstümmelt und mißbraucht, wie alle andern fünf Opfer. Und es wäre soweit nur fair, das zu sagen. Aber ich möchte hier klar und deutlich aussprechen, daß niemand, niemand, der auch nur ein Mensch ist, diesen Mörder aufhalten kann. Er ist so etwas wie aus einer andern Welt.« Das war ziemlich starker Tobak, sogar für einen altgedienten Mordexperten. Abrams strich sich mit feuchter Hand über die fieberheiße Stirn, öffnete den Hemdkragen und atmete tief ein. Nichts unterbrach die Stille im Büro, denn es war schon fast dämmerig, und draußen vor seiner Tür rührte sich nichts am Empfangstisch. Hal Wallace hatte er nach Hause geschickt, eine kleine Notmannschaft versah den Dienst, und er, Abrams, fühlte sich müder und geschlagener als jemals zuvor in seiner ganzen Laufbahn als Polizist, aber er würde nicht schlafen, ehe er nicht dem Diktaphon seine Meinung anvertraut hatte. Für das Protokoll, für die offizielle Hetzkampagne, die zwangsläufig folgen würde. Niemals würde Abrams die schreckliche Stunde im Masterson
Arms vergessen, wie er wartete, während der eilends aus dem Bett geholte Dr. Donne die Autopsie vornahm, während bleiche Polizisten benommen und kopfschüttelnd herumwanderten, weil sie nicht glauben konnten, was passiert war, während das entsetzte Klinikpersonal lärmend herumstand wie die gewöhnlichen Massen von neugierigen Zuschauern. Ebensowenig würde er das blutige Etwas vergessen können, das da unter dem Fenster im Parterre dicht neben dem Weg zum Eingang lag. In den wohlgestutzten Sträuchern, ein Exzeß gegen die Menschheit. Der Rotschopf-Killer hatte wieder einen Punkt gesammelt und sich selbst übertroffen. Er hatte sogar noch die Scheußlichkeit an Ruth Botlinger übertroffen. Bleiche Morgendämmerung begann sich auf dem Himmel auszubreiten, als Abrams wieder nach dem Mikrophon griff. »… meine Leute berichteten Wallace und mir folgende Fakten: Deanna Watts war ins Verwaltungsbüro gegangen, um ein Krankenblatt über einen Patienten herauszusuchen. Neben dem Fenster steht ein viertüriger Aktenschrank. Links vom Fenster. Das Fenster selbst liegt etwa einen Meter dreißig über dem Grund, über einem kleinen Rasenstück und einem Spalier von Immergrün, vielleicht eins-fünfzig hoch. Einer meiner Männer, der die Watts den ganzen Tag beschattet hatte, ließ sie in das Büro gehen und blieb an der Tür. Es bestand kein Grund, warum er sich über das Büro hätte Sorgen machen sollen. Es war leer und war bei der letzten Sicherheitsüberprüfung als absolut sicher geklärt worden. Der Mann stand direkt vor der offenen Tür, bereit für alles. Ich werde den Namen des Beamten derzeit noch nicht nennen, er ist ein guter Polizist, und was passierte, hätte jedem passieren können. Ich wiederhole, jedem, der es mit diesem Wahnsinnigen zu tun hat. Sie werden es gleich verstehen. Bitte achten sie genau auf das, was ich nun sage: Da stand Deanna Watts und kramte in der zweiten Schublade des Schranks neben dem Fenster herum. Wir wissen, daß es die zweite war, weil sie noch herausgezogen war, als wir die Leiche fanden. Und jemand griff zum Fenster herein, das offenstand oder von diesem Jemand geöffnet worden war, und hob die Watts aus dem Raum und einen Meter dreißig auf den Grasboden unter dem Fenster. Ohne Leiter, Stuhl oder sonstwas, worauf er hätte stehen können. Dann schleppte er sie in die Immergrünhecke und brachte sie um. Und bei alledem konnte das Mädchen nicht einmal schreien, ja nicht einmal den
geringsten Laut von sich geben. Unser Mann im Gang war nicht mehr als zehn Schritte weit zu einem Trinkwasserhahn gegangen, keine fünf Meter von der Bürotür entfernt. Bedenken Sie, dieses Büro liegt an der Vorderfront des Masterson Arms, ist stets gut beleuchtet und kann von der Straße gut eingesehen werden. Allerdings war es früh am Morgen. Mein Beamter behauptet, er sei nicht länger als ein paar Minuten am Wasserhahn gewesen, habe vielleicht noch kurz an der Bürotür gezögert. Schließlich, es können kaum mehr als sieben Minuten vergangen sein, schaute er hinein, und Deanna Watts war verschwunden. Doch sieben Minuten, wenn es wirklich so knapp war, reichten aus.« Abrams brach ab, räusperte sich, biß sich auf die Unterlippe und diktierte weiter. Als könne er durch Schnelligkeit dem Gesagten die Unglaubwürdigkeit nehmen. »In diesen kostbaren sieben Minuten wurde Deanna Watts mit den Händen erwürgt und am ganzen Leib verstümmelt, genau wie die anderen fünf rothaarigen Opfer. Diesmal nahm der Killer einen Eispickel. Wir fanden die Tatwaffe nicht, doch J. T. Donne ist überzeugt, daß keine andere Waffe derartige Verletzungen hervorrufen könnte. Mehr noch, der Mörder entkam, ohne eine Spur seines Kommens und Gehens zu hinterlassen. Es war, als hätte er sich niemals am Ort aufgehalten. Wir fanden keine Fußspuren oder irgendwelche Eindrücke auf dem Rasen. Ich hoffe, alle, die dies hören, erkennen, daß ein derartiges Statement von einem Beamten der Mordkommission praktisch unmöglich ist.« Abrams stierte betäubt auf das kleine Spielzeug, das er sich vor die Lippen hielt. Jetzt war er beinahe wütend. »Wenn meine Angaben nicht klar genug sind oder wenn ich mich ungeschickt ausgedrückt habe, lassen Sie mich die wichtigen Punkte nochmals genau aufführen: Heute früh stand vor dem Fenster ein Mann und mußte durch das Fenster hineinlangen und eine erwachsene Frau, die übrigens reichlich hundertzehn Pfund wog, aus dem Zimmer in die Arme nehmen, sie dann fünf Meter weit von dem Gebäude wegtragen oder schleppen, zwischen die Büsche. Und das alles ohne den geringsten Lärm, wobei sein Opfer seltsamerweise keinen Laut von sich geben konnte. Dann mußte er sie umbringen und entstellen, und das alles in wenigen Minuten, und dann ungesehen verschwinden. Eine solche Leistung deutet nicht nur auf einen körperlich starken Mann – eine Frau kommt wohl kaum in Frage –, sie weist auf einen Super-
mann oder ein übermenschliches Wesen hin.« Abrams Augen wurden beinahe glasig. Sein Atem ging hörbar. »Das ist meine Aussage. Deanna Watts wurde mit den besten, den allerbesten Schutzmaßnahmen durch die besten Polizisten überwacht, die diese Abteilung hat. Die Tatsache, daß sie dennoch getötet wurde und daß alle unsere Bemühungen nicht ausreichten, stellt nicht sosehr ein Versagen meiner Abteilung und der Polizei dar, sondern ist ein nur allzu klarer Hinweis darauf, daß der Rotschopf-Killer ein ganz außergewöhnlicher Mann ist. Möglicherweise ist er mit keinem Verbrecher vergleichbar, der je von einer Polizeiorganisation der Welt erfaßt wurde. Er ist eine Ausgeburt, eine Mißgeburt. Einmalig in seiner Art. Der Killer mit dem noch keiner je zu tun hatte.« Leutnant Arnie Abrams zerrte in stummer Verzweiflung an seiner Krawatte, blickte fast sehnsüchtig das Mikro in seiner schweißfeuchten Hand an und schluckte. Es klang trocken, wie ein Klicken in dem stillen Büro. Beinahe hätte er es sein gelassen, sich soweit vorzuwagen, doch brachte er es nicht fertig, konnte sich nicht bremsen. Es war eine lange, eine entsetzliche Nacht gewesen, ein völlig angemessener Höhepunkt eines langwierigen schrecklichen Falls. »Ich bin überzeugt, daß – da Deanna Watts die letzte rothaarige Krankenschwester in Melville war, und weil alle früheren Opfer rothaarig und Krankenschwester waren – dies das letzte Auftreten des mordlüsternen Geisteskranken war, daß wir seinesgleichen nicht wieder erleben werden. Er hat seine irren Vorhaben ausgeführt, getan, was er tun mußte, aus welchen krankhaften Motiven heraus, werden wir wohl nie erfahren. Aber er hatte beinahe zwei Wochen lang nicht mehr gemordet, bis er auf die letzte Rothaarige stieß, und nun hat er auch noch dies fertiggebracht. Wir tappen praktisch völlig im dunkeln. Wenn sich nicht jemand meldet, der vielleicht einen derartigen Mann kennt: einen Mann mit riesigen Händen und enormer Körperkraft, in dessen Vergangenheit es etwas gibt, das ihn zwingt, sich auf rothaarige Krankenpflegerinnen zu stürzen, um abzureagieren, was immer ihn quälen mag.« Das Büro war wie ein Grab, als Arnie Abrams zum letztenmal innehielt, bevor er seinen Bericht über den kalten bitteren Morgen der Niederlage beendete. »Gott helfe uns allen. Wir sitzen in der Tinte. Und mehr ist dazu
nicht zu sagen. Gezeichnet: Abrams, 6. Februar, Mordkommissariat, am Morgen nach der Ermordung der Deanna Watts…« Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Es gab nichts mehr zu tun, als nach Hause zu gehen und sich ins Bett zu werfen. Und effektiv das Handtuch in den Ring zu werfen. Was er bereits mit seiner langwierigen Zusammenfassung auf dem Tonband getan hatte, das er den höheren Rängen vorzuspielen gedachte, sobald die ihn offiziell zur Rechtfertigung zitieren würden. Abrams war bereit, mehr als bereit. Vielleicht empfand er keine Feindschaft, und er hatte keine Antworten oder Lösungen anzubieten, aber er spürte einen qualvollen Kloß im Halse. Eine Pein, wie sie nur ein guter Polizist empfinden kann. Sein ganzer Verstand, seine Fähigkeiten, alle zur Verfügung stehenden Mittel und Männer hatten den Rotschopf-Killer nicht daran hindern können, Deanna Watts zu überfallen und an ihr die gleichen Scheußlichkeiten auszuführen. Das tat weh. Tat ihm zutiefst weh. Es gab ihm das Gefühl, als sollte er lieber seinen Abschied nehmen, seine Polizeimarke zurückgeben, die für ihn das höchste im Leben bedeutete. Aber so war es eben, wenn jemand ein wirklich guter Polizist war. Und das hatte er, Arnie, immer zu sein versucht. Der Spiegel in dem Pensionszimmer der Mrs. Lawrence zeigte Hollis Waring ein Bildnis der Seelenruhe und des Friedens. Das ausdruckslose Gesicht, randlose Brille, zerfurchte Nase, alles war unversehrt wie zuvor. Keine Spur des pelzgesichtigen Untiers mit den Fangzähnen, den roten Augen und den roten Händen. Nicht einmal ein Spritzer oder Tropfen scharlachroten Blutes als Hinweis auf das entsetzliche Geschehen im Masterson Arms. Und doch, etwas war anders. Etwas nebelhaft Subtiles und Beunruhigendes. Hollis unterdrückte den Drang, sich näher vor das Spiegeloval zu beugen, um die Veränderung herauszufinden. So blickte er sich nur weiter forschend im Spiegel an. Sein Atem ging rauh, aber ruhig und gleichmäßig, und tief wie der eines keuchenden Tiers nach einer langen, anstrengenden Flucht. Im Nacken und am ganzen Körper verspürte er ein seltsames Kitzeln, als wehten kühlende Winde über ihn und beruhigten ihn. Das heftige Pochen seines Herzens nahm er nicht wahr. Aber die Verwandlung, das Neue… Er starrte angespannt in den dunklen Spiegel, der die bleichen Mondstrahlen und die heraufziehende Dämmerung zurückwarf, die sich diebesgleich durch das
große Fenster hereinstahlen. Er entdeckte, wonach er gesucht hatte. Sehr rasch, sekundenschnell. Es verwirrte ihn, regte ihn beinahe tödlich auf. Da war etwas erschreckend Unwirkliches in dem, was er im Spiegel sah. Viel beunruhigender als die Verwandlung vom Mann zum Tier. Auf ihre Art war diese neue Erscheinung äußerst verwirrend, weil sie so unerwartet kam und so völlig unerklärlich und nur allzu gewöhnlich. An Hollis Warings Lidern hingen Tränen, und während er in verständisloser Faszination sich selbst entgegenstarrte, rann aus beiden Augen ein Tropfen auf die Wangenknochen und danach schimmernd das ganze Gesicht hinab. Er blinzelte verwirrt und erstaunt. Er weinte ja! Etwas, das er seiner Erinnerung nach nie zuvor getan hatte. Er stand vor dem Spiegel und beobachtete, wie das erstaunliche Ereignis stattfand, als sei er sich selbst ein Fremder und schaue nur zu. Er fand einfach keine Erklärung für die Tränen, für das Weinen. Es war alles so einfach, wäre er nur normal genug gewesen, genau zu begreifen, was da mit ihm geschah. Was ihn ereilt hatte. Hollis Waring, der Mensch, litt unter dem, was Hollis Waring, der Rotschopf-Killer, an diesem Morgen Deanna Watts angetan hatte. Ihr und all den anderen. Der winzige Funken, der den Menschen von der Bestie unterscheidet, war plötzlich und unerwartet aufgeflammt. Das Ungeheuer weinte über seine Opfer. Und vielleicht über sich selbst.
ANTWORT AN EINEN GEPLAGTEN POLIZISTEN Krankenhaus Manhattan 12. Febr. 197 Lieber Arnie, tut mir leid wegen der langen Verzögerung, aber wahrscheinlich haben Sie die Neuigkeit gehört. Sobald ich die Beine aus dem Streckverband habe und meine verflixte Temperatur normal geht, komme ich nach Melville. Sie haben einen echten klassischen Fall in den Händen, Junge, und mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen. Ehrlich! Als ich schließlich Ihren Brief lesen konnte (den Sie mir freundlicherweise nochmals zuschickten), verspürte
ich sofort den rechten Biß in den Zähnen. Ich will Ihnen sagen, daß mich die Lektüre bei weitem stärker interessierte als die uralten Ausgaben von Playboy und Newsweek, die man heutzutage in Krankenhäusern den Patienten zum Lesen anbietet. Außerdem ist euer örtliches Monstrum hier in der Großstadt ein Schlager. Sogar die Times berichtet über die Vorfälle in Melville. Die Experten und die Montagmorgenaufwärmer drehen sich um sich selbst wie verrückt und verhökern ihre unmaßgeblichen Ansichten an die Magazine, Zeitungen, Radio- und Fernsehsender. Drum lassen Sie jetzt mal O’Hanlon seinen Senf dazugeben. Zuerst hier paar grundsätzliche Dinge über Ihren Typ. Wenn es dank Ihrer beträchtlichen kriminalistischen Erfahrungen dann bei Ihnen klingelt, soll’s mich freuen. Wenn nicht, müssen Sie es mir eben einfach glauben. Wir haben Fallstudien kilometerdick über Mördertypen wie Ihren Rotschopf-Killer, also gibt es zig Präzedenzfälle zu dem Verfahren eures Lokalschlächters. A) Er ist definitiv homosexuell veranlagt – oder asexuell. Gehört nicht zur Gattung mit Fußabstreifer auf der Brust. Die bei den fünf Morden verwendeten scharfen Waffen oder Gegenstände (sofern er nicht noch einen sechsten Mord begangen hat!) sind ein klassisches Beispiel in Fällen sexueller Impotenz. Wenn er es normalfertigbrächte, hätte er es wahrscheinlich auf die gewöhnliche Tour irgendwie mit einer Vergewaltigung versucht. Jedenfalls haben sexuelle Gewalttäter mit Vergewaltigung allgemein einen sexuellen Knacks weg und sind oft nicht gerade körperlich gut bestückt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sicher, es hat Vergewaltigungen gegeben, bei denen die Täter richtige Stiere waren, aber das sind Ausnahmen. Nein, euer RK (Rotschopf-Killer) ist sexuell desorientiert. Das ist nicht alles, aber es ist doch ein starker Hinweis. Finden Sie möglichst heraus, ob die den Opfern zugefügten Wunden (mit Scheren, Flasche, Brieföffner usw.) aufwärts oder abwärts oder horizontal weisen. Das ist wichtig. Wenn die Stoßrichtung nach oben geht, ist RK ein eingefleischter Frauenhasser und paradoxerweise ein Mann, der ein Muttersöhnchen war und in Verachtung seinem Vater oder seinen Vaterfiguren gegenüber aufwuchs. Der Stoß nach oben symbolisiert den Versuch, ein männliches Wesen zu kastrieren (s. dazu Metesky -Irrer-Bomber-Fall, 1963). B) Können Sie noch mit? RK ist zweifellos ein Mann, ein junger Mann. Aber darauf sind Sie wohl selbst schon gekommen. Keine
Frau, nicht mal eine Sportlerin hätte diese Verbrechen ausführen können, wie Sie sie beschrieben haben. Außerdem, zusammen mit meinen Bemerkungen zu A), gab es noch nie einen weiblichen Massenmörder, der Erwürgen als Tötungsart verwendet hätte. Die wahnsinnigsten und brutalsten Typen unter den weiblichen Psychoten (Martha Beck, Ilse Koch, Bertha Braun usw.) wendeten alle raffinierte Methoden an, nicht brutale Körperkraft, und da ich diese hübschen Schätzchen schon als Beispiel wählte, sie waren sämtlich plumpe, übergewichtige Frauen, die sich sicher nicht mit der Schnelligkeit und Leichtfüßigkeit hätten bewegen können wie RK. Ich sage, der Mann ist jung aus eben dem gleichen Grund. Die Opfer waren alle jung und attraktiv, darum kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit darauf schließen, daß sie eher die Beute eines jungen Wahnsinnigen wurden als die eines älteren. Selbst ein bärenstarker Oldtimer hätte mit so jungen Frauen nicht dermaßen flink fertigwerden können. Sicher, auch ein alter Drecksack hätte eure Schwestern umbringen können, doch die meisten Einzelheiten und Fakten sprechen radikal dagegen. Ich tippe auf einen Mann in den Zwanzigern, Einzelgänger, verschlossen, jemand, der die Nacht dem Tag vorzieht. Warum er das tut, überlasse ich Ihnen herauszufinden. Soll ich etwa alles alleine machen? C) RK muß nicht zwangsläufig ein großer kräftiger Mann sein, müssen Sie wissen. Eine solche Psychose kann einem Mann die Kraft und Stärke eines Supermannes verleihen, wenn er umgekippt ist und unter abnormen Antrieben handelt. Lassen Sie also Vorstellungen von Mr.-Universum-Typen sausen, auch die von Bodybuilding-Strandläufern oder Jungen, die heimlich zu Haus Karate lernen. Sicher, er kann auch groß sein, erscheint irgendwie logischer, muß aber nicht sein. Andererseits sollten Sie auch nicht nach Spatzen wie Woody Allen suchen. Das wäre wohl das andere Extrem. Eins-achtzig groß und ca. achtzig Kilo dürften mehr als ausreichen, derartige Morde auszuführen. D) Der wirkliche Schlüssel zu eurem RK sind natürlich die Opfer. Warum Krankenschwestern? Warum alle rothaarig? Den Zufall können Sie da völlig ausklammern. Drei, das ginge ja gerade noch, aber fünf? Unmöglich. RK hat diese Frauen umgebracht, weil sie rothaarige Krankenschwestern waren. Gut. Jetzt fragen Sie mich, warum! Und das ist die eine Frage, die ich bisher noch nicht beantworten kann.
