Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 52
Die Blutburg von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atlanter b...
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Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 52
Die Blutburg von Ernst Vlcek
Die Hauptpersonen des Romans: Dragon – Der Atlanter betreibt »Altertumsforschung«. Ubali und Thamai – Dragons exotische »Lebensretter«. Schlangentöter – Der junge Padoka begibt sich freiwillig in die Gefangenschaft. Quampas – Schlüsselherr von Shebar. Waldblume – Favoritin des Schlüsselherrn. Vengin – Ein Blutjäger wird zur Bestie. Über Myra und Dragons Thron, den zu halten sich Königin Amee nach Kräften bemüht, sind düstere Schatten gefallen. Schuld daran, daß es so kam, trägt zweifellos Dragons lange Abwesenheit, bewirkt durch den veränderten Zeitablauf, der aus sechs Monaten Aufenthalt auf Vestas Welt drei ganze irdische Jahre macht. Und drei Jahre sind zuviel! Schon vorher beginnt es in Myranien unruhig zu werden. Da Dragon längst für tot gehalten wird, bedrängen Freier die Königin, die sich ihrer nur mit Hilfe des magischen Umhangs erwehren kann, den Dragon vom Namenlosen erhielt und der aus dem Eisland zurückgeholt wurde. Rachmud, ein schmählich abgewiesener Freier, bedient sich sogar der Mächte der Dunkelheit und des Meisters der Dämonen, um die Königin unter Druck zu setzen und sich an Myra zu rächen. Doch Rachmud stirbt durch eben die Mächte, die er zu Hilfe gerufen hat. Und auch ein Meister der Dämonen – so zeigt es sich – ist nicht in allen Situationen unschlagbar, so daß die Myraner und ihre Königin noch einmal aufatmen können. Bald darauf gelingt Dragon die Rückkehr. Zusammen mit Ubali, dem Panther, und der schönen Thamai durchschreitet er das »Götterauge« und gelangt in einen Teil der Welt, der weitab von Myra liegt. Dragon erreicht das Land der Blutjäger, und sein weiterer Weg führt den Atlanter in DIE BLUTBURG ...
1.
Durch die Augenschlitze seines goldenen Helmes sah Vengin eine Welt, die in Blut getaucht schien. Der große Ball der untergehenden Sonne stand tief über dem Horizont, und ihre letzten Strahlen färbten das Land, den Wald im Norden, die vorgelagerte Steppe, die hier von Karstland abgelöst wurde. Alles leuchtete im Rot der letzten Sonnenstrahlen. Hier standen nur noch vereinzelt Bäume, die krumm waren und niedrig und deren knorrige Äste sich zur Erde hinunterneigten, so als wollten sie sich ducken vor dem mächtigen roten Felsklotz, der sich im Süden erhob. Diese Felserhebung hatte ihre Farbe nicht von der Sonne, sondern das Gestein leuchtete von sich aus rot. Die Quesas wußten viele Geschichten darüber zu erzählen, wie der Fels seine Farbe bekommen hatte. Das Rot stamme vom Blut jener, die das Gestein bearbeitet hatten, die auf Geheiß ihrer Herren Gänge und Stollen hineingegraben hatten und dabei entweder zugrunde gingen oder den Göttern geopfert wurden. Die Eingeborenen wußten aber auch davon zu berichten, daß in dem Fels Dämonen lebten, die unter den Sklaven, die die Irrgänge gegraben hatten, fürchterlich wüteten. Und so hatte sich der Fels auch vom Blut derer rot gefärbt, die Opfer der bösen Geister geworden waren. Vengin hielt sein Pferd an und betrachtete Burg Shebar. Burg und Fels waren zu einem einzigen zusammengehörigen Gebilde verschmolzen. Die ineinander verschachtelten Gebäude mit ihren Brücken und Türmchen, Terrassen und Erkern, den in verschiedenen Hö
hen um den Fels laufenden Wehrmauern mit Zinnen und Scharten waren ebenfalls aus dem roten Stein. Es hatte den Anschein, als seien Fels und Burg aus einem Stück – und ähnlich war es auch, denn größtenteils waren die gedrungenen Gebäude aus dem Fels herausgehauen worden. Die anderen, wie etwa der ungefüge, wuchtige Wehrturm, waren aus den roten Steinen des Felsberges gebaut. So groß und mächtig Burg Shebar sich dem Betrachter auch bot, der überwiegende Teil der Räumlichkeiten und Anlagen blieb ihm verborgen, denn sie befanden sich in der Tiefe des Felsens. Wie schon in den Legenden der Quesas erzählt wurde, war der Felskoloß fast zur Gänze durchhöhlt. Viele der Höhlen waren von ungeheuerlichen Tieren gegraben oder von der Kraft der Elemente, wie den Wassern des Himmels und dem Feuer aus der Tiefe der Erde, geschaffen worden. Aber den weitaus größten Teil der Stollen und Keller, Gewölbe und Verliese hatten Generationen von Sklaven mit ihrer Hände Kraft gegraben. Das lag schon lange zurück. So lange, daß viele der Gewölbe und Höhlen in Vergessenheit geraten waren. Das war Burg Shebar, Sitz des Blutherrn Shebar. Wie die Faust eines Riesen erhob sie sich als Monument der Macht derer von Neuatlantis aus dem karstigen Land, das im Schein der untergehenden Sonne ebenfalls blutrot zu leuchten schien. Vengin schloß die Augen. Er konnte an nichts anderes denken als an Blut. Er gierte danach. Er atmete rascher. Sein heißer Hauch schlug gegen die Innenseite seines verschlossenen Helmes und brandete gegen sein glühendes Gesicht zurück. Eine rote Welt. Eine Welt voll pulsierender Ströme aus Blut. Und er war eingeschlossen in seinem Helm. Er be
leckte sich die aufgesprungenen Lippen. Sein Gaumen war belegt, sein Rachen trocken. Langsam beruhigte er sich wieder. Öffnete die Augen. Drehte sich auf dem Rücken seines Pferdes um. Hinter ihm tauchten die zehn Jagdsklaven auf, die mit schwarzen Stirnstreifen gekennzeichnet waren. Sie führten fünf aneinandergekettete Gefangene mit sich. Es handelte sich durchwegs um Kanuks, von denen keiner mehr als vierzehn Sommer zählen konnte. Halbe Kinder also, vier waren männlichen Geschlechts, das eine war ein Mädchen. Sie wirkte etwas älter. Das war die ganze Ausbeute seiner dreitägigen Jagd. Fünf Wilde, die fast noch Kinder waren. Nun, das wäre nicht unbedingt ein Schaden gewesen, denn das Blut von Jünglingen und Jungfern hatte einen eigenen Geschmack. Doch das würde Quampas, der Schlüsselherr von Burg Shebar, nicht anerkennen. Er würde diese Gelegenheit viel eher dazu nutzen, um wieder über ihn, Vengin, herzuziehen und ihn zu demütigen. Vengin hörte ihn im Geiste schon spotten. »Seht euch nur an, wie tüchtig unser Blutjäger war. Seht nur, seht! Er benötigt die Unterstützung von zehn Jagdsklaven, um fünf Kinder einzufangen. Hat er sich zur Belohnung nicht wenigstens einen Tropfen Blut verdient?« »Beeilt euch!« rief Vengin den Jagdsklaven zu, um sich von seinen quälenden Gedanken abzulenken. Die Blutjäger trieben die Gefangenen zu größerer Eile an. Diese waren bald am Ende ihrer Kräfte. Ihre Fußsohlen waren vom langen Marsch über den Geröllweg bereits wund. Sie hinterließen blutige Abdrücke auf den Steinen.
Vengin wandte sich ab. Er trieb sein Pferd an und ritt in wildem Galopp das letzte Stück des steilen, gewundenen Weges bis zum Tor im Burgwall. »Vengin ist zurück!« hörte er eine der Torwachen rufen. Es war ein gemeiner Jagdsklave. »Öffnet das Tor.« Die beiden Torflügel schwangen nach außen auf. Ein anderer Blutjäger erwartete Vengin bereits im Burghof. Es schien Vengin, daß die Augen hinter den Schlitzen im Helm spöttisch funkelten, als er fragte: »Wo hast du denn deine Jagdsklaven gelassen? Du wirst sie doch nicht verloren haben?« Vengin gab keine Antwort, sondern schwang sich aus dem Sattel und übergab sein Pferd einem Jagdsklaven. »Warum so schweigsam, Vengin?« fragte der Blutjäger wieder, »War die Jagd nicht erfolgreich?« »Doch«, behauptete Vengin. »Ich komme nicht mit leeren Händen, sondern bringe junges Blut.« Der Blutjäger lachte in Vorfreude; Vengin hatte an der Stimme Jergor erkannt. »Nur schade, daß du sie nicht gleich zur Ader lassen konntest«, sagte Jergor, und Vengin spürte wieder Wut in sich hochkommen. »Aber vielleicht ist Quampas milde gestimmt ...« Vengin wandte sich abrupt ab. Nur gut, daß die Maske sein Gesicht verdeckte, so daß niemand sehen konnte, wie es sich vor unbändigem Haß verzerrte. Eines Tages würde er sich an Quampas für all die Schmach rächen. Das Maß war bald voll. Besonders nachdem ihm der Schlüsselherr das Recht, das Blut der neuen Gefangenen zu kosten, verwehrte. Dieses Recht stand jedem Blutjäger beim Raubzug zu. Quampas hätte ihm den Helm öffnen müssen. Doch das hatte er nicht getan. Und so mußte Vengin mit geschlossenem Helm jagen und konnte sich nichts von dem Blut seiner Gefangenen nehmen.
»Ah, da kommt ja dein Haufen bereits«, hörte Vengin den anderen Blutjäger sagen. Und enttäuscht fügte er hinzu: »Sind diese blutleeren Kinder deine ganze Beute?« Vengin wirbelte zu Jergor herum. Er hätte sich in diesem Augenblick auf ihn gestürzt, wäre nicht plötzlich Quampas aufgetaucht. Er kam in Begleitung seiner Leibsklavin Waldblume, einer Wilden aus dem Volk der Kanuks. Der Schlüsselherr von Burg Shebar war ein häßlicher, fetter Zwerg, dessen von unzähligen Falten zerfurchtes Gesicht und die tiefrote Hautfarbe seine Abstammung sofort verriet: er war ein Wilder, ein ganz gemeiner Eingeborener aus dem Volk der Quesas. Und so bewegte er sich auch, fast lautlos, irgendwie geschmeidig wie ein Raubtier – trotz seiner Körperfülle. Obwohl er innerhalb der Burgmauern geboren worden und auch hier aufgewachsen war, benahm er sich, als würde er sich auf freier Wildbahn befinden. Das hatten ihm seine Vorfahren vererbt. Schon sein Vater und dessen Vater hatten dem früheren Herrn der Burg als Jagdsklaven gedient, und Quampas war schlau und verschlagen genug gewesen, sich die Verdienste seiner Vorfahren zunutze zu machen, sich Shebars Vertrauen zu erschleichen und es bis zu dessen Stellvertreter zu bringen. Dies war für einen Quesa eine einmalige Position, denn sonst konnten nur Neuatlanter den Posten eines Schlüsselherrn einnehmen. Und von solch einem Emporkömmling mußte sich Vengin, dessen Abstammung so unbefleckt war, wie das Zeremoniengewand der Blutpriesterinnen, demütigen lassen! Aber der Tag würde kommen ...
Quampas trug einen festlichen Waffenrock, den aus zwei kunstvoll bestickten Streifen bestehenden Überwurfmantel der enthaltsamen Blutpriester und den dazu passenden Helm aus Schlangenhaut und Hossagebeinen. In der einen Hand hielt er spielerisch den Bund mit dem Schlüssel, der zu allen Schlössern der Burg paßte – und mit dem man auch die Helme der Blutjäger öffnen konnte. Beim Anblick dieses Schlüssels verging Vengin fast vor Gier, und wäre Quampas von edler Abstammung gewesen, Vengin wäre vor ihm in den Staub gesunken und hätte ihn um Erbarmen angefleht. Aber vor diesem Emporkömmling wollte Vengin die Haltung bewahren. »Schon von der Jagd zurück, Vengin?« rief ihm Quampas beim Näherkommen zu. Er ließ seine verschlagenen Augen zu den abgekämpften Jagdsklaven und dem verloren wirkenden Häuflein der fünf halbnackten Kanuks wandern. »Und wo ist deine Beute, Vengin?« »Öffne deine Augen, Schlüsselherr«, sagte Vengin mit mühsam unterdrückter Wut. »Aber das wäre nicht einmal nötig, wenn du den Geruchsinn eines Blutjägers hättest. Dann könntest du den Duft des süßen Blutes riechen, der den Gefangenen entströmt.« Quampas grinste. »Wie du schon sagtest, muß ich mich auf meine Augen verlassen. Und die zeigen mir wenig Erfreuliches. Ich sehe nur eine Schar von Kindern, die so blutleer scheinen, daß man es nicht wagen kann, sie zur Ader zu lassen. Und dafür hast du drei Tage und zehn Jagdsklaven benötigt, Vengin? Tüchtig, tüchtig!« Quampas schüttelte seinen Schlüsselbund. »Dafür hast du dir als Belohnung einen Tropfen Blut verdient.« Damit wandte er sich ab. Seine Leibsklavin folgte ihm. Jergor lachte, und selbst die Jagdsklaven, die am
Tor Wache standen, konnten sich ein Grinsen nur mühsam verkneifen. Vengin gab seinen Jagdsklaven einen Wink, und sie trieben die verängstigten Gefangenen zu einem gedrungenen Gebäude, das aus der Flanke eines stufenförmig aufragenden Bauwerks hervorsprang. Auf dem Weg dorthin kreuzte ein weiterer Blutjäger Vengins Weg. An der schlanken Gestalt erkannte er Hongor. Er war unter den Blutjägern von Burg Shebar der größte – und erfolgreichste. Gleichzeitig empfand er für Vengin so etwas wie Zuneigung und ließ sich von Quampas nicht gegen ihn aufhetzen. Er hatte es auch nicht nötig, sich die Gunst des Schlüsselherrn zu erschleichen, weil dieser seine Erfolge einfach anerkennen mußte. »Ich bin Quampas begegnet«, sagte er nach der kurzen Begrüßung. »Er hat mir gesagt, daß er noch heute mit den neuen Gefangenen ein Fest geben will.« Vengin merkte, wie seine Augen hinter den Sehschlitzen des Helmes zu den verstörten Kanuks wanderten. »Viel können wir von denen wohl nicht erwarten. Aber immerhin, da es deine Gefangenen sind, wird Quampas nicht umhin können, dir den Helm zu öffnen. Das freut mich für dich.« Hongor meinte seine Worte ehrlich, und seine Anspielung auf den Zustand der fünf Kanuks geschah ohne böse Absicht. »Wie es auch kommt«, erwiderte Vengin. »Ich werde Quampas keine Gelegenheit geben, seinen Triumph über mich auszukosten.« »Wyzeila soll diesen roten Blutverächter holen«, sagte Hongor grimmig. »Seit dem Tage, da Shebar auf Jagd ist, spielt er sich auf, als wäre er selbst der Burgherr. Hoffen wir, daß Shebar bald zurückkommt. Hast du eine Spur von ihm gefunden?«
»Das hätte ich sofort berichtet«, antwortete Vengin. »Aber ich habe eine der Suchmannschaften getroffen. Es war jene, die Erngom mit acht Hossas anführt. Aber obwohl Erngom schon seit zehn Tagen unterwegs ist, hat auch er keine Spur von unserem Obersten Blutherrn gefunden.« »Dann muß dieser Melnike Jammad ein zäher und kluger Bursche sein«, meinte Hongor, »wenn er Shebar so lange beschäftigt. Und Shebar wird erst zurückkommen, nachdem er den Melniken gestellt hat. Nun, harren wir aus, und feiern wir inzwischen die Blutfeste, wie Quampas sie uns gewährt.« Hongor ging weiter. Vengin folgte den Jagdsklaven und den Gefangenen in das Gebäude. Er hätte sich am liebsten in seine Klause zurückgezogen, doch war es die Pflicht eines jeden Blutjägers, seine Gefangenen bis zuletzt zu beaufsichtigen. Das hieß, daß er sie entweder bis ins Verlies begleiten mußte, um sie dem wachhabenden Blutjäger zu übergeben, oder, wie in seinem Fall, ihre Verwendung für das Fest vorzubereiten. Das war eine schwere Belastung für ihn, denn während der Vorbereitungen würde die Verlockung besonders groß sein. Wie lange war es schon her, daß er kein Blut getrunken hatte? Vor drei Wochen war der Burgherr Shebar aufgebrochen, um dem geflüchteten Jammad nachzujagen. Vier Tage danach hatte er, Vengin, sich fast an Waldblume, der Leibsklavin Quampas‘, vergangen. Damit hatte er den Zorn des Schlüsselherrn auf sich geladen. Dabei hatte ihn Waldblume geradezu herausgefordert. Sie mußte gewußt haben, daß Quampas Vengins Helm bereits für das bevorstehende Blutfest geöffnet hatte, dennoch kam sie in seine Klause, nahm seinen Dolch 10
mit zwei Fingern an der Klinge ... So hatte sie sich einen Schnitt zugefügt ... es waren nur einige Tropfen Blut geflossen – aber Vengin, der das durch einen Metallspiegel beobachtete, hatte nicht mehr an sich halten können. Er wußte nicht mehr genau, wie es sich abgespielt hatte. Plötzlich fand er sich über ihr, wollte ihr das Blut aus der Wunde saugen. Und Waldblume schrie, bis die Wachen kamen und ihn gewaltsam von ihr entfernten. Seit diesem Abend hatte Quampas seinen Helm nicht mehr geöffnet. Vengin wußte kaum noch, wie Blut schmeckte. Die Gier danach machte ihn fast verrückt. »Nehmt den Gefangenen nun die Ketten ab!« verlangte Aquina. Sie war eine höhergestellte Haussklavin und stammte aus einem der Quesa-Bergstämme. Sie war Shebar schon als kleines Mädchen von ihrer Familie zum Geschenk gemacht worden. Es kam nicht selten vor, daß die Eingeborenen ihre Kinder zur Blutburg brachten, um sie als Sklaven zu verkaufen. Entweder trieb die Not sie dazu, oder sie wollten sich einfach die Gunst der Blutjäger sichern. Zudem hofften sie, daß es ihren Kindern auf der Burg besser ging, als bei ihnen und daß sie es vielleicht zu einem Jagdsklaven brachten, oder sogar noch weiter – wie etwa Quampas. Doch in den meisten Fällen blieben die Hoffnungen der Eingeborenen unerfüllt. Denn der größte Teil der Sklaven ging mit einem der Schiffstransporte nach Neuatlantis, wo ein höchst Ungewisses Schicksal sie erwartete. Aquina jedoch war eine der wenigen Ausnahmen. Aus verschiedenen Erzählungen wußte Vengin, daß sie ein so bitteres Blut besaß, daß Shebar nicht gewagt hatte, sie mit den anderen Gefangenen nach Neuatlantis zu verschicken. Sie wäre wahrscheinlich den Hossas vorgeworfen worden, wenn sich nicht herausgestellt hätte, 11
daß sie eine große Fingerfertigkeit besaß und gut mit Hautfarben und Tätowiernadeln umzugehen verstand. Das war der Grund, warum Shebar sie am Leben ließ. Und nun oblag es ihr, die neuen Gefangenen ebenso zu kennzeichnen, wie jene Eingeborenen, die in den Stand von Haussklaven oder Jagdsklaven erhoben wurden. Nachdem den fünf Gefangenen die Fesseln abgenommen worden waren, führte Aquina sie in einen kleinen Raum, in dem sie die Tätowierung vornahm. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, redete sie den Kanuks zu, als diese beim Anblick der vielen verschieden dicken Nadeln in den kleinen Köchern zu zittern begannen. »Es tut gar nicht weh. Jedenfalls ist es weniger schmerzvoll als die Mannbarkeitsprüfungen eures Stammes – oder wenn man von einem Mann zur Frau gemacht wird.« Aquina verstand es, den Gefangenen die Scheu zu nehmen, obwohl sie als Quesa eigentlich eine Feindin der Kanuks war. Wahrscheinlich wollten die jungen Kanuks der Quesa auch beweisen, daß sie so etwas wie Angst nicht kannten und hielten deshalb still, zuckten nicht einmal mit den Wimpern, als sie ihre Wangen mit den Nadeln stach und die Wunden dann mit roter Farbe tönte. Vengin blickte weg. Als Aquina jedoch plötzlich einen leisen Schrei ausstieß, wandte er sich doch in ihre Richtung. Er begegnete ihrem Blick, in dem etwas Lauerndes lag, bemerkte ihr falsches Lächeln – und den hervorquellenden Blutstropfen auf ihrer Fingerkuppe. »Tut mir leid – ich habe mich gestochen«, sagte sie heuchlerisch. Vengin war sicher, daß sie sich die Wunde absichtlich zugefügt hatte, um ihn zu reizen. Aquina hatte schon früher ähnliche Zwischenfälle verursacht, bei denen er etwas von ihrem Blut zu sehen bekam. Er 12
war sicher, daß sie ihn auf diese Weise absichtlich quälen wollte. Als die fünf Gefangenen mit roten Farbmalen auf den Wangen gekennzeichnet waren, brachte Vengin sie schnell fort. Aquina stand in der Tür und blickte ihm nach, während sie das Blut aus der Stichwunde ihrer Fingerkuppe sog. Vengin konnte nicht mehr länger an sich halten. Er brachte die Gefangenen in den Vorbereitungsraum, wo sie Speisen und Getränke bekamen, um sich für das bevorstehende Fest zu stärken – und wo sie durch berauschende Dämpfe gefügig gemacht wurden, während den Getränken Substanzen beigemengt waren, die sofort in das Blut übergingen und dieses besonders würzten. Vengin überließ die Gefangenen den Haussklaven und eilte in seine Klause. Dort angekommen, bearbeitete er in fiebriger Eile sofort das schlanke, steinerne Gebilde, das immer mehr die Form des Schlüssels zu seinem Helm annahm. Nicht mehr lange, dann hatte er es geschafft. Bald würde seine Qual ein Ende haben, und Quampas konnte ihn nicht mehr peinigen. Dann würde er sich an diesem verfluchten Emporkömmling auf seine Weise rächen.
13
2.
