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J.Severino Croatto
Chr. Kaiser
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Ökumenische Existenz heute 5 Herausgegeben von Wolfgang Huber I Dietrich Ritschl! Theo Sundermeier
Die Bibel gehört den Armen J. Severino Croatto
Perspektiven einer befreiungs theologischen Hermeneutik
Aus dem Spanischen übersetzt von Christoph Schroeder
Chr. Kaiser Verlag
5
Titel der Originalausgabe: Hermeneutica Biblica © Asociacion Ediciones La Aurora, Buenos Aires 1984
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Croatto, J. Severino: Die Bibel gehört den Armen: Perspektiven einer befreiungstheologischen Hermeneutik / J. Severino Croatto. Aus d. Span. übers. von Christoph Schroeder. - München: Kaiser, 1989 (Ökumenische Existenz heute; 5) ISBN 3-459-01760-0 NE:GT
© 1989 Chr. Kaiser Verlag München Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung; Fotokopieren nicht gestattet. Umschlag: Ingeborg Geith, München Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
Ich widme dieses Buch all denen, die aus ihrem Leben ein lebendiges Zeugnis des Wortes machen, des Wortes, das von der Verpflichtung für die Armen her neu gelesen wird.
Inhaltsverzeichnis
Einführung von Wolfgang Huber
9
Vorwort
13
Einleitung
15
1.
Von der Semiotik zur Hermeneutik
25
1. Sprache als System und als Ereignis 2. Sprache als Text und als Schrift 3. Lektüre als Sinnproduktion. Der hermeneutische Akt
25 27
H. Praxis und Interpretation 1. Vom Ereignis zum Text 2. Das »Voraus« des Textes 3. Die Intratextualität der Bibel 4. Wem gehört die Bibel, und wen betrifft sie?
IH. Exegese und Eisegese 1. Die relecture der Bibel ist Teil ihrer eigentlichen Botschaft 2. Aktualisierung der Bibel? Erhellung der Wirklichkeit? 3. Abgeschlossene oder offene Offenbarung? 4. Die Sprache des Glaubens 5. Rekontextualisierung des biblischen Kerygmas 6. Zu einigen Einwänden Schlußfolgerung Glossar Bibelstellenregister
32 49 49 62 66 73 79
79 81 83 89 92 93 95 97 99 7
Einführung
In vielen Bereichen der Theologie sind gegenwärtig entschiedene Vorstöße zu einer Neuorientierung der biblischen Hermeneutik, also des Nachdenkens über das deutende Verstehen biblischer Texte, zu beobachten. Ihnen ist gemeinsam, daß sie der gelebten Praxis des Glaubens eine neue Bedeutung für die Interpretation überlieferter Texte zuerkennen. Während frühere Beiträge zur Hermeneutik häufig nur das Vorverständnis in den Blick nahmen, das der Interpret als Person in den Vorgang der Auslegung einbringt, gehen die neuen Ansätze häufig von der Frage aus, welche Relevanz das Leben der interpretierenden Gemeinschaft für die Erschließung überlieferter Texte hat. Die Hermeneutik gilt als eine traditionelle »Domäne« der deutschsprachigen Philosophie und Theologie. Doch auf die neuen Perspektiven, die sich heute eröffnen, wird man eher aufmerksam, wenn man über den deutschen Sprachraum hinausblickt: auf die philosophische Diskussion in Frankreich, auf exegetische Ansätze in Nordamerika oder auf theologische Impulse aus der Dritten Welt. In dem neuen Interesse für hermeneutische Fragestellungen treffen sich unterschiedliche Anregungen. Besonders wichtig wurden in den letzten Jahren Anstöße aus der Befreiungstheologie, aus der feministischen Exegese, aus der sozialgeschichtlichen Interpretation sowie aus der zeitgenössischen Sprachwissenschaft, insbesondere aus der Semiotik. Dabei kündigt sich eine Konvergenz von Konzeptionen an, die sich unterschiedlichen Ausgangspunkten verdanken. Gemeinsam ist ihnen zum einen, daß sie nicht nur nach der Relevanz von tradierten Texten für die heutige Lebenspraxis der Glaubenden, sondern zugleich nach der Relevanz dieser Lebenspraxis für jene Texte fragen; das bedeutet vor allem, daß diese Hermeneutik den Charakter politischer Hermeneutik trägt. Gemeinsam ist ihnen zum andern, daß sie nicht eine abgesonderte Interpretationslehre für biblische Texte vertreten, sondern diese im Dialog mit der allgemeinen Hermeneutik entwickeln wollen. In einem Umfang, den Ende der sechziger 9
Jahre kaum jemand vorauszusagen gewagt hätte, erweist sich eine erneuerte und politisch bewußte Hermeneutik Ende der achtziger Jahre als ein wichtiges Element ökumenischer Verständigung über die Grenzen kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Unterschiede hinweg. Sie bildet deshalb ein notwendiges Thema für die Schriftenreihe »Ökumenische Existenz heute«. Der 1930 geborene argentinische Theologe J ose Severino Croatto, als Alttestamentler ebenso ausgewiesen wie als Orientalist, lehrt seit 1977 Altes Testament und Hebräisch am ISEDET (Instituto Superior EvangcHico de Estudios Teol6gicos) in Buenos Aires. In der ersten Phase seiner wissenschaftlichen Arbeit wandte er sich dem historischen Kontext des Alten Testaments zu und befaßte sich dafür mit Biblischer Archäologie, Geschichte des Alten Orients, semitischen Sprachen und Religionsgeschichte. Später rückte die theologische Auslegung der biblischen Texte in die Mitte seiner Arbeit. Dabei erkannte er die Notwendigkeit einer neuen, befreiungstheologischen Hermeneutik: so wurde er zum Wortführer einer neuen biblischen Exegese in und für Lateinamerika, einer »interpretacion biblica latinoamericana«. Croatto selbst hat seinen neuen Ansatz nicht nur in vielen Aufsätzen entfaltet, sondern auch in einem Kommentar zu Jesaja 1-39 durchgeführt; Kommentare zu Jesaja 40-66 und zum Buch Genesis sind angekündigt. In seinen Überlegungen zur Hermeneutik geht Croatto von grundlegenden Einsichten der lateinamerikanischen Befreiungstheologie aus. Sein hier vorgelegter Essay ist mit anderen bedeutenden Texten dieser Theologie durch die Souveränität verbunden, mit der er die Diskussion der »westlichen« Theologie resümiert und ihre Engführungen aufdeckt. In seinen Überlegungen findet der lange Umgang mit biblischen Texten ebenso seinen Niederschlag wie die wiederholte, sorgsame Reflexion des hermeneutischen Problems. Die wichtigste Zusammenfassung seiner biblischen Theologie bildet sein Werk »Historia de la salvaci6n«'}. Eine erste, knappe Vortragsfassung seiner hermeneutischen Überlegungen wurde bereits vor einem Jahrzehnt
* J. S. Croatto. Historia de la salvaci6n. Buenos Aires 61983. 10
in deutscher Sprache veröffentlicht'~; mit diesem Essay liegt seine Konzeption nun in ausgereifter Gestalt vor. Zu den eindrucksvollsten Besonderheiten von Croattos Zugang zum Problem der Hermeneutik gehört, daß er die Ansätze der Befreiungstheologie mit Einsichten verbindet, die sich für ihn aus der modernen Semiotik, also der Erforschung von Textstrukturen, ergeben. Im Mittelpunkt seines Nachdenkens steht die Überzeugung, daß Texte nicht einen abgeschlossenen Sinn haben, sondern einen wachsenden Sinnvorrat aus sich entlassen, der von den Lesern angeeignet wird. Lesen ist also nicht Sinnwiederholung, sondern Sinnproduktion. Im Blick auf die Auslegung der Bibel verbindet sich damit die andere These, daß sie uns nicht als eine Vielzahl unzusammenhängender Einzeltexte, sondern als ein Text entgegentritt. Der Sinn, den dieser Text für heutige Leserinnen und Leser enthalten kann, wird noch nicht erschlossen, wenn man die biblischen Überlieferungen in Einzelteile zerlegt und dadurch eine unzusammenhängende Sinnvielfalt erhält, sondern wenn man auf die Sinnachsen (semantischen Achsen) achtet, die sich durch den biblischen Text im Ganzen ziehen. Eine dieser Sinnachsen zeigt sich darin, daß der biblische Text vor allem aus Erfahrungen des Leidens und der Unterdrückung entsteht, daß er vom Vertrauen auf das geschichtliche Ereignis von Gnade und Befreiung geprägt und von der Hoffnung auf Rettung bestimmt ist. Dieser Sinnachse der Bibel entspricht Croattos Aussage: »Die Bibel gehört den Armen«, die der deutschen Ausgabe den Titel gegeben hat. Aus diesem Verständnis ergibt sich nicht nur eine Kritik an einer Interpretation der biblischen Texte aus der Perspektive einer mächtigen und männlichen Theologie. Croattos Kritik richtet sich zugleich gegen verbreitete Verfahrensweisen der Ex-
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Ders., Befreiung und Freiheit. Biblische Hermeneutik für die »Theologie der Befreiung« (Vortrag im Ökumenischen Institut in Bossey 1978),
in: Evangelisches Missionswerk (Hg.), Weltmission heute zum Thema: Theologie in der Dritten Welt, Hamburg 1979; wieder abgedruckt in: H.-J. Prien (Hg.), Lateinamerika: Gesellschaft, Theologie, Kirche, Bd. 2, Göttingen 1981,40-59.
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egese wie der systematischen Urteilsbildung in der Theologie. Zwei Richtungen dieser Kritik will ich hervorheben: Zum einen wendet sich Croatto dagegen, die biblischen Texte auf ihr vorkanonisches Stadium zu fixieren und dadurch in falscher Weise zu historisieren; er schließt sich also denjenigen neueren Überlegungen in der Exegese an, die als »canonical approach« zusammengefaßt werden. Zum andern wendet er sich gegen eine theologische Methode, die er als »konkordistisch« bezeichnet. Biblische Texte erweisen sich gemäß dieser Methode dann als relevant, wenn zwischen den berichteten Ereignissen und der eigenen Situation eine Entsprechung besteht. Damit aber wird der Sinn der biblischen Texte an bestimmte äußere Ereignisse gebunden; er wird in seine historische Ursprungssituation eingeschlossen. Das aber kann gerade nicht der Sinn einer kontextuellen Interpretation sein. Hermeneutische Bemühungen richten sich nach Croatto nicht darauf, einen Autor zu verstehen - also auch nicht, wie eine oft wiederholte Aussage der früheren Hermeneutik sagte: einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstand. Sie richten sich vielmehr darauf, einen Text zu verstehen; zu dessen Wesen gehört eine prinzipiell unabschließbare Sinnvielfalt, die über die Intentionen des Autors weit hinausreichen kann. Dieser Ausgangspunkt eröffnet den Zugang zu neuen Orientierungen in der Hermeneutik - vielleicht auch über Croattos Ansatz hinaus. Doch schon ihm erschließt sich durch seine Grundentscheidungen der Weg zur Neuinterpretation zentraler theologischer Begriffe. Erhellend wird für viele Leserinnen und Leser vor allem sein, wie er die Begriffe »Offenbarung« und »Inspiration« versteht. Diese Bemerkungen mögen genügen, um zu erläutern, was deutschsprachige Leserinnen und Leser von diesem knappen Essay erwarten können. Dem Übersetzer Christoph Schroeder sei für die deutsche Textvorlage gedankt; die von Croatto verwendeten Abkürzungen wurden gemäß dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie vereinheitlicht. Wolfgang Huber
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Vorwort
Ausgangspunkt dieses Essays ist die Überzeugung, daß die Bibel kein abgeschlossenes Depositum ist, in dem schon alles endgültig gesagt ist. Sie ist vielmehr ein Text, der in der Gegenwart »spricht« - aber der als» Text« redet, nicht als diffuses und existentiales Wort mit der grundlegenden Absicht, mich in die Entscheidung zu rufen. Die innere Spannung eines Textes, die darin liegt, daß er einerseits in einem bestimmten kulturellen Horizont formuliert worden ist, der nicht mehr der unsere ist, und andererseits lebendiges Wort ist, das die Geschichte bewegen kann, läßt sich nur in einem fruchtbaren neuen Lesen! aufheben. Darin liegt das Problem der biblischen Hermeneutik. In einer kleinen früheren Arbeit2 habe ich eine hermeneutische Übung über das Thema Exodus durchgeführt. Da diese Arbeit in der theologischen Welt vor allem der unterdrückten Länder auf Anerkennung gestoßen ist, habe ich mich entschlossen, viele Aspekte zu erweitern und zu vertiefen und dabei die Gedankenführung zu verändern: Bemühte ich mich dort um eine hermeneutische Praxis mit wenig Theorieelementen, so will ich hier eine hermeneutische Theorie entfalten, untermauert mit Beispielen aus vielen Themenbereichen, nicht aus einem einzigen wie dem Exodus. Damals habe ich ein einziges Thema gewählt, um die durch Neuinterpretation in Gang gekommene Sinnentwicklung eines in kerygmatisches Grundrnaß umgewan-
1 Für den spanischen Terminus ,relectura, gibt es keinen genau entsprechenden deutschen Begriff. Im folgenden ist >relectura' mit meues Lesen" >Neuinterpretation, oder - wenn vom Kontext her eindeutig - mit dem französischen Lehnwort ,relecture, wiedergegeben. Entsprechendes gilt für das Verb ,releer" das mit meulesen" ,wiederlesen, oder meuinterpretieren' übersetzt wird (Anm. des Übersetzers). 2 J. S. Croatto, Liberaci6n y libertad. Pautas herment!uticas, Buenos Aires 1973/Lima 1978; englische Ausgabe: Exodus. A Hermeneutics of Freedom, New York 1981; portugiesische Ausgabe: ~xodo. Uma Hermeneutica da Liberdade, Sao Paulo 1981, 197ff.
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delten Ereignisses aufzuzeigen. Das ist ein Aspekt des hermeneutischen Prozesses, der hervorgehoben werden sollte. Nun wende ich mich verschiedenen biblischen Themen zu, um zu zeigen, daß jenes Phänomen allgegenwärtig ist und einen wesentlichen Zug der Glaubenserfahrung Israels und der urchristlichen Gemeinde ausdrückt. Es geht mir nicht darum, etwas zu erfinden. Die biblische Hermeneutik ist einfach eine Methode der Bibellektüre, die es zu entfalten und zu organisieren gilt. Sie bedarf der Entfaltung, weil man sie zwar immer praktiziert hat, oft jedoch ohne es zu erkennen. Wir werden sehen, daß es keine Lektüre gibt, die nicht hermeneutisch ist. Das zu wissen, ist schon ein großer Schritt. Andererseits bedarf die Methode der Organisation, damit man sie zu gebrauchen lernt und sie legitimieren kann. Es ist eine Tatsache: Je mehr sich das christliche Leben und damit auch die Theologie erneuert, desto mehr geht man bereits hermeneutisch vor. Faktum ist, daß dieser Erneuerung von einer traditionellen Praxis und Theologie her Widerstand entgegengesetzt wird. Besonders deutlich wird dies bei kultureller, wirtschaftlicher, politischer und religiöser Unterdrückung. Darin liegt schon ein Hinweis darauf, wer der wahre Adressat der befreienden Botschaft der Bibel ist. Deshalb ist es notwendig und vordringlich, über ein theoretisches Instrumentarium zu verfügen, das uns eine Lektüre der Bibel erlaubt, die ihren Sinnvorrat für uns freisetzt. Für viele Christen ist die Bibel eher ein Problem als eine klare Botschaft: durch ihren Ursprung weit von unserer Zeit und unserem Raum entfernt; mit alten und in ihrem langen literarischen Werden oft nicht ausgeglichenen Gedanken; mit einem häufig schwierigen Endtext. Und dies steht der erhofften Klarheit einer »Botschaft« entgegen und erscheint wenig anziehend für die Unmittelbarkeit der Praxis. Gilt, was sie sagt? Ist es nötig, daß sie etwas »sage«? Wenn sie Gottes Wort ist: Um welchen Gott handelt es sich - um unseren oder den der Hebräer? Es taucht eine Fülle von Fragen auf.
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Einleitung
»Hermeneutik« entspricht dem gebräuchlichen Begriff »Interpretation«. Das griechische hermeneuo ist gleichbedeutend mit interpretieren. So drücken zwei verschiedene, ein griechisches und ein lateinisches Wort denselben Sachverhalt aus. Weil »Interpretation« aber, zum Allgemeinbegriff geworden, an Präzision verloren hat, wird der Terminus »Hermeneutik« bevorzugt, um insbesondere drei Aspekte hervorzuheben, die erläutert werden müssen: Die Textinterpretation ist der bevorzugte Bereich des hermeneutischen Vorgangs. Später werden wir sehen, welche anderen Gesichtspunkte diese Aussage mitenthält. Zweitens wird vorausgesetzt, daß der Interpret seine Lektüre von einer Art Vorverständnis abhängig macht, das aus seinem eigenen Lebenszusammenhang erwächst; und drittens - und das wird nicht immer deutlich genug, steht jedoch in meiner Darlegung im Mittelpunkt - läßt der hermeneutische Prozeß den Sinn des interpretierten Textes wachsen. Ich denke, daß jede Interpretation, sei es von Texten oder von Ereignissen, diese Aspekte in sich birgt. Deshalb werde ich in dieser Abhandlung weder darauf achten, Text und Ereignis zu unterscheiden, noch werde ich mich auf Texte beschränken. So wird sich zeigen, daß die Interpretation von Texten die Interpretation bestimmter Handlungen oder Ereignisse voraussetzt und so die Bildung von Texten ihren Ursprung in einer Erfahrung hat, die interpretiert wird. Daher wird die Grenze, die zum Beispiel P. Ricoeur der Hermeneutik setzt, wenn er sie als »Theorie des Verstehens in bezug auf die Interpretation von Texten«J definiert, weit überschritten werden. Text und Ereignis oder Geschehen stehen unter hermeneutischem Gesichtspunkt in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander. Besonders
3 P. Ricoeur, La tache de l'hermeneutique, in: F. Bovon/G. Rouiller (Ed.), Exegesis. Problemes de methode et exercices de lecture, Neuchatel-Paris 1975,179-200 (vgl. 179)(Hervorhebung von mir).
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zu unterstreichen ist das im Fall der Bibel, die auf die großen Heilstaten Gottes verweist, und ihrer Lektüre, die von der Praxis des Glaubens ausgeht. Damit ist deutlich geworden, daß das Lesen biblischer Texte von zwei .geschichtlichen Polen bestimmt ist. Der Text steht in der Mitte. Das bedeutet bereits die entscheidende Anerkennung der Bibel als Text, eines Textes allerdings, der aus zwei Strömen des Lebens gespeist wird. Es gibt keine biblische Hermeneutik, die von einer philosophischen, soziologischen oder einer anderen zu unterscheiden wäre. Es gibt eine einzige Hermeneutik mit vielen besonderen Ausdrucksformen." Methode und Vorgang stimmen in allen Fällen überein. Darüber hinaus hat die biblische Hermeneutik sicherlich ein besonderes Merkmal darin, daß sie Texte mit einer langen Geschichte von Entstehung und Neugestaltung umfaßt. Sie sind in einem Volk mit einem ebenfalls langen Lebensweg entstanden, das sie durch ein geradliniges teleologisches Geschichtsverständnis, das bereits eine große interpretatorische Arbeit in sich birgt, zusammengestellt hat. Es ist hier nicht der Ort für die Darstellung einer Geschichte der allgemeinen oder der speziell biblischen Hermeneutik. Es ist jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Hermeneutik drei Gestaltungsmomente gekannt hat, die ich in zeitlich umgekehrter Reihenfolge anführe, um so zu zeigen, daß, was neu erscheint, dies letztlich gar nicht ist: a) In philosophischem Zusammenhang wird das Problem seit Schleiermacher (ca. 1800) und Dilthey (ca. 1900) aufgeworfenüber Heidegger bis zu Gadamer und Ricoeur, mit den bekannten Anwendungen auf das Gebiet der Theologie (Fuchs, Ebeling, Bultmann und seine Schüler). Auffallend bei den beiden ersten ist ihr besonderes Interesse für das Dahinter des Textes (die Geschichte, den Autor). Es wird erforscht: Wer äußert sich in diesem Text; nicht: Was sagt dieser Text aus. Heidegger geht
4 Das macht P. Ricoeur deutlich, a. a. 0., 180; ders., Hermeneutique philosophique et hermeneutique biblique, ebd., 216-228; s. auch ders./ E. Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh 1974, Sonderheft, 24-45.
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von der Epistemologie zur Ontologie über. Das fragende Wesen ist ein in (der Welt) Seiendes, das sich im Akt des Interpretierens 'Vorversteht. Es gibt ein »Dasein« in der Welt, das die Interpretation bestimmt. Das richtet sich gegen den Anspruch des Subjekts, Maß der Objektivität zu sein, gehört es doch zu seinem Wesen, immer schon »Bewohner« dieser ihn eingrenzenden Welt zu sein. Heidegger unternimmt den Weg zu den Grundlagen, kehrt aber nicht zur Epistemologie zurück. Gadamer betont, daß der Mensch innerhalb einer Tradition steht und daß das Verstehen ein durch jene Tradition eingegrenzter Vorgang ist, Ausdruck der Zugehörigkeit zur Geschichte. Die geschichtliche Distanz zwischen Text und Interpret erfordert eine »Horizontverschmelzung«, die ~öglich ist, weil man selber zur Geschichte gehört. Der Beitrag Ricoeurs, der seinerseits Heidegger auslegt, besteht darin, den Umweg über die Linguistik genommen zu haben, um so zu einer fruchtbaren Theorie der Hermeneutik zu kommen. Die erwähnten Anwendungen auf das Gebiet der Theologie haben vor Ricoeur stattgefunden und sind von einer Überbewertung des biblischen Wortes als eines gegenwärtigen »Ereignisses« bestimmt (weiter unten werde ich in einer Umkehrung der Begriffe von einem Wort gewordenen Ereignis sprechen). Diese Marksteine der Reflexion über die Hermeneutik haben in bemerkenswerter Weise zu einer philosophischen Synthese beigetragen, die ihre Spuren in der Theologie hinterläßt. Aber sie stellen keine absolute Neuerung dar. b) Tatsächlich war die theologische Diskussion über die Auslegung der Schrift während der langen mittelalterlichen Tradition etwas Alltägliches. Neben oder über den wörtlichen Sinn legte man einen geistlichen Sinn, der verschiedene Namen tragen konnte (allegorisch, mystisch, messianisch, christologisch und so fort). Typisch war der Disput über den vierfachen Schriftsinn der Bibel: wörtlich, allegorisch (= christologisch), moralisch (»tropologisch« genannt, das heißt auf die Gewohnheiten bezogen) und eschatologisch (genannt »anagogisch«, das heißt auf etwas hinführend). Eine Unzahl von Theorien kam auf. Der Grund dafür liegt darin, daß Hermeneutik vorausgesetzt wird: Der Text des Alten Testaments erschöpft sich nicht in seiner ersten Absicht, sondern er hat darüber hinaus etwas zu sagen. 17
c) Ein anderer, älterer Versuch, das Problem der Hermeneutik zu formulieren, war der des Philo von Alexandrien im ersten vorchristlichen Jahrhundert; nicht 'allein deshalb, weil er die hebräischen Traditionen von einern griechischen Parameter aus interpretiert hat (typisch sein Genesiskommentar De opificio mundi), sondern vor allem wegen seiner Bemühung, das Problem der Sprache zu verstehen. s Oben wurde bereits gesagt, daß diese drei Versuche zu etlichen anderen Bemühungen gehören, das Problem der Interpretation von - historischen, biblischen - Texten oder der menschlichen Existenz selbst zu durchdenken. Nun ist nicht einmal dies neu. Der hermeneutische Prozeß ist - auch wenn er nicht eigens thematisiert wird - konstitutiv für jede religiöse oder nichtreligiöse Tradition. Selbst die Bibel ist ohne diesen Prozeß nicht zu verstehen. Aber im Rabbinismus der zwischentestamentlichen Zeit kann man die Absicht entdecken, einen zweiten hinter dem ersten Sinn eines Textes zu erkennen, einen tiefen Sinn hinter dem einfachen Wortsinn (Deras und PeSat in der damaligen aramäischen Terminologie).6 Diese Fragen werden bei der Behandlung von Targum und Midrasch weiter unten wieder auftauchen. Dieser historische Abriß macht uns Mut, uns nun in direkter Beschäftigung mit der Bibel auf das Thema einzulassen. Die Bibel ist ein Gegenstand bestimmter Fragestellungen gewesen, die alle darauf ausgerichtet waren, ihren Sinn oder ihre Botschaft zu erforschen. Einige beschäftigten sich mit der Problematik gegenwartsnaher Bibelauslegung, andere versuchten, zu ihrem Gehalt vorzudringen. Ich weise auf fünf Arten der Annäherung hin: 1. Gegenüber dem Text der gegenwärtigen Wirklichkeit, in dem - verstanden als erster »theologischer Ort« - der Gott zu
5 Vgl. K. Otte, Das Sprachverständnis bei Philo von Alexandrien. Sprache als Mittel der Hermeneutik (BGBE 7), Tübingen 1968; l. Christiansen, Die Technik der allegorischen Auslegungswissenschaft bei Philo von Alexandrien (BGBH 7), Tübingen 1969. 6 S. A. Diez Macho, Deras y exegesis deI Nuevo Testamento, Sef. 35 (1975),37-89; ders., EI Targum. Introducci6n a las traducciones aramaicas de la Biblia, Madrid 21979.