E) Vermutungen, selbst fundierte Vermutungen stellen wir Seelenknacker eigentlich grundsätzlich nicht auf. Das ist nicht nur unethisch, es ist auch dumm. Aber Arnie, altes Haus, wir sind Kumpel (jawoll) und das Ganze ist entre nous, drum kann ich offen sprechen und laut herumvermuten. Es wird Ihnen eigentlich überhaupt nicht helfen, höchstens bekommen Sie eine Vorstellung davon, womit Sie’s zu tun haben. Es gibt Dutzende von Erklärungen und Möglichkeiten für eine Psychose wie die von RK. Hier nur ein paar. Suchen Sie sich eine raus: F) Üble Kindheitserfahrungen mit einer rothaarigen Pflegerin kämen in Frage, um überhaupt anzufangen. Nehmen wir an, eine verabreichte ihm eine ungeschickt-schmerzhafte Impfung, oder eine behandelte ihn schlecht nach einer Mandeloperation. Sie wissen schon, was ich meine – irgend etwas in der Richtung. Oder, und das ist das große ODER, eine rothaarige Krankenschwester war sein erstes Sexerlebnis, und sie machte irgend etwas falsch dabei. Wie Sie sich vorstellen können, tun sich dabei ganze Säcke voller Flöhe auf, und jeder Floh könnte der Schlüssel zu dem Fall sein. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie Sie es rausfinden können, es sei denn, Sie überprüfen jeden einzelnen Krankheitsfall, den Sie erwischen können. Sie wissen ja, was das für eine Herkulesarbeit wäre. Es würde Jahre dauern. G) Noch mal rund ums Karree, dann denke ich noch ein bißchen weiter nach. Meine Beine machen mir noch ziemlichen Ärger, aber in ein paar Tagen müßte ich eigentlich viel klarer in der Sache sehen. Ich schreibe dann wieder. Inzwischen, Waidmannsheil. Übrigens haben Sie recht: euer RK stellt den Ripper und den Würger von Boston und den ganzen Rest bei weitem in den Schatten. Besonders da er ein solches As ist und jede Spur vermeidet. Maggie schickt liebe Grüße, die Kleinen bitten mich, Sie zu fragen, wann ihr Lieblingsonkel »Bulle« in den Osten kommt und sie besucht. Herzlich, Con PS.: Denken Sie dran. Suchen Sie nach einem jungen Mann, Einzelgänger, Nachteule, der nicht Ihren Vorstellungen von Establishment entspricht. Wahrscheinlich ein Typ, den man beim Militär nicht genommen hat. Streichen Sie die blutrünstigen Veteranen von der Liste, die der Krieg zu Mördern gemacht hat. Ihr Typ
ist von ganz allein verrückt geworden. Ein mordlüsterner Soldat hätte nur ’ne Schußwaffe verwendet und so oder so einen irren Lärm veranstaltet. Vietnam ist zu explosiv für den Typ Psychopath, wie wir ihn nach dem Zweiten Weltkrieg hatten. RK ist ’ne andere Art von Unglücksfall. PPS.: Ab jetzt keine Vermutungen mehr.
TÖDLICHE PREISGABE Die ältliche Mrs. Emma Lawrence trottete auf ihrem Dachboden herum, wo sie nach Erinnerungsstücken aus ihrer Jugendheit suchte, um den regnerischen Samstagnachmittag herumzubringen. Dabei machte sie ganz zufällig eine köstliche Entdeckung. In der beschlagenen schweren Metalltruhe in einer Ecke des ziemlich feuchten Speichers, in den nur durch ein winziges Fenster Licht fiel, fand sie Stapel alter Theaterprogramme (von den zahlreichen Fahrten in größere Städte, als Paul Lawrence noch lebte und sie durch das Land kutschierte), alte Kleider, die in Stil und Muster nun geradezu lächerlich wirkten, und ein drolliges Stückchen Nostalgie: eine rote Perücke, deren plumpe Billigkeit Emma Lawrence zu einem Stirnrunzeln zwang und dazu, sich zu fragen, wie es möglich sei, daß sie eine solche Absurdität besitze. Sie brauchte fünf nachdenkliche Minuten, bis sie sich erinnerte. Dann schaukelte sie in der Hocke vor und zurück, denn sie kauerte wie ein Kind vor der geöffneten Schatztruhe und lachte und konnte nicht aufhören zu lachen. Natürlich! Wie ein Blitz aus heiterem Himmel fiel es ihr wieder ein. Sie hatte die rote Perücke einem Reisevertreter abgekauft, der eine Woche bei ihr gewohnt hatte, ehe er wieder in den Norden ging. Ein glattzüngiger, aber doch ernst wirkender Kerl, dieser Vertreter, aber er hatte Emma überzeugt, daß rotes Haar ihr stehen und ihr vielleicht neue Aspekte im Leben auftun würde. Da sie damals Ende Dreißig war, fühlte sie sich nur allzu bereit, in ihr normales Arsenal einen neuen weiblichen Trick aufzunehmen. Aber es war ein glatter Reinfall. Paul Lawrence platzte fast vor Lachen, genau wie seine Witwe in diesem Augenblick, und so war das rote Haarteil irgendwie mit all dem anderen nutzlosen Krempel auf dem Dachboden gelandet. Sie konnte sich nicht erinnern, das Ding in die Truhe gesteckt zu haben, aber da lag es nun, noch in Seidenpapier gewickelt, auf
eine Hohlform gespannt. Hier oben gab es keinen Spiegel, und aus höchst privaten Gründen, die ein Geheimnis zwischen ihr und ihrem Herrgott waren, beschloß Emma Lawrence, sich zu überzeugen, wie sie jetzt mit einer roten Perücke aussehen würde. Sie dachte keine Sekunde lang daran, daß rotes Haar in der derzeitigen schrecklichen Periode in Melville etwas äußerst Gefährliches darstellte. Irgendwie fast ein Sakrileg. Schließlich war sie ja nur eine simple Frau in mittleren Jahren. Es kam ihr wie ein Heidenspaß vor, herauszufinden, was die übrigen Mitglieder ihres Haushalts von ihr mit rotem Haar denken würden. Besonders die alte Ida Leary im Parterre, der nette Mr. Phipps im rückwärtigen Zimmer und natürlich Hollis Waring. Vickie Helm sah doch mit ihren flammendroten Haaren sehr schön aus, oder? Vickie, die war so ehrlich und sagte immer ihre Meinung, die würde ihr bestimmt sagen, ob es ihr stünde oder nicht. Aber zuerst mußte sie sich selbst überzeugen. Schließlich ging es ja um ihren Kopf, oder nicht? Sie polterte schwerfällig die Treppe hinunter und begab sich zum nächsten Spiegel. Überall in den Fluren hatte sie Spiegel hängen. Ähnliche wie der ovale in Hollis Warings Zimmer. Sekundenschnell zog sie das Haarteil von der Form, streifte es geschickt über das natürliche graublonde Haar und stellte sich in Positur. Der Gang war düster, dank der unfreundlichen Witterung an diesem Nachmittag, aber sie konnte doch ausreichend sehen. Es gab genug Licht, und sie begriff sofort, daß das vulgäre rote Haar, zu einer Bienenkorbfrisur getürmt, nichts für eine Frau mit ihrem vollen rundlichen Gesicht war. Sie wirkte lächerlich. Genau wie damals, als Paul so fürchterlich lachen mußte. Mrs. Lawrence rümpfte die Nase vor ihrem Spiegelbild und wandte sich seufzend ab. Die letzten kühnen Spuren von Romantik, die sich bei der Entdeckung der Perücke in ihrem Busen geregt hatten, starben dahin. Sie spürte jedes einzelne ihrer Jahre und kam sich wie eine alte Närrin vor. Rote Haare, weiß Gott! Unentschlossen begann sie den Flur entlangzugehen. In diesem Augenblick öffnete sich eine Tür, und Hollis Waring trat aus der Stille seines Zimmers. Groß, stumm wie ein Geist. Er war zum Ausgehen gekleidet, trug einen grauen Trenchcoat mit feinen Streifen, den er bis zum Hals zugeknöpft hatte. Keinen Hut wie gewöhnlich. Das Gesicht so leer, bebrillt und gelehrtenhaft
wie immer. Die zerfurchte Nase sprang aus dem sanften Gesicht wie die Galionsfigur eines Schiffs. Mrs. Lawrence blieb abrupt stehen und lächelte ihn an. Den Mißgriff auf ihrem Kopf hatte sie bereits vergessen. Sie war eine praktische Frau und konnte durchaus eine Sache über einer andern vergessen. »Na, gehn wir aus, Mr. Waring? Es regnet aber noch immer ziemlich heftig, wissen Sie.« »Ja. Ich brauche ein paar Sachen aus dem Papierladen.« »Ich habe ’nen Schirm, den Sie gern…« »Nein, danke, das ist nett, Mrs. Lawrence. Ich hab den Regen gern. Macht mich irgendwie munter, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Die Männer! Alle wie kleine Buben. Wissen Sie denn nicht, daß das die sicherste Methode ist, sich eine Erkältung zu holen! Also, Sie nehmen jetzt den Regenschirm! Ich will nicht, daß Sie mir krank werden, Mr. Waring.« Erst jetzt sah er sie richtig. Im Licht des Fensters am Ende des Flurs. Einen Augenblick lang erstarrte sein Gesicht zu Eis. Direkt vor ihren Augen wechselte es die Farbe. Dann begann er zu zittern, schüttelte sich sichtbar, der Mund verzerrte sich zu einer Grimasse, die Lippen bleckten sich wie bei einem Hund, der gleich zubeißen wird. Der Gesichtsausdruck war so unglaublich, daß Mrs. Lawrence glaubte, sie bilde sich alles nur ein. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. Hollis Warings Körper folgte ihr. Überwältigend, bedrohlich. Für den Bruchteil einer Sekunde verlor sie alles Gefühl für Zeit und Raum. Ihre Hände flatterten zu ihrem Gesicht, ihrem Haar empor, und plötzlich erinnerte sie sich instinktiv an die Perücke und riß sie sich vom Kopf. Sie lachte verlegen, immer noch etwas verwirrt und unsicher. Sie hätte nicht zu sagen gewußt, warum. Denn Hollis Waring war ebenso rasch zurückgetreten, hatte seine Fassung wiedergewonnen und war wieder ganz ruhig. Dennoch standen in seinem Gesicht und seiner Stimme eine Anklage. »Sie hätten mich wirklich nicht so überraschen dürfen, Mrs. Lawrence. Es tut mir leid. Sie haben mich tüchtig erschreckt.« »Oh, wie mir das leid tut! Die roten Haare, meinen Sie? Verzeihen Sie einer alten Frau, Mr. Waring. Das ist bloß ein Ding, das ich vor Jahren mal hatte, und ich hab’ halt sehen wollen, wie es mir steht. Hab’ ich denn so verändert ausgesehen?«
»Es waren überhaupt nicht Sie, das war’s. Ich sah Sie, hörte Ihre Stimme, und dann sah ich plötzlich Ihr Gesicht und dieses Haar und es sah so vulgär und billig aus. Plötzlich. Nein, das waren nicht Sie. Nicht die Mrs. Lawrence, die ich kenne und die ich gern habe. Verstehen Sie, was ich sagen will?« »Ach, Sie Lieber! Natürlich verstehe ich! Vergessen wir’s ja? Übrigens haben Sie recht. Diese Perücke hat noch nie zu mir gepaßt. Sie hätten mal hören sollen, wie Paul Lawrence mich deswegen ausgelacht hat!« Hollis Warings Augen glommen über einem dünnen Lächeln auf. »Rot ist eine so kräftige Farbe. Einfach zuviel, wenn Sie wissen, was ich meine. So friedlos, ruhelos, wie irgend etwas, das explodiert. Ein großer Knall von Lärm und Farbe. Ich habe rot noch nie leiden können. In keiner Nuance. Ich mag Pastelltöne.« Mrs. Lawrence hielt sich die Hand vor den Mund, sie verspürte leise Schuldgefühle. Plötzlich, wie ein Stoß in den Magen, war ihr bewußt geworden, daß sechs junge Frauen in Melville ermordet worden waren, weil sie rotes Haar hatten. »Ich schäme mich zutiefst, Mr. Waring. Ich tanze hier mit einer roten Perücke ’rum, und die armen Krankenschwestern! Was ist mir da bloß in den Kopf gekommen?« »Machen Sie sich doch keine Vorwürfe! Damit haben Sie überhaupt nichts zu tun.« »Vielleicht nicht, aber ich hätte es mir zweimal überlegen müssen, das mit der Perücke.« »Bitte denken Sie nicht mehr dran. Ich hab’ es bereits vergessen.« »Das ist sehr gütig von Ihnen, Mr. Waring.« »Nein doch, nicht doch. Sie sind’s, die gütig ist.« Mrs. Emma Lawrence war über diese Antwort so befriedigt, daß sie sofort ihren Plan vergaß, Ida Leary und Mr. Phipps und Vickie Helm zu zeigen, wie sie mit einer roten Perücke aussah. Sie wackelte zurück auf den Boden und steckte das verflixte Ding wieder zwischen die Mottenkugeln. Hollis Warings Meinung und vernichtendes Urteil genügten ihr vollauf. Wenn sie sich nicht nach einem intelligenten Mann richtete, dann war sie einfach hoffnungslos. Außerdem war es sowieso ein blödsinniger Einfall gewesen und sollte wie alle dummen Ideen beiseite gelegt werden. Oder zwischen die Mottenkugeln. Ab und zu mußte man schon auf die jungen Leute hören. Besonders auf so einen feinen jungen Mann wie
Hollis Waring. Einen Mann mit Geschmack und Kopf und blendenden Manieren. Ein richtiger Spitzentyp, der Junge. In dem leichten Regen strebte Hollis Waring mit raschen Schritten dem Schreibwarenladen zu, der nur zehn Minuten von der Pension entfernt lag. Es war ein trüber Nachmittag, und Hollis freute sich keineswegs auf die Arbeit am Abend. Erstens war er es wirklich leid, nun zum siebtenmal Die Insel der verlorenen Seelen vorführen zu müssen. Sicher, Charles Laughton war ein herrlich schurkischer Dr. Moreau, und wie er die Gefangenen in Tiere verwandelte, das hätte ein bemerkenswerter Horrorfilm werden können, nur war es eben ein früher Versuch auf dem Gebiet, ungekonnt gemacht und eigentlich nicht wert, in der Horrorserie des Elm-Theaters gezeigt zu werden, die Mr. Arnos Fletcher so vorausblickend aufs Programm gesetzt hatte. Sogar das Publikum hatte etwas gemerkt, und der Besuch dieses Streifens war bei weitem nicht so gut wie bei den anderen. Zum Glück wurde er am Sonntag abgesetzt und der Wolfsmensch kam dran. Die Erstfassung mit Lon Chaney jr. die viel besser war als all die folgenden billigen Kassenschlager. Chaney jr. war meisterhaft. Außerdem wäre Hollis Waring lieber zu Hause geblieben und hätte an seinem Drehbuch gearbeitet. Es näherte sich dem Ende, und er fieberte vor Ungeduld, damit fertig zu werden. Vickie wollte es lesen, und er wollte, daß sie es las. Ihre Meinung würde ihm sehr viel bedeuten. Sie hatte einen guten Verstand, ein ursprüngliches Gefühl dafür, was einen guten Film ausmachte; außerdem verstand sie trotz ihrer Jugend und der vorgegebenen Abscheu vor Horrorfilmen eine ganze Menge davon. Und daß sie Schauspielerin werden wollte, war ja keineswegs abträglich. Doch dies waren nicht die einzigen Gründe, warum sich Hollis Waring miserabel fühlte, während er durch den leise fallenden Regen zum Papierwarengeschäft stapfte. Er fühlte einen Kopfschmerz kommen, einen nagenden Schmerz, und er fürchtete, das könne sich zu einem schweren Migräneanfall entwickeln. Sein Hirn brannte. Diese Mrs. Lawrence war schuld daran. An dem Brennen, an dem Schmerz. Wie sie in der roten Perücke ausgesehen hatte! Hollis wußte nicht, wirklich nicht, warum das so war. Trotzdem, er hatte Kopfschmerzen, hämmernde, pochende Kopfschmerzen. Er hätte am liebsten aus vollem Hals losgebrüllt. Außerdem konnte er nicht richtig atmen. Als sei die Luft um ihn herum stickig und schwer. Es war wie im
Raubtierhaus im Zoo. Ein äußerst unangenehmes Gefühl. Um fünf Uhr klopfte es an Hollis’ Tür. Der Kopfschmerz war mit sechs Aspirintabletten in die Flucht geschlagen worden, unter Beihilfe mehrerer Tassen schwarzen Kaffees und durch die Entscheidung, einfach an seinem Manuskript weiterzuarbeiten. »Ja, bitte«, rief er, da er Vickie Helms leises Klopfen erkannt hatte. Sie klopfte stets im Rhythmus von Beethovens »Fünfter«, tatatamm. Ein kleiner privater Scherz zwischen ihnen, den sonst keiner in der Pension kannte. Wie alle jungen Menschen hatten auch sie ihre Geheimnisse und Spiele. Vickie trat ein. Sie sah bezaubernd aus in dem blauen Hausanzug, den sie meistens in der Pension trug. Ihr Gesicht verschönte ein Lächeln, wie es nicht heiterer und leuchtender hätte sein können. »Das Genie immer noch an der Arbeit, was?« »Nur noch ein paar Zeilen, dann hab’ ich’s für heut geschafft. Ich muß gleich ins Kino. Wie geht’s Ihnen?« »Zwei Pfund Übergewicht, vielen Dank. Und ich überlege mir ernsthaft, wann ich mit meiner Diät anfange.« »Man sieht es aber gar nicht. Ich wünschte, alle Leute würden so gut aussehen. Und sonst, was gibt’s Neues?« »Also, ich hab’ wirklich ein Geheimnis, Holly. Es ist fast so geheim wie die Geschichte, an der Sie arbeiten und über die Sie mir noch nicht mal ’ne Andeutung gemacht haben.« »Und Sie wissen auch genau, warum. Sie kriegen’s zu lesen, wenn’s fertig ist. Ich will nicht, daß Sie sich über etwas Unfertiges eine Meinung bilden.« Er stapelte plötzlich die Manuskriptseiten zusammen und legte sie in einen schwarzen Schnellhefter. Dann begann er seine Krawatte zu binden. Er lächelte ihr zu, sah, wie sie in dem einzigen Polstersessel des Zimmers saß wie ein streitlüsterner Peter Pan. Sie streckte ihm eine rosige Zunge entgegen. Er griente, schüttelte den Kopf. Sie war unverbesserlich. Als ob nichts sie ändern könnte! »Also. Sie haben ein Geheimnis. Soll ich etwa raten?« Jetzt grinste sie, setzte sich aufrecht nach vorn und rieb sich die Hände. »Sie könnten es erraten, wenn ich Ihnen ein bißchen auf die Sprünge helfe.« »Gut. Geben Sie mir einen Hinweis, während ich mich fertig ma-
che.« Er trat an den Schrank und wählte einen anderen Anzug für den Abend. Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, daß er mit Vickie ganz anders sprach, sich völlig anders verhielt als anderen Menschen gegenüber. Jedesmal war er in ihrer Gegenwart ein völlig anderer Mensch. Was er redete, seine Gefühle waren ihr gegenüber vollkommen außergewöhnlich - für Hollis jedenfalls. Bei Vickie fühlte er sich immer leicht benommen und jung und glücklich. Irgendwie. Sie brachte das Beste in ihm an den Tag, ohne es zu wollen. Sie malte ein Dollarzeichen in die Luft, als Hinweis. »Also, was kann das denn sein?« dachte er laut. »Sie haben ein Telegramm bekommen und sollen am Broadway einen erkrankten Star ersetzen.« »Nein, obschon ich mir wünschte, Sie wären ein bißchen näher dran damit.« »Sie haben eine Million Dollar geerbt und…« »Nein. Raten sie noch mal!« »Ich geb’s auf. Vickie, sagen Sie’s mir schon.« Ihre Antwort war ein Lachen. Sie sprang aus dem Sessel hoch und stellte sich ihm in den Weg, als er sich von dem Schrank umwendete, einen schwarzen Anzug über dem Arm. »Hier haben Sie einen Hinweis«, kicherte sie und faßte ihn am Arm, streifte rasch seinen Ärmel zurück und legte die Fingerspitzen auf sein massives Handgelenk, blickte auf die winzige Uhr an ihrem Handgelenk, in einer Haltung wie Groucho Marx, und parodierte gekonnt: »Entweder ist der Mann hier tot, oder meine Uhr ist stehengeblieben!« »Das dürfen Sie nicht tun«, sagte Hollis Waring mit einem leisen Stöhnen, seine Stimme klang sehr gepreßt. »Bitte nicht…« Vickie Helm war vollkommen in ihrer Parodie gefangen und hörte ihn nicht. »Ich würde sagen, 44 Grad. Wenn Sie bis 45 kommen, melden Sie sich wieder, und wir legen Sie in unseren billigen Sparraum. Dem mit den warmen und kalten Schwestern.« »Nein… bitte, tun Sie das nicht, bitte…« Die Stimme war ein heiseres Flüstern. »Na, haben Sie’s jetzt?« Vickie wendete sich um und blickte ihn kichernd an. »Holly, mein Junge, Sie stehen vor…« Sie brach ab. Sie konnte nicht mehr sprechen. Sie hielt die Hand eines Mannes, der plötzlich ein völlig fremder Mensch war.
