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1. Old Donegal Daniel O'Flynn stand auf dem Quarterdeck der „Isabella VIII.", hob seine Krücke und schwenkte sie in einer anklagenden und zugleich verzweifelten Geste. „Das ist der Untergang der Welt!" schrie er gegen das Rauschen und Brausen an, das die Luft erfüllte. „Ich hab's kommen sehen, wir saufen
ab, Männer, und mit uns geht die ganze Menschheit zugrunde!" Ferris Tucker lief dunkelrot im Gesicht an und brüllte zurück: „Verdammt, Donegal, halt bloß die Luft an! Wir haben schon genug am Hals und wissen selbst, was uns blüht. Da brauchen wir uns nicht auch noch deine verdammten Schwarzmalereien anzuhören, verflucht und zugenäht!"
4 Die „Isabella" schwankte und taumelte in der aufgewühlten See. Old O'Flynn drohte die Balance zu verlieren. Er ließ die Krücke schleunigst wieder sinken und klammerte sich an der Nagelbank fest, in deren Nähe er stand - anderenfalls wäre er von der jetzt heranorgelnden Sturmbö zweifellos erfaßt und außenbords gerissen worden. „Flucht, Männer, flucht!" rief er. „Ihr ändert ja doch nichts mehr! Auch du nicht, Ferris! Unser Schicksal ist besiegelt, wir buddeln ab, die Welt geht unter, und wir ersaufen so jämmerlich wie die Ratten." Ja, über den Köpfen der Seewölfe hatte sich alles Unheil dieser Welt zusammengebraut, und das buchstäblich von einem Moment zum anderen. Eben noch hatte der frische, aber harmlose Südost-Passat die „Isabella" zügig vorangetrieben, und nur eine sanfte Dünung hatte die See gekräuselt. Jetzt aber schienen sich röhrend die Tore der Hölle zu öffnen. Drohend ballten und türmten sich die Wolken, senkten sich tief und tiefer auf die Toppen der „Isabella" herab. Fast wirkte es so, als wollten sie mit ihrem Gewicht allein die große Galeone zerquetschen und den Atem der Männer bis in alle Ewigkeit ersticken. Das schlimmste von allen Übeln aber war die Wasserhose, die als schwarze Säule zwischen Himmel und See stand, sich hin und her wiegte und donnernd und rauschend in einem grotesken Tanz auf die Galeone zuglitt. Einem apokalyptischen Reiter gleich, der mit den teuflischen Heerscharen dahingaloppiert, raste sie inmitten der Schlechtwetterfront auf die „Isabella" zu. Hasard hatte in aller Eile die Sturmsegel setzen lassen. Er hatte seinen Männern den Befehl gegeben, die Manntaue zu spannen und die
Schotten zu verschalken und auch sonst alle für einen Sturm erforderlichen Vorkehrungen an Bord zu treffen. Jetzt stand er an der Schmuckbalustrade des Quarterdecks und blickte wie im Bann auf die Wasserhose, die sich näherschob und sein Schiff in ihren tödlichen Wirbel aufzunehmen drohte. Das Schicksal der „Isabella" und ihrer Mannschaft schien wirklich besiegelt zu sein. Nichts vermochte diesem brüllenden Sog der Hölle zu trotzen, seine gigantische Kraft würdealles zerschmettern, auch das solide englische Eichenholz, aus dem die „Isabella" gebaut war. Wer dachte jetzt noch an die Dreimast-Galeone „El Cisne" des spanischen Piraten Rafael Sabicas, der sie von Tutuila aus gefolgt waren? Mochte der Teufel sie und ihren Rest Besatzung holen, mochte sie für alle Zeiten dort drüben in dem Korallenatoll, in dem Bill sie eben noch gesichtet hatte, verschwinden! Hasard konnte ihr keine Aufmerksamkeit mehr schenken, sein ganzes Augenmerk galt jetzt der Wasserhose. Bill, der Moses, enterte aus dem Großmars auf die Kuhl ab. Er schwebte dort oben wie hier unten an Deck in akuter Lebensgefahr, aber die Order des Seewolfs hatte gelautet, er solle schleunigst den Großmars räumen. Die „Isabella" stampfte und schlingerte wie wild in der See. Bill hatte seine liebe Not, in den Manntauen bis zum Vordeck zu hangeln und sich dort notdürftig in Sicherheit zu bringen. Hasard beobachtete den Jungen und dachte an seinen Sohn Hasard, der schwerverletzt unten in der Kammer des Achterkastells lag - neben Batuti, den es bei dem Kampf gegen, Don Mariano José de Larra ebenfalls getroffen hatte. Außerdem