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entdecken ist, der zu dem Menschen spricht und ihn anruft, rückt die Bibel als unzeitgemäßer Text auf eine zweite Ebene: Die gegenwärtige Wirklichkeit ist so bedeutungs geladen, daß ihr gegenüber alles andere theologisch Bedeutende sekundär wird. Ist die Entscheidung klar, braucht man sich nicht an die Bipel zu wenden. Ist das nicht die Haltung vieler Christen, die dem revolutionären Kampf gegen die ungerechten Strukturen dieses Systems, in dem wir leben müssen, verpflichtet sind? Welche »neue« Botschaft bringt ihnen das Evangelium? Das ist eine ernste Frage, aber ich glaube, daß es methodologische Schwierigkeiten gibt, wenn man auf diese Weise aus der traditionellen Lektüre der Bibel, die sich der realen Geschichte der Menschen entfremdet hat, ausbricht. Die Schwierigkeit ist bei einigen Befreiungstheologen offenkundig, die mehr als andere die soziohistorische Wirklichkeit als Parameter theologischen Nachdenkens in den Vordergrund stellen. 2. Ein anderer Weg besteht darin, die Bibel so anzu.nehmen, wie sie ist, und nach Entsprechungen zwischen der eigenen Situation und den berichteten Ereignissen zu suchen. Gibt es dort Übereinstimmungen, scheint Gott durch das archetypische Ereignis hindurchzusprechen. Schon auf den ersten Blick ist diese Annäherung an die Bibel konkordistisch. Nun ist der Konkordismus (der besonders bei den fundamentalistischen Schriftauslegungen weit verbreitet ist) in doppelter Weise negativ: a) Er reduziert die Botschaft auf Situationen, die ihr Äquivalent in der Erfahrung Israels oder der urchristlichen Gemeinde haben als wenn Gott auf keine andere Weise sprechen oder sich offenbaren könnte. Das ist ein theologischer Reduktionismus. b) Der Konkordismus reduziert die Botschaft auf die Ebene einer äußeren Faktizität und verwechselt das, was geschieht, mit seinem Sinn. Dieselbe Gefahr besteht, wenn in einigen Theologien versucht wird, eine Kontinuität zwischen den Ideen des Alten und Neuen Testaments und denen einer bestimmtenasiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen - Kultur zu finden. Was geschieht dort, wo solche kulturellen Übereinstimmungen fehlen wie etwa zwischen der hebräischen und der griechischen Anthropologie? So wäre für die Griechen ein sich offenbarender Gott fast undenkbar. Andererseits entdeckt man 19
auf einmal, daß die afrikanischen und einige präkolumbianische Traditionen viele Gemeinsamkeiten mit dem hebräischen Weltbild aufweisen. Man verwechselt das Kerygma mit seiner kulturellen Einkleidung oder Kontextualisierung. Es ist zwar richtig, daß die Suche nach »Syntonien« zwischen der Bibel und dem gegenwärtigen - kulturellen, vor allem aber gesellschafts geschichtlichen - Kontext ein Ausgangspunkt dafür sein kann, die Bedeutung der Bibel für den heutigen Menschen zu untersuchen. Wirklich armselig aber ist der historische und wissenschaftliche Konkordismus, der die Bibel mit bestimmten Daten der modernen Wissenschaften bestätigen (geologische Zeitalter und Schöpfungstage) oder geschichtliche Ereignisse der Bibel und der Gegenwart einander angleichen will. Im ersten Fall kann es solch eine Bestätigung nicht geben; in beiden wird der heilige Text seines kerygmatischen Gehaltes entleert, und jeder hermeneutische Versuch, einen tieferen Sinn des Textes zu erforschen, wird überflüssig. Man möchte kaum glauben, daß die konkordistische Auslegung der Bibel so weit verbreitet gewesen ist, sogar im Bereich der systematischen Theologie! 3. Die von der modernen Bibelkritik formulierten exegetischen Methoden haben in dem Maß neue Pfade zur Annäherung an die Bibel eröffnet, als sie mit der Wiederentdeckung des historischen und kulturellen Horizonts, in dem die Bibel entstanden ist, eine bessere Kontextualisierung des ursprünglichen Sinnes eines jeden Abschnittes ermöglichen. Die exegetische Kritik hat in erster Linie mit den naiven »historizistischen« und konkordistischen Bibelauslegungen gebrochen, die - wie ich vorhin andeutete - den wirklichen Sinn des Textes verfehlen. Aber vor allem weitet sich die Basis für die Erforschung der Texte bedeutend aus. Die Literarkritik und die Form- und Gattungsgeschichte, die Geschichte der - mündlichen und schriftlichen Tradition und die Redaktionsgeschichte haben die biblischen Studien in den letzten Jahrzehnten revolutioniert. Sie haben auf diese Weise viele Mängel der christlichen Theologie beseitigt und indirekt eine Erneuerung auf allen Feldern theologischer Aktivität bewirkt. Abgesehen von diesem unschätzbaren Wert ist der übertriebene und manchmal reduktionistische Gebrauch dieser Methoden 20
mit Risiken verbunden. Zum einen zeigen sie das »Dahinter«, die Archäologie des vorliegenden Textes und verlagern so die Aufmerksamkeit des Exegeten oder des Bibellesers auf ein präkanonisches Stadium. Der Pentateuch z. B. wird gemäß der »jahwistischen«, »elohistischen«, »deuteronomistischen«, »priesterschriftlichen« und anderen Theologien interpretiert. Der Nachdruck liegt auf dem Prätext: Ausgehend von der Literarkritik, die die Spuren der Textbildung sichert, führen die anderen Methoden bis zu entfernten Ursprüngen und dann über die Redaktionsgeschichte zur gegenwärtigen Beschaffenheit eines Werkes oder des Teiles eines solchen zurück. Dieser weite Bogen vom Text her und zu ihm zurück führt eher zu einer Geschichte des Textes als zur Ausdeutung seines Sinnes. Im günstigsten Fall wird dieser mit dem Sinn der früheren Schichten gleichgesetzt, sofern sie uns zugänglich sind. Trotzdem kann ich den Pentateuch nicht auf der Basis des »Jahwisten« usw. verstehen, sei es, weil ich nicht weiß, wieviel von seinem Werk in der vorliegenden redaktionellen Bearbeitung wiederverwertet worden ist, sei es, weil der Autor des Pentateuchs ein neues Werk geschaffen hat. Der Sinn liegt also nicht in den verwendeten Fragmenten, sondern in der neu strukturierten Gesamtheit. Die Redaktionsgeschichte schwächt diesen Mangel etwas ab, spricht jedoch von »Redaktor« an Stelle von »Autor«, bezeichnet sich selbst als »Geschichte der Redaktion« und legt damit den Akzent mehr auf die Gestaltung des Textes als auf diesen selbst. Zudem hat das dem westlichen Bewußtsein seit einigen Jahrhunderten eigene Streben, die Wahrheit der Geisteswissenschaften zu begründen/ die ganze Aufmerksamkeit auf den wörtlichen, als »historisch« verstandenen Text konzentriert. (Schon die Bezeichnung als historisch-kritische Methode zeigt das.) Das ist eine Art von Reduktionismus. 8 Daher rührt das Interesse für die Absicht des »Redaktors« die-
7 Eine Zusammenfassung des Problems bei Ricoeur, La tache... (vgl. Anm.3),18tH. 8 B. S. Childs, The sensus litteralis of Scripture. An Ancient and Modern Problem, in: H. DonneriR. Hanhart/R. Smend (Hg.), Beiträge zur Alt-
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ses oder jenes Textes, der mit allen verfügbaren Mitteln kontextualisiert wird. Das ist wichtig, solange man nicht den Sinn letzten Endes in der Vorredaktion aufgehen läßt. Klammert man sich als einzigen Sinn an die Absicht des Autors oder Redaktors, läuft man überdies Gefahr, die Botschaft der Bibel auf Vergangenes festzulegen. So hält man sie als »Depositum« mit einem abgeschlossenen Sinn fest, in Übereinstimmung mit dem Denken des Redaktors wenn nicht der Präredaktoren des vorliegenden Textes. Ich denke, daß die Bedeutungsmöglichkeiten eines Textes hier nicht aufhören. Besonders für die Theologie der unterdrückten Völker erweist sich diese Annäherung als einseitig, ihrer unentbehrlichen Wichtigkeit zum Trotz. Hier darf man nicht stehenbleiben, sondern muß beginnen. 4. Ein jüngerer Beitrag zur Erforschung der Bibel stammt von den Sprachwissenschaften, besonders von der Linguistik und der narrativen Semiotik. Literatur- und Sprachwissenschaft haben zwar immer zum Verständnis der Bibel beigetragen, doch lassen sich besonders die jüngsten Ergebnisse der Strukturanalyse auf die biblischen Texte erfolgreich anwenden. Das Studium der sogenannten Tiefenstruktur - der narrativen (Aktanten und Funktionen) und der diskursiven (thematische Rollen, Sinnachsen) - hilft den Sinn eines Textes zu erfassen. Die Oberflächenstruktur ist noch ergiebiger, denn sie gibt uns bestimmte Leseschlüssel an die Hand, die sich aus der Codierung des Textes ergeben. Diese Methode bereichert zwar, ist jedoch auch nur ein Ausgangspunkt für die Erforschung des Sinnes. Weiter unten werden wir sehen, wie nützlich sie ist. Aber für sich betrachtet ist die Methode reduktionistisch, denn sie abstrahiert vom »Leben« des Textes, von seiner Geschichte, seiner kulturellen, sozialen und religiösen Umwelt. 5. Der fünfte Weg zur Erschließung des biblischen Kerygmas ist der der Hermeneutik. 9 Er ist das Thema des vorliegenden
testamentliehen Theologie (FS W. Zimmerli), Göttingen 1977, 80-93, bes.88ff. 9 Einen Gesamtüberbliek bieten: C. E. Braaten, History and Hermeneuties, London 1968, Kap. VI; H. Kimmerle, Hermeneutieal Theory or
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Essays. Zuvor noch ein paar vorläufige Überlegungen. Weiter oben habe ich schon auf die feinere Nuancierung des Begriffs gegenüber dem Terminus »Interpretation« angespielt. Aber vor allem reicht weder der Bultmannsehe Begriff von »Hermeneutik« noch der der »Neuen Hermeneutik« von Fuchs, Ebcling und ihren Nachfolgern aus. Daß es in der Auslegung der Bibel ein Vorverständnis gibt, habe ich verstanden, und das ist für mich höchst wertvoll. Daß sie ein Sprach- oder Wortereignis in seiner vollen gegenwärtigen Dichte sei, erschöpft sie nicht und ist unzureichend. Die objektive Beschaffenheit der Bibel wird nicht im Hinblick auf ihre Sprache erklärt, man mißachtet den ursprünglichen Verweisungsbezug des Textes lO und begünstigt eine individualistische Auslegung. Soll die Hermeneutik in ihrem ganzen Reichtum und methodologischen Wert begriffen werden, ist es angebracht, den Umweg über die Sprachwissenschaften zu wählen. Da es in der Hermeneutik um die Interpretation von Texten geht - oder von in Sprache gefaßten Ereignissen -, ist es nötig, sie vor allem auf die Basis der Semiotik, der Wissenschaft von den Zeichen, zu stellen, deren umfassendster Ausdruck die Sprache in ihrem eigentlichen Sinn ist. Eine weitere Gemeinsamkeit liegt in der Tatsache, daß die Hermeneutik wie die Semiotik mit dem Lesen als Sinnproduktion (und nicht -wiederholung) zu tun hat. Auf den ersten Blick stehen wir vor einem Paradox: Die Hermeneutik scheint an die Diachronie gebunden, ans Werden des Sinnes, an die Semantik und die Umgestaltung des Textsinns. Die Semiotik dagegen räumt der Synchronie einen bevorzugten Platz ein, der Gleichzeitigkeit, den Strukturgesetzen, die den sprach~ lichen Vollzug leiten. Ich verbinde jedoch beide durch einen »Umweg«, nicht durch Vermischung oder Identifikation. Her-
Ontological Hermeneutics, in: History and Hermeneutic, New York 1967, 107-121j].M. Robinson/].B. Cobb, Die neue Hermeneutik, Zürich/Stuttgart 1965. 10 Dieser ursprüngliche Bezug .eines Textes wird auch als »ontologischer (= historischer) Parameter« bezeichnet. Vgl. R. Lapointe, Les trois dimensions de l'hermeneutique, Paris 1967, 89 ff.
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meneutik und Semiotik sind diametral entgegengesetzte Einstellungen, die sich jedoch nicht widersprechen, sondern aufeinander zulaufen. Bei der Anwendung der Semiotik auf die Hermeneutik wird die Hermeneutik durch diese als solide begründet erscheinen. Schlagen wir also diesen langen Weg ein, an dessen Ende eine besser beleuchtete biblische Hermeneutik stehen wird. Ich schließe diese Einführung mit dem folgenden Schema ab, in dem die Einstellungen oder Zugänge zum biblischen Text (wie zu jedem anderen literarischen Werk) zusammengefaßt sind. (Die Zahlen verweisen auf die vorangehenden Textabschnitte; nur Nr. 2 ist ausgenommen.)
IOberflächenstruktur I ITEXTI (
Historisch-kritische Methoden (vom Text zu seinem Ursprung, und Rückkehr zum Text) (s. Nr. 3)
Narrative Komponente Diskursive Komponente I...:
v
Tiefenstruktur (s. Nr. 4)
v
Hermeneutik (nicht allein die gegenwärtige Wirklichkeit (s. Nr. 1), sondern von ihr zum Text und Rückkehr zum Leben) (s. Nr. 5)
Das Schema zeigt, daß ein Text von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet und nach unterschiedlichen Methoden studiert werden kann, die sich nicht wechselseitig ausschließen, sondern die - sollen sie zu einem besseren Verständnis eines Werkes, in unserem Fall der Bibel, führen - zusammenwirken müssen. Die einzige Annäherungsweise, die hierbei keinen Platz findet, ist die konkordistische (2); sie trägt nicht zum Sinn bei, sondern führt von ihm weg.
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I. Von der Semiotik zur Hermeneutik
Mein Interesse richtet sich auf die Hermeneutik, aber wie ich schon sagte, muß sich diese teilweise auf dem Feld der Semiotik verständlich machen. Texte und Ereignisse sind Zeichen, die zur Interpretation auffordern. Es soll an dieser Stelle keine Darstellung der Linguistik oder der Semiotik gegeben werden. Es genügt, auf einige mit der Sprache gegebene Sachverhalte hinzuweisen, die den hermeneutischen Vorgang verständlicher machen können.
1. Sprache als System und als Ereignis In der Linguistik wird gewöhnlich zwischen Sprache (langue, language) und Rede (parole, speech) unterschieden. Sprache ist ein System von Zeichen und Gesetzen, die für Grammatik und Syntax maßgeblich sind: eine Art »Kanon«, der Sinnregeln aufstellt. Seine Grundlage ist die Struktur, welche Differenzen, Gegensätze und geschlossene Beziehungen innerhalb jeder Sprache annimmt, die synchron und eher auf der unbewußten als auf der reflexiven Ebene funktionieren. Das Repertoire sprachlicher Zeichen ist in einer bestimmten Sprache begrenzt und abgeschlossen. (Es gibt eine Kombinationsgrenze.) Es unterliegt dagegen einer potentiellen Polysemie: Das Wort »Bank« z. B. läßt an ein Möbel oder an eine Geldinstitution denken. »Ton« ist entweder eine auf das Gehör wirkende gleichmäßige Schwingung der Luft oder eine Art schwere, gut formbare Erde. In allen Sprachen gibt es eine Vielzahl polysemer Vokabeln. Aber nicht allein sie, sondern auch die monosemen, die in der Mehrzahl sind, sagen so, wie sie in einem Wörterbuch kodiert sind, nichts aus. Auch ein Satz mit sprachlichem Sinn (unter »Sinn« verstehe ich die Beziehung zwischen Signifikant Zeichen oder Vokabel- und Signifikat oder Inhalt) kann, was den außersprachlichen Verweisungsbezug betrifft, mehrdeutig sein: »Jesus Christus rettet uns« ist zwar ein korrekter Satz, er hat grammatischen und existentialen Sinn, aber in seinem Bezug
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ist er mehrdeutig (wovon rettet er uns?, wann?, usw.). Es fehlt dem Satz etwas, das den Sinn in einer präzisen Richtung festlegt. Solcherart ist die Beschaffenheit der Sprache bezüglich ihrer Kompetenz. Aber dieses Zeichen system muß »aktualisiert« werden, wenn man es gebraucht, um etwas über etwas auszusagen. Damit sind wir schon beim Vorgang der Rede, die man als das »Ereignis« der Sprache verstehen kann. Sie ist der Akt, der die durch das Zeichensystem gegebenen Möglichkeiten aktualisiert. Drei Faktoren tragen dazu bei, den Sinn in einer bestimmten Richtung festzulegen: a) der Emittent oder Sprecher, der die Zeichen (Worte, Sätze, Codes oder in der jeweiligen Sprache gebräuchliche literarische Gattungen) auswählt, die die Botschaft befördern werden. Die Zeichen werden in eine Beziehung zueinander gesetzt und bilden so eine Struktur. Die Bestimmung der Struktur ist deshalb grundlegend für die Entschlüsselung einer Botschaft; das erklärt auch die Bedeutung der Strukturanalyse für die biblische Exegese wie für die eines jeden anderen Textes; b) ein Empfänger oder konkreter Gesprächspartner, an den sich die in bestimmter Form kodierte Botschaft wendet und der sie in einem Augenblicksvorgang zu entschlüsseln weiß - ein Wunder menschlicher Sprache; c) ein dem Emittenten und Empfänger gemeinsamer Kontext oder Verstehenshorizont, der eine Übereinstimmung im Verweisungsbezug oder der Bezeichnung ermöglicht, jenem also, wovon die Botschaft handelt. Ohne diese gemeinsame Umwelt (der linguistischen, kulturellen, sozialen, geographischen und vielen anderen Dimensionen der menschlichen Wirklichkeit) bleibt die Sprache weiterhin polysem. So muß im Akt des Sprechens eine aktuelle Festlegung der potentiellen Polysemie der Worte oder Sätze stattfinden. Andernfalls ist das Sprechen unmöglich, es sei denn, es wird - wie in der Poesie oder in der Symbolsprache - an einer beabsichtigten Polysemie festgehalten. Aber selbst in diesem Fall trägt der Kontext - und in jedem Fall der Dialog zwischen den Gesprächspartnern - dazu bei, den Sinn eines Wortes oder einer Aussage festzulegen. Andernfalls ist die Rede schon kein »J emandem-etwas-über-etwas-sa-
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gen« mehr; und das ist doch gerade die Absicht dessen, der spricht, der einem Freund einen Brief schreibt oder seinen Hörern eine Geschichte erzählt. Im Ereignis der »Rede« vollzieht der Empfänger der Botschaft einen Prozeß der Assimilierung oder Aufnahme des vom Emittenten für die Verständigung ausgewählten sprachlichen Codes. Wie es in der Musik geschieht, so auch in der Sprache: Die Botschaft wird nach einem bestimmten Schlüssel oder Code gegeben, den der Hörer augenblicklich erfaßt. Anders ist keine Verständigung möglich. Die Verwechslung der Codes führt zu einer völligen Verfälschung der Botschaft. Wie bei der Einstellung des Radios muß man auch in der Sprache die richtige »Wellenlänge« finden. Wir werden auf diese Frage zurückkommen, wenn wir uns mit dem eigentlichen hermeneutischen Prozeß befassen. Jetzt sollten wir uns nur ins Gedächtnis rufen, daß die traditionelle Bibellektüre hier an einem entscheidenden Punkt versagt hat, indem sie alle Texte nach dem »historischen« Schlüssel interpretiert hat. Bei keiner anderen Literatur hat man so elementare Fehler begangen. Es ist so, als hörte jemand jede musikalische Komposition in derselben Tonart oder dem Sinn eines einzigen Stils gemäß! Ich betone deshalb ein weiteres Mal die Bedeutung der Sprachwissenschaften - vor allem, wie wir sehen werden, der narrativen Semiotik -, um die Gültigkeit des Verstehens biblischer Texte zu bestätigen. 2. Sprache als Text und als Schrift Von der Sprache zur Rede, von der Kompetenz zu ihrer Aktualisierung oder Performanz, vom System zum Gebrauch findet eine erste Verfremdung statt, deren Kennzeichen die »Festlegung« des Sinns ist. Diese Distanz ist keine räumliche oder zeitliche, sondern eine logische. Auf dieser Stufe erschöpft die Sprache sich jedoch nicht. Tatsächlich findet eine neue Verfremdung (die wir die zweite nennen) statt, sobald die Rede in einem übermittelten »Text« Gestalt annimmt. Ich verstehe diesen Begriff in seinem weiteren Sinn, da ein Text auch mündlich sein kann. Mythos oder Lied z. B. werden gewöhnlich vor ihrer schriftlichen Fixierung von Generation zu Generation auf
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mündlichem Wege tradiert. Fast alle biblischen Erzählungen sind in irgendeiner Form mündlich überliefert worden. Und doch waren sie schon »Texte«. Ein Text ist nach seiner Etymologie ein »Gewebe«, ein Raster, in dem die Elemente der Sprache (Worte, Sätze, literarische Einheiten und andere Elemente) nach strukturierten Funktionen angeordnet sind, die als solche Sinn produzieren. Die Gesetze der Linguistik des Satzes wiederholen und erweitern sich auf der Ebene der Erzählung. lI Es gibt tatsächlich eine Grammatik und eine Syntax der Erzählung. Sie unterstreicht noch einmal die Struktur mit ihren »Differenzen« und Beziehungen und dem Charakter einer organisierten Gesamtheit. Ein Text ist etwas Strukturiertes und Bestimmtes. Er hat Grenzen und innere Beziehungen. Diese Beschaffenheit des Textes hat bedeutsame Folgen; deren erste ist seine Fähigkeit, durch das, was er ist, als Kodierung einer Botschaft Sinn zu geben. Zum zweiten öffnet sich der mündliche oder schriftliche Text einem neuen Verständnis aufgrund der angedeuteten zweiten Verfremdung, die sich zwischen der »Rede« oder dem Sprechakt und der Verleihung des Sinns in diesen oder jenen Text ereignet. Diese Verfremdung vollzieht sich bei den drei Faktoren, die vorher bei der Festlegung des Sinns mitgewirkt haben und die jetzt zu seiner Öffnung beitragen. Ich zähle sie auf und erläutere sie in derselben Reihenfolge: a) Im Text verschwindet der ursprüngliche Emittent. Der Autor (wenn wir von einer Schrift sprechen) »stirbt« im Akt der Kodierung seiner Botschaft. Die Sinngebung einer Erzählung oder eines Textes ist ein schöpferischer Akt, bei dem man - um es symbolisch auszudrücken - das Leben läßt. Die Konsequenzen dieses Vorgangs zu ermessen ist bezeichnend für eine Hermeneutik, die den Umweg über die Linguistik macht und die
11 Das ist ein Aspekt, der in der narrativen Semiotik stark hervorgehoben wird. Im Detail wird er von denen analysiert, die sich mit der Strukturanalyse des Berichts befassen (R. Barthes, T. Todorov,}. Kristeva u. a.). Im Falle der Bibel s. z. B.}. Calloud, Structural Analysis of Narrative, Philadelphia 1976.
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den Versuchen Schleiermachers oder der historisch-kritischen Methoden widerspricht, die den Autor eines Textes wiedergewinnen und wiederbeleben wollen. b) Auch der ursprüngliche Gesprächspartner ist nicht mehr präsent. Wer einen schriftlichen Text liest, eine traditionelle Erzählung, einen Mythos oder einen Abschnitt aus der Bibel hört, ist nicht sein erster Adressat. Dieser Wechsel der Adressaten der Botschaft ist bei den - mythischen oder nichtmythischen - religiösen Texten noch offensichtlicher, die im Lauf der Jahrhunderte zunehmend Bedeutung beanspruchen. c) Aus dem gleichen Grund verblaßt der Horizont des ersten Diskurses. Sei es, weil der kulturelle und historische Kontext nicht mehr derselbe ist, sei es, weil die gegenwärtigen Adressaten, die die Botschaft empfangen, in einer anderen »Welt« von Interessen, Sorgen, Kultur und so fort stehen. Diese drei von P. Ricoeur in seinen letzten Arbeiten zur Hermeneutik 12 deutlich herausgestellten Aspekte tragen, nimmt man sie zusammen, zum Verständnis des hermeneutischen Prozesses bei. Tatsächlich verschwindet a) der »Autor« als Wesen, das spricht, und das man nach dem Sinn des von ihm Gesagten fragen könnte. Von da an ist nicht mehr eine Person aus Fleisch und Blut der Erzähler, sondern ein mutmaßlicher Linguist. Jemand erzählt oder schreibt, aber allein im Text ist es möglich, ihn zu erkennen. Diese physische Abwesenheit bedeutet semantische Fülle. Die vom Sprecher erzwungene Sinnfestlegung verändert sich jetzt zu einer Sinnöffnung. Erzähler ist der Text selbst, nicht jemand außerhalb des Textes, den man um Erläuterungen bitten könnte. Diese Konzentration auf den Text ermöglicht es, seine Bedeutungsmöglichkeiten als Text zu erforschen. b) Nun entfernt die Ankunft eines neuen Empfängers der Botschaft, der wiederum in einem neuen Verstehenshorizont steht, den Text noch weiter aus seinem ursprünglichen
12 P. Ricoeur, Evenement et sens, AF 1971, 15-34; ders., La fonction hermeneutique de la distanciation, in: F. Bovon/G. Rouiller, Exegesis. Problemes de methode et exercices de lecture, Neuchatel-Paris 1975, 201-215, bes. 203ff.
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Rahmen und vom Kontakt zu seinem Autor. Wenn jemand spricht, übermittelt er eine Botschaft (sog. lokutionärer Sprechakt) mit einer bestimmten Lautstärke und Intensität (illokutionärer Sprechakt, der durch die Betonung, die Gestik usw. bestimmt wird) und einer Wirkung, die Teil der Botschaft ist (perlokutionärer Sprechakt).13 So gehen bei der Lektüre eines Textes die beiden letzten Nuancierungen verloren, denn sie sind - in abnehmender Reihenfolge - schlechter in einen Code eintragbar. Deshalb ist es nicht dasselbe, etwas als erster oder als zweiter Adressat zu hören. Nicht einmal das Hören einer Tonbandaufnahme wiederholt den Akt der ersten Mitteilung: Wenn auch die Adressaten dieselben sind, so wäre doch mindestens der Kontext schon ein anderer, und der Text wird andere Sinnwirkungen produzieren. Ebenso ist es, wenn wir einen Text »hören«: Es ist dann der Text, der spricht und nicht der, der ihn mit lauter Stimme den anderen vorliest, er ist nur ein weiterer Adressat. Es spricht aber auch nicht der Autor, denn dieser ist nicht mehr anwesend. Seine Gegenwart ist so scheinbar wie das Kreisen der Sonne um die Erde. Ein weiteres Mal kommen wir auf die Autonomie des Textes zurück, die die hermeneutische Offenheit des Leseaktes bedingt. Was also geschieht hier? An die Stelle des begrenzten Horizonts des Autors tritt eine textliche Unbegrenztheit. Der Text öffnet sich von neuem für eine Polysemie, die jetzt nicht nur - wie auf der Ebene der Sprache - potentiell da ist, sondern die durch jenes Netz von Bedeutungen, das ein Werk ausmacht, potenziert ist. Durch diese Öffnung des Textes dringt der neue Adressat mit seiner eigenen »Welt« ein. Wir können verstehen, daß ein an bestimmte Adressaten (Korinther, Römer und so fort) gerichteter Brief des Paulus, in dem Autor und Leser auf ein bestimmtes Problem Bezug genommen haben, seine Perspektive ändern mußte, als er in der Frühen Kirche universalisiert wurde. Die neuen Empfänger des Textes waren nicht durch die
13 }. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do Things with Words), Stuttgart 1962;j.R. Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt 1971.
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vorangegangene Lektüre der Christen dieser oder jener Gemeinde eingegrenzt; auch konnten sie Paulus nicht fragen, was er mit diesem oder jenem Satz gemeint habe. Jeder Text ist für viele Lesarten offen, von denen keine eine Wiederholung der anderen ist. Je größer der Abstand vom Autor ist, um so größere Bedeutung gewinnt die »relecture« eines Textes; und andererseits: Je größer die semantische Fülle eines Berichts ist, um so mehr entschwindet sein Autor dem Gesichtskreis des Interpreten. Aus diesem Grund sind heilige Texte und mythische Erzählungen meistens anonym - und zwar nicht nur, weil sie von einer Gemeinschaft ständig weiterentwickelt worden sind, sondern vor allem, weil ihre Bedeutung mehr darin liegt, was sie sagen, als darin, wer es sagt. Ihr Sinn gehalt scheint um so dichter zu sein, je weniger man über ihre Verfasser weiß. So haben wir keinerlei Nachricht von einem Autor des Alten Testaments 14 und nur wenige von Autoren des Neuen. Ein - allerdings nicht exklusives - Charakteristikum religiöser Texte ist es gerade, daß sie erst dann nachträglich einer bestimmten Persönlichkeit zugeschrieben werden (z. B. die Psalmen David, der Pentateuch dem Mose, die Weisheits bücher dem Salomo, einige neutestamentliche Schriften dem Paulus), wenn diese bereits aus irgend ein em Grund bedeutungsträchtig ist. Dabei handelt es sich um einen hermeneutischen Sachverhalt, der im Verlauf der Entwicklung unseres Themas erhellt werden wird. Eine andere Auswirkung desselben Phänomens ist die Sinnausweitung eines Textes durch wiederholte »relectures«, ohne daß dessen Autorschaft durch die Tradition abgeändert würde; so im Fall des Matthäusevangeliums und anderer Schriften des Neuen Testaments. Matthäus ist der Verfasser eines einfachen aramäischen Grundtextes; die gegenwärtige Form des ersten Evangeliums ist
14 Das Buch Sirach trägt den Namen seines Verfassers. Aber während dieser im griechischen Text (der LXX) Jesus, Sohn des Sirach, ist (50,27; 51,30), ist im (nicht kanonischen) hebräischen Text sein Sohn Simeon als Verfasser angegeben. Der literarische Prolog des Übersetzers bezieht das Werk auf dessen Großvater Jesus (V. 6). Diese Doppelüberlieferung ist bedeutsam.