Sie blickte in ein Gesicht, das wie gefroren wirkte, fern, abwesend. Nur die Augen zuckten von Seite zu Seite, als zwinge sie eine geheime große Qual. Das Handgelenk, das sie zitternd festhielt, war plötzlich wie aus Stein, als halte sie den Arm einer Statue. Sie wich erschreckt zurück. Und Hollis’ merkwürdiger Gesichtsausdruck veränderte sich, gefror zu einer eisigen Maske, und er zog heftig den Arm zurück. So heftig, daß Vickie rückwärts taumelte und beinahe gefallen wäre, wenn der Lehnsessel sie nicht gebremst hätte. Auch Hollis Waring taumelte nach hinten an die Wand, neben der offenen Schranktür. Er klammerte sich noch immer an den Anzug, hielt immer noch einen Arm vorgestreckt, als wolle er einen unsichtbaren Feind abwehren. Er stieß heftig die Luft aus, als sei er soeben einer Falle entronnen. Vickie blickte ihn starr an, in einer Mischung von Entsetzen und Angst um ihn. Nein, nicht Furcht für sich selbst. Sie hatte ja von Hollis Waring nichts zu fürchten. »Holly! Lieber Gott, Mann, was ist denn los?« »Nichts. Es geht schon wieder…« »Sie haben so schlimm ausgesehen! Haben Sie einen Krampf gekriegt oder was?« Er kämpfte mit sich selber. Das immerhin bemerkte sie. Allmählich kehrte ein wenig Farbe in sein Gesicht zurück. Und dann löste er sich von der Wand, legte den gefalteten Anzug über die Lehne eines Stuhles und blickte sie endlich wieder direkt an. So wie der Holly, den sie kannte. Die Augen waren dümmlich-ausdruckslos; er versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht richtig. Er schüttelte sich kurz, als friere er, und verkrampfte die Finger ineinander. »Bitte, verzeihen Sie mir, Vickie. Ich weiß nicht, was mit mir los war. Als Sie mich angefaßt haben, überkam mich plötzlich eine starke Kälte. Wie Eis. Lieber Gott, noch nie zuvor hab’ ich mich so gefühlt. Als hockte ich in einem Iglu…« »Ich versteh schon. Sie haben mich weggeschubst, als hätte ich die Masern oder so…« »Verzeihen Sie. Hoffentlich hab’ ich Ihnen nicht wehgetan.« Er wirkte so zerknirscht und elend, daß sie lachen mußte und ihm sofort vergab. Und fast hätte sie auch sein seltsames Verhalten vergessen, seine Reaktion auf das, was höchstens ein blöder Scherz gewesen war. Oder miese Schauspielkunst.
»Ich werd’ es überleben. Uns Helms kann man nicht umbringen, wissen Sie. Außer es fällt ein Haus über uns zusammen. Aber ich muß wirklich sagen, Sie haben mir die ganze Szene vermasselt, Mr. Waring. Was soll ich jetzt machen, um nicht ganz an die Wand gespielt zu sein?« Er nahm zart ihre Hände in die seinen und lächelte. »Was ist Ihr Geheimnis? Sie haben’s mir noch immer nicht gesagt.« »Na, wie finde ich denn das? Und ich schlage Purzelbäume, um es klarzumachen. Na ja.« Ihre Augen blitzten. »Also, Hollis Waring, wenn Sie’s schon wissen wollen, Ihre bevorzugte Lieblingsfrau wird sich ab morgen ihre Brötchen selber verdienen. Die Melville Players erlauben mir, einen Job anzunehmen. Das heißt, ich will. Und ich hab’ einen. Einen ganz ehrlichen. Mein Sparschwein ist an der Schwindsucht gestorben, und ich brauch’ Moneten.« »Fein. Was ist es denn?« Vickie lachte. »Mann, Sie sind vielleicht gut. Als Krankenschwester, ausgerechnet! Das Melville General hat mich eingestellt, weil ich auf der Schule in Erster Hilfe und Krankenpflege so gut abgeschnitten habe. Ich hab’ ja gewußt, daß sich das eines Tages bezahlt machen würde. Morgen früh fange ich an. Mit Bodenwischen.« Hollis Warings Lächeln verkrampfte sich. Es sah aus, als sei es auf sein Gesicht geklebt. »Ach, das ist aber fein«, sagte er. Das gelbe Licht spiegelte sich in dem wunderschönen roten Haar, das wie eine flammende Fahne von Vickies Kopf wehte. Die prachtvolle Tönung besaß plötzlich neue Leuchtkraft. »Joijoi«, machte Vickie in gespielter Ironie. »Da sind Sie aber ganz baff, was, Holly, alter Junge?« Zweimal an ein und demselben Regennachmittag hatte Hollis beinahe die Katze aus dem Sack gelassen. Wobei die Katze der Rotschopf-Killer war, und der Sack der Wahnsinn. Etwas weiter im Zentrum, in seinem oft unsauberen, schmucklosen Büro, in dem sich so viele Dinge routinemäßig zutrugen, saß Leutnant Arnie Abrams und starrte trübsinnig auf den Kalender auf dem Schreibtisch. Nicht einmal das bezaubernde Mädchen über den roten und schwarzen Ziffern konnte ihn davon ablenken,
daß heute der 15. Februar war, der fünfzehnte Tag in diesem Kopfschmerzen bereitenden Monat. Nichts war passiert. Nicht das allerkleinste Bißchen. Weder der FBI noch landesweite Hilfe und Nachforschungen und auch nicht Connors O’Hanlons wirklich brillanter Brief hatten ihm weitergeholfen. Der allerdings würde sich eines Tages als haargenau richtig erweisen, wenn der Fall abgeschlossen sein würde. Ärgerlich war nur, daß die Frauen davon nicht wieder lebendig wurden. Daß der Rotschopf-Killer noch immer auf freiem Fuß war. Und das fast zwei ganze Wochen nach dem Mord an Deanna Watts. Außerdem saßen ihm die Bosse im Nacken, und die Staatsanwaltschaft hatte ihm seine ehrlichen Tiraden und Schlußfolgerungen über den Mörder auf dem Tonband nicht abgenommen. Plötzlich verströmten sie Sympathie für ihn und taten so, als begriffen sie alles. Klopften ihm auf die Schulter, sagten, er solle den Fall weiterbehandeln, keine Sekunde nachlassen. Sie legten überzeugend dar, daß sie ihm vollkommen vertrauten, daß er der einzige Mann sei, der diese Sache lösen könne. Nein, sie würden ihn nicht feuern, sagten sie. Er habe sich seinen Rang verdient, und er solle ihn behalten. Sie seien stolz auf ihn, sagten sie. Blöde war nur, das ihm nichts davon half, in der sanften Kunst, einen wahnsinnigen Mörder zu schnappen, voranzukommen. Mit Geschwätz fängt man keine Mörder. Das sagte er sich im stillen, er, Leutnant Arnie Abrams von der Mordkommission in Melville. Und sie hatten es ihm auch geglaubt, als er es laut gesagt hatte. Sie mußten einfach. Der Rotschopf-Killer war noch immer vogelfrei. Das Ungeheuer, für das Arnie ihn hielt. Es gab einfach keine andere Erklärung, die logisch gewesen wäre, für einen Killer, der ohne Spuren verschwand. So, als manifestiere er sich aus der Luft und verschwinde wieder in Luft, ohne Spuren oder Anzeichen für seine Gegenwart, ohne charakteristische Merkmale, Hinweise auf seine Natur, sein Aussehen. Keinerlei Spuren, wenn man nicht die Leichen dafür hielt. Der arme Arnie Abrams. Er mußte auf eine letzte verzweifelte Strategie zurückgreifen, die unvermeidlich geworden war, so wie der Fall bisher lag. Es war an der Zeit, zu Tricks zu greifen und die Straßen mit Polizistinnen und Polizei in Frauenkleidung zu überwachen, mit roten Perücken und in Schwesterntracht. Und dann konnte man nur
hoffen, daß RK sich wider alles Erwarten aus seinem Schlupfloch vorwagen und wieder angreifen würde. Aber Abrams war sich nur allzu klar darüber, wie fragwürdig das Ganze war. RK war ja nicht ein unterbelichteter Irrer, der zufällig mordete. Sechsmal hatte er geplant und zugeschlagen, genial und böse, teuflisch und raffiniert. So stellte ihn sich Arnie vor. Aber immer noch war sich Arnie nicht ganz sicher, daß RK nicht einen meisterlichen Plan verfolge, der mit dem Mord an der Watts seine Erfüllung gefunden hatte. Er war sicher, daß dieses Ungeziefer sich wieder in sein Loch verkrochen hatte, und daß man nie mehr etwas von ihm hören oder sehen werde. RK, der Unsichtbare! Das war Arnies Privattheorie, die wahrscheinlich richtig gewesen wäre, hätte sich nicht eine zauberhafte Rothaarige gerade in dieser schweren Zeit entschlossen, als Aushilfs-Krankenpflegerin zu arbeiten. Eine schöne junge Frau namens Vickie Helm. Die Freundin und Vertraute von Hollis Waring. Denn eigentlich gab es ja keine rothaarigen Krankenschwestern mehr in Melville. Jedenfalls nicht, soweit Arnie es wußte.
ROTER MITTAG Als Vickie Helm am nächsten Abend, es war Sonntag, nach Hause kam, hatte Hollis Waring eine Überraschung für sie. Eine große. Er hatte irgendwie seit der letzten Begegnung die erste Fassung seines Drehbuchs beendet. Und obwohl sie von ihrem ersten Arbeitstag müde war, beglückwünschte sie ihn eifrig zu seiner Leistung, da sie eben die Frau war, so etwas zu tun, entschuldigte sich kurz, um ein paar belegte Brote zu machen, und kam bald wieder in sein Zimmer gestürzt und hielt ihm einen Teller mit Sandwiches unter die Nase. Hollis hatte seinen freien Tag, und während er auf dem kleinen Kocher Kaffeewasser kochte, machte es sich Vickie in dem Lehnstuhl bequem und begann in dem ziemlich dicken schwarzgehefteten Manuskript zu lesen. Sie ließ sich nicht ein einziges Mal durch Hollis unterbrechen, sondern las weiter, ohne von den Seiten aufzublicken. Hollis wanderte leise im Zimmer herum, wobei er nur ab und zu nervöse Blicke in ihre Richtung warf. Sie bemerkte ihn überhaupt nicht, biß gedankenlos in die Brote, trank mehrere Tassen Kaffee, die er auf das Tischchen bei dem Sessel stellte, und las das ganze
Manuskript in knapp vierzig Minuten durch. Für Hollis war das eine endlose Zeit. Die Stille im Zimmer wurde nur durch das leise Rascheln der umgewendeten Seiten durchbrochen, und auf einmal wurde ihm klar, daß es für ihn ungeheuer viel bedeuten würde, was dieses Mädchen über sein Manuskript zu sagen hatte. Sie war viel besser und wichtiger für ihn als irgendein Lektor in einer Filmproduktion. Sie war Vickie, die einzige Frau, zu der er in seinem Leben eine Art von normaler Beziehung hatte entwickeln können. Ihr Urteil konnte Freude oder Elend für ihn bedeuten. Hoffnung oder Verzweiflung. Und auch: Leben oder Tod. Er fand Vickie Spitzenklasse. Und er wünschte sich, daß sie seinen Text Spitzenklasse finde. Er steckte voller Pläne, voller leuchtender Phantome und Träume, voller Nahaufnahmen, knapper Sequenzen, Kameraeinstellungen. Voller düsterer Dekorationen mit Unterbelichtung, und er selber stand im Mittelpunkt des Geschehens, führte Regie, stellte Bildausschnitte ein und drehte seinen eigenen Film. Grausam, ja, das würde der Film wohl sein, wie ein Messer in den Bauch. Und besonders wenn Vickie das Drehbuch nicht so begriff, wie er es gemeint hatte. Bogdanovich, Polanski… Er war genauso gut wie die. Er besaß etwas, hatte etwas anzubieten. Er auch. Etwas, das er verschenken wollte. Wenn man ihm bloß die Chance geben würde, würde er es denen schon zeigen. Allen! Vickie legte das dicke Manuskript sorgfältig neben ihre Kaffeetasse auf das Tischchen und blickte auf. In dem Augenblick, als ihn ihr starrer Blick traf, konnte er plötzlich nicht mehr atmen, so sehr schmerzte seine Brust. Die dunklen Seen ihrer Augen, die sonst so freundlich und warm waren, hatten einen völlig anderen Ausdruck angenommen. Tränen standen darin. Jedenfalls waren sie feucht. Eine schmerzhafte Sekunde lang vermochte er diesen Ausdruck nicht zu deuten. Er starrte sie an, als sei er geistig unterbelichtet. »O Holly«, flüsterte sie mit leiser gurrender Stimme. Nichts sonst. Eine Sekunde lang begriff er nichts. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich wollte bloß…« Sie ließ ihn nicht weitersprechen. Sie streckte die Beine, die sie unter sich gezogen hatte, sprang auf, lief durch das Zimmer zu ihm hin und umarmte und küßte ihn fast hungrig. Das freudige Lachen in ihrer Stimme war gleichzeitig wundervoll und eine Be-
stätigung. Kaum konnte er glauben, was er da hörte. »Du hast es geschafft, Holly!« sang sie voller Besitzerstolz. »Sie mit Ihrer Stahlfalle als Gehirn! Und ich hab’s ja gewußt, daß Sie’s schaffen würden. Aber sogar ich bin überrascht. Ach, Holly. Ich verstehe ja nicht viel von Horrorfilmen, aber was Sie da gemacht haben, ist verflixt gut! Es ist so perfekt, ich habe mir alles ganz genau vorstellen können, und was für Dialoge und was für hervorragende Charaktere! Baby, Sie sind gut! Entweder das oder Sie wissen einfach, was einen guten Film ausmacht.« »Dann meinen Sie also, Sie – Sie mögen es?« »Mögen? Ich liebe das Drehbuch!« Als ihm klarwurde, daß sie seine Arbeit billigte, erwachte er wieder zum Leben. Sie konnte nicht lügen, etwas vortäuschen oder heucheln. So war sie eben, die Vickie, das eine einzige Mädchen unter Millionen. »He«, sagte er, ein Wort, das er fast nie benutzte, außer ihr gegenüber. »Es gefällt Ihnen wirklich? Sie finden es gut?« »Soll ich es Ihnen schriftlich geben? Womit könnte man Sie denn überzeugen, Mr. Waring? Sie demnächst berühmter Mr. Hollis Waring?« »Ich weiß nicht. Lassen Sie mich nachdenken. Das kommt alles viel zu schnell für mich!« »Weiß ich doch!« jubelte sie. »Wie gefällt Ihnen das als Beweis?« Ihre Arme lagen noch um seinen Hals, und sie hob das Gesicht zu dem seinen empor und küßte ihn. Der Kuß entwickelte sich zu einer noch wärmeren Demonstration ihrer Bewunderung und wurde fast fieberhaft. Er reagierte beinahe hölzern, dann fuhren seine großen Hände ihren Körper hinauf und zogen sie enger an sich. Wilde Sekunden lang war alles verändert, vollkommen neu und fremd. Eine kitzelnde Wärme, Atemlosigkeit, ein irres Donnern im Blut. Dann blinzelte er, die Hände fummelten, er entzog sich ihr, stieß sie fort. Nicht roh, sanft. Er hatte Angst. »Nein! Nein«, wimmerte er fast. »Ich habe das nicht gewollt.« »Aber ich«, sagte Vickie leise mit schimmernden Augen. »Und du solltest das auch wollen, weil wir füreinander geschaffen sind, wie’s in den Schlagern immer so schön heißt. Ach, Holly, hab doch keine Angst, dich bei mir gehenzulassen!« Er vermied es, sie anzusehen, schüttelte den Kopf, trat an das Tischchen und nahm das Drehbuch auf. Er hielt es schützend vor
sich in der Armbeuge, als sei es eine Art Schutz vor ihr. Sein Gesicht wirkte jetzt sorgenvoll. Vickie starrte ihn verwirrt und erstaunt an. Wie gestern, als sie so getan hatte, als fühle sie ihm den Puls. Das war so furchtbar gewesen, und jetzt verhielt er sich erneut so abnorm. »Ich möchte, daß wir nur Freunde sind, Vickie«, sagte er fast entschuldigend. »Nun, wir haben es ja ganz prima angefangen«, gab sie zurück, wobei sie versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen, da sie die Furcht in seinen Augen sah. »Können wir es nicht dabei lassen? Es gibt noch soviel, was ich tun muß. Soviel, was ich tun möchte. Und wenn der Text hier so gut ist, wie ich glaube, und wie außerdem ja auch du zu glauben scheinst… Du verstehst schon, was ich meine, Vickie?« »Ahemm, ja. Wir verschieben den heißen Clinch noch ’ne Weile. Meinen Sie das, Mr. Waring?« »Wenn du es so ausdrücken willst, ja. Ich mag dich wirklich sehr gern, Vickie. Ich glaube, du weißt das. Ich habe nie jemanden wie dich gekannt. Ich glaube, ich werde auch nie wieder so einen Menschen treffen.« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich von ihm ab, damit er die Tränen nicht sah, die ihr wider Willen in die Augen gedrungen waren. »Weißt du, du schreibst einen besseren Dialog, als du sprichst, Holly. Seien Sie doch nicht so stupide, Professor. Sie werden dem kleinen Mädchen schon nicht das Herz brechen, wissen Sie. Ich bin nicht weniger praktisch als andere Leute.« »Sicher doch«, sagte er lahm und blickte sich hilflos im Zimmer um. »Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?« »Nein, ich möchte keinen Kaffee mehr.« »Können wir dann jetzt über den Text reden? Ich habe da ein paar Fragen. In der Story…« »Laß mich heute, ja. Holly? Ich bin kaputt. Der Job im Krankenhaus ist hart. Kann ich morgen mit dir drüber reden, ja?« Sie ging steif zur Tür, wandte ihm bewußt den Rücken zu, damit er ihre Tränen nicht sah. Hinter sich hörte sie, wie er nervös den Aktenordner mit dem Manuskript befingerte, ein Kratzen, wie es ein verlorener hilfloser Hund vollführt. Oder ein anderes verwundetes Tier. »Gut, Vickie. Schlaf dich richtig aus. Wir sehen uns dann mor-
gen nachmittag, ehe ich ins Kino gehe.« »Sicher, abgemacht, Holly.« »Gute Nacht, Vickie.« Sie blickte sich nicht nach ihm um, als sie aus dem Zimmer ging. Sie trug den Kopf hoch, doch das Herz in ihrer Brust brach langsam in Stücke. Nicht wegen eines Worts, das er gesagt hatte, nicht wegen seiner Unbeholfenheit, der offenkundigen Angst, sich mit einer Frau einzulassen, all das hatte sie nicht dermaßen durcheinandergebracht. Damit hätte sie durchaus fertigwerden können und ihm in jedem Punkt kontra geben können. Nein, das war es nicht. Es war das andere, das sie in seinen Augen gesehen hatte und das sie so stark beunruhigte. Die Abscheulichkeit, die so unverkennbar war, trotz der unbekannten Tiefe, aus der sie stammte und der zugrundeliegenden Infantilität. Sein Text war gut, sehr gut sogar, doch was war das schon wert, wenn der Mann, der ihn verfaßt hatte, seelisch krank war? Vickie Helm zweifelte in ihrer Verwirrung fast überhaupt nicht mehr, daß Hollis Waring, der Mann, in den sie sich so plötzlich verliebt hatte, an einer echten psychischen Störung litt. Dieser Ausdruck in den Augen, wie er sich gestern betragen hatte – sicher, das waren nur Kleinigkeiten, aber Vickie war nicht unerfahren, wo es um Geisteskrankheiten ging. Sie erinnerte sich an den alten Freund ihres Vaters. Mr. Harding, und wie der ausgesehen hatte und geplappert hatte, als sie und Vater ihn im Sanatorium besucht hatten. Mr. Harding war ein schizophrener Fall gewesen, mit abwechselnden Perioden von Friedfertigkeit und Gewalttätigkeit. Vickie hatte niemals vergessen können, wie seine Augen in den Perioden der Heftigkeit wirkten. Ein wilder tierhafter Blick, der glasige Entsetzensschimmer, der an ein nahzu urzeitliches Durcheinander in Geist und Seele erinnerte. Vorhin hatte Hollis Waring ähnlich ausgesehen. Vor wenigen Minuten. Viel zu ähnlich, als er sie aus einer Umarmung schob. Sie konnte sich natürlich irren, und sie wollte, daß sie sich irrte, doch der Eindruck hatte sich zu fest in ihrer Erinnerung vergraben, war zu abstoßend, als daß sie das Ganze als unwichtig hätte abtun können. Sie ging in ihr Zimmer, drehte den Schlüssel in der Tür um und weinte sich in den Schlaf. Sie hoffte verzweifelt, daß sie sich geirrt, sich nur etwas eingebildet hatte, daß sie nur durcheinander