5 befand sich das Polynesiermädchen ten, verunsichert hatte. Rasch Lavida an Bord. Der Seewolf hatte schrumpfte sie zu einem kegelförmisie vor Tutuila aus den Fluten ge- gen, huschenden Gebilde zusammen fischt, nachdem Sabicas sie durch ei- und stahl sich quer über das Koralnen Streifschuß an der Hüfte ver- lenatoll hinweg davon, um sich irwundet hatte. Somit hatte er zur Zeit gendwo zwischen den vielen kleinen drei Kranke an Bord, die sich zwar Fidschi-Inseln auszutoben. auf dem besten Weg zur Genesung Old O'Flynn stand mit weit geöffbefanden, aber im Fall eines Schiff- netem Mund da und blickte dem bruchs nicht die geringste Chance „verfluchten Teufelsding" nach. hatten, sich aus eigener Kraft in der Die anderen Männer verharrten in brodelnden See zu halten. gleichfalls ungläubigem Staunen auf Unwillkürlich schloß Hasard die den Decks der „Isabella". Manch einer rechnete fest damit, daß die tükAugen. Die Wasserhose war heran. Mit kische Wasserhose doch noch umOrgeln und Tosen bäumte sie sich kehrte und wie ein Derwisch gegen vor der „Isabella" auf, stand neben den Wind erneut auf die Galeone zuihrem Backbordschanzkleid und lief, aber das stellte sich bald als Irrdrohte sie zu verschlucken. Heulend tum heraus. strich der Wind über die Decks. Er Die Wasserhose verschwand. hätte sie leergefegt, wenn die MänBlacky stieß als erster einen gelner sich nicht verzweifelt festge- lenden Pfiff aus, und sofort brachen klammert hätten. die anderen in Johlen und Grölen Der Seewolf hatte die Lider wieder aus. Aber sie verstummten rasch geöffnet und blickte voll Erbitterung wieder, und der Grund dafür lag auf die brausende Erscheinung. Erst nicht nur in Old Donegal Daniel das Abenteuer auf Tutuila, bei dem O'Flynns gallebitterer Miene. Hasard junior und Batuti um ein Nach wie vor tanzte die „Isabella" Haar ihr Leben eingebüßt hätten, in den schmutziggrünen und und jetzt dies! Die Männer der „Isa- schwarzen Fluten, und der Sturmbella" schienen von einer Pechsträh- wind heulte mit unverminderter ne verfolgt zu sein. Da half kein noch Kraft aus Südosten heran. so flinkes Manövrieren, kein Flu„Die Wasserhose war nur der Aufchen und auch kein Beten, sie waren takt!" rief Serafin, der Spanier. „Der ihrem Schicksal ausgeliefert. Sturm geht jetzt erst richtig los, und Aber so grausam die Natur auch wir kriegen gewaltig was auf die war, sie hatte auch ihre willkomme- Jacke!" nen Launen. Plötzlich, ganz unerJoaquin, sein Landsmann, bekreuwartet, bog die Wasserhose von ih- zigte sich in einer instinktiven Geste. rem ursprünglichen Kurs ab und Insgeheim bereute er es schon, nicht schraubte sich donnernd dicht an der bei den Eingeborenen von Tutuila Bordwand vorbei. Sie erreichte die geblieben zu sein. Das Toben des Galion und den Bugspriet, gewann Wetters und das Rufen der Männer Abstand von der „Isabella" und lief erinnerten ihn allzu lebhaft an die völlig unverhofft nach Westen ab. Ja, Schrecknisse, die er an Bord der mit einemmal schien sie vor dem „Hernán Cortés" durchgestanden Schiff zu fliehen, schien auf irgend hatte. etwas gestoßen zu sein, das die urDer Tag wurde zur finsteren wüchsigen Kräfte, die sie befehlig- Nacht, und das Jaulen und Pfeifen
6 des Sturmes steigerte sich zu einem infernalischen Konzert. Hasard fuhr auf dem Quarterdeck herum, ließ die Handleiste der Schmuckbalustrade los und hangelte in den Manntauen auf das Ruderhaus zu. Wenn er verhindern wollte, daß sie mitten in das Korallenatoll rauschten und auf einer Bank hängenbliebein, mußte er sehr schnell sein. Schneller als das heranorgelnde Wetter, das sich zu einem der gefürchteten tropischen Wirbelstürme auszuweiten drohte. Und das war, wenn man es nüchtern betrachtete, so gut wie unmöglich, denn die „Isabella" war den mörderischen Riffen jetzt bedrohlich nahe. Keine halbe Meile mehr, und sie lief unweigerlich auf eine Untiefe und schlitzte sich an den scharfen, bizarren Korallenformationen den Rumpf auf.