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eine ihm folgende Neuerarbeitung, die jedoch in der Tradition weiterhin als Text von Matthäus gilt (zu dieser Frage siehe weiter unten Abschnitt I, 3, b). Am Ende dieses Abschnittes fasse ich das Thema noch einmal in einem Überblick zusammen, der Schlüsselaspekte des Behandelten wiedergibt: Sprache Phoneme, Begriffe
begrenztes und ab geschlossenes Repertoire benennt
zeitlos Polysemie 1. Verfremdung
Rede Anwendung/»EreignJs« unbegrenztes Repertoire sagt jemandem etwas über etwas
transitorisch, flüchtig Festlegung 2. Verfremdung
Text/Schrift narrative Codes/ Struktur
sagt einer Unzahl von Erzählern etwas über etwas beständig Polysemie
3. Lektüre als Sinnproduktion. Der hermeneutische Akt Die Semiotik begreift den Sinn nicht als etwas »Objektives« und Greifbares, das in einem Reinzustand im Text liegt, so daß der Exeget ihn dann dank seiner technischen Fähigkeit und seiner philologischen und historischen Hilfsmittel »auffinden« könnte. Wenn es so wäre, genügte es, das Glück zu haben, den Sinn des Textes zu finden. Wenn es viele Interpretationen gäbe, hieße das, daß alle bis auf eine falsch seien. Die Entscheidung darüber, welche Interpretation die wahre ist, müßte von einer »Autorität« außerhalb des Textes kommen. In letzter Instanz unterstellt diese Vorstellung, daß der Sinn eines Textes mit der Absicht seines Autors übereinstimmt und daß der gegenwärtige Leser die Lesart seiner ursprünglichen Adressaten zu wiederholen habe. So bleiben wir im exegetischen »Historizismus« gefangen. Noch schlimmer: Die Botschaft verkümmert und kann sich nicht in neuer schöpferischer Lektüre entfalten. Vielleicht hört sie sogar auf, eine Botschaft zu sein. Dennoch ist die Dynamik der Reinterpretation so gewaltig, daß alle Versuche, den Sinn eines bibli32
schen Textes festzulegen, zu Formulierungen geführt haben, die dann ihrerseits im Verlaufe der Zeit wiedergelesen werden mußten, so daß die Bestrebungen, den Sinn eines Textes zu fixieren, letzten Endes vergeblich und unrealistisch bleiben müssen. In Wirklichkeit aber schafft jede Lektüre, die von einem Text ausgeht, eine Aussage und dadurch einen Sinn. Man findet den Sinn nicht unmittelbar, sondern liest einen Text oder Bericht in einem Vorgang, der sein Aussagepotential, das die Semiotik untersucht, in Kraft setzt; der Text öffnet sich auf diese Weise verschiedenen selektiven Mustern. Auf der einen Seite ergibt die Strukturanalyse des Berichts (narratives Programm: Aktanten, Funktionen) und der Rede (semantische Achsen, semiotisches Quadrat, Verifizierung, und so weiter,IS im Hinblick auf die Gestaltung eines Sinnes innerhalb von möglichen anderen der Worte und Themen innerhalb einer Gesellschaft oder bestimmten Weltanschauung) keine mathematischen Resultate, sondern unterscheidet sich nach bestimmten durchgeführten Kombinationen. Die Sprache selbst kombiniert derartig viele semantische Elemente, daß keine Analyse sie vollständig beschreiben kann. J. Greimas weist darauf hin, daß die Vielfalt der Lesarten, die die semiotische Praxis annimmt, nicht darauf zurückzuführen ist, daß der Text zweideutig ist, sondern darauf, daß er vieles auf einmal sagen kann. 16 Und dabei ist die Strukturanalyse noch nicht einmal die Interpretation eines Textes, sondern erst deren Vorbereitung. Dann erst kommt es auf der eigentlich »interpretatorischen« Ebene zu Lesarten aus unterschiedlichen Blickrichtungen. Derselbe Text kann phänomenologisch, historisch, soziologisch, psychologisch, literarisch, theologisch und aus vielen anderen Richtungen gelesen werden. Jede einzelne Lesart derselben Erzählung ist Schöpfung eines Gedankengan-
15 Zu diesen Begriffen vgl. Groupe d'Entrevernes, Analyse semiotique des Textes. Introduction. Theorie - Pratique, Lyon 1979; J. Delorme (Gruppe von Entrevernes, Hg.), Zeichen und Gleichnisse. Evangelientext und semiotische Forschung, Düsseldorf 1979; Verschiedene, Iniciacion en el analisis estructural, Estella 1980. 16 Vgl. Zeichen und Gleichnisse, a. a. 0.,204 ff.
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ges, der von diesem Text herkommt. Er ist ein Text über einen Text. Das ist möglich, weil der Diskurs eine Vielzahl von-Codes ins Spiel bringt, die jede Lesart auswählt und gestaltet. Diese Lesarten sind also nicht auf einen Interpreten beschränkt, der den Sinn entdeckt. Jedes Lesen ist eine Sinnproduktion. Wir wissen schon, daß der Verfasser zugunsten des von ihm geschaffenen Textes stirbt: Dieser selbst gibt durch die Struktur der Codes Hinweise auf das Produktions-, Lese- und Interpretationsverfahren. Mit anderen Worten, er wird - allein schon aus der Perspektive der Semiotik - polysemisch. Er enthält Sinnmöglichkeiten, die aufblühen, wenn man ihn liest, indem man die in ihm gespeicherten Hinweise auswählt. Wenn der Leser Erfahrung mit der Lektüre von Texten hat, kann er sich bewußt machen, daß der Vorgang des Lesens in dieser Weise abläuft. Aber um diese Beobachtungen zu vervollständigen, will ich sie am Beispiel eines biblischen Textes - nehmen wir Joh 1,35-51 - erläutern. Wieviel ist in den exegetischen Kommentaren schon zu diesem Text gesagt worden, und wieviel Anregung hat das christliche Leben aus der Nachfolge Jesu empfangen! Immer wieder kann man zum Text zurückkehren und immer wieder Sinn schöpfen. Eine Art, dies zu tun, besteht auch darin, die verschiedenen Codes zu bestimmen, die in dieser Perikope miteinander verflochten sind. Nehmen wir die Erzählung in ihrer gegenwärtigen Form und isolieren wir die thematischen Bestimmungen in dem Maße, wie sie auftreten. Die Zeitangabe »am folgenden Tag« verbindet mit einer vorangehenden Erzählung (V. 29, der seinerseits auf das »wann« von V. 19 verweist), wird in V. 43 wiederholt und durch das »drei Tage später« von 2,1 ergänzt. Dieser künstlich anmutende chronologische Code webt eine Theologie der ersten Woche der neuen Schöpfung, in der der Logos (1,1) wie das Wort von der Erschaffung der Welt (Gen 1 in der »relecture« des Targurn) präexistent ist. Dieses Thema wird nicht durch eine Formel, wie ich sie eben beschrieben habe, ausgedrückt, sondern durch die Struktur der Erzählung, die ihrerseits mit anderen Codes so verflochten ist, daß sie sich wechselseitig erhellen. In dieser Weise gestaltet sich die Erzählung. Darauf folgen menschliche Begegnungen: zunächst zwischen Johannes und seinen beiden 34
Jüngern (V. 35 b). Später begegnen diese J esus (V. 39). Einer von ihnen, Andreas, begegnet seinem Bruder Simon (V. 41 a) und bezeugt ihm: »Wir haben den Messias gefunden« (V.41 b). Eine neue Reihe von Begegnungen beginnt mit V. 43: J esus begegnet Philippus, dann dieser Nathanael, und sagt zu ihm: »Wir haben den gefunden, von dem geschrieben haben ... « (V. 45). Am Ende jeder Serie schillert die »Begegnung« zwischen dem Physischen und dem Spirituellen, wobei der Nachdruck mit der Bedeutung »Erkennen« (des Messias, von dem geschrieben haben Mose ... ) auf dem Spirituellen liegt. Eine solche Begegnung ist nur auf einer höheren Ebene möglich. Nun findet solche Verschiebung auf eine andere Ebene aber auch bei anderen Codes statt. Bemerkenswert ist der visuelle Code (sehen, beachten), der von der einfachen körperlichen (VV.36. 38. 39. 42. 46. 47. 50) über eine tiefere Ebene (V. 48. 50 »du wirst größere Dinge sehen«) bis zum theophanen »Schauen« (V. 51) reicht. Ganz offensichtlich verbindet sich dieses Motiv in den folgenden Abschnitten mit dem der Annahme der Zeichen (vgl. 2,11 und die anderen Wundererzählungen). Die Zeichen kann man wirklich »sehen«. Dieses johanneische »Sehen« verweist auf den Glauben, nicht in seiner physischen Dimension (vgl. V. 50 und sein Gegenstück in 20,29),17 sondern durch die Fleischwerdung des Wortes wird die Wirklichkeit des Glaubens durch das Menschliche hindurch vermittelt. Deshalb ist bei Johannes der Glaube an den Gesandten so bedeutungsvoll. Erkennbar ist in unserer Erzählung aber auch der onomasiologische Code. Es herrschen Eigennamen vor. Unter ihnen fällt besonders die zehnfache Erwähnung des Namens »Jesus« auf, der als Sohn Josephs von Nazareth vorgestellt wird (V. 45). So erhalten die Gestalten im Verlauf des Evangeliums Titel und Benennungen mit theologischem Gehalt. Wir haben also hier den Code der Benennungen, den an dieser Stelle wahrscheinlich bedeutsamsten. Jesus ist »Lamm Gottes« (V. 36), »Lehrer« (V. 38;
17 Joh 1-2 hat in der gegenwärtigen Struktur des vierten Evangeliums in 20-21 sein Gegenstück.
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die hebräische Form Rabbi ist beibehalten, um J esus mit der jüdischen Lehrtradition in Verbindung zu bringen und ihn nicht mit einem griechischen didaskalos zu verwechseln), »Messias« (V. 41), »jener, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben« (V. 45), »Sohn Gottes/König von Israel« (V. 49) und »Menschensohn« (V. 51). Schon in ihrer einfachen Auflistung ist diese Zahl von sechs Benennungen, die spätere Erzählungen vorbereiten, bedeutsam. Aber das ist noch nicht alles; sie sind zudem an ausgewählten Stellen angeordnet. Sie eröffnen und beschließen die gesamte Erzählung VV. 35-51. Jede Gruppe, an deren Spitze der zeitliche Bezug »am folgenden Tag« steht (VV. 35-42 und 43-51), enthält drei Benennungen J esu und je eine eines menschlichen Akteurs: Simon = Kephas/Fels in der ersten; Nathanael = wahrer Israelit in der zweiten (V.41 und 47). In der zweiten Gruppe sind die Benennungen J esu als »Sinn.« des Alten Testaments und Nathanaels als wahrer Israelit - offensichtlicher Hinweis auf den »Sinn« Israels - gleichgewichtet. Schließlich gibt es noch den Bewegungscode (gehen, kommen, folgen: VV.37. 38. 39. 40. 43. 46), der die Nachfolge Jesu betont. Er steht semantisch in einem antithetischen, theologisch aber in einem komplementären Verhältnis zum »Bleiben/Verweilen« von V.39, das wiederum auf einer anderen Ebene das für Johannes so charakteristische menein oder »bleiben« in Jesus vorbereitet. Man kann diese durch verschiedene Codes so fein gewebte Erzählung, die im Lichte der Semiotik so reich an Sinn ist, noch weiter untersuchen. So zeigt sich, welch ein Abenteuer es ist, einen Text als unerschöpfliche Sinnerzeugung und daher als beständige Neuschöpfung der Botschaft zu lesen. In Teil II werden wir andere Wege zur Erforschung der Botschaft eines Textes einschlagen, worin uns der Beitrag der Semiotik bestärkt. In dieser Bezieh~.mg zwischen Semiotik und Hermeneutik, zwischen der Kraft des Textes und der Kraft des Lebens, ergeben sich bestimmte Wechselwirkungen und Forderungen, die man darstellen sollte, damit man sich der Bedeutung eines interpretierenden Lesens biblischer Texte bewußter wird: a) Jeder Text hat ein »Voraus«, das heißt die Welt der Sinnge36
bungen, die sich vermöge seiner Polysemie öffnet, gesteigert durch seine linguistische Struktur und durch den Tod seines »Autors«. Der Sinn liegt im Text und nicht im Geist seines Verfassers. In jenem wiederum liegt er nicht als isolierbare Größe, sondern kodiert in einem Zeichensystem, das die Erzählung ausmacht und durch seine Kundgabe als solche Rede »etwas über etwas aussagt«. Das faßt zum guten Teil die vorher erwähnten Punkte zusammen. Jetzt sol.1 deutlich gemacht werden, in welchem Maß jedes Lesen eines Textes, der etwas »sagt«, das, was er sagt, und jenes, worüber er etwas sagt, verfremdet, diese Verfremdung dabei aber verhüllt. Ich werde das an den Gottesknechtsliedern des Deuterojesaja durchführen. Die in Frage kommenden Abschnitte sind: Jes 42,1-7; 49,1-9a; 50,4-11; 52,13-53,12. Setzt man eine ursprüngliche Unabhängigkeit dieser Gedichte von der Komposition Jes 40-55 (Deuterojesaja) und von der Bildung des jetzigen J esajabuches Jes 1-66 voraus, kann man in ihnen deutlich eine Gestalt mit königlichen Zügen erkennen, die von Gott den Auftrag erhält, das von den Völkern gefangengehaltene Volk Israel zu befreien. Sie wird verfolgt und erniedrigt bis zum Tod, aber schließlich wird sie erhöht. Ihr Leiden ist stellvertretend, denn »unsere Wunden hat er getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen (53,4); wegen unserer Unbotmäßigkeiten wurde er dem Tod übergeben (V. 8), trug er die Sünden der Vielen (V. 12)«. Der Diskurs ist Träger eines Sinns, der sich aus der Anordnung der Tiefencodes (Aktanten und Funktionen) und der Oberflächencodes (Symbole, Seme, stilistische Mittel, literarische Gattungen etc.) ergibt. Der Text gibt einen Sinn durch die Stellung solcher linguistischer Signifikanten, die auf Signifikate verweisen, die im Lied verbleiben, auch wenn Informationen über ihren außersprachlichen Verweisungsbezug verlorengegangen sind. (War es Jojachin, Zorobabel, Israel selbst, ein Prophet, ein Weiser?)18 Die kritischen Methoden biblischer Exegese helfen uns, eine
18 Vgl. zuletzt P. Grelot, Les poemes du Serviteur. De la lecture critique l'hermeneutique, Paris 1981,67-73.
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mögliche Bezugsperson dieser Gedichte festzustellen, doch liegt hier nicht der Schlüssel für die Lektüre. Das ist nur ein Versuch, das »Dahinter« des Textes, die Lebenssituation, die ihn als erste Sinnerzeugung hervorgebracht hat, zurückzugewinnen. So wichtig die »historische« Lektüre dieser Texte istbei ihr stehenzubleiben bedeutet ein Risiko, das man vermeiden sollte; denn in Wirklichkeit versucht man, den Sinn auf seine erste Erzeugung einzugrenzen, und das bedeutet Entleerung des Textes in dem Augenblick, in dem er beginnt, seine Polysemie zu zeigen. Und das Schlimmste ist, sich an eine Art »Historizismus« zu binden, woraus dann die exegetischen Konkordismen folgen, die unter dem naiven Vorwand, seine Bedeutung für die Gegenwart hervorzuheben, das Wort Gottes auf seinen ersten Verweisungsbezug festlegen. Auf diese Weise treffen sich so entgegengesetzte Haltungen wie die kritische Exegese und der Konkordismus bei dem Versuch, den Sinn der Texte zu bestimmen. Damit gibt man dem Verweisungsbezug (ein außersprachliches Phänomen) den Vorzug vor der Bedeutung des Textes selbst. Nun entspringen aber aus diesem und nicht aus jenem die »relectures«. Hierin liegt ein wichtiges Prinzip, das die Semiotik von neuem mit der Hermeneutik verbindet. Der Verweisungsbezug eines Textes ist eine Sinnfestlegung im Augenblick seiner Entstehung. Ein Text kann - wie jede Sprache in ac tu - eine Botschaft nur in einer festgelegten Form mitteilen, die eben von dem außerlinguistischen Verweisungsbezug herrührt, jenem, auf den der Text sich bezieht, um jemandem etwas mitzuteilen. Der Text selbst hingegen ist als Strukturierung von Signifikanten und Signifikaten, die den Sinn hervorbringen, polysem, und er hat, ganz besonders bei religiösen Texten und jenen, die wiederholt neuinterpretiert werden, eine sehr starke Tendenz, den historischen Verweisungsbezug nicht beizubehalten. Jener Ballast muß also abgeworfen werden. Ich bin der Meinung, daß genau dies bei den Gottesknechtsliedern bei Deuterojesaja der Fall ist. Warum haben sie die historische Person, auf die sie sich einstmals bezogen, nicht bewahrt? Warum müssen wir sie mittels so vieler bekannter Hypothesen bestimmen, um die Botschaft dieser großartigen Lieder zu verstehen - Hypothesen zumal, die uns auf ein vorredaktionelles 38
Stadium verweisen, das nicht dem jetzigen kerygmatischen Text entspricht? Zu wissen, ob die Gestalt des »Knechtes« Jojachin oder eine andere Person war, würde zwar die Entstehung des Textes erhellen, nicht aber den Text selbst. In der zweiten Annahme wirkt sich eine verfehlte Perspektive aus. Die Tatsache, daß diese Gedichte die Bezugsperson nicht ausdrücklich nennen, läßt die Interpretation offen. Die poetische und symbolische Gestaltung selbst weist in diese Richtung. Aber sie ist - auch wenn sie sie begünstigt - nicht die einzige Bedingung für die Sinnpolysemie. In ihrer linguistischen Struktur selbst sind die Erzählungen polysem, und so entwerfen sie sich nach »vorne« und verlangen nach der Kundgabe eines Sinnüberschusses. Deshalb wird ihre Lektüre eine Sinnerzeugung sein, niemals eine Wiederholung des ersten Sinnes. Das ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis des hermeneutischen Prozesses. So ist es nicht verwunderlich, daß unsere Lieder du'rch Generationen hindurch in so unterschiedlicher Weise neu gelesen worden sind. Ich zeige vier Stufen auf: 1. Schon die kanonisierte Fassung trägt Merkmale einer Aktualisierung des Verweisungsbezugs, um den Sinn der Gedichte festzulegen. Der überlieferte hebräische Text identifiziert in J es 49,3 den Knecht mit Israel (»Du bist mein Knecht, Israel«). Auf der Ebene der »relecture« ist dabei der interne Widerspruch zu V. 5 f., die seine Sendung an Israel erwähnen, ohne Belang. Für die Literarkritik handelt es sich um eine zusammenhanglose Glosse; hermeneutisch gesehen ist diese Glosse eine Übertragung des Sinnes auf einen aktualisierten Verweisungsbezug, der durch die Nöte der Gemeinschaft veranlaßt worden ist, die den Text überliefert hat. 2. In der Septuaginta überwiegt die kollektive Interpretation: Die Gedichte sind durchgehend auf das verfolgte Israel in der Diaspora bezogen und heben damit auch seinen soteriologisehen Auftrag hervor. 19 3. Das Neue Testament nimmt - begünstigt durch die Symbolik
19 Jes 46,6b z. B. heißt in der LXX folgendermaßen: »Siehe, ich habe dich eingesetzt als Licht der Völker, damit du das Heil für die Enden der
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der Texte, die von einer Einzelperson sprechen (was jedoch nicht, um es noch einmal zu sagen, bedeutet, daß sie sich auf ein Individuum beziehen) - die individuelle Interpretation wieder auf. Von dort aus war es kein großer Schritt zur christologischen Deutung. Diese Neuinterpretation im Lichte des Christusereignisses ist so stark gewesen, daß sie einen großen Teil des Neuen Testaments prägt. 20 4. Der Targum Jonathan (2.Jhdt.) nimmt die kollektive Exegese (= Israel) von Jes 49,7 wieder auf, bezieht das Orakel 42,1 ff. auf den Messias, den Text von Kap. 50,4-11 auf den Propheten Jesaja und vermeidet so jede Anspielung auf den Messias im vierten Lied (52,13-53,12). Wie sind so viele »relectures« desselben heiligen Textes möglich gewesen, wenn er nicht in irgend einer Weise offen war? Aus dem gleichen Grund können auch wir ihn wiederlesen, ohne durch die neutestamentliche christologische Lektüre als für uns endgültiger und einziger eingeschränkt zu sein. Schon Paulus hatte zu seiner Zeit, als verfolgter Prediger, die Gestalt des »Knechtes«, des Lichtes der Völker, auf sich bezogen (Gal1,15; in einem der lukanischen Berufungsberichte des Paulus Apg 26,18 und in der antiochenischen Episode Apg 13,47). Auch heute verlangen Lebensbedingungen von Personen, Gruppen oder Völkern nach einer neuen Interpretation dieser Gedichte, die die Gegenwart Gottes und das Vertrauen dessen, der in seinem Dienst steht, so eindringlich schildern. Alle diese Lesarten des deuterojesajanischen Textes sind nicht durch seinen ursprünglichen Verweisungsbezug bedingt - dieser ist unwiederbringlich verloren -, sondern durch den Text selbst kraft seiner literarisch kodierten Polysemie. b) Für jede Interpretation ist besonders wichtig, daß sie vom
Erde seist« (das Hervorgehobene zeigt die Sinnveränderung gegenüber dem hebräischen Text an). Vgl. P. Grelot, a. a. 0., 82 H. 20 Eine Liste der Passagen mit dazugehörigem Kommentar im Licht des hebräischen Textes bietet Grelot, a.a.O., 138 bis 189 (er findet im Neuen Testament Reminiszenzen, Imitationen, direkte Zitate; die Texte, in denen die Lieder wiederaufgenommen werden, sind: Corpus Paulinum, 1 Petr, Lk, Apg, Mt, Joh, wahrscheinlich Mk.
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Text ausgeht. Sie kann nicht eine willkürliche und zufällige Beifügung darstellen; sie muß Lektüre des empfangenen Textes sein. Als der auferstandene J esus sich an die Emmausjünger wendet, um sie zu schelten (»Q ihr, die ihr unverständig und zu trägen Herzens seid, um zu glauben an alles, was die Propheten geredet haben. Mußte nicht der Christus dies leiden und dann in seine Herrlichkeit eingehen?«: Lk 24,25f.), beruft er sich auf einen Text, den er auslegt. Nun gibt es aber keinen prophetischen Text des Alten Testaments, der diesen messianischen Bezug aufweist, von dem Jesus nach Lukas spricht. Andererseits ist seine Anspielung auf die Gottesknechtslieder unübersehbar (vgl. auch V.46 »Es steht geschrieben, daß der Christus auf diese Weise leiden und am dritten Tage von den Toten auferstehen werde«). Unwahrscheinlich ist, daß Lukas sich zum Echo der rabbinischen Tradition vom Messias, dem Sohn Josephs, macht, eines ephraimitischen Messias, der nach einigen rabbinischen" Texten leiden werde. 21 Eine Abhängigkeit des Lukas von den davidischen messianischen Traditionen ist deutlich esu Geburt in Bethlehem, Bezüge zu David, Lk 1,32.69; 3,31; 20,41-44; Jerusalemer Theologie). Aber eigentlich ist dieser hypothetische Rückgriff gar nicht notwendig. Vielmehr zeigt das lukanische Zitat eine »Bindung« an den prophetischen Text, die Ergebnis sowohl des sprachlichen Phänomens der Polysemie (vgl. den vorangehenden Abschnitt) als auch der Abhängigkeit des hermeneutischen Vorgangs vom Text ist. Die »relecture« wird zum Text. Die »relecture«, die J esus in Lk 24 von J es 53 vollzieht, ist eine Sinnschöpfung, und sie stellt sich dar als ein Diskurs über einen anderen, vorausgegangenen Diskurs, der jetzt in jenen eingeschlossen ist. Das erweckt den Anschein, als gäbe es einen einzigen Diskurs, einen einzigen Text. Der griechische Septuagintatext, den ich unter a) zitiert habe, ist - unabhängig von der verwendeten Ausgabe - keine mechanische Übersetzung, sondern eine Anpassung des hebräischen
a
21 S. R. Pietrantonio, EI Mesias asesinado. EI Mesias ben Efraim en el evangelio deJuan, RevBib 44:1 Nr. 5 (1982), 1-64 (zu den targumischen Texten 24ff.).