sei, weil Hollis sich ihren weiblichen Reizen entzogen hatte, weil sie ihn liebte und er sie einfach eben nicht liebte. Sie schlief schluchzend ein, und ihr letzter Gedanke war, daß dies die Erklärung sein möge. Es wäre nicht fair, wenn Holly, ihr Holly, seelisch gestört wäre! Nein, überhaupt nicht! So durfte doch eine Liebesgeschichte nicht enden, in der sonst alles stimmte: ein gutaussehender Mann, ein nettes Mädchen, zwei junge Leute, die auf dem Weg nach oben waren, die zusammen lachen konnten, zusammenarbeiten… Aber sosehr sie ahnungsvoll der Wahrheit nahekam, Vickie hätte niemals im Traum daran gedacht, den Rotschopf-Killer und Hollis Waring in Zusammenhang zu bringen. So weit konnte sie nicht illoyal sein. Nicht einmal im Unbewußten. Und die Seele spielte Verliebten oft merkwürdige Streiche. Besonders den verliebten Frauen. Und es sind nicht einmal die vielen Jahrhunderte männlichen Chauvinismus’, die an dieser uralten Binsenwahrheit schuld haben. Verliebte Frauen waren schon immer doppelt so verletzlich wie die Männer. Das hängt irgendwie mit dem Mutterinstinkt zusammen, der jede Frau zwingt, nur das Gute in ihrer Nachkommenschaft zu sehen. Beziehungsweise in dem Mann, den sie liebt. So unglaublich es klingt, aber Vickie sah sich in ihrem unruhigen Traum in dieser Nacht in irgendeinem Raum zusammen mit Hollis Waring. Es war übrigens ein Albtraum. Sie, die sich genüßlichen Tagträumen hingab, in denen sie eine berühmte Starschauspielerin war, hatte diesen Schreckenstraum möglicherweise verdient. Jedenfalls war es monströs. Eine ziemlich erschreckende, aus den Untergründen des Gewissens und der Motivationen aufsteigende Flucht vor der Wirklichkeit. Da stand Hollis mit einem Megaphon, in Knickerbockers und Stiefeln und mit einer Sonnenbrille. Auf seinem ernsten Kopf saß eine Baskenmütze. Er hockte auf einer Kiste in einem riesigen Lagerhaus. Und sie, Vickie, kniete aus irgendeinem nicht ersichtlichen Grund vor ihm und lauschte begierig, was er ihr über seinen neuen Film zu sagen hatte. Seine neueste Unterhaltung. In ihrem Traum klang seine Stimme wie durch zerbrochenes Glas kommend. »Vickie-Baby«, sagte er, »da hast du den ganzen Schmarrn. Diesmal hab’ ich einen Knüller, und dich hab’ ich für die weibliche
Hauptrolle vorgesehen. Also, die Story geht so, meine Möchtegern-Julie-Harris…« Sie nickte tapfer immer wieder mit dem Kopf wie eine aufgezogene Spielzeugpuppe, und er redete weiter mit seiner merkwürdigen scheppernden Glassplitterstimme. Ringsum war alles schwarz. Nur auf Hollis Waring fiel Licht, wie er da so auf der Kiste hockte. Der Steinfußboden, auf dem sie vor ihm Kotau machte, war merkwürdig feucht und unangenehm. Aber in ihrem Traum konnte sie nicht anders, als ihm zuzuhören. Sie konnte nirgendwohin sehen, nur aufwärts, hinauf, wo er saß, der Herrscher über alles, soweit sein Auge reichte. Und ihr Herr. »Conroy Terrill«, sprach Hollis Waring weiter, als spräche er zu einer miesen kleinen Anfängerin, »ist ältlich, grauhaarig, hat einen leichten Buckel und ist Leichenwärter in einem Leichenschauhaus. Er fährt stets in den Ambulanzen mit, die auf den Straßen der großen Stadt die gestorbenen Streuner aufsammeln. Stadtstreicher, besoffene Vorstadttypen, Abgesackte, das Treibgut, das auf den Straßen einer Stadt wie New York herumliegt. Außerdem ist Terrill noch ein längstvergessener Shakespeare-Mime aus der Zeit der anderen großen Schauspieler, der Barrymores, Hampdens, jener wirklich exzellenten Thespispriester. Senil und verrückt, verfolgt Terrill seine schreckliche Berufung, oder eigentlich seinen persönlichen Lebensstil. Niemand weiß, daß er überhaupt noch lebt, weil alle glauben, er sei in einem Sturm vor der Küste Floridas mit seiner Jacht auf Grund gefahren. Aber zurück zu seiner Manie: er holt sich alle Leichen, auf die keiner Anspruch erhebt, aus der Gefrierkammer im Bellevue-Krankenhaus und setzt sie auf die Sitze eines uralten geschlossenen Kinos in der Lower East Side, in den Rängen, auf den Balkonen und im Parterre. Und wenn es geht, stopft er sich in seine alten Theaterkostüme und spielt für die Toten! Hamlet, Macbeth, König Lear… Kannst du dir das gut vorstellen, Vickie-Baby? Es ist ’ne Wucht, wirklich!« Sie nickte zustimmend vor ehrfürchtiger Angst. Hollis strahlte zu ihr hinab. Die randlosen Brillengläser blitzten wie flüchtige Sterne. Die zerfurchte Nase zuckte. »Also, dieses merkwürdige scheußliche Hobby hätte endlos so weitergehen können. Die Leichen verschwinden, keiner kümmert sich einen Dreck darum. Der alte Terrill zieht seine irre Schau ab, das Kino stinkt nach Tod. Aber dann kommt Vivian Agee in die
Geschichte. Sie ist eine attraktive Krankenschwester. Zauberhaft, eine echte Tizianschönheit, und sie erinnert Terrill an eine Ophelia in seiner Vergangenheit. Seine tote Frau, über deren frühen Tod in den dreißiger Jahren Terrill nie so recht hinweggekommen ist. Sie war noch so jung! Verstehst du das, Baby? Erstklassige Projektion! Dann haben wir natürlich noch Joe Walters, den Helden und Assistenzarzt, der eines Abends dem alten Mann auf sein Geheimnis kommt, als beide in der Bowery ein Wrack aufgabeln. Und Terrill macht eine Bewegung mit seiner irren Hand, und Joe merkt, daß der alte Knabe nicht alle Tassen im Schrank hat.« Hollis schwieg und lächelte triumphierend zu ihr hinab. Und sie konnte nur kopfwackelnd zu ihm emporblicken. »Natürlich gibt es da noch ’ne Menge mehr in der Story. Ziemlich viele Gegenschnitte, eine lange Verfolgungsjagd, in der Walters und die Bullen das alte Kino zu finden versuchen, als Vivian vermißt wird und man nach Terry sucht, um ihn zu verhören. Aber der Gipfel, Baby, der Gipfel ist Vivian, die entsetzt und festgeschnallt in einem der Sessel im Kino sitzt, mitten zwischen den blicklosen toten Typen. Sie starrt auf die erleuchtete Bühne, wo Conroy Terrill, der letzte der großen Mimen, den Hamlet-Monolog rezitiert, während Joe Walters und die Polizisten sich wie rasend an die Rettung machen. Kannst du das sehen, Vickie? Ist das ein Film oder etwa keiner? Na, sag schon?« Dann wurde der Traum verwirrt. Plötzlich stand sie aufrecht da, und Hollis Waring wirkte auf einmal gar nicht mehr so groß. Als sei er geschrumpft. Nur noch wie ein kleiner Junge, der seine Spielchen spielt. Es war sehr verwirrend. So unwirklich und trotzdem so voller Realität. Sie sprach zu ihm. Im Traum. Fragte Dinge, auf die sie irgendwie eine Antwort haben mußte. »Mr. Waring, darf ich Sie was fragen?« »Dazu sind Sie doch hier, Vickie-Baby.« »Wie heißt Ihr Film?« Auch dies schien ihr irgendwie ungeheuer wichtig. »Habe ich das nicht schon gesagt? Der Rote Mittag.« »Oh.« »Was ist los? Magst du den Titel nicht?« »Ich begreife ihn nicht. Wie bei Uhrwerk Orange. Es ergibt überhaupt keinen Sinn.« »Vickie-Baby, du benutzt dein bißchen Hirn nicht richtig. Das al-
les hat schon Sinn. Soviel Sinn, wie man sich bloß wünschen kann.« »Es tut mir leid, aber würdest du mir bitte deinen Titel erklären?« Er kam von seiner Kiste herunter, trat auf sie zu und faßte ihre kalten Hände mit seinen beiden enormen Pranken. Seine Hände brannten wie glühende Kohlen. Aber sie taten ihr nicht weh. Es war, als schmelze sie an ihm fest, so daß sie sich nicht loslösen konnte, aber das wollte sie ja auch gar nicht. Das war Hollis-Waring-der-Große. Und sie gehörte zu ihm. Wollte immer bei ihm sein. »Rot.« Hollis’ Stimme war plötzlich kristallklar, klangvoll, mächtig, fast betäubend. »Rot ist die Farbe des Blutes. Die Farbe des Lebens. Zugleich warm und ewig. Das verstehst du doch, oder? Die Sonne ist das heißeste Ding, das wir in unserem Universum kennen. Und zur zwölften Tagesstunde ist Mittag. Dann steht die Sonne im Zenit. Die hellste brennendste Stunde. Verstehst du?« »Nein.« Sie begann zu weinen, versuchte es zu unterdrücken, weil sie sich so dumm vorkam. »Es tut mir leid. Aber ich versteh’ es nicht. Ach, Mr. Waring, ich fürchte, aus mir wird nie eine gute Schauspielerin. Ich begreife noch nicht einmal die Filmtitel.« »Na, na…« Die enormen Hände tätschelten, streichelten, drückten, bezwangen, verführten und beruhigten. Und verwirrten. Und brannten wieder heiß. »Bitte sagen Sie mir mehr über den Titel, Mr. Waring.« »Aber gern. Der Rote Mittag ist für Conroy Terrill die allerhöchste Stunde. Die heißeste und grellste. Auf seiner letzten Bühne, im Scheinwerferkegel, der ja auch eine Sonne ist. Verstehst du? Und die junge Krankenschwester sitzt unten im unbeweglichen Publikum und schaut seiner letzten und besten Vorstellung zu. Verstehst du es jetzt?« »Hm, ja.« »Was stimmt jetzt wieder nicht?« »Nichts. Nur, wenn Sie mir alles erklären, kommt mir alles plötzlich so einfach vor.« Danach verdüsterte sich der Traum, das Licht verlosch. Hollis verschwand. Auch die Packkiste. Die Wände des Traumes lösten sich auf. Und sie war allein und stand barfuß auf einem kalten feuchten Boden. Auch die Hitze war dahin. Die Hitze und die
Deutlichkeit aller Dinge, die sie so gut begriffen hatte. Düsternis breitete sich in Schwaden aus. Aber Vickie wachte nicht auf, als ihr Traum zu Ende war. Ihr Unterbewußtsein trieb einfach weiter auf einen dunkleren Strand zu. Auf einen Abgrund des Nichts, in dem sie nicht einmal mehr träumte und nicht länger schluchzen mußte. Der Alptraum war zu Ende. Erst am nächsten Morgen würde sie sich an ihn erinnern. An die Quälereien, die sie sich selbst im Traum zugefügt hatte. Und sie würde sich erinnern, wie aufgewühlt sie gewesen war, als sie das Merkwürdige in Hollis Warings unruhigen Augen entdeckte. Und dieser Mann hatte offensichtlich ein recht gutes Drehbuch für einen Horrorfilm verfaßt, den er Der Rote Mittag nennen wollte. Was immer der obskure Titel bedeuten mochte. Sicher war das genau das Richtige für Boris-Karloff-Fans. Etwas für Leute, die mit Gier und Wonne all die blutrünstigen Einzelheiten der Rotschopf-Morde aufschlürften. Alle jene, die in Wahrheit ihre eigenen Mörder sind. Weil sie sich von derartig abscheulichen Schlächtereien mästen. Von dem gewaltsamen Tod. Von der Angst. Von Brutalität.
FÄRBE SIE SCHARLACHROT »Also seien Sie jetzt nicht beleidigt, J. T.«, sagte Leutnant Arnie Abrams, während er zusah, wie sich sein Lieblingsdoktor in den Besucherstuhl des Hauptbüros der Mordkommission fallen ließ. »Ich habe mir zum Rotschopf-Killer Hilfe von außen geholt, aber ich möchte gern wissen, ob Sie mit diesen Hypothesen übereinstimmen. Okay?« Er streckte zwei Finger als Zeichen des Friedens nach oben. Der noch merkwürdig jugendlich wirkende Donne schniefte kurz und räkelte sich auf dem Drehstuhl zurecht. Dann blickte er die schäbigen Wände, die Decke, das Mobiliar an und schüttelte sich. Auf seinem Gesicht lag ein grimassenähnlicher Ausdruck. »Kriegen Sie hier in dem Büro nicht manchmal zuviel? Das sieht ja aus wie der Empfangssalon einer Sekte in einem Elendsviertel. Wen haben Sie um Hilfe gebeten, und wieso sollte ich beleidigt sein? Es hat noch nie ’ne Autopsie gegeben, die nicht eine Überprüfung vertragen könnte.« »Nächste Woche lasse ich Vorhänge reinhängen, ich verspreche es«, sagte Abrams mit säuerlichem Lächeln. »Gut, daß Sie so
darüber denken, J. T. Sie kennen Connors O’Hanlon?« Donne kicherte in sich hinein. »Vage. Er ist leider bloß einer der vier oder fünf Spitzenleute in der Kriminalpathologie; also, was sagt er?« »’ne ganze Menge. Und ich hätte gern ein Ja oder Nein oder überhaupt ’ne Meinung von Ihnen. O’Hanlon ist ein alter Freund von mir. Jetzt ist er grad’ aus dem Verkehr gezogen. Ein Unfall in New York, aber ich habe ihm laufend über unsern Fall berichtet. Unser Rotschopf-Killer, RK, nennt er ihn, interessiert ihn fast so sehr wie mich.« »RK – na, warum eigentlich nicht?« Donnes fülliger Haarschopf schimmerte. »Das ist so gut wie andere Kürzel. Also rücken Sie schon raus mit der Botschaft Gottes. Ich habe heut nachmittag ’ne Verabredung beim Golf.« »Es dauert bloß ein paar Minuten, J. T. Also, O’Hanlon sagt, RK muß schwul sein oder völlig asexuell. Was meinen Sie?« »Ich tippe entschieden auf Homo«, knurrte Donne und unterstrich dies durch ein bestätigendes Kopfnicken. »Die Brutalität der Morde. Die sinnlose Aufschlitzerei. Jedesmal, wenn wir so ’ne Leiche kriegten, dachte ich sofort an das. Das Blut scheint diese Typen zu berauschen. Dann wollen sie noch mehr Blut. Nein, da stimme ich mit O’Hanlon überein. Aber asexuell, das würde ich völlig ausschließen. Hier handelt es sich um die Morde eines sexuell impotenten, wohlgemerkt nicht notwendig körperlich impotenten, sehr kranken Menschen.« Zufrieden atmete Abrams auf. Er hatte sich nicht getäuscht, es war richtig, Donne ins Vertrauen zu ziehen. »Sie betrachten also die Verwendung der Tatwerkzeuge, statt einer normalen Vergewaltigung als Hauptmerkmal eines männlichen Irren. O’Hanlon sagt, er muß jung sein, ein Einzelgänger, und Frauen scheiden völlig aus.« »Aber ja doch, Arnie. Keine Frau hätte diese Morde ausführen können. Frauen vergiften andere Frauen oder erschießen sie, oder sie schütten ihnen Säure ins Gesicht. Aber sie erwürgen sie nicht mit bloßen Händen und machen sich dann mit ’nem Messer und so an die Arbeit. Lesbierinnen, weibliche Homosexuelle, können manchmal ganz schön bösartig sein, das gebe ich zu, und wenn sie an einer Psychose leiden, können sie sich zu ’ner echten Pest entwickeln. Aber es paßt einfach nicht zu dem Schema der Impotenz, das RK darstellt. Eigentlich eher im Gegenteil. Darum paßt
die Sache ihrer Natur und den körperlichen Aspekten nach nicht in einen lesbischen Zusammenhang. Keine Lesbe würde so schöne Frauen umbringen. Ganz im Gegenteil, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Wieder verzog Donne das Gesicht. »Ich weiß. Letzte Woche habe ich Sie gefragt, in welcher Richtung die Verletzungen ausgeführt wurden, und Sie sagten, daß sie alle von unten nach oben erfolgt sind. Ich hab Ihnen damals den Grund für meine Frage nicht genannt. Aber O’Hanlon verwies mich auf den Metesky-Fall. Sie erinnern sich, der Mann, der Sessel und Kissen mit einem Messer vertikal und scharf nach oben zerfetzte. Mein Freund Con sagt, daß damit RK zu einem Muttersöhnchen wird, das einen Haß auf die Vaterfigur und aufs Establishment hat. Dazu kommen dann noch die Akzente einer Kompensierung seiner mangelnden Potenz im Sexualverkehr. Wie finden Sie das?« Diesmal fiel die gewöhnlich gelangweilt-zynische Art von Donne ab. Er beugte sich eifrig vor, der Drehstuhl quietschte. »Also wirklich. Ihr Expertenfreund scheint tatsächlich was zu tun, wie? Ja, Arnie. Die Koryphäen der Psychologie haben derartige Signaturen in einem Verbrechen schon immer als symbolischen Akt der Kastration betrachtet. Hmmm. Mir wäre der Gedanke nicht gekommen. Aber ich bin ja bloß ein amtlich bestallter Leichenbetrachter. Und ziemlich unterbezahlt außerdem.« Er blickte grimmig über den Schreibtisch. »Haben Sie mit unserem Seelenforscher darüber gesprochen?« »Nein«, gab Abrams ruhig zu. »Das geht wohl ein bißchen über den Horizont von dem und seinen Leuten, J. T. Melville gilt zwar als Stadt, aber für mich ist es immer noch ein Provinznest irgendwo in den USA. Sie sind da ganz anders. Sie haben längjährige Erfahrungen, und was Sie mir sagen, hat für mich viel mehr Gewicht. Mehr als Ihre Bestätigung brauche ich nicht.« Der alte Herr stippte lächelnd einen Fussel von seiner Schulter. »Schönes Gefühl, wenn man von euch jüngeren Typen noch gebraucht wird, Arnie.« Abrams schüttelte den Kopf, seine Augen blickten traurig drein. »Also, wiederholen wir’s noch mal, J. T. Unser RK ist vermutlich ein psychotischer, wahrscheinlich homosexueller Mann mit einem irren Trieb zu töten, und zwar nur junge rothaarige Frauen, die Krankenpflegerinnen sind. Sechs Morde schließen jede Zufälligkeit aus. O’Hanlon definiert ihn als jungen Mann in den Zwanzigern,
der irgendwie nur nachts munter wird. Und da alle Verbrechen zu fast der gleichen Zeit ausgeführt wurden, scheint mir das eine gutfundierte Meinung zu sein. Ich persönlich glaube, daß unser RK so was wie ein Jekyll-und-Hyde-Typ ist. Sie wissen, was ich meine? Tagsüber ein netter, ruhiger Kerl, nachts ein wahnsinniger Irrer. So ein Typ, von dem dann die Leute sagen, wenn wir ihn erwischt haben: Was, der? Aber der war doch die netteste und stillste Person, der ich je begegnet bin! Lächelte immer, hat den Kindern im Viertel immer Bonbons geschenkt… Also, ist das nicht immer so?« »Auch da sage ich zu allem ja«, stimmte Donne zu. »Bloß ist da eine einfache Tatsache, Arnie, und die dürfen Sie nicht übersehen.« »Ja und?« »RK muß zwangsläufig große Hände haben. Keine normalen Pranken hätten die Frauen so zurichten können. Ich hab’ in meinem ganzen Leben noch nie derartig zugerichtete Leichen gesehen. Die Erwürgung fand eindeutig mit den Händen statt. Und ich glaube, damit schränkt sich der Personenkreis ziemlich ein, den Sie überprüfen müssen. Es kann doch in dieser Stadt nicht so viele junge Männer mit derartigen Pranken geben.« Leutnant Arnie Abrams zuckte zusammen. Aus seiner Kehle drang ein dumpfes Knurren. »Wollen Sie die genaue Zahl wissen? Wir haben’s überprüft. Es gibt in diesem Dörfchen nur etwa vierzigtausend junge Männer in den Zwanzigern, und es ist ein bißchen unmöglich, J. T. herumzuwandern und die Burschen ihre Hände vorzeigen zu lassen.« »Sicher, Arnie, aber es würde sich dennoch lohnen, glauben Sie’s mir. Besonders da Sie ja nicht den kleinsten Beweis oder Hinweis haben.« J. T. Donne beugte sich voller Sympathie nach vorn. Arnie Abrams sah wirklich sehr unglücklich aus. »Irgendwie müssen Sie das der Öffentlichkeit klarmachen! Setzen Sie ’ne Annonce in die Zeitungen oder geben Sie’s durchs Radio. Sicher kriegen Sie damit ’ne Menge unschuldiger Leute, aber es würde sich doch lohnen, oder? Wenn damit den Morden an rothaarigen Krankenschwestern ein Ende gemacht wird?« »Wir haben keine rothaarigen Schwestern mehr«, sagte Abrams müde. »Die Watts war die letzte. Und unter uns gesprochen – ich glaube, wir werden nichts mehr von RK hören. Er hat seine Sache erledigt und ist verschwunden. Abgezischt, wie die Kinder
sagen.« Donne schüttelte heftig den Kopf. »Mir ist Ihr berühmter Bericht an die Wichtigtuer oben durchaus bekannt. Nein, Sie irren sich, Arnie. Sie liegen völlig falsch. RK ist noch lange nicht am Ende. Erinnern Sie sich beim nächstenmal an meine Worte. Er muß sich wieder zeigen. Und zwar ziemlich bald.« Abrams blickte ihn mit offenem Mund an. »Was erzählen Sie mir da? Wieso wissen Sie das so sicher?« J. T. Donne lehnte sich in seinem Stuhl zurück, aber er wendete die Augen nicht von Abrams. Sein lederartiges Gesicht hatte einen sehr überzeugenden Ausdruck. »Kein Mensch ist eine Insel«, sagte er mit geheimnisschwangerer Stimme, als berufe er sich auf seinen berühmten Vorfahren. »Die Uhr schlägt wieder, Arnie, und diesmal für RK. Und der Boden, auf dem er steht, wird immer schmaler.« Abrams blickte in Verzweiflung auf einen Aktenordner auf seinem Tisch, der von Daten, Berichten und Statistiken über den RK-Fall nahezu überquoll. »Was Sie sagen, ist mir so willkommen wie ’n Loch im Kopf, J. T.« »Na und?« fragte Donne energisch. »Eins müssen Sie immer im Kopf behalten: Wenn RK ein Fall von Psychose ist, hält ihn nichts auf. Er selber kann sich nicht bremsen, wissen Sie? Er muß einfach. Wahnsinn kann man nicht regulieren wie die Hähne für heißes oder kaltes Wasser an der Badewanne. Arnie, der Mann ist verrückt. Denken Sie daran.« Leutnant Arnie Abrams seufzte hilflos. »Ich bin froh, daß ich Sie zu diesem Gespräch hierhergeholt habe, Doc. Sie haben mir wirklich sehr geholfen, das wissen Sie doch, nicht?« J. T. Donne lachte erfreut, stand auf und rieb sich mit erfahrungssicherer Hand den alten Rücken. Der Sarkasmus seines Freundes regte ihn auf. »Sie stecken sich zu tief in die Sache rein, Arnie, hören Sie auf mich! Verschwinden Sie aus dieser Bruchbude für ’ne Weile. Hören Sie auf, an RK zu denken, und suchen Sie sich ’n Mädchen und – na, Sie wissen schon, beschäftigen Sie sich mit ihr. Oder gehn Sie ins Kino. Sie brauchen ein bißchen Entspannung, Junge.« »Aber ja doch!«, schnaubte Arnie. »Genau das hab ich nötig!