Rafael Sabicas atmete auf. Er hatte es geschafft. Bevor die Wasserhose seine Dreimast-Galeone „El Cisne" hatte einholen können, war er an dem ausgedehnten Korallenatoll vorbei gewesen und hatte gehalst. Auf nördlichem Kurs hatte er seinen „Schwan" durch die höher und höher wogende See auf die rettende Insel zumanövriert - nach Ngau, dem Schlupfwinkel der Piraten. Die Wasserhose hatte Ngau verschont, sie war über eine der südlichen Nachbarinseln hinweggeprescht. Ehe sich der nachfolgende Taifun zu seiner vollen Macht entwickelte, war Sabicas, der Andalusier, mit seinem Schiff in der Felsenpassage, die ihn in die geschützt und gut versteckt liegende Bucht führte. Auf einem abschüssigen Wellen-
hang glitt die „El Cisne" bis in die Mitte der Bucht. Hier, im ovalen Felsenkessel, herrschte weitaus weniger Seegang als draußen im offenen Meer. Dennoch mußte Sabicas mächtig aufpassen, von der Sturmdünung nicht gegen die Gesteinswände gedrückt zu werden. Seinem ohnehin schon arg" ramponierten Schiff hätte dies zweifellos den Rest gegeben. So stand er wieder auf dem Achterdeck und schrie auf seine Männer ein, wie er auch vor Tutuila auf sie eingebrüllt hatte. Dort hatte es ihm nichts eingebracht. Bei allem Schneid hatte er das Gefecht gegen den Seewolf doch verloren und konnte noch von Glück reden, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Andrés Ponce hatte ein weitaus schlechteres Los gezogen. Er war Sabicas' Verbündeter gewesen und hatte als Kapitän der Karavelle „El Gabian" dem Oberkommando des Andalusiers unterstanden. Jetzt aber lag seine einst so stolze Zweimast-Karavelle auf dem Grund der Südsee, und er, Ponce, hatte sich nur mit wenigen Spießgesellen in einem Boot zu retten vermocht. Wohin? Das wußte der Teufel allein. Sabicas hatte seinen Mitstreiter im Stich gelassen. Ponce mochte auf einer einsamen Insel Polynesiens gelandet sein. Vielleicht waren er und seine Mannen aber auch von Eingeborenen überfallen und niedergemetzelt worden, oder aber sie waren ein,es anderen Todes gestorben. Wie auch immer - Sabicas verschwendete keine Gedanken mehr an die ehemaligen Kumpane. Nur sein eigenes Wohlergehen interessierte ihn, wie auch Ponce im umgekehrten Falle ausschließlich an sich selbst gedacht hätte. „Beidrehen, ihr Hundesöhne!" schrie er seinen kümmerlichen Hau-
7 fen Männer an. „Donato, mach diesen dreckigen Bastarden Beine, oder ich rechne nachher mit dir ab! Al diablo, siehst du nicht, daß wir geradewegs gegen die Felsen treiben?" Donato, der schnauzbärtige Kalabrier, trat seinerseits nach dem Eurasier und fuhr ihn an: „Wird's bald? Wollt ihr wohl springen, ihr Ratten? Ihr kriegt die Peitsche, wenn ihr nicht pariert. Dreht bei und geit auf die Segel, Lumpenhunde!" Der wildbärtige Eurasier stolperte auf die Nagelbank an der Steuerbordseite der Kuhl zu und hielt sich daran fest. Nur kurz blickte er über die linke Schulter zu dem Mann zurück, der als der Bootsmann und die rechte Hand von Sabicas auf diesem Schiff galt. In seinen geröteten Augen spiegelte sich dabei jedoch lodernder Haß, und dem Kalabrier entging dieser mörderische Ausdruck auch nicht, denn er beobachtete den Eurasier aus schmalen Augen. Donato hielt die neunschwänzige Katze in der linken Hand. Die rechte Faust hatte er um den Kolben der Pistole in seinem Gurt geschlossen. Breitbeinig stand er auf der achteren Kuhl und balancierte auf dem schwankenden Deck. Seine Kleidung war teilweise zerrissen und rußverschmutzt, sein derbes Gesicht von einem unmenschlichen Zug beherrscht. Seit drei Tagen hatte er keinen Schlaf mehr gehabt, seit drei Tagen hatte er sich von der Kuhl nicht mehr fortgerührt. Schon kurze Zeit nach ihrer Flucht von Tutuila hatte es an Bord zu gären begonnen. Die Mannschaft war dezimiert, neun hatte es bei dem Kampf gegen die „Isabella" erwischt. Außer Sabicas, Donato und dem Eurasier waren nur acht Freibeuter am Leben geblieben, und sie hatten während der Überfahrt von Tutuila nach Ngau die Feuer an Bord lö-