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Originals, die nicht aufgrund mangelnder Kenntnis der hebräischen Sprache jener Zeit vorgenommen worden ist. Warum aber wurde dann nicht wörtlich übersetzt und die gesuchte Interpretation in einer getrennten Erzählung ausgearbeitet? Genau das ist nicht geschehen: Denn die Lesart beruht auf dem jesajanischen Text (und ist niemals eine parallele Interpretation), und sie muß diesen Text wiedergeben, der durch die Tradition geheiligt ist. Der Septuagintatext ist daher ein Diskurs (im semiotischen Sinne des Wortes) über einen anderen Diskurs (den Jesajatext), aber er erscheint als ein einziger Diskurs (= als Text von Jesaja). Aus demselben Grund beruft sich auch die Interpretation, die Lukas Jesus in den Mund legt, auf den Text von Jes 53. In der targumischen Fassung dieses Gedichts wiederum gibt es derartig viele Abweichungen vom hebräischen Original, daß sie eher einem Midrasch gleicht. Wer den hebräischen Text mit dem aramäischen vergleicht, stellt fest, daß es bei ca. 50 % des Wortlauts keine Entsprechungen zwischen beiden Texten gibt. 22 Dennoch gilt der vorliegende Text in der rab-
22 Man vergleiche Jes 50,4f. im hebräischen Text und im Targum: Hebräisch: .. Der Herr J ahwe hat mir gegeben die Zunge von Jüngern, daß ich wisse zu antworten dem Müden das Wort. Morgen für Morgen weckt er mein Ohr, zu hören wie Jünger. Der Herr Jahwe hat mir das Ohr geöffnet« (Klage des verfolgten Knechtes). Targum: »Jahwe-Gott hat mir die Zunge derer, die lehren, gegeben, daß ich wisse zu lehren Weisheit die Gerechten, die sich nach den Worten seines Gesetzes verzehren. So sendet er jeden Morgen seine Propheten für den Fall, daß die Ohren der Sünder offen seien und sie ihre Lehre aufnehmen. Jahwe-Gott hat mich gesandt zu verkündigen« (Klage des verfolgten Propheten). Es finden sich gerade noch ein paar Vokabeln des ursprünglichen Textes! In Wirklichkeit handelt es sich um einen Metatext. Jes 53,10, das für die christologische .. relecture« des Neuen Testaments entscheidend ist, verliert vollkommen seine ursprüngliche Physiognomie. Wir stellen beide Texte nebeneinander: Jes 53,10 (hebräisch): .. Doch Jahwe fand Gefallen an seinem Zerschlagenen, er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen.« Jes 53,10 (Targum): .. Von Jahwe aber geschah das Wohlgefallen zu läu-
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binischen Tradition - das sollte betont werden - als Text von Jesaja. Dabei kommt es nicht auf die historische Person Jesaja an, sondern auf diesen von der Tradition überlieferten kanonischen Text, der als» Wort Gottes« gilt. Dies zeigt die große Bedeutung, die jede Lektüre als Lektüre eines Textes hat. Dieser Vorgang - und damit befinden wir uns im Herzen der Hermeneutik - verdeutlicht noch einmal zwei bereits wiederholt ausgedrückte Sachverhalte: 1) Jeder Text konzentriert eine Polysemie, die ihn aufgrund seiner Beschaffenheit als strukturelles »Gewebe« linguistischer Codes nach »vorne« öffnet; 2) jede Lektüre eines Textes ist eine Sinnerzeugung in neuen Codes, die wiederum neue Lesarten als Sinn erzeugung hervorbringen, und so fort. Interpretation ist ein Kettenprozeß, nicht wiederholend, sondern sich steigernd. Es gibt eine Sinnreserve, die immer angezapft, aber nie erschöpft werden kann. c) Unter einem anderen Blickwinkel bedeutet Lektüre als Sinn,erzeugung auch Aneignung des Sinnes. Es entsteht eine Art Abhängigkeit vom interpretierten Text und das Verlangen, ihn in Gänze zu vereinnahmen. Dieser Vorgang ist von besonderer Intensität bei religiösen, politischen, ideologischen Texten, die ja immer eine große Wirkung auf die Praxis haben. Der Anspruch auf Sinngebung ist total und exklusiv. Eben deshalb, weil es sich um eine »Aneignung« handelt, darf sie keinen Raum für andere Lesarten lassen. Im selben Augenblick, in dem er eine unerschöpfliche Sinnreserve des Textes bestätigt, die ihm gestattet, ihn neuzulesen, versucht der Interpret, ihn »auszuschöpfen« und nichts für eine andere Lesart übrig zu lassen. Daher der »Konflikt der Interpretationen«. Weil jede den Anspruch erhebt, die Interpretation zu sein, akzeptiert sie keine andere, und der Kampf entsteht. Das ist ein typisches Phäno-
tern und zu reinigen den Rest seines Volkes, um frei zu machen von Schulden ihr Leben. Sie werden sehen das Königreich ihres Messias, zahlreich werden Söhne und Töchter, lang werden die Tage. Und die Täter des Gesetzes Jahwes werden durch sein Wohlgefallen Erfolg haben.«
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men bei den großen Texten, die historische Bewegungen inspirierten und Gruppen mit einer eigenen Weltanschauung hervorgebracht haben. Am Beispiel der Texte von Marx, der biblischen Texte oder der Hindu-Tradition kann man das verdeutlichen. So berufen sich in Indien sehr verschiedene Lehren auf die heiligen Bücher der Veden. Bezeichnend ist die Tatsache, daß das Vedanta, eine philosophische Spekulation, die kaum mehr in der religiösen Lehre der Veden eine Entsprechung hat, sich nach mehr als 2000 Jahren als Interpretation der Veden versteht. Schon der Name Vedanta (= »Ende der Veden«) enthält den Anspruch, ihren Sinn auszuschöpfen. Die Texte von Marx sagen vieles über den interpretativen, ideologischen, politischen Kampf aus, den sie weiterhin veranlassen. Jede marxistische Strömung ist in ihrer eigenen Bewertung die Auslegung der großen Texte von Marx. Ich führe diesen Fall, der mit Religion nichts zu tun hat, an, um zu zeigen, daß die Bindung an einen Text der Vergangenheit keine Eigentümlichkeit religiöser Weltanschauung ist und auch in einer gesellschafts geschichtlichen Praxis auftritt, die anscheinend jede andere Bedeutungsquelle außer eben dieser Praxis negiert. Doch kehren wir jetzt zu den Gottesknechtsliedern bei Deuterojesaja zurück. Die von der Septuaginta, den Qumranessenern, der Urgemeinde oder dem Targum praktizierten Lesarten waren für diese Gruppen keine »möglichen« Lesarten unter anderen, sondern der Sinn des prophetischen Textes. Dieser totalitäre Aspekt der Exegese ist in der targumischen Interpretation z. B. noch offenkundiger, in der man eine antichristliche Polemik erkennen kann, einen Versuch, diesen so bedeutungsgeladenen Text für die christologische Lektüre zu blockieren. So haben die Übersetzer des J esajatextes bei der Übertragung ins einheimische Aramäisch jener Zeit (das bezeichnet man technisch mit dem Namen Targum) jeden möglichen Bezug von Jes 53 auf das Leiden eines individuellen Messias getilgt. So erkannten sie eine bereits von den Christen in der Person Jesu von Nazareth aktualisierte Auslegung nicht an. Es handelt sich dabei aber nicht nur um einen ideologischen Sachverhalt. Erleichtert wurde er durch die Beschaffenheit des Textes selbst, der zwar auf der einen Seite polysem ist, auf der anderen aber im Hin44
blick auf seine narrative Struktur - die darauf aus ist, »etwas über etwas zu sagen« - nur einen Sinn erzeugt. Es gibt keinen vielfältigen Sinn derselben Lektüre. Die rabbinische Interpretation vonJes 53 hebt die der ersten Christen auf; sie hält sie nicht einmal für möglich, und die von jenen praktizierte verdrängte die vorige der Septuaginta. Mit anderen Worten: Jede Lesart legt einen Sinn fest. Wie paradox ist dieses Wechselspiel zwischen Polysemie des Textes und Monosemie der Lesart (siehe das Diagramm am Ende dieses Teils I)! So erweist sich auch die Bibellektüre der Befreiungstheologie in ihrem Verhältnis zu anderen Sinn»aneignungen« des Kerygmas als konfliktträchtig. Diese Tatsache hat sicherlich noch andere Gründe, auf die ich später eingehe. Aber der aus dem »festlegenden« Charakter jeder Lesart herrührende ist gewiß nicht der unbedeutendste. Dies ist so grundlegend wie das andere Phänomen (vgl. b) der Abhängigkeit vom Text. Diese Verbindung zwischen dem Sinn des Textes und seiner »festlegenden« Lesart kann gegenüber anderen Lesarten zu extremen Situationen führen. Kommen wir auf den Targum zu Jes 53 zurück. Die Interpretation, die er vom Text von Jesaja gibt (und das Wichtige ist, daß er von J esaja ist), kann nicht vom hebräischen Text dieses Propheten abstammen. Die aramäische Version hat ihn strukturell verändern müssen, in eine andere - vom Original verschiedene - Erzählung umwandeln müssen, die jedoch in der Synagoge als authentischer Text des Propheten Jesaja verlesen wird. Diese eher midraschartige als targumische »relecture«23 legt den Text wei-
23 Als Targum bezeichnet man die (interpretierende) Übersetzung des hebräischen Textes ins Aramäische; der Midrasch ist die Erweiterung eines Textes oder Abschnittes bis zur Bildung einer neuen Erzählung. Beide folgen hermeneutischen Regeln; der Midrasch hat jedoch größere Möglichkeiten der Erweiterung und damit der Aktualisierung eines Textes. Vgl. R. Le Deaut, Un phenomene spontane de l'hermeneutique juive ancienne: le »targumisme«, Bib. 52 (1971), 505-525; ders., »La tradition juive ancienne et l'exegese chretienne primitive, RHPhR 51 (1971), 31-50; A. Diez Macho, a.a.O.; E. Levine, La evoluci6n de la Biblia aramea, EstB 39 (1981), 223-248 (interessante Aspekte über den Targum).
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terhin fest, denn sie löscht die Erzählung aus, die noch andere Lesarten erlauben würde. Der Konflikt der Interpretationen kommt hier lebhaft zum Ausdruck, aber er wird nicht ausgesprochen. Man könnte sich fragen, was wohl die Rabbinen gedacht haben, die doch auch den - in der aramäischen Version so veränderten - hebräischen Text kannten. Aber diese Frage ist unwichtig. Der Tradition gewordene und normative Text war bereits der des Targum. Zu diesem Zeitpunkt war er der kanonische Text. Nicht der Lehrer, sondern die Gemeinde billigt einen Text als normativen und aktuell gültigen. Etwas anderes geschieht, wenn man den Gebrauch des Targum aufgibt und zum hebräischen Text zurückkehrt (was geschieht, wenn Aramäisch für das palästinische Judentum keine lebendige Sprache mehr ist). Die Polysemie der Gottesknechtslieder gibt Raum für eine andere Lesart, die wiederum den ganzen Sinn zu beanspruchen sucht, und in der die christologische Interpretation ebenfalls keinen Platz hat. 24 Demselben Vorgang werden wir begegnen, wenn wir den hermeneutischen Akt aus der Perspektive der Praxis beleuchten (11). Ich schließe das Kapitel mit zwei Beobachtungen. Auf der einen Seite wird der Leser, die Leserin bemerkt haben, daß der Konflikt der Interpretationen eine Spaltung verursacht, die nicht immer auf der ideologischen Ebene bleibt. Nicht jede Spaltung ist negativ. Sie kann auch schöpferisch sein. Die große Einheit ist manchmal formlos und träge. Auf der anderen Seite entspricht die »Aneignung« von Sinn als Totalanspruch niemals der Wirklichkeit. Wenn es auch viele Interpretationen eines Textes gibt, so stammen sie doch alle von demselben Text ab,
24 Es verwundert in diesem Sinne nicht, daß H. M. Orlinsky die Möglichkeit einer christlichen Lektüre von Jes 53 abstreitet; vgl. ders., The So-Called »Suffering Servant« in Isaiah 53, in: ders. (Ed.), Interpreting the Prophetie Tradition. The Goldenson Lectures 1955-1966, New York 1969,225-273; ders., The So-Called »Servant of the Lord« and »Suffering Servant« in Second Isaiah, in: ders.lN. H. Snaith, Studies on the Seeond Part of the Book of Isaiah (VT.S 14), Leiden 1967, 66ff., bes. 73.118 (in seinen Ausführungen bestätigt Orlinsky das elementare Prinzip hermeneutischer Eisegese!).
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und so wird es auch irgendeine Gemeinsamkeit geben. Die Lesarten verständigen sich unterschwellig. Deshalb bewahrt die Spaltung, die ja, um eine solche zu sein, aus etwas Gemeinsamem ihre Kraft schöpfen muß, immer etwas Verbindendes. Auch die Mythen liegen miteinander im Konflikt. Selbst wenn sie sich mit demselben Thema befassen, haftet doch jeder Mythos an einer Weltanschauung und beansprucht, den Sinn der von ihm interpretierten Wirklichkeit auszuschöpfen. Aber sie verständigen sich auf der Ebene ihrer Symbole und tiefer menschlicher Erfahrung. 25 d) Bevor ich diesen Teil abschließe, ist es nützlich, auf die hermeneutische Funktion der »Verfremdung« einzugehen. Ich hatte eine doppelte offene Distanz zwischen der Sprache und der »Rede« einerseits und zwischen dieser und dem Text/ der Schrift andererseits erwähnt (siehe das Diagramm am Schluß von 1,2). Ist die erste formaler, so ist die zweite konkreter und auf eine bestimmte Weise zeitlicher und räumlicher Natur. Das Verschwinden des Verfassers eines Textes, die Verschiebung der Adressaten, der Wechsel des Lebenskontextes, der die Frage nach der Botschaft auslöst, bedeuten eine Verfremdung im Hinblick auf die ursprüngliche Sinnerzeugung. Je größer der Abstand, um so größer sind die Möglichkeiten beim Wiederlesen des Textes. Das wird in II,l noch deutlicher werden, wenn wir uns mit den Tatsachen befassen, die eine Tradition begründen. Hier will ich nur noch andeuten, daß sich eine dritte hermeneutische »Verfremdung« zwischen dem Text/ der Schrift und seiner »relecture« vollzieht (siehe das folgende Diagramm, das das von 1,2 vervollständigt). Diese Verfremdung ergibt sich von einer Lesung zur anderen: Jede Lektüre geht vom Text aus. Doch das ist ein Schein effekt, denn die Lektüre ist durch die ihr voraufgehende bedingt, also jene, die sie gerade auslöschen will. Tatsächlich saugt sie sie auf, oder schließt sie ein. Deshalb
25 Zum Thema der unterschwelligen Verbindung an sich unvereinbarer Mythen, die wir hier für jede Interpretation von Ereignissen oder Texten annehmen, vgl. P. Ricoeur, Symbolik des Bösen, Phänomenologie der Schuld 11, Freiburg/München 1971, 349ff.
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gibt es bei jedem Lesen, wie konfliktträchtig es auch sei, ein gewisses Maß an Übereinstimmung. Außerdem bedeutet eine Kette von Lesungen der Bibel oder eines anderen Textes letzten Endes eine Sinnanhäufung. Je größer die Distanz ist, desto ergiebiger kann die Ausschöpfung des Sinnvorrates eines Textes sein. Deshalb kann man behaupten, daß die »Verfremdung« eine interpretative Funktion erfüllt. 26 Vom »historizistischen« Gesichtspunkt aus wirkt dieser Vorgang erschreckend, denn es scheint, daß der Text im Vergleich zum ursprünglichen Sinn an Nähe und Genauigkeit verliert. Aber vom hermeneutischen Standpunkt aus ist es ein fruchtbarer und schöpferischer Vorgang. In 11,1 werden wir das erneut feststellen. Zur Zusammenfassung des in diesem ersten Teil Untersuchten vervollständigen wir das vorhergehende Schema: Sprache Polysemie
Rede Festlegung
Text/Schrift (re)lecture Polysemie Festlegung 1. 3. 2. Verfremdung Verfremdung Verfremdung möglicher aktualisierter SinnausSinnvorrat Sinn Sinn schöpfung
26 P. Ricoeur, La fonction hermeneutique de la distanciation (vgl. Anm.12).
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11. Praxis und In terpreta tion
An dieser Stelle erhebt sich die Frage: Was löst eine Vielfalt der Lesarten, wie sie durch die linguistische Bedingtheit des Textes möglich ist, in ihrer Unterschiedlichkeit aus? 1. Vom Ereignis zum Text Ausgangspunkt eines Textes ist irgendeine Art Erfahrung: eine Gewohnheit, eine bedeutsame Begebenheit, eine Weltanschauung, ein Unterdrückungszustand, ein Befreiungsprozeß, eine Gnaden- und Rettungserfahrung und so fort. Nennen wir dies alles» Ereignis«. Jede - individuelle, gemeinschaftliche, nationale - menschliche Handlung ist eine Art Ereignis j auch ein N aturvorgang, soweit er das menschliche Leben betrifft. Aus dem grenzenlosen Netz menschlicher Handlungen und gesellschafts his torischer Erfahrungen gehen einige aus diesem oder jenem Grund als besonders bedeutsam hervor, die dann in einem Wort zusammengefaßt werden. Zwei hermeneutische Vorgänge treffen an dieser Stelle zusammen: Auf der einen Seite trifft das Wort, das aus dem Ereignis hervorgeht, um es zu erzählen und zu preisen, eine Auswahl, indem es eine Erfahrung unterstreicht und andere beiseite läßt. Das ist eine Form der »Festlegung« und insofern auch der Interpretation: Das Wort nimmt dieses Ereignis und kein anderes auf. Auf der anderen Seite interpretiert dieses Wort das Ereignis schon im Akt des Erzählens. Es ist niemals - auch wenn es das vorgibt- eine einfache »Chronik«, wenn es denn überhaupt eine Chronik gibt, die nicht schon Interpretation ist. Jede Lektüre von Ereignissen vollzieht sich von einem Standpunkt aus und deshalb mit einer bestimmten Perspektive. Wir wissen das, aber man muß hervorheben, was jener Vorgang von Auswahl/Festlegung und Interpretation bedeutet: Ein Ereignis wird aus irgendeinem Grund bedeutsam - durch den Kontext, in dem es steht, oder durch das, was wir zunächst einmal seine Wirkungsgeschichte27 27 Zu diesem Begriff s. H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grund-
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nennen könnten, d. h. seinen Einfluß auf die Lebensweise einer bestimmten Menschengruppe. Es handelt sich dabei - um das zu betonen - nicht um eine Ursache-Wirkung-Beziehung, bei der die Ursache verschwindet, sobald die Wirkung eingetreten ist, sondern um eine Sinnbeziehung. Auf dieser Ebene wird ein Ereignis als Ausdruck des Sinns eines anderen begriffen, das seinerseits zum sinnstiftenden Grundereignis wird. Die Jordandurchquerung wird von der israelitischen Tradition (vgl. Jos 3-5) im Licht des Schilfmeerwunders interpretiert, aber niemand kann behaupten, es sei dessen Wirkung. Es ist deshalb wichtig, zwischen Ursächlichkeit und Sinn zu unterscheiden. Wir sehen also, daß ein Ereignis einen Sinn erzeugen kann, der sich an anderen, nach ihm ausgerichteten Ereignissen zeigt, und so wird dies erste Ereignis in Relation zu anderen Ereignissen als »ursprünglich« angesehen. Allmählich wird es immer mehr als sinnstiftendes Ereignis verstanden. Aber sinnstiftend ist es nur aus der Distanz, im Licht seiner Auswirkungen auf neue Ereignisse. Bis zur Sinnstiftung muß eine Frist verstreichen. Wird etwas als bedeutsames Faktum im Wort aufbewahrt, tut dies einen Sinnvorrat kund, der im Augenblick des Geschehens nicht erkennbar war. Von daher macht die »historizistische« Lektüre die biblischen Texte arm; die Ereignisse lesen wollen, als seien sie in der Form geschehen, in der sie erzählt sind, heißt, ihnen die hermeneutische Distanz zu rauben, die ihre Bedeutung verstärkt hat. Die uns vorliegende Bearbeitung der biblischen Erzählungen hat den hermeneutischen Vorteil einer großen Distanz zu den Ereignissen, einer Distanz, die sie bereichert und mit Sinn aufgeladen hat. Erneut erkennen wir die hermeneutische Funktion der» Verfremdung«, die nicht allein auf Texte beschränkt werden darf. Sie gilt auch für das Verstehen geschichtlicher Ereignisse. Weiter unten wird die hermeneutische Wechselwirkung zwischen beiden Ebenen deutlich werden. Wenn ein ursprüngliches Ereignis durch die Lesarten, die aus dem Abstand entstehen, seine Bedeutung ausweitet und sich
züge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 31972, 284 H.
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dabei neue Ereignisse einverleibt (z. B. wird die Jordanüberquerung auf das Schilfrneerwunder zurückprojiziert), gibt es auch den umgekehrten Weg. Jene bereicherte Lektüre lädt ihrerseits die gegenwärtigen Ereignisse oder Handlungen mit Sinn auf. Der Exodus weitet seine Bedeutung auf die Landnahme aus. Das Symbol des Durchzugs durch das Meer wirkt in beiden Richtungen und verbindet die Ereignisse von Befreiung \.Ind Landnahme. Wir stehen vor einem weiteren »hermeneutischen Zirkel« entsprechend jenem der Textinterpretation. Er vollzieht sich im ersten gesprochenen Wort, das das Ereignis »aussagt«, ob als Chronik, Epos, Hymnus oder in einem anderen sprachlichen Gewand. Auch ein Fest ist eine Lesart eines Ereignisses. In der Bibel wird das »Gedenken« an die Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei in allen möglichen literarischen Gattungen und durch alle Epochen hindurch erhalten. Aber es ist niemals eine Wiederholung des Sinns des ursprünglichen Exodus, sondern eine Ausschöpfung seines »Sinnvorrats«. Die Ereignisse, die zur Entstehung eines Volkes geführt haben, erschöpfen sich nicht in ihrer erstmaligen Erzählung, sondern erhalten einen Sinnzuwachs durch ihre Abbildungen im Leben dieses Volkes. Um dieses Mehr an Sinn auszudrücken, gibt das Wort dem Ereignis einen neuen Sinn und erarbeitet es neu: Die Berufung des Mose, die ägyptischen Plagen, die eilige Passafeier, der Durchzug durchs Meer sind nicht Episoden des Befreiungsprozesses, sondern Ausdruck seines Sinns als Plan und Tat Gottes oder als Erinnerungsfeier (das Passa). Hätte der Exodus so wie berichtet stattgefunden, wäre es eine Filmaufnahme und keine Interpretation, ein beliebiges Ereignis ohne »theologische« Bedeutung - außer dieser phantastischen Gegenwart Gottes. Aber das hebräische Volk erlebte jene Befreiungserfahrung (die äußerlich überhaupt nicht fremdartig gewesen sein muß) als beständig verwirklichten Heilsplan. Es brauchte die Berufung darauf, um seine Hoffnung neu zu nähren, wenn es von neuem in die Unterdrückung geriet, oder um seinen Glauben zu vertiefen, wenn es neue Ereignisse der Befreiung feierte. Es ist bemerkenswert, daß in den meisten Völkern Nationalfeste BeJreiungsfeste sind. Typisch ist das für Lateinamerika. Diese 51
Befreiungsereignisse werden in dem Maße, in dem das Volk sein Geschichtsbewußtsein entwickelt, zu archetypischen oder Gründungsereignissen. Die »Erinnerung« an ein Ereignis lädt es mit Sinn auf. Dieser ist zugleich der Sinn der Ereignisse, die er veranlaßt, sei es, daß er sie konkret hervorruft oder daß er sie durch Interpretation in Einklang miteinander bringt. Man kann nicht behaupten, daß die Rückkehr aus dem Exil durch den Exodus hervorgerufen sei; dennoch wird sie von der hebräischen Tradition als neuer Exodus interpretiert (vgl. Jes 11,15f.; 19,16-25; 43,16-21; 51,9-11 ).28 Der erste Exodus enthüllt eine tiefere Bedeutungsdimension, wenn das Volk sich seiner in neuen Situationen der Unterdrückung und der Gefangenschaft als Befreiungsentwurf erinnert. Daß er an Inspirationskraft und Sinn unerschöpflich ist, beweisen die Interpretationen zunächst des hebräischen Volkes und später der urchristlichen Gemeinde und heute der Befreiungstheologie. In derselben Weise greifen die Völker ihre eigenen Gründungstaten wieder auf (z. B. die Heldentaten der Befreiung), um ihrem gesellschaftsgeschichtlichen Handeln Impulse und Sinn zu verleihen. Das geschieht zumindest dann, wenn Nationalbewußtsein und geschichtliche Vorstellung vorhanden sind. Hier entsteht wieder der »Konflikt der Interpretationen«, von dem bereits im Zusammenhang mit dem Lesen von Texten die Rede war (v gl. Kap. I.3.c). Derselbe Konflikt ergibt sich beim Lesen von Ereignissen; sei es, daß sie immer einen Sinnüberschuß enthalten, der in ihrer erstmaligen Wiedergabe nicht ausgedrückt wird, da sie polysem sind und
28 Ich habe Texte aufgeführt, die alle aus dem Jesajabuch stammen, denn hier sind sie besonders zahlreich vertreten. Es gibt viele Studien zum Motiv des »neuen Exodus« speziell bei Deuterojesaja Oes 40-55). Vgl. . z. B. C. Stuhlmueller, Creative Redemption in Deutero-Isaiah (AnBib 43), Rom 1970;J. Blenkinsopp, Objetivo y profundidad de la tradicion deI exodo en Deutero-Isaias 40-55, Conc (E) 1966,397-407. Zuletzt: K. Kiesow, Exodustexte im Jesajabuch. Literarkritische und motivgeschichtliche Analysen (OBO 24), Freiburg/Schweiz 1979. Bestritten wird das Vorkommen dieses Motivs bei Deuterojesaja von H. Simidn, Exodo en Deuteroisaias, Bib. 61 (1980) 530-553, der jedoch größtenteils außertextliche Argumente anführt.