Vengin wußte, daß er von den anderen Blutjägern durch die Augenschlitze beobachtet wurde, als sie Seite an Seite die Festhalle betraten. Der Saal war nur von wenigen Öllampen erleuchtet, die ein gedämpftes Licht verbreiteten. In der Mitte stand der kreisrunde Tisch, um den die geladenen Blutjäger Platz nehmen sollten. Es waren diesmal ihrer nur fünf, weil die anderen fünf mit je zehn Jagdsklaven und allen in der Burg befindlichen Hossas die Suche nach dem Burgherrn Shebar aufgenommen hatten. Die Tischplatte hatte eine große Öffnung, in der sich die Blutspender befanden. Es handelte sich um die fünf Kanuks, die Vengin von seinem Jagdausflug nach Burg Shebar gebracht hatte. Sie standen völlig unbewegt da, so als seien sie nur unbeteiligte Zuschauer. Vengin wußte, daß ihre Ruhe und Gelassenheit aber nur auf die betäubenden Dämpfe zurückzuführen war, die man sie einatmen ließ, bevor man sie in den Festsaal brachte. Es waren gerade fünf Blutspender – für jeden Jäger einer. Dennoch konnte Vengin immer noch nicht daran glauben, daß Quampas ihn das Blutfest feiern lassen würde. Der Schlüsselherr mußte irgendeine Teufelei im Schilde führen. Vengin riß seinen Blick von den fünf Eingeborenen los und blickte zur teppichbelegten Treppe, die zur Loge des Burgherrn hinaufführte. Dort saß jedoch nur der Schlüsselherr – und an seiner Seite seine Leibsklavin Waldblume, die Eingeborene aus dem Kanuk-Stamm der Taquiras. 14
Die Haussklaven läuteten ihre Glöckchen, die ihnen von den Handgelenken baumelten, verhüllte Sklavinnen schwenkten die Zeremonienschalen, denen leuchtende und duftende Dämpfe entstiegen. Aus dem im Dunkel liegenden Hintergrund erklang monotoner Trommelschlag. Quampas trug wieder das Gewand des enthaltsamen Priesters; der einzelne Schlüssel, der gleichzeitig das Symbol seiner Stellung als Schlüsselherr war, baumelte von seinem Leibgurt. Sein häßliches Gesicht wurde halb von dem Helm aus Schlangenhaut und Hossaknochen verdeckt. Der Schlüsselherr hatte auf Shebars Thron Platz genommen, um damit zu bekunden, daß er während der Abwesenheit des Burgherrn dessen Stelle vertrat. Waldblume saß zu seiner Rechten, wo sonst sein Platz war, wenn Shebar sich in der Burg aufhielt. Waldblume, sechzehn Sommer alt, und seit einem Jahr Quampas‘ Bettgenossin, trug längst nicht mehr das Gewand einer Sklavin, sondern das Kleid einer hochgestellten Dienerin. Zudem hatte Quampas Aquina dazu veranlaßt, ihr die grüne Stirntätowierung, die sie ursprünglich als Haussklavin kennzeichnete, wieder zu entfernen. Erst ohne diese Kennzeichnung wurde Waldblume innerhalb der Burg zu etwas Besonderem. Quampas saß hochaufgerichtet im Thron des Burgherrn und blickte auf die fünf Blutjäger hinunter, die gemessenen Schrittes zu der Treppe gekommen waren und nun davor stehenblieben. Die Trommeln verstummten für eine Weile, und nur das Glockengeläut war zu hören. Als Quampas mit der Hand ein Zeichen gab, ertönte wieder das eintönige Trommeln. Das war gleichzeitig 15
das Zeichen für die Blutjäger, sich zu ihrem Schlüsselherrn zu begeben. Der Blutjäger, der ganz rechts stand, machte den Anfang, Es war Hongor, der Shebars besondere Gunst besaß und der von Quampas deshalb ebenfalls mit Vorzug behandelt wurde. Der hochgewachsene Blutjäger in seinem blütenweißen, bis zum Boden reichenden Gewand, stieg im Takt der Trommel die Treppe hinauf. Zwei Stufen unter dem Blutherrn blieb er stehen. Dann kniete er nieder und reckte Quampas den behelmten Kopf entgegen. »Eröffne du, Hongor, dieses Blutfest. Es gibt keinen Würdigeren als dich.« Mit diesen Worten hob Quampas den Schlüssel, steckte ihn in das Schloß, das Hongors Helm versperrte und drehte ihn herum. Mit einem Klicken klappte das Vorderteil des Helmes auf, und darunter kam ein scharfgeschnittenes Gesicht zum Vorschein. »Ich danke dir für die Gnade, die du mir in deiner grenzenlosen Güte erweist, Schlüsselherr des Shebar«, sagte Hongor, dann erhob er sich. »Noch eine Bitte, Hongor«, sagte Quampas schnell, bevor sich der Blutjäger über die Treppe in den Festsaal zurückziehen konnte. »Habe Mitleid mit den schwächlichen Gefangenen und zügle deinen Durst.« Hongors Lippen verkniffen sich, aber er sagte kein Wort, sondern neigte nur leicht den Kopf. Der nächste Blutjäger in der Reihe war Belonor. Ihm war Quampas mehr zugetan als den anderen, weil er ihm viele wertvolle Informationen zubrachte und immer ausführlich schilderte, wie Vengin darunter zu leiden hatte, daß ihm das so begehrte Blut vorenthalten wurde. Belonor war bei jedem Blutfest dabei – und hatte schon so manchen Blutrausch erlebt, von dem nur er selbst und Quampas wußten. 16
Der Schlüsselherr öffnete ihm die Verschlußklappe seines goldenen Helms. Danach folgten die Blutjäger Jergor und Attrin, den Abschluß bildete Vengin. Als er vor Quampas kniete, spielte der Schlüsselherr eine Weile versonnen mit dem Schlüssel, bevor er ihn in das Schloß von Vengins Helm steckte. Aber selbst dann zögerte er noch, das Schloß aufzusperren. »Du weißt sehr genau, daß du diese Gnade eigentlich nicht verdienst, Vengin«, sagte Quampas. »Es wäre mein Recht, dich noch lange von den Blutfesten fernzuhalten. Du hast ein schändliches Verbrechen auf dem Gewissen, Vengin, das, würde unser Oberster Blutjäger anwesend sein, vielleicht sogar mit Verbannung in die Unterwelt von Burg Shebar bestraft werden würde. Aber wenn du Reue für dein Vergehen zeigst und beschwören kannst, daß du den Willen hast, deine abartigen Neigungen künftig zu zügeln – dann will ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen lassen und nach Shebars Rückkehr bei ihm für dich sprechen.« Quampas beobachtete den Blutjäger scharf. Durch die Schlitze war zu erkennen, daß er die Augen geschlossen hatte. Vengin rang lange mit einem Entschluß, bevor er hervorbrachte: »Ich bereue, Schlüsselherr Quampas.« Quampas war zufrieden. Er wußte, daß er auch Vengin in die Knie zwingen würde. Es bereitete ihm überhaupt besondere Genugtuung, seine Macht über die Neuatlanter auszukosten. Er, dessen Vorfahren noch in den Tipis der Quesas gehaust hatten und von den Sklavenhändlern gejagt worden waren, hatte nun fast unumschränkte Macht über jene, die die Jäger seines Volkes waren. 17
Er, Quampas, ein Quesa, hatte es zu mehr Ansehen gebracht, als die meisten der Neuatlanter je erhoffen durften. Und so war es auch nicht einmal verwunderlich, daß er seine Position dazu ausnützte, sich in erster Linie persönliche Vorteile zu verschaffen. Erst in zweiter Linie diente er seinem Herrn Shebar. Quampas drehte den Schlüssel langsam herum, und Vengins Visier sprang auf. Der Schlüsselherr hatte in der Vorfreude geschwelgt, ein gequältes, vom Durst nach Blut geprägtes Gesicht zu erblicken. Deshalb war er etwas enttäuscht, daß Vengin überhaupt keine Regung zeigte. »Ich danke dir für deine Güte, Schlüsselherr«, sagte der Blutjäger, aber es klang alles andere als dankbar. Als Vengin die Treppe wieder hinunterstieg, stieß Waldblume mit verhaltener Wut hervor: »Du hast mir versprochen, ihn verdursten zu lassen, Quampas.« Der Schlüsselherr winkte ab. »Vengin ist damit bestraft genug, daß er mit geschlossenem Helm jagen mußte. Wenn er jetzt geläutert ist, dann wäre das für uns beide Triumph genug.« »Laß dich nur nicht von seiner Unterwürfigkeit täuschen«, erwiderte die Taquira. »Sie ist geheuchelt. Ich habe in seine Augen geblickt. Du hast seinen Widerstand noch längst nicht gebrochen. Vernichte ihn, bevor er sich an dir rächen kann.« Quampas blickte sie lächelnd an. »Ich glaube, du haßt ihn mehr als er mich.« »Habe ich nicht einen guten Grund dafür?« »Genug davon«, meinte Quampas in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Das Blutfest soll beginnen.« 18
Quampas gab das Zeichen. Das Trommeln und das Glockengeläute verstummte. Die Sklaven und Sklavinnen verschwanden, um die Blutjäger allein zu lassen. Selbst die Wachen zogen sich aus dem Festsaal zurück und postierten sich vor den Türen. Es war ein uraltes Gesetz, daß die Blutjäger unter sich blieben, wenn sie ihrer Gier nach Blut nachgaben. Nur der Burgherr und dessen Schlüsselherr durfte sich an dem Fest beteiligen, je nach Lust und Laune als Zuschauer oder als Teilnehmer. Shebar hatte mit seinen Blutjägern schon unzählige ausschweifende Feste gefeiert. Doch Quampas machte sich nichts aus Blut, ihn ekelte sogar davor. Das war auch einer der Gründe, warum er Schlüsselherr geworden war. So wie alle Herrscher ihren, Harem nur von Eunuchen bewachen ließen, zogen es manche Blutherren vor, ihre Blutspender in die Obhut enthaltsamer Schlüsselherren zu geben. Aber wenn sich Quampas auch nichts aus Blut machte, so bereitete es ihm doch einen besonderen Genuß, die Blutjäger bei ihren Festen zu beobachten. Die fünf Blutjäger hatten jetzt an der kreisförmigen Tafel Platz genommen, die die teilnahmslos dastehenden Opfer einschloß. Die Blutjäger legten ihre Helme ab, stellten die prunkvollen Kelche vor sich hin. Die Opfer rührten sich noch immer nicht. Sie waren völlig nackt, nur ihre Unterarme waren bis zu den Handgelenken bandagiert. Lose Stoffbänder, die mit einem schnell blutstillenden Mittel getränkt waren, hingen ihnen von den Armen bis zum Boden herab. »Hongor, du hast das Vorrecht der ersten Wahl«, sagte Attrin, während er sich mit der Zunge die Lippen 19
beleckte und seine Augen über die fünf jungen Kanuks wandern ließ. Jergor holte, während er den Blick nicht von dem Mädchen ließ, seinen Opferdolch aus dem Gewand. Dieser Dolch hatte drei Zacken, von denen Rinnen zum Klingenrand führten. Durch diese Vertiefungen wurde das Blut von der Ader des Opfers in das bereitstehende Gefäß abgeleitet. »Ich trete mein Vorrecht an Vengin ab«, erklärte Hongor. »Er ist jener unter uns, der am meisten Durst leiden mußte. Du hast gehört, was ich sagte, Vengin. Welchem der Gefangenen würdest du den Vorzug geben?« »Ich weiß nicht«, sagte Vengin mit belegter Stimme. Der fiebrige Blick seiner Augen sprang von einem Gefangenen zum anderen. »Was zögerst du so lange, Vengin«, rief Belonor ungeduldig. »Wenn Hongor schon so großzügig ist, dann nimm dir ein Opfer. Ich weiß, daß dir die Wahl schwerfällt, denn einer ist so blutleer wie der andere, aber ...« »Still, Belonor, du verunsicherst Vengin nur«, wies Hongor den anderen zurecht. Vengin hatte seinen Opferdolch hervorgeholt. Jetzt wies er mit den Spitzen auf einen der Jünglinge. »Komm du zu mir«, forderte er ihn mit heiserer Stimme auf. »Welchem Kanuk-Stamm gehörst du an?« »Ich bin ein Mampoa«, sagte der Jüngling mit entrückter Stimme. »Und wie heißt du?« »Ich bin der Sohn von Schwarzer Wolke.« »Komm näher«, verlangte Vengin. Vom Thron aus sah Quampas, daß Hongor das Mädchen zu seiner Spenderin erwählte und die restlichen Blutjäger die drei Jünglinge unter sich aufteilten. 20
Belonor war der ungestümste von ihnen. Selbst Vengin, dessen Blutdurst am größten sein mußte, konnte seine Gier besser zügeln und machte sich zuerst mit seinem Opfer vertraut. Nicht so Belonor. Er hielt nicht viel von einem langen Vorspiel, sondern packte sein Opfer am bandagierten Arm und drehte ihn so herum, daß die Schlagader nach oben kam. Dann stieß Belonor mit dem Opferdolch zu. Eine der drei Spitzen fand die Hauptader. Blut sprudelte hervor, floß durch die Dolchrinne und in den bereitgestellten Kelch. »Welch göttlichen Quell habe ich entdeckt!« rief Belonor. »Seht nur, wie es sprudelt.« Er wartete nicht erst ab, bis der Kelch voll war, sondern wickelte die Bandage, die mit einem blutstillenden Mittel getränkt war, um das Handgelenk seines Opfers. Dann hob er den Kelch an die Lippen und leerte ihn auf einen Zug. Attrin hielt sich ebenfalls nicht lange mit dem Kennenlernen seines Opfers auf. Hongor war da ganz anders. Er unterhielt sich mit dem Mampoa-Mädchen ausführlich, ließ sich von ihr, die durch die inhalierten Dämpfe willenlos geworden war, eingehend darüber berichten, bei welchen Gelegenheiten sie sich verletzt hatte und wie sie sich blutende Wunden zugefügt hatte ... »Was ist denn nur mit Vengin los?« wunderte sich Quampas. »Er muß doch halb verdurstet sein. Ich hätte geglaubt, daß er sofort die Fassung verlieren würde. Dabei spielt er mit seinem Opfer wie ein satter Blutherr.« »Sicherlich befürchtet er eine Hinterlist von dir, Quampas«, meinte Waldblume. »Da! Jetzt kann auch Vengin nicht länger mehr an sich halten!« rief der Schlüsselherr erwartungsvoll aus. 21
»Komm dicht zu mir, Waldblume. Das Fest strebt seinem Höhepunkt zu ...« Vengin konnte nicht länger mehr an sich halten. Jetzt riß er den Jüngling an sich, drückte ihn mit dem Rücken gegen die Tischplatte und hob seinen linken Arm, daß er steil in die Höhe ragte. Dann bohrte er den Dolch in das Handgelenk und fing den herausschießenden Blutstrahl in seinem Kelch auf. Vengin mußte mit ganzer Willensstärke gegen den Wunsch ankämpfen, das Blut in sich aufzusaugen, wie es aus dem Arm quoll. Er stillte schließlich die Wunde seines Opfers mit der Bandage und hob den Kelch an die Lippen. Plötzlich berauschte ihn der Anblick des Blutes jedoch nicht mehr. Der Geruch, der dem Kelch entströmte, war eher abstoßend als anregend. Dennoch hob er den Kelch an die Lippen und trank ihn gierig leer. Quampas lachte spöttisch auf. »Vengin wollte mir zeigen, daß ihm die lange Enthaltsamkeit nichts ausgemacht hat«, sagte er zu Waldblume. »Aber mir kann er nichts vormachen. Jetzt ist sein Trieb mit ihm durchgegangen – und sieh nur, wie er säuft.« Plötzlich schleuderte Vengin den Kelch von sich und schrie auf. Sein Schrei ging in ein Röcheln über. Die anderen Blutjäger hielten in ihrer Tätigkeit inne, wandten sich ihm zu – mehr über diese Störung erbost, als um ihren Kameraden besorgt. Nur Hongor eilte sofort zu Vengin, der, von Krämpfen geschüttelt, dastand. Das Blut des jungen Mampoa, das er soeben getrunken, quoll ihm aus dem Mund und besudelte sein weißes Gewand, das ein Blutjäger auch während eines Festes unbefleckt halten sollte. »Das Blut ... ist gallebitter«, brachte Vengin mühsam hervor. Er stützte sich auf Hongor, stierte ihn aus großen 22
Augen an. »Es war bitteres Blut, das mir der Mampoa spendete, Hongor ... so bitter, daß es mich ekelt.« »Ich bringe dich hinaus, Vengin.« Doch Vengin stieß den anderen Blutjäger von sich. Er taumelte auf die Treppe zu. Quampas hatte sich von seinem Platz erhoben. Er war darauf vorbereitet, daß Vengin zu ihm hinaufstürmen würde. Doch Belonor verstellte ihm den Weg. »Hast du vollkommen den Verstand verloren!« herrschte er Vengin an. »Quampas hat das Blut des Gefangenen absichtlich vergällt«, sagte Vengin keuchend. »Er ...« »Kein Wort mehr, Vengin!« unterbrach Hongor ihn. »Eine solche Verleumdung kann dich Kopf und Kragen kosten.« Quampas tat, als habe er Vengins Anschuldigung überhört. »Laßt euch durch diesen Blutverächter nicht in eurem Fest stören«, rief der Schlüsselherr den Blutjägern zu. »Schafft ihn hinaus. Ich werde mich später mit ihm befassen.« Hongor verschwand mit Vengin der sich selbst den Helm aufsetzte und zuklappte. Gleich darauf kam Hongor allein zurück. Er blieb an der Treppe stehen und blickte zu Quampas hinauf. »Wie erklärst du es dir, Schlüsselherr, daß Vengin plötzlich kein Blut mehr verträgt?« fragte er. »Dafür gibt es nur eine Erklärung – er hat seinen Blutgeschmack verloren«, entgegnete Quampas. »An dem Blut des Opfers liegt es gewiß nicht. Du kannst dich selbst davon überzeugen, Hongor.« Doch davon wollte Hongor nichts wissen.
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»Ich nehme mir nichts von dem Blut, das einem anderen zusteht. Und ich bin sicher, daß auch meine Kameraden nichts von dem Blut haben wollen.« In seinen Worten lag eine so unmißverständliche Drohung, daß nicht einmal Belonor wagte, dem für Vengin bestimmten Opfer an die Ader zu gehen.
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3.
Ihm war, als führe ihn jeder Schritt, den er machte, aus einem Traum zurück in die Wirklichkeit. Es war ein seltsamer Traum gewesen. Der Traum von einem großen Saal, der aus Stein gebaut war. Einige Öllampen spendeten Licht. Er stand mit seinen vier Gefährten in einem runden Tisch, um den fünf Hellhäutige mit Helmen saßen. Diese nahmen endlich die Helme ab und betrachteten ihn und seine Leidensgenossen mit seltsamem Blick. Und er, Sohn von Schwarzer Wolke, hatte die Arme verbunden. Und einer der Weißhäutigen schnitt ihm mit einem seltsamen Dolch ins Handgelenk. Und dann kam Blut hervor. Der Hellhäutige fing das Blut auf und trank es. Doch kaum hatte er den Kelch gelehrt, da begann er zu schreien. Der Sohn von Schwarzer Wolke hatte Mitleid mit jenem Hellhäutigen, der sich mit seinem Blut vergiftete. Doch er hatte nicht die Kraft, ihm beizustehen. Wie es in Träumen üblich ist, konnte er sich überhaupt nicht bewegen ... Nun war der Traum vorbei. Er war allein. Er wußte nicht mehr, was aus seinen Kameraden geworden war. Er schritt einen steinernen Gang entlang, stieg gewundene Treppen hinunter, dann wieder etliche Stufen hinauf, mußte durch enge Durchlässe, an denen mit Schwertern und Lanzen bewaffnete Krieger standen. Zwei solcher Bewaffnete begleiteten ihn. Er fühlte sich noch so schwach, daß sie ihn manchmal stützen mußten. 25
An ihrer Hautfarbe erkannte er, daß sie nicht zu jenen unheimlichen Fremden gehörten, die als Eroberer in dieses Land gekommen waren und die Talahassets Kinder knechteten. Die beiden Krieger waren keine Hellhäutigen wie die Helmträger, sondern ihre Haut hatte das gleiche dunkle Rot wie die seine. Aber an ihrer gedrungenen Gestalt erkannte er auch, daß sie nicht dem Waldvolk angehörten. Ihre Bewegungen waren nicht so geschmeidig wie die der Kanuks, sondern schwerfällig wie die von Bauern. Und das waren sie zweifellos auch gewesen, bevor sie in die Dienste der Hellhäutigen getreten waren. Für den Sohn von Schwarzer Wolke stand es fest, daß es sich bei seinen Bewachern um Quesas handelte – die Kinder Tahomes, des Großen Steinwerfers. Er verachtete die Quesas nicht nur deswegen, weil sie seßhaft waren, sondern viel mehr noch deswegen, weil sie sich damit abgefunden hatten, von den Hellhäutigen unterdrückt zu werden. Ja, sie schienen sogar stolz darauf zu sein, daß sie den fremden Eroberern opfern und dienen durften. Und die beiden, die ihn durch die unheimlichen Gänge, führten, trugen das Schandmal an ihrer Stirn, einen schwarzen Streifen vom Haaransatz bis zur Nasenwurzel, sogar noch wie eine Auszeichnung zur Schau. »Na, bist du endlich wieder ganz bei dir, Saures Blut?« fragte der eine seiner Bewacher. Er konnte damit nur ihn, den Sohn von Schwarzer Wolke, meinen. Aber warum gab er ihm diesen seltsamen Namen? Saures Blut! »Wirklich geschwächt kannst du nicht sein, weil man dich nicht richtig zur Ader gelassen hat«, sagte der andere. »Nun, da auch die Wirkung der betäubenden Dämpfe 26
verflogen ist, kannst du ja wieder klar denken. Hast du inzwischen erkannt, welches Schicksal dir bevorsteht?« Er schwieg. Er fand es unter seiner Würde, einem Quesa zu antworten. »Hast du mich nicht verstanden?« Der Quesa packte ihn plötzlich bei den Zöpfen, zerrte so brutal daran, daß er nachgeben mußte, bis er den Kopf so weit nach hinten gebeugt hatte, daß ihm der andere ins Gesicht sehen konnte. »Was für ein verstocktes Bürschchen du bist«, fuhr der Quesa fort. »Wahrscheinlich hast du noch immer nicht begriffen, welches Schicksal dir droht. Aber ich will dich gerne darüber aufklären.« Er versuchte sich zu befreien. Doch der andere hatte Bärenkräfte, und er selbst war noch von seinem Traumerlebnis zu geschwächt. »Durch deine Adern fließt Galle«, sagte der Quesa so nahe seinem Gesicht, daß ihm sein fauliger Atem ekelerregend in die Nase schlug. »Deshalb nennen wir dich auch Saures Blut. Einem Blutjäger ist von dir übel geworden. Dein Lebenssaft ist ungenießbar. Aber glaube nur nicht, daß man dich deshalb wieder laufenläßt. Selbst wenn dich die Hossas verschmähen sollten, wird man dich nicht freilassen. Nur schade, daß keine Hossas in der Burg sind, denn dann könnte man sofort ausprobieren, was sie von dir halten. Aber wahrscheinlicher ist, daß man es gar nicht darauf ankommen läßt, daß sich ein Hossa mit deinem Fleisch vergiftet. Man wird dich Wyzeila opfern, dessen bin ich gewiß. Du bist gerade gut genug als Futter für die Herrin der Unterwelt.« Er hatte nicht viel davon verstanden, was der Quesa zu ihm sagte, aber immerhin genug, um auf ein schreckliches Schicksal gefaßt zu sein. Der Name »Hossa« war 27
ihm ein Begriff. Er wußte, daß die geflügelten Schlangen so hießen. Konnte es noch etwas Schlimmeres geben, als ihnen zum Fraß vorgeworfen zu werden? Den Worten des Quesas nach zu schließen, gab es das in der Gestalt Wyzeilas, der Herrin der Unterwelt. Saures Blut konnte sich nichts darunter vorstellen ... Wie leicht er sich an den neuen Namen gewöhnt hatte. Er empfand ihn gar nicht als Verachtung, sondern eher als Auszeichnung. Denn hatte der Quesa nicht gesagt, daß es einem Blutjäger unmöglich gewesen war, sein Blut zu trinken? Er wußte jetzt, daß seine Erlebnisse in der Halle mit den Hellhäutigen mehr als nur ein Traum waren. Es war schreckliche Wirklichkeit gewesen. Wieder fragte er sich, was aus seinen Freunden geworden war, denn er wußte, daß sie nicht so leicht wie er davongekommen waren. Seine Erinnerung an die Geschehnisse in der unheimlichen Halle war nur lückenhaft, doch wußte er, daß viel Blut geflossen war, bevor man ihn fortbrachte ... Ein Tor ging auf. Der eine Quesa gab ihm einen Stoß, daß er nach vorne taumelte. Vor ihm tat sich ein Abgrund auf, in den er zu stürzen drohte. Er sah unter sich lange Reihen von Menschen, die sich durch einen Irrgarten aus schmalen Gängen wälzten, und wollte verhindern, daß er zu ihnen hinunterstürzte. Doch gerade als er das Gleichgewicht wiederfand, bekam er einen Tritt, der ihn in die Tiefe beförderte. Er fiel auf eine Gestalt zu, die schützend die Arme hob, bevor er auf ihr auftraf. Er sah noch ein Gesicht, das viel blasser war als das eines Hellhäutigen und in der unteren Hälfte dichten Haarwuchs aufwies. Dann kam es zum Zusammenprall. Er hörte den Mann unter sich stöhnen, wollte sich von ihm erheben, doch er wurde 28
wieder zu Boden gedrückt. Ein schweres Gewicht lastete auf ihm, als jemand auf ihn stieg. Der Mann unter ihm sagte mit keuchender Stimme etwas in einer Sprache, die ähnlich der klang, die die Hellhäutigen sprachen, die »Saures Blut« jedoch nur ungenügend beherrschte. Der Mann mit den Haaren im Gesicht versuchte, sich unter ihm zu erheben und sagte wieder etwas. Diesmal verstand ihn Saures Blut, weil er in einem Dialekt der Quesas sprach. »Wir müssen auf die Beine kommen und weitergehen, sonst zertrampeln uns die anderen noch.« Der junge Mampoa wunderte sich darüber, warum die anderen auf sie keine Rücksicht nahmen. Niemand blieb stehen, um ihnen Gelegenheit zu geben, wieder aufzustehen. Endlich gelang es Saures Blut, sich zu erheben. Es entstand ein Gedränge, doch er konnte sich lange genug gegen den Druck der nachfolgenden Gefangenen stemmen, bis er den Gesichtshaarigen mit der gelblichen Haut hochgehoben hatte. »Danke«, sagte dieser und humpelte vor dem Mampoa durch den schmalen Gang aus Steinquadern. Er drehte sich um, und zwischen den zottigen Gesichtshaaren war ein Mund erkennbar, der andeutungsweise zu lächeln schien, als der Mann sagte: »Paß auf, daß du nie zu Fall kommst. Sonst bist du verloren. Du wärst nicht der erste, der zu Tode getreten wird.« »Ich bin kein Quesa«, erklärte der Mampoa, weil der Fremde ihn wieder im Dialekt der Bergvölker ansprach. »Ich stamme aus dem Waldland.« »Ich weiß«, erwiderte der andere, ohne sich umzudrehen. »Ich kann inzwischen einen Kanuk von einem Quesa unterscheiden. Aber außer diesem einen Dialekt beherrsche ich nur noch das Neuatlantisch in etwas ab29