Ich werde ins Elm gehen und mir den Wolfsmann ansehen. Das lenkt mich so richtig schön ab, was? Horrorfilm!« »Nein!«, sagte Donne ernst. »Sie gehen ins Forman und schauen sich den neuen Porno an. Den schwedischen. Dann vergessen Sie RK wenigstens einen Tag lang. Soll eine ziemlich heiße Sache sein, der Film, meine ich.« »Ach, Sie mit Ihrer Schmutzphantasie!« Arnie lachte. »Verschwinden Sie hier und gehen Sie Golf spielen. Ich hab was anderes vor als ’nen schwedischen Porno.« »Das sagen Sie jetzt.« J. T. Donne lachte und ging in seiner seemannshaften Art aus dem Zimmer. Hinterher starrte Abrams sehnsüchtig auf die runde Uhr an der Wand. Es war erst ein Uhr fünfzehn. Noch endlose Dienststunden an diesem langen Tag. Es war der 17. Februar. Und all die Frauen waren tot. Und RK lebte immer noch irgendwo unentdeckt. Und hielt sich seinen verrückten Bauch vor Lachen. Kein sehr schöner Gedanke. Dieser verdammte Typ! Dieser verdammte irre, kranke Typ! Dem kein anderes Vergnügen einfiel, als zu töten! »Mrs. Lawrence?« Vickie Helm erwischte ihre Pensionswirtin, die aus dem Wohnzimmer kam. Ihre Strickarbeit hielt sie mit beiden Armen fest. Vickie sah ein leuchtendes Rot, aber sie nahm es nicht richtig wahr, weil sie dermaßen mit ihren eigenen Dingen beschäftigt war. Auch den zufriedenen, leuchtenden Ausdruck im Gesicht Emma Lawrences bemerkte sie nicht. In dem runden, freundlichen Gesicht fiel das gar nicht auf. »Ja, um Himmels willen, Kind!« Mrs. Lawrence sah, daß Vickie noch immer die Krankenschwesterntracht trug, mit dem knappen Cape, das ihr eng um die Schultern lag. Das Weiß kontrastierte heftig mit dem flammendroten Haar. »Sie haben sich ja nicht einmal umgezogen. Stimmt etwas nicht im Krankenhaus?« »Ach nein. Die haben mich bloß heute ein bißchen früher gehen lassen. Meine Schicht hat sich geändert. Jetzt arbeite ich nachts, aber ich brauche nicht vor elf zu gehen. Ist Hollis schon fort?« »Aber ja. Der verpaßt nie seine Termine, der Junge. Brauchen Sie etwas? Vielleicht kann ich Ihnen helfen?« »Nein, wirklich nichts. Danke.« Vickie ging auf die Treppe zu. Ihre Schultern hingen enttäuscht herab. Sie wirkte ein wenig elend. Emma Lawrence runzelte die Stirn, wollte etwas sagen, doch dann drehte sich das Mädchen um und lächelte. »Wo liegt
das Elm-Kino, Mrs. Lawrence? Ich meine, wie komme ich von hier dorthin? Ich möchte nicht gern mit dem Taxi die Stadt kennenlernen, das ist viel zu teuer.« »Recht haben Sie. Also, wie ist das? Im Bus, Nummer 3, glaube ich, kommen Sie richtig hin. In etwa einer Viertelstunde. Direkt hinter der Kreuzung von der Dale Street. Nach rechts.« »Jetzt hab ich’s!« Vickie lächelte dankbar und anscheinend erleichtert. Nein, von der üblen Szene mit Holly wollte sie der netten alten Dame nichts erzählen. Allerdings, sie hatte sich den ganzen Tag über Gedanken gemacht, und nun hatte sie das Gefühl, mit ihm darüber sprechen zu müssen, und zwar rasch. Denn ihre neue Schichteinteilung und seine Nachtarbeit und daß er tagsüber schlafen mußte, das alles würde es schwermachen, ihn anzutreffen. Und außerdem veranlaßte sie ihr Alptraum und die große Furcht vor dem, was sie in seinen Augen gesehen zu haben glaubte, zu dem Versuch, ihn so bald wie möglich zu sprechen. Sie wollte sicher sein – und wenn es zum Schlimmsten kam. Aber jetzt starrte Emma Lawrence sie argwöhnisch und mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an. Vickie wechselte das Thema. »Hübsch das da. Was wird es denn?« »Ein Pullover«, verkündete Emma Lawrence strahlend und völlig entwaffnet. »Für Mr. Waring. Und es ist eine Überraschung zu seinem Geburtstag, und der ist bald. Am 21. Aber verraten Sie ihm um Himmels willen nichts.« »Aber nein. Ich verspreche es. Lieb von Ihnen, daß Sie so etwas für ihn tun.« »Er ist ein feiner junger Herr«, sagte Emma Lawrence mit beachtlicher Loyalität. »Ich hab’ nie den geringsten Ärger mit ihm. Hoffentlich gefällt ihm die Farbe.« Der rote Pullover war beinahe fertig. Dank der täglichen Arbeit von Mrs. Lawrence, die durch Walter Kennedys mittägliches Fernsehprogramm unterstützt wurde. Vickie betrachtete das grellrote Kleidungsstück ausdruckslos. Irgendwo zuckte ein Gedanke in ihrem Kopf auf, aber er war für sie ungreifbar, und schon war das Gefühl verschwunden. Trotzdem, es war merkwürdig beunruhigend gewesen. »Schön«, sagte sie beifällig. »Vielleicht stricken Sie ja auch mal einen für mich, wenn ich unter Beweis gestellt habe, was für ein netter zuverlässiger Mieter ich bin. Machen Sie das?« »Mach ich.« Mrs. Lawrence lachte leise vor sich hin. Sie wollte
sich dem Jargon der Jugend anpassen. »Kümmern Sie sich nur brav weiter um Ihren eigenen Kram, Kind, und ich bin sicher, wir werden auch weiter gut miteinander auskommen.« Beide lachten, dann rannte Vickie die Treppe hinauf, um sich noch ein wenig frisch zu machen, ehe sie wieder ausging. Über all dem Gerede über rote Pullover, Autobusse, Hollis Warings Geburtstag und gute Untermieter hatten beide Frauen eine geradezu unglaubliche Tatsache übersehen. Wie sie da im Flur stand, zauberhaft anziehend in ihrer Schwesterntracht, war Vickie das lebendige Abbild alles dessen, worum sich der ganze Ärger in Melville drehte. Sie stand mitten im Kern der scheußlichen Mordepidemie, die die Stadt in Atem hielt. Sie war eine rothaarige Krankenschwester. Mrs. Lawrence dachte nicht im Traum daran, trotz der täglichen Salven, die Walter Kennedy auf die Polizei abschoß. Auch Vickie Helm hatte nicht daran gedacht. Sie war einfach zu jung, zu eifrig, zu lebendig, als daß sie sich hätte vorstellen können, sie würde zu einem Mordopfer werden. Durch das kleine viereckige Fenster des Projektionsraums starrte Hollis Waring wie ein Mann aus Stein auf die Leinwand. Den Monitor hinter sich beachtete er gar nicht. Dort unten verwandelte sich überlebensgroß Lon Chaney jr. aus dem empfindsamen, beunruhigten Larry Talbot in den dämonischen, pelzgesichtigen Wolfsmenschen. Vollmond schien auf die prächtige atmosphärestarke Szene und beleuchtete ihn, und die Verwandlung begann, entwickelte sich mit bestürzender Unausweichlichkeit. Talbot wand sich, wimmerte, zuckte vor sich selbst zurück. Und dann trat das Tier hervor. Knurrend, keuchend, triumphierend befreit und bestialisch bereit, über das Land zu streifen. Zu töten, zu zermalmen, in wilder Glorie des Überlebens des Stärksten. Chaney legte alles in die Rolle, der Filmszene haftete eine Art sinnlicher Größe an. Hollis’ Zunge fühlte sich an wie Sandpapier. Sein Nacken kitzelte, als erwache er zu selbständigem Leben. Unten im verdunkelten Zuschauerraum bewegte sich das Publikum unruhig auf den Sitzen, ein wenig verängstigt und sehr fasziniert. Gebannt. In Hollis’ Brust begann das Herz in einem merkwürdigen Rhythmus zu schlagen. Seine Finger taten ihm weh, sie zuckten vor in-
nerer wütender Kraft. Im Projektionsraum hing kein ovaler Spiegel. Das war auch gar nicht nötig. Er spürte, wie sich sein Gesicht spannte, wie die Haut sich zusammenzog, als habe er sie in kochendes Wasser getaucht. Die gefurchte Nase zuckte, die Nüstern blähten sich, die Lippen bleckten sich zu einer Grimasse. Er spürte, wie seine Zähne wuchsen, als wollten sie aus ihrem Schmelzgefängnis ausbrechen. Ein waberndes schimmerndes Licht, ein Nebel erfüllte das kleine Universum des Projektionsraums. Der einzige wahrnehmbare Laut war für ihn nicht die Tonspur des alten Klassikers, sondern eine pochende, pulsierende, dröhnende Kakophonie, die ihm beinahe die Schädeldecke sprengte. Er drehte sich von dem kleinen Guckloch fort, riß den Blick von der Leinwand und fiel auf den nächsten Stuhl. Sein ganzer Körper brannte nun im Feuer. Innere Wut verzehrte ihn, ein innerer Brand, der ihn bei lebendigem Leib auslöschen wollte. Und seine verfluchten Hände, die zu großen Glieder an seinem Körper, begannen sich zu öffnen und zu ballen, zupackend, sich drehend, sich verkrampfend wie Schlangen einer unbekannten Art. Es passierte wieder einmal. Und genau wie bei den anderen Malen, da es geschehen war, war Hollis auch diesmal völlig unfähig, dem Geschehen Einhalt zu gebieten. Die Inkarnation, die Verwandlung, was immer es in Wirklichkeit sein mochte, hatte ihn ebenso rasch überfallen wie Chaney unten auf der breiten Leinwand. Larry Talbot oder Hollis Waring, das blieb sich gleich. Wer mit dem Verstand des Menschen spielt, wer die Grenze überschreitet, sät die Saat für seinen Untergang, für seine eigene Verdammnis und Auslöschung. Hollis Waring stürzte zu Boden, sein Fleisch zuckte, das Hirn schmerzte, die Hände peitschten, der Leib wand sich. Die Bestie mit den roten Händen hatte ihn in ihrer Gewalt. So wie noch nie zuvor. Dieses Etwas. Kein anderer Name konnte besser passen.