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also kein Grund für eine Übereinstimmung ihrer Interpretationen besteht, sei es, daß sie von unterschiedlichen Standpunkten aus vorgenommen worden sind; wir wissen: Jede Interpretation beansprucht den Sinn ausschließlich für sich. Die Berichte über Unabhängigkeitskämpfe eines Volkes werden sowohl benutzt, um einen Befreiungsprozeß zu begründen und zu fördern, als auch, um dessen Unterdrückung zu rechtfertigen. Eine Lesart schließt die andere aus, aber beide berufen sich auf ein ursprüngliches und »bedeutungshaltiges« Ereignis. Beide entsprechen unterschiedlichen Voraussetzungen, dem Ort gemäß, von dem aus man liest - daher ihr Konflikt. Keine Interpretation ist in diesem Sinne unbelastet oder gar »objektiv«. Das gedeutete Ereignis ist niemals »objektiv«. Das heißt nicht, daß die Lesart »subjektiv« sei. Es muß »etwas« in dem Ereignis geben, das diese Interpretation erlaubt. Entscheidend ist die Praxis, die die Lesart veranlaßt. Die Begriffe »objektiv« und »subjektiv« sind für das, was im hermeneutischen Vorgang geschieht, unbrauchbar, und es ist darum besser, sie nicht zu verwenden (vgl. dazu weiter unten III.6.a). Der Konflikt der Interpretationen hat seine Entsprechung im Konflikt des praktischen Handeins, zu dem die Deutung des Ereignisses anregt. Daher hört die bisher analysierte Sequenz Ereignis/Wort hier nicht auf, sondern hat noch weitere Glieder. Aber bevor ich die Analyse fortsetze, will ich einige der bisher behandelten Punkte noch stärker hervorheben. Man muß vor allem unterstreichen, daß wir im hermeneutischen Vorgang des Wort gewordenen Ereignisses erneut dem Wechsel von Polysemie / Monosemie begegnen, oder - in anderen Begriffen - von Sinnreserve I Sinnfestlegung, auf den ich schon im Hinblick auf die Sprache in ihrem semiotischen und hermeneutischen Aspekt hingewiesen hatte. Diesen Wechsel finden wir in dem gesamten Prozeß, den ich jetzt gleich erläutern werde, wieder. Immer wieder werden wir feststellen, daß für jedes Glied der Kette das Gesetz Festlegung/Polysemie gilt. Was heißt das? Wenn das Ereignis, mit dem die Kette beginnt, polysem ist, dann kommt das »Wort«, welches es interpretiert, einer Sinnfestlegung gleich. Anderenfalls wäre es keine verständliche Lektüre und keinesfalls eine Botschaft. Aber in einer
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zweiten Instanz öffnet sich dieses »Wort« erneuter Lektüre, weil es als »Text«, der es ja in bestimmter Weise ist, seine Polysemie zurückerhält. . Die zweite Beobachtung, die ich hier vorwegnehmen will, ohne damit auf eine ausführlichere Behandlung weiter unten (111.3) zu verzichten, betrifft die theologischen Konsequenzen aus jener hermeneutischen Feststellung, daß das Ereignis »Wort« wird. Im Falle der Bibel heißt das, daß dieses Buch, bevor es zum »Wort Gottes« wurde, ein Ereignis Gottes gewesen ist. Die Heilscrfahrung Israels wird in eincm Bericht von der Präsenz Gottes interpretiert, die es sicherlich faktisch nicht so gegeben hat, wie sie literarisch dargestellt wurde. Nun verwandelt sich diese Erzählung innerhalb einer bestimmten Gruppe in lebendige Tradition. Die Distanz gegenüber der ersten Sinnzuschreibung öffnet sie wiederum einer N euinterpretation. Deshalb sprach ich vorhin davon, daß dieses die Botschaft des Geschehens abschließende» Wort« danach wiederum polysem wird. Es ist die Fortsetzung desselben hermeneutischen Prozesses. So ist also die Tradition, die viele Formen beinhaltetvon bestimmten religiösen Praktiken bis zu mündlichen oder schriftlichen Texten - die organisierte »relecture« früherer Lesarten grundlegender Ereignisse. Diese »relecture« wird gemäß der jeweiligen Gesellschaftsstruktur »organisiert«. Gemeint sind damit religiöse Praktiken, Mythen oder Ursprungserzählungen, Weltanschauungen, Gesetze, Riten und so fort, die eine Menschengruppe verbinden. Man kann das am Beispiel Israels, anderer Religionen oder philosophischer, politischer oder anderer Traditionen verdeutlichen. Die soziale Wirklichkeit und der hermeneutische Vorgang, der sich auf sie bezieht, stehen in allen Fällen miteinander in Verbindung. Unwichtig ist dabei das Ausmaß oder die Anzahl der Traditionen. Die jahwistische Pentateuchredaktion stand sicherlich zu einem Zeitpunkt im Konflikt mit der elohistischen, aber in der jetzt vorliegenden Redaktion fließen sie in einer neuen Tradition zusammen, die sie ohne Konflikt aufnimmt. Dieser Vorgang hat tausend Verzweigungen. Wir sprechen deshalb im allgemeinen von Tradition, um das zu illustrieren, was auf der Interpretationsebene geschieht, wenn wir von einem bedeutsamen Ereignis ausgehen. Da jede Tradition 54
oder jedes Moment einer größeren Tradition in Konflikt mit einer anderen aktuellen Tradition gerät, die sich auf dasselbe interpretierte Ereignis beruft, stehen wir wieder dem gegenüber, was ich den Kampf um die »Aneignung« des Sinnes nenne - mit seinem Anspruch auf Totalität und Ausschließlichkeit. In einem weiteren Schritt neigt die Tradition, die die »Festlegung« einer Lesart der Ursprungsereignisse war, dazu, polysem zu werden, sich der Interpretation zu öffnen; denn keine lebendige Tradition ist statisch. Es wäre ihr Tod. Aber schon die Tatsache, daß man von Tradition spricht, schließt ein, daß es einen Kontext gibt, der sie begrenzt, kontrolliert und ihre Grenzen bestimmt. Hier führt die Neuinterpretation häufig zur Spaltung. Wenn die Tradition in ihrem Sinnzuwachs die äußerste Spannung erreicht hat, pflegen sich zwei Auswege zu eröffnen: Entweder sie teilt sich, oder sie wird in einem Kanon festgelegt, der seinerseits bestimmte Aspekte der Tradition ausschließen wird, was letzten Endes einer Spaltung gleichkommt. Zur Entstehung eines Schrift»kanons« kommt es in jeder Tradition, sei sie religiös, philosophisch, historisch oder politisch. Es ist unumgänglich festzustellen, welches die authentischen (echten) Texte von Platon, Thomas von Aquin, Marx sind; ebenso muß man in den Religionen die heiligen Bücher bestimmen (die Veden, den Koran, die Bibel, diesen oder jenen Mythenzyklus). Die Vermutung liegt nahe, es gebe in den Religionen ohne heilige Schriften keine Form von Kanon; innerhalb einer bestimmten Weltanschauung sind jedoch die Mythen nicht unbegrenzt und ohne Zusammenhang untereinander - im Gegenteil: Sie sind miteinander verknüpft, erläutern sich gegenseitig und sind in ihrem inneren Zusammenhang semantisch mit denen einer anderen Weltanschauung nicht vereinbar. Das ist eine Art Kanon von Mythen, wenn nicht von Schriften. In allen Fällen handelt es sich um Texte. Der Kanon ist ein Vorgang der »Festlegung«; er schließt andere Lesarten einer früheren Tradition aus und setzt der Interpretation neuer Erfahrungen Maßstäbe. So ist jede Festlegung eines Kanons Teil eines langen hermeneutischen Prozesses. An einem bestimmten Punkt seines Verlaufes wird ein »Schnitt« und eine Begrenzung der - mündlichen oder schriftlichen - Texte vorge-
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nommen, die die Interpretation der Ereignisse wiedergeben, die zur Entstehung dieser Tradition überhaupt erst geführt haben. Sind es viele Texte, dann konstituieren sie sich als Gesamtheit, die vom vorher entfalteten linguistischen Gesichtspunkt her einen neuen und einzigen Text bildet. So vollzieht sich der Übergang von der Intertextualität (ein Text steht in Beziehung zu einem anderen, ein Mythos wird durch einen anderen derselben Gemeinschaft erläutert, usw.) zur Intratextualität (alles befindet sich innerhalb eines großen Textes). Auf diese Weise ist die Bibel zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Buch geworden, und von der Genesis zur Offenbarung gibt es - trotz seiner mannigfaltigen Variationen und Manifestationen - einen umfassenden kerygmatischen Sinn. Dieser Sachverhalt macht verständlich, warum es in der Bibel derartig viele verschiedene kleine Traditionen und theologische Strömungen gibt, ohne daß dadurch ihre Anerkennung als ein Ganzes in Frage gestellt würde. Dieselbe Feststellung kann man auch innerhalb jedes einzelnen Buches treffen, das ja frühere Traditionen auf einer neuen Stufe aufnimmt: Immer handelt es sich darum, das, was bis dahin in einer zwischen textlichen Beziehung stand, in Intratextualität zu verwandeln. Eine weitere Erwägung über den Kanon soll sich anschließen. Es wurde festgestellt, daß dessen Bildung von irgendeiner Form der Spaltung begleitet ist. Der auf den Pentateuch reduzierte samaritanische Schriftkanon widersetzt sich einem anderen, dem judäischen Kanon des Südens, wo man die Auswahl der »heiligen« Texte sicherlich nach politischen und nicht allein nach religiösen Kriterien vorgenommen hat. Im Jahre 90 n. Chr. stellten die auf dem Konzil von Jamnia (in der Nähe des heutigen Tel Aviv) versammelten Rabbiner einen »endgültigen« Kanon heiliger Bücher auf; denn sie sahen die Notwendigkeit, das Wachstum religiöser Texte zu begrenzen und sich der Herausbildung einer christlichen Literatur, die sich als Neuinterpretation des Alten Testaments verstand, zu widersetzen. Als heilige Bücher sollten die bisher als solche gebrauchten gelten, die in Palästina auf Hebräisch oder Aramäisch und bis zur Epoche Esras verfaßt worden waren und den Christen keinen Ansatzpunkt für ihre christologische Lektüre des Alten Testaments boten. Dieser Vorgang be56
siegelte nicht nur - auf der Ebene geistlicher Literatur - die Abspaltung von einem christlichen Kanon. Er spaltete auch in mindestens zweierlei Hinsicht die jüdische Gemeinschaft: Zum einen wurde der von den hellenistischen Juden gebrauchte alexandrinische Kanon (Septuaginta) abgelehnt; zum anderen hat diese Entscheidung sicherlich d,ie Zurückweisung und damit den Ausschluß jüdisch-palästinischer Gruppen hervorgerufen. Auch die Bildung des neutestamentlichen Kanons war von Wechselfällen, Gegensätzen und Spaltungen begleitet. Im Zeitalter der Reformation kommt es zu einer neuen Spaltung im Kanon: Die Protestanten übernehmen den hebräischen Kanon der jüdischen Tradition und die Katholiken (und Orthodoxen) den alexandrinischen der Septuaginta, der in der Kirche seit ihrer anfänglichen Ausbreitung in die griechische Sprach- und Kulturwelt üblich war. Immer ist es derselbe hermeneutische Vorgang mit wechselnden Inhalten und Namen. An dieser Stelle stoßen wir, wie der Leser, die Leserin bemerkt haben wird, wieder auf die Sprachebene, von der wir ausgegangen waren. Der Sinn eines Ereignisses ist jetzt in den Sinn eines Textes aufgenommen und hat Kraft als geschriebenes Wort. Schon das» Wort« versetzte uns auf die Ebene der Sprache (vgl. das Schema in H.4). Doch die Bildung eines Kanons unterstützt die Einschreibung der Botschaft in einen abgegrenzten schriftlichen Text. Die vom Volk Israel erlebten Heilstaten werden wieder vergegenwärtigt, wenn sie in der Form gelesen, gehärt und interpretiert werden, wie sie durch vorangegangene Lesarten vermittelt worden sind, die nun in einem neuen Text (Intratextualität), der zur Norm wird, zusammenlaufen. Auf dieser Stufe entsteht das Theologumenon der heiligen und inspirierten Bücher. Aus dem bis hierher Untersuchten ergeben sich einige Er.wägungen zum Thema der Inspiration. Die dem biblischen Text verliehene Bedeutung als Offenbarung Gottes läßt uns dessen eben dargelegten Entstehungsprozeß vergessen. In III.3 werden wir uns mit dem Thema der Offenbarung befassen. Die theologische Auffassung von der Inspiration der Bibel ist ein Aspekt der Offenbarung, insofern diese in den von uns Bibel genannten heiligen Büchern enthalten ist. Die Inspira57
tionslehre betont, daß Gott die Autoren inspiriert, die Bücher zu schreiben, die den biblischen Kanon bilden werden; eine solche Gegenwart Gottes gilt als Unfehlbarkeits garantie. Danach werden dann die Grenzen dieser Unfehlbarkeit diskutiert, ohne dabei jedoch die Frage nach den sprachlichen Gesetzen zu berücksichtigen. Nun scheint mir im Licht der semiotischen und hermeneutischen Überlegungen eine derartige Gewichtung der Autoren irreführend zu sein. Denn sie trägt dem Sachverhalt nicht Rechnung, daß der Autor bei der Texterzeugung verschwindet. Man liest einen Text und nicht seinen Autor. Die biblische Inspiration an die Hagiographen zu binden, ist eine Form des »Historizismus« und nimmt dem Text diesen heiligen Nimbus. Was für eine Bedeutung hat dann die Neuinterpretation dieser Texte, die ja einen vom Autor nicht vorhergesehenen Sinnvorrat sammeln? Auch unter einem zweiten Aspekt erscheint die traditionelle Inspirationslehre als ungenügend: Sie führt zu einem Kurzschluß »Gott redet/Hagiograph/Text«: Gott inspiriert den Hagiographen zum Schreiben jenes Textes. Wir sehen, daß die Entstehung des Textes - vor allem des kanonischen Textes - den in der Geschichte handelnden Gott zum Ausgangspunkt hat. Der »Gott, der redet«, (= das Wort Gottes) ist das aus der Sicht des Glaubens vollzogene Verständnis der Heilsgeschichte. In jedem Fall müßte also die Inspiration als Symbol für die Wahrheit der biblischen Texte nicht auf die Autoren, sondern auf die Texte selbst bezogen werden. Die Inspiration wird besser als Vorgang am Text begriffen. Wenn der Text inspiriert ist, nimmt jede Neuinterpretation einen in gewisser Weise inspirierten Sinn auf, auch in ihrem Sinnvorrat und dem, was die Intention ihres Autors transzendiert. Mit der Bildung des Kanons ist die Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Es ist nur ein Anfang. Versucht der Kanon den Sinn eines Ereignisses festzulegen, das Erzählung geworden ist, übt er im selben Augenblick Druck auf die Polysemie des Ereignisses und auf die der Erzählung selbst aus. Es gibt einen Sinnüberschuß, der überfließt und in neue Praktiken und neue Worte aufgenommen werden muß. Neue Ereignisse werden im Lichte der normativen Schriften erlebt, aber sie überschreiten diese wie-
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derum. Was geschieht also, wenn der Kanon eine Festlegung ist, die keine Öffnung oder die Integration neuer Traditionen erlaubt? Die Polysemie ist im Kanon als einem Text vorhanden, und es ist eine Illusion, den Vorgang der Interpretation aufzuhalten. Es gibt verschiedene Auswege. Der Text kann zwar nicht verändert oder erweitert werden, aber es entsteht z. B. der Kommentar. So sind die Upanishaden eine Interpretation der in den Veden enthaltenen »Offenbarung« (sruti auf Sanskrit), wie es später auch der Vedanta sein wird. Der Talmud ist der authentische Kommentar zur Tara; die Schriften der Kirchenväter sind eine autorisierte Interpretation des christlichen Kanons und so fort. Auch einen »Kanon« der Texte von Marx gibt es, aber ihm folgen die Interpretationen unmittelbar. Außer den Kommentaren gibt es noch andere Literaturgattungen, die einen nicht mehr veränderbaren heiligen Text überdauern: Der Targum ist eine abgeschwächte Form der Neuinterpretation; der Midrasch ist ein neuer Text, der einen anderen angesichts neuer Situationen interpretiert. Die wenigen Angaben über die Kindheit des Mose (Ex 2) sind in einem Midrasch ausgeweitet. Dasselbe geschieht mit der Tradition, die das Leben Jesu von seiner Taufe an behandelt, wenn sie in den Evangelien zu Berichten über die Kindheit J esu ausgeweitet wird (Mt 1-2; Lk 1-2). Außerhalb des neutestamentlichen Kanons kennen wir viele Apokryphen, die das Leben Jesu »vervollständigen«. So wird versucht, die heiligen Texte so auszudehnen, daß sie in Situationen hineinsprechen, die in ihnen vorher noch nicht klar reflektiert waren. Manchmal ist die schöpferische Kraft eines Erzählung gewordenen Ereignisses so stark (wie es beim Neuen Testament als Neuinterpretation des Alten der Fall ist), daß es infolge des zugrundeliegenden Konflikts der Interpretationen in den Kanon selbst integriert wird. Diesen Prozeß kann aber nur die Gruppe begründen, die die Neuinterpretation des Alten Testaments vollzieht (die christliche Kirche). Als Konsequenz bleibt der christliche Kanon in einem unaufhebbaren Konflikt mit dem jüdischen. In beiden Lesarten beansprucht man, den eigentlichen Sinn zu erfassen, und so kommt es notwendig zur Spaltung. Wie man sieht, ist die Geschichte des Schriftkanons Teil eines
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hermeneutischen Prozesses, der wiederum Teil der Geschichte der Traditionen ist. Der Kanon ist weder der Beginn noch das Ende einer Tradition. Er ist ein Augenblick in einem ununterbrochenen Verlauf. Spricht man von der »Inspiration des Kanons«, bezeichnet man einen neuen hermeneutischen Vorgang: Es ist eine Interpretation dieser Sinnfestlegung, eine geschichtlich bedingte Entscheidung einer Gemeinschaft, die ja immer als eine Anweisung Gottes verstanden wird. Von da an ist es nicht mehr möglich, irgendein Buch dieses normativen Kanons zu streichen oder hinzuzufügen. Ich habe aber auch betont, daß der Interpretationsprozeß nicht abgeschlossen werden kann. Es entsteht eine große literarische Produktion - von einer einfachen Übersetzung (wie der Septuaginta) bis hin zum Targum, Pescher oder Midrasch. Der Targum ist die aramäische Übersetzung des hebräischen Textes, eine freie Übertragung mit den unumgänglichen Aktualisierungen der Botschaft. Der Pescher ist ein versweiser oder spezielle Passagen auswählender Kommentar zum biblischen Text. Auf das Zitat des Verses folgt der Kommentar, der mit den Worten: Pescher oder pisro beginnt: »Die Erklärung«, oder »seine Erklärung« ist ... In den Schriftrollen vom Toten Meer bildet der Pescher eine charakteristische literarische Gattung. 29 Es handelt sich um eine Art Neuinterpretation des kanonischen Textes. Der Midrasch ist, wie ich schon vorher erläuterte, die freie Ausweitung eines biblischen Textes in Form einer neuen Geschichte. Der Midrasch ist Teil der rabbinischen Literatur, die mindestens bis in die Zeit Jesu, wenn nicht weiter zurückreicht. Es gibt viele Midraschim. Aber der Midrasch ist nicht nur eine literarische Gattung, sondern auch eine hermeneutische Methode zur Ausschöpfung des tieferen Sinnes eines biblischen Textes. Auf dieser Ebene nennt man ihn Derasch. JO
29 Über die Bedeutung des Geheimwissens, das zum Pescher gehört (das ist ein hermeneutischer Aspekt!), informiert EI. Garda Martinez, EI pesher: interpretacion profetica de la Escritura, Salm. 26 (1979), 125-139. 30 Vgl. Anm. 6.
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Das sind Beispiele für das Überfließen des Kanons, wenn es einmal zu seiner traditionellen, nunmehr anerkannten Unbeweglichkeit gekommen ist. Aber es gibt auch den exegetischen oder homiletischen Kommentar zu den biblischen Texten oder die theologischen und philosophischen Systematisierungen, die einer Tradition folgen und eine andere ausschließen. So wird der Kanon, der zum Zeitpunkt seiner Bildung der »festgelegte«, starre und autoritäre Ausdruck eines bestimmten Sinnes war, wieder polysem - durch die Tatsache, daß er ein Text ist, durch die Distanz, die zwischcn ihm und den folgcnden Generationen, die ihn lesen, entsteht, und durch das Leben der Gemeinschaft, die ihn tradiert. Ich habe mehrere Weisen aufgewiesen, wie die relectures den Sinn eines Textes entfalten, der nicht mehr neu geschrieben wird. Festzuhalten ist auch, daß sich die relecture der Bibel nicht allein - auf der Ebene der Spezialisierung - als literarische Arbeit vollzieht. Niemals ist dies der Fall. Weder Midrasch noch Pescher sind Ergebnisse der Spezialisierung von Rabbinern oder Gesetzeslehrern. Sie sind vielmehr in einer Gemeinschaft, in vielen Gemeinschaften oder innerhalb theologischer Strömungen beziehungsweise religiöser Gruppen entstanden. Das manchmal ausdrücklich formulierte Trachten des Exegeten, den objektiven, historischen Sinn des biblischen Textes zu fixieren, ist Illusion. Zudem ist es unwahrscheinlich, daß er das »Dahinter« des Textes zu entdecken vermag. Darin aber liegt sein Anspruch, wenn er eine Form der historisch-kritischen Methode anwendet, die weder durch eine in weitem Sinn verstandene Literarkritik noch durch Semiotik und Hermeneutik ergänzt worden ist. In Wirklichkeit aber leuchtet er nur Möglichkeiten aus, wie man Texte in einer immer wieder neuen Weise interpretieren kann. Man analysiert das Denken des Paulus, aber Paulus ist uns durch seine Texte bekannt. Kein Exeget hat ihn je anders kennengelernt. Anders ist es, wenn die historische Kritik außertextliche oder aus dem kulturellen Kontext stammende Elemente zur Kenntnis über den Autor beitragen kann. Das alles ist wertvoll, ich habe es schon in der Einführung betont. Aber die Sinnreserve eines Textes hängt nicht von diesen Kenntnissen ab, sondern vom Text selbst und vom Leben, das 61
die Fragen an ihn richtet. Das ist es, was ich behaupte und als These dieses Essays weiterhin vertreten werde. Weiterhin muß berücksichtigt werden, daß der Exeget in eine Tradition und einen geschichtlichen Kontext eingebettet ist, daß er Subjekt bestimmter sozialer Tätigkeiten ist. Das alles qualifiziert seine Bibellektüre als relecture. Dasselbe macht die Kirche, wenn sie das Wort Gottes auslegt: Ihre Lektüre ist »festlegend«, weil sie von einem bestimmten Standort aus erfolgt, mit anderen Worten: von einer vorgegebenen, gleichzeitig religiösen und politischen Praxis aus. Und das Volk? Seine Bibellektüre ist ihm durch die der »Exegeten« (die Theologen und Spezialisten) und der »Mächtigen« (die Autorität der Kirche) vermittelt worden. Bekommt es aber einmal ohne diese Vermittlung Zugang zu diesem oftmals verbotenen Buch, dann ist seine Lektüre von einer unvermuteten Ergiebigkeit. Dasselbe geschieht bei der Lektüre von einem Befreiungsprozeß oder von einer anderen Situation aus, in der das Volk oder die Gemeinschaft Subjekt der Geschichte und der Lektüre des biblischen Kerygmas sind. Was geschieht hier? Diese Frage führt uns zu einer neuen Vertiefung in den Vorgang der relecture der Bibel. Aber vorher will ich das in diesem Abschnitt Untersuchte in einem Schema zusammenfassen: r::--:-~ 11
IEreignis ~ \ Polysemie
\
Wort-Bericbt\-+Tradition(cn) --.. KANON ~-+(re)/ecture \(mündl.lschriftl.) \ '~
\
'
\,
\
.
\
\
Festlegung~ Festlegung~ ~ Festlegung~ ~Festlegung Polysemie
Polysemie
Polysemie
(Das Ereignis öffnet sich für viele Lesarten, von denen jede den Sinn festlegt, um sich von neuem zu öffnen, usw.) 2. Das» Voraus« des Textes Wenn jede Lektüre eine Sinnerzeugung ist und von einem Standort oder aus einem Kontext heraus stattfindet, dann erweist sich als das wirklich bedeutsame nicht das geschichtliche »Dahinter« eines Textes, das man sicherlich nicht mißachten darf, sondern sein »Voraus«: das, was er als Botschaft, die das 62
Leben betrifft, dem nahebringt, der sie empfängt oder sucht. Als polysemer Text ist seine Lektüre immer forschend. Der Text entfaltet eine »Welt« von Möglichkeiten nach vorne, die der Leser mit seiner eigenen» Welt« in Zusammenklang bringt. Wir mögen das »Horizontverschmelzung«31 nennen - das Wichtigste ist, daß das» Voraus« des Textes seine Starrheit und die Sperrigkeit des vergangenen als des einzigen schon festgelegten Sinnes ablehnt. Die Bibel ist ein offener Text. Schon als Text ist sie es. Das müssen wir wissen, wenn wir wollen, daß die Bibel auch heute eine lebendige Botschaft sei. Jene, die die befreiende Botschaft der Bibel am dringendsten für ihr Leben brauchen, die Unterdrückten jeder Art, hatten nur selten Zugang zu ihr. Aber das, was ich die relecture der Bibel nenne - sie ist ein Aspekt des komplexen Vorgangs der Hermeneutik -, geht besonders sie an. Deshalb ist das Wissen um die Bedeutung der hermeneutischen Theorie lebenswichtig für die Theologie der Befreiung, für die Reflexion des Glaubens aus der Sicht der Hoffnungen und Kämpfe der Unterdrückten. Aus dieser Perspektive einer Bibellektüre von der Basis her gibt es einige Schwierigkeiten und Vorteile. Zwei Schwierigkeiten seien erwähnt: a) Vor allem ist die Bibel ein sehr weitschweifiges Buch, in dem alles steht und in dem man alles finden kann. Gibt es dazu einen klärenden Beitrag der narrativen Semiotik und der Hermeneutik? Wir werden sehen, daß das der Fall ist. b) Die Bibel ist zum größten Teil von einer wohlhabenden und vom Volk distanzierten sozialen Klasse hervorgebracht worden. Besonders sichtbar ist das im Alten Testament, das deutlich die Theologie des Südens auda), vor allem Jerusalems widerspiegelt, wo die das Land beherrschende Klasse agierte. Diese allgemeinen Umstände setzen sich im Prozeß der katechetischen und theologischen Vermittlung durch die Jahrhunderte hindurch fort. Die klassische Theologie hatte die Mittel, sich bis ins Unendliche fortzupflanzen, und es bestand keine Möglichkeit, aus ihren Kreisen auszubrechen.
31 H. G. Gadamer, a.a.O., 289f.; 356f.; 375.
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Welches sind die Vorteile der Bibel in der uns vererbten Form für eine schöpferische und befreiende Lektüre? Einer ist unschätzbar: Ihr Ursprung fällt mit dem Ursprung ihres Volkes zusammen; er liegt in einem BeJreiungsprozeß; die israelitische Vorstellung von J ahwe, dem Gott des hebräischen Volkes, ist unlöslich an die Erfahrung der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei geknüpft. In diesem Zusammenhang wird der H eilsgott zum BeJreiergott. Nachdem er die Heldentat der Flucht aus Ägypten erzählt hat, kommentiert der Text: »Als Israel sah, daß der Herr mit mächtiger Hand an den Ägyptern gehandelt hatte, fürchtete das Volk den Herrn. Sie glaubten an den Herrn und an Mose, seinen Knecht« (Ex 14,31). Es ist ein Glaube, der der Befreiungserfahrung entspringt. Diese Befreiungserfahrung wird von nun an der Bezugspunkt im heilsgeschichtlichen Projekt Israels sein. Deshalb versichert Gott als redender Gott in der Erzählung über die Berufung des Mose zum Anführer der Hebräer (Ex 3,1-20) - einer Erzählung, die auch das »Wort« des von Generationen wiedergelesenen Exodusereignisses ist -, daß er im Befreiungskampf »mit« Mose sein wolle (Ex 3,12). Die Glosse der folgenden Verse 13 und 14 bezeichnet Jahwe nicht als »den, der ist«, sondern als »den, der gegenwärtig ist« (bei Mosellsrael). Dies ist ein Kommentar zu Vers 12 und verknüpft den bereits bekannten »Jahwe«-Namen mit Gottes heilvoller Gegenwart in jenem großen Ereignis. 32 Der Gottesbegriff der Bibel ist eine relecture der Exoduserfahrung. Deshalb auch werden die Institutionen, die Feste, die prophetische Kritik am Bruch des Bundes, die Ankündigung einer neuen Gerechtigkeitsordnung, die messianische Hoffnung, die Verkündigung Jesu das »Gedenken« an den Exodus und die damit verbundene Befreiung wiederbeleben. Auch das vom allgemeinen mythischen Weltbild
32
J. S. Croatto, Yave, el Dios de la »presencia« saIvlfica. Ex 3,14 en su contexto literario y querigmatico, RevBib 43:3 Nr. 3 (1981), 153-163. Ausführlicher: ders., YO ESTARE (CONTIGO). Interpretacion de Ex 3,13-14, in: V. Collado/E. Zurro (ed.), EI misterio de Ia Palabra, Madrid 1983, 147-159.