geänderter Form. Willst du, daß ich mich in dieser Sprache mit dir unterhalte?« »Ich möchte mich überhaupt nicht unterhalten«, erwiderte Saures Blut in der Mundart der Quesas. Er hatte kaum ausgesprochen, da erhielt er von hinten einen Faustschlag in die Seite, daß ihm die Luft wegblieb. »So sprichst du nicht mit dem weisen Gemmon«, sagte eine tiefe Stimme in der Mundart der Kanuks. »Wenn er dich fragt, dann antwortest du. Wenn du keine Erlaubnis zum Sprechen hast, dann schweigst du. Oder, so wahr ich Donnerfaust heiße, ich erdrücke dich zwischen meinen Händen.« »Donnerfaust«, entfuhr es dem jungen Mampoa ehrfürchtig. Er hatte schon viel über diesen Krieger gehört, der dem Stamm der Nangoas angehörte und von dem man sich erzählte, daß seine Faust die Kraft von Blitz und Donner in sich vereinige und er damit einen Bären mit einem einzigen Schlag fällen konnte. Wie war dieser Krieger, auf dessen Rückkehr man an den Lagerfeuern der Nangoas immer noch wartete, in die Fänge der Blutjäger geraten? »Schüchtere den Jungen nicht ein, Donnerfaust«, sagte der Gesichtshaarige, der Gemmon hieß. »Du siehst an seinem Armverband, daß er von einem Blutfest kommt. Er wird geschwächt und noch nicht ganz bei Sinnen sein. Keine Angst, mein Junge, von uns hast du nichts zu befürchten.« »Ich bin längst schon wieder bei Kräften«, erwiderte der junge Mampoa. »Und ich habe auch einen Namen. Ich heiße Saures Blut und bin der Sohn von Schwarzer Wolke.« Der Krieger hinter ihm lachte schallend. Dann fragte er : 30
»Wie bist du denn zu diesem seltsamen Namen gekommen?« Der junge Mampoa erklärte es ihm. Daraufhin schwieg Donnerfaust betreten. »Warum schweigst du, großer Krieger?« erkundigte sich Saures Blut. »Etwa weil du weißt, welches Schicksal mich erwartet? Ich will dein Mitleid nicht, denn ich habe keine Angst vor dem Hossatod oder vor Wyzeila, der Herrin der Unterwelt.« »Mut hast du, Bürschchen«, meinte Donnerfaust nicht ohne Anerkennung. »Da du vor dem Martertod keine Angst hast, ist es dein Recht, einen Namen wie ein Krieger zu tragen. Und warum nicht Saures Blut, da du einem Blutjäger das Fest vergällt hast?« Der junge Mampoa vernahm es mit stolzgeschwellter Brust, daß er von einem Krieger wie Donnerfaust die Erlaubnis erhalten hatte, sich einen Namen wie ein Mann zuzulegen, ohne eine Mutprobe abgelegt zu haben. Er wußte nicht, daß es der Krieger aus Mitleid tat, weil er für ihn bereits so gut wie tot war. Denn wenn sein Blut für die Hellhäutigen ungenießbar war, dann besaß sein Leben für sie auch keinen Wert. Die Schwarzstirnen, wie die wachhabenden Jagdsklaven wegen ihres schwarzen Stirnmales von den Gefangenen genannt wurden, achteten darauf, daß die Gefangenen ständig in Bewegung waren. Sie standen über dem Irrgarten und ließen schmerzhaft ihre Peitschen knallen, wenn sich der Zug der Gefangenen durch die schmalen, winkeligen Gänge verlangsamte. Die Schwarzstirnen verschwiegen auch nicht, was der Grund dafür war, daß sie die Gefangenen ständig in Bewegung hielten. »Wer rastet, dessen Blut wird dick. Und dickes Blut hat keinen Geschmack. Los, bewegt euch, daß eure Körper 31
ordentlich durchblutet werden. Burg Shebar hat immer noch die besten Blutspender nach Neuatlantis geliefert. Und so soll es auch bleiben.« Der junge Mampoa erfuhr während der endlosen Wanderung durch das seltsame Gefängnis, daß in gewissen Abständen Schiffe kamen, die die Gefangenen von Burg Shebar abholten und zu der Insel der Hellhäutigen brachten. Was dort mit ihnen geschah? Ähnliches, aber sicherlich viel Schlimmeres, als die Blutjäger es schon hier in der großen Halle der Burg taten. Die Hellhäutigen tranken das Blut der Gefangenen. Hier auf der Burg hatte man wenigstens noch eine geringe Chance, den Blutbestien in Menschengestalt zu entkommen. Aber von der Insel, die die Heimat der Neuatlanter war, war noch niemand zurückgekommen. Gemmon und Donnerfaust wußten zu berichten, daß die Schwarzstirnen davon sprachen, daß in wenigen Tagen Schiffe von Neuatlantis erwartet wurden, die die Gefangenen abholen sollten. Es waren ihrer inzwischen bereits an die sechshundert – unter ihnen einige Kanuks der verschiedensten Stämme, die Mehrzahl waren aber Melniken. Diesem Volk gehörte auch Gemmon an. Er erzählte Saures Blut, daß er von einer anderen Welt stammte und durch das »Auge der Götter« in das Grenzland der Quesas gekommen sei. Die Melniken waren vor den wilden Horden der Steppenreiter, die Gemmon Dalaugiri nannte, geflohen – und den Blutjägern geradewegs in die Arme gelaufen. Nur wenige hatten zusammen mit Jammad entkommen können. Doch diesen Flüchtlingen war der Oberste Blutjäger Shebar mit seinen Hossas gefolgt. Da Shebar aber noch nicht zurückgekommen war, hatte Gemmon 32
eine schwache Hoffnung, daß Jammad die Flucht gelingen könnte. Wie denn Donnerfaust den Blutjägern in die Hände gefallen sei? wollte Saures Blut wissen. Er hätte doch einen Blutjäger mit seinen bloßen Fäusten bezwingen können. Donnerfaust schwor, daß er es getan hätte, wenn man ihm nur Gelegenheit zum Kämpfen gegeben hätte. Doch er habe ahnungslos an seinem Lagerfeuer gesessen, als plötzlich etwas durch die Luft geflogen sei und Wurzeln ins Feuer geworfen habe. Das Feuer entwickelte daraufhin übermäßig viel Rauch-Dämpfe, die die Sinne von Donnerfaust benebelten. Er verlor das Bewußtsein, und als er wieder zu sich kam, lag er in Ketten und wurde von einem Goldbehelmten und von dessen Schwarzstirnen nach Burg Shebar gebracht. Den jungen Mampoa störte etwas an der Erzählung des großen Kriegers. Warum hatte Donnerfaust nicht trotzdem versucht, die Ketten zu sprengen und seinen Häschern zu entkommen? Den Grund dafür, zumindest andeutungsweise, erfuhr Saures Blut, als sie um eine Ecke kamen. Gemmon flüsterte ihm schnell zu, daß Donnerfaust durch die Blutentnahme in die Abhängigkeit der Hellhäutigen geraten sei. Wie das genau vor sich ging, konnte sich Saures Blut immer noch nicht vorstellen, aber er dachte sich, daß die Blutjäger die Kraft des großen Kriegers durch irgendeinen Zauber gebrochen hatten. Oben auf dem Steg erschien ein Jagdsklave mit der Peitsche. Er ließ sie über die Köpfe der Gefangenen knallen, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Gleich ist Wachablösung«, rief er mit gellender Stimme. »Nehmt noch einmal all eure Kräfte zusammen, um dem wachhabenden Blutjäger zu zeigen, daß ihr gesund 33
und kräftig seid. Bewegt euch im Laufschritt. Schneller! Schneller!« Der Zug der Gefangenen zog im Laufschritt durch den Irrgarten. Die Gänge waren so schmal, daß die Schultern von Saures Blut, die nicht gerade überaus breit waren, links und rechts gegen die Wände rieben. Wenn einer der Gefangenen stehenblieb, dann konnte man ihm nicht seitlich ausweichen, sondern mußte über ihn hinwegklettern – was früher oder später dazu führte, daß er niedergetrampelt wurde. »Was geschieht mit jenen, die zu schwach sind, um weiterzulaufen?« wollte der junge Mampoa wissen. »Sie werden abgesondert und dürfen einige Zeit ruhen«, antwortete ihm Gemmon. »Aber laß du es besser nicht darauf ankommen. Denke daran, Saures Blut, daß wir drei immer zusammenbleiben.« »Und warum?« »Wir werden mit dir fliehen, wenn sie dich holen kommen«, antwortete Donnerfaust hinter ihm. Der junge Mampoa war geehrt, daß ihn der große Krieger auf seiner Flucht mitnehmen wollte. »Wenn es so leicht ist, zu fliehen, warum habt ihr es nicht schon längst getan?« fragte Saures Blut. »Wer sagt denn das?« meinte Gemmon keuchend. Ihm fiel das Laufen sichtlich schwer. »Ganz im Gegenteil. Seit ich hier mit meinem Volk gefangen bin, haben viele von uns die Flucht versucht. Sie wurden schnell wieder eingefangen – und vor unseren Augen von den Hossas gerissen. Nein, niemand kommt lebend aus der Blutburg hinaus. Es gibt nur eine Möglichkeit, den Jägern zu entkommen. Und zwar, wenn man in die Unterwelt der Burg flieht. Aber auch das ist ein gefährliches Unternehmen, denn in den Höhlen der Unterwelt von Shebar regiert die Blutprinzessin Wyzeila.« 34
»Diesen Namen habe ich schon gehört«, sagte der junge Mampoa. Gemmon erzählte ihm mehr über Wyzeila. Genaues wußte aber auch er nicht über sie, denn er hatte sein Wissen nur aus den Erzählungen der Schwarzstirnen. Wyzeila war vor vielen Sommern die Burgherrin von Shebar gewesen. Damals trug die Burg ihren Namen – Wyzeila. Sie hatte aber nur wenige Monde lang geherrscht, denn sie hatte allen Gefangenen, die ihr die Blutjäger brachten, bei blutigen Orgien den Garaus gemacht. Wie die Gefangenen auf die Burg gebracht wurden, so opferte Wyzeila sie. Als dann die Schiffe von Neuatlantis kamen, um eine bestimmte Anzahl von Gefangenen abzuholen, waren Wyzeilas Kerker leer. Daraufhin setzte man sie ab und schickte Shebar an ihrer Stelle. Doch die Blutprinzessin weigerte sich, nach Neuatlantis zurückzukehren, und entzog sich dem Zugriff ihrer Häscher, indem sie in das verzweigte Höhlenlabyrinth der Burg floh. »Und dort haust sie auch noch heute«, endete Gemmon seine Erzählung. »Die Jagdsklaven erzählen sich, daß sie manchmal ihr unterirdisches Reich verläßt, um sich ihre Opfer aus der Burg zu holen. Manchmal lockt sie ihre Opfer aber auch zu sich hinunter.« Der junge Mampoa schauderte. »Wenn wir in Wyzeilas Reich flüchten, dann sind wir verloren«, behauptete er. »Warum wollt ihr überhaupt fliehen, anstatt hier euer Schicksal zu erwarten?« »Wir fliehen deinetwegen, Saures Blut«, ertönte Donnerfausts tiefe Stimme hinter ihm. »Sie werden dich bestimmt bald von den anderen Gefangenen absondern, um dich zu opfern. Vergiß nicht, daß dein Blut ungenießbar ist und du deshalb nicht nach Neuatlantis gebracht 35
wirst. Aber sei gefaßt. Wir bleiben bei dir. Gemmon und ich werden dich begleiten.« Auf einem Steg über ihnen tauchte ein behelmter Blutjäger auf. Obwohl sein Helm geschlossen war, erkannte der Mampoa an der Gestalt sofort jenen Blutjäger, der ihn und seine Freunde während eines Bades im Fluß überraschte und gefangennahm. Und es war derselbe Blutjäger, dem sein Blut Übelkeit verursacht hatte. »Das ist Vengin«, raunte ihm Gemmon zu. »Wenn er die Gefangenen bewacht, dann fließt immer Blut. Er ist eine Bestie in Menschengestalt. Der furchtbarste aller Blutjäger.« Der Behelmte hatte die Schwarzstirn mit einer befehlenden Handbewegung verscheucht. Jetzt stand er breitbeinig da und blickte durch die Augenschlitze auf die Gefangenen hinunter, die wie eine Herde von Tieren durch die schmalen Irrgänge trabten. Plötzlich machte er wieder eine Handbewegung. Und Saures Blut sah, wie sich in einer der Wände eine Öffnung auftat. Ein Teil der Wand aus Felsquadern glitt auf und versperrte den Weg. Der Gefangene vor Gemmon trachtete, noch durch den sich verengenden Spalt in den sich schließenden Gang zu kommen. Gemmon hätte es sicherlich auch noch geschafft, aber er hielt an und drang durch die sich auftuende Öffnung ein. Der junge Mampoa hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Als auch Donnerfaust durch die Öffnung in der Wand wollte, begann sie sich wieder zu schließen. Doch der Krieger stemmte sich gegen die Felsquadern und schaffte es doch noch, durch den Spalt zu schlüpfen. Hinter ihm schloß sich die Felswand mit einem leisen Seufzen Gemmon, Saures Blut und Donnerfaust waren 36
in einem finsteren Gang, der auch oben verschlossen war, so daß kein Lichtstrahl zu ihnen hereinfiel. »Das hat nur dir gegolten, Saures Blut«, sagte Gemmon mit verhaltener Stimme. »Aber keine Angst, wir sind ja bei dir.« »Ich habe keine Angst«, behauptete der junge Mampoa, doch klang es längst nicht so furchtlos, wie er wollte.
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4.
Er hat seinen Blutgeschmack verloren! Diese Worte des Schlüsselherrn klangen als Echo des Hohnes in Vengins Geist noch lange nach. Auch als er wieder in seiner Klause zurück war. Er wollte es nicht glauben. Die Wochen der Enthaltsamkeit konnten nicht gleich einen Blutverächter aus ihm gemacht haben. Er verspürte doch die Gier nach Blut in sich! Er brauchte diesen besonderen Saft! Er konnte ohne ihn nicht leben! Das wußte er. Warum hatte ihm dann vor dem Blut des Wilden geekelt? War es sauer? Bitter? Als er die Ader des Mampoa geöffnet hatte und das Blut sprudeln sah, da war er von einem wahren Rausch erfaßt worden. Erst als er dann den Kelch an die Lippen setzte, da war ihm die Lust vergangen. Er verspürte einen Widerwillen in sich aufsteigen, einen Ekel, der sich aber nicht eigentlich gegen das Blut des Wilden, sondern mehr gegen die Art, es zu trinken, richtete. Wahrscheinlich war das Blut des Mampoa gar nicht bitter. Vengin warf sich auf sein Lager und zerrte an seinem Helm. Aber der ging nicht ab. Das Schloß war wieder zugeschnappt. Eine Weile wälzte er sich unruhig auf seinem Lager hin und her. Dann sprang er auf, torkelte zu dem Versteck in der Wand, hob den kleinen Felsquader heraus und griff in die darunterliegende Öffnung. Seine Hand kam mit dem Steingebilde heraus, das bereits eine große Ähnlichkeit mit dem Schlüssel zu seinem Helm hatte. 38
Vengin begann erneut, den Steinschlüssel mit seinem Opferdolch zu bearbeiten. Wie schon in vielen freien Nächten zuvor. Wie in den Ruhepausen während der dreitägigen Jagd, wenn er sich unbeobachtet wußte. Nur weil er an diesem Schlüssel feilte, hatte er die Jagd vernachlässigt und geringe Beute gemacht. Es fehlte nur noch eine Zacke an dem Schlüssel. Vengin war sich jetzt ganz sicher. Als er vor Quampas kniete und dieser den Schlüssel so knapp vor seinen Augen hielt, da hatte er ihn sich genau angesehen. Er wußte jetzt, was seinem steinernen Nachschlüssel zur Vollkommenheit fehlte. Nur noch eine einzige Zacke. Vengin wußte nicht mehr, wie lange er den Steinschlüssel bearbeitete. Doch dann war es geschafft. Er betrachtete das Ergebnis seiner Bemühungen erregt. Sein Atem ging rascher, als er ihn in sein Helmschloß einführte. Er keuchte, als er den Schlüssel herumdrehte. Und dann hielt er den Atem an, so daß er das Klicken des aufspringenden Schlosses deutlich hören konnte. Es hallte in der stillen Klause wie ein Trommelschlag. Und dann war sein Helm offen. Er konnte ihn abnehmen. Er sog die Luft tief ein, schloß genüßlich die Augen. Er fühlte sich berauscht. Er war frei! War nicht mehr Quampas Willkür ausgesetzt. Von draußen drang der Klang der Hörner. Das Zeichen für die Wachablösung. Vengin war für die Wache bei den Gefangenen eingeteilt. Jetzt hatte er Gelegenheit festzustellen, ob der junge Mampoa wirklich bitteres Blut hatte. Und ob er seinen Blutgeschmack durch die lange Enthaltsamkeit verloren hatte. 39
Oder ob er nur zu einem Verächter der Art des Bluttrinkens geworden war, wie sie sich bei den Blutjägern eingebürgert hatte. Er würde es bald herausfinden. Es war eine jener unruhigen Nächte, in der Aquina keinen Schlaf fand. Immer wenn sie die Augen schloß, sah sie einen Mann vor sich. Nicht irgendeinen der Sklaven aus ihrem Stamm. Nein, einen richtigen Mann, mit heller Hautfarbe und angenehmer Stimme, die vornehm sprach. Von den Sklaven aus dem Volke der Quesas hätte sie jeden haben können. Doch das reizte sie nicht. Sie liebte das Außergewöhnliche. Und sie wußte auch, wie sie es sich beschaffen konnte. Langsam erhob sie sich von ihrem Lager. Schritt leichtfüßig zur Tür des Schlafraums, den sie sich mit drei weiteren Sklavinnen teilte. Keine der anderen rührte sich, niemand bemerkte es, als sie die Tür der Kemenate öffnete und auf den Gang hinausschlüpfte. Stille. Hier standen keine Wachen. Aquina huschte den Gang entlang, bis sie zu der Treppe kam, die aus den unterirdischen Räumen hinaufführte. Nach jeder Stufe, die sie überwand, wurde die Luft klarer und frischer. Das klärte ihre Sinne. Doch es dämpfte nicht ihr Verlangen. Wenn sie die Augen kurz schloß, sah sie wieder einen Mann vor sich. Mit heller Haut. Und dem Helm auf dem Kopf. Sie wußte, wie sie diesen Mann bekommen konnte. Sie hatte Erfahrung darin, die Blutjäger zu umgarnen. Es war eigentlich überhaupt nicht gefährlich. Man muß40
te nur darauf achten, daß man ihnen später nicht über den Weg lief, wenn sie ihre Helme offen trugen, Aber offene Helme hatten sie ohnehin nur zu bestimmten Anlässen. Dann nämlich, wenn sie mit ihren auserwählten Blutspendern ein Fest begingen. Aquina erreichte das Ende der Treppe. Durch den offenen Torbogen sah sie auf den im Mondlicht daliegenden Wehrgang hinaus. Die gleichmäßigen Schritte des Wachtpostens hallten durch die Nacht. Aquina wartete, bis sich die Schritte von ihr entfernten, dann rannte sie in die entgegengesetzte Richtung auf den Wehrgang hinaus. Verbarg sich in einer Wandnische, als die Schritte der Wache zurückkamen. Als der Wachtposten auf seiner Runde wieder kehrtmachte, lief sie weiter, bis sie den Wehrturm erreichte, der hoch in den mondhellen Himmel hinauf ragte. Im obersten Raum des Turmes saß der wachhabende Blutjäger. In dieser Nacht hatte Attrin hier Dienst. Ihn hatte sie bisher noch nie verführt. Und deshalb war sie besonders erregt. Wer sagte, daß Blutjäger nicht an Frauen interessiert waren, sondern nur an ihrem Blut? Aquina huschte die gewundene Treppe hoch. Lauschte gelegentlich an den Türen, hinter denen die Schlafräume der Wachmannschaften lagen. Es war alles still. Endlich erreichte sie den Wachraum. Der Blutjäger war nicht anwesend. Aquinas Enttäuschung verflog aber rasch, als sie sah, daß die Klappe in der Decke des Wachraums offenstand. Sie kletterte die Leiter lautlos hinauf, bis ihr Kopf ins Freie ragte. Dort, an einer Zinne, unter freiem Nachthimmel, sah sie den Blutjäger. Das Mondlicht spiegelte sich in seinem Helm. 41
Aquina kletterte ins Freie und näherte sich dem Blutjäger von hinten. Sie brauchte nicht einmal besonders vorsichtig zu sein, denn durch den geschlossenen Helm war sein Gehör beeinträchtigt. »Was für eine herrliche Nacht«, sagte Aquina, als sie hinter dem Blutjäger stand. Er wirbelte herum. »Aquina, du?« An der Stimme erkannte sie, daß es sich tatsächlich um Attrin handelte. »Willst du mich tätowieren?« »Wer weiß? Wie war das Blutfest, Attrin?« Er gab einen knurrenden Laut von sich. »Vengin hat uns die Lust daran genommen. Außerdem waren die von ihm herbeigeschafften Spender blutarm. Wir hätten sie schon völlig aussaugen müssen um unseren Durst einigermaßen zu stillen.« »Armer Attrin.« Aquina fuhr ihm mit beiden Händen über den geschlossenen Helm und preßte sich an ihn. »Armer Attrin«, wiederholte sie. »Ist Blut wirklich das einzige, das deinem Leben einen Sinn gibt? Du kannst mir glauben, daß es auch noch andere reizvolle Dinge gibt.« Er lachte laut auf und stieß sie von sich. »Dich etwa? Nun, mit offenem Visier würde ich mich schon gerne näher mit dir beschäftigen. Aber so ...« Als er sie von sich stieß, ließ sie sich absichtlich zu Boden fallen. Sie hielt eine ihrer Tätowiernadeln in der Hand, die sie sich nun in den Finger stieß. Ein Schmerzensschrei entrang sich ihrer Kehle, als sich die Nadel in ihre Fingerkuppe bohrte. »Jetzt habe ich mich gestochen«, klagte sie. »Was hast du dich?« Als Attrin das sagte, klang seine Stimme schon erregter. »Da, sieh selbst!« Sie hielt ihm den blutigen Finger hin. 42
»Geh weg!« sagte er keuchend und wollte sich abwenden. »Attrin!« Er drehte sich widerwillig zu ihr um. Sie lag anmutig ausgestreckt auf dem Boden und stach schnell nacheinander mit der Tätowiernadel in jeden ihrer Finger. »Komm her, Attrin. Das muß dir doch gefallen. Komm her und tröste die blutende Aquina. Komm nur, Attrin ...« Und er kam wie gebannt näher. Beugte sich über sie. Preßte seinen goldenen Helm gegen ihre gespreizen Finger. Sie redete auf ihn ein, schmeichelnd und lockend, während sie ihn plötzlich in wilder Leidenschaft umarmte. Die Hörner zeigten auch gleichzeitig das Ende des Blutfests an. Vengin hoffte, daß er keinem seiner Kameraden begegnete. Er wollte nicht einmal Hongor sehen, denn er hätte seinen Anblick nicht ertragen können. Vengin beeilte sich, zu den Verliesen hinunterzukommen, Dort erwarteten ihn bereits die zehn Jagdsklaven. »Ist der Wilde mit dem sauren Blut schon wieder auf den Beinen?« erkundigte sich Vengin. »Er ist längst wieder bei Kräften«, wurde ihm geantwortet. »Nichts an ihm läßt erkennen, daß er zur Ader gelassen worden war.« Vengin ließ diese Frechheit des Sklaven ungeahndet, weil er ihm keine böse Absicht nachweisen konnte. Aber er wußte nur zu gut, daß sich die Jagdsklaven mehr oder minder versteckte Frechheiten gegen ihn herausnahmen, seit er bei Quampas in Ungnade gefallen war. »Was willst du mit dem Sauren Blut tun, Vengin?« wollte der Oberaufseher wissen. Er war ein bulliger Quesa, dessen Blut sich fast so schnell erneuerte, wie man es 43
trank. Deshalb hatte Shebar ihn nicht nach Neuatlantis geschickt, sondern ihm den Posten des Oberaufsehers über die Gefangenen verschafft und ihn zu seinem dauernden Blutspender gemacht. »Ich schicke ihn in die Unterwelt«, antwortete Vengin. »Mag sich Wyzeila an seinem Blut vergiften.« Das klang durchaus glaubhaft, und Vengin, der Betroffene, hatte auch das Recht für diese Maßnahme. Der Blutjäger betrat das Verlies über den oberen Eingang und schickte die Jagdsklaven hinaus, die die Gefangenen mit der Peitsche antrieben. Vengin schritt gemächlich über die Stege und beobachtete die Gefangenen unter sich, die im Laufschritt das Labyrinth zwischen den mehr als doppelt mannshohen Mauern durcheilten. Er suchte nach dem Mampoa mit dem bitteren Blut. Und dann erspähte er ihn. Vengin stellte sich an den Hebel für eine Falltür und wartete, bis der Wilde die Stelle erreichte. Dann drückte er den Hebel nieder, wodurch die Felsquadern der einen Wand herumschwenkten und den Gang versperrten, so daß der von ihm erwählte Gefangene von den Nachfolgenden in die entstandene Öffnung gedrängt wurde. Doch es lief nicht ganz so ab, wie Vengin es sich vorgestellt hatte. Außer dem Jüngling verschwanden auch ein hünenhafter Kanuk und ein bärtiger Melnike durch die Falltür. Vengin schloß die Öffnung schnell, bevor weitere Gefangene hindurchgedrängt wurden. Er überlegte, was nun zu tun sei. Sollte er die Jagdsklaven zu seiner Unterstützung holen, um die beiden unerwünschten Gefangenen in die Irrgänge zurückbringen zu lassen? Dann konnte er sich aber auch nicht an dem 44
von ihm auserwählten Opfer vergreifen, sondern mußte den Wilden Wyzeila als Opfer überlassen. Klüger war es dann schon, alle drei Gefangenen an seinem Blutfest teilnehmen zu lassen. Vengin begann vor Erregung zu zittern. Er würde beweisen, daß er seinen Blutgeschmack nicht verloren hatte. Er besaß ihn immer noch – er hatte sich nur gewandelt. Er rief die Aufseher wieder ins Verlies und machte sich an die Verfolgung der drei Gefangenen. Er wußte, wo der Tunnel ausmündete – an der Schwelle zu Wyzeilas Unterwelt. Dort würde er ihnen auflauern. Vengin nahm sich eine Öllampe und entfernte sich durch einen der Gänge, die kaum jemals von einem Burgbewohner betreten wurden, weil sie ins Nichts führten. Gefangene, die zu fliehen versuchten und sich dabei in diesen Teil der Burg verirrten, wurden nicht weiter verfolgt. Von hier führte kein Weg ins Freie. Vengin hatte jedoch schon immer zu jenen Blutjägern gehört, die nicht viel von den überlieferten Geschichten hielten, sondern nur das glaubten, was sie mit eigenen Augen sahen. Deshalb hatte er sich schon öfter in die unerforschten Gewölbe vorgewagt. Deshalb wußte er auch, wo der Stollen mündete, durch den die drei Gefangenen gingen. Aber bei seinen Wanderungen durch die unbewohnten Teile der Burg war er nie weit gekommen. Einmal hatte er sich in einem Gewölbe plötzlich einer blaugrünen Riesenschlange mit gelber Zeichnung gegenübergesehen. Es war ein gewaltiges Tier gewesen, das einen ausgewachsenen Mann mit einem Biß verschlingen konnte. 45