schen, die schlimmsten Gefechtsschäden ausbessern und die Segelmanöver durchführen müssen. Dieses harte Arbeitspensum konnte eine Handvoll Männer nicht lange durchhalten, schon gar nicht, wenn diese Meute durch ein vorangegangenes Gefecht entkräftet und entnervt worden war. Wenn der Ausguck dann auch noch feststellte, daß der Feind sich ihnen erneut an die Fersen geheftet hatte, waren alle Voraussetzungen für eine jäh ausbrechende Panikwelle, ja für eine Meuterei gegeben. Einem neuen Kampf hätte sich Sabicas niemals stellen können. Es wäre ihrer aller Ende gewesen, das wußte er ganz genau. So hatte die Jagd fortgedauert und fürchterlich an ihren Nerven gezehrt: Mal war die „Isabella" an der östlichen Kimm zu sehen, mal war sie wieder spurlos verschwunden gewesen, als hätte das Meer sie verschlungen. Heute war sie plötzlich wieder aufgetaucht. Rafael Sabicas selbst hatte jede Hoffnung aufgegeben, er könnte sich vor den Verfolgern verstecken und in die Felsenbucht von Ngau verholen. Alle Gewandheit und die erstaunlich gute Fahrt, die die „El Cisne" vor dem Südost-Passat gelaufen war, schienen nichts genutzt zu haben. Augenscheinlich waren sie ihrem Todfeind ausgeliefert gewesen. Ihre innere Spannung hatte den siedenden Höhepunkt erreicht. Dann aber war die Wetterveränderung eingetreten, und Sabicas hatte seinen letzten Trumpf ausgespielt: seine Kenntnis der Gewässer rund um die Fidschi-Inseln. Nur er konnte in der Sturmsee so schnell und sicher an dem Atoll vorbeilavieren, nur er vermochte auch bei diesem Toben die Bucht von Ngau zu finden. Trotz aller Widrigkeiten hatten die
8 Piraten es geschafft, aber sie konnten selbst nicht recht daran glauben. Zu hart waren die Schläge gewesen, die sie hatten hinnehmen müssen. Noch immer rechneten sie mit einem Blitzüberfall der Seewölfe, und all ihre Wut über die Niederlage von Tutuila und den Verlust der neun Kumpane richtete sich gegen ihren Anführer und dessen Vertreter. Donato hatte seinerseits geschworen, daß er dem Andalusier alles heimzahlen würde, was sie erlitten hatten. Er, Donato, hatte vor Tutuila oft genug seine Bedenken angemeldet und geahnt, daß etwas schieflaufen würde. Aber Sabicas hatte ja nicht auf ihn hören wollen. Er hatte sich ungemein stark gefühlt. Der Kalabrese fühlte sich nicht mitschuldig an dem, was geschehen war. Und so wußte er schon jetzt, wie er handeln würde, wenn die zerschundenen Männer gegen Sabicas aufbegehrten. Er drehte sich zu dem Andalusier um. Dieser hatte den Kolderstock herumgelegt, so daß die Galeone ihr Vorschiff nach Backbord wandte und gegen den Sturmwind hielt. Die Männer auf der Kuhl gaben sich redlich Mühe, die Segel schnell genug aufzugeien. Es war ja in ihrem eigenen Interesse, die „El Cisne" vor einem weiteren Unglück zu bewahren. Es war aber auch nicht leicht, bei diesem Seegang ein derartiges Manöver auszuführen. Donato verfolgte jede Bewegung seines Anführers. Sabicas war ein großer Mann mit fast schulterlangem schwarzem Haar, dunklen Augen und harten Zügen in einem Gesicht mit olivfarben grundierter Haut. Eine abenteuerliche Gestalt, die ihnen wegen ihrer Kraft und Verwegenheit immer imponiert hatte. Aber etwas Ein-
schneidendes war geschehen. Sabicas' Figur wankte, sein Mythos war arg angekratzt. Das Bild des unerschütterlichen Draufgängers und Schnapphahns verschwamm und ging im Nichts unter, und daran konnte auch seine aufrechte Haltung nichts ändern, die er bis jetzt bewahrt hatte. Donato faßte einen Entschluß. Immer noch sah er zu Sabicas, und ihre Blicke trafen sich plötzlich. Täuschte er sich - oder zuckte der Andalusier wirklich zusammen? „Fallen Anker!" schrie Sabicas. Der Kalabrier fuhr zu den neun Männern auf der Kuhl herum und wiederholte den Befehl. Dann rauschte der Buganker der „El Cisne" an seiner Trosse aus, und wenig später fierten die Piraten unter Flüchen das Beiboot ab. In