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Übernommene wird einen neuen Sinn erhalten: der Tempel, viele Riten, die Redeformen über J ahwe und so fort, die oft aus der symbolischen Sprache der israelitischen Nachbarreligionen übernommen worden sind (vor allem in der Hymnologie Israels und im prophetischen Streit um die Identität J ahwes). Um die Theologie des Gottes der Befreiung zu stärken, verbindet man damit das Theologumenon der benachbarten Anschauungen von Gott (und dem König als seinem Stellvertreter) als Verteiler und Garant der Gerechtigkeit und des Wohlergehens des Landes. 33 All dies bildet auf der Ebene des Textes eine »semantische Achse«, die auf der Ebene der Botschaft zugleich eine »kerygmatische Achse« ist. Im Alten Testament von zentraler Bedeutung, erstreckt sie sich ins Neue in der Heilsbotschaft Jesu, die vor allem an die Unterdrückten aller Schattierungen gerichtet ist, in seiner Option für die Armen, in seinem Tod als Prophet, den man wegen seiner Worte und Taten abgelehnt hatte. Man muß sich nur die programmatische Szene von Lk4,16-20 ins Gedächtnis rufen: Jesus liest als in Ihm »erfüllt« den großen Text Jes61,1-2 mit der Ankündigung der guten Botschaft für die Armen, der Befreiung für die Gefangenen, des Augenlichtes für die Blinden (V. 18). Wenn die Erzählung mit einer erneuten Erwähnung der »guten Botschaft« (V.43) endet, so bleibt sie doch die Botschaft an die Armen und Unterdrückten und nicht irgendeine allgemeine
33 Vgl. H. H. Schmid, Gerechtigkeit als Weltordnung (BHTh 40), Tübingen 1968; A. Gamper, Gott als Richter in Mesopotamien und im Alten Testament. Zum Verständnis einer Gebetsbitte, Innsbruck 1966. Das Thema begegnet besonders in den Rechtstexten und bei den Königstitulaturenj vgl. Sh. M. Paul, Studics in the Book of the Covenant in the Light of Cuneiform and Biblical Law (VT. S 18), Leiden 1970 j M.}. Seux, Epithetes royal es akkadiennes et sumeriennes, Paris 1967; N. P. Lemche, Andurarum and misarum: Comments on the Problem of Social Edicts and their Applications in the Ancient Near East, JNES 38 (1979) 11-22; H.]. Boecker, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient (NStB 10), Neukirchen 21984; eine Zusammenfassung des Problems habe ich gegeben in:]. S. Croatto, EI Mesias liberador de los pobres, RevBib 32,137 (1970), 233-240.
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und diffuse Aussage. So schließt der Text: »Denn dazu bin ich gesandt worden« (V. 43 b). Ist das nicht eine vorzugsweise, wenn nicht ausschließliche Option für die ArmenP4 Das Ostergeheimnis, Zentrum des christlichen Kerygmas, wird auf unterschiedliche Weise in den Erzä~lungen des Neuen Testaments 35 interpretiert und ausgewertet - gerade aufgrund seines Sinnvorrates als Ereignis und als Text der Tradition, die mit den Erzählungen der Evangelien ihren Höhepunkt erreicht. In der einen oder anderen Form nimmt man die Kraft der Befreiungshoffnung wahr, die im Bewußtsein des Volkes der Bibel lebt. Trotz der kontextuellen Verschiebungen durchtränkt die Befreiungsbotschaft das Neue Testament, und man spürt, manchmal von ferne, die Echos der ExodustheologIe. 3. Die Intratextualität der Bibel Die Entfaltung unseres Themas zwingt mich dazu, eine Präzisierung vorzunehmen, die - veranlaßt durch die Semiotik - für die Hermeneutik von Nutzen ist. Die narrative Semiotik zeigt uns, daß die Botschaft eines Textes nicht im Fragment einer Erzählung liegt, sondern in ihrer Ganzheit als einer Struktur, die einen Sinn ausdrückt. In der Erzählung von Isaaks Opferung in Gen 22. z. B. enthüllt kein Schlüsselsatz die Bedeutung der Episode; vielmehr nimmt die ganze Abfolge narrativer Funktionen an der Sinnerzeugung durch die entsprechende Lektüre teil. Aber eine mit einer anderen Erzählung »verwobene« Erzählung führt zu einer neuen Erz~hlung und nicht zu einer Summe von zweien, und der Sinn wird in dieser neuen codierten Ganzheit, die einen Text bildet, liegen und nicht mehr in der Summe bei-
34 Eine gute Exegese von Lk4 ist C. Escudero Freire, Devolver el Evangelio a los pobres, Salamanca 1978,138-141 und besonders 259-277. 35 Zur Vertiefung dieser Aspekte s.]. C. Maraschin, Boas novas aos pobres e libertacao aos presos e oprimidos, Simpösio 21 (1980), 36-51;]. PixJey, EI Reino de Dios (buenas nu evas para los pobres?, Cuadernos de teologia 4:2 (1976), 77-103; zum Jesus der Evangelien vgl. ]. S. Croatto, Liberaci6n y Libertad (Anm. 2), Kap. V.
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der literarischer Einheiten oder ihrer ursprünglichen Bedeutungen. Die Sinnerzeugung ändert sich, und so geht es weiter in dem Maße, in dem ein Text einem anderen einverleibt wird, das heißt indem die Intertextualität in die größere Intratextualität übergeht. Durch die kritischen Methoden lassen sich Hinzufügungen und Interpolationen in den Texten erkennen. In Ps 78 stört V. 9 im Zusammenhang. Man lese den Psalm ohne diesen Vers, und der Hymnus erweist sich als ein nationales Sündenbekenntnis, wobei die Emphase auf Bundesbruch und Gesetzesuntreue liegt. Die Verben in der dritten Person Plural der Verse lOH. beziehen sich auf die »Väter«, auf die Exodus- und Wüstengeneration (vgl. V. 4b-7). Bei einer zweiten Lektüre, der gegenwärtigen, setze man Vers 9 wieder ein: »Die Söhne Ephraims, Kämpfer mit Pfeil und Bogen, wandten den Rücken am Tag der Schlacht.« Das hat nichts mit der bisherigen Aussage des Hymnus zu tun, aber es erzeugt eine strukturelle Sinngebung: Die folgenden Verben beziehen sich jetzt auf die Ephraimiten," die Nordisraeliten. Der ganze Psalm ist auf diese Weise in seiner Struktur und seiner Botschaft verändert. Diese Modifikation wird durch die Ergänzung der Verse 67 bis 72, die die Erwählung Judas und Jerusalems, das heißt die Ideologie des Südreiches preisen und das Nordreich zurückweisen, bekräftigt. Welchen Text sollen wir lesen? Zweifellos, auch wenn es uns mißfällt, seine aktuelle Gestalt. Die kritische Rekonstruktion der Erzählung läßt ihre neue Bearbeitung erkennen. Aber im üben;nittelten Text ist die Hinzufügung schon keine mehr. Es ist ein neuer Text, der als solcher Sinn erzeugt. Aber er wird immer sein hermeneutisches »Voraus« haben, jenes, das uns von einem neuen Horizont aus »anspricht«, und das bedeutet in gewissem Sinn eine neue Intratextualität. Der Übergang von der Intertextualität zur Intratextualität kann hervorragend am Amosbuch illustriert werden. Die Einteilung der prophetischen Erzählung in zwei Abschnitte mit entgegengesetzten Vorzeichen ist bekannt. Während 1,1-9,10 verschiedene an Israel gerichtete Sprüche enthält, die die sozialen Sünden der Mächtigen gegen die Niedrigen anklagen, wird in 9,11-15 die Wiederherstellung der davidischen Dynastie und 67
eine große blühende Zukunft angekündigt. Ganz eindeutig sind diese Schluß verse nachamosisch (die Bilder, der Inhalt, der Gegensatz zum Vorangehenden sind Beweis genug). Aber was folgt daraus? Die Annahme, ein Redaktor habe Sprüche aus verschiedenen Epochen aneinandergereiht, ist eine banale Feststellung. Es ist etwas anderes, hierin einen linguistischen Sachverhalt oder einen hermeneutischen Vorgang von großem theologischem Wert zu erkennen. Tatsächlich ist das Amosbuch in seiner gegenwärtigen Gestalt ein Text und muß als solcher gelesen werden, will man seine Botschaft begreifen. Unwichtig, daß es sich nicht mehr um den Text des historischen Amos handelt. Es ist dennoch ein Text von Amos (vgl. die Analyse in 1.3.b). Die abschließenden Heilssprüche verändern die erzählerische Stellung und damit die Bedeutung der Unheilssprüche. Bedeuteten sie vorher (in ihrer Verkündigung durch den Propheten oder als literarisches Werk) definitives Gericht und Zerstörung des Volkes Israel, so besagen sie jetzt, daß die Strafe nicht endgültig ist und daß die tiefere Absicht zugrunde liegt, die Kontinuität der Verheißung zu ermöglichen: Gott kann die Sünde, Falschheit und Ungerechtigkeit nicht ertragen (Am 1-9), welche den historischen Plan, wie er sich in der Befreiung im Exodus zeigte, ungültig machten (siehe das Thema von 2,6-16). Israel kommt nicht aufgrund der prophetischen Anklage zur Umkehr .l6 , sondern im Leiden der Zerstörung, einer Situation, in der es die Treue zu Gott als Befreier wiedererlangt, der ein weiteres Mal aus einer neuen Unterdrückung errettet (der des Exils). Ich wiederhole: Am 1,1-9,15 ist ein Text, der als narrative und strukturelle Ganzheit gelesen werden muß, die die Botschaft der integrierten Teile verändert. Es ist mit anderen Worten nicht dasselbe, ob 9,11-15 eine unabhängige Einheit gebildet hätte oder ob es eine narrative Sequenz in der großen Erzählung 1,1-9,15 ist. Als hermeneutischer Vorgang gibt der Amostext zu verstehen, daß das Ereignis der Gefangenschaft oder die Situation der Unfreiheit im nachexilischen Juda im
36 Vgl. j. S. Croatto, Palabra profetica y no-conversi6n. La tematizacion biblica de1 rechazo al profeta, VoxEv 1984,9-20.
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Licht der neuen Hoffnung auf Befreiung zur Neuinterpretation der alten prophetischen Botschaft (die in ihrem Gerichtsaspekt schon realisiert war) geführt hat. Unterdessen wird der Leser, die Leserin bemerkt haben, daß die aktuelle Redaktion sich nicht mehr an das Nordreich Israel, sondern an Juda wendet. Die relecture brachte diese Verschiebung mit sich. Neulesen heißt nicht Sinnentleerung, sondern Erforschung der Sinnfülle, die mit der textlichen Polysemie angelegt ist. Am 9,11-15 hebt mit großer Klarheit den Anspruch auf Gerechtigkeit von 1,1-9,10 als den kerygmatischen Kern heraus, der sich auf den neuen Zeitabschnitt, der in den Schlußversen der Erzählung angekündigt wird, auswirkt. Nun kann man das, was uns dieses Beispiel im kleinen gezeigt hat, auf die ganze Bibel ausdehnen. In bestimmter Weise ist sie ein Text, vor allem seit sie einen abgegrenzten Kanon literarischer Werke bildet. Diese Festlegung stiftet neue Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilen und zwischen den unterschiedlichen Korpora (rechtliche, historische, prophetische, weisheitliche, evangelische, briefliche, apokalyptische usw.). Wie jedes strukturierte literarische Werk hat sie einen Anfang und ein Ende und eine innere Ordnung. Auch die Nebeneinanderstellung von jüdischem Kanon und urchristlichen Schriften erzeugt eine neue Wirkung: das Neue Testament tritt als eine großartige Neuinterpretation neben das Alte. Aus dem äußerlichen Nebeneinander entsteht so eine geschlossene Ganzheit. Zwar ist es von praktischem Nutzen, weiterhin von »Altem« und >~Neuem« Testament zu sprechen (um Blöcke, Traditionen, Epochen zu unterscheiden); aber mit diesen Begriffen wird die hermeneutische Bemühung der Urkirche, einen einzigen Text zu schaffen, zunichte gemacht. Es ist dann besser, Begriffe wie Bibel oder Schrift zu verwenden. Ebenso kann man nicht Spezialist für »Altes« oder »Neues« Testament sein. Das ist eine antisemiotische Zergliederung. Wohl kann man sich stärker diesem oder jenem Teil der Bibel widmen. Aber »Altes Testament« zu studieren oder zu lehren, ohne auf das sogenannte »Neue Testament« einzugehen, das »Neue« zu studieren oder zu lehren, ohne seine Wurzeln im sogenannten »Alten Testament« zu suchen, bedeutet einen epistemologischen Bruch, der besonders
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den Sinn des Neuen Testaments als relecture der Traditionen Israels übersieht. Das wäre, ironisch gesprochen, eine neue relecture der Bibel, so als bestünde sie. aus zwei unterschiedlichen Werken - eine freilich sehr merkwürdige Vorstellung. Wenn deshalb die Bibel ein Text ist, stellt sie nicht eine Summierung literarischer Einheiten dar, sondern deren Zusammenfügung zu einem zentralen, linguistisch kodierten Kerygma. So ist es möglich, in dieser großen Erzählung die »semantischen Achsen« zu erkennen, welche jene Sinnerzeugung bestimmen, die unsere Bibellektüre ausmacht. Das ist eine fast neue unendlich wichtige Aufgabe, vor allem angesichts der am Beginn von Abschnitt 2 angedeuteten Schwierigkeit (die Weite und Vielfalt der theologischen Traditionen und Konzepte). Am Ende des Abschnitts 2 hatte ich versucht, eine dieser »Sinnachsen« der Bibel als einer Ganzheit erfassen, nämlich das Kerygma der Befreiung der Unterdrückten. Andere »Achsen«, die die ganze Bibel als große Erzählung strukturieren, sind die der Gerechtigkeit, der Liebe und der Treue, der Hoffnung, des Bundes, der Prophetie, der Gegenwart Gottes als Gnade, des Gerichts, der Freiheit u. a. Die Aufgabe besteht nicht in der Untersuchung bedeutsamer Themen, sondern in ihrer Strukturierung im biblischen Gesamtwerk. Die erneute Beschäftigung mit der Bibel als einem Text wird die sonst eher bruchstückhafte Lektüre von Perikopen oder Einzelbüchern reicher machen. So müssen auch die auf den Einzelbegriff begrenzten Studien abgelehnt werden, denn sie konzentrieren die Botschaft statt auf die Erzählung als eine Gesamtheit auf die Worte in ihrem semantischen Wert, was manchmal einer Rückkehr zur Ebene der Sprache oder des Wörterbuchs gleichkommt. Die Worte erhalten ihren Sinn nur im Zusammenhang eines Textes. Gibt es innerhalb einer größeren Erzählung viele Einzelerzählungen, wird der Sinn ein und desselben Wortes nicht vereinheitlicht. Der Begriff »Gerechtigkeit« z. B. hat im Verlauf der ganzen Bibel nicht durchgehend denselben Sinn. Es wäre ein Fehler, der manchmal begangen wird, daß der Bedeutung der Vokabeln Gewalt angetan und übersehen wird, daß nicht die Vokabel, sondern die Erzählung wichtig ist. Spreche ich von »semantischen Achsen«, so behaupte ich nicht, daß 70
Begriffe. wie »Gerechtigkeit«, »Befreiung« usw. innerhalb der ganzen Bibel den gleichen Sinn haben. Vielmehr kommt es in ihr als narrativer Gesamtheit zu einer neuen Sinnerzeugung, bei der viele Sinnmöglichkeiten von Wörtern oder Ideen, die eben nicht aus ihren literarischen Zusammenhängen verschwinden, sich auf eine neue Sinnwirkung hin ordnen. Die »semantischen Achsen« der Bibel zu suchen, heißt, sie neu - unter hermeneutischem Blickwinkel und unterstützt durch den Beitrag der Semiotik - zu lesen. Es gibt zum Beispiel biblische Erzählungen und Einzeltexte, die die Auffassung vom König als Gottes Stellvertreter verteidigen, der von Ihm zur Herrschaft über Israel eingesetzt ist, und es gibt andere, die ihn als Konkurrenten Jahwes bezeichnen oder ihm Untreue gegenüber seiner Aufgabe vorwerfen. Es gibt Texte, die die Autorität ablehnen und andere, die zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit mahnen. Folgt nicht trotzdem aus der Bibel als einem Ganzen, daß die Macht - des Königs, des Richters und so fort - ein Mittel zur Rettung der Hilflosen ist, derer, die keine Macht haben und die deshalb ausgebeutet werden, derer, die über keine Macht verfügen und sich deshalb nicht befreien können? Folgt aus ihr nicht zugleich, daß die Macht in den Händen der Menschen zerbrechlich ist, leicht korrumpiert wird und zum Unterdrückungsinstrument entartet? Man muß sich erinnern, daß die Synagoge den Schriftkanon als Gesamtheit begriffen hat. Wenn einige Texte auf das »Gesetz« anspielen, dann meinen sie damit nicht allein den Pentateuch, sondern alle Schriften, sofern sie göttliche Satzung für Israel sind. Auch die Bezeichnung »Propheten« bezieht sich zuweilen auf die Gesamtheit jener Bücher des Kanons, die als eschatologische Botschaft verstanden werden. Genau dies war auch die Perspektive der Urkirche, die das ganze Alte Testament als gesamten und einheitlichen Text (semiotische Ebene) unter einem hermeneutischen Vorzeichen - dem Ostergeheimnis - wiedergelesen hat. Diese relecture bestand nicht darin, die weniger geeigneten Bücher oder die Passagen, die den Sinn des Gesetzes rühmen und manchmal sogar der urchristlichen Praxis widersprechen (wie der Brauch des Bannfluches oder cherem oder die Vorstellung von der Völkerherrschaft Israels: Dtn 15,6; Jes 71
60,12 u. a.), aus dem Alten Testament zu entfernen. Man hätte erwartet, daß das Buch Leviticus und die vielen Texte, welche die für die Christen überflüssig gewordene priesterliche Ordnung regeln, ausgeschlossen würden. Das ist aber nicht geschehen. Das sogenannte Alte Testament ist als Einheit Gottes Wort, das über den Textzusammenhang des einzelnen Abschnittes hinausreicht und auf ein kerygmatisches Telos, Christus nämlich, hinweist (GaI3,24 und Röm 10,4). Mit einer derartigen Umgestaltung des jüdischen Kanons hätte die Kirche einen anderen Text hervorgebracht, der nicht mehr eine Aneignung des Sinns der Traditionen Israels dargestellt hätte. Das war ein entscheidender Punkt; denn die entstehende Kirche hatte nicht das Bewußtsein, eine neue Gründung zu sein, sondern verstand sich als Neuinterpretation Israels - ja, mehr noch die Interpretation seiner Traditionen (die erwartete hermeneutische Festlegung), wie man an der Aneignung der gesamten Symbolik Israels in den christlichen Schriften (den kanonischen und den patristischen), am missionarischen Bemühen, J esus als den von Israel erwarteten Messias zu verkündigen, an der zunächst an die Juden gerichteten Predigt und so fort sieht. Die Kirche war also das neue Israel und mußte als solches seine Schriften als Gesamtheit begreifen und verstehen, in ihnen die bedeutungsvollen zentralen Themen zu entdecken. Während die rabbinische Exegese mehr an die kleinen Texte, an die Worte (vgl. den Talmud) gebunden war, bemühte sich die christliche um einen Zusammenklang dieser Schriften in einem gemeinsamen Sinngefüge. So hatte sie sich an der Intratextualität der Bibel orientiert, fügte ihr später neue Texte (Evangelien, Briefe und andere) im Sinne ihrer Neuinterpretation hinzu und bildete so eine neue Intertextualität, in der die Texte zueinander in Beziehung stehen. Aus dem Abstand heraus muß unsere relecture erneut beim Zustand der Bibel als einer neuen Intratextualität ansetzen, damit wir ihre neuen semantischen Achsen wiederentdecken und sie von unserem Lebenszusammenhang aus wiederlesen können.
4. Wem gehört die Bibel, und wen betrifft sie? Es wurde bereits angedeutet, daß die Bibellektüre aus der Sicht der Unterdrückten oder der Befreiung einen Vorteil hat. Er . liegt darin, daß ihr Ursprung durch tiefe Erfahrungen von Leid und Unterdrückung, von Befreiung und Gnade geprägt ist Erfahrungen, von denen aus der israelitische Glaube Gott als Retter in einer Dimension der Befreiung erkannt hatte. Dieser Glaube, eine Erkenntnis Gottes, wurde zu einem bestimmten Zeitpunkt in den »Credos« (Dtn 6,20-24; 26,5-9 u.ö.), in den großen Berichten, bei den Propheten, im Kult aufgehoben. Wenn die Tradition Israels durch so viele Jahrhunderte hindurch diese Thematik fortgesetzt hat, so geschah dies deshalb, weil das Volk zahlreiche Prozesse von Unterdrückung und Befreiung durchlebt hat. Selbst in seiner letzten geschichtlichen Etappe, in der die heiligen Texte entstanden (nachexilische Zeit), wurde das Land politisch von fremden Mächten (Persern, Seleukiden, Römern) beherrscht und wirtschaftlich durch schwere äußere und innere Tribute belastet. Die Soziologie hilft uns, die schriftliche Fixierung alter Traditionen von Unterdrückung und Befreiung, wie sie uns in den Codes von Geschichte und Verheißung vorliegen, im Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu verstehen. Die in Neh 9 beschriebene Situation ist aufschlußreich. Mit der Rückkehr einer Karawane ehemaliger Gefangener aus dem Exil ist die Organisation der neuen Gemeinde abgeschlossen. Das Ereignis ist um das Gesetz zentriert- denn ein politisch unterdrücktes Land hat keinen anderen Zusammenhalt als den religiösen, dessen Ausdrucksformen: Kult, Tempel, heilige Institutionen in einem Kodex zusammengefaßt sind -; und dies wird in einer Erneuerung des Bundes gefeiert (Neh 8-10). Der »geschichtliche Prolog« dieser Feier 37 berichtet über die Taten Gottes von der Schöpfung an bis zur Geschichte Israels mit seinem Leiden und seinem Zusammenbruch, in denen
37 Zu diesem Strukturelement der internationalen Vasallenverträge, das in der Bibel aufgenommen worden ist, vgl. J. S. Croatto, Historia de la salvaci6n, Buenos Aires 61983, SOff.
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man auch das Eingreifen Gottes sieht. So ist der Hymnus Neh 9 in der Tat in die literarische Form des »nationalen Sündenbekenntnisses« gekleidet, durch welches die Hoffnung auf Befreiung gestärkt wird. Deshalb ist dessen Schluß so beredt: »Darum sind wir heute Knechte. Du hast unseren Vätern dieses Land gegeben, damit sie seine Früchte und seinen Reichtum genießen; wir aber leben darin als Knechte. Sein reicher Ertrag geht an die Könige, die du wegen unserer Sünden über uns gesetzt hast. Sie verfügen über uns selbst und unser Vieh nach ihrem Belieben. Darum sind wir in großer Not« (V. 36f.). Der Gedanke liegt nahe, daß dies dieselbe Situation ist, die sich auch in der vorliegenden Struktur des Pentateuch spiegelt. Er ist das Buch der Verheißung und Hoffnung, das sogar die Tat der Befreiung aus Ägypten als Aufbruch zum Land, das heißt zur Verwirklichung jener Verheißungen (Land, Volk, Nachkommenschaft) erzählt. Nun schließt der Pentateuch jedoch, ohne diese Erfüllung zu erzählen. Alles endet am jenseitigen Ufer des Jordan, in den Steppen von Moab, vor J ericho. Angesichts dieser Widersprüchlichkeit haben einige Exegeten die Hypothese eines Hexateuchs aufgestellt ( = sechs Bücher einschließlich J os), dessen Existenz jedoch niemand auch nur annähernd nachweisen konnte. Dennoch gibt es für dies Paradox eine Erklärung: Nach Abschluß des Pentateuchs in einer kritischen Phase der Geschichte Israels, nach dem ungeheuren Zusammenbruch des Staates, den das Exil bedeutete, und gerade am Anfang einer Neuorganisation ohne politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit (ein verkleinertes Volk, ein besetztes Land ohne eigene Regierung) bleibt die den Vätern zugesagte Verheißung offen. Das Volk ist »noch nicht« im Land der Freiheit angekommen, es ist noch auf dem Weg der Hoffnung auf Erfüllung. Hätte der Pentateuch mit dem Bericht von der Landnahme geschlossen - er wäre ein Dokument der Vergangenheit gewesen; so wie er jetzt gestaltet ist, stärkt er die Hoffnung auf Erfüllung der Verheißung. So ist die Struktur ein Teil der Botschaft. 38 Mit anderen
38
J. S. Croatto, Una promesa aun no cumplida. Aigunos enfoques sobre la estructura literaria del Pentateuco, RevBib 44:4 (1982), 193-206.
74.
Worten: Der Pentateuch wurde aus der Sicht der Unterdrückten beendet. Ist diese Feststellung für seine heutige relecture nicht ungeheuer wichtig, heute, da der Mensch sich in so vielen Situationen des Zusammenbruchs, der Unerfülltheit, der nicht verwirklichten Hoffnungen, der Frustrationen, der Unterdrükkung jedweder Art befindet? Das ist eine andere Facette jener »semantischen Achse« der Bibel als eines Gesamttextes, von der nun in verschiedenen Hinsichten die Rede war. Ich spreche so zum wiederholten Male meine Überzeugung aus, daß die Bibel vor allem in Erfahrungen des Leidens, der Unterdrückung und der Gnade und Befreiung entsteht und mit einer tiefen Hoffnung auf Rettung geschrieben ist. Das bedeutet nicht, daß sie sich nicht an alle wendet. Niemand lebt isoliert von den anderen; jede soziale Klasse steht mit den anderen in wechselseitiger Abhängigkeit. In der Bibel gibt es Texte, die sich ausdrücklich an die Reichen und die Unterdrücker wenden, und als solche hören sie auch die Armen und Unterdrückten, denn ihre Lage ist durch jene bedingt. Wenn die Bibel mit solchem Nachdruck die Vorliebe Gottes für die Armen, Ausgestoßenen, Kranken, Sünder usw. hervorhebt, wird ihre Botschaft von ihnen als Hoffnung aufgenommen, von denen aber, die für diese Wirklichkeit verantwortlich sind, als Gericht, wenn nicht als Einladung zur Bekehrung. Da die Wirklichkeit der Menschen stärker von Leiden, Unglück, Sünde und Unterdrückung geprägt ist, ist es nicht schwer zu erkennen, daß die Armen und Unterdrückten die besten Voraussetzungen haben, das Kerygma der Bibel zu begreifen; sie gehört ihnen und sie betrifft sie. Sie gehört vor allem ihnen. Wie ist dann zu verstehen, daß dies Buch so lange ausschlie.ßlich »im Besitz« von jenen war, auch von jenen kontrolliert, erklärt, interpretiert wurde, die die herrschende Schicht in der Gesellschaft vertreten: die Hierarchie der Kirche, professionelle Theologen, exegetische Spezialisten, »gebildete« Männer? Mit welchem Recht ernennen sie sich selbst zu den Auslegern der Bibel? Sollen die Leidenden darauf warten, daß die, denen es gut geht, ihnen den Sinn der Befreiungsbotschaft des Wortes Gottes erklären? Auch hier stellt sich die Frage der Aneignung des Sinns. Zudem stehen die Bedürftigen der Erde in einem Verstehenshorizont, der 75
ihnen das biblische Kerygma zuspricht, da dessen Entstehungshorizont ihnen entspricht. Es muß einen gemeinsamen Bezugsrahmen zwischen Sender und Empfänger der Botschaft geben. Um es an einem biblischen Beispiel zu erläutern: Es gibt überhaupt keinen Beleg dafür, daß die »Fremdvölkerorakel« (z. B. Am 1,3-2,5; Jes 13-23; Jer 46-51; Hes 25-32) an jene Völker, von denen der Text spricht, gerichtet gewesen sein sollen. Für einen Ägypter oder Babyionier wäre es ohne Bedeutung gewesen, ihren Inhalt zu hören. Es handelt sich eher um an Israel gerichtete Botschaften durch ein spezifisches literarisches Mittel, das das Schicksal dieses Volkes im Konzert der Nationen aufzeigt. An Israel gerichtet haben diese Reden ihr Recht, stehen sie in einem kohärenten Verstehenshorizont. Dasselbe geschieht auf einer anderen Ebene - mit der Bibel als ganzer, deren Kerygma die wunderbare Eigenart hat, von den Bedürftigen dieser Welt gehört und in der Tiefe verstanden zu werden. Dieses Verständnis der Bibel durch die Armen, die Bedürftigen, die Leidenden, die Sünder und Ausgestoßenen als ihr Buch und als Botschaft, die vor allem sie angeht, liegt auf der Linie einer übergreifenden Lektüre der Bibel; sie folgt den »Sinnachsen«, die sie als ein einziger Text oder als große Erzählung bietet. Nicht selten hört man von Leuten aus dem Volk, die im Lebenskampf stehen, Sätze wie diesen: »Die Bibel erleben wir selber.« Das ist kein Ausdruck von Geringschätzung oder biblischer Übersättigung. Es bedeutet vor allem: Die relecture der Bibel vom Leben aus zeigt in aller Klarheit, daß ihre Botschaft der Lebenswirklichkeit angemessen ist, und daß es nun darauf ankommt, sie in Handeln umzusetzen. Recht verstanden, ist das ein glücklicher Ausspruch; denn er gibt uns das Bewußtsein, daß das Verstehen der Bibel keine Spezialisierung erfordert, sondern das Wahrnehmen ihrer großen Sinnachsen. So liest man sie als einen Text, in dem der Sinn - im Hinblick auf die unendliche Vielfalt der kleinen Geschichten, aus denen er besteht - vereinfacht ist. Unsere Lektüre der Bibel im christlichen Unterricht, in der Liturgie und in der Predigt, in Seminaren und theologischen Fakultäten gleicht einer unendlichen Zergliederung des Textes der deshalb nicht mehr »Text«, sondern eine Vielzahl von Tex76
ten ist -, die eine Sinnvielfalt zurückläßt. Zwar ist diese zweifellos wertvoll; sie lenkt jedoch vom Verständnis des Gesamtsinnes ab, von jener »Achse« nämlich, von der ich sprach, die für die Christen von der Basis leichter erkennbar ist. Jede Erfahrung, jede Lebenspraxis begründet einen Deutungshorizont, von dem aus eine Botschaft, in diesem Falle die der Bibel, gelesen wird. Deshalb findet der hermeneuti~che Prozeß, den ich in Teil I analysiert habe, auf der linguistischen Ebene statt (er stützt sich auf die Beschaffenheit der Erzählung als Struktur und Gesamtheit); der in Teil II entfaltete Prozeß liegt auf der Ebene der Praxis. Das sind nicht zwei parallele Linien, die sich unendlich fortsetzen, sondern sie bedingen sich gegenseitig, wobei das entscheidende Gewicht auf der zweiten liegt. Mit anderen Worten: Das, was wirklich die relecture der Bibel hervorruft und ihr die Richtung gibt, sind die fortgesetzten Erfahrungen. Diese lassen den Sinn der Texte wachsen, der bald in neuen Texten Gestalt annimmt, die ihrerseits neue Anwendungen und Erfahrungen bedingen, und so immer weiter in einer fortschreitenden bereichernden hermeneutischen Kreisbewegung. Das folgende Schema faßt die bisher dargestellten Hauptpu.nkte zusammen: Sprache
1
Rede linguistische Ebene
~
Tradition(en}--+
KANON--+ (re)lecture
\~
IEreignis ~ Wirkungsgeschichte = neue Praktiken
Ebene der .~,..",~ Praxis ".