Zweifellos hatte das diese Riesenschlange schon gelegentlich getan, denn der Boden des unheimlichen Gewölbes war übersät mit Gebeinen von Menschen. Vengin hatte damals seine Hossapfeife gezückt, durch die Atemlöcher seines Helmes gesteckt und die Schlange zurückzupfeifen versucht. Doch das Ungetüm hatte auf die für menschliche Ohren unhörbaren Laute nicht reagiert. Und Vengin hatte keine andere Wahl gehabt, als sein Heil in der Flucht zu suchen. Dennoch war er immer wieder in die Unterwelt von Burg Shebar vorgedrungen. Ihn interessierte das Schicksal jener, die sich in Wyzeilas Unterwelt verirrt hatten und danach nie wieder gesehen worden waren. Einmal hatte er eine liebliche Stimme singen gehört. Es war die Stimme einer Frau, die von Blut und Tränen und unerfülltem Leben und süßem Tod durch Verbluten sang. Die Stimme war so verlockend gewesen, daß er nicht anders konnte, als ihr zu folgen ... und die Riesenschlange begleitete ihn. Doch er war nicht weit gekommen. Shebar stand auf einmal vor ihm und machte ihn mit einschläfernden Dämpfen bewußtlos. Nach dem Wiedererwachen hatte ihm der Oberste Blutjäger das Versprechen abgenommen, sich nie wieder so tief in Wyzeilas Reich vorzuwagen. Bis zu diesem Tag hatte Vengin nie so richtig daran geglaubt, daß die Blutprinzessin tatsächlich in der Unterwelt von Burg Shebar hauste. Er war vielmehr der Meinung gewesen, daß das weitverzweigte Höhlenlabyrinth das Herrschaftsgebiet von Ungeheuern wie jener Riesenschlange war, die der Hossapfeife nicht gehorchte. Doch da auch Shebar selbst von Wyzeila wie von einem lebenden Wesen sprach, änderte er seine Meinung 46
und war nun selbst davon überzeugt, daß die Blutprinzessin über die Dämonen der Unterwelt herrschte. Vengin befestigte die Öllampe an seinem Helm, um beide Hände frei zu haben, falls sich ihm eines der Ungeheuer entgegenstellte. Er rechnete zwar nicht ernsthaft damit, da er die Schwelle zur Unterwelt noch nicht überschritten hatte. Aber er wollte für alle Fälle gewappnet sein. Er erreichte ohne Zwischenfälle das Gewölbe, in den der Stollen mündete, durch den die drei Gefangenen kommen mußten. Der Durchlaß war so schmal, daß sie ihn nur einzeln passieren konnten. Vengin stellte die Öllampe in der Mitte des Gewölbes ab und versteckte sich in einer Mauernische, die gleich neben der Treppe lag, die zur Burg hinaufführte. Damit versperrte er den Gefangenen jede Möglichkeit zum Rückzug. Sie konnten nur tiefer in die Unterwelt von Shebar vordringen – und somit hatte er sie dort, wo er sie haben wollte. Hier würde man ihre blutleeren Hüllen nie finden. Er hörte schon ihre Stimmen. »Da vorne ist ein Licht!« Kurz darauf tauchte der erste von ihnen auf. Es war der bärtige Melnike. Kaum betrat er das Gewölbe, kamen die beiden anderen auch schon zum Vorschein. Beim Anblick des schwächlich wirkenden Bitterbluts begann Vengin vor Aufregung zu zittern. Ihn würde er als ersten reißen. Ja, das war es, was er wollte. Seine Blutspender mußten ihm mit ihrem Blut auch ihr Leben geben, und das angebliche Bitterblut würde den Reigen eröffnen. Vengin stürzte aus seinem Versteck. In der einen Hand das Schwert, in der anderen den Opferdolch. Vengins Schrei ließ die drei Gefangenen erstarren. 47
Der Melnike und Bitterblut wandten sich, nachdem sie den Schreckmoment überwunden hatten, zur Flucht. Nur der hünenhafte Krieger stellte sich ihm zum Kampf. »Aus dem Weg, du Wilder!« herrschte Vengin ihn an und trieb ihn mit einigen Schwertstreichen zur Wand. Vengin lief an ihm vorbei, den beiden Flüchtenden nach. Er holte sie in einem offenen Torbogen ein, hinter dem sich eine schmale Treppe in die Tiefe wand. Aber etwas stimmte mit diesen beiden plötzlich nicht. Das eben noch schreckverzerrte Gesicht des Jünglings entspannte sich, ein seliger Ausdruck erschien darauf. Der Melnike schloß die Augen und lehnte sich ergeben gegen die Steinwand. »Jetzt haben wir diesen von Talahasset verfluchten Bluthund in die Enge getrieben!« frohlockte der KanukKrieger hinter Vengin. Doch als der Blutjäger herumwirbelte, da war auch der hünenhafte Krieger auf einmal ganz friedlich. Und auch sein Gesicht widerspiegelte eine Seligkeit, wie sie Vengin sonst nur bei den durch Drogen und Dämpfe berauschten Opfern der Blutfeste gesehen hatte. Vengin spürte, daß mit ihm selbst auch eine Verwandlung vor sich gegangen war. Er konnte den Dolch nicht gegen seine Opfer erheben. Er war wie gelähmt. Überschreitet die Grenze zu meinem Reich, erklang es von irgendwoher einschmeichelnd, und ihr kommt in ein Land des Friedens und der Freude. Setzt euren Fuß über die Schwelle, wagt diesen letzten entscheidenden Schritt – und ihr seid nicht mehr Diener, sondern Meister. Vengin wollte dem Ruf ebenfalls Folge leisten. Doch dann sah er auf der Wand des Treppenhauses einen un48
förmigen Schatten, der sich näherte. Und plötzlich hatte die Stimme ihren Zauber verloren. Er wich zurück. Einen Schritt, und noch einen – während die drei Gefangenen wie Traumwandler sich dem Schatten, der nur von einem schrecklichen Dämon stammen konnte, näherten. Sie waren die Gefangenen Wyzeilas, die sie mit ihrer süßen Stimme in ihren Bann geschlagen hatte. Vengin aber war aus ihrem Bannkreis entlassen. Vor Wut und Zorn heulend, machte er sich auf den Rückweg in die oberen Regionen von Burg Shebar. Sein Körper brannte, in seinem Kopf war ein schmerzhaftes Hämmern. Er brauchte Blut. So nahe war er seinem Ziel schon gewesen, doch dann war ihm im letzten Augenblick Wyzeila, die Blutprinzessin der Unterwelt, zuvorgekommen. Vengin rannte mit dem Helm immer wieder gegen die Steinwand, daß es laut durch die verlassenen Gewölbe hallte. Er wußte nicht mehr, was er tat. Erst als er völlig erschöpft war, hielt er inne. Er lag reglos da, den steinernen Nachschlüssel, mit dem er jederzeit seinen Helm öffnen konnte, in der Rechten umkrampft. Gedämpftes Schluchzen drang durch seinen Helm. Endlich beruhigte er sich. Und er faßte einen Entschluß. Zalva kannte von den Gefangenen nur die Hände. Und sie hörte von ihnen nur die Schritte, wenn sie an ihr vorbeiliefen. Sie fand sich schon früh in der Speisekammer ein, stand mit den Hossas auf, lange bevor die Sonne hinter dem Horizont aufging. In diesen Tagen, da es keine Hos49
sas auf Burg Shebar gab – sie waren alle mit den Suchtrupps unterwegs, die nach dem verschollenen Burgherrn Shebar forschten – ließ sie sich von den Wachen bei der Morgenablösung wecken. Manchmal ließ sie sich auch bis zur Speisekammer begleiten, denn auf dem Weg zu den unterirdischen Verliesen mußte sie durch etliche leerstehende Gewölbe, die nahe an der Grenze zur unerforschten Unterwelt lagen. Manchmal verzichtete Zalva auch auf Begleitung. Dann nämlich, wenn es sich um einen der aufdringlichen Burschen handelte. Heute hatte sie der zudringliche Laquas geweckt, deshalb ging sie lieber allein. Die Öllampe in ihrer Hand zitterte etwas, als sie in die tieferen Regionen kam, die nicht bewohnt wurden. Warum nur war sie heute so besonders ängstlich? Es war ein Tag wie jeder andere. Während sie an der Grabkammer vorbeikam, in der die Gebeine der im Kampf gefallenen Hossas und Jagdsklaven lagen, wurde ihr Schritt noch schneller. Und an der Grabkammer der Blutjäger schloß sie unwillkürlich die Augen. Dabei hatte sie von den Toten doch nichts zu befürchten ... Warum nur rannte sie plötzlich, als sei Wyzeila hinter ihr her? Ja, das war ihre geheime Angst. Sie befürchtete, immer wenn sie allein durch diese verlassenen Gewölbe ging, daß die Blutprinzessin der Unterwelt oder einer ihrer Dämonen ihr hier auflauern könnte. Sie atmete erst auf, als sie die Speisekammer erreichte. Von draußen erklang das Kommando der Jagdsklaven. »Auf die Beine, ihr armseligen Blutspender! Lauft um euer Essen!« 50
Und bald darauf ertönten die gleichförmigen Schritte der Gefangenen, die an Zalva vorbeikamen: das Tapsen nackter Füße auf dem Steinboden. Sie öffnete die Klappe der Speisekammer. Gierige Hände streckten sich ihr entgegen. Sie legte Wurzeln, Fleischstücke, würzige Backwaren hinein – oder was immer an Nahrung den Gefangenen gerade zugeteilt wurde. Sie drückte die Essensrationen in klobige Bauernhände, in schmale Hände von Mädchen, in sehnige Hände von Kriegern oder in kleine Kinderhände; dunkelfarbene Hände, gelbliche Hände, furchige Hände. Und darüber war das Knallen der Peitschen zu hören, das Schreien der Gefangenenwärter, das Tappen der nackten Füße auf dem Steinboden. Und gelegentlich ertönte ein qualvoller Schrei, wenn die Peitsche den Rücken eines Gefangenen traf. Die Gefangenen kamen nicht zur Ruhe. Sie aßen im Laufen, bückten sich im Laufen, um Wasser aus den Rinnen zu schöpfen, die die schmalen Gänge kreuzten ... Über Zalva tauchte gelegentlich einer der Jagdsklaven auf. Sie vermied es meistens, deren herausfordernden Blicken zu begegnen. Als nun wieder ein Schatten über ihr auftauchte, konnte sie jedoch nicht anders, als hinaufzublicken. Dort stand ein Blutjäger. Er beobachtete sie lange durch die Augenschlitze seines Helmes, Sie lächelte zu ihm hoch. Er verschwand. Bald darauf erschien er wieder über ihr. Sie lächelte wieder. Als er sie zum drittenmal beobachtete, brachte sie kein Lächeln mehr zustande. Daraufhin ließ er sich nicht mehr blicken. Endlich war die Essensration verteilt. 51
Sie verließ die Speisekammer und machte sich auf den Weg zu ihrer Kemenate. Seltsam, daß sie sich auch am Tage fürchtete, wenn sie an den Grabkammern vorbeikam. Jetzt wünschte sie sich plötzlich, daß der Blutjäger tieferes Interesse für sie bekundet hätte. Man erzählte sich, daß auch sie nur Männer waren und den fleischlichen Gelüsten nicht ganz abhold. Ein Blutjäger als Beschützer! Zalva wurde schneller, als sie an Wyzeilas Loch vorbei mußte. Der Legende nach war die Blutprinzessin durch dieses Loch in die Unterwelt verstoßen worden. Danach war es zugemauert worden. Dennoch flößte dieser Raum Zalva besondere Furcht ein. War da nicht ein Geräusch gewesen? Nein! Oder doch? Ja, es war schon wieder zu hören. Sie konnte sich nicht getäuscht haben. Das Geräusch konnte von einem der Ungeheuer der Blutprinzessin stammen, Zalva begann zu laufen. Sie kam durch einen offenen Torbogen und war nur noch wenige Schritte von der Treppe entfernt, die in den Trakt mit den Kemenaten hinaufführte. Da verstellte ihr plötzlich ein Schatten den Weg. Sie schrie Wyzeilas Namen, ohne sich dessen bewußt zu werden. Erst als sie erkannte, daß sie einen Menschen vor sich hatte, einen Mann, der zudem noch einen Kopfhelm trug, der ihn als Blutjäger kennzeichnete, verstummte sie. »Ich habe dich beobachtet, Zalva«, sagte der Blutjäger. Zalva fröstelte beim Klang seiner Stimme. So sprachen Blutjäger nur im Blutrausch. 52
Aber sie wußte, daß sie nichts zu befürchten hatte. Wenn es den Blutjäger noch so sehr nach ihrem Blut gierte, der verschlossene Helm hinderte ihn daran, seinem Verlangen nachzugeben. »Vielleicht darf ich beim nächsten Blutfest deine Spenderin sein«, meinte sie herausfordernd. »Ich will dein Blut jetzt!« kam es gurgelnd hinter dem Helm hervor. Zalva fürchtete sich immer noch nicht. Doch dann machte der Blutjäger eine Bewegung – die Kinnklappe senkte sich, und das Visier war auf einmal offen. Dahinter kam eine furchtbar anzusehende Fratze zum Vorschein. Zalva schrie. Aber der Opferdolch, der sich ihr in die Kehle bohrte, erstickte ihren Schrei. Der Blutjäger stieß immer wieder zu, während er versuchte, das Blut mit dem Mund aufzufangen, das aus ihren Wunden quoll. Er hatte seinen Blutgeschmack nicht verloren. Er hatte es gewußt. Sein Blutgeschmack war nicht dahin, er hatte sich nur gewandelt. Nur wenn sich seine Blutspender zur Wehr setzten und er sie tötete, dann konnte er höchste Lust empfinden. Und nur dann.
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5.
Sie lagerten auf einem nur von zwei Seiten zugänglichen Hügel zwischen Felsen, die sie vor neugierigen Blicken schützten, und als sie bei Sonnenaufgang von Schlangentöter geweckt wurden, sahen sie die Burg Shebar. »Etwa um die Tagesmitte werden wir die Blutburg erreichen«, sagte Dragon. Schlangentöter hatte die letzte Nachtwache gehabt. Wie es ihm aufgetragen worden war, hatte er Dragon und dessen dunkelhäutige Gefährten geweckt. Danach zog er sich sofort wieder hinter die Felsen zurück. »Der Fels, auf dem die Burg steht, ist von dunkelroter Farbe«, sagte Thamai. »Als sei er vom Blut der unschuldigen Opfer gefärbt. Ich brenne darauf, ihn reinzuwaschen.« Ubali lachte. Es war ein herzliches Lachen – trotz dieser ernsten Situation, die im Zeichen der vergangenen und kommenden Schrecken stand. Der Wind spielte in seinem langen, krausen Haar, das er nicht kürzen ließ, obwohl Thamai ihn schon öfters dazu aufgefordert hatte. Er bestand darauf, sein Haar erst wieder zu schneiden, wenn sie die Heimat erreicht hatten – und er meinte damit Myranien, das eigentlich weder seine noch Dragons und schon gar nicht Thamais Heimat war. »Wenn man dich so hört, könnte man meinen, du wolltest es allein mit den Blutjägern aufnehmen«, sagte Ubali, »Mach lieber das Frühstück, Weib.« Das Mädchen aus Danilas Welt schritt mit wiegenden Hüften davon. Ubali sah ihr mit bewundernden Blicken nach. 54
»Vitu hat viele herrliche Geschöpfe hervorgebracht, aber Thamai ist das Meisterstück des Lebensgeists.« Ubalis fast jungenhafte Unbekümmertheit war ansteckend. Dragon fühlte sich sogleich leichter, wenn er seine trübsinnigen Gedanken auch nicht ganz verscheuchen konnte. Er war mit großen Erwartungen durch das »Auge der Götter« geschritten. Doch kaum hatte er den Fuß wieder in seine Welt gesetzt, erlebte er Enttäuschungen über Enttäuschungen. Die Freude darüber, nun eine echte Möglichkeit zu besitzen, nach Myra zurückkehren zu können, Amee in die Arme zu nehmen, die alten Freunde wiederzusehen, wurde durch eine Reihe schrecklicher Ereignisse getrübt. Zuerst hatte ihn die Erkenntnis recht hart getroffen, daß auf der Erde drei Jahre vergangen waren, die ihm auf Danilas Welt wie sechs Monate erschienen waren. Das zweite Ereignis, das ihn womöglich noch weit mehr erschütterte, war die Tatsache, daß die Überlebenden von Atlantis entartet waren. Jenes so hochentwickelte Volk, von dem er abstammte, hatte alle Errungenschaften der Vergangenheit vergessen – und war zudem noch zu einer Horde von Blutsaugern geworden. Jene Eroberer, die dieses Land in Besitz genommen hatten, die Eingeborenen unterdrückten und im wahrsten Sinne des Wortes das Blut aus ihnen herauspreßten – das waren die Nachfahren der Atlanter. Diese Neuatlanter waren überall unter der Bezeichnung Blutjäger bekannt, und ihre Stützpunkte wurden Blutburgen genannt. Dragon hatte erst vor kurzem erfahren, daß es keine treffenderen Bezeichnungen für sie geben konnte. 55
Und er hatte sich geschworen, die Eingeborenen vom Joch der Neuatlanter zu befreien. Er konnte selbst nicht sagen, was die eigentlich treibende Kraft für seinen Entschluß war. Mitleid mit den Kanuks und den Quesas? Oder ein gewisses Schuldgefühl, oder auch Scham, weil er sich diesem Volk von Atlantis angehörig fühlte? Wahrscheinlich spielte von allem ein wenig mit – und nicht zuletzt auch das Versprechen, das er dem Melniken Jammad gegeben hatte, nämlich, versuchen zu wollen, die in die Gefangenschaft der Blutjäger geratenen Melniken zu befreien. Die Ausgangssituation dafür war günstig. Denn Dragon hatte im Grenzbereich von Danilas Welt und der Erde den Weg des Obersten Blutjägers Shebar gekreuzt, als der dem flüchtenden Jammad nachstellte, und ihn getötet. Die nun herrenlose Blutburg bot sich demnach geradezu als Ausgangsbasis für Dragons Befreiungsaktion an. Ein weiterer günstiger Umstand war, daß Dragon die Verehrung des jungen Padokas Schlangentöter genoß, der in ihm den wiedergeborenen Stammeshäuptling Großer Vogel sah. Dragon konnte ihn von diesem Aberglauben einfach nicht abbringen. Aber die tatkräftige Unterstützung des jungen Padokas kam ihm sehr gelegen. Denn dadurch wußte er die Eingeborenen, zumindest den Großteil der Stämme aus dem Volk der Kanuks, auf seiner Seite. Zudem war es Dragon und seinen Gefährten noch gelungen, eine Karawane von Sklavenjägern der Blutburg Ossar zu zerschlagen und die Gefangenen zu befreien. Es waren deren zwölf gewesen, alles Kanuks verschiedener Stämme, die auf Schlangentöters Wort gehört hatten. 56
Und der durch die Erlegung von Hossas zum Mann gewordene Padoka Schlangentöter hatte seinen Artgenossen aufgetragen, allen Stämmen die Botschaft zu überbringen, daß sich die Kanuks zum Sturm auf die Blutburgen erheben sollten. Mit den Kanuks als Verbündete konnte Dragon der Zukunft mit Zuversicht entgegensehen. Die Blutburg Shebar war nahe, und er durfte hoffen, daß er dort ehrenvoll aufgenommen werden würde. Denn inzwischen wußte er genug über die Neuatlanter, um sich als einer von ihnen ausgeben zu können. Das Sonnenamulett, das er um den Hals trug, würde ihn als eine hochgestellte Persönlichkeit ausgeben. Darauf war sein Plan aufgebaut. Und wenn sie erst einmal in der Burg waren, dann konnten sie weitersehen. Dragon versorgte sein Pferd, das von den schwarz vermummten Nomaden stammte, wahrend Ubali ein Feuer entzündete und Thamai die verbliebenen Reste des am Vortag erlegten Wildes zubereitete. Hinter den Felsen hervor drang Schlangentöters Kriegsgesang. Er hatte die Gesänge über den Großen Vogel, unter dessen Führung die Blutburg Mendos gefallen war, dahingehend abgewandelt, daß der zur Legende gewordene Kanuk-Häuptling wieder auferstanden sei und nun gegen Shebar und Ossar ziehen würde – bis das Land von Blutsaugern gesäubert und die Kanuks wieder frei waren und die verräterischen Quesas bestraft. Sein Kriegsgesang wollte kein Ende nehmen. Erst als das Wild über dem Lagerfeuer gar gebraten war und der Wind ihm den verführerischen Duft entgegenwehte, fand sein Anruf an den allmächtigen Talahasset ein Ende. Schlangentöter erschien über den Felsen. 57
Dragon, Ubali und Thamai starrten ihn verblüfft an. »Warum macht ihr so große Augen?« fragte Schlangentöter angriffslustig. »Deswegen, weil ihr einen Krieger in Kriegsbemalung seht?« »Allerdings«, antwortete Dragon lächelnd. »Nun zeige dich nicht gleich beleidigt, Schlangentöter. Setz dich zu uns ans Lagerfeuer und stärke dich, während ich dir erklären werde, warum deine Kriegsbemalung unpassend ist.« Schlangentöter sah in seiner Gesichts- und Körperbemalung recht abenteuerlich aus. Er hatte schon während der Nacht viel Zeit dafür aufgewendet, aus Erde, Holzmehl, Asche und Tierblut einen farbigen Brei zu mischen. Während seines Kriegsgesangs hatte er sich dann den mit Wasser verdünnten Farbbrei in phantasievollen Mustern auf den Körper gemalt. Er war immer noch leicht beleidigt, weil ihn die Kameraden nicht mit der nötigen Ehrfurcht empfangen hatten, als er sich zu ihnen ans Lagerfeuer setzte. »Wir kommen als Gäste nach Burg Shebar«, erklärte Dragon dem jungen Padoka. »Ich habe vor, mich als Edler von Neuatlantis auszugeben – und euch drei als meine Leibsklaven. Wie soll ich den Blutjägern von Shebar aber erklären, daß einer meiner Sklaven eine Kriegsbemalung trägt, obwohl wir doch angeblich in Frieden kommen?« »Wir sind gekommen, um diese Blutburg auszuräuchern«, beharrte Schlangentöter. »Es ist unter der Würde eines Padoka-Kriegers, mit falscher Zunge Frieden zu verkünden und seine Feinde meuchlings zu töten. Ich ziehe in den Krieg – und jeder soll es sehen.« »Ohne deinen Stolz verletzen zu wollen, Schlangentöter«, sagte Dragon geduldig, »was können wir vier schon gegen die Besatzung einer ganzen Blutburg aus58
richten, wenn wir ihr offen den Krieg erklären? Eine solche Übermacht können wir nur dann bezwingen, wenn wir uns ihr Vertrauen erschleichen. Das gefällt auch mir nicht besonders, aber unter den gegebenen Umständen haben wir keine andere Wahl.« »Ich weiß, daß der Geist des Großen Vogels recht hat«, erwiderte Schlangentöter, »Du sollst mich einfach Dragon nennen«, erinnerte Dragon den Padoka. Dann fuhr er fort: »Du erweist deinem Volk keinen großen Dienst, wenn du vor die Blutjäger hintrittst und ihnen den Krieg erklärst. Du hättest kaum ausgesprochen, wärst du auch schon tot. Dein Stamm würde nicht einmal erfahren, daß du als Held gestorben bist. Und wer sollte deine Taten dann besingen?« Schlangentöter hatte den Blick gesenkt. Er gab einen zustimmenden Laut von sich. Die Aussicht, schon in Vergessenheit zu geraten, kaum daß er sich als Krieger verdient gemacht hatte, behagte ihm sichtlich nicht. »Was ist also dein Plan, Dragon?« erkundigte sich Schlangentöter nach einer Weile des Nachdenkens. »Wie schon gesagt, ich werde als Edler von Neuatlantis auf Burg Shebar einziehen«, führte Dragon seinen Plan aus. »Mein Sonnenamulett wird mich ausweisen. Da Shebar, Herr von Burg Shebar, nicht mehr lebt, werde ich es mir erlauben können, über meine angebliche Mission Stillschweigen zu bewahren. Je geheimnisvoller ich mich gebe, desto glaubhafter werde ich sein. Ihr als meine persönlichen Sklaven und Diener habt noch mehr das Recht, ja, sogar die Pflicht, über meine Aufgaben zu schweigen. Das müßt ihr immer bedenken. Denn sonst verwickelt ihr euch in Widersprüche, und das würde uns verraten.« »Talahasset möge mir verzeihen, wenn ich mit gespaltener Zunge spreche«, sagte Schlangentöter. 59
»Wenn wir erst auf der Burg sind, dann werden wir die Gegebenheiten erkunden«, fuhr Dragon fort. »Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, mit Hilfe der Gefangenen – und ich denke dabei vor allem an die Melniken –, die Burg von innen her zu erobern. Sollte das nicht gelingen, dann müssen wir ausharren, bis das von den befreiten Kanuks zusammengetrommelte Heer in der Nähe von Shebar eintrifft.« »Das wird eine lange Zeit«, gab Ubali zu bedenken. »Ich fürchte, daß es uns unmöglich sein wird, lange unter diesen Blutsaugern zu leben und ihrem schändlichen Treiben tatenlos zuzusehen.« »Ich hoffe mit dir, daß ein langer Aufenthalt nicht nötig sein wird«, pflichtete Dragon bei. »Aber wir müssen uns den Gegebenheiten anpassen. Und wir müssen trachten, daß wir zusammenbleiben, um uns jederzeit besprechen zu können. Mehr gibt es dazu im Augenblick eigentlich nicht zu sagen.« Sie aßen schweigend zu Ende. Als sie fertig waren, trat Ubali das Lagerfeuer aus. Thamai wusch mit den verbliebenen Wasservorräten die Kriegsbemalung von Schlangentöters Körper. Dragon legte letzte Hand an sich, und er tat es mit großer Sorgfalt, um bei den Bewohnern der Burg schon durch seine äußere Erscheinung Eindruck zu erwecken. Er warf sich den blauen Umhang mit dem Drachenemblem über die Schulter, überprüfte den Sitz seines Schwertes Almunir, das von Vesta mit magischer Kraft beseelt worden war, und achtete darauf, daß das an einer Kette baumelnde Sonnenamulett gut auf seiner Brust zu sehen war. Dann schwang er sich auf das Nomadenpferd. Ubali reichte ihm den Langbogen und den Köcher, Dragon befestigte beides am Sattel. Dann überreichte ihm 60