Lee enterten sie auf die Duchten der Jolle ab, legten ab, pullten an und entfernten sich durch die aufgewühlten Fluten von ihrem Schiff. Die „El Cisne" schwoite an ihrer Ankertrosse, aber sie konnte jetzt nicht mehr gegen die Felsenmauern schlagen. Der Stockanker hatte sich fest genug in den Grund der Bucht gegraben, und die Trosse ließ nicht genügend Spiel. Vorläufig war die Galeone der Freibeuter ausreichend gesichert. Die Felsenbucht lag im Westen der Insel. An ihrer östlichen Seite öffnete sich wie der Einlaß zu einem geheimnisvollen Gewölbe eine Grotte, deren schartige Decke auch bei auflaufendem Wasser hoch genug lag, um eine Jolle passieren zu lassen. Sabicas, der sich auf der achteren Ducht des Bootes niedergelassen hatte, bediente die Ruderpinne und steuerte geschickt mitten in die Grotte hinein. Dunkelheit umfing die schweigend pullenden Männer. Laut hallte das
9 Rauschen des Wassers von den Gesteinswänden wider. Eine Welle hob das Boot hoch und drohte es unter die Decke zu schmettern. Instinktiv zogen die Insassen die Köpfe ein. Aber dann erwies sich die Geste doch als übertriebene Vorsichtsmaßnahme. Die Woge schlug nicht hoch genug, um sie samt ihrem Gefährt an dem rauhen Vulkangestein zerdrücken zu können. Immer tiefer schob sich die Jolle in den Wasserstollen - und der Sturm tobte mit voller Kraft über Ngau hinweg. 2. Das Ruderhaus erzitterte unter den Hieben des Sturmes. In seinem Inneren mußte man unweigerlich zu der Überzeugung gelangen, daß die nächste Sturmbö es mühelos vom Quarterdeck losrupfte und kopfüber in die Fluten beförderte. Es knackte und knirschte, und das Dach des Häuschens schien wie dünnes chinesisches Reispapier auf und ab zu flattern. Der Seewolf stand neben seinem Rudergänger Pete Ballie und rief ihm zu: „Hart Steuerbord, Pete!" „Hart Steuerbord, Sir!" Das Ruderrad begann sich unter Petes schwieligen Fäusten zu drehen. Hasard beugte sich aus dem Ruderhaus, klammerte sich am Türrahmen fest und schrie Ben Brighton, der ihm am nächsten stand, zu: „Ben, wir halsen und gehen Kurs Norden!" „Kurs Norden - aye, Sir!" Ben hielt sich an der Balustrade zwischen Quarterdeck und Kuhl fest und gab die Order weiter. Von unten drangen ein paar undefinierbare Rufe zu Hasard, Ben und Pete herauf, aber danach war Carberrys Stimme klar im Heulen des Wetters
zu vernehmen. „Schiften, ihr Kanaillen, und herum mit der Lady, anluven und auf neuen Kurs, dalli, dalli, oder ich mach euch Feuer unter dem Arsch! Donegal, du Stint, nimm deine verfluchte Krücke weg, sonst stolpere ich noch darüber. Beim Donner, Jeff - he, Jeff Bowie! Muß ich dir ein paar Silberbarren in die Taschen stopfen, damit du nicht über Bord gehst? Hölle, Mann, ich spring dir nicht nach, wenn es dich erwischt, merk dir das, du gehörnte Makrele! Hölle und Teufel, Donegal, haust du endlich ab? Was hast du hier auf der Kuhl verloren?" Der alte O'Flynn antwortete zwar, aber seine Worte gingen in dem Getöse des nächsten Brechers unter, der über die „Isabella" wegflutete. Alles schien diese Riesenflut von zischendem, schäumendem Wasser unter sich zu begraben, der von Old O'Flynn prophezeite Untergang schien gekommen zu sein, und als erstes mußte das Ruderhaus fortgerafft werden. Es krachte und donnerte, und das Wasser schoß Hasarad zwischen den Beinen hindurch. Es riß seine Füße weg, und er wäre fortgespült worden, wenn er sich nicht mit beiden Händen festgehalten hätte. Pete Ballie fluchte und hustete und schien Salzwasser geschluckt zu haben. Es knackte in den tiefsten Verbänden der „Isabella", und jeden Augenblick schien es das Schiff in zwei oder drei Teile zu zerreißen. Aber das Ruderhaus hielt sich wacker in seinen Verankerungen, und auch die Planken und Verbände trotzten dem Sturm. Pete Ballie spuckte aus, stemmte sich mit aller Kraft gegen das Ruderrad und rief: „Ich halte Hartruder, Sir, aber, verdammt, wenn das Ruder bricht, sind wir verraten und verkauft!"