Erläuterung 39 : Das »Wort«, welches das Ereignis interpretiert, hat einen linguistischen Zufluß (die Wort-Erzählung oder den Text), der von der Sprache »herkommt« und sich als Tradition,
39 Im obigen Schema zeigen die nach oben weisenden Pfeile an, daß sich die relecture der heiligen Texte von einer bestimmten Praxis aus vollzieht.
Kanon, neue Lesart »fortsetzt«, und einen anderen, praktischen Zufluß, der sich - ist er einmal mit dem ersten zusammengeflossen - entwickelt und in Wechselwirkung mit ihm erneuert. Das »Wort« stellt den Übergang von der Linguistik zur Hermeneutik dar. Die relecture kehrt auf dem Wege der früheren Lesarten (Texte) zum Ereignis zurück, aus dem sie in letzter Instanz hervorgeht. Folgende Frage kommt dabei auf: Gibt es einen direkten Abkürzungsweg zum Ereignis? Ja und nein: Das Ereignis ist auf der einen Seite tatsächlich in den Text und in jedes Wort, das es spiegelt, eingegangen und auf der anderen in seine Wirkungsgeschichte, die wiederum durch seine Interpretationen vermittelt ist (= Wort/Text). Deshalb wird eine neue Erfahrung den Sinn des Ursprungs ereignisses eher öffnen als das intellektuelle Studium der Texte der Vergangenheit. Liegt hier nicht der Schlüssel für eine lebendigere Lektüre der Bibel in den kirchlichen Basisgemeinden, um nur ein Beispiel zu nennen? Man muß zudem sehen, daß der lateinamerikanischen Volksreligiosität eine fundamentale Zwiespältigkeit innewohnt, die nicht nur aus ihrer beachtlichen Teilhabe an Zügen mythischen Bewußtseins herrührt, sondern auch daher, daß sie sich im Zusammenhang mit der Grunderfahrung von Herrschaft und Ausbeutung durch die Europäer, die ihnen das Christentum brachten, herausgebildet hat. Der lateinamerikanische Glaube hat niemals die israelitische Glaubensstärke haben können, die in einem paradigmatischen Befreiungsereignis begründet war. Deshalb werden die Armen Lateinamerikas ihre Volksreligiosität nur dann erneuern und deren Gaben, die zahlreich sind, in einer neuen Dimension zur Geltung bringen können, wenn sie an den Prozessen ihrer eigenen Befreiung als Subjekte teilnehmen.
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IH. Exegese und Eisegese
Ist man dem Gedankengang bis hierher gefolgt, so muß es klar geworden sein, daß die Auffindung des Textsinnes nicht lediglich eine literarische und akademische Arbeit ist. Vielmehr gibt das Handlungsfeld des Exegeten, das heißt zugleich sein soziohistorisches Umfeld den Bezugsrahmen für die Lektüre ab. Man geht nicht gleichsam aus dem Text heraus (Ex-egese, griech. aga = >führen, leiten<) mit einem eindeutigen Sinn in der Hand, den man im Inneren des Textes aufgelesen hat und nun an die Oberfläche bringt wie der Perlenfischer die Perle an diejenige des Meeres oder wie man einen Gegenstand aus dem Koffer nimmt; man geht vielmehr bereits mit Fragen in den Text hinein (Eis-egese), die nicht immer die seines Autors sind, mit einem eigenen Bewußtseinshorizont, der sich deutlich in der Erzeugung des Sinns niederschlägt. In diesem Sinne wurde ja bereits ausgeführt, daß das eigentliche Lesen in der relecture des Textes besteht. 1. pierelecturederBibelistTeilihrereigentlichenBotschaft Man muß hier daran erinnern, daß die ganze Bibel, so wie sie uns jetzt vorliegt, Ergebnis, besser Erzeugnis, eines langen Prozesses der Textdeutung ist, in dem sich die beiden in den vorherigen Abschnitten behandelten Ebenen verbunden und ausgewirkt haben: a) die des gesamten gesellschaftsgeschichtlichen Geschehens in Israel, wie es durch Generationen hindurch im Zusammenhang mit den Verheißungen und den großen Heilsereignissen gelebt und reflektiert worden war, und b) die der sprachlichen Bezeugung der Gegenwart Gottes (sprachlicher Aspekt der Offenbarung) in den Geschichtserzählungen, den Glaubensbekenntnissen und vielen anderen literarischen Gattungen, die in der Bibel vorkommen; sie führten dann später zur Bildung von Einzeltexten, den gesetzlichen, prophetischen, weisheitlichen, geschichtlichen, liturgischen Korpora und mündeten schließlich in den kanonischen End text. Weder die Offenbarung Gottes (eher in den Ereignissen als inden Worten, vgl. weiter unten Abschnitt 3) noch 79
die Inspiration (eher der Texte als der Autoren) sind vereinzelte Vorgänge. Sie ergänzen und erneuern sich vielmehr wechselseitig. Das» Wort Gottes« entsteht im Heilsgeschehen, interpretiert und bereichert durch das Wort, das es aufnimmt und in Form einer Botschaft weiterreicht. Die Wechselbeziehung zwischen Wirkungsgeschichte (des Ereignisses) und Sinnwirkung (des Textes) ist sehr eng und setzt sich fort in der Beziehung zwischen der Wirklichkeit und der Deutung einer Tradition oder eines Textes, in unserem Falle der Bibel. Die kritische Exegese versucht die Entstehung der Texte zu verstehen, während die Bibellektüre aus Glaubenserfahrung sich auf den vorliegenden Text beschränkt und seinen sprachlich vorgegebenen Sinnvorrat als» Wort Gottes« ausschöpft. Aber auch jene - die kritische Exegese - vollzieht sich von einem sozialen, theologischen Standort, das heißt von einer bestimmten Wirklichkeitsauffassung her, und so ist die Exegese zugleich Eisegese. Andererseits ist das Bibelstudium von der theologischen Basis her von der Struktur, den Codes, der Polysemie des Textes (nicht irgendeiner Polysemie) bestimmt, die es unermüdlich ausschöpfen muß. Und so ist in dieser Hinsicht Eisegese Exegese. Die eine ist von der anderen im Akt der Sinn erzeugung, den die Lektüre darstellt, nicht zu trennen. Jede Lektüre ist ein hermeneutischer Akt, handle es sich dabei um die Bibel oder um einen anderen heiligen oder profanen - Text. Es ist wichtig, das zu respektieren. Kritisiert man die politische Lektüre der Bibel, wie sie die Theologie der Befreiung betreibt - die keineswegs die einzige oder allein mögliche ist -, trifft man von einem bestimmten Erfahrungsstand aus, der politische Auswirkungen hat, eine politische und interpretatorische Entscheidung: Man will eine bestimmte Lesart verbieten, weil ihr Platz bereits durch eine andere mit unterschiedlicher Aussage beansprucht wird. Auch die Lektüre, die von seiten der dem Volk nahestehenden Kirche betrieben wird, wird als soziologisch oder politisch verdächtigt. Aber ist denn die traditionelle und vorgeschriebene Lektüre etwa nicht soziologisch und politisch? Man übersieht, daß die Bibel ein Text ist, der im Deutungszusammenhang mit der gesellschaftsgeschichdichen Wirklichkeit eines ganzen Volkes entstanden ist und der deshalb schon an und für sich mit »Politik« erfüllt ist.
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Die Bibel ist also Gottes Wort für ein Volk, das ein geschichtliches Projekt von Frieden und Gerechtigkeit, Treue und Liebe, Wohlfahrt und Freiheit verwirklichen will. Es wird sinnvoll sein, auf das zurückzukommen, was bereits in Teil II entwickelt wurde: Das Ereignis bringt ein deutendes Wort hervor und verwandelt sich seinerseits in ein Fundamentalereignis, insofern es durch fortwährende interpretierende Lektüre mit Sinn aufgeladen wird (vgl. das Schema in II,l). Auf der Ebene des Gegenwartsgeschehens werden eben diese Lesevorgänge, die in die Wort-Tradition »einzudringen« versuchen (der Text in seinem semiotischen und hermeneutischen Sinn) und die deshalb eisegetisch sind (vgl. das Schema in II,4), kontextualisiert. Dieses Phänomen erklärt die Herausbildung des Alten Testaments aus der tiefen Glaubenserfahrung Israels und die des Neuen als Neuinterpretation des Alten (und nicht als eine Parallelliteratur) im Leben der urchristlichen Gemeinde. So ist dieser hermeneutische Prozeß selbst ein Aspekt der Botschaft der Bibel. Man sollte sagen: Die Bibel als »Erzeugnis« eines hermeneutischen Prozesses gibt uns einen wichtigen Leseschlüssel an die Hand: Ihr kerygmatischer Sinn erschließt sich erst in der Fortführung desselben hermeneutischen Prozesses (= Ereignis> Wort), der sie ins Leben gerufen hat. Die Absicht, ihren Sinn endgültig auf den Augenblick ihrer Entstehung festzulegen, bedeutet jedoch, das ihr wesentliche Kennzeichen der Sinnoffenheit zu leugnen. Wird sie hingegen von der gesellschaftsgeschichtlichen Wirklichkeit aus gelesen, dann offenbart sie Dimensionen, die vorher nicht gesehen, Lichtstrahlen, die in vorherigen Leseakten nicht wahrgenommen worden waren. Das in dem »Gesagten« noch nicht Ausgesagte wird in der kontextualisierten Interpretation ausgesagt. Das ist der Kern des hermeneutischen Aktes; in dieser Feststellung wird in gewIsser Weise das bisher Analysierte zusammengefaßt. 2. Aktualisierung der Bibel? Erhellung der Wirklichkeit? Es ist notwendig, einige Begriffe zu klären. Zunächst einmal bedeutet das, was ich hier vertrete, mehr als eine »Aktualisierung« der biblischen Botschaft und weit mehr als eine »Erhellung« 81
unserer geschichtlichen Wirklichkeit in allen ihren Äußerungen. Man beachte den Ausschließlichkeitscharakter dieser beiden so viel benutzten Begriffe, die dennoch beide nicht in das Zentrum des hermeneutischen Vorgangs treffen oder ihn zumindest nicht umfassend erläutern. a) Was heißt Aktualisierung der biblischen Botschaft? Heißt es, sie in neuen Begriffen auszudrücken? Oder heißt es, eine volkstümliche Sprache zu gebrauchen, die Semitismen in uns näherstehende Formen zu übersetzen, die »dichten«, aber kulturell gebundenen Begriffe mittels erklärender Glossen aufzulösen? Letzteres geschieht häufig bei den populären Bibelausgaben. Man kann deren Nutzen nicht bestreiten, muß sich jedoch bewußt machen, daß diese semantischen Modernisierungen flüchtig und wenig dauerhaft sind. (Das Dilemma der Populärversionen der Bibel ist, daß sie traditionell werden.) Tatsächlich gehen die erwähnten Formen der Aktualisierung nicht über eine Übersetzung hinaus. Obwohl sie - wie letztere - den Bereich der Hermeneutik umkreisen, dringen sie nicht bis zu ihrem Kern vor. Handelt es sich in jedem Fall darum, das biblische Kerygma für unsere Lebenssituationen aussage kräftig zu machen? Darum geht es ganz offenkundig. Aber wie wird eine Botschaft aussagekräftig, die in einer anderen Zeit für ein Volk mit einer anderen kulturellen und sozialen Umwelt verfaßt worden ist? Dieser Anspruch setzt voraus, daß man mit dem Text, in den die Botschaft eingeschrieben ist, »etwas macht«. Indem man die linguistischen Gesetze der Rede (Teil I) anwendet und sich an den Prozeß des »Wort-werdenden Ereignisses« erinnert (Teil II), entfaltet sich im biblischen Text ein Sinn, der über seine ursprüngliche Aussage hinausreicht. Und man entdeckt dann eine Botschaft, die sich in ihrer ersten Verwirklichung nicht erschöpft hat. Sogelangen wir zu einer Neuentdeckung des Sinns; darin li~gt ein Kenn-' zeichen jeder deutenden Lektüre, vor allem aber gehört dieser Vorgang zum Wesensgrund aller religiösen Tradition. Die einfache sprachliche Aktualisierung des Kerygmas hat diese Reichweite nicht, obgleich sie in die richtige Richtung weist. Zeigt sich etwa in der christologischen Neuinterpretation des Alten Testaments, die in der apostolischen Zeit betrieben wurde und sich in den Büchern des Neuen niedergeschlagen hat, nichts Neues?
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Warum soll unsere Interpretation der Bibel nicht neu sein, vollzieht sie sich doch im Rahmen neuer geschichtlicher und neuer Glaubenserfahrungen? Wir müssen die biblische Botschaft erneuern und sie nicht nur aktualisieren. Damit schlage ich nichts Unbekanntes vor, sondern erläutere nur Bedeutung und Reichtum einer Lektüre, die schon lange praktiziert wird, sei es von einer dem Volk nahestehenden Kirche her, oder sei es von jedweden historischen Prozessen, von kulturellen und religiösen Zusammenhängen her, die sich von der semitischen oder westlichen Welt unterscheiden, oder sei es schließlich von Theologen her, die, wenn sie nicht selber Teil des Volkes sind, so doch zu hören verstehen. b) Das soeben Gesagte erläutert auch jene sogenannte »ErheIlung« der Geschichte unserer Völker oder unserer Wirklichkeit von der als Gottes Wort verstandenen Bibel her. Es gibt nicht nur einen einzigen Weg, der vom biblischen Text herkommt. Der hermeneutische Zirkel schließt den umgekehrten Weg als Ergänzung zum erstgenannten ein, da die Glaubenspraxis in einern bestimmten sozialen Kontext auch etwas zum »Sinn« der Bibel beizutragen hat und ihn direkt als» Wort Gottes« öffnet. Hat beispielsweise eine Bewertung der Religionen und Kulturen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas aus der Binnenperspektive nichts zu den vielen biblischen Texten zu sagen, die die religiösen Symbole der Nachbarvölker Israels verachten? Klagt der Schrei der Unterdrückten nicht auch gegen ein allzu spiritualisierendes und eschatologisierendes Verständnis des Neuen Testaments? 3. Abgeschlossene oder offene Offenbarung? Der. Leser wird sich vielleicht gefragt haben, ob das alles nicht bedeutet, dem Wort Gottes etwas »hinzuzufügen« oder »wegzunehmen«. Es ist klar, daß wir hier auf das Theologumenon dernach dieser Vorstellung mit Christus, mit dem letzten Apostel, mit dem letzten Buch des Neuen Testaments - vollendeten und abgeschlossenen Offenbarung stoßen. Zunächst ist dazu zu sagen, daß diese drei Möglichkeiten nicht synonym sind. Die erste (die in Christus vollendete Offenbarung) zeigt etwas Qualitatives an, die zweite einen Zeitraum, die dritte eine textliche und 83
sprachliche Grenze. Aber sie erläutern sich wechselseitig: Christus ist die Vollendung der Offenbarung, aber der kanonische Text, der in der Apokalypse seinen Höhepunkt erreicht, nimmt die nachösterliche und apostolische Erfahrung der urchristlichen Gemeinde auf. Die Offenbarung hat also eine Ausdehnung, die auf das Leben Israels und das Leben der Apostel, der Zeugen des Auftretens, des Todes und der Auferstehung Jesu begrenzt ist. Das ist zwar alles korrekt, aber es stellt nicht zufrieden. Christus ist die Vollendung, der Höhepunkt der Selbstdarstellung Gottes in der Heilsgeschichte. Aber hat Gott sich nicht vorher (und vor Israel) offenbart und offenbart er sich nicht auch nach Christus? Oder bedeutet »sich offenbaren« nur Worte sagen? Hier beginnt das Problem, und es h~t seine nichts weniger als »hermeneutische« Erklärung - die nämlich, daß das Ereignis in den WortBericht aufgenommen, dieser zunächst als Botschaft oder Sinn des Ereignisses, später als »sprachlicher« Sinn oder Botschaft weitergegeben wird. Dieser schon untersuchte Vorgang ist außerordentlich bedeutsam und stellt die Matrix des hermeneutischen Prozesses dar. Das Ereignis hat einen »Sinn«, sofern es interpretiert wird. Daraufhin wird die Übermittlungsweise des Sinns zum mündlichen oder schriftlichen, endgültig zum geschriebenen Text. Schließlich wird der Text in einer hermeneutischen Festlegung zum Kanon, der andere Traditionen ausschließt. In einer degenerierten Variante ist er unsinnigerweise bestrebt, seine eigene Neuinterpretation festzuschreiben; er wird dann als »Depositum« der Offenbarung angesehen. 40
40 Man könnte dagegenhalten, die Idee eines »Depositums« des Glaubens sei biblisch (I Tim 6,20; 11 Tim 1,14). Aber der Text dieser beiden Briefe bezweckt eine »Festlegung« der Doktrin in der Auseinandersetzung mit anderen Gruppen; er bezieht sich nicht auf die noch gar nicht konstituierte Bibel. Es handelt sich um einen ganz spezifischen Kontext. Zum anderen kann man das griechische paratheke auch anders als mit »Depositum« übersetzen, vgl. EI Libro del Pueblo de Dios. La Biblia, Madrid/Buenos Aires 1980: »Bewahre das Gut, das dir anvertraut ist« (I Tim 3,20); »Bewahre das, was dir anvertraut worden ist« (11 Tim 1,14; in diesem Fall ist die Übersetzung unschärfer, aber sie vermeidet, vielleicht absichtlich, das Wort »Depositum«).