Ubali den achteckigen Schild, der ebenfalls das Zeichen des Drachen auf blauem Grund zeigte. »So laßt uns aufbrechen, Kameraden«, sagte Dragon und trieb sein Pferd an. »Die Blutburg Shebar erwartet uns.« Die Turmwache hatte Alarm gegeben: Ein Reiter, der von heller Haut war, näherte sich auf der Straße mit drei dunkelhäutigen Begleitern zu Fuß. Quampas wollte sich gerade mit Waldblume in sein Gemach zurückziehen, um sich vor dem wohlverdienten Mittagsschlaf noch ein wenig mit ihr zu vergnügen. Der Schlüsselherr hätte sich davon auch nicht abhalten lassen, wenn ihm nicht berichtet worden wäre, daß es sich bei dem Reiter womöglich um einen hohen Herrn aus Neuatlantis handelte. Denn er war, was schon aus der Ferne erkenntlich war, vornehm gekleidet, ganz in Blau, mit einem ebensofarbigen Umhang – und auf seiner Brust spiegelte sich die Sonne golden. So blieb dem Schlüsselherrn nichts anderes übrig, als auf sein Vergnügen vorerst zu verzichten. Er schickte die Taquira weg und machte sich auf den Weg zum Burgtor. Als Waldblume begehrte, ihn begleiten zu dürfen, schlug er ihr diese Bitte ab. Wer weiß, vielleicht handelte es sich bei dem unbekannten Reiter tatsächlich um eine hochgestellte Persönlichkeit aus Neuatlantis. Und da machte es keinen guten Eindruck, wenn er ihn an der Seite einer Wilden empfing. Quampas vergaß bei diesen Überlegungen ganz, daß auch er von der Abstammung her nichts als ein Eingeborener war – er dachte schon längst wie ein Neuatlanter und fühlte sich auch als einer von ihnen, wenn seine niedrige Abstammung bisher auch verhindert hatte, die 61
geheimnisvolle Insel im Meer von Atlantis besuchen zu dürfen ... Das Tor war längst schon geöffnet, der Unbekannte in den Burghof eingeritten, von seinen drei Begleitern gefolgt, als Quampas keuchend eintraf. Er hatte sich deshalb verspätet, weil er, um seine Position von vornherein augenfällig zu machen, die fünf Blutjäger zu sich gerufen hatte und sich von ihnen und zehn Jagdsklaven begleiten ließ. Er hatte sich sogar noch die Zeit genommen, in seine Prunkkleider zu schlüpfen und den Helm der enthaltsamen Blutpriester aufzusetzen. »Laßt mich, Quampas, Schlüsselherr von Shebar, Euch ehrerbietigst willkommen heißen, unbekannter Herr«, sagte Quampas untertänig und verneigte sich vor dem Reiter, der noch immer hochaufgerichtet auf dem Rücken seines Pferdes saß, so tief, daß er beinahe den Schlangenhelm verloren hätte. Der Reiter erwiderte den Gruß nur mit einem leichten Nicken, streifte Quampas mit einem oberflächlichen Blick und ließ seine Augen weiterwandern. Er machte keine Anstalten, vom Pferd zu steigen. Das ablehnende Verhalten des Reiters machte den Schlüsselherrn von Shebar unsicher. Er wagte es aber nicht, ihn neuerlich anzusprechen und so zur Klärung der Situation beizutragen, bevor er nicht das Wort an ihn gerichtet hatte. Quampas nutzte die Pause, um sich den Reiter genauer anzusehen. Seine Hautfarbe und das edel geschnittene Gesicht ließen sofort auf eine vornehme Abstammung schließen. Die Kleidung, obwohl von der offenbar beschwerlichen Reise mitgenommen, trug seiner Erscheinung Rechnung. 62
Aber den Ausschlag für Quampas‘ Überzeugung, es hier mit einem hohen Herrn von Neuatlantis zu tun zu haben, gab das Sonnenamulett, das auf seiner Brust leuchtete. Denn nur höchstgestellte Persönlichkeiten besaßen ein solches Amulett. Dieser Neuatlanter war etwas Besonderes. Als Besonderheiten konnten auch seine Sklaven gelten. Zumindest zwei von ihnen. Ein Mann und eine halbnackte Frau, deren Blöße einzig und allein von einem Amulett verdeckt wurde. Die beiden hatten eine solch dunkle Haut, daß man sie schon fast als »schwarz« bezeichnen konnte. Quampas hatte noch nie von einem Volk dieser Hautfarbe gehört, und ganz sicher wußte er, daß es in diesem Land, von der Eissteppe im Norden, bis zum südlichsten Zipfel an der Enge der Winde, keine so dunkelhäutigen Menschen gab. Der fremde Herr mußte demnach sehr weitgereist sein, in unbekannte Länder vorgedrungen sein – wenn er sich diese Sklaven selbst beschafft hatte. Und warum sollte er sich denn sonst mit ihnen umgeben? Diese beiden Dunkelhäutigen faszinierten Quampas sofort. Und ganz besonders das Mädchen, das ihm viel schöner als Waldblume erschien und von dessen unverhüllten Reizen er den Blick kaum wenden konnte. Unwillkürlich fragte er sich, ob die Hautfarbe der beiden auf schwarzes Blut zurückzuführen war. Zum Gegensatz von diesen beiden war der dritte Sklave nicht dazu angetan, seinen Herrn auszuzeichnen. Es handelte sich um einen ordinären Kanuk, einen von jenen Waldjägern, die die Feinde der Quesas waren. Und wenn es um die Kanuks ging, dachte Quampas immer noch als Quesa. 63
Äußerst unangenehm stachen Quampas auch die Waffen des jungen Kriegers ins Auge. Wer immer dieser unbekannte Herr war, Quampas hoffte, daß er ihm beibringen konnte, seinen rothäutigen Leibsklaven während des Aufenthaltes auf Burg Shebar zu entwaffnen. Denn für die Quesas, die als Haussklaven auf Shebar wohnten, war der Anblick eines kriegerisch ausgerüsteten Kanuks eine Demütigung sondergleichen. Der Reiter wandte sich endlich wieder Quampas zu. »Ich heiße Dragon«, sagte er nur. Er schien anzunehmen, daß die Nennung seines Namens alle offenen Fragen beantwortete. Doch so sehr Quampas in seiner Erinnerung auch forschte – er konnte mit diesem Namen nichts anfangen. Deshalb wiederholte er noch einmal seinen Willkommensgruß. Doch das schien Dragon von Neuatlantis nicht zu genügen. »Ist das ein würdiger Empfang für einen Abgesandten vom Herrscherhof, der vom Allergnädigsten Vodor selbst ausgeschickt wurde, dieses Land zu bereisen!« rief er donnernd. »Ist Shebar schon so überheblich, daß er es nicht der Mühe wert findet, mir persönlich seinen Willkommensgruß zu entbieten? Will er mich beleidigen, daß er mir seinen Schlüsselherrn und eine Handvoll Blutjäger schickt?« »Verzeiht, edelblütiger Dragon, wenn ich Shebar, den Herrn von Shebar, in Schutz nehme«, sagte Quampas eingeschüchtert. »Aber ganz sicher wollte er Euch nicht vor den Kopf stoßen. Und wäre er auf der Burg anwesend, dann wäre er höchstpersönlich zu Eurer Begrüßung erschienen. Doch leider ist er zur Zeit auf der Jagd nach Sklaven für den Herrscherhof.« »Diese Ausrede lasse ich nicht gelten«, erwiderte Dragon unerbittlich. »Ich habe meinen Besuch für diese 64
Tage angekündigt, und erzähle du mir nur nicht, Shebar hätte es nicht so einrichten können, daß er bei meinem Eintreffen wieder von der Jagd zurück wäre.« Quampas begann zu schwitzen. Er wußte nichts davon, daß die Ankunft eines Abgesandten von Vodor, dem Herrscher von Neuatlantis, angekündigt worden sein sollte. Wußte Shebar davon? Warum hatte er ihn, Quampas, dann nicht davon unterrichtet? »Tut mir leid«, sagte der Schlüsselherr schließlich gequält. »Aber ich bin ganz sicher, daß während der letzten Monde kein Bote nach Shebar gekommen ist, der Euer Eintreffen ankündigte. Wäre mein Herr davon unterrichtet gewesen, er hätte sicherlich Vorsorge getroffen, um Euch einen gebührenden Empfang zu bereiten. Aber es ist ganz gewiß, daß ihn Eure Ankunft ebenso überraschen würde, wie mich.« Dragon schwieg eine Weile. »Das alles klingt sehr unwahrscheinlich«, sagte er schließlich. »Aber ich habe einen langen und beschwerlichen Weg hinter mir und bin zu müde, um mich jetzt mit diesem Problem zu beschäftigen. Sei jedoch gewiß, Quampas, daß ich die Wahrheit herausfinden werde. Und wenn sich herausstellt, daß du mich belogen hast, um deinen Herrn zu decken, dann bekommst du einen Platz auf dem nächsten Schiff nach Neuatlantis.« Quampas schluckte. Er wußte, daß damit keine freundschaftliche Einladung an den Herrscherhof gemeint war. Aber er hatte ein reines Gewissen. Nicht nur der Name dieses hohen Herrn war ihm unbekannt, sondern auch, daß er seinen Besuch auf Shebar angekündigt hatte. Trotzdem wünschte sich Quampas in diesem Augenblick nichts sehnlicher als die Rückkehr des Burgherrn, der nun schon seit drei Wochen verschollen war. 65
Dragon stieg von seinem Pferd. Sein schwarzhäutiger Sklave nahm sich des Reittieres an und verjagte einen der Blutjäger mit drohenden Blicken, der das Pferd in seine Obhut nehmen wollte. »Ich hoffe doch, daß wenigstens Unterkünfte für mich und meine Diener bereitstehen«, sagte Dragon übellaunig. »Selbstverständlich, Herr«, beeilte sich Quampas zu versichern. »Ihr sollt die beste Unterkunft bekommen, die es auf Shebar gibt. Ich spreche sicherlich im Namen meines Herrn, wenn ich Euch seine Gemächer überlasse. Ihr werdet Euch darin ganz gewiß wohl fühlen. Bitte folgt mir.« »Ich will dir gleich verraten, daß mir einige Eigenheiten angeboren sind«, erklärte Dragon, während er von Quampas durch den Burghof zu einem Komplex von ineinandergeschachtelten Gebäuden geleitet wurde, die zum Teil aus dem Fels gehauen und zum anderen aus dem gleichen roten Stein gebaut waren. »Ich lege Wert darauf, daß meine Diener ständig in meiner Nähe sind, denn sie wissen am besten, wie ich behandelt werden will. Ich möchte sie nie missen. Deshalb sollen ihre Unterkünfte gleich neben den meinen sein.« »Sehr wohl, Herr.« »Ich wünsche keine Störungen durch aufdringliche Sklaven. Halte sie mir also fern. Wenn du dennoch glaubst, es sei unablässig, mich zu stören, dann kündige das vorher meinen Dienern an. Auch deinen Besuch, Quampas!« »Wie Ihr es wünscht, Herr« sagte der Schlüsselherr devot, meinte jedoch, daß er es seinem Stolz schuldig war, einzuwerfen: »Mit Eurer Erlaubnis würde ich es aber doch lieber vermeiden, mich zu oft mit gemeinen 66
Sklaven herumärgern zu müssen. Schließlich bin ich der Schlüsselherr von Shebar, und als solcher ...« »Ich kenne die Bedeutung eines Schlüsselherrn«, unterbrach Dragon ihn, obwohl er vorher diese Bezeichnung noch nie gehört hatte. Aber inzwischen hatte er erkannt, daß ein Schlüsselherr den Burgherrn während dessen Abwesenheit vertrat. Und es erschien ihm als einigermaßen ungewöhnlich, daß auf Burg Shebar einer aus dem Volk der Quesas diesen Posten innehatte und so über Blutjäger, die immerhin Neuatlanter waren, gebieten konnte. Um seiner Rolle als Abgesandter des Herrschers gerechter zu werden, fand er es nur angebracht, Quampas an seine Abstammung zu erinnern, denn diese mußte einem Neuatlanter von seinem Rang zweifellos ein Dorn im Auge sein. »Meine Diener sind bestimmt nicht von niedrigerer Herkunft als du, Quampas«, sagte Dragon deshalb, und wußte, wie schwer das den Schlüsselherrn treffen mußte. »Sie sind für mich so wertvoll wie du für deinen Herrn. Behandle sie also als Gäste. Und du hast keine Veranlassung, es als Demütigung zu empfinden, dich mit ihnen abzugeben.« Quampas wagte es nicht, dem Abgesandten des Herrschers zu widersprechen, wenn er auch dessen Einstellung, daß ein schäbiger Kanuk einem Quesa wie ihm ebenbürtig sein sollte, in keiner Weise akzeptieren konnte. Doch in den vielen Jahren, die Quampas den Herren von Neuatlantis diente, hatte er erkannt, daß es für ihn von Vorteil war, ihren Wünschen nachzugeben – wie geartet sie auch immer waren. Er hatte inzwischen Mittel und Wege gefunden, seinen eigenen Willen im nachhinein durchzusetzen. Er war verschlagen und gerissen 67
genug für derlei gefährliche Intrigen. Anders hätte er es auch nie zum Schlüsselherrn von Shebar gebracht. Heute befehligte er die Blutjäger, die ihn einst mit Füßen getreten und zur Ader gelassen hatten. Und wenn er jetzt auch die Schläge eines hohen Herrn wie Dragon hinnehmen mußte, konnte er eines Tages vielleicht zurückschlagen, wenn er es bis zum Herrn dieser Burg brachte. Burg Quampas! Vielleicht war es ein Zeichen Tahomes, daß Shebar nun schon seit so vielen Tagen verschollen war. Und es kam glatt und scheinbar ohne Hinterlist über Quampas‘ Lippen, als er versicherte: »Und wenn Ihr ein Heer von Dienern hättet, edler Dragon, ich wäre Euer treuester. Verfügt über mich.« »Bis Sonnenuntergang mußt du dich gedulden, Quampas«, erwiderte Dragon. »Ich möchte solange ruhen. Dann nehme ich deine Dienste in Anspruch. Da du den Burgherrn vertrittst, habe ich einiges mit dir zu besprechen. Verschaffe mir alle Unterlagen, die es über Burg Shebar gibt. Ich bin vor allem an Plänen und Berichten aus vergangenen Zeiten interessiert. Schaffe her, was du an Informationen über Burg Shebar verfügbar hast. Ich bin auch nicht abgeneigt, mir Legenden anzuhören, denn auch in ihnen ist meist zumindest ein Körnchen Wahrheit. Du würdest damit meine Arbeit unterstützen, deretwegen ich nach Shebar gekommen bin.« Sie erreichten das Gemach des Burgherrn. Und während Quampas seinem Gast in blumenreichen Worten die Gegebenheiten erklärte, grübelte er darüber nach, wozu er all die Unterlagen über die Burg benötigen mochte. Nun, spätestens bei Sonnenuntergang würde er es erfahren. 68
6.
Dragon betrat mit seinen drei Gefährten die Galerie, von der aus eine Treppe in den Saal mit dem großen, kreisförmigen Tisch und der Aussparung darin hinunterführte. Quampas hatte bereits auf dem Thron Platz genommen, allerdings hatte er den Sitz des Burgherrn für seinen Gast freigelassen. Zu seinen Füßen kauerte seine Leibsklavin Waldblume. »Ich habe hoffentlich recht damit getan, Euch in den Blutsaal zu laden«, empfing der festlich gekleidete Schlüsselherr seinen Gast. »Während wir uns besprechen, könnt Ihr die Vorbereitungen des Festes, das Euch zu Ehren stattfindet, beobachten und Euch Appetit holen.« »Du bist sehr aufmerksam, Quampas«, sagte Dragon. Er blickte scheinbar ohne großes Interesse von dem Thronplatz in den Saal hinunter. Dort eilten Haussklavinnen, die mit grünen Stirntätowierungen gekennzeichnet waren, geschäftig umher. Schalen mit Dämpfen wurden geschwenkt. Das Geläute von Glöckchen war zu hören. Jetzt wurden sieben Gefangene, an den roten Wangentätowierungen zu erkennen, hereingebracht. Man entkleidete sie, salbte und wusch sie. Dann begannen die Sklavinnen nach einem vorbestimmten Ritual damit, ihre Unterarme zu bandagieren. Währenddessen schwenkten andere Sklavinnen die dampfenden Schalen vor den Gefangenen hin und her -zweifellos, um ihre Sinne mit den entströmenden Gerüchen zu benebeln. 69
Für Dragon war das alles neu. Aber aus Quampas‘ Worten schloß er, daß dies die Vorbereitungen für eine der schrecklichsten Blutorgien waren. Obwohl Dragon gleichermaßen interessiert wie angewidert war, zeigte er keinerlei Regungen. Er ließ gelangweiltes Desinteresse erkennen, während er in Wirklichkeit alle Vorgänge aufmerksam beobachtete. Dragons Begleiter nahmen zu seinen Füßen auf den Treppenstufen Platz. Sie waren am Nachmittag von Dragon auf die neuen Gegebenheiten vorbereitet worden, wenngleich seine Anweisungen nicht viele neue Verhaltensregeln enthielten und eigentlich in einem einzigen Befehl zusammengefaßt werden konnten: Beobachten und schweigen! Daran hielten sich Ubali, Thamai und Schlangentöter. Der junge Padoka-Krieger beobachtete besonders eindringlich. Und zwar hatte er ein ganz bestimmtes Objekt ins Auge gefaßt, dem sein ganzes Interesse galt. Schon bei ihrer Ankunft im Burghof hatte er an einem der Fenster ein Mädchen vorbeihuschen sehen, das seinen Blick erwiderte. Und er wußte sofort, daß es das gleiche Mädchen war, das zu Füßen des häßlichen Quesa kauerte. Sie war eine Kanuk, das erkannte er auf den ersten Blick. Keine Quesa hätte so schön sein können, so schlank und zart und doch so voll Kraft und verhaltener Wildheit. Als er nun zum zweitenmal ihren Blick kreuzte, in ihre Augen sah, da erkannte er, daß er sie nicht verdammen durfte, weil sie sich einem räudigen Quesa ausgeliefert hatte. Der Blick ihrer Augen sagte ihm viel mehr, als Worte es in diesem Augenblick vermocht hätten. Und dann gab sie ihm mit den Fingern versteckte Zeichen. Er hielt vor Erregung den Atem an. Ihre Finger 70
teilten sich ihm in der Zeichensprache mit, die nur die Padokas und einige benachbarte Stämme beherrschten, die miteinander in Frieden lebten ... Dragon war Schlangentöters Interesse für die Leibsklavin des Schlüsselherrn nicht entgangen, und er verwickelte Quampas in ein Gespräch, um seine Aufmerksamkeit abzulenken. »Ich habe dir bereits gesagt, daß ich im Auftrag Vodors nach Burg Shebar gekommen bin«, erklärte Dragon gerade. »Nun will ich dir auch nicht länger den Grund meines Besuches verschweigen. Ich habe den Auftrag, die Vergangenheit zu erforschen. Noch immer wissen wir nicht viel darüber, warum Atlantis untergegangen ist. Und dieses spärliche Wissen haben wir zumeist aus den mündlichen Überlieferungen. Denn die Dokumente und Kulturzeugnisse aus der Zeit vor dem Untergang sind größtenteils verschollen. Ich sage verschollen und nicht verloren, weil viele von ihnen noch erhalten sein müssen. Und ich bin sicher, daß sich ein Großteil von ihnen in den unterirdischen Gewölben der Blutburgen befinden. Um nach ihnen zu forschen, bin ich nach Shebar gekommen. Das ist auch meine Antwort darauf, warum ich alle alten Unterlagen über diese Blutburg von dir wollte.« Dragon hatte sich die Rolle des Altertumsforschers nicht nur deswegen ausgedacht, weil er darin glaubhaft wirkte – denn immerhin war sie ihm geradezu auf den Leib geschrieben, wo er vor 2000 Jahren doch selbst den Untergang von Atlantis miterlebte. Und natürlich interessierte es ihn brennend, mehr über die Zeit nach dem Untergang zu erfahren – wie es den Atlantern gelungen war, sich aufs Festland zu retten und welche Gründe dafür maßgeblich waren, daß aus einem so hochstehenden Volk eine Meute von Blutsaugern werden konnte. 71
Aber der Hauptgrund war doch der gewesen, daß er sich als angeblicher Altertumsforscher ungehindert in der Burg umsehen und die Gegebenheiten studieren konnte, ohne Mißtrauen oder Aufsehen zu erregen. »Es ist eine nicht ganz ungefährliche Aufgabe, die Ihr Euch da gestellt habt, Dragon«, meinte Quampas. »Selbstverständlich bekommt Ihr von mir jegliche Unterstützung. Aber ich warne Euch, in der Unterwelt von Shebar nisten schreckliche Ungeheuer, Diener gnadenloser Dämonen, die jeden vernichten, der in ihr Reich vordringt. An ihrer Spitze steht Wyzeila, die Blutprinzessin, die früher Herrin dieser Burg war. Sicher werdet Ihr wissen, daß sie sich gegen Vodor stellte, als er sie von hier abberufen wollte, und lieber in die Unterwelt floh, als nach Neuatlantis zurückzukehren. Erst heute morgen hat Wyzeila sich wieder ein Opfer geholt – und es in ihrem Blutrausch zerrissen.« Dragon lächelte spöttisch. »Wenn man dich so hört, Quampas, dann möchte man meinen, die Blutprinzessin sei immer noch die wahre Herrscherin auf Burg Shebar. Warum hat man ihr noch nicht das Handwerk gelegt?« »Alle unsere Jagdsklaven und Blutjäger würden nicht ausreichen, ihrer habhaft zu werden«, erwiderte der Schlüsselherr. »Das Höhlensystem unter der Burg ist weit verzweigt. Man könnte es ein Leben lang durchwandern, ohne an sein Ende zu kommen. Und wer die Unterwelt betritt, für den gibt es kein Zurück. Entweder führt ihn Wyzeila in die Irre, treibt ihn so lange vor sich her, bis er den Verstand verliert oder vor Erschöpfung zusammenbricht und eine leichte Beute für sie abgibt. Oder er fällt einem der namenlosen Ungeheuer zum Opfer, von denen es in der Unterwelt von Burg Shebar unzählige gibt.« 72
Dragon lächelte wieder voll Überheblichkeit, wie es einem Edlen von Neuatlantis zustand. Quampas nutzte die Gelegenheit, das Thema zu wechseln, um einiges über den geheimnisvollen Neuatlanter in Erfahrung zu bringen. Dragon machte auf ihn nicht nur den Eindruck eines vornehmen, sondern auch den eines höchst gebildeten Mannes. Er war wortgewandt und sprach ein so vorzügliches Atlantisch, daß selbst der Oberste Blutjäger Shebar sich neben ihm anhören mußte, wie ein der Sprache nur ungenügend mächtiger Bauer. So, stellte sich Quampas vor, mußte man auf Neuatlantis in den vornehmsten Kreisen sprechen. Aber wenn Dragon eine solch hochgestellte Persönlichkeit war, wie kam er dann dazu, mit nur drei Sklaven zu reisen? Ohne den Schutz von Blutjägern und Hossas? »Verzeiht mir meine Neugier, Dragon«, sagte Quampas, »aber ich kann nicht verstehen, daß ein Herr von Eurem Stand in diesem gefährlichen Land sich mit einer so kleinen Eskorte begnügt. Das ist ein Leichtsinn sondergleichen.« »Darin muß ich dir recht geben«, erwiderte Dragon, der sich auf diese Frage längst vorbereitet hatte. »Ja, mehr noch. Es ist sogar leichtsinnig, dieses Land unter dem Schutz von zehn ausgebildeten Kriegern zu durchqueren.« »Ihr reistet mit zehn Mann?« tat Quampas erstaunt. »Was ist aus den anderen geworden?« »Sie starben in der Hungerwüste«, antwortete Dragon. »Bei einem Angriff wilder Kanuks.« »Wie ist das möglich?« wunderte sich Quampas. Er warf dem jungen Padoka zu Dragons Füßen einen bezeichnenden Blick zu und meinte mit verschwörerisch 73
gesenkter Stimme: »Vielleicht hattet Ihr einen Verräter unter Euch, Dragon.« »Laß solche Anspielungen, Quampas! Schlangentöter hat mehr Krieger des Waldvolks erledigt als selbst ich. Er ist über jeden Zweifel erhaben.« Quampas senkte betreten den Blick. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, das Vertrauen des hohen Herrn in den verhaßten Padoka zu erschüttern. Dieser Schlangentöter warf Waldblume ständig glühende Blicke zu, was ihn eifersüchtig machte und seinen Haß nur noch mehr steigerte. Als könne Dragon seine Gedanken erraten, sagte er: »Die drei überlebenden Sklaven haben durch ihren Einsatz meinen besonderen Dank verdient. Ich möchte sie gut behandelt wissen. Ich bin ihnen zu besonderer Anerkennung verpflichtet, denn sie sind meine Lebensretter.« »Ich verstehe«, sagte Quampas, obwohl er eigentlich unter »Lebensretter« etwas ganz anderes verstand als Dragon. »Nun erkläre du mir etwas, Quampas«, verlangte Dragon, der sich in seiner Rolle als »hoher Gast von Neuatlantis« immer sicherer zu fühlen begann. »Wie ist es möglich, daß man auf Burg Shebar nichts von meinem Eintreffen wußte, obwohl ein Bote von Burg Ossar mich ankündigen sollte.« »Sagtet Ihr Burg Ossar, Dragon?« wiederholte Quampas, und ein wissendes Lächeln umspielte seinen Mund. »Das könnte einiges erklären. Natürlich ist es möglich, daß dem Boten unterwegs etwas zugestoßen ist. Ihr habt am eigenen Leib erfahren, wie gefährlich dieses Land ist. Es kann aber auch sein, daß man es auf Ossar bewußt unterlassen hat, die Botschaft von Eurer Ankunft weiterzuleiten. Denn, und das wißt Ihr wahrscheinlich 74
auch, zwischen Shebar und Ossar besteht eine langjährige Fehde. Wer weiß, vielleicht wollte Ossar meinem Blutherrn einen schändlichen Streich spielen und hat deshalb die Verständigung über Euer Kommen unterlassen.« »Wenn das stimmt, dann werde ich Ossar zu bestrafen wissen«, sagte Dragon. »Tut das, Herr, tut das unbedingt«, stachelte Quampas ihn auf. Mit einem Seitenblick stellte er fest, daß die Vorbereitungen für das Fest im Saal abgeschlossen waren und vier behelmte Blutjäger eintraten. »Aber erlaubt mir jetzt, Dragon, Euch auf erfreulichere Gedanken zu bringen. Laßt mich das Blutfest Euch zu Ehren beginnen.« Dragon antwortete darauf nichts. Er hatte das Furchtbare geahnt und nach einem Ausweg gesucht, um nicht daran teilnehmen zu müssen. Doch bisher hatte er keine Möglichkeit gefunden, sich, ohne Quampas‘ Mißtrauen zu erregen, zu entfernen. Die sieben Sklaven standen mit verbundenen Unterarmen in der Tischmitte. Sie waren ohne eigenen Willen. Dragon schauderte bei dem Gedanken, ihr Blut trinken zu müssen. Sklavinnen mit Glockenreifen an den Handgelenken begannen zu tanzen. Die vier behelmten Blutjäger näherten sich im Takt einer unsichtbaren Trommel der Treppe, die zum Thron hinaufführte. Davor blieben sie stehen. Erst als Quampas ihnen ein Zeichen gab, stieg einer von ihnen die Treppe empor. »Darf ich Euch bitten, den Blutjägern die Ehre zu erweisen, ihre Helme zu öffnen?« fragte Quampas und hielt Dragon den Schlüssel hin, der zu allen Schlössern der Burg paßte. Dragon nahm ihn mit einer steifen Handbewegung an sich. 75