10 „Das verdammte Ruder hat nicht zu brechen, Mister Ballie!" schrie der Seewolf. „Schreib dir das hinter die Ohren!" „Aye, aye, Sir!" Von der Kuhl ertönte wieder das Organ des Profos': „Donegal, verhol dich, du Rochen, oder ich werde ungemütlich. Du störst mich in der Ausübung meiner... Heda, ihr Satansbraten! Braßt an, braßt an, oder es haut euch die Sturmsegel um die Ohren!" Dann verfiel er in sein grauenvolles Spanisch: „O, ihr spanischen Himmelhunde, was seid ihr doch bloß für Gestalten! Packt die verdammte Schot an, ihr seekranken Heringe, und laßt sie nicht mehr los, oder ihr fliegt achtkantig von Bord! Donegal, du fliegst gleich hinterheeer..." Wieder rollte ein Brecher donnernd gegen die „Isabella" an und ließ alle weiteren Worte Carberrys in seinem Lärmen untergehen. Diesmal rauschten die Fluten jedoch nicht von Backbord heran, sondern erreichten die Galeone mitten im Manöver von achtern. Sie stemmten ihr Heck hoch, hüllten das Achterkastell in einen Mantel von Gischt, drückten das ganze Schiff mit jähem Schub voran und verwandelten die Decks in einen einzigen glatten Abhang. Old O'Flynn glitt auf der Kuhl aus, hieb Carberry die Krücke gegen das Schienbein und wäre um ein Haar tatsächlich außenbords gegangen, wenn der Narbenmann sich nicht gedankenschnell nach ihm umgewandt hätte. Ein Griff seiner Pranke genügte, und der Alte hing zappelnd und fluchend in der Luft. Mit der anderen Hand hielt sich der Profos am Manntau fest. Es war ein richtiges Wunder, daß er noch stehen konnte, fast alle anderen hatte es umgerissen. Big Old Shane war
mit Ferris Tucker ins Gehege geraten, und sie waren ein Stück übers Deck gerutscht und gegen die Gräting geprallt. Jetzt rappelten sie sich wieder auf und brüllten sich gegenseitig an. Carberry hingegen stand wie ein Baum, schüttelte Old O'Flynn wie einen beim Naschen ertappten Moses und schrie: „Donegal, du Filzlaus, ich hab dir doch gesagt, du sollst dich mit deiner verfluchten Krücke verkrümeln!" „Du läßt mich ja nicht vorbei!" „Du triefäugiger ..." „Halt dich zurück, Profos", brüllte der Alte. „Wohin willst du denn, du Gewitteraal?" „Ins Achterdeck natürlich - zu Hasard junior und Batuti!" Carberry ließ einen grunzenden Laut vernehmen, der im Heulen des Sturmes und im Donnern der See unterging. Dann beförderte er Old Donegal in Richtung auf das Achterdecksschott und entließ ihn mit einem saftigen Fluch und einem wütenden „Das hättest du ja auch gleich sagen können". Die „Isabella" ging auf neuen Kurs und krängte so schwerfällig wie ein todwundes Riesen tier vom einen auf den anderen Bug. Mit Steuerbordhalsen segelte sie jetzt nordwärts hart am Korallenatoll vorbei oder mit Wucht direkt auf die tückischen Bänke, die in der kochenden See weder zu sehen noch zu ahnen waren. Pete Ballie und sein Kapitän hielten das Ruderrad gemeinsam. Sie bissen beide die Zähne aufeinander, preßten die Lippen zusammen und sprachen kein Wort. Jetzt mußte sich zeigen, ob Hasards Manöver schnell genug erfolgt war. Aber kein Schaben und kein häßliches Krachen, kein Ruck, der durch
11 den Rumpf der „Isabella" lief, kündete von dem Schicksal, das sie alle fürchteten. Nach wie vor segelte ihr Schiff frei in den aufgerührten Fluten. Das heftige Knacken und Knirschen, das bedrohliche Schwanken der Masten, das Brüllen, Heulen und Toben blieben, aber die „Old Lady" setzte ihren Kiel nicht aufs Riff. Pete Ballie sah seinen Kapitän über das Ruderrad hinweg an. „Was meinst du, Sir? Haben wir das Atoll hinter uns?" „Pete, ich bin kein Hellseher." „Aber wir schaffen es." „Der Teufel soll dich holen, wenn wir irgendwo aufbrummen, Mister Ballie!" Pete grinste und stemmte sich gegen das Ruderrad. Hasard, der auf der anderen Seite stand, zeigte ebenfalls ein hartes, verwegenes Lächeln. Ein Brecher schob sich von der Steuerbordseite heran, stieg an der Bordwand der „Isabella" auf und lappte übers Schanzkleid. Schwerer krängte die Galeone nach Backbord, steiler fielen ihre Decks ab, aber auch diesmal brachte der Sturm sie nicht zum Kentern. Das Wasser sprudelte und rauschte durchs offene Ruderhaus hindurch und näßte die Gesichter und die Gestalten der beiden Männer. Sie prusteten - und grinsten sich immer noch wie die
Teufel an. Auf der Kuhl hatte sich Ferris Tucker mit einem saftigen Fluch von Big Old Shane losgerissen. Er hielt sich in den Manntauen fest, warf einen Blick quer über Deck und brüllte: „Hölle und Teufel! Wir haben unseren schönen Kahn gerade wieder instand gesetzt, und schon kriegen wir wieder was aufs Haupt! Am besten rühren wir überhaupt keinen Finger mehr, das kommt bei der Scheißlady letzten Endes ja doch aufs selbe 'raus!" Er hatte allen Grund, erbost zu sein: Fast vier Tage lang hatte er mit seinen Helfern an der ramponierten „Isabella" gearbeitet und die vor Tutuila erlittenen Gefechtsschäden ausgebessert - und jetzt dies! Serafin und Joaquin, die immer noch verbissen die Fockschot festhielten, wie Carberry es ihnen befohlen hatte, blickten verdutzt zu dem wetternden Rothaarigen hinüber. Sie verstanden kein Wort von dem, was er auf englisch schrie, aber sie dachten, es gelte ihnen - und fuhren unwillkürlich zusammen. Der Profos hangelte zu ihnen hinüber und begann wieder in seinem schauderhaften Spanisch zu brüllen. „Ihr Kakerlaken, ihr Enkel eines triefäugigen Tintenfischs! Wollt ihr die Scheiß-Schot wohl belegen?