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So wie sich ein Geschehen im Licht seiner Wirkungs geschichte als sinnstiftend erweisen kann, kann auch ein Text innerhalb einer Gemeinschaft, die schon in seiner Wirksphäre lebt, normative und archetypische Bedeutung erlangen. Der Kanon verändert sich nur dann, wenn sich der Konflikt der Interpretationen bis zu einem Ausmaß steigert, daß es zur Spaltung kommt. Die neuen Gruppierungen sind gezwungen, einen Bezugstext neu herzustellen oder zu bestätigen, das heißt im religiösen Bereich einen Kanon heiliger Schriften. Deshalb ist die durch den Glauben bekräftigte Tatsache, die Bibel sei unser paradigmatischer Text als Wort Gottes, ungeheuer bedeutsam. Wir brauchen der Bibel keine neuen Bücher hinzuzufügen, und das christliche Handeln ist endgültig ausgerichtet am Handeln und der Lehre Jesu (selbstverständlich interpretiert in einem kanonischen Text). Aber damit ist noch nicht alles abgeschlossen. Oder womöglich hört hier eine hermeneutische Entwicklung auf. Eine der »semantischen Achsen« der Bibel ist genau die, daß sich Gott vor allem in den Ereignissen der menschlichen Geschichte offenbart. Diese Gegenwart wird vom Glauben wahrgenommen und ruft gleichzeitig den Glauben hervor, insofern dieser ursprünglich (so berichtet es uns die Bibel) ein »Erkennen« der Gegenwart Gottes in den menschlichen Geschehnissen ist. Der Glaube als Vertrauen auf ein »Wort« oder eine Person ist ein hermeneutisches Danach. All das, was ich von dem ins-Wort-gefaßtenEreignis - Verständnisschlüssel der Hermeneutik, vor allem der biblischen - sagte, hat mit diesem Glauben als »Erkennen» Gottes zu tun. Vor seiner Offenbarung im Wort manifestiert sich Gott in der Heilstat und ihren Folgen, ihrer Wirkungsgeschichte, welche die Epiphanie fortsetzen. Die Kundgabe der Offenbarung Gottes in einem Wort oder in einem Text ist auch ein Danach. Sogar das biblische Wort von der »Verheißung« ist gegenwärtig durch einen Text vermittelt, der auf das Exodusereignis verweist, welches er jedoch als bereits realisiert voraussetzt und von dem er schon eine Art Neuinterpretation ist. Paradoxerweise wird die Verheißung - als gegenwärtiger Text - erst vom Ende des Ereignisses her ausgearbeitet, das sie ankündigt. Die prophetischen Berufungsberichte (Am 7,10-17; J es 6; Jer 1; Hes 1- 3) sind erst nach dem Auftreten des jeweiligen Pro85
pheten verfaßt worden, der Bericht - um es zu wiederholen -, nicht die Berufung selbst. Der Bericht ist eine Neuinterpretation der prophetischen Botschaft und entspricht der Tradition, die er übermittelt. Kommen wir auf die Frage nach der Grenze der Offenbarung zurück. Wenn ein Prophet in Israel im Namen Gottes spricht (und sein }} Wort« erwähnt), dann }}liest« oder hört er es im Leben seines Volkes, in seiner Untreue oder in seinem Leiden, verschlüsselt als Gericht oder Rettungsverheißung. Gott ist im Ereignis und der Prophet drückt diese Gegenwart Gottes im Leben als» Wort« aus. Und bedeutet die }}Fleischwerdung des Wortes« Goh 1,14) nicht die Ablehnung jeglichen Versuches, das Wort Gottes in der Tora, das heißt im Gesetz endgültig sein zu lassen? Als Widerspiegelung und vielfältiger Ausdruck für die Offenbarung Gottes in der Geschichte wurde die Tora als Sinn abgelehnt, nachdem sie als autonomes, abgeschlossenes Wort einen Totalanspruch erhob, geschlossen und undurchlässig für neue Bezeugungen Gottes, die ihre durch die Tradition offensichtlich fixierten Lesarten modifizieren könnten. Christus war das neue Ereignis Gottes, das zu einer Neuinterpretation der Tora zwang. Indem sie Gott im Handeln und Reden J esu nicht zu }}erkennen« vermochten, wurden - in der Deutung des J ohannes - viele Juden jener Zeit überraschenderweise zu solchen, die Gott selber nicht erkannten. »Wenn ihr mich kenntet, so kenntet ihr auch meinen Vater« Goh 8,19); und }}wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat« Goh 12,45, vgl. 14,7). Es muß nachdenklich stimmen, daß J esus - im johanncischen Bericht - hat sagen können, die }} Theologen«, die Gotteskenner jener Zeit, hätten sich plötzlich in Gottes-Verkenner verwandelt. Der Glaube war aufgefordert, Gott im historischen J esus zu erkennen. Ist also die Festlegung Gottes auf die Tora Glaube? Ist Gott in einem Text oder im Leben gegenwärtig? Dies ist einerseits ein hermeneutischer Konflikt, andererseits eine Verkürzung der Offenbarung. Dieser Kreislauf wiederholt sich in der Kirchengeschichte. Das Theologumenon der ~}abgeschlossenen« Offenbarung erzeugtbei allen guten Absichten und aller Wahrheit, die es als symbolischer Ausdruck enthält - einen Kurzschluß im Prozeß eben die-
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ser Offenbarung: Gott/Wort an Stelle von Gott/Ereignis/ Wort. Bleibt uns nur ein Wort, das die menschlichen Geschehnisse und die Schicksale der Völker »erhellt«? Sagt Gott nichts Neues in den Kämpfen der Unterdrückten, den Befreiungsprozessen, im Beitrag der Humanwissenschaften zur Kenntnis des Menschen und seiner Probleme, der Wirklichkeit und ihrer repressiven Strukturen, den kreativen Möglichkeiten des Menschen, in den Bemühungen um einen neuen Menschen in einer neuen Gesellschaft? Es handelt sich nicht allein um etwas Neues im Hinblick auf die Erkenntnis der schon vollzogenen Offenbarung, auch nicht darum, daß Gott sich in einer noch unbekannten und vorher nicht erfahrenen Weise manifestiert. (Vorher wurde diese Offenbarung allein deshalb nicht erfahren, weil man sich mit der Vertiefung in seine erste Offenbarung in letzter Instanz auf der Ebene einer menschlichen Gnosis bewegte.) Dagegen handelt es sich vor allem darum, daß Gott sich in den Ereignissen offenbart. Wenn das so ist, dann muß diese Epiphanie Gottes einen hermeneutischen Prozeß auslösen, der sein Wort erzeugen wird: Glaubensaussagen in all ihren Gestalten (Gebete, Glaubensbekenntnisse, Verkündigung, Theologie), ein wahrhaft neues Wort. Nicht einfach eine Erhellung der gegenwärtigen Geschichte von dem dahinter aufscheinenden Licht des biblischen Textes, sondern eine Wahrnehmung des Angesichtes Gottes, wie es sich in die Geschichte der Menschen einzeichnet. Die Bibel selbst führt uns zur Lektüre Gottes in den Ereignissen der Welt, und sie lehrt uns, ihn gerade so zu erkennen, wie er sich jetzt manifestiert, und nicht als Wiederholung von Vergangenem. Die menschliche Geschichte ist etwas ständig Neues, und die Gegenwart Gottes, die sie begleitet, ist es auch. Christus, das zentrale und größte Ereignis der Geschichte, ist ein unabgeschlossenes Ereignis. Die christliche Apokalyptik erwartet ihn ein zweites Mal, damit er diese Geschichte »vollende». Die jüdische Kritik an uns Christen, die wir in Christus den Messias und Retter sehen, daß die Welt wie vorher weitergehe, basiert auf jener Vorstellung, nach der Christus das Telos der Offenbarung und des Heilshandelns Gottes ist. Alles ist gesagt und vollbracht, in der nachfolgenden Geschichte wird das Gesagte nur erläutert und vertieft, und es 87
entstehen neue Wirkungen des Vollbrachten. Steht nicht vielmehr mit dem Neuen Testament die Behauptung im Einklang, mit Christus beginne die Eschatologie und die neue Ordnung, Er sei ein hermeneutischer Schlüssel, um Gott in unserer Geschichte zu entdecken? Christus selbst, das Wort des Vaters Joh 1,18 sagt großartig vom Logos, er sei das Wort, das den Vater exegesato - hat noch nicht alles gesagt. Er hat uns seinen Geist zurückgelassen, damit er uns lehre Ooh 14,26) und in die volle Wahrheit führe Ooh 16,13 hodegesei hymas en te aletheia pase). Die Bibel ist die Glaubenslektüre paradigmatischer Ereignisse der Heilsgeschichte und die paradigmatische Lektüre einer noch nicht abgeschlossenen Heilsgeschichte. Als paradigmatische und normative Botschaft schließt die Bibel ihre eigene Neuinterpretation im Lichte neuer Ereignisse nicht aus. Da es sinnlos ist - denn es steht der Form der biblischen Botschaft selbst entgegen -, die Offenbarung Gottes in der Vergangenheit als abgeschlossen anzusehen, ist es auch sinnlos, die Bibel in ein abgeschlossenes »Depositum« zu verwandeln, aus dem man nur etwas »herauszuholen« braucht. Als normativer, kanonischer Text der Heilsbotschaft Gottes - und gerade weil er normativ ist - integriert er durch seine Neuinterpretation den neuen Sinn neuer Ereignisse der Geschichte. Interpretieren heißt tatsächlich Sinn anhäufen. Exegese ist Eisegese, bedeutet, mit einer Sinnladung in den biblischen Text »einzutreten«, die den primären Sinn neu schafft, und zwar gerade deshalb, weil sie in Einklang mit ihm gebracht wird, sei es durch das Kontinuum der Glaubenspraxis (Ebene der Wirkungsgeschichte), sei es durch das der fortlaufenden Interpretationen und Neuinterpretationen (Ebene der hermeneutischen Tradition). Dieser entscheidende Charakter des Ereignisses - der Geschichte - als des primären Orts der Manifestation Gottes gestern und heute erweist die Kraftlosigkeit und Beschränktheit einer allein auf die überlieferte(n) Quelle(n) der Offenbarung gegründeten Theologie. Ob es sich dabei um die »sola scriptura« oder um die von der Tradition begleitete handelt, macht keinen großen Unterschied. Wäre die Tradition lebendig, dann verbände sie sich mit dem, was ich die gegenwärtige Offenbarung Gottes in der Geschichte nenne. Aber die katholische Auffassung von Tradi88
tion wandelt diese tatsächlich in einen Text um (Kirchenväter, Liturgie und so fort), der die biblische Offenbarung zwar etwas fortsetzt, sich aber in irgendeinem Augenblick abkapselt und von der Lehrautorität kontrolliert wird. Von da an stehen wir erneut bei einer »Theologie der Quellen«, die sich - in dem Maße, in dem sie die ganze Offenbarung in schon überfüllte, geschlossene und abgelagerte Gefäße leitet - epistemologisch nicht von der rabbinischen »Theologie der Tora« unterscheidet. Wie beschwerlich ist doch der Weg einer offenen Theologie! Deshalb erweist sich eine Theologie wie die lateinamerikanische als konfliktreich. Dasselbe widerfährt der neuen Sprache über Gott (= Theologie), die aus der Glaubenserfahrung engagierter Christen entsteht. Eine kirchliche Lehrautorität (im Katholizismus) oder eine konfessionelle Tradition (im Protestantismus) ist nur dann annehmbar, wenn sie den momentanen Sinn einer Tradition und einer Glaubenspraxis vereint und festhält, um aber gleichzeitig einer neuen Öffnung den Weg zu bereiten, dem Licht eines Wechsels zwischen Glaubenserfahrung und Text, worin ja der hermeneutische Prozeß besteht. Was weder biblisch noch hermeneutisch ist, ist die totale Festlegung auf eine Lektüre des Kerygmas oder seine rein obrigkeitliche Kontrolle. 4. Die Sprache des Glaubens Es ist wichtig aufzuzeigen, daß die Offenbarung Gottes im Ereignis und nicht nur im übermittelten Wort dazu beiträgt, die biblische Tradition selbst in ihrer Tiefe zu verstehen. Ihre Sprache partizipiert an den Merkmalen jeder religiösen Sprache. Sie drückt deshalb mittels literarischer Symbole und narrativer Codes den Sinn aus, den der Glaube in den menschlichen Geschehnissen entdeckt, die mit bloßem Auge nichts Außergewöhnliches an sich haben. Das Ereignis der Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei war für Ägypter und Hebräer dasselbe; es hätte auch unter kanaanäischen oder libyschen Sklaven jener Epoche stattfinden können. Dagegen bildet die Darstellung des Ereignisses als »Durchzug durchs Meer« in Erzählungen, die es verkündigen oder beschreiben, einen Teil des» Wortes« über das Ereignis, desjenigen Wortes, welches eine Gegenwart des in der
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Geschichte - konkret in diesem Befreiungsprozeß - handelnden Gottes aussagt. Diese Erwägung hat drei Konsequenzen, die ins Auge springen: a) Das Heilsereignis ist besser zentriert: Es geht um die Erfahrung der Befreiung, nicht den Durchzug durchs Meer und auch nicht um die Plagen; durch diese Darstellungen wird das Ereignis nicht wiederholt, sondern interpretiert. b) Bewertet wird der Text oder die Erzählung, die die kerygmatischen und theologischen Dimensionen jener Befreiungstat interpretiert und ausweitet: Ist das Heilsereignis erst einmal in einem» Wort« »gelesen« worden, dann ist es in diesem Wort aufbewahrt; daraus entsteht seine Wirkungs geschichte (die Handlungen, die es hervorruft) in einer dialektischen und sinnschöpferischen Konsequenz (Teil II). Der Text ist dann Träger einer Botschaft, weil er ständig seine eigenen Neuinterpretationen integriert - Neuinterpretationen, die durch das Handeln und die Arbeit des den immer neuen Gott der Geschichte erkennenden Glaubens verlangt werden. c) Es ist zu unterstreichen, daß der Glaube entscheidend ist, um jene Heilsgegenwart Gottes in den Tatsachen des menschlichen Lebens auszusagen und zu bekennen. Zu meinen, Er müsse sich mit Wundern und außergewöhnlichen Vorgängen, wie sie der Exodusbericht oder so viele andere erzählen, offenbaren, heißt in die Naivität zurückzufallen, die dem eigen ist, der verkennt, wie religiöse Rede entsteht. Sie ist ein Danach des Ereignisses, dessen Lektüre sie ist. Sind etwa die Befreiung Nicaraguas oder afrikanischer Völker in der Gegenwart keine Heilstaten und, aus einer christlichen Sicht, Manifestationen Gottes? Zu behaupten, es seien menschliche politische Taten - die sie sicher sind - und damit die theologische Aussage zu verbinden, daß Gott sich nicht in ihnen offenbare, heißt, bei einer abgeschlossenen Offenbarung stehenzubleiben und die - selbstverständlich gänzlich hermeneutische - Haltung derjenigen Pharisäer zu wiederholen, die nach dem Zeugnis des Lukas - das Ereignis Jesu als dämonisch bezeichneten (Lk 11,15.19). Eben haben wir uns mit der religiösen Sprache befaßt. Die traditionelle Theologie hat die Auffassung verbreitet, das biblische 90
Kerygma lasse sich in Begriffe fassen. Aber sie kann sehr wohl von Symbolen - oder schlecht ausgedrückt von Zeichen - reden, wenn sie sich auf die Sakramente bezieht. Sie verkennt, daß man von Gott nur in Symbolen (natürlichen Dingen, die für einen zweiten Sinn transparent sind, der in gewisser Weise die phänomenologische Erfahrung transzendiert) oder mit Hilfe von Mythen sprechen kann (zu einem »Bericht« zusammengebündelten Symbolen, der auf die Ursprünge zurückweist, um den Sinn einer aktuellen Wirklichkeit, einer Institution oder Gewohnheit zu erläutern). Der Glaube Israels hat einen Bruch mit der mythischen Weltanschauung (Aufgliederung des Heiligen in den Naturvorgängen, von daher ihr zyklisches Schema) vollzogen, niemals jedoch mit der Sprache des Mythos, der unerläßlichen Form religiöser Rede. Das Symbol verweist kraft seiner semantischen Polysemie auf eine andere Sphäre; der Mythos ist eine gebrochene Sprache, die eine »Geschichte« wunderbarer Taten in der göttlichen Welt ausarbeitet, die die gegenwärtige Ordnung begründen: Dies dient dazu, das Transzendente oder einfach die Ebene des tiefen »Sinns« auszudrücken, der in den Dingen liegt, wie er für das Leben eines Menschen, der einer Gruppe angehört, wesentlich ist (es gibt keine individuellen Mythen). Kurz: Die Rede von Gott kann nicht vom Bild absehen. Gott kann man nicht in Begriffe fassen (das Dogma ist eine Form der Gnosis, die die Erfahrungen des Glaubens auf die rationale Interpretationsebene herunterholt)41 ; man stellt ihn in Bildern dar. Und die Bibel ist von Anfang bis Ende eine Darstellung Gottes, sei es in der verweisenden Sprache des Symbols und des Mythos (auch die »historischsten« Berichte sind interpretiert und »gebrochen«, um eine Glaubensdimension auszusagen), sei es in der Sprache vieler linguistischer Formen und literarischer Gattungen, die eine andere Ausprägung der Bildhaftigkeit sind (in dem Sinne, daß jede Gattung durch ihre linguistische Struktur und nicht allein durch den Inhalt eine Botschaft übermittelt: durch die »Form« und nicht nur durch Begriffe).
41 Vgl. Ricoeur, Introducci6n a la simb6lica deI mal, in: ders., EI conflicto de las interpretaciones 11, Buenos Aires 1976, 25 H.
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5. Rekontextualisierung des biblischen Kerygmas So verstanden (s. Abschnitt 3) ist die Offenbarung eine Herausforderung, denn sie treibt dazu an, im Ereignis eine Sinnfülle zu entdecken, die nicht mit dem in Israel Geschehenen »koinzidieren« muß. Andererseits aber hat die Sprache des Glaubens - aufgrund ihrer eigenen Fruchtbarkeit- zwei bedeutsame Voraussetzungen: a) Zum einen geht sie von einer Erfahrung oder einem Ereignis aus, das von sich aus flüchtig und irreversibel ist: Die Rede des Glaubens ist immer in Bewegung, indem sie jenes Ereignis von neuen Erfahrungen oder Taten aus betrachtet. Das ist die Verfremdung, die den Sinnvorrat des Ereignisses oder der Erzählung, welche ihm schon bekannt ist, entfaltet. Deshalb mutet das unangemessene Bemühen, die Unveränderbarkeit der Dogmen zu bewahren, sonderbar an. Ich lehne sie zwar nicht ab, denn in einer bestimmten Phase der theologischen Diskussion über die In terpretation der Praxis haben sie in der Tat eine» bewahrende« Funktion. Es ist eine Möglichkeit für eine Gemeinschaft, ihre Identität zu verteidigen. Was aber nicht hermeneutisch ist, ist ihre straffe Überführung in endgültige Formeln. b) Zum anderen muß jede Sprache des Glaubens kulturell und literarisch begrenzt sein; das ist eine Eigenart jeder Sprache. Jede Rede setzt in ihrem Bestreben, jemandem etwas über etwas zu sagen, die kontextuelle Festlegung voraus, die sie verstehbar macht. Anderenfalls ist sie keine Botschaft. Tatsächlich gibt es keine universalen Sprachen. Auch die Bibel ist nicht jenseits der Zeiten und Kulturen geschrieben worden. Sie wurde vom und für das hebräische Volk geschrieben. Nur mittels tiefgreifender Neuinterpretationen wurde sie - in einem beschränkten geographischen Bereich - das Buch der ersten Christen. Das heißt, daß die biblische Botschaft in starkem Ausmaß kontextualisiert ist. Damit sie auch von anderen geschichtlichen Situationen aus verstanden werden kann, muß sie »rekontextualisiert« werden. Ist der Christ fähig, die Zeichen der Zeit zu lesen, dann wird sich solch eine Lektüre im Einklang mit den »kerygmatischen Achsen« der Bibel befinden, die ihrerseits in den schon erwähnten »semantischen Achsen« kodifiziert sind (Textebene). 92
Diese - durch den Umweg über die Semiotik gestärkte - hermeneutische Perspektive garantiert die Legitimität der Basistheologien, das heißt in unserem Fall: der Theologie der Befreiung. Geht diese von einer korrekten und bewußtmachenden Analyse der sozialen Wirklichkeit aus, dann verwandelt sie sich deshalb weder in »Soziologie« noch in »Anthropologie«. Ist es denn etwa nicht wichtig, die Wirklichkeit zu erkennen, in der Gott sich offenbart? Können sich die Sozialwissenschaften nicht als Instrument zur Rekontextualisierung der Botschaft Gottes verstehen? Selbstverständlich ist es der Glaube, der dann in den Zuständen der Gefangenschaft, der Marginalisierung und der Unterdrückung und in jeder menschlichen Situation einen Aufruf Gottes zur vollständigen Verwirklichung erkennt. 6. Zu einigen Einwänden Der Nachdruck, den die Theologie der Befreiung, kirchliche Basisgemeinden, der sozialen Umgestaltung verpflichtete Christen und andere auf die Rekontextualisierung der Bibel legen, reizt zu Einwänden. Ich deute einige von ihnen an: a) Es könnte scheinen, die Lektüre der Bibel werde subjektiv und sei nur ungenügend auf die Bibel selbst gegründet- so paradox das klingen mag. Der an die biblische Hermeneutik gerichtete Vorwurf der Subjektivität müßte jeder Theologie gelten, da es keine »objektive« Theologie gibt. Nicht einmal die akademische Exegese kann es sein. Der Umweg über die Semiotik zeigt, wie wir gesehen haben, daß die Hermeneutik der Texte von den Texten selbst abhängig ist. Tatsächlich markiert der Text die Grenze des Sinnes - so weit sie auch sei. Polysemie des Textes heißt nicht Beliebigkeit. Ein Text sagt, was er zu sagen erlaubt. Seine Polysemie ergibt sich aus seiner vorher erfolgten Formulierung. Deshalb ist es unerläßlich, ihn mittels der historisch-kritischen Methoden in seinen eigenen Kontext zu versetzen und seine Fähigkeit zur Sinnerzeugung auszuloten (Gesetze der Se~iotik), um so von der Wirklichkeit her seine in ihm liegenden Möglichkeiten sich entwikkein zu lassen. b) Man hat sich angewöhnt, jede engagierte Theologie und be93
sonders die lateinamerikanische dahingehend zu kritisieren, sie gebrauche mehr das Alte als das Neue Testament. Erstens aber ist die ganze Bibel Gottes Wort. Das berechtigt dazu, das Alte Testament so viel zu gebrauchen, wie man will. Zweitens ist die Bibel ein Text, der die Kontinuität eines soteriologischen Projektes hervorhebt, das durch bestimmte narrative und kerygmatische Achsen bestimmt ist. Drittens enthält das Alte Testament eine ausführliche narrative Theologie: Es bringt zahlreiche Beispiele für geschichtliche Ereignisse, die im Licht des sinnstiftenden Exodusereignisses gesehen worden sind. Viertens kann niemand abstreiten, daß die Bibel ein höchst vielfältiges und reiches Buch ist, in dem viele theologische Strömungen zusammenfließen. Das macht verständlich, wie wichtig es ist, sie sich als einen großen Text anzueignen (dazu weiter oben II.3). Zudem besagt das hermeneutische Prinzip, das sich aus der durchgeführten Exegese ableitet, daß das Kerygma, das wiedergelesen und vertieft wird, nicht verlorengeht, sondern immer wieder neu aufgenommen werden kann. Wenn das Alte Testament im Neuen wiedergelesen wird, dann wird es dadurch nicht ungültig gemacht oder beiseite gelegt. Solche hermeneutische Befruchtung motiviert nur noch stärker zur Wiederaufnahme seines unerschöpflichen Sinnes. Im übrigen muß auch daran erinnert werden, daß einige Interpretationen des Christusereignisses im Neuen Testament wichtige Aspekte des Alten im Schatten lassen: Sie heben zum Beispiel die individuelle Sünde viel stärker hervor als die der sozialen Strukturen (das war das Anliegen der Propheten Israels); die Eschatologisierung des Reiches (nicht bei Lukas) scheint den Kampf für eine gerechte Ordnung in dieser Welt zu relativieren. Paulus denkt über die Sklaverei von einem so abgehobenen Standpunkt aus nach, daß er die Wirklichkeit des konkreten Sklaven nicht berührt (I Kor 7,20-24; I Tim 6,H.), und er verordnet den Frauen das Schweigen in der Gemeinde (I Kor 14,33b-35; vgl. 11,2-15). Er empfiehlt den Christen Roms, der Obrigkeit zu gehorchen (der Obrigkeit des unterdrückerischen Imperiums jener Zeit) (Röm 13,1 f.). Jeder Text ist nach der Intention seines Autors eine Sinnfestlegung. Außerdem ist seine Botschaft an Kontexte und Umstände gebunden. 94
Aber in ihrer Übermittlung stirbt der Autor und die Polysemie kommt zum Vorschein. Das birgt ein Risiko und einen Vorteil: Das Risiko liegt in der »Dekontextualisierung« selbst, welche die spätere Neuinterpretation des Textes zur Folge hat. Nehmen wir als Beispiel I Kor 14,33 b-35: Es ist möglich, daß es Paulus beim Schreiben an eine griechische Kirche nicht klug erschien, schlagartig eine - zweifellos in der orphisch-platonischen Tradition begründete - kulturelle Praxis abzulehnen, die den Mann idealisiert und die Frau verachtet. Die ihn aus seinem primären Kontext lösende Universalisierung des Textes erhebt zur »Doktrin«, was als Gelegenheitsanweisung gedacht gewesen sein könnte. Damit wäre Paulus salviert, aber nicht der Text, und wir lesen nicht Paulus, sondern den von ihm geschriebenen Text. Und worin läge der Vorteil des Übergangs vom Verfasser zum Text? Erinnern wir uns, daß dieser Text rein sprachlich betrachtet innerhalb eines anderen Textes steht, ja innerhalb der Bibel als Gesamtheit (vgl. den Begriff der Intratextualität). In diesem einzigen Text stellt eine andere paulinische Aussage (GaI3,28f.: »... hier ist nicht Mann noch Weib; denn ihr seid allzumal einer in Christus Jesus«) ein viel radikaleres Prinzip auf, welches das vorherige in sich aufnimmt und das definitiv auf das Alte Testament zurückgeht (Gen 1,26; vgl. auch Eph 5,31). In dem Kreislauf, der sich innerhalb dieser Intratextualität (wenn nicht schon in der Intertextualität) der Bibel etabliert, hat das Alte Testament seinen Sinn nicht erschöpft - eben deshalb, weil es durch das christologische Prisma gelesen wird. Es kann deshalb keinen Mißbrauch des Alten Testaments geben. Schlußfolgerung Die Bibel ist unser »Wort Gottes«. Sie ist die Sammlung des Sinns der Heilstaten Gottes. Sie ist nicht allein ein Text zum Lesen. Sie ist auch das verkündigte Wort, welches sie für das Leben neu interpretiert. Wir haben gesehen, daß, wenn das Ereignis »Wort« wird und dieses in einen »Text« mündet, dann der Text seinerseits nach einem neuen Wort verlangt, das ihn neu interpretiert. So ergibt sich eine Abfolge von Kreisläufen, in denen 95
das Wort den Text und der Text das Wort hervorbringt. Diese Beziehung besteht auch zwischen der Schrift als einem Ganzen und dem Wort, das das Kerygma verkündigt: Die Schrift war vorher Verkündigung, und sie wird 'es danach sein. Auch Christus ist das Wort, das die Schriften interpretiert, aber er wird seinerseits in neuen Schriften interpretiert, die das Neue Testament bilden. Man gelangt so zu einer neuen Schrift, die wiederum verkündigt wird. Kurz: Die Schrift wird Wort, das Wort wird Schrift. Diese Bewegung kann nie aufhören. Denn dahinter steht die Gegenwart Gottes im Leben. Und er ist der Gott der Lebenden und nicht der Toten (Mt 22,32).
Glossar
Derasch, eine Auslegungsmethode, die den tiefen und verborgenen Sinn eines Textes erforscht. S. lI.l und Anm. 6. Der Derasch ist dem Peschat entgegengesetzt. Diachronie, der chronologische oder fortlaufende Charakter einer Wirklichkeit oder eines Textes und ihrer Bedeutung. Sie ist der Synchronie entgegengesetzt. Eisegese, das »Eintreten« in den Text vom Verstehenshorizont des Lesers aus. Sie ist der Exegese nicht entgegengesetzt, sondern Erläuterung eines ihrer Aspekte. S. Teil IlI. Hagiograph, der Verfasser eines heiligen Textes. Horizontverschmelzung, die wechselseitige Beziehung zwischen Texthorizont (nicht: Verfasserhorizont) und Leserhorizont, die sich im Leseakt ergibt. Intertextualität, der Sinn eines Textes im Lichte anderer Texte innerhalb derselben Weltanschauung (die sprachliche Entsprechung zur »Analogie des Glaubens«). Sie unterscheidet sich von der Intratextualität. Intratextualität, der Sinn eines Textes selbst, der als strukturierte Gesamtheit betrachtet wird. Sie unterscheidet sich von der »Intertextuali tät«. Midrasch, als Auslegungsmethode ist er dasselbe wie der Derasch, mit dem Unterschied, daß sich der Midrasch auf konkrete Texte bezieht. S. lI.l und Anm. 23. Monosemie, einziger Sinn eines Textes / eines Satzes / eines Ereignisses. Sie entspricht der »Festlegung« des Sinns (auf der Interpretationsebene) und ist der »Polysemie« entgegengesetzt. Narrator, der Adressat eines Textes, insofern er nicht eine außersprachliehe Größe darstellt. Er unterscheidet sich gerade vom »Adressaten«, insofern dieser außersprachlich ist. Der Narrator ist der innersprachliche Empfänger der Botschaft. Peschat, in der rabbinischen Terminologie ist es der »einfache«, unmittelbare, oberflächliche Sinn eines Textes, der dem Kontext seines Verfassers entspricht. Er ist dem Derasch entgegengesetzt. S. Anm. 6. 97
Pescher, auslegende Erklärung eines biblischen Textes. Als literarische Gattung ist er typisch für die Schriftrollen vom Toten Meer (Qumran) und für die apokalyptische Literatur (vgl. Dan 7,16). S. n.1 und Anm. 29. Polysemie, Vielfältigkeit der Sinne eines Textes/eines Satzes/ eines Ereignisses. Sie ist der Monosemie oder »Festlegung« des Sinnes entgegengesetzt. Referenzbezug, die außersprachliche Wirklichkeit, auf die sich der Text »bezieht« und die vom »Sinn« des Textes selbst unterschieden ist (der Sinn ist etwas Innersprachliches). Rekontextualisierung, der Vorgang, in der relccture den Text auf den Sinnhorizont des Lesers zu beziehen. Relecture, die interpretierende Lektüre eines Textes, die seinen ursprünglichen Sinn »wachsen« läßt. Semantik / Semiotik, sie unterscheiden sich dadurch, daß zur Semantik die Evolution und das Wachsen des Sinns eines Wortes/ eines Textes gehört, während die Semiotik den Sinn der Textstruktur untersucht. Signifikant / Signifikat, sie verhalten sich zueinander wie das Zeichen und die Botschaft, der Text als Struktur und als »das, was er aussagt«. Sinnachse / semantische Achse, Thema oder Motiv, das einen Text als Gesamtheit durchzieht und strukturiert. Sinnreserve, die Möglichkeiten eines Textes, über das von seinem Verfasser Gedachte hinaus etwas auszusagen. Sie ist die textliche Entsprechung zur relecture. . Synchronie, die Gleichzeitigkeit der Bedeutung, wenn ein Text als Gesamtheit gelesen und ausgelegt wird. Targum, aramäische Übersetzung der hebräischen Bibel, die zwar interpretierend, aber nicht so weit entwickelt ist wie der Midrasch. S. n.1 und Anm. 23. Tora, der Pentateuch; weiter gefaßt die ganze Schrift (speziell das Alte Testament) als göttliche Norm und grundlegende Institution einer Gemeinde. Zugehörigkeit/ Angemessenheit, Qualität eines Textes oder Diskurses, einem bestimmten Adressaten zuzugehören/ seinem Verstehenshorizont angemessen zu sein. S. n.4.
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Bibelstellenregister
Gen 1,26 Gen 22
95 66
Ex2 Ex 3,12ff. Ex 14,31
59 64 64
Dtn 6,20-24 Dtn 15,6 Dtn 26,5-9
73 71 73
Jos 3-5
50
Neh 8-10
73f.
Ps 78
67
Jes 6 Jes 13-23 Jes42 ... 53 Jes 49,6 Jes 50,4f. Jes 53,10 Jes 60,12 Jes 61,1-2
85 76 37ff. 39 Anm.19 42 Anm. 22 42 Anm. 22
Jer 1 Jer 46-51
85 76
Hes 1-3 Hes 25-32
85 76
Am 1,3-2,5 Am 1-9 Am 7,10-17 Am 9,11-15
76 67ff. 85 67ff.
Sir
31 Anm. 24
72
65
Mt 1-2 Mt 22,32
59 96
Lk 1,32.69 Lkl-2 Lk 3,31 Lk 4,16-30
41 59 41 65
Lk 11,15.19 Lk 20,41-44 Lk 24,25 f.46
90 41 41
Joh 1,14 Joh 1,18 Joh 1,35-51 Joh8,19 Joh 12,45 Joh 14,7 Joh 14,26 Joh 16,13
86 88 34H. 86 86 86 88 88
Apg 13,47 Apg 26,18
40 40
Röm 10,4 Röm 13,1 H.
72 94
I Kor 14,33-35
94f.
Gall,15 Ga13,24 Ga13,28f.
40 72 95
I Tim 6,tf.
94
Eph 5,31
95
100
Ausgangspunkt dieses Essays ist die Einsicht, daß die Bedeutung der biblischen Schriften mit ihrer Entstehung in der Antike nicht ein für allemal festgelegt ist, sondern daß sie sich gegenwärtig in immer neuem Lesen unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen und geschichtlichen Situation der Leser-Innen erschließt, ja daß schon die Bibel selbst Ergebnis einer solchen kontextbezogenen Lektüre ist. Das neue und erneuernde Lesen bedarf jedoch der geordneten Methoden, denen Croatto in seinem Buch nachgeht.