Der Blutjäger in dem weißen Gewand kniete vor Dragon nieder, der nicht wußte, wie er sich verhalten sollte. Aber Quampas kam ihm unbewußt zu Hilfe. Er sprach die dem Brauch entsprechenden Worte: »Eröffne du, Hongor, dieses Blutfest. Es gibt keinen Würdigeren als dich.« Dragon erkannte rechtzeitig, daß es nun an ihm war, den Helm des Blutjägers aufzuschließen. Er tat es, wenn auch widerwillig. Das Schloß sprang klickend auf, das Kinnvisier des Blutjägers klappte nach unten. Der Blutjäger nahm den Helm ab. Ein scharfgeschnittenes Gesicht kam zum Vorschein. Dunkel glühende Augen blickten Dragon an. Hongor sagte: »Ich danke für deine Gnade, Dragon von Neuatlantis. Aber viel würdiger als ich bist du selbst, dieses Blutfest zu eröffnen.« Dragon fühlte sich unter dem durchdringenden Blick des Blutjägers immer unbehaglicher werden. Wenn er jetzt das Angebot des Blutjägers annahm, dann konnte er nicht mehr zurück, würde das Blut unschuldiger Menschen trinken müssen ... Lehnte er dagegen ab, dann konnte es sein, daß er sich dadurch verriet. Das könnte den Plan, die Burg zu erobern, mit einem einzigen Schlag zunichte machen. Andererseits aber ... selbst wenn er zum Schein die Einladung zum Blutfest annahm, so würde er sich spätestens dann verraten, wenn er eines der Opfer zur Ader lassen sollte. Das Risiko war geringer, wenn er jetzt sofort ablehnte. »Nein, Hongor«, sagte er fest. »Es ehrt mich, daß du deinen Vorrang an mich abtreten willst. Aber ich will euch nichts von dem Blut wegnehmen, das ihr dringen76
der benötigt als ich. Ich habe eine solche Erfrischung nicht nötig.« Auf dem Gesicht des Blutjägers zeichnete sich grenzenlose Enttäuschung ab. Aber er zeigte Willensstärke, indem er sie schnell wieder überwand. »Laß mich deinem Beispiel folgen, Dragon von Neuatlantis, und diese denkwürdige Nacht mit Enthaltsamkeit begehen.« So schwer die Entscheidung dem Blutjäger auch fallen mochte, er setzte sich den Helm wieder auf und schloß das Visier. Diese Handlungsweise zeigte Dragon, daß er keinen groben Regelverstoß begangen hatte. Und als er Quampas‘ ehrfürchtigen Gesichtsausdruck bemerkte, wußte er, daß er richtig gehandelt hatte. Er hätte nur zu gerne erfahren, warum seine Haltung den Schlüsselherrn von Shebar dermaßen beeindruckte. Aber Quampas gab diesbezüglich keine Erklärung ab. Dragon beschloß, den günstigen Augenblick zu nutzen, um sich zurückzuziehen. Er erhob sich mit den Worten: »Sage deinen Blutjägern, daß sie sich wegen mir nicht von ihrem Fest abhalten lassen sollen. Ich ziehe mich jedoch zurück, denn ich habe noch vor, mich mit meinen Begleitern in den verlassenen Gewölben der Burg umzusehen. »Zu dieser späten Stunde noch?« rief Quampas erschrocken. »Warum nicht? In der Unterwelt gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.«
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Aquina wußte, daß zu Ehren des hohen Gasts von Neuatlantis ein Blutfest stattfinden sollte, an dem auch die Blutjäger von Shebar teilnehmen durften. Die Sklaventätowiererin wußte aber auch, daß ein Blutjäger von diesem Fest ausgeschlossen war. Eine Sklavin, die es wieder von Waldblume gehört hatte, trug es ihr zu, daß Quampas befürchtete, Vengin könnte den Ablauf des Festes stören. Angeblich hatte Vengin durch die lange Enthaltsamkeit seinen Blutgeschmack verloren. Aquina würde es herausfinden. Und vielleicht konnte sie ihn trösten, Von den anderen Sklavinnen unbemerkt, verließ sie die Kemenate und kam auf Schleichwegen in den Trakt, wo die Klausen der Blutjäger waren. Gerade als sie den Gang betreten wollte, kam ein Blutjäger aus Vengins Klause. Sie huschte schnell in eine Nische und wagte sich erst wieder hervor, als sie an den Schritten erkannte, daß der Blutjäger die Treppe hinunterhastete. Es gab keinen Zweifel, Vengin begab sich in die tieferen Regionen. Aquina konnte sehr gut am Klang erkennen, ob jemand die Stufen hinauf oder hinunter ging. Schnell folgte sie dem enteilenden Blutjäger, holte ihn bald so weit ein, daß sie wieder seine Schritte hörte. Auf Sichtweite wagte sie sich nicht heran, weil sie befürchtete, vorzeitig entdeckt zu werden. Sie wollte sehen, wohin Vengin ging. Sein Weg führte ihn immer tiefer, vorbei an Wyzeilas Loch und den Grabkammern der Blutjäger und Hossas, bis in die Nähe der Verliese für die Gefangenen, die dort auf ihren Abtransport nach Neuatlantis warteten. Was hatte Vengin bei den Gefangenen zu suchen? 78
Aquina erkannte aber schnell, daß Vengin nicht zum Verlies wollte, sondern daß er weiter in die Tiefe vordrang. Jetzt begann sie zu bereuen, daß sie ihm gefolgt war. Sie kamen der Schwelle zur Unterwelt immer näher. Furcht stieg in ihr auf. Sie sagte sich, es wäre besser, wieder umzukehren. Doch ihre Neugierde war stärker als ihre Angst vor den Schrecken der Unterwelt. Warum sollte sie sich denn überhaupt fürchten? Schließlich war ein Blutjäger in ihrer Nähe. Falls sie bedroht wurde, konnte sie Vengin um Hilfe rufen. Am Ende hatte er jedoch gar einen Pakt mit Wyzeila geschlossen? Warum sonst trieb es ihn in die Tiefe? Das könnte auch eine Erklärung dafür sein, daß er seinen Blutgeschmack verloren hatte. Plötzlich war Aquina von Dunkelheit und Stille umgeben. Sie hörte kein Geräusch mehr von Vengin, und auch der Lichtschein seiner Fackel, die er aus einem der oberen Korridore mitgenommen hatte, war nicht mehr zu sehen. Dennoch tastete sie sich weiter. Irgendwo mußte Vengin ja sein! Der Gang machte einen Knick – und da sah sie wieder einen Lichtschein vor sich, der aus einer niedrigen Öffnung in der Wand fiel. Sie schlich lautlos näher. Und nun hörte sie auch wieder Geräusche. Ein schweres, keuchendes Atmen. Dazwischen ein schauriges Kichern. Nein, eigentlich klang es weniger schaurig als lüstern. Vorsichtig blickte sie über den Mauervorsprung. Vor ihr lag eine kleine Kammer. In der Mitte stand ein unbehauener Fels. Vengin war nicht zu sehen. Dafür erklang aus einem Winkel, den Aquina nicht einsehen konnte, das Klirren von Ketten. 79
Jetzt tauchte Vengin wieder auf. Er zog eine lange Eisenkette mit Schellen an den Enden zum Fels, legte die Ketten aus. Betrachtete sein Werk kichernd, veränderte die Lage der Ketten. Nickte zufrieden. Aquina zog sich rasch zurück, als sich der Blutjäger in ihre Richtung drehte. Sie erwartete seine näherkommenden Schritte, zückte ihre Tätowiernadel, um ihn auf die Probe zu stellen und ihre Verführungskünste einzusetzen, die noch bei jedem Blutjäger ihre Wirkung gezeigt hatten. Doch Vengins Schritte entfernten sich. Als Aquina wieder in den Raum blickte, entdeckte sie den zweiten Ausgang, in dem gerade der Lichtschein von Vengins Lampe schwächer wurde. Enttäuscht heftete sich Aquina erneut an seine Fersen. Vengin hatte alles für die Opferung von Quampas‘ Leibsklavin vorbereitet. Nun brauchte er ihr nur noch aufzulauern und sie in das Gewölbe zu locken, in dem er sie opfern wollte. Das war seine Rache an Quampas. Gleichzeitig würde es für ihn ein Augenblick höchsten Glücks sein, wenn er den Körper der anmutigen Waldblume öffnete, um ihr Blut zu trinken. Er hatte seinen Blutgeschmack nicht verloren! Nachdem er die Opferkammer verlassen hatte, hastete er eilig die unbegangene Wendeltreppe hinauf, die geradewegs zur Galerie des Blutsaals führte. Dort fand gerade das Fest statt, an dem er nicht teilnehmen durfte. Eigentlich mußte er Quampas dafür dankbar sein. So hatte er Gelegenheit, seinen Plan auszuführen. Vengin wußte, daß Waldblume nie bis zum Ende der Blutfeste blieb. Sie verschwand immer etwas früher und erwartete dann Quampas in dessen Gemach. 80
Vengin rannte den dunklen Geheimgang entlang, der nach einigen Schritten in einen unbenutzten Raum führte. Der Raum hatte eine Tür, die von innen verriegelt war. Es gab viele solcher Türen auf Burg Shebar, die man nicht öffnen konnte. Und es wagte auch niemand, sie zu öffnen, weil Shebar es bei Todesstrafe verboten hatte. Der Oberste Blutherr von Shebar hatte viele Geheimnisse – einige teilte nun Vengin mit ihm. Er entriegelte die Tür, trat schnell auf den darunterliegenden Gang hinaus. Waldblume würde jeden Augenblick hier vorbeikommen. Sie müßte schon hier sein, wenn sie nicht aufgehalten worden war. Der Blutjäger ging bis zum nächsten Seitengang vor. Er erstarrte. Dort stand Waldblume zusammen mit dem Padoka, der in Begleitung von Dragon gekommen war. Sie unterhielten sich verschwörerisch miteinander. Hinterging die Kanuk den Schlüsselherrn etwa mit diesem Jüngling? Vengin gönnte es ihm. Aber er wollte sich trotzdem auf seine Art rächen. Wie lange unterhielten sich die beiden noch miteinander? Sie mußten doch damit rechnen, daß sie überrascht werden konnten. Ah, jetzt verabschiedete sich Waldblume schnell, der junge Kanuk huschte lautlos davon. In wenigen Atemzügen würde sich das Schicksal von Quampas‘ Lieblingssklavin erfüllen. Da trat Aquina durch die Tür, bis zu der sie dem Blutjäger gefolgt war. Sie konnte sich nicht denken, was sein seltsames Verhalten zu bedeuten hatte, wußte nicht, daß er in dem Seitengang sein Opfer belauerte. Aquina war der Meinung, daß sie lange genug gewartet hatte. »Was vertrödelst du deine Zeit, Vengin«, rief sie ihm zu. »Sieh nur, welches Mißgeschick mir passiert ist.« 81
Der Blutjäger wirbelte mit einem Aufschrei herum. Aquina stieß sich rasch hintereinander die Tätowiernadel in die Finger. Als Vengin die Blutstropfen hervorquellen sah, schrie er noch einmal auf. »Nicht so stürmisch ...«, entfuhr es Aquina überrascht, als er sich auf sie stürzte. Doch im nächsten Augenblick versagte ihr die Stimme. Vengin klappte das Kinnvisier herunter, riß sich den Helm vom Kopf und stieß sie mit dem Gewicht seines Körpers durch die Tür in den Geheimraum. Aquina sah noch seinen Opferdolch aufblitzen, spürte das Metall in ihren Körper eindringen. Dann fiel die Tür hinter Vengin zu. Der erste Dolchstoß hatte einen brennenden Schmerz verursacht, der in einer alles verschlingenden Woge ihren Körper durchraste. Beim zweiten Dolchstoß verspürte sie nur noch eine Erschütterung ... und dann war ihr nur noch, als werde ihr Körper von sanften Schlägen getroffen. Sie fühlte sich so leicht, als schwebe sie. In ihrem Kopf war ein Rauschen wie von einem Wasserfall, und darüber war ein gelegentliches Schlürfen und Schmatzen zu hören, das aber immer mehr in den Hintergrund trat, bis es verstummte. Und alle Lichter erloschen, und ewige Dunkelheit umgab sie.
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7.
Dragon hatte die Pläne, die ihm Quampas aushändigte, genau studiert, so daß er wußte, in welchem Teil der Burg sie sich befanden. Dennoch tat er überaus erstaunt, als ihnen plötzlich ein Wachtposten mit der Waffe in der Hand den Weg verstellte. Es war ein Jagdsklave mit einem schwarzen Stirnstreifen. »Was hat das zu bedeuten«, herrschte Dragon den Posten an »Gib mir den Weg frei! Weißt du nicht, wer ich bin?« »Doch, Dragon von Neuatlantis«. sagte der Sklave mit der nötigen Ehrfurcht, doch wich er keinen Schritt zur Seite. »Aber ich fürchte, Ihr befindet Euch auf dem falschen Weg. Ein Bote des Schlüsselherrn hat mich davon verständigt, daß Ihr einen Vorstoß in Wyzeilas Reich unternehmen wollt. Dieser Gang führt jedoch zu den Verliesen mit den Gefangenen.« »Ach so«, tat Dragon erstaunt. »Nun, wenn ich schon hier bin, dann will ich mir die Blutspender ansehen, die Shebar für Neuatlantis gesammelt hat. Führe mich zu den Verliesen, Sklave!« Der Jagdsklave verbeugte sich tief, dann setzte er sich, rückwärtsgehend und Dragon immer das Gesicht zuwendend, in Bewegung. Dragon prägte sich die Gegebenheiten genau ein und er hatte auch seinen Gefährten aufgetragen, sich alles genau anzusehen. Der Gang führte wenige Schritte geradeaus, dann machte er einen Knick. Hier verbreiterte er sich und verlor sich in der Dunkelheit. Der vordere Teil des breiten Ganges wurde von einem halben Dutzend Öllampen er83
hellt. Es gab nur eine einzige, schwere, eisenbeschlagene Tür. Dort klopfte der Wachtposten, Die Tür ging auf, und Dragon blickte in einen Wachraum, in dem sich einige Jagdsklaven aufhielten. Als sie ihn erblickten, sanken sie erschrocken auf die Knie. »Ich will euch nicht kontrollieren«, beruhigte Dragon die Wachen, »sondern mir nur einmal die Sklaven ansehen,« Dann blickte er sich stirnrunzelnd um. »Untersteht ihr nicht einem Blutjäger?« »Doch, Herr«, versicherte der Sprecher der Wachen. »Es ist immer einer der Blutjäger hier. Nur jetzt nicht, weil auch der Wachhabende an dem Blutfest Euch zu Ehren teilnimmt.« »Zeigt mir die Gefangenen«, verlangte Dragon. »Wieviele sind es denn?« »Sechshundert, Herr. Sie alle sollen mit dem nächsten Schiffstransport nach Neuatlantis verschickt werden. Es sind einige Prachtexemplare dabei, mit denen die hohen Herren ihre Freude haben werden.« Der Oberaufseher geleitete Dragon und seine Begleiter durch einen Gang, der vom Wachraum weiterführte und schließlich in einem weitläufigen Gewölbe endete. Dragon hielt unwillkürlich den Atem an, als er sich auf einer Plattform befand und in das Labyrinth hinunterblickte, durch das die Gefangenen in endloser Reihe wanderten. Auf den Stegen darüber standen insgesamt drei Jagdsklaven, die die armen Teufel in den Irrgängen darunter mit Peitschen antrieben. Insgesamt waren demnach zehn Jagdsklaven als Wachen abgestellt. Das Gewölbe war erfüllt vom Stöhnen und Keuchen der Gefangenen. Gelegentlich knallte die Peitsche. Und über allem lag das Tapsen Hunderter von nackten Füßen auf dem Fels. 84
Wenn einer der Gefangenen vor Ermüdung eine Rast einlegen wollte, wurde er von den Nachkommenden vorwärtsgedrängt, die ihm nicht ausweichen konnten, weil die Gänge dafür zu eng waren. Wenn einer der zehn Wächter Erschöpfungserscheinungen bei einem Gefangenen feststellte, so sonderte er ihn von den anderen ab und ließ ihn in einer der eigens dafür vorgesehenen Nischen ausruhen. Und das ging so vor sich: Der Wachtposten bediente einen Hebel, woraufhin ein Teil der Steinwand herumschwenkte, so daß der Gang versperrt wurde und eine Öffnung entstand, in die der erschöpfte Gefangene ausweichen mußte. Hatte er sich in die Ruhenische begeben, wurde diese wieder geschlossen, und die anderen Gefangenen konnten ihren Weg fortsetzen, »Wir halten sie in Trab, damit ihr Blut nicht zu träge wird und nicht seine Würze verliert«, erklärte der Oberaufseher. »Ist dies der einzige Zugang?« fragte Dragon. »Oder gibt es noch einen zweiten, durch den ihr die Gefangenen in die Irrgänge bringt?« »Wir stoßen sie einfach von dieser Plattform in die Tiefe«, erklärte der Jagdsklave, »Sie fallen immer weich. Es gibt wohl noch einen zweiten Zugang, durch den die Gefangenen aus dem Labyrinth geholt werden. Aber der ist versperrt, und den Schlüssel dazu besitzt Quampas.« »Ich habe genug gesehen«, sagte Dragon und wandte sich ab. Als sie durch den Gang zurück in den Wachraum gingen, kamen sie auch an einer versperrten Tür vorbei. »Hinter dieser Tür liegt eine Treppe, die zum Verlies hinunterführt«, erklärte der Jagdsklave. »Und zu dieser Tür hat nur Quampas den Schlüssel.« 85
Also konnte man nur ins Verlies, wenn man den Wachraum passierte. Dragon seufzte. Es würde nicht leicht sein, die Sklaven zu befreien. Aber er hatte noch viel Zeit, um einen Weg zu finden, seinen Plan zu verwirklichen. Es würde sich schon noch eine Gelegenheit finden. Er kehrte mit seinen Kameraden zurück in die verlassenen Gänge, von denen einige in das kaum erforschte unterirdische Reich, von Burg Shebar führten. Dragon drückte die brennende Fackel gegen die Wand und beschrieb einen Kreis, so daß flüssiges Pech eine dunkle Spur hinterließ. »Damit wir den Weg zurück finden«, erklärte er sein Tun. »Denn jetzt kommen wir in ein Gebiet, über das es auf Quampas‘ Plänen keine Angaben gibt. Haltet euch bereit, meine Freunde. Denn wer weiß, welche Überraschungen hier auf uns warten.« »Du hast doch nicht etwa Angst vor der Blutprinzessin Wyzeila«, meinte Ubali spöttisch. Er hatte sich das lange, krause Haar im Nacken zu einem Knoten geschlungen, damit es ihm nicht ständig ins Gesicht fiel. »Das sind doch nur Legenden, dazu angetan, ängstliche Jungfrauen zu erschrecken. He, Schlangentöter, wo bist du denn mit deinen Gedanken?« »Ich weiß es«, meinte Thamai lächelnd und stieß den jungen Padoka mit dem Ellenbogen an, der daraufhin erschrocken zusammenzuckte und unwillkürlich nach dem Dolch griff. Thamai lachte. »Er hat mit offenen Augen geträumt. Sicherlich von Waldblume, der Lieblingssklavin des Schlüsselherrn.« Schlangentöter schlug betroffen die Augen nieder, seine Backenmuskeln zuckten, und es schien fast so, als 86
würde sein dunkles Gesicht noch dunkler und glühe in einem tiefen Rot. »Auch mir ist es nicht entgangen, daß du nur Augen für das Kanuk-Mädchen hattest, Schlangentöter«, sagte Dragon. »Das kann für dich sehr gefährlich werden. Du solltest dich weniger für sie interessieren.« »Ich werde sie befreien«, sagte Schlangentöter daraufhin fest. Das überraschte selbst Dragon. »Soweit ist es schon mit dir? Dabei hast du nicht einmal ein einziges Wort gewechselt.« »Doch, das habe ich«, behauptete der junge Padoka. »Als ihr gegangen wart, habe ich auf Waldblume gewartet und ihr noch einmal in Worten gesagt, was ich ihr vorher schon in der Fingersprache meines Volkes mitteilte. Ich schwor ihr Rettung.« »Damit hast du uns womöglich sogar alle in Gefahr gebracht«, sagte Dragon. »Du hast doch gesehen, daß das Mädchen Quampas treu ergeben ist. Sie wird dich verraten.« »Nein«, sagte Schlangentöter fest. »Sie ist eine Taquira. Und die Taquiras sind ein Nachbarstamm der Padokas und mit ihnen befreundet. Waldblume würde einen Freund nie verraten. Sie haßt Quampas.« »Das hast du alles erfahren?« staunte Dragon. »Es hatte allerdings nicht den Anschein, daß sie den Schlüsselherrn haßt.« »Sie hat sich mir anvertraut«, erklärte Schlangentöter. »Sie erzählte mir mit ihren Händen, daß sie vor einem Jahr von Sklavenhändlern geraubt und an Quampas verkauft wurde. Damals zählte sie fünfzehn Sommer. Quampas raubte ihr die Unschuld und machte sie zu seiner Leibsklavin, um sie nicht nach Neuatlantis verschicken zu müssen. Waldblume zeigte ihm nie, wie sie 87
litt und wie sie ihn haßte. Sie wartet geduldig auf den Tag ihrer Rache.« »Das ist alles gut und schön«, sagte Dragon. »Aber du solltest dennoch vorsichtiger sein. Du hast ihr doch nichts über uns erzählt, Schlangentöter?« Der junge Padoka gab keine Antwort. »Schlangentöter!« Der Padoka blieb stehen, sah Dragon in die Augen. »Ich kann Waldblume voll vertrauen«, sagte er. »Sie ist von nun an unsere Verbündete. Sie wird uns helfen, Burg Shebar zu erobern.« Das kam dem Geständnis gleich, daß Schlangentöter der Geliebten und Vertrauten des Schlüsselherrn Quampas alles über sie erzählt hatte. Dieser verliebte Narr! Hoffentlich wurde er von der Taquira nicht enttäuscht, denn sonst waren sie alle verloren. »Glaubst du mir nicht, daß ich recht gehandelt habe, Geist des Großen Vogels?« fragte Schlangentöter, als Dragon schwieg. »Was geschehen ist, läßt sich ohnehin nicht mehr ändern«, meinte Dragon seufzend. »Hoffen wir nur, daß Waldblume dein Vertrauen nicht mißbraucht.« »Sie liebt mich!« Überschreitet die Grenze zu meinem Reich. Kommt in das Land des Friedens und der Freude. Wyzeila erwartet euch voll Sehnsucht.. Schlangentöter, Ubali und Thamai verhielten plötzlich den Schritt. »Was ist mit euch los?« fragte Dragon. »Warum geht ihr nicht weiter?« »Wir kommen schon«, sagte Ubali. »Wir folgen Wyzeilas Ruf!« sagte Thamai. »Wyzeilas Ruf?« wiederholte Dragon erstaunt. 88
»Hast du denn ihre liebliche Stimme nicht gehört?« fragte Schlangentöter mit verklärtem Gesicht. »Sie weist uns den Weg in das Land der Freuden.« Dragon hielt es für ratsamer, zu schweigen. Er erkannte sofort, daß es keinen Sinn hatte, die Freunde mit Gewalt zurückzuhalten. Eine fremde, unheimliche Macht hatte sie in ihren Bann geschlagen. Dragons Sonnenamulett begann in unregelmäßigen Abständen aufzuflammen. »Hört ihr Wyzeila rufen?« fragte Thamai mit entrückter Stimme. Aber Dragon hörte es nicht. Dennoch folgte er den Gefährten. »Es ist ein Land, schöner als Vitus Garten«, behauptete Ubali. Dragon sah nur eine verschlammte Felshöhle, von deren Wänden Wasserbäche flossen. Er stand bis über die Knöchel im Schlamm, in dem sich seltsames Leben, halb Tier und halb Pflanze, wand. Es stank fürchterlich. »Vom weiten Himmel Talahassets her weht uns der Wind berauschende Düfte zu«, schwärmte Schlangentöter. »Der Garten blüht, das Wild ist zahm ... vollendetes Glück.« Die Höhle weitete sich aus, war auf einmal so groß, daß der ganze Stamm der Padokas hier lagern konnte. Nein, mehr noch, zehn Stämme hätten in der Höhle Platz gefunden. Sie war groß genug für tausend Tipis ... »Da kommen unsere Freunde«, rief Thamai. »Wyzeila schickt uns ihre Kinder ... unsere Brüder.« Aus dem Blasen werfenden, faulig stinkenden Schlamm erhoben sich einige Gestalten. Ihre Haut war so grau wie der Schlamm, ihre Gesichter die von vertrockneten Mumien. Ihre Augen waren leer. Aus ihren 89
zerfressenen Kehlen drangen schaurige Laute. »Wie herrlich sie uns zur Begrüßung singen«, sagte Ubali ergriffen. Es waren insgesamt drei Dutzend dieser Schlammgestalten, die sich erhoben hatten. Doch nun sanken alle wieder in den Schlamm zurück, der platschend über ihren Köpfen zusammenschlug. Nur drei von ihnen waren übriggeblieben. Sie sahen noch am menschlichsten aus, ihre Körper waren noch nicht so zerfressen wie die der anderen, aber längst schon blutleer. In ihren großen tiefen Augenhöhlen lagen unförmige, schwarzgeäderte weiße Klumpen. Das war von ihren Augen verblieben. Dragons Amulett pulsierte wieder stärker. »Was sagt Wyzeila?« fragte er. »Sie schickt uns die Lotsen, denen wir folgen sollen«, antwortete Ubali und reckte seinen muskulösen Körper. Die drei Untoten machten mit den Armen rudernde Bewegungen, als winkten sie ihnen. Dragon konnte an ihnen immerhin noch genügend Einzelheiten erkennen, um ihre Abstammung zu erahnen. Das eine war zweifellos ein Melnike, der Merkmale der Dalaugiri an sich hatte. Die beiden anderen waren Eingeborene, wahrscheinlich ehemalige Krieger der Kanuks – der eine groß und vor dem muskulös, der andere schlank: ein Jüngling. »Wir folgen euch, Gemmon, Donnerfaust und Saures Blut«, verkündete Schlangentöter feierlich. Dragon hörte über sich ein Geräusch. Er mußte an sich halten, um nicht sofort Abwehrstellung einzunehmen, als er ein fliegendes Ungeheuer auf sich niederstoßen sah. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Hossa, zumindest was die krallenbewehrten Flügel betraf. Doch war der Körper nicht der einer Schlange, sondern 90
der eines Vogels, mit Schuppen statt Federn und einem langen, messerscharfen Schnabel. Das fliegende Untier segelte über ihre Köpfe hinweg und stieß schaurige Krächzlaute aus, bevor es sich wieder in die Höhe schwang und zu seinem Horst an der Decke der Höhle hinaufflog. »Der Liebesvogel«, rief Ubali und nahm Thamai an der Hand. Dragon stapfte hinter seinen Kameraden durch den Schlamm. Die drei Untoten bildeten die Spitze. Gelegentlich drehten sie sich um und gaben Laute von sich, von denen einige Silben an das Neuatlantische erinnerten, das man auf den Blutburgen sprach. Sicherlich waren ihre Sprechorgane von der fortschreitenden Verwesung bereits so zerfressen, daß sie sich nicht mehr artikulieren konnten. Endlich erreichten sie das andere Ende der Höhle. Vor einer dunklen Öffnung hielten sie an. Dragons Amulett begann nun zu glühen, als sei in ihm ein unlöschbares Feuer entflammt. Und auf einmal vernahm auch er die lautlose Stimme Wyzeilas, der Blutprinzessin von Shebar. Die Herrscherin der Unterwelt! Willkommen, meine Freunde ... in meinem Reich ... meine Untertanen ... laßt euch umarmen ... Aus der Höhle kam der Schädel einer Schlange. Er war so groß wie der Schädel eines Pferdes – und dahinter folgte ein Schlangenleib, so dick, daß ein ausgewachsener Mann ihn nicht umfassen konnte. Die lautlose Stimme ging von dieser Schlange aus. Dragon hörte sie wieder, aber er war ihr nicht verfallen. Er vermutete, daß ihn sein Amulett vor der suggestiven Kraft bewahrte.