PORTRÄT IN SCHARLACHROT Arnos Fletcher war noch nicht so alt, daß er nicht junge Frauen bewundert hätte, je jünger und hübscher, desto besser. Vickie Helm konnte beides für sich beanspruchen, in bewundernswertem Maß sogar, als sie etwa in der Mitte der Spätvorstellung des
Wolfsmannes in seinem kleinen Büro erschien. Arnos gab sich zuvorkommend, als wäre er ein junger Liebhaber. Die junge Willie, die an der Kasse saß, hatte Vickie hereingeführt, und als diese den Grund ihres Kommens herausgebracht hatte, mußte der alte Fletcher lächeln. Auch ihm fiel nicht auf, daß sie eine bildschöne Rothaarige in der Tracht einer Krankenschwester war. Keiner rechnete je damit, daß das Entsetzliche sich in seinem eigenen Haus ereignet. »Aha, Sie wollen also Holly besuchen, Miß Helm?« »Ja. Es ist ziemlich wichtig, Mr. Fletcher.« »Aber sicher. Ich weiß. Ich war auch mal jung. Aber Sie verhalten sich dort oben ganz still, ja? Schließlich ist es ja der Projektionsraum.« »Ich weiß. Und vielen Dank.« »Sie finden’s bestimmt. Oben an der Treppe im Foyer. Die Tür genau in der Mitte. Steht Kein Zutritt drauf.« »Ich werde ihn nicht lange aufhalten. Ich verspreche es.« »Bleiben Sie nur, so lange Sie wollen«, sagte Arnos Fletcher großzügig. »Vielleicht ist Holly ja krank und braucht ’ne Schwester, wie? Das ist besser, als wenn er wegen Krankheit heute abend ausfällt. So bleibt er bei der Arbeit. Ich sage Ihnen, er ist der beste Vorführer, den ich je hatte. Wahrhaftig.« »Darf ich ihm das sagen? Er würde sich sehr drüber freuen.« »Nur zu. Aber ich bin sicher, er weiß es sowieso schon.« Vickie schenkte ihm ihr verwirrendes Lächeln, und die letzten Spuren des Zweifels zerschmolzen in Arnos Fletcher. Sie erhob sich auf ihre schlanken, wohlgeformten Beine, winkte ihm zum Abschied zu und ging. Er blickte hinter ihr her, seufzte traurig über seine verlorene Jugend und schüttelte verwundert den Kopf. Vickie bestätigte eine alte Überzeugung von ihm, daß man sich bei Frauen nie auskannte. Was, zum Teufel, hatte ein so phantastisch aussehendes Mädchen mit einem stillen Bücherwurm wie Holly im Sinn? Er hätte Holly nie für einen Sexprotz gehalten. Aber irgendwo mußte da ’ne Menge in dem Jungen stecken, wenn er sich ein Mädchen wie Vickie angeln konnte. So war’s wohl. Außerdem konnte man ja Bücher auch nicht nach ihrem Umschlag beurteilen, oder? Und außerdem gab es sowieso immer was Neues unter der Sonne. Holly mit ’ner Freundin, und dazu so einem Zuckerstück! Achselzuckend begab sich Arnos Fletcher wieder in sein Büro und verjagte jede Überlegung betreffs Vickie Helm und Holly aus
seinen Gedanken. Er hatte an vieles andere zu denken. Das Horrorfilm-Festival, das mit dem Wolfsmann zu Ende ging, hatte ihm und dem Elm-Theater enorme Gewinne gebracht. Der RotschopfKiller mochte ja ganz Melville in die roten Zahlen getrieben haben, um einen dummen Witz zu machen – das Elm hatte er weit in die schwarzen gebracht. Fein war das. Sein altes Kino hatte noch nie so viele Besucher gehabt. Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Der Werwolf von London. Dracula. Frankenstein. Die Insel der Verlorenen Seelen. Die Mumie. Und jetzt der allergrößte Kassenschlager, weil die Panik auf dem Höhepunkt stand: Der Wolfsmann. Der Wahnsinnige mit seiner Mordserie hatte Geld eingebracht wie ein kaputter Spielautomat in einem Kasino in Las Vegas. Irgendwie ernüchterte ihn dieser Gedanke inmitten all des Geldes, des Gewinns und der massenhaft strömenden Besucher. Nun, aber so war die Welt nun einmal, oder etwa nicht? Verrückt, unvorhersehbar und manchmal ein bißchen absurd. Man wußte eben nie, woher der Segen kam. Niemand wußte das, und deshalb bringt man an Bleistiften Radiergummis an, und betrügerische Wahrsager und Telepathen entlockten den dummen Kunden manches Vermögen. Arnos Fletcher summte vor sich hin, während er sich wieder über seine Geschäftsbücher beugte. Die Atmosphäre in seinem kleinen Büro war gemütlich, angenehm. Sicher. Kostbare, lebenentscheidende Sekunden tickten auf der Uhr vorüber, während Vickie die siebzig Schritte tat, die sie an die Tür des Projektionsraums im Foyer führten. Zur Tür, die zur Enthüllung führte. Und ins Entsetzen. In einen umfassenden, vernunftzerstörenden Terror. In den Tod als das Ende von allem. Wie es uns allen bevorsteht, früher oder später. In dem schwachbeleuchteten Raum surrte und klickte der mächtige Projektor, Töne und Farben wirbelten wild in verrückter, metaphysischer, orgienhafter Empfindung durcheinander, und Hollis Waring erinnerte sich plötzlich wieder an alles. Während er sich wand und zuckte in einem krampfhaften, selbstauferlegten
Tanz des Wahns, zerteilten sich die dunklen Vorhänge seines gequälten Verstandes, und er fand die Antwort, die er in seinen Stunden wacher Normalität nie so recht hatte finden können. Er sah das Ganze von Anfang bis zum Ende, bis zu diesem Gipfel der Entwicklung des Hier und Jetzt. Er weinte auf wie ein kleines Kind. Ein gequältes Kind, das nie geküßt, nie gestreichelt worden war. Das nie Verständnis erfuhr. Ein Junge, der nie etwas erfahren hatte. Denn seine Kindheit war ein Kampfring gewesen. Eine einzige Prüfung und Heimsuchung. Ein Schlachtfeld von Zweifeln, Angst und Unterdrückung. Ein ewiger Konflikt, in dem er niemals Zeit hatte, ein Junge zu sein, kindliche Dinge zu tun, sich zu erproben, nachzuforschen, zu untersuchen, sich auszudrücken. Und närrisch und jung zu sein. Er begriff dies alles in einem schrecklichen Blitz der Erkenntnis, während sein düsterer Himmel zerbarst und sich ihm die Gesichter und Ereignisse preisgaben. Zum ersten Mal. Zum einzigen Mal. Er sah in einer wilden schrecklichen Explosion der Angst Miß Amelia K. Donderson. Groß, stramm, rothaarig, nein hennarot gefärbt wie sie, Schwester Donderson. Und das Haus, seine Eltern andauernd unterwegs, und die starke Frau betreute ihn, weil sein neunjähriger Körper durch Fieber und Anämie verzehrt wurde. Das Fieber verschwand, der Blutarmut wurde Einhalt geboten, aber Mutter und Vater mochten Schwester Donderson so gern, daß sie sie baten zu bleiben. Über die lange, ach sehr lange Periode der Rekonvaleszenz hinaus. Mutter war mit ihrer Karriere als Chefredakteurin des Magazins einer Schönheitsfarm beschäftigt und Vater fuhr in die Städte auf dem Land und verkaufte landwirtschaftliche Maschinen. Und Schwester Donderson war mit Hollis allein und spielte mit seinem Körper und quälte ihn. Erfand Spielchen für ihn. Abstoßende, sexuelle, perverse Spielchen, für die er keinen Namen wußte, bis er viel, viel älter geworden war und Erziehung und Wissen ihm verrieten, was mit ihm geschehen war, sofern er überhaupt fähig war, daran zu denken. Doch, nein. Er hatte das alles ausgelöscht, oder? Sich geweigert, sich zu erinnern? Und als Mutter an Krebs starb und Vater mit einer andern Frau davonlief und ihn wieder allein ließ, war da immer noch Schwester Donderson, wurde älter und häßlicher und noch hungriger nach Sex. Wann war sie gestorben und endlich
verschwunden? Wann war er von ihrer Brutalität freigeworden, ihrer Trägheit, ihren Abscheulichkeiten? Wann war das alles zu Ende gewesen? Er wußte es nicht. Hatte es nie gewußt. Bis eben jetzt. Bis er sich nun erinnerte, wie er Schwester Donderson umgebracht hatte. Nicht einmal, sondern sechsmal. Sie hatte ihren Namen geändert, die alte Närrin, sich in jüngere Frauen verwandelt, aber sie war seiner Wut und Rache nicht entronnen. Rot, scharlach, erdbeerblond, tizian, apfelrot, rostfarben, er entdeckte sie und vernichtete sie. Auf daß sie ihre höllischen Praktiken und Perversionen nicht mit anderen kleinen Jungen treiben konnte. Die alte Schlampe, wie konnte sie sich nur einbilden, ihm zu entkommen? Seiner gerechten Rache? Sie hatte sich Linda Chase genannt, und er hatte sie gefunden und die praktische Sodawasserflasche benutzt, um es ihr heimzuzahlen. Sie hatte sich Wilma Ferguson genannt, und er hatte sie gefunden und die Schere verwendet, um ihren abscheulichen Kern mit der Wurzel zu vernichten. Sie hatte sich Ruth Elizabeth Botlinger genannt, und er hatte sie gefunden und den Brieföffner dieser Närrin benutzt, um ihre Häßlichkeit zu zerfetzen. Sie hatte sich Wanda Walters genannt, und er hatte sie gefunden und das Federmesser, das er stets bei sich trug, verwendet. Es erfüllte genauso seinen Zweck wie all die anderen Werkzeuge der Gerechtigkeit, vielleicht sogar besser! Sie hatte sich Hope Redland genannt, und er hatte sie gefunden und wieder das Federmesser benutzt. Es erwies sich als ein blitzendes Skalpell, als Schwert der Vergeltung. Sie hatte sich Deanna Watts genannt, und er hatte sie gefunden und diesmal einen Eispickel verwendet. Er mochte diesen Eispickel, er war genau das, was die alte böse Amelia K. Donderson verdient hatte. Engel der Barmherzigkeit, wahrhaftig! Sie war das übelste Weibsstück, das je gelebt hatte. Und jetzt war sie tot, sechsmal tot, und er war froh. Seine großen Hände schmerzten und zuckten, wollten sich wieder um den dicken alten Hals pressen. Wollten den Kopf verdrehen, damit die scheußlichen roten Strähnen nie wieder wehen und hängen konnten. Die Bilder in seinem Gehirn, die Kamera in seinem Kopf schoß
betäubend rasche Bilder, klickte, surrte, dröhnte weiter. Eine Montage des Entsetzens, ein Potpourri ineinanderprallender Empfindungen. Spezialeffekte. Alle in Technicolor. Diese zauberhafte, schreckliche Farbe! Holly, komm her. Nein. Komm her, hab’ ich gesagt. Ich will nicht. Du kannst mich nicht zwingen. Kann ich nicht, du kleiner Mistbengel? Soll ich dir wieder eine Tracht verpassen? Dann sag ich’s meinem Vater… Ja? Wie denn, Mistkerl? Der ist doch weg. Ich sag’s meiner Mutter… Dieser Schlampe? Die hat was Besseres zu tun. Die liegt jetzt grad’ bei irgendeinem Kerl. So wahr ich’s dir sage. Du lügst! Halt den Mund! Hör auf mit dem Gewinsel! Also komm schon her! Amelia tut dir nicht weh. Nein! Komm jetzt sofort her! Zier dich nicht so. Komm her und setz dich auf meinen Schoß. Nicht… Bitte, tu mir nicht weh… Dir weh tun? Aber, Baby, Amelia würde das doch ihrem kleinen Puppenbübchen nicht antun. Komm schon… Nein! Küß mich! Bitte, nicht…! Aber Holly, weine nicht! Hollis Waring mußte sie umbringen. Wieder und wieder, damit die Bilder, das Entsetzen, die Häßlichkeit aufhörten. Er mußte sie mit jeder Waffe töten, die er in die Hände bekam. Mit der Wasserflasche. Der Schere. Dem Brieföffner. Dem Federmesser. Dem Federmesser. Dem Eispickel. All die kalten Frauen, die sich mit diesem scheußlichen, häßlichen alten Biest Schwester Donderson verbanden. Warum konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen? Warum hatte sie sich auf ihn gestürzt mit ihren abscheulichen Perversionen? Warum hatte sie ihn
gezwungen, sich wie ein sabbernder Hund zu betragen? Eine schmutzige kleine Straßenmischung, Abfall fressend, sich selber in Erniedrigung verlierend. In niemals endender Scham… Hollis schüttelte sich, fuchtelte mit den langen Armen gegen die häßlichen Bilder an, die ihn umgaben, und röhrte tief in der Kehle auf. Seine zu Schlitzen verengten Augen, glitzernd über der zerschlitzten Nase mit den geblähten Nüstern, spürten das Stechen, die Qual dessen, was Schwester Donderson ihm angetan hatte, ehe sie starb. Sie hatte aus ihrer schwarzen Tasche ein schimmerndes Instrument hervorgeholt, hatte ihn mit ihrem mächtigen Körper festgehalten und war ihm mit der Klinge über die Nase gefahren. Ein halbes Dutzend hastiger Schnitte. Und durch das Blut, den Schmerz und das Entsetzen hörte er ihre Stimme sagen, durch die Labyrinthe der Zeit: »So, da hast du’s, mein Kleiner. Damit du dich immer an die gute alte Amelia erinnerst, was? Wenn dich jemand fragt, dann bist du gegen einen Stacheldrahtzaun gelaufen, hast du verstanden?« Und sie hatte sich vor Lachen geschüttelt, und dieser schlimmste sadistische Akt war die Vollendung der Schwester Donderson gewesen. Das äußerste Böse. Hollis legte sich die großen Hände über die Augen und stöhnte brüllend auf, stieß die Bilder von sich fort, die Häßlichkeit, die furchtbaren Erinnerungen. Die Tür zu dem Projektionsraum öffnete sich klickend. Vickie Helm stand auf der Schwelle. Auf ihrem Gesicht lag ein halbes Lächeln, als sie in den Raum blickte. Aber es konnte kein volles Lächeln werden. Es ging einfach nicht. Sie sah Hollis Waring. Oder das, was aus ihm geworden war. Eine Sekunde lang verkrampften sich Vickies Halsmuskeln zu einem Schrei. Die hübschen blauen Augen traten vor, der Körper zuckte, als habe er von hinten einen Schlag erhalten, Taumelte, als schwanke der Boden unter ihm. Schaukelte hin und her. Auch Hollis Waring sah sie. Die weiße Tracht, das Cape, die schimmernweiße Stärke. Das Käppchen. Sah die wunderschöne Masse des prachtvollen tizianroten Haares. Rot, natürlich. Das allerroteste Rot, das es gibt. Die leuchtenden Scharlachtöne. Und das fürchterliche All explodierte in einem donnernden Bersten von Farbe und Ton. Hollies sprang auf Vickie zu. Seine riesigen roten Hände flogen an ihre Kehle.
Schwester Donderson lebte noch immer! Wanderte noch immer herum und vollführte ihre häßlichen Perversionen! Verflucht sei ihre Seele, wie oft würde er sie denn noch umbringen müssen, bis sie endlich tot blieb? Drunten blieb? Ihn für immer und ewig in Ruhe lassen würde? Vickie Helm kreischte. Ein aufsteigendes tierhaftes Kreischen des Entsetzens. Dann schlossen sich die furchtbaren Hände um ihren Hals. Und das unglaubliche Gesicht dessen, der Hollis hätte sein sollen, es aber nicht war, glühte wie ein lebendig gewordener Alptraum nur Zentimeter vor ihrem Gesicht. Ein Gesicht wie aus der Hölle. Ein Gesicht, das nicht erklärbar war. Nicht auf dieser Erde. Rot, rot, rot, die Farbe des Wahnsinns. Rot war das Fleisch dessen, den sie liebte. Für Hollis war sie zur Schwester Donderson geworden, zu Linda Chase und Wilma Ferguson und Ruth Elizabeth Botlinger und Wanda Walters und Hope Redland und Deanna Watts. Und ebenso Trudi Earle, Randy Williams, Estelle Harvey, Rose Richards, Madie Morgan… und all die andern rothaarigen Gespenster, die ihn seit der Kindheit und in den Entwicklungsjahren abgewiesen, verletzt, mißbraucht und in der Seele sterbend zurückgelassen hatten. Georgia Sand, Sophie Garnley, Thelma Brady… Kaltherzige, grausame kleine Mädchen und junge Frauen. Jede einzelne eine Qual, ein Nesselhemd, der Tod auf Erden für ihn. Dr. Connors O’Hanlon hatte mit seiner Weisheit natürlich recht gehabt, auch wenn er weit weg vom Schauplatz des Verbrechens war. Mehr recht, als sich sogar ein Experte wünschen könnte. RK haßte rothaarige Krankenschwestern. Mit einem Haß, wie ihn nur ein Wahnsinniger aufbringt. Vickie Helm war eine rothaarige Krankenschwester. Also mußte auch sie sterben. Als die brutalen Finger sich in ihren weichen Hals gruben und das Zimmer um sie herum albtraumhaft zu verschwimmen begannen, schwindelnde Lichter und Schatten, während der Projektor weitersurrte, begann das Ungeheuer mit den roten Händen Amelia K. Donderson noch einmal zu töten. Wie schon so viele Male vorher. So oder so, die eine Frau oder die andere. Das böse Rad des Wahnsinns und Mordens hatte sich noch einmal um sich selbst gedreht. Es gab kein Entrinnen, kein Davon-
laufen, keine Flucht mehr vor irgend etwas. Die unausweichliche Kraft explodierte wieder.
EIN HORRORFILM Es wäre nett gewesen, hätte man sagen können, daß die Polizei, während das verdrehte Gemisch von Es, Libido und Über-Ich in Hollis zu dem Wahnsinnsakt der Erwürgung der hilflosen Vickie Helm in dem engen, isolierten Projektionsraum des Elm-Theaters verschmolz, vermittels emsiger Recherchen, mühevoller Untersuchung der Beweismittel und intelligenter Interpretation der psychologischen Faktoren dieser blutrünstigen Verbrechen mit gezogenen Revolvern laut stampfend zur Rettung herbeigeeilt wäre. Die Wahrheit kommt dem nicht einmal nahe. Die Arbeit der Polizei findet nur allzuoft Unterstützung und Hilfe – abgesehen von Informanten und Zeugen, die aufgrund eigener Vorstellungen von Gewinn oder finanzieller Vorteile motiviert handeln – in großem Maß durch jene unbeschreiblich seltsamen Umstände, denen man zahlreiche Namen gibt. Glück, der Durchbruch. Fatum, Kismet, Karma, Talisman-Versicherung sind alle ein und dasselbe. Wie dem auch immer sei – es saß an diesem Abend ein Polizist im Elm-Theater und betrachtete die alten Wunder und den unterhaltsamen Unsinn des Wolfsmannes. Ein sehr guter Polizist. Es war nicht Leutnant Arnie Abrams, obwohl er es hätte sein können, denn dieser übermüdete und frustrierte Mordkommissar hatte schließlich dem Rat J. T. Donnes nachgegeben und seinen Kummer und Kopfschmerz an diesem Abend mit einem Film vergessen wollen. Weiter außerhalb des Zentrums, aber zur gleichen Zeit, in der Hollis Waring seine Schicht hatte. Der schwedische Porno langweilte Abrams denn auch tatsächlich bis zur Entspannung. Aber nie im Traum hätte er an den Wolfsmann als Alternative gedacht. Er verabscheute Monster- und Horrorschinken, wie er es Donne gegenüber angedeutet hatte, und wollte nicht an seine verzwickte Lage mit dem Rotschopf-Killer erinnert werden. RK reichte ihm als Ungeheuer. Der reichte für zehn Polizeikommissare. So geschah es, daß der Streifenpolizist Vincent Valenti, der nach dem Dienst mit seiner hübschen Frau auf dem Balkon saß, vom Schicksal ausersehen wurde. Später erzählte Valenti allen, die es
hören wollten, daß er selber nicht begreifen oder sagen könne, wie er herausgefunden hatte, woher der unglaublich entsetzliche Schrei kam, der plötzlich die Zuschauer auf dem Balkon alarmierte. Es kam nicht darauf an. Alles war hinterher unwichtig. Valenti, dessen Nerven wegen des Rotschopf-Killers genauso zum Zerreißen gespannt waren wie die jedes Polizisten in Melville, sprang aus seinem Sitz, rannte die fünf Stufen zum Foyer hinauf, sah die Tür zum Projektionsraum offenstehen und bekam Flügel an die Füße. Wie ein guter Polizist oder vielleicht aus uralter Gewohnheit trug Valenti seine Dienstwaffe. Eine 38er Polizei-Spezialanfertigung von Smith & Wesson. Er rollte wie ein Kugelblitz direkt in den Projektionsraum. Das merkerschütternde Echo des furchtbaren Schreis von Vickie, ein Laut mehr tierisch als menschlich, schien noch in seinen Ohren zu dröhnen. So einen Schrei hatte er noch nie zuvor gehört, nicht einmal in Korea, als der Mann neben ihm von einer Landmine buchstäblich zerfetzt wurde und nur einen einzigen Schrei der Qual und des Schreckens ausstoßen konnte. In dem schriftlichen Bericht für seine Vorgesetzten äußerte er sich peinlich genau und detailliert und vermerkte die flüchtigen Eindrücke, die seine Sinne aufgenommen hatten, als er auf den Rotschopf-Killer zustürzte, der dabei war, sein Opfer zu erwürgen. Der Polizeijargon dieses simplen Streifenpolizisten überstieg den unbeholfenen Stil seines Berichts: »… der Mordverdächtige war dabei, Vickie Helm zu würgen. Ich konnte seine großen Hände um ihren Hals sehen. Ihre Zunge begann bereits aus dem Mund zu dringen, das Gesicht wurde rot. Der Mordverdächtige zwang sie zu Boden. Ich habe nie zuvor so einen Mann gesehen. Er war eine Art Ungeheuer. Ich hatte nicht mehr die Zeit, ihn anzurufen. Wenn ich ihm befohlen hätte, die Hände hochzunehmen, wäre das Mädchen erwürgt worden. Darum schoß ich… ja, ich hatte den Verdacht, daß er der Rotschopf-Killer sei. Sobald ich merkte, daß es eine rothaarige Krankenschwester war, die er umbringen wollte, war ich mir absolut sicher. Meine erste Kugel traf ihn in der Schulter, und er wirbelte herum…« Seinem eigenen Seelenfrieden zuliebe ließ Valenti zahlreiche verblüffende und unheimliche Einzelheiten in seinem dreiseitigen Bericht aus. Er mußte es. Die Wahrheit war zu verrückt, zu un-
möglich, als daß er sie hätte erklären können. Keiner hätte ihm geglaubt oder ihm je wieder eine Pistole anvertraut. Oder schlimmer noch, man hätte ihn vielleicht sogar in die Psychiatrische zur Untersuchung geschickt. Wie hätte er beweisen sollen, daß Hollis Waring, rot-äugig, stieren Blicks, fauchend wie ein Tier in der Falle, tatsächlich wie ein Wolf aufheulte, als ihn die erste Kugel in der Schulter traf und er den schlaffen, halbtoten Körper Vickie Helms fallen lassen mußte? Daß er blitzschnell herumwirbelte? Wer würde glauben, daß der Filmvorführer, den der Wahnsinn gepackt hatte, noch einmal geknurrt hatte und mit einem katzenhaften fliegenden Satz wie eine große geschmeidige Bestie lossprang? Gab es jemanden, den er hätte überzeugen können, daß der Typ vor ihm wirklich mehr wie ein Tier als wie ein menschliches Wesen aussah? Daß das Gesicht zu einer Hundsfratze verzerrt war, die Zähne gebleckt, die Lippen verzogen, daß in den glitzernden eckigen Augen etwas Verrücktes, Schreckliches, Rotes blitzte? Wie hätte er erklären können, wie die riesigen Krallenhände aussahen, als sie nach seiner Kehle packten? Vielleicht war es ja das komische Licht in dem Raum – aber bei allen Heiligen im Himmel, die Hände sahen rot und haarig aus, mehr wie Tierpranken, und er hatte dergleichen noch nie gesehen. Und zu allerletzt, wem hätte er sagen können, daß er den Kopf verlor? Daß sein Entsetzen, seine lähmende Furcht bewirkten, daß sein rechter Zeigefinger wie wild den Abzug betätigte? Daß er nicht anders handeln konnte, auch wenn er es versucht hätte? Nie im Leben! Wer würde verstehen, daß fünf weitere Schüsse, die in dem engen Raum wie Donner dröhnten, daß die beinahe nicht genug gewesen wären? Was für eine Pest, dieser Sturz in einen Alptraum! Zu sehen, wie die zweite Kugel in die Brust des springenden Irren schlug! Zu sehen, daß die Kreatur nur wieder knurrte und trotzdem weiter auf ihn zukam! Valenti hatte sich zurückgezogen, sich hinter den großen Projektor postiert und weitergefeuert. Die dritte Kugel traf die andere Schulter des Untiers. Dann zielte Valenti, vermutlich unbewußt, viel höher. Was ein ausgebildeter, erfahrener Polizist unter gewöhnlichen Umständen nie tun würde. Es ist zu riskant. Ein sehr hohes Treffsicherheitsri-
siko. Und das können Polizisten sich nicht leisten. Aber es war ein Glückstag für Vincent Valenti, der Tag, an dem er in die Annalen der Melviller Polizei einging und eine Ehrenplakette erhielt. Die letzten drei Schüsse fielen so dicht hintereinander, wie es die Gesetze der Ballistik, der Physik und der Mechanik erlaubten, und bombardierten das teuflische Maskengesicht, das vor ihm hing. Ein blutiger Strom wie ein Vulkan, eine sich auflösende Fata Morgana der Vernichtung und des Untergangs. Ein Röhren, gemischt aus Pein und Überraschung und Nichts. Valenti sackte gegen das warme Metall des Projektors und dann zu Boden, und sein Herz hämmerte in einem Wahnsinnsrhythmus vor Abscheu, Übelkeit und bestürzter Ehrfurcht. Und dann gab es das Untier nicht mehr. Ein zertrümmertes Gesicht an einem zerfetzten Kopf, zusammengekrümmt wie ein phantastischer lebloser Fleck auf dem Boden. Die Frau lag noch immer so wie zuvor und atmete kaum. Eine schlaffe Stoffpuppe. Vincent Valentis Kopf steckte voller Geister, kindlicher Ängste, halbvergessener Alpträume aus der Kindheit, heulender, todverkündender Feen. Wie hätte er irgendwem in der Welt davon berichten können? Nicht einmal Anne, seine Frau, würde ihn verstehen! Sie hätte es gar nicht gekonnt. Nun, so war es eben. Es gibt Dinge, die man für sich behalten muß. Sollten doch die Seelenbohrer aus dem Charakter dieses Typs machen, was sie wollten oder konnten! Es war nicht sein, Vincent Valentis, Job, einen Dämon in Menschengestalt zu analysieren. Sein Bericht endete mit der vertrauten Summierung der wesentlichen Folgen und Ergebnisse seiner Diensthandlung: »… Ich gab der Frau Erste Hilfe, soweit das möglich war. Sie war stark gewürgt worden. Konnte nicht sprechen. Dann rief ich einen Sanitätswagen, wobei mich Mr. Arnos Fletcher, der Besitzer des Elm-Theaters, unterstützte. Wir versiegelten den Raum, bis die Männer vom Siebenten Bezirk eintrafen. Mr. Fletcher identifizierte den Mann, den ich erschossen hatte, als Hollis Waring, 25, wohnhaft in Mrs. Emma Lawrences Pension in der Dale Street. Mrs. Helm hatte Waring aufgesucht…« Vincent Valenti hatte sich ruhmreich geschlagen.