12 Oder wollt ihr daran baumeln bleiben und verhungern, was, wie?" Die Spanier beeilten sich, seine neue Anordnung zu befolgen, aber sie fühlten sich mehr als verunsichert. Old O'Flynn hatte derweil unbeschadet das Achterdecksschott erreicht. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, unbedingt nach Batuti und Hasard junior zu sehen - ja, und auch nach dem Mädchen Lavida, das auch im Achterkastell untergebracht war. Schön, der Kutscher und Philip junior wachten an den Kojen der drei Patienten und paßten auf, daß sie nicht herausfielen und sich irgendwo stießen. Aber was war, wenn der Kutscher und Philip junior nicht mehr gegen das Schlingern des Schiffes ankämpfen konnten und Verstärkung brauchten? Schimpfend löste Old O'Flynn die Verschalkung des Schotts. Er hatte sein Werk vollbracht und wollte das Schott gerade öffnen, da prallte es ihm auch schon entgegen. Der Alte wich schnell einen Schritt zurück, sonst hätte die hölzerne Kante garantiert sein gesundes Bein getroffen. „Hölle, Tod und Teufel", schrie er. „Was wird hier ..." Weiter gelangte er nicht. Eine schlanke, geschmeidige Gestalt schlüpfte an ihm vorbei und war auf der Kuhl, ehe er sie daran hindern konnte. Sie arbeitete sich in den Manntauen voran und enterte das Achterdeck. Lavida, das Polynesiermädchen! * Die Öffnung der Grotte war in der Dunkelheit, die über der Insel Ngau lag, kaum zu erkennen. Rafael Sabicas nahm sie nur vage wahr, er mußte erst ein paarmal mit den Lidern blinzeln, um die bewaldeten Hänge
sehen zu können, die links und rechts der Jolle aufstiegen. Das Boot war aus dem Wasserstollen heraus, und die Piraten pullten gegen die Strömung des Bachlaufes an, der sich etwa vom Zentrum der Insel aus in vielen Windungen durch das Berg- und Hügelland schlängelte und schließlich in der Bucht mündete. Jahrtausende - so nahm der Andalusier an - mußten vergangen sein, ehe das Süßwasser die Grotte in die Felsen gewaschen hatte, die ihr den Ausfluß ins Meer versperrt hatten. Hoch über den Köpfen der Freibeuter war Bewegung. Sabicas schaute auf. Der Sturmwind bog die Stämme der Bäume und ließ ihre Wipfel rauschen. Oben, im Regenwald, der die Bergkuppen überzog, sang das Wetter sein heulendes Lied, aber hier unten war kaum ein Windhauch wahrzunehmen. Nahezu lautlos glitt das Boot durch die geschützte Schlucht. Sabicas lehnte sich ein wenig zurück und versuchte, sich zu entspannen. Er hatte es geschafft. Über was machte er sich jetzt noch Sorgen? „Männer", sagte er. „Es ist vollbracht. Wir haben dem Teufel ein Schnippchen geschlagen. Hölle, ihr solltet froh darüber sein." Keiner antwortete ihm. Selbst Donato schwieg. Sabicas betrachtete die Mienen der zehn Kerle. Er las darin und wußte plötzlich, warum ihm immer noch nicht ganz wohl in seiner Haut war. Die Meute hatte sich keineswegs beruhigt. Er spürte ihre Niedergeschlagenheit und den schwelenden Zorn. Es roch nach Meuterei. „Und noch etwas", sagte er leise. „Etwas, das wir bislang nicht bedacht haben. Überlegt doch mal, was wohl aus der ,Isabella', dem Seewolf und seiner verfluchten Mannschaft geworden ist. Na?"