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Nun seid ihr bei Wyzeila, der gnädigen Blutprinzessin, die alle Verlorenen bei sich aufnimmt und ihnen durch ihren Kuß einen Platz in der Ewigkeit zuweist. Die Schlange besaß eine blaue und grüne Schuppenhaut, die gelb gesprenkelt war. Die Farben leuchteten, vermischten sich miteinander und spannen sich zu wunderschönen Mustern. Dragon mußte sich abwenden, um nicht von dem faszinierenden Farbenspiel gefangengenommen zu werden. Jetzt war die Schlange bereits halb aus der Höhle. Sie ringelte sich um Schlangentöter und Ubali. Der lange, dünne Schwanz kam aus dem Dunkel der Höhle geschossen und schlang sich um Thamais Körpermitte. Plötzlich stieß der dreieckige Kopf der Schlange auf Dragon zu, das Maul wurde aufgerissen und drohte, nach ihm zu schnappen. Doch im letzten Augenblick zuckte die Schlange zurück. Das Sonnenamulett! hörte Dragon die lautlose Stimme in seinem Geist. Das zeichnet dich als einen von jenen Verfluchten aus, die mich in die Unterwelt verdammt haben. Fühle dich durch das Amulett nur nicht zu sicher. Ich bekomme auch dich! »Ist es wahr, daß du, die Schlange, die Blutprinzessin Wyzeila bist?« fragte Dragon, um Zeit zu gewinnen. Die Schlange zischte ihn an. Siehst du wirklich eine Schlange vor dir? Frage deine Freunde, sie erblicken Wyzeila, die schöne Blutprinzessin. Sie sehen mich so, wie ich einmal war. Ja, und ich lebe auch in dieser Schlange weiter. Ich könnte dich verschlingen, dann würdest auch du in diesem Schlangenkörper weiterleben. Aber du bist einer von den Verfluchten, denen ich die Unsterblichkeit in meinem Körper nicht gewähren will. Ich will nur dein Blut, packt ihn! 92
Dragon war auf alles gefaßt, nur nicht darauf, daß er plötzlich von den Untoten attackiert werden würde. So kam seine Gegenwehr viel zu spät. Blutleere Arme, in denen die Kraft von Dämonen lag, packten ihn und hielten ihn fest. Nehmt ihm das Amulett weg, ihr könnt es. Und öffnet ihm mit seiner eigenen Waffe den Körper. Ich will zuerst sein Blut. Sein Fleisch gehört euch! Die Untoten gaben, in Vorfreude auf das bevorstehende Mahl, gierige Schmatzlaute von sich. Ihre krallenähnlichen Hände zerrten an Dragons Amulett. Einer von ihnen holte sein Schwert aus der Scheide. Als Dragon sah, wie der Untote Almunir gegen ihn erhob, das durch Vitus Kraft zu einem »Verhüter des Unrechts« gemacht worden war, entspannte er sich etwas. Der Untote holte zum Schlag aus – da begann Almunir zu glühen. Die Glut des Schwertes griff auf den Blutleeren über, der im nächsten Atemzug in Flammen gehüllt war. Brüllend ließ er das glühende Schwert fallen und stürzte in das Maul der Schlange. Dragon nutzte diesen Augenblick, um sich aus dem Griff der beiden anderen Untoten zu befreien und Almunir, das in seiner Hand keine Hitze ausstrahlte, wieder an sich zu bringen. Mit einem einzigen Streich fällte er die Untoten. Die Schlange vor Dragon wand sich, während sie versuchte, das brennende Etwas in ihrem Maul von sich zu schleudern. Ihr Körper zog sich zusammen, wurde an manchen Stellen so dünn, wie der Oberschenkel eines Mannes, blähte sich dann aber wieder auf. Dragon schlug mit dem Schwert zu, doch stieß er immer wieder ins Leere. »Ubali!« Der dunkelhäutige Krieger schüttelte sich, so als wolle er seine Benommenheit vertreiben. Er taumelte, sack93
te zusammen und mußte sich aufstützen, um nicht hinzufallen. »Ubali, komm zu dir, solange dieses Ungeheuer keine Gewalt über dich hat!« schrie Dragon ihm zu, während er das Schwert auf den Schädel der Schlange hieb, wo es eine tiefe Wunde hinterließ. Der Schlange war es endlich gelungen, den brennenden Untoten auszuspeien. Als ihr Schädel jetzt mit weit geöffnetem Rachen in die Höhe schoß, stieß Dragon sein Schwert bis zum Schaft in ihren Leib. Grünliches Blut quoll aus der Wunde, als Dragon die Klinge wieder herauszog. Ubali war inzwischen wieder auf die Beine gekommen. Er hörte Thamais Schmerzensschrei, sah, wie ihr Körper von der sich in die Länge dehnenden Schlange umschlungen war. Schlangentöter war ebenfalls aus dem Bann des Reptils ausgebrochen. Er klammerte sich an den hin und her pendelnden Schwanz und stieß unablässig mit dem Dolch darauf ein. Dragon trieb Almunir immer wieder in den Schlangenkörper. Ubali wollte im ersten Moment Thamai zu Hilfe eilen. Doch dann entschloß er sich anders. Wenn er ihr helfen wollte, dann mußte die Schlange schnell getötet werden. Und das gelang nur, wenn man ihren Schädel traf. Als die Schlange ihren Körper wieder zusammenzog und dünner wurde, sprang Ubali sie an der Stelle an, wo ihr Schädel in den Leib überging. Die Schlange war jetzt so dünn, daß er sie mühelos mit beiden Händen umfassen konnte. Er drückte ihren Hals mit aller Kraft zusammen und zwang sie so, den dreieckigen Kopf zu neigen. Auf diesen Moment hatte Dragon gewartet. Er umfaßte Almunir mit beiden Händen. Als sich der Schädel der 94
Schlange nun vor ihm senkte, ließ er das Schwert niedersausen. Er hatte seine ganze Kraft in diesen Schlag gelegt – und die Klinge bohrte sich tief in den Kopf der Schlange, spaltete ihn förmlich. »Ubali! Achtung!« Diese Warnung kam von Thamai. Als Ubali den Kopf hob, tauchte dort der ungeheuerliche Vogel auf, der schon beim Betreten dieser Höhle über ihnen Kreise gezogen hatte. Ubali duckte sich ab, wich geschickt dem langen Schnabel mit den messerscharfen Zähnen aus, der nach ihm schnappte. Doch dabei rutschte er in dem glitschigen Blut der Schlange aus und fiel hin. Er wälzte sich flink auf den Rücken, um sich wenigstens der nächsten Attacke des Vogels mit den Händen erwehren zu können. Doch dazu kam es nicht mehr. Als der Vogel wieder auf ihn niederstieß, flog plötzlich etwas durch die Luft und bohrte sich in den Hals des fliegenden Ungeheuers. Ais der Vogel zu Ubalis Füßen seinen Todeskampf ausfocht, da sah er, daß ihm Schlangentöters Dolch aus dem Hals ragte. Die Schlange war tot. Sie regte sich nicht mehr. Damit war auch der Geist der Blutprinzessin Wyzeila erloschen, der diese Riesenschlange beseelt hatte. »Jetzt aber nichts wie weg von hier, bevor sich alle Ungeheuer der Unterwelt gegen uns zusammenrotten«, befahl Dragon. Da er als einziger nicht von Wyzeila verblendet worden war, kannte nur er den Weg zurück. Die anderen folgten ihm durch den Schlamm, der zu gären begann und dem giftige Dämpfe entstiegen. Aber noch bevor einer von ihnen durch die Dämpfe zu Schaden kam, erreichten sie das Ende der Höhle.
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Von hier fanden sie, dank Dragons weiser Voraussicht, überall Markierungen anzubringen, schnell den Weg in die oberen Regionen von Burg Shebar. Dort suchten sie ihre Unterkünfte auf, die, wie es Dragon von Quampas verlangte, alle an sein Gemach grenzten. Abschließend trug Dragon den Gefährten auf: »Am besten erzählt ihr niemandem etwas von unseren Erlebnissen in der Unterwelt. Wie sich gezeigt hat, ahnen die Burgbewohner zwar etwas über die Verhältnisse dort unten, aber sie wissen nichts Genaues. Und das können wir uns vielleicht zunutze machen. Quampas soll vorerst nicht wissen, daß wir Wyzeila vernichtet haben. Davon auch kein Wort zu Waldblume, Schlangentöter!« Der junge Padoka nickte schweigend. Dragon fühlte sich bemüßigt, hinzuzufügen: »Und daß du nicht auf die Idee kommst, einen nächtlichen Ausflug zu ihrer Kemenate zu unternehmen. Vermeide einstweilen alles, was Quampas gegen dich aufbringen könnte. Ich habe einen Plan, und wenn er sich durchführen läßt, dann bekommst du noch früh genug Gelegenheit, dem Schlüsselherrn heimzuzahlen, was er deiner Waldblume antat.« »Du schenkst Waldblume demnach auch dein Vertrauen?« fragte Schlangentöter hoffnungsvoll. »Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Dragon. »Ich kann mir über sie noch kein Urteil bilden. Aber vielleicht bietet sich mir eine Gelegenheit, sie näher kennenzulernen.« Diese Gelegenheit bot sich ihm am nächsten Tag, allerdings unter recht seltsamen Begleitumständen.
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8.
Quampas träumte davon, einmal die prachtvollen Paläste von Neuatlantis betreten zu dürfen, bei den sagenhaften Blutfesten der edlen Herrschaften als stiller Beobachter und Genießer dabei zu sein und dem Allergnädigsten Herrscher den Blutkelch reichen zu dürfen ... Aber in diesem Punkt stimmte sein Traum nicht. Denn Vodor war kein Bluttrinker, sondern zweifellos ein Lebenstrinker. Quampas hatte keine rechte Vorstellung davon, was ein »Lebenstrinker« war, ebensowenig wie er sich ein wirklichkeitsgetreues Bild von den Verhältnissen auf Neuatlantis machen konnte. Er mußte sich mit dem begnügen, was er aus Erzählungen erfuhr, oder aus Andeutungen Shebars, die dieser über das Leben auf Neuatlantis machte, wenn er von den dortigen Blutfesten zurückkam. Immer wenn die Schiffe von der geheimnisvollen Insel eintrafen, um Versorgungsgüter zu bringen und die Gefangenen abzuholen, versuchte Quampas, die Seeleute auszufragen, um sein Wissen über das Leben und Treiben auf Neuatlantis zu bereichern. Doch viel wollten oder konnten auch sie ihm nicht sagen. So entstand für Quampas ein Bild von einer verlockenden Welt, das er sich aus Dichtung und Wahrheit, aus Träumen, Sehnsüchten und Wunschvorstellungen malte. Er sah eine Welt, in der die Götter lebten. Oder zumindest gottgleiche Wesen, weil sie keine menschliche 97
Begierden kannten. Und auch nicht dem Blut verfallen waren, wie die gemeinen Blutjäger. Das waren die Lebenstrinker. Die wahren Herrscher von Neuatlantis mit Vodor an der Spitze. Und ein solcher war zu Gast auf Burg Shebar. Quampas‘ erste Vermutungen, daß Dragon zu dieser auserwählten Kaste von göttlichen Neuatlantern gehörte, fand beim Blutfest, das der Schlüsselherr ihm zu Ehren gegeben hatte, ihre Bestätigung. Dadurch nämlich, daß Dragon das ihm angebotene Blut ablehnte. Welcher Neuatlanter hätte dieser Versuchung denn schon standhalten können – außer einem Lebenstrinker! Nein, Dragon brauchte kein Blut von Spendern, denn er holte sich ihr Leben. Er strotzte förmlich vor Kraft und Tatendrang und schien die ewige Jugend gepachtet zu haben. Und woher holte er sich dies alles? Dragon selbst hatte Quampas die Antwort gegeben, als er seine drei Sklaven, die er wie seinesgleichen behandelte, als »Lebensretter« bezeichnete. Aus den Erzählungen der Seeleute, die mit den Versorgungsschiffen von Neuatlantis kamen, wußte Quampas, daß die zur Kaste der Lebenstrinker gehörenden hohen Herrn ihre Opfer nur zu gerne als »Lebensspender« und »Lebensbringer« und sogar als »Lebensretter« bezeichneten. So wie Dragon seine Sklaven. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß Dragon ein Lebenstrinker war, Quampas ging sogar noch weiter in seinen Vermutungen. Er glaubte zu wissen, daß Dragon ein ganz Besonderer aus dieser Kaste der Auserwählten war. Er hieß in Wirklichkeit ganz anders und reiste nur unter falschem Namen. Sein wirklicher Name war Vodor. So mußte es sein! Denn sagte man sich nicht, daß Vodor ein weitgereister 98
Herrscher war, der fremde, unbekannte Länder aufsuchte und sich seine Sklaven von dort holte? Vodor mußte auch ein Land der Schwarzen Menschen gefunden haben, aus dem er sich seine »Lebensretter« Ubali und Thamai mitgebracht hatte. Vodor, der Herrscher von Neuatlantis, zu Gast auf Burg Shebar! Quampas machte sich, wie er glaubte, berechtigte Hoffnungen, eine Einladung nach Neuatlantis zu bekommen, wenn er Dragon mit besonderem Vorzug behandelte. Natürlich schloß der Schlüsselherr nicht aus, daß Dragon vielleicht gar nicht Vodor war. Deshalb wollte er sich Gewißheit verschaffen. Schon am nächsten Tag sprach er bei Dragon vor. Er hoffte, ihn während eines Gespräches ausfragen zu können und so mehr über ihn zu erfahren. Doch Dragon ließ durch seine »Lebensretter« bestellen, daß er nicht zu sprechen sei, weil er sich dem Studium uralter Aufzeichnungen widmen müsse, die er bei seinem ersten Vorstoß in die Unterwelt von Burg Shebar gefunden hatte. Deshalb hielt sich Quampas an die Sklaven. Zuerst versuchte er sein Glück bei Thamai, da, wie er sich einbildete, seine offenkundige Männlichkeit bei Frauen aller Völker besonderen Eindruck machte. Doch Thamai war ihm gegenüber äußerst verschlossen, ja, geradezu abweisend – und drohend. Sie würde es Dragon melden, sagte sie, wenn er noch einmal versuche, sich ihr ungebührlich zu nähern. So sprach eine Sklavin zu ihm, dem Schlüsselherrn und Stellvertreter des Obersten Blutjägers Shebar! Quampas machte sich daraufhin an Ubali heran. Der schwarzhäutige Hüne ließ sich gerne den halben Tag durch die Burg führen und war auch von dem Gesehe99
nen beeindruckt, doch antwortete er auf keine der Fragen, die seinen Herrn betrafen. Der Schlüsselherr hätte sein Glück nun noch bei dem letzten »Lebensretter« versuchen können. Doch fand er es doch unter seiner Würde, sich mit einem Kanuk anzubiedern. Trotz seiner ersten Mißerfolge wollte Quampas seine Versuche, die Wahrheit über Dragon herauszufinden, nicht aufgeben. Zuerst dachte er daran, Dragon beobachten zu lassen, ihn zu belauschen, wenn er sich mit seinen »Lebensspendern« allein wähnte. Vielleicht lüftete er sein Geheimnis in ihrer Gegenwart. Doch das wagte Quampas auch wieder nicht. Wenn Dragon davon erfuhr, daß er ihn bespitzeln ließ, konnte ihn das den Kopf kosten. Die rettende Idee kam ihm, während er sich mit Waldblume auf seinem Lager räkelte. Seit einem Jahr nun schon bereitete sie ihm Stunden unbeschreiblicher Wonnen – und er wurde ihrer nicht überdrüssig. Er behütete sie so eifersüchtig wie seinen wertvollsten Schatz. Und er war sich ihrer Liebe und Treue völlig sicher. »Waldblume«, sagte er, »würdest du zu einem anderen so zärtlich sein wie zu mir, wenn ich es dir befehle?« »Ich gehorche allen deinen Befehlen«, sagte sie demütig. »Aber wenn du das von mir verlangst, würde ich in den Tod gehen. Denn wenn du auf den Gedanken kommst, mich mit einem anderen zu teilen, dann wäre das der Beweis für mich, daß du mich nicht mehr liebst.« Was war sie doch vor einem Jahr für eine widerspenstige Raubkatze gewesen – und wie zahm und anhänglich sie jetzt war! 100
»Das sind schöne, aber falsche Worte, Waldblume«, sagte er. »Wie kannst du nur glauben, daß ich dich belüge«, empörte sie sich. »Ganz einfach, weil du dir auch nicht das Leben nahmst, als ich dich bat für ein Blutfest lang Shebar zu gehören«, hielt er ihr entgegen. »Das war etwas ganz anderes«, verteidigte sie sich. »Der Burgherr nahm sich nichts von mir, was dir gehört, Quampas. Er rührte meinen Körper nicht an, sondern trank nur mein Blut.« »Siehst du, meine liebliche Waldblume. Und diesmal verlange ich auch nur, daß du einem hohen Gast etwas von dir gibst, was ich mir nicht holen kann. Dragon soll von deinem jungen Leben trinken dürfen, sich an deiner Frische berauschen – und trotzdem wirst du als Unberührte zu mir zurückkehren.« »Und wenn er mich verstößt?« fragte Waldblume zitternd. »Das wird nicht geschehen. Denn dir könnte nicht einmal ein Gott widerstehen.« Waldblume suchte bei Sonnenuntergang Dragons Gemach auf – und kehrte erst bei Sonnenaufgang zu Quampas zurück. Sie machte auf den Schlüsselherrn einen solch erschöpften Eindruck, als hätte man ihr den größten Teil ihres Lebens ausgesaugt. Sie schien nicht einmal mehr die Kraft zu besitzen, seine einfachsten Fragen zu beantworten. Und so ließ er ihr die verdiente Ruhe und wartete sehnsüchtig darauf, daß sie aus ihrem Erschöpfungsschlaf erwachte, damit sie ihm erzählen konnte, was sie über den Lebenstrinker erfahren hatte.
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Waldblume zitterte am ganzen Körper, als sie vor der prunkvollen Tür stand, die in das Gemach des Burgherrn führte, das der »hohe Gast aus Neuatlantis« mit Beschlag belegt hatte. Sie fürchtete sich vor ihm, obwohl Schlangentöter ihr in wenigen Worten versichert hatte, daß er ein Freund der Kanuks sei. Aber selbst wenn dem so war – würde er auch darauf verzichten, ihr Leben zu trinken? Noch vor zwei Tagen hätte sie sich in ein solches Schicksal gefügt. Doch dann war Schlangentöter in ihr Leben getreten – und plötzlich kostete sie selbst das Überwindung, was sie ein Jahr lang geduldig hingenommen hatte: Wenn Quampas, dieses verhaßte Scheusal, sie umarmte, dann hätte sie am liebsten seinen Dolch gezogen und ihn ihm in den Leib gerannt. Sie konnte Quampas‘ Nähe nicht länger mehr ertragen. Aber Schlangentöter hatte ihr gesagt, daß sie noch ein wenig Geduld haben müßte. Waldblume öffnete die Tür. Als sie Schlangentöter vor sich sah, empfand sie unsägliche Erleichterung. Schnell schloß sie die Tür hinter sich. Er eilte ihr entgegen, legte den Arm um sie, und sie legte ihren Kopf an seine Brust. Der schwarze Riese und seine Gefährtin sprangen von ihren Plätzen hoch. Aus dem Hintergrund trat Dragon, der Lebenstrinker mit dem Sonnenamulett auf der Brust. Sie alle schienen von ihrem Erscheinen gleichermaßen überrascht und betroffen. »Waldblume, wie konntest du es nur wagen, hierher zu kommen«, sagte Schlangentöter mit sanftem Tadel. »Du weißt, wie gefährlich das ist. Wenn Quampas ...« »Der Schlüsselherr selbst hat mich geschickt«, sagte sie schnell und warf Dragon einen scheuen Blick zu. Als 102
sie aller Augen fragend auf sich gerichtet sah, erklärte sie, an Dragon gewandt: »Quampas bietet dir an, soviel von meinem Leben zu trinken, wie es dich gelüstet ...« Dann versagte es ihr die Stimme. »Ich verstehe.« Dragon schluckte. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. »Beruhige dich wieder, Waldblume. Du hast von mir nichts zu befürchten. Hat dir Schlangentöter nicht gesagt, daß ich nicht der bin, für den ich mich ausgebe?« Das dunkelhäutige Mädchen nahm Waldblume aus Schlangentöters Armen und führte sie zu einem Lager aus losen Kissen. Dabei redete sie beruhigend auf Waldblume ein. »Dragon wird dir nichts tun«, sagte sie immer wieder. »Und bald wird dir auch Quampas nichts mehr anhaben können. Schlangentöter hat uns von deinem Leid erzählt. Er hat gelobt, deinen Schutz zu übernehmen.« Waldblume blickte zu dem jungen Padoka auf. Er nickte bekräftigend und mit entschlossenem Gesicht. Da erst beruhigte sie sich. Sie wußte, solange Schlangentöter bei ihr war, hatte sie nichts zu befürchten. Dragon setzte sich zu ihr. Jetzt, da sie ihm so nahe war, ihm in die Augen blickte, erkannte sie, daß er anders war, als die anderen Neuatlanter. Er besaß deren Hautfarbe und das gleiche Haar, doch mehr hatte er nicht mit ihnen gemein. Wie hatte sie sich nur vor diesem Mann fürchten können? Auf einmal flößte er ihr nicht mehr Furcht, sondern Vertrauen ein. »Willst du uns helfen, Waldblume, diese Burg zu erobern, die Blutjäger zu verjagen und euer Volk zu befreien?« fragte er sie. Und dann erzählte er ihr all das in ausführlichen Worten, was Schlangentöter in der Zeichensprache bereits angedeutet hatte: daß sich die Krie103
ger der Kanuks zu einem großen Heer vereinen würden, um wie einst unter der Führung des Großen Vogels gegen die Blutburgen zu ziehen, daß Dragon die Gefangenen von Burg Shebar befreien wollte, um die Blutjäger und deren ergebene Jagdsklaven niederzuringen. »Wenn du uns dabei helfen willst, Waldblume«, endete Dragon, »dann mußt du uns alles erzählen, was du über die Gegebenheiten auf der Burg weißt. Wie die Wachen verteilt sind, wie stark die Wehranlagen besetzt sind, wo die Schlüssel zu den Verliesen sind.« »Es gibt nur einen einzigen Schlüssel, und den trägt Quampas immer bei sich«, erklärte Waldblume. Sie lächelte. »Aber mit etwas Glück könnte es mir gelingen, ihn unbemerkt an mich zu bringen. In meinen Armen vergißt Quampas, was um ihn vorgeht.« »Du wirst dich von diesem verfluchten Quesa nie mehr berühren lassen, oder ich töte dich mit ihm«, rief Schlangentöter dazwischen. Waldblume warf ihm einen verklärten Blick zu. So sprach nur ein Krieger, der wirklich liebte. »Nur nicht gleich die Fassung verlieren, Schlangentöter«, sprach Dragon dem heißblütigen Padoka zu. »Wir finden schon noch einen Weg, um Quampas auszuschalten.« »Ihr müßt ihn mir überlassen«, verlangte Waldblume, und ihr schönes Gesicht verzerrte sich bei diesen Worten vor Haß. »Er soll durch meine Hand sterben. Dieses Recht darf mir niemand streitig machen, oder ...« »Gut, gut«, meinte Dragon beschwichtigend. »Bevor es aber soweit ist, gibt es eine Reihe wichtiger Dinge zu klären. Immerhin haben wir noch bis zum nächsten Vollmond Zeit.« »Wenn ihr die Gefangenen retten wollt, dann nicht«, widersprach Waldblume. »Denn die Schiffe, die alle 104
Blutspender nach Neuatlantis bringen sollen, werden in den nächsten Tagen erwartet.« »So bald schon!« entfuhr es Dragon überrascht. Diese Eröffnung machte alle seine Pläne zunichte. Er hatte damit gerechnet, daß er von den Kriegern der Kanuks von außen unterstützt würde, wenn er innerhalb der Burg den Aufstand der Gefangenen organisierte. So lange konnten sie nun nicht mehr warten. Nicht nur, weil der Transport der Gefangenen unmittelbar bevorstand, sondern weil er Gefahr lief, beim Einlaufen der Schiffe von den Seeleuten entlarvt zu werden. Von ihnen würde Quampas unweigerlich erfahren, daß er, Dragon, weder ein Abgesandter des Herrschers war, noch daß ein solcher überhaupt von Neuatlantis ausgeschickt worden war. »Wir müssen rasch handeln«, sagte Dragon. »Schon morgen soll die Entscheidung fallen. Eine andere Wahl haben wir nicht.« Sie saßen noch bis tief in die Nacht beisammen. Dragon fragte Waldblume über Dinge aus, die ihr bisher noch gar nicht als wichtig erschienen waren. Und sie antwortete. Dragon entwickelte ständig neue Pläne, nur um sie dann wieder zu verwerfen. Aber langsam kristallisierte sich ein Schema heraus, nach dem Dragon vorzugehen beabsichtigte. Jeder von ihnen hatte dabei eine wichtige Aufgabe zu übernehmen, von dem Einsatz eines jeden einzelnen konnte das Gelingen abhängen. Als sie endlich ihre Besprechung beendeten, dämmerte es draußen bereits. Waldblume wollte zu Quampas zurückkehren. Doch dann begegnete sie Schlangentöters Blick – und sie blieb. Denn, so sagte sie sich, wenn sie die Nacht mit einem Lebenstrinker verbracht hätte, hätte sie dieser sicherlich auch nicht vor Sonnenaufgang 105
wieder gehen lassen. Deshalb durfte sie einfach noch nicht zurückkehren. Als sie nach einigen weiteren Stunden Abschied von Schlangentöter nahm, hatte sie kein Auge zugemacht, und sie brauchte vor Quampas gar nicht Erschöpfung zu mimen, um seinen peinlichen Fragen zu entgehen, sondern war tatsächlich so müde, daß sie schon eingeschlafen war, bevor ihr Kopf noch das Kissen ihres Schlaflagers berührte.
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9.