Aber er würde nie die schrecklichen Minuten im Elm-Theater vergessen, in der er auf einen ganzen Stapel Bibeln hätte schwören können, daß es ein Tier war, nicht ein Mensch, was ihn da angriff. Daran gab es nichts zu rütteln. Nein, nichts! Nicht einmal in unserem zwanzigsten Jahrhundert! Und erst am nächsten Morgen, als sich die Neuigkeit durch die Stadt und in der Welt verbreitete, so daß jeder darüber lesen und sich darüber erstaunen konnte, erst dann begann Melville einzuschätzen, was für ein menschliches Ungeheuer da durch seine Straßen geschlichen war. Etwas aus einer anderen Zeit, einem fremden Ort. Einer anderen Hölle. J. T. Donne blieb volle zwei Stunden im Leichenschauhaus und nahm die Autopsie an dem kugelzersiebten Körper des jungen Mannes vor, den Streifenpolizist Valenti getötet hatte. Der alte Arzt arbeitete unermüdlich und geduldig, beklagte sich nicht ein einziges Mal. Donne wußte, wie sehr Arnie Abrams eine endgültige Autopsie brauchte. Abrams wartete in seinem Büro und würde nicht nach Hause gehen, ehe er nicht einen Bericht von Donne hatte. Der alte J. T. hatte schon viele Todesfälle erlebt und normale Leichen seziert, doch der Tote des Streifenbeamten Valenti war in mehr als einer Hinsicht eine Ausnahme. Ganz einzigartig. Eine einmalige Leiche. Es passierte ihm nicht häufig, daß er sechs verbogene Geschosse aus dem toten Fleisch eines Kadavers graben mußte. Valenti war ein exzellenter Schütze. Donne holte die Kugeln aus der linken und rechten Schulter und aus der Brust. Alle drei lagen fast genau auf einer horizontalen Linie durch den Brustkorb des Toten, wie ein Muster. Die drei im Kopf dagegen waren ganz anders. Eine Kugel war aufwärts eingedrungen, daß im linken Wangenknochen und hatte ziemliche Verwüstungen angerichtete. Die zweite Kugel war direkt in die Stirn gedrungen, der Einschlag nur ein kleines Loch, aber auf der Rückseite des Schädels ein wüstes Durcheinander. Der dritte Kopfschuß, der am meisten Schaden anrichtete, hatte Hollis Waring fast genau in der Mitte getroffen, unter der Nase über dem Mund. Aber dennoch gab es noch viel zu tun. J. T. Donne war noch lange nicht fertig mit seiner Sektion und Analyse für den patholo-
gischen Bericht. Aber nicht einmal das Schlachtfest, das die Geschosse angerichtet hatten, konnte Donne auf den unglaublichen Anblick der Hände des Toten vorbereiten. Die waren wirklich einmalig. Das mußte er Abrams sofort berichten. Abrams blickte hinter dem Schreibtisch hoch, als Donne endlich hereinkam. Er war allein und damit beschäftigt, aus einer Büroklammer absurde Muster zu biegen. Erwartung und eine Art Hoffnung leuchteten in seinem müden Fünf-Uhr-morgens-Gesicht auf, verschwand aber wieder, als Donne knapp und freundlich seinen Bericht ablieferte. Man hatte Abrams aus dem Bett geholt, weil er den langweiligen Schwedenporno nicht zu Ende sehen wollte und nach Hause gegangen war. Nur um zu dem Tumult geholt zu werden, wie man ihn nur einmal im Leben erlebt, wie er sich in Arnos Fletchers Elm-Theater abspielte. Es war eine Nacht, die keiner je vergessen würde. Keiner, der dabei war. Am allerwenigsten Vickie Helm. Aber das war eine andere Geschichte. Daran würde Abrams erst später denken. Jetzt war Dr. Donne die Hauptsache. Was er zu sagen hatte, konnte alles oder nichts bedeuten. »Der Tote war etwa einsachtzig, um die siebzig Kilo. Die Nasennarben deuten auf Verletzungen hin, Schnitte mit einem scharfen Instrument, Skalpell, Rasiermesser, vor Jahren, als er noch Kind war. Guter körperlicher Zustand, außer extremer Kurzsichtigkeit. Muß ohne Brille fast blind gewesen sein. Die Linsen waren auf Rezept, richtige Vergrößerungsgläser. Ich hab’ die Augen nicht untersucht, nur die Gläser, wie Sie verstehen werden. Valenti hat nicht viel Gesicht übriggelassen für die Untersuchung. Sämtliche sechs Kugeln haben schwere Wunden verursacht. Aber das Erstaunlichste sind die Hände. Die größten Pranken, die ich je an einer Leiche gesehen habe, Arnie. Mittelhandknochen wie Astknorren. Daumen wie Würste. Genau die richtigen Hände für das, was mit den Schwestern passiert ist. Es sieht ziemlich sicher danach aus, daß das Ihr Mann ist.« Leutnant Arnie Abrams zuckte sichtlich zusammen. »Woher wissen wir, ob es nicht nur ein Kerl mit großen Pratzen war, der mit seiner Puppe Streit kriegte oder sie zu vergewaltigen versuchte, da oben in dem Raum? Mein Mann? Wir haben noch überhaupt nichts.« Donne runzelte die Stirn. »Sie legen’s wohl auf Ärger an, wie?
Was wollen Sie denn noch? Waring hatte die Hände…« »Und er hat versucht, ’ne Rothaarige zu erwürgen, die als Krankenschwester arbeitet«, fiel ihm Abrams bitter ins Wort. »Aber damit ist er noch nicht der Killer von sechs anderen, oder? Verstehen Sie denn nicht, Doc? Wir müssen erst zu der Pension gehen und alle seine Sachen überprüfen und seine Vergangenheit bis zurück zum Kindergarten, vorher haben wir kein Fetzchen Beweis, das Waring mit den anderen Fällen verbindet. Wo ist das Federmesser, mit dem er die Walters und die Redland gezeichnet hat? Der Eispickel von der Watts? Wo ist nur der kleinste Beweis, daß er bei all den Verbrechen am Tatort war? Sicher, er ging jede Nacht um Mitternacht aus dem Kino, und er hatte die Zeit und die Gelegenheit, und bevor wir nicht etwas aus der Lawrence rausholen, der die Pension gehört, und noch ’ne Menge mehr, haben wir haargenau gar nichts in Händen. Ich habe mit Valenti gesprochen. Ein guter Mann, aber woher soll ich wissen, daß er nicht einfach durchgedreht hat, als er im Projektionsraum in eine große Liebesszene reingeplatzt ist? Die Helm steht immer noch unter Schock, wir haben noch keine Aussage von ihr!« »Arnie! Arnie!« sagte Donne geduldig. »Bei Ihnen brennt eine Sicherung durch! Nicht so hastig! Lassen Sie sich Zeit. Ich weiß jedenfalls, daß mein Toter paßt. Alter, Körperkondition und Gelegenheit, wie es immer heißt. Vielleicht haben Sie Glück und finden den Eispickel oder das Federmesser. Mann, Sie machen sich völlig grundlos fertig.« »Ich habe Angst, Doc«, sagte Abrams mit leiser, völlig veränderter Stimme. »Ich wünsche mir sosehr, daß Waring unser Mann ist, daß es mir sauer im Mund aufsteigt. Und wenn er’s nicht ist, stehen wir wieder ganz am Anfang. Wer hätte auch daran denken können, daß es noch eine rothaarige Schwester in Melville gibt? Vielleicht gibt’s noch viel mehr, und wir wissen es nicht. Und wenn das Ganze wieder von vorn anfängt…« J. T. Donne schüttelte den Kopf. Die alten Augen blickten weise und geduldig. »Nein, Arnie«, sagte er nachdrücklich. »Sie müssen sich Warings Hände mal anschauen wie ich. Wenn ein paar Fäustlinge dermaßen riesig sind, dann ist etwas nicht normal. Man kriegt ein ganz komisches Gefühl, wenn man sie anschaut. Verstehen Sie? Die Hände haben irgend etwas Gottloses. Die passen zu irgendeinem Tier, einer Bestie oder so.«
Nun war Arnie Abrams an der Reihe, die Stirn zu runzeln. Ein finsterer Blick, der lange zurückgehalten worden war, weil Hal Wallace so lange brauchte, bis er mit seinem Bericht über die Durchsuchung von Warings Zimmer in der Pension kam, und weil es so endlos lange dauerte, bis Vickie Helm aus ihrem todesähnlichen Koma erwachte. »Sagen Sie schon, was Sie denken, Doc!« »Warings Hände«, antwortete Donne ohne Umschweife, »sind sehr rot. Bläulichrot ist das richtige Wort. Als wären sie geschwollen oder eine Zeitlang in kochendes Wasser getaucht worden. Nicht verbrannt, wohlgemerkt. Fast krebsrot. Sehr ungewöhnlich.« »Und?« »Was kann ich Ihnen noch sagen? Es sind nicht die Hände eines normalen Mannes. Bei weitem nicht, Arnie! Glauben Sie’s nur! Aber ich wette, daß der euer RK ist. Und der RK Ihres Freundes O’Hanlon. Warten Sie’s nur ab.« Arnie Abrams stieß heftig die Luft aus und preßte die stumpfen Fingerspitzen zusammen. Über sie hinweg starrte er den alten Mann an. In seinem müden Gesicht zeichneten sich mehrere neue Falten der Erschöpfung und Sorge ab. »Sie sind der Arzt, J. T. Ich werde warten.« Etwas anderes gab es ja auch nicht zu tun. Bis die amtliche Maschinerie, die jetzt auf Hochtouren lief, plötzlich stoppte und alle Antworten, Daten, alles was es zu wissen gab, ausspuckte über diesen jungen Mann namens Hollis Waring, der nach Melville gekommen war, um hier zu leben und als Filmvorführer zu arbeiten. Ein verschlossener Einzelgänger. Der in seiner Freizeit an einem Drehbuch schrieb, weil er selbst einen Film machen wollte. In seiner Benommenheit hatte Arnos Fletcher immerhin soviel preisgegeben. Ob er in seiner Freizeit rothaarige Krankenschwestern ermordet und verstümmelt hatte, konnte keiner mit Sicherheit behaupten. Am wenigsten die Mordkommission und Leutnant Arnie Abrams. Und so unglaublich es klingt, Vickie Helms wußte es gleichfalls noch nicht. Trotz des Alptraums, in den sie geraten war. Das Gesicht des Schreckens, wenn es ein so vertrautes Gesicht ist, kann niemand wirklich erkennen. Niemand möchte den Teufel im Gesicht eines Freundes erblicken.
Eines Liebhabers. Eines geliebten Menschen. Niemals.
AN O’HANLON, HILFE SUCHEND Lieber Con, übers Wochenende fliege ich in den Osten. Maggie sagt, daß Sie dann gerade entlassen sind, was für mich ganz prima ist. Sie haben alle Unterlagen gelesen, und wir haben den RK-Fall vorläufig abgeschlossen. Aber ich möchte mit Ihnen darüber reden. Sie wissen schon - über das, was ich den Zeitungen nicht sagen konnte. Sind Sie dazu in der Lage? Wir haben alles Nötige getan, bis zur letzten Einzelheit, aber ich bin noch immer nicht zufrieden. Lesen Sie weiter, ich informiere Sie. Es ist uns nicht gelungen, Verbindungen zwischen RK und auch nur einer der Frauen herzustellen, die er tötete. Laut Unterlagen ist RK keiner von ihnen auch nur auf der Straße begegnet, soweit wir wissen. Das heißt, daß sie ihm alle fremd gewesen sind. Und umgekehrt. Natürlich kannte er Vickie Helm, da sie im gleichen Haus wohnten. Aber Waring hat sie nicht umgebracht. Weil Streifenbeamter Valenti Gott sei Dank an seinem freien Tag ein Schießeisen trug. Das Zimmer Warings bei der Lawrence war ein absoluter Reinfall. Kein Tagebuch, keine Post, keine Notizen. Alle Kleidungsstücke und persönlichen Gegenstände sind hier in Melville gekauft. Außer den Lumpen und einem Korbkoffer, die er mitgebracht hat. Wir fanden ein dickes Drehbuch, an dem er arbeitete. Für einen Film, den er machen wollte. Anscheinend träumte der Typ davon, Regisseur oder Produzent zu werden. Wer weiß. Jedenfalls, der einzige Lesestoff in seinem Zimmer waren ein paar technische Bücher und Magazine über die Kunst des Filmemachens. Sie wissen schon, was ich meine. Er hatte auch zwei Bücher aus der Städtischen Bücherei, zwei Wochen verfallen. Gleiche Thematik. Das Drehbuch (ich weiß, das wird Sie interessieren) hat den Titel Der Rote Mittag und handelt von einem Leichenwärter, der Leichen stiehlt, sie in einem alten Kino auf die Plätze setzt und vor ihnen Shakespeare spielt! Eine Wucht, sage
ich Ihnen! Aber zurück zu RK-Waring. Der ruhige Mann mit den Glöckchen. Wie erwartet, waren bei der Lawrence alle voll des Lobes über ihn. Ruhig, höflich, Bücherwurm, niemals Ärger mit jemand. Vickie Helm kann noch immer nicht sprechen, da ihr Kehlkopf schlimm gequetscht ist, aber sie schrieb uns ein paar Antworten auf. Hollis Waring hat sie noch nicht einmal mit Handschuhen angefaßt, aber sie verliebte sich in ihn, und er machte blitzartig einen Rückzieher. Klingelt es da bei Ihnen? Angst vor Frauen, scheu, obwohl er mit der Helm sehr entspannt und freundschaftlich umging, wie sie und die Emma Lawrence behaupten, die den Jungen wirklich absolut ins Herz geschlossen hat. Sie strickte sogar einen roten Pullover für seinen Geburtstag, der übrigens gestern gewesen wäre. Sie haben ziemlich viele Nägel auf den Kopf getroffen bezüglich RK. Eigentlich zu viele. Waring war in den Zwanzigern, gutgebaut (1,80, ca. 75 kg) und sehr zurückhaltend. Trug eine Brille mit sehr dicken Gläsern. Unser Doc sagt, ohne wäre er so blind wie ’ne Fledermaus gewesen. Ich erinnere mich, was Sie über abnorme oder irre Antriebe bei Wahnsinnigen sagten, daß ein Mann dann zweimal oder fünfmal so stark sein kann, aber Warings Hände waren wirklich richtige Klodeckel. Das größte Paar Futterschaufeln, die man je gesehen hat. Sie wissen, wie manche Werfer beim Baseball sechs oder sieben Bälle in einer Hand halten können? Er war noch besser! Und die röteste Hautfärbung, die’s gibt. Sogar Donne nannte sie seltsam. Nannte sie »blaurot«. Ungewöhnlich. Aber der Rest Ihrer Theorie, Con: Wir konnten Waring bis Philadelphia zurückverfolgen. Dort geboren, ging ans Wesley an, Abschluß in künstlerischen Fächern. Biographie allerdings ein bißchen saftiger. Mutter gab Schönheitsmagazin heraus, Vater Vertreter von landwirtschaftlichen Maschinen. Ergibt, daß er in den frühesten Jahren ziemlich viel allein war. Als er etwa zehn war, war er etwa ein Jahr lang krank. Blutarmut oder so was. Es gab ’ne Pflegerin. Eine Amelia K. Donderson. Über sie haben wir noch keine Angaben, aber wir wetten hier alle, daß sie rothaarig und so verrückt war wie’n Siebendollarschein. Ebenfalls Ihre Theorie. Darum bin ich jetzt mehr oder weniger überzeugt, daß Waring der RK war.