13 Keiner der zehn sprach. „Donato!" zischte der Andalusier. „Du glaubst, der Sturm zerschlägt die ,Isabella'", entgegnete der Kalabrier langsam. ,,Aber du täuschst dich. El Lobo del Mar steht mit dem Satan im Bund, er hat schon ganz anderen Gefahren getrotzt. Erinnerst du dich nicht an die Legenden, die von ihm und seiner Crew in den spanischen und portugiesischen Siedlungen Ostindiens erzählt werden? Er geht nicht unter. Niemals. Er ist unsterblich - Senor." Sabicas winkte ab. „Gewäsch! Du sprichst wie ein altes Weib, Donato. Legenden sind nun mal Märchen, das sagt ja schon das Wort. Und dieser Seewolf ist ein ganz gewöhnlicher Sterblicher wie alle anderen Menschen auch. Nein, er übersteht diesen Taifun nicht." „Du vergißt Lavida." „Die braunhäutige Hündin? Sie ist vor Tutuila ertrunken, nachdem ich ihr die Musketenkugel verpaßt habe. Geschieht ihr recht. Diese Hure hat nichts Besseres verdient." „Sie lebt", sagte der Kalabrier. „Wir haben gesehen, wie die ,Isabella' beigedreht hat..." „Und?" stieß Sabicas aufgebracht aus. „Was haben wir noch gesehen? Nichts. Wenn du dir einredest, der Seewolf habe das Dreckstück aus der See gefischt, dann täuschst du dich." „Sie ist an Bord der ,Isabella'." „Nein!" schrie Sabicas. „Sie befindet sich auf dem Schiff dieser Bastarde und weist ihnen den Weg nach Ngau. Einen besseren Lotsen als Lavida konnten sie nicht finden!" Sabicas griff mit einer geradezu traumhaft schnellen Bewegung an seinen Waffengurt. Er zückte die Radschloßpistole, die er bei einem seiner Raubzüge erbeutet hatte, spannte den Hahn und zielte auf den
Kalabrier. „Das Weib ist vor Tutuila wie eine Ratte abgesoffen", sagte er kalt. „Kein Mensch konnte sie noch retten. Das siehst du doch ein, Donato, nicht wahr?" Der Kalabrier hielt mit dem Pullen nicht inne. Er überlegte, ob er sich in der nächsten Vorwärtsbewegung seines Körpers auf den Andalusier werfen sollte, schnell und völlig unverhofft. Aber dann besann er sich doch eines Besseren. Trotz der Wut und des Hasses, die in ihm überzuschäumen drohten, nickte er und erwiderte: „Doch. Ich sehe es jetzt ein, Senor." Sabicas grinste höhnisch. „Und du gibst mir auch in dem anderen Punkt recht?" „Ja. Die ,Isabella' wird sinken." „Nicht nur das", sagte der Andalusier. „Ich versichere, sie läuft mitten in das Atoll hinein und bleibt auf einem der Riffe hängen. Sie zerbricht, ihre Besatzung ersäuft jämmerlich und all die Schätze des Seewolfs gehören uns." Plötzlich sahen ihn die Männer ungläubig an. „Ja", bestätigte Sabicas seine eigenen Worte. „Ein Teil bleibt wohl im Wrack des Schiffes, ein Teil wird vom Sturm auf die kleinen Inseln und die Riffe verteilt - und der Rest soll von mir aus sinken. Aber auch diesen Rest werden wir uns holen, denn das Wasser ist an der Stelle nicht sehr tief. Wir können danach tauchen, versteht ihr? Gold, Silber und Juwelen werden uns gehören! Und wir brauchen nicht mehr mit Ponce und den anderen von der ,El Gabian' zu teilen! Starrt mich nicht so dämlich an, ihr Holzköpfe! Lacht! Ich will, daß ihr lacht! Wird's bald?" Die wilden Kerle blickten sich untereinander an. „Er könnte recht haben", murmelte
14 der Eurasier. „Warum denn nicht? Es gibt keinen unsinkbaren Kahn, verdammt noch mal. Ho, das wird ein Fest! Wenn der Sturm sich gelegt hat, laufen wir wieder aus und holen uns die sichere Beute. He, warum haben wir nicht eher daran gedacht?" Er begann als erster zu lachen. Die anderen fielen mit ein. Donato grinste und nahm seinen Blick nicht von Sabicas' Gesicht. Die Mündung der Radschloßpistole zielte immer noch auf ihn, und deshalb stimmte er gezwungenermaßen ebenfalls ein gekünsteltes Gelächter an. Plötzlich lachte er immer lauter, fast hysterisch. Er lachte Sabicas ins Gesicht und dachte dabei immer wieder: Ich werde dich töten, jawohl. Bei der ersten Gelegenheit bringe ich dich um, du Hund, denn du hast uns die längste Zeit verschaukelt. 3. „Das Mädchen!" schrie der alte O'Flynn. „Haltet sie fest! Sie ist durchgedreht!" Der Profos war herumgefahren und hatte Lavida ebenfalls erblickt. „Schockschwerenot", legte er los. „Ja, ist denn das die Möglichkeit? Verdammt, die Kleine geht uns über Bord, so