Waldblume hörte im Halbschlummer Stimmen. »Der Beobachter, den wir zur Küste ausgeschickt haben, ist zurückgekehrt, Schlüsselherr.« »Herein mit ihm.« Waldblume stellte sich weiterhin schlafend. Sie hörte das Getrampel von Füßen, dann eine dritte Stimme: »Ich habe sechs Segel am Horizont gesichtet, Schlüsselherr. Das muß die Versorgungsflotte aus Neuatlantis sein. Das bedeutet, daß die Mannschaft in zwei Tagen bei Burg Shebar eintrifft, um die Gefangenen abzuholen.« »Ja, das bedeutet es wohl«, hörte sie Quampas sagen. Die Schritte entfernten sich, gleich darauf war nur noch Quampas zu hören, wie er auf und ab ging. Einmal näherte er sich ihrem Lager, rüttelte sie leicht, sagte flüsternd : »Waldblume, mein teures Kind, wach auf. Berichte mir, was du von deinem Lebenstrinker erfahren hast ... Bei Tahome! Er wird ihr doch nicht zuviel ihres Lebens genommen haben.« Waldblume rührte sich nicht. Sie tat, als schliefe sie tief. Bei sich hoffte sie, daß Dragon sofort zuschlagen möge. Er müßte doch erfahren haben, wie nahe die Schiffe aus Neuatlantis bereits waren. Aber es rührte sich nichts. Quampas kam noch zweimal zu ihrem Lager, versuchte, sie zu wecken. Da ertönte plötzlich ein Poltern. »Was ...!« entfuhr es dem Schlüsselherrn wütend. »Wie kannst du es wagen, in mein Gemach einzudringen!« 107
Waldblume spannte sich an, wartete angestrengt, daß der andere sprach. Und dann ertönte Schlangentöters Stimme : »Es ist kein Wagnis, zu einem Quesa vorzudringen, den Talahasset aus dem Kot von Schakalen geformt hat.« Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, da sich Waldblume entschloß »aufzuwachen«. Wie schlaftrunken, sich die Augen reibend, erhob sie sich von ihrem Lager. Quampas war so sprachlos vor Wut und Überraschung, daß er keinen Ton über die Lippen brachte. Waldblume fragte: »Was geht hier vor? Was hat der Wilde hier zu suchen, Quampas?« Schlangentöter richtete sich zu seiner vollen Größe auf und sagte würdevoll: »Ich bin gekommen, Schwester, um dich aus den Fängen dieses stinkenden Quesas zu befreien. Du bist eine Kanuk. Ich bin ein Kanuk. Ich kann nicht länger ertragen, daß du dich von einem Quesa demütigen läßt.« Quampas hatte sich wieder gefaßt. »Ich werde dich lehren, dich einem Schlüsselherrn gegenüber richtig zu benehmen. Diesmal wird dich auch das Wort deines Lebensherrn nicht vor der verdienten Strafe retten. Wachen!« Schlangentöter schlug Quampas die Faust mit solcher Wucht ins Gesicht, daß er zu Boden geschleudert wurde. »Noch ein Wort, Quesa, und du bist des Todes.« Das schüchterte Quampas lange genug ein, daß Schlangentöter sich an Waldblume wenden konnte. Er verlangte: »Komm mit, Schwester! Ich habe alles für unsere Flucht vorbereitet. Ich werde dich zurück zu deinem Stamm bringen.« 108
Waldblume lachte höhnisch. »Bildest du dir wirklich ein, daß ich mit dir gehen werde? Mit einem stinkenden Wilden. Wage nur ja nicht, mich anzurühren.« Quampas war inzwischen wieder auf die Beine gekommen. »Wachen!« brüllte er aus Leibeskräften. »Wachen, schnell, hierher!« Schlangentöter stürzte sich mit einem Schrei auf ihn. Quampas sah den blitzenden Dolch auf sich zukommen und versuchte, sich mit den bloßen Händen zu wehren. Aber Schlangentöters Klinge zerschnitt ihm die Hände und Arme und bohrte sich in seine Schulter. Da erst tauchten die Wachen auf und überwältigten ihn. Quampas lag wimmernd am Boden, Waldblume beugte sich in heuchlerischer Fürsorge über ihn. »Tötet diesen Bastard, der sich an eurem Schlüsselherrn vergangen hat«, kreischte Quampas. »Bringt ihn in den Burghof und schlagt ihn in Stücke, die ihr dann den Ungeheuern der Unterwelt zum Fraß vorwerft.« Die Wachen wollten diesem Befehl augenblicklich nachkommen. In diesem Moment tauchte wie zufällig Dragon auf. Er befahl den Kriegssklaven Einhalt und fragte: »Was geht hier vor?« »Euer Sklave wollte mir ans Leben«, rief Quampas. »Dafür soll er sterben.« »Bei meinen persönlichen Sklaven bestimme nur ich über Leben und Tod«, erklärte Dragon kalt. »Wie ich sehe, hat er dich nicht lebensgefährlich verletzt, Quampas. Und verbluten wirst du sicherlich auch nicht. Warum also das Gezeter?« »Er hätte mich getötet«, erklärte Quampas wieder. »Fragt Waldblume, sie hat alles mit angesehen. Ja, sie hat mir sogar das Leben gerettet.« 109
»Mir auch«, sagte Dragon. Dann wandte er sich den Wachen zu; Schlangentöter würdigte er keines Blickes. »Bringt diesen Rasenden ins Verlies. Dort soll er solange bleiben, bis ich mir für ihn eine passende Todesart ausgedacht habe. Und du, Quampas, solltest einen Heiler rufen lassen, sonst verblutest du wirklich noch.« Damit ging Dragon. Die Wachen führten Schlangentöter ab. Waldblume brachte Quampas mit Hilfe zweier Jagdsklayen zu seinem Lager, wo sie sich seiner liebevoll annahm, bis der herbeigerufene Heiler eintraf. Der Heiler behandelte Quampas, gab ihm einen Trank, der ihm für eine Weile Schlaf bringen sollte und zog sich dann mit der Versicherung zurück, daß für das Leben des Schlüsselherrn keine Gefahr bestünde. »Bleib bei mir, geliebte Waldblume«, bat Quampas. »Ich möchte dich in meiner Nähe wissen.« »Ich werde deinen Schlaf behüten, Schlüsselherr«, versprach Waldblume. Sie wartete, bis er eingeschlafen war. Dann stahl sie ihm den Schlüssel, der zu allen Schlössern von Burg Shebar paßte, und eilte damit zu Dragon.
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10.
Der junge Padoka brachte Unruhe unter die Gefangenen. Als man ihn von der Plattform in die Irrgänge stürzte, fiel er halb auf einen anderen Kanuk. »Tut mir leid, Bruder«, entschuldigte sich Schlangentöter und half dem anderen auf die Beine. Die Gefangenen drängten bereits nach. Der Gefallene machte, daß er weiterkam, bevor er niedergetrampelt wurde. »Ich bin Schlangentöter«, sagte der neue Gefangene so laut, daß es etliche vor und hinter ihm hören konnten. »Ihr müßt Vertrauen zu mir haben. Ich bringe euch die Freiheit.« »Ich bin Xabrass«, sagte der Melnike hinter ihm, der fast doppelt so breit war und um einen ganzen Kopf kleiner. »Und dich wird man zu stark zu Ader gelassen haben, daß du nicht mehr weißt, was du sprichst.« »Ich habe einen mächtigen Beschützer, der verhindert, daß eine von diesen Bestien in Menschengestalt mein Blut trinkt«, erwiderte Schlangentöter. »Sie werden niemandes Blut mehr trinken. Ich bin nur gekommen, um euch das mitzuteilen. In wenigen Stunden schon seid ihr frei.« »Und Sterndeuter vom Stamme der Zumotas sagt, daß Schlangentöters Geist verwirrt ist«, meinte der Kanuk, der vor ihm lief. »Niemand mit klarem Verstand würde freiwillig in die Gefangenschaft der Blutjäger gehen.« »Ich bin kein Gefangener«, sagte Schlangentöter stolz. »Sagt es allen weiter, daß euer Retter mich geschickt hat, um euch eine Botschaft zu überbringen. Er heißt Dragon, und die Botschaft lautet: In dieser Nacht noch wird sich 111
das Tor des Verlieses öffnen – und wir alle werden die Burg stürmen,« »Ist das wahr?« »Wer mir nicht glaubt, der behauptet, ich spreche mit gespaltener Zunge«, rief Schlangentöter. »Und wer diese Beleidigung wagt, den werde ich töten.« Sternendeuter drehte sich im Laufen um. »Du siehst nicht aus wie einer mit verwirrtem Geist«, stellte er fest. Er war bestimmt doppelt so alt wie Schlangentöter und machte den Eindruck eines erfahrenen Kriegers. »Ich glaube auch nicht, daß du mit falscher Zunge sprichst. Aber was du sagst ... es klingt wie ein Wunder. Kannst du uns keinen Beweis geben, damit wir Glauben in deine Worte setzen können?« Und Schlangentöter erzählte von seinem Wahrtraum, in dem er den Geist von Großer Vogel gesehen hatte – und wie er dem großen Häuptling in der Fleischwerdung durch Dragon begegnete, der vorher schon Shebar zur Strecke brachte, wie sie einen Blutjäger von Ossar und dessen Hossas töteten und dann mit dem Vorsatz nach Shebar kamen, die Burg zu erobern ... und daß sich die Stämme der Kanuks sammelten, um die blutsaugenden Eroberer aus dem Land zu jagen und die verräterischen Quesas zu bestrafen. Schlangentöters Worte wurden flüsternd weitergegeben, in den Gefangenen wuchs eine Hoffnung, die sie die Leiden leichter ertragen ließ. Sie lachten, wenn die Peitschen der Aufseher auf sie niederknallten ... ... und Schlangentöters Worte erreichten auch Chequon, einen verräterischen Quesa, der den Blutjägern verfallen war. »Verrat!« rief er. Doch bevor er noch von einem der Aufseher gehört werden konnte, wurde er von dem Melniken hinter ihm 112
zum Verstummen gebracht. Kräftige Hände schlossen sich um seinen Hals, drückten solange zu, bis Chequohs Gegenwehr erlahmte. Der tote Quesa wurde vom Strom der Gefangenen noch eine Weile mitgeschwemmt, dann ließ man ihn fallen, lief achtlos über ihn hinweg ... Freiheit! Bald war die Stunde der Freiheit da. Das Tor würde sich öffnen. Rache! Das alles hatte ihnen der neue Gefangene versprochen, der sich Schlangentöter nannte, weil er etliche Hossas erlegt hatte. »Da Quampas mit Verletzungen darniederliegt, halte ich es für meine Pflicht, euch davon zu verständigen, daß die Unterwelt von Shebar einen Schatz birgt«, sagte Dragon zu den fünf im Blutsaal angetretenen Blutjägern. Er fuhr fort: »Ich habe in alten Aufzeichnungen, die ich in den vergessenen Gewölben fand, Hinweise auf diesen unermeßlichen Reichtum gefunden, der von den Ungeheuern behütet wird. Noch in dieser Nacht will ich hinabsteigen, um diesen Schatz zu heben. Weil dies aber ein nicht ungefährliches Unterfangen ist, beanspruche ich vier der besten Kriegssklaven als Begleiter. Ihr Blutjäger verseht inzwischen weiterhin euren Dienst, oder tut eben, was ihr sonst auch getan hättet.« Vengin hörte die Worte des hohen Gastes aus Neuatlantis, ohne ihren Sinn zu verstehen. Er hatte nur Augen für die schwarze Schöne, die hinter Dragon stand. Wie war es, das Blut dieser exotischen Lebensspenderin zu trinken? Dieser Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Hatte Dragon nicht gesagt, daß sie ihn in die unterirdischen Gewölbe begleiten würde? 113
Vengin entschloß sich in diesem Augenblick, den Schatzsuchern zu folgen. Irgendwann würde sich die Gelegenheit ergeben, sich der schwarzen Schönen zu bemächtigen. Niemand würde ihn verdächtigen, wenn man ihre Überreste fand. Man hatte auch Aquina und Zalva den Opfern Wyzeilas zugezählt. Vengin begann vor Erregung zu zittern, während er die Lebensretterin des hohen Herrn beobachtete. Vielleicht konnte er sie sogar dazu bringen, auf ihrer seltsamen Flöte zu spielen, die sie immer mit sich trug, während er ihr Blut trank. Die Blutjäger zogen sich zurück. Hongor, der Wachtdienst bei den Verliesen hatte, versprach, vier kampferprobte Jagdsklaven bereitzustellen. Dragon sollte sie auf seinem Weg in die Tiefe vom Wachzimmer abholen. »Jetzt können wir die letzte Phase unseres Planes in Angriff nehmen«, sagte Dragon, als sie allein waren. »Warum hast du vier Krieger als Geleitschutz verlangt?« fragte Ubali, »Damit erhöht sich nur die Zahl derer, die wir erledigen müssen, um die Gefangenen befreien zu können. Du weißt, daß wir es auch noch mit zehn Gefangenenaufsehern zu tun bekommen.« »Wenn wir allein in die Tiefe hinabgestiegen wären, hätte es sein können, daß uns einer der Blutjäger aus Neugierde gefolgt wäre, ohne daß wir es merken«, erklärte Dragon. »Und wenn es zum Kampf gekommen wäre, hätte er Alarm gegeben und die anderen vorzeitig gewarnt. Wenn wir dagegen Vertraute der Blutjäger bei uns haben, dann wird uns niemand nachspionieren.« »Du hast recht.« Ubali seufzte. »Du bist doch jedesmal klüger als ich.« Dragon lachte und klopfte dem Freund kameradschaftlich auf die Schulter. Die drei legten ihre volle 114
Kampfausrüstung an, dann stiegen sie zu den Verliesen hinunter. Keiner von ihnen merkte, daß ihnen ein Schatten folgte. Vengin hatte seine Rachegelüste vorerst vergessen. Er wußte, daß es jetzt ein leichtes gewesen wäre, Waldblume zu reißen. Aber es bereitete ihm keinen Genuß, dies zu tun, während Quampas ahnungslos schlief. Er sollte den Tod seiner Lieblingssklavin miterleben – zumindest sollte er ihre Schreie hören. Aber solange, bis Quampas wieder wach war, konnte Vengin seinen Blutdurst nicht zügeln. Der Anblick der schwarzhäutigen Lebensretterin hatte ihn zur Raserei gebracht. Er wollte ihr Blut haben! Er wußte, daß die drei Schatzsucher zuerst zum Verlies wollten, um dort vier Jagdsklaven zur Verstärkung zu holen. Vengin hoffte, daß er den Augenblick der Übergabe für seine Zwecke nutzen konnte. Er wollte nicht zu lange warten, denn er konnte seine Gier nicht mehr länger bezähmen. Vengin erreichte den Gang mit der Tür zum Wachraum noch vor Dragon und seinen beiden Lebensrettern. Er hatte einen der Geheimgänge benutzt, die die ganze Burg kreuz und quer durchzogen. Als er erst einmal einen der Geheimgänge entdeckt hatte, war es ihm nicht mehr schwergefallen, auch die anderen zu finden. Sie waren alle ähnlich getarnt.. Der Blutjäger verbarg sich in einem Teil des Ganges, der im Dunkeln lag. Hier mußten die Schatzsucher vorbei, wenn sie in Wyzeilas Reich eindringen wollten. Er brauchte nicht lange zu warten, da tauchte auch schon Dragon mit seinen beiden schwarzhäutigen Begleitern auf, Vengin atmete schneller, als Dragon vor der Tür zum Wachraum stehenblieb. Seine beiden Begleiter 115
gingen weiter ... jetzt kamen sie an Vengins Versteck vorbei. Er hätte nur den Arm ausstrecken zu brauchen, um das Mädchen zu fassen. Aber er zögerte. Ihr hünenhafter Begleiter war ihr zu nahe – und mit beiden gleichzeitig wollte es Vengin doch nicht aufnehmen, Die Tür zum Wachraum ging auf. Der behelmte Hongor erschien darin. Vier Jagdsklaven tauchten auf. Dragon unterhielt sich kurz mit ihnen. Vengin wartete nicht erst ab, bis auch sie den Gang herunterkamen Er verschwand in einen Seitengang, hastete durch die Finsternis und zählte dabei die Schritte. Er kannte sich hier inzwischen aus wie kein anderer, seit sein Blutrausch ihn zu den nächtlichen Ausflügen trieb. Als er in den Hauptgang zurückkam, hatte er das schwarzhäutige Mädchen und ihren Gefährten überholt. Er hörte sie kommen. »Jetzt?« fragte das Mädchen. »Lassen wir Dragon und die beiden Jagdsklaven erst näherkommen«, erwiderte der schwarzhäutige Hüne. Er ging einige Schritte vor dem Mädchen und trug die Fackel. Der Moment war günstig. Vengin stürzte sich von hinten auf das Mädchen und zerrte sie, die Hand auf ihren Mund gelegt, damit sie nicht schreien konnte, in ein enges Gewölbe, wo er bereits ein kleines Öllicht entzündet hatte. Sie mußte im entscheidenden Augenblick sein Gesicht sehen. »Noch nicht schreien, Mädchen« raunte er ihr mit heiserer Stimme zu »Ganz still!« Er nahm die Hand von ihrem Mund. Sie schrie nicht, betrachtete ihn furchtlos. »Was bedeutet das, Blutjäger?« fragte sie. 116
»Das wirst du gleich sehen«, sagte er. »Spiel mir auf deiner Flöte. Gehorche! Oder ich schlachte dich ohne eine Melodie.« Sie hob das Rohr langsam an ihre Lippen, Vengin setzte den steinernen Nachschlüssel am Schloß seines Helmes an ... da sah er, daß das Mädchen einen ebensolchen Schlüssel besaß – nur handelte es sich nicht um eine Nachbildung. Thamai erkannte, daß der Blutjäger den Schlüssel gesehen haben mußte, den Dragon ihr ausgehändigt hatte. Deshalb mußte sie den Blutjäger töten. Sie setzte ihr Blasrohr an die Lippen, während sie gleichzeitig überrascht feststellte, daß es dem Blutjäger gelungen war, seinen Helm zu öffnen. Die Kinnklappe fiel herab, das Visier öffnete sich. Eine Fratze starrte ihr entgegen. »Spiel, Mädchen, spiel, während dein schwarzes Blut sprudelt«, kam es gurgelnd über Vengins Lippen, während er mit dem Opferdolch zum ersten Stoß ausholte. Und Thamai spielte auf ihrem Instrument des Todes – schickte dem wahnsinnigen Blutjäger einen giftigen Pfeil ins Gesicht, Und während sie unter der herabstoßenden Klinge wegtauchte, begann sie zu schreien. »Thamai!« Ubalis von Angst gezeichnetes Gesicht tauchte in dem Torbogen auf. Er erfaßte die Situation sofort und wußte, daß seine geliebte Gefährtin außer Gefahr war. Ihre Schreie waren nicht aus der Not geboren, sondern gehörten zu dem Plan, den Dragon ausgearbeitet hatte. Dragon war mit den vier Sklaven außer Sichtweite der Gefangenenwärter, als Thamais Schrei ertönte. »Das war meine Dienerin«, sagte Dragon. »Greift zu den Waffen. Sie ist in Gefahr.« 117
Der Aufforderung, die Waffen in Anschlag zu bringen, hätte es nicht bedurft. Die Sklaven waren erfahrene Krieger, die jederzeit für den Kampf bereit waren. Sie klemmten sich die Lanzen unter die Achseln und ergriffen mit der Rechten die Schwerter. Da kam ihnen Thamai entgegen. »Die Ungeheuer der Tiefe kommen!« rief sie, Und wie zur Bestätigung ertönte hinter ihr ein wildes Gebrüll. Die vier Sklaven mit den stoßbereiten Lanzen machten ihr Platz und formierten sich wieder. Sie zeigten keine Angst, als vor ihnen ein Untier mit schwarzem Fell auftauchte: Ubali, der Panther. Bevor die Sklaven den Kampf gegen ihn jedoch noch aufnehmen konnten, sagte Dragon hinter ihnen: »Werft die Waffen weg und ergebt euch. Der Feind steht auch hinter euch.« Die Sklaven drehten sich kurz um, sahen, daß Dragon sein Schwert gezogen und Kampfstellung eingenommen hatte. Thamai hatte ihr Blasrohr an den Mund gesetzt. Und auf der anderen Seite war das schwarze Ungetüm zum Sprung bereit. Dragon konnte sich denken, daß die vier Jagdsklaven nicht wußten, was das alles zu bedeuten hatte. Aber ihr Instinkt mußte ihnen sagen, daß seine Worte keine leere Drohung waren – und daß der »hohe Gast aus Atlantis« aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen ein Verbündeter der schwarzen Raubkatze war. Und ein Verräter! An Aufgabe dachten die Jagdsklaven jedoch nicht. Sie stellten sich zum Kampf – und starben. Der eine brach unter Thamais Giftpfeil zusammen, ein anderer wurde von Dragons Almunir gefällt. Der dritte, unentschlossen, welchem Gegner er sich zuwenden sollte, wurde unter Ubalis Pantherkörper begraben. Und der letzte schließ118
lich wurde von Dragon und Ubali in die Enge getrieben. Thamai wartete den Ausgang des ungleichen Kampfes nicht mehr ab. Sie begann wieder zu schreien und lief in Richtung des Wachzimmers davon. Dort tauchten bereits einige Gefangenenaufseher auf, von den Schreien der Sterbenden und dem unheimlichen Gebrüll des Panthers angelockt. »Die Ungeheuer aus der Tiefe kommen!« rief Thamai ihnen zu. »Sie haben Ubali und die vier Krieger bereits getötet. Schnell! Dragon ist in großer Bedrängnis.« Ohne lange Fragen zu stellen, setzten sich die Aufseher in Richtung des Kampflärms und des schaurigen Gebrülls in Bewegung. Keiner der zehn blieb zurück. Als Thamai jedoch in das Wachzimmer kam, wo sich der einzige Zugang zu den Verliesen befand, wurde sie dort von Hongor erwartet. »Die Ungeheuer bedrohen meinen Herrn«, erklärte sie auch ihm. »Und warum stehst du ihm dann nicht bei, anstatt um dein Leben zu laufen?« fragte er sie. »Mit deiner Treue kann es nicht weit her sein ...« Thamai sah keinen anderen Ausweg, als den Blutjäger, der zwar ihre List nicht durchschaute, sondern wirklich meinte, daß sie Dragon in Stich gelassen hatte und sie dafür bestrafen wollte, mit einem Giftpfeil aus ihrem Blasrohr zu töten. Seine Hände fuhren zum Hals hoch, er konnte sich sogar noch den Giftpfeil herausziehen, der unterhalb des Helmrandes in seinen Körper gedrungen war – doch dann begann das Gift augenblicklich zu wirken. Thamai sprang über seinen noch zuckenden Körper hinweg, stürzte in den Gang mit der Tür zum Verlies und sperrte auf. 119
»Ihr seid frei!« rief sie den Sklaven zu. »Schlangentöter, sage ihnen, daß die Stunde ihrer Freiheit geschlagen hat.« Thamai hatte kaum ausgesprochen, da stürmten die ersten Gefangenen auch schon unter frenetischem Jubelgeschrei die Treppe herauf. Thamai preßte sich eng an die Wand, um von ihnen nicht niedergetreten zu werden. Schlangentöter war einer von den ersten. Thamai drückte ihm den Opferdolch in die Hand, den sie dem Blutjäger abgenommen hatte. Irgendeiner von den Gefangenen riß Thamai das Schwert des Blutjägers aus der Hand. Sie konnte nur erkennen, daß es sich um einen Melniken handelte, dann war er auch schon im Gewühl der vorbeiwogenden Körper verschwunden. »Lauft und kämpft um euer Leben!« Mit diesem Ruf führte Schlangentöter die Gefangenen an. Gerade als sie auf den Gang hinausströmten, prallten sie mit den noch verbliebenen Aufsehern zusammen, die von Dragon und Ubali dem Panther zurückgedrängt wurden. Die völlig verdutzten Aufseher wurden einfach überrannt. Zweifellos hätten sich die entfesselten Gefangenen auch auf Dragon und Ubali gestürzt, wenn Schlangentöter ihnen nicht Einhalt geboten hätte. »Das ist Dragon – euer Befreier!« Arme griffen nach Dragon, verschwitzte, geschundene Körper drückten sich an ihn. Er wurde hochgehoben und über die Köpfe der Gefangenen weitergereicht. »Noch ist es zu früh zum Feiern«, rief Dragon den Gefangenen zu. »Zuerst müssen wir noch die restlichen drei Blutjäger und die Kriegssklaven überwältigen. Dann erst ist Burg Shebar in unseren Händen. Bewaffnet 120
euch! Aber selbst wenn ihr mit bloßen Händen kämpft, kann euch den Sieg niemand mehr nehmen. Ihr seid in der Überzahl.« Dragon fühlte sich von einer kräftigen Hand gepackt. »Wo ist Waldblume?« fragte Schlangentöter. »Komm mit«, forderte Dragon ihn auf und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmauer. »Sie wird noch in Quampas‘ Gemach sein. Wir müssen ihr zu Hilfe eilen. Denn wenn Quampas erwacht und merkt, was los ist, könnte er die richtigen Schlüsse ziehen und Waldblume als Verräterin bestrafen.« Sie kamen nur langsam weiter, obwohl die Gefangenen bemüht waren, ihnen Platz zu machen. Doch sie waren in den Gängen und Gewölben so dicht gedrängt, daß ein Ausweichen kaum möglich war. Aber dann lichtete sich die Menge endlich, und Dragon und Schlangentöter hatten freie Bahn. Von überall her ertönte nun Kampflärm. Die zahlenmäßige Übermacht und die Entschlossenheit, die einmal gewonnene Freiheit mit allen Mitteln zu verteidigen, verlieh den Gefangenen eine Durchschlagskraft, denen die besser ausgerüsteten Verteidiger nichts entgegenzusetzen hatten. Der Sieg war sicher. Dragon hoffte nur, daß sie nicht zu spät kamen, um Waldblume vor Quampas‘ Rache zu retten. Er hoffte es um Schlangentöters willen. Als sie zum Gemach des Schlüsselherrn kamen, stellten sich ihnen sieben Kriegssklaven entgegen, die gerade beabsichtigten, Quampas aufzusuchen, um seine Befehle entgegenzunehmen. Schlangentöter stürzte sich in blinder Wut auf sie. Er konnte zwei von ihnen töten, wäre aber von einem dritten beinahe niedergemacht worden, wenn in diesem 121
Augenblick nicht Ubali, noch immer in Panthergestalt, eingegriffen hätte. Damit war der Kampf praktisch entschieden. Einer der Kriegssklaven erreichte noch die Tür des Gemachs. Als er sie jedoch öffnete, prallte er mit einem Aufschrei zurück. Waldblume erschien dort mit einem blutigen Dolch in der Hand. »Ich habe meine Rache vollzogen«, sagte sie und ließ den Dolch fallen. Dragon stürzte an ihr vorbei in das Gemach des Schlüsselherrn. Quampas lag in unnatürlich verrenkter Haltung auf seinem Lager. »Er hat gewußt, warum er sterben mußte«, hörte Dragon das Taquira-Mädchen hinter sich sagen. »Ein Stich in die lüsternen Augen. Ein Stich in seine Begierde. Und ein Stich ins Herz. Ich habe meinen Schwur erfüllt.« Dragon wandte sich ab. Er halte kein Recht, es dem Mädchen anzulasten, daß sie ihre Rache auf so grausame Art vollzogen hatte. Er verließ das Gemach, ließ Waldblume und Schlangentöter allein. Aus der Ferne war noch vereinzelt Kampflärm zu hören. Aber es konnte keinen Zweifel mehr daran geben daß die Blutburg erobert war. ENDE Je mehr Dragon sieht, was im Reich der Erben des alten Atlantis vorgeht, desto mehr wird er in seinem Entschluß bestärkt, dem Treiben der Blutherren, Sklaven-Jäger und Sklavenhalter ein Ende zu setzen. Dragons Herz gehört ohnehin den Unterdrückten – und er ist es auch, der das Signal zum Kampf gegen die Blutherren gibt ... 122
Mehr darüber schreibt Ernst Vlcek Im nächsten Dragon-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel: DIE RACHE DER VERSKLAVTEN
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