Was mich beunruhigt, ist mehr oder weniger der übliche Kopfschmerz von uns Polizisten. Ertragen Sie mich noch ’ne Weile, ich erklär’s Ihnen. »Wie kann ein Kerl sechs Frauen umbringen, ohne den geringsten Hinweis darauf, daß er am Ort war? Keine Fingerabdrücke, keine Stoffteile, keine Fußspuren. 2. Nirgendwo gibt es Handschuhe zu kaufen, die groß genug für Warings Pranken sind; warum sind dann keine Fingerabdrücke auf der Sodaflasche, der Schere, dem Brieföffner? Abgewischt? Unwahrscheinlich. 3. Im Walters-Mord gab es Unkraut, bei der Watts Rasen, und weichen Boden vor dem Auto, in dem die Ferguson starb, und ein geteertes Dach im Redland-Fall. Botlingers Badezimmer, der Flur der Chase mit Teppichen und Kacheln und Möbeln sind etwas problematischer, aber die ersten vier sind einfach nicht geheuer. Nicht ein einziger Absatzabdruck, keine Schuhspitze, nicht der geringste Eindruck im Boden! (Ich glaube nicht an Vampire, Werwölfe und Geister. Basta.) 4. Kein Federmesser, keine Nagelfeile (die Donne für die Tatwaffen bei Redland und Walters hält) in Warings Zimmer oder an seinem Körper. Den Eispickel hätte man in einen Abfluß werfen können. Wir haben ihn nicht gefunden, und wir haben das Gebiet um die Klinik mit einem Mäusekamm durchgesiebt. So eine Mordwaffe wird man leicht los, Con. 5. Die Autopsie bewies, daß Waring fünf Narben auf der Nase hatte. Alte Narben, aus der Zeit, als er noch ein Kind war. Vielleicht kann uns die Donderson etwas darüber erzählen, falls sie noch lebt. Aber das sieht doch nach einer traumatischen Erfahrung aus, oder? Jedenfalls stelle ich mir vor, daß es für einen Kerl sehr peinlich sein muß, mit einer zerfurchten Nase rumzulaufen, oder? Aber wer weiß das schon? Ihre fachkundige Ansicht, alter Junge, wird dringend erbeten. 6. Ich sprach mit Valenti, dem Bullen, der Waring erwischte. Sein Bericht befriedigt mich nicht recht. Ich hatte den Eindruck, daß er etwas ausließ. Recht hatte ich. Nachdem ich ihm gedroht hatte, ihn in die härteste Ecke auf Patrouille zu schicken, rückte er damit raus. Er sagt, Waring hat ihn in der Kabine angesprungen wie ein Tier. Geifernd, fauchend wie eine Katze. Valenti sagt, seiner Meinung nach hat er fast wie ein Wolf ausgesehen. Na, haben Sie’s? Er sagt, er habe sich von einem Tier angegriffen ge-
fühlt, nicht von einem Menschen. Ich werde mehr aus Vickie Helm rauskriegen, wenn sie wieder sprechen kann. Hinter diesem Waring steckt mehr als die nüchternen Fakten des Protokolls. Da ich ja schon in ein paar Tagen bei Ihnen, Ihrer reizenden Frau und den prächtigen Kindern sein werde, würden Sie dann bitte über folgende Punkte nachdenken, ehe ich komme? Dann können wir über alles reden. Persönlich glaube ich, daß wir es hier mit einem ganz einmaligen Fall zu tun haben. Über den Sie schreiben könnten, um sich damit einen noch besseren Namen zu schaffen, als Sie sowieso schon haben. Waring ist einzigartig, soviel weiß ich jetzt schon. Im Elm-Theater, wo er als Filmvorführer arbeitete (und als ganz hervorragender, wie der Besitzer, Arnos Fletcher, sagt, der immer noch vollkommen verwirrt ist) gab es ein Festival mit Horrorfilmen, während wir die Mordserie hatten. Frankenstein, Der Wolfsmann usw. Waring befaßte sich mit Horrorfilmen. Siehe dazu Original-Drehbuch Der Rote Mittag. Boris Karloff hätte das sicher gern gespielt. Waring hatte einen Ovalspiegel in seinem Zimmer. Die Laborjungs haben auf dem Glas und auf dem Holz der Kommode, auf der er steht, Tests durchgeführt. Sie fanden Speichelspuren. Menschlichen Speichel. (Habe ich erwähnt, daß auf Warings Kleidern, seiner Person oder sonstigen ihm gehörenden Dingen nicht die geringste Blutspur gefunden wurde? Und Sie wissen ja, wieviel Blut er vergossen hat. Jedesmal eine ziemliche Schweinerei.) Er besaß keinen Ring, keine Uhr oder irgendwelchen Schmuck. Nicht einmal Manschettenknöpfe, oder ’ne Krawattennadel. In der Brieftasche nur Ausweispapiere. Keinerlei Photos. Er wurde nicht zum Militär eingezogen, wegen der übergroßen Hände, Gott helfe mir! Man hielt ihn für eine medizinische Absurdität! (Daß es für ihn unangenehm sein würde, mit der Ausrüstung umgehen zu müssen.) Wenn Ihnen jetzt nicht das Wasser im Mund zusammenläuft und Sie nicht nach dem Notizbuch greifen, dann spinne ich. Was ich abschließend sagen möchte, Con, ist dies: Ich glaube, daß Hollis Waring RK war. Es ist ja klar, daß meine Arbeit leichter wird, wenn es stimmt. Aber was ich jetzt wissen muß, zu meiner eigenen Beruhigung und Befriedigung, ist folgendes:
Kann ein Mann, außerdem ein intelligenter, mit Collegebildung, ehrgeizig, kultiviert, sich die Überzeugung einreden, daß er irgendeine Bestie ist? So daß er aussieht, handelt und mordet wie ein wildes Tier? Daß er sozusagen über den Erdboden fliegt, vielleicht auf den Ballen wie ein Wolf, und scheußliche Morde ausführt, zu denen beträchtliche Stärke, Schlauheit und Schnelligkeit nötig sind? Lassen Sie mal den Wahnsinn, oder wie es sonst in Ihrem, psychologischen Jargon heißt, beiseite. War Hollis Waring überzeugt, daß er sich in eine der Kreaturen aus den Horrorfilmen verwandelt hatte? Finden Sie das raus, dann bin ich schon glücklich. Wenn die Chase, Ferguson, Botlinger, Walters, Redland, Watts vor ihrem Tod sahen, was ich glaube, dann brauche ich mir meine jüdischen Kräuselhaare nicht mehr glätten zu lassen. Ich kriege Alpdrücken, wenn ich nur daran denke. Aber denken Sie bitte auch drüber nach. Und leisten Sie ’n bißchen gute irische Kopfarbeit. Okay? He, ich hoffe, den Beinen geht es besser und Sie sind auf und laufen herum, wenn ich komme. Kuß für Maggie und die Kinder, und falls Sie’s vergessen haben, ich bin immer noch wild auf guten Scotch. Mit oder ohne Eis. Lassen Sie es sich gutgehen, Con. Müßte spätestens Samstag eintreffen. Alles Gute, Arnold Abrams, Captain, Mordkommission Melville PS: Yahah, bin befördert. Dank sei Valenti. PPS: Vielleicht schaffe ich’s ja auch wieder zurück in die große Stadt. Auf die Rückseite des Umschlags hatte Abrams, offenbar als späteren Einfall und weil er den dicken braunen Polizeiumschlag nicht nochmals öffnen wollte, geschrieben: Er rauchte und trank auch nicht!
VICKIE
»Soll ich Ihnen ’n bißchen Suppe bringen, Vickie?« Vickie Helm schüttelte den Kopf. »Tut der Hals immer noch weh, Kindchen?« Vickie nickte. »Na schön. Dann bleiben Sie still da sitzen. Sind lang aufgeblieben wie, so wie Sie aussehen. Wir müssen damit fertigwerden, Kind. Es geht vorbei, müssen Sie wissen. Alles vergeht, früher oder später. Jetzt ist es schwer für Sie, ich weiß, doch die Erde dreht sich auf geheimnisvolle Art. Ich kann es noch immer nicht fassen. Werde ich wohl auch nie, fürchte ich. Sich vorzustellen, daß so ein zauberhafter Mann ein…« Vickies Augen protestierten in stummer Pein. Emma Lawrence begriff, seufzte, wackelte behäbig aus dem Zimmer. Das junge Mädchen saß wie eine Statue in dem einzigen Stuhl am Fenster. Eine warme Brise bauschte die Gardinen. Ein milder Märzvormittag, unglaublich für diese Jahreszeit. So vieles andere war gleichfalls unglaublich. War es immer noch. Die Welt war tatsächlich verrückt geworden, wahnsinnig, nichts ergab mehr einen Sinn. Vickie Helm fror. Sie fror tief innen. Vielleicht würde ihr nie wieder warm werden. Dieses Frösteln im Körper, die elende Eisigkeit in Händen und Füßen. Nicht einmal die Wollstola um die Schultern und das laue Wetter schienen fähig, die allgemeine Kälte zu überwinden. Der verletzte Hals war beinahe geheilt. Die Schmerzen waren verschwunden. Doch nichts konnte die Qual ihrer Seele auslöschen. Der Schock war dünner geworden, das Entsetzen hatte sich gelegt, der Schrecken war gewichen, und sie ließen nur ein vages Gefühl von Sinnlosigkeit, Trübheit und Verzweiflung zurück. Wie Emma Lawrence gesagt hatte, es würde vorübergehen. Doch bis dahin würde sie diesen Krampf gottloser Verdammnis nicht auslöschen oder vergessen können, der sie im Projektionsraum des Elm-Theaters überfallen hatte. Alle Polizisten, alle Ärzte, alle Antworten und vernünftigen Erklärungen der ganzen Welt würden den Anblick nicht zunichte machen können, den Anblick Hollis Warings, wie er vor ihr stand, als sie auf ihn zutrat, ohne Klopfen, und seinen Abstieg in die Hölle unterbrach. Diese Augen! Brutal glitzernd, irre Lichter darin. Das Gesicht! Wild hechelnd, knurrend. Eine scheußliche Maske. Die Kiefer mit den Fangzähnen, schäumend, verzerrt. Bereit zu zerreißen.
Mein Gott, er war ja ein Tier! Eine Bestie. Ein Teufel. Etwas, wofür sie keinen Namen fand. Etwas, an das sie unaufhörlich denken mußte. Von dem sie träumte. Das sie mitten in der Nacht aufweckte, durch ihre eigenen schwitzenden, zitternden, schluchzenden Bewegungen und Laute. Und er war tot. Von einem Polizisten erschossen. Die Polizei. Vickie schüttelte sich in Erinnerung an die finsteren Gesichter, die scheußlichen persönlichen Fragen, als sie sich um das Bett im Krankenhaus drängten. Fragen, die sie nur durch Nicken mit ja oder nein beantworten konnte. Widerliche Ausforschungen, auf die sie ihre Antwort niederschreiben mußte. Der Leutnant, der mit dem freundlichen Gesicht, versuchte nett zu ihr zu sein, aber die Fragen waren dennoch häßlich. Trotz ihres guten, liebevollen Herzens war sie schockiert über die kaltschnäuzige, fast unmenschliche Haltung des Gesetzes. »Hatte er jemals Geschlechtsverkehr mit Ihnen, Miß Helm? Kopfschütteln. »Hatten Sie je den Eindruck, daß er das wollte?« Wieder Kopfschütteln. Sie brachte es nicht fertig niederzuschreiben, welch große Angst er vor der Liebe gehabt hatte. Ganz zu schweigen davor, körperlich zu lieben. Nein, das war nicht Holly. »Sagte er je etwas über Ihr rotes Haar zu Ihnen?« Negativ. »Wollte er je Ihr Haar streicheln? Sie wissen, es berühren, anfassen, streicheln und so?« Sie hätte schreien mögen, wenn sie nur gekonnt hätte, doch Fleisch und Muskeln ihres Halses waren immer noch ein qualvoller Knoten. Sie bat um den Stift und den Block, überwand ihren Abscheu und schrieb: Er war der freundlichste Mann, den ich kannte. Wir waren dicke Freunde. Als der nette Leutnant das las, blickte er sie erstaunt an. In seinen Augen lag das ganze Elend, das ganze Mitleid dieser Welt. »Wir haben nicht den Falschen erwischt, Miß Helm. Glauben Sie mir doch…« Also war Hollis Waring tot. Und begraben. Zur Ruhe gebettet. Für alle Zeiten. Ein harmloser junger Mann oder ein scheußliches häßliches Un-
tier? Sie begann zu weinen, wie schon oft seit jener Nacht. Sie weinte um Hollis, und sie weinte um sich selber. Das mit Hollis konnte nicht wahr sein. Es konnte einfach nicht! Wie hätte sie sich denn in einen Dämon verlieben können? Wie hätte Holly all den anderen Mädchen diese scheußlichen Sachen antun können? Er konnte es einfach nicht, so war es! Sie irrte sich, sie mußte sich irren! Was sie im Projektorraum gesehen hatte, mußte eine Lichtspiegelung, eine optische Täuschung gewesen sein, ein böser Traum, etwas irgendwie Verzerrtes. Was Holly ihr anzutun versucht hatte, war ein Irrtum. Eine Nachvollziehung dessen, was er durch das kleine Fenster neben dem Projektor auf der Leinwand gesehen hatte! Das mußte es sein. Der Holly, den sie kannte und liebte, würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Lieber Gott, verlor sie auch bereits den Verstand? Vickie vergrub ihr Gesicht in den Händen, die zierlichen Schultern zuckten. Das liebliche Rot des feinen Haars fiel über ihr Gesicht wie ein flammender Wimpel in der warmen, luftigen Atmosphäre des Raums. Es war wirklich prachtvolles Haar, eine schimmernde Krone der Schönheit. Von der Art, wie sie Hollis Waring geliebt und zugleich gehaßt hatte. Eine Duplizität von Gefühlen, die keiner jemals genau verstehen würde. Schon gar nicht die junge, unschuldige Vickie. Für sie würden Mörder und Wahnsinnige immer unbegreifliche Teufel bleiben. Kranke, gewiß, aber doch Teufel. Vickie Helm würde ein langes erfülltes Leben führen, vielleicht, aber sie würde niemals auch nur einen einzigen Augenblick des unsäglichen Entsetzens vergessen. Nichts, was sie vorher erlebt hatte, hatte sie auf solchen Horror vorbereitet. Hollis Waring, der auf sie lossprang. Wie ein knurrendes, fauchendes Tier. Seine riesenroten Hände, die wie Klauen nach ihr griffen, Tötende, monströse rote Hände. Die roten Hände aus allen ihren Alpträumen, wach oder im Schlaf. Rote Hände, die wie doppelte Scheinwerfer auf einer langen, düsteren, gewundenen Straße in eine persönliche Hölle leuchteten. Jene Hölle, an der jedes einzelne menschliche Wesen einen geheimen, ungreifbaren, ewigen Anteil besitzt. Vickie durchlebte nun diese Hölle. Gerade jetzt, als sie in dem Sessel saß, schluchzend, zitternd, an die wenigen fürchterlichen
Augenblicke denkend, da Hollis Waring sich zu einem Ungeheuer in Menschengestalt verwandelte. Eine Bestie mit roten Händen. »Arnos, Sie hören mir ja gar nicht zu. Ich sagte Ihnen…« »Nein, Galbraith. Nein. Die Leute könnten mich aus der Stadt jagen. Es wäre außerdem mies von mir…« »Arnos, ich bin Ihr Freund. Zehn Jahre lang haben Sie auf mich gehört. Sind Sie eine humanitäre Anstalt oder haben Sie ein Kino?« »Sie haben recht, ich weiß, Galbraith. So ein Film wäre zweifellos ein Riesengeschäft. Aber ich denke an meine normalen Besucher. Die würden genau wissen, daß ich damit versuche, an einer scheußlichen Geschichte zu verdienen. Ich möchte nicht, daß sie die Achtung vor mir verlieren, verstehen Sie?« Am andern Ende des Drahtes folgte eine lange schwere Pause, und Arnos Fletcher in seinem kleinen Büro dachte eine schmerzliche Sekunde lang, Joe Galbraith, sein Lieferant, habe aufgehängt. Denn das wünschte er gleichfalls nicht. Joe war ein guter Agent, hatte ihn stets fair behandelt, es möglich gemacht, daß er auch schwer erhältliche Streifen bekam. Etwa Goldfinger, der doppelt ausgebucht war in dieser Woche. »Galbraith, hören Sie noch?« »Sicher. Letzte Chance, Arnos. Sonst muß ich’s der Forman-Kette geben.« Arnos Fletcher seufzte und gab auf. Joe hatte recht. Geschäft war Geschäft, und ein Film mit einem solchen Titel ließ garantiert die Kassen klingeln. Und die Leute waren ja so komisch. Sie würden in Scharen kommen, nur um als erste dranzukommen. Nur um über etwas reden zu können, es allen Nachbarn brühwarm erzählen zu können. »Sie haben mich überredet. Ich nehm’ ihn.« »Aber klar doch.« Joe Galbraith lachte grausam. »Und Sie werden den ganzen Weg zur Bank heulen.« Er hängte auf. Arnos Fletcher legte gedankenschwer den Hörer auf die schwarze Gabel. Er trommelte ein paar Sekunden lang mit den Fingern, dann lächelte er in sich hinein und hatte plötzlich ein besseres Gefühl bei der Sache. Schließlich konnte ihn eine alte romantische Filmkomödie, einer der großen Hits aus den späten fünfziger Jahren, nicht in Schwierigkeiten bringen. Wie denn
auch? War es etwa seine Schuld, daß der Streifen einen ironiegeladenen Titel hatte, nach all dem Skandal, der sich soeben fast zwei Monate lang in Melville abgespielt hatte? Nein, entschied er, die Welt mußte sich weiterdrehen. Egal, was passiert war. Und aus diesem Grund zeigte, nur zwei Tage später und nur zwei knappe Wochen nach dem Ende der unglaublichen Massenmorde, die Reklametafel des Elm-Theaters laut und grell ankündigend den alten Hit mit John Justin-Moira Shearer in der Komödie: DER MANN, DER ROTHAARIGE LIEBTE. Auch Arnos Fletcher vermißte Hollis Waring. Aber doch nicht allzusehr. So sehr wieder nicht. Allerdings, auch er würde den Schrecken nie ganz vergessen, der sich in jener finsteren Nacht im Elm einstellte. Wie hätte er das gekonnt? Schließlich war er ja auch bloß ein Mensch. Die Klingel an der Haustür von Mrs. Lawrence klang gebieterisch. Emma Lawrence eilte aus der Küche, wo sie das Abendessen vorbereitete. Sie war sicher, daß das bestimmt wieder nur ein Polizist oder ein Reporter war, oder jemand, der einen Artikel schreiben und die arme Vickie mit Fragen über Hollis Waring quälen wollte. In Trauben waren sie angerückt gekommen. Sie legte ihr Gesicht in die angemessenen Zornfalten, rückte die runden Schultern zurecht und machte sich bereit, brüsk, streng und beherrschend aufzutreten. Als sie die Tür öffnete, schreckte sie sichtlich zurück. Fast hätte sie die schwere Schöpfkelle aus der Hand fallen lassen. Der Neukömmling hätte ein Geist sein können, aber er war keiner. Großgewachsen, sehr jung, ein Schopf goldgelockter Haare hing ihm über die breite Stirn. Er lächelte freundlich unter seiner Sonnenbrille hervor, war smart gekleidet, guter Schnitt, gut gebügelt. In seiner Rechten ein großer schwarzer Koffer, über und über bedeckt mit Reiseetiketten und Abzeichen. Er strahlte eine ruhige, intelligente Gesetztheit aus. »Hallo, guten Abend«, sagte er. Die Stimme hatte einen dunklen Klang. »Sind Sie Mrs. Lawrence?« Emma Lawrence blinzelte, dann räusperte sie sich. »Ja, aber…« »Dacht ich mir’s doch. Sie sehen so nett und sauber aus. Ich wollte mir mal die Zimmer anschauen und vielleicht eins nehmen. Ein Kumpel am Busbahnhof hat mir gesagt, daß Sie so ziemlich
das beste Haus am Platz sind…« Der Himmel vergebe ihr, aber dann tat Emma Lawrence etwas, das sie in über fünfzig Jahren nie getan hatte. Sie knallte dem jungen Mann die Tür vor der Nase zu. Rasch und ohne ein weiteres Wort.
NACHSCHRIFT Nachdem die Kinder im Bett waren und Margaret in die Küche gegangen war, um einen Krug Martinis zu mixen, richtete Connors O’Hanlon seinen intelligenten Blick auf Arnie Abrams und ließ seine allererste Bemerkung zu dem Fall vom Stapel, der Melville so in Entsetzen gestürzt hatte und zum Gespräch des ganzen Landes geworden war. Vorher gab es zuviel anderes, als daß die beiden alten Freunde über Berufliches hätten sprechen können. Die Kleinen waren auf Onkel Arnie herumgeklettert, voller Ooohs und Aaahs über die Geschenke, die er mitgebracht hatte, und auch Maggie hatte gestört. Sie drängte ihn zu Tisch, stellte dauernd persönliche Fragen, und immer wieder die eine: »Wann heiraten Sie endlich und geben einem netten Mädchen ’ne Chance?« Eine Frage, auf die Abrams keine Antwort hatte. Aber nun hatte Connors ihn für sich allein. Beide Hände fest über den Knopf des Gehstocks gelegt, den er zur Unterstützung seiner Verletzung benötigte. »Ehe wir unsere Notizen über den interessanten Wahnsinnigen austauschen, Arnie, möchte ich einen Schuß loslassen.« »Schießen Sie los.« Ausnahmsweise blickte O’Hanlon einmal grimmig drein. »Also es ist so. Wenn es sich um einen Mann mit einer Psychose handelt, die offensichtlich irgendwann in ferner Vergangenheit begann und latent bleibt, eine lange Zeit, dann muß irgend etwas passieren, das alles wieder zurückbringt. Ein Auslöser, eine sinnenhafte Erinnerung, irgendein Stimulator.« Abrams hob den Scotch, wirbelte die Eiswürfel zwischen den Handflächen und nickte beinahe resigniert. Die Augen verhärteten sich. »Wollen Sie damit sagen, was ich denke, daß Sie sagen wollen?« »Was wollte ich denn damit sagen, Arnie?« »Sie wollen sagen, daß Sie trotz Ihrer ganzen Hirnmasse, Ihrer
Ausbildung und Kenntnis und all der Schlußfolgerungen aufgrund der Fakten nicht in der Lage sind, mir zu sagen, was RK dazu veranlaßt hat, sich ein paar Monate nach seiner Ankunft in Melville in ein mörderisches Ungeheuer zu verwandeln.« O’Hanlons hübsche Brauen waren emporgezogen. Er klopfte mit dem Stockende auf den maronibraunen Teppich, wie ein Parlamentarier, der einer Vorlage zustimmt, oder wie einer, der sich noch einen Drink bestellt. »Gut gemacht, Abrams. Sehr gut.« »Also sagen Sie’s schon«, forderte Arnie Abrams ihn auf. »Ich werd’ es schon schlucken.« »Na gut, mein Captain. Weder ich noch sonstwer wird Ihnen sagen können, was einen netten, ruhigen Jungen plötzlich dazu veranlaßt hat durchzudrehen und sich in ein tollwütiges Untier zu verwandeln, mit dem bösen Gehirn eines Genies – eines Verbrechergenies, meine ich. Haben Sie das begriffen, ehe wir unsere Notizen vergleichen?« Abrams lächelte zustimmend und hob seinen Scotch. In der Tiefe des Whiskys funkelten die Lichter des Zimmers. »Darauf trinke ich«, sagte Captain Arnie Abrams von der Mordkommission in Melville, »weil mir sonst nichts anderes übrigbleibt.« »Es ist ein Reinfall«, gab Connors O’Hanlon zu, »aber kein Mensch in der ganzen Welt, nicht einmal ich, kann Ihnen sagen, was er an dem Tag oder in der Stunde oder Minute dachte, wo ihm alles wieder in Erinnerung kam.« Nein, keiner konnte das. Wahrlich nicht.
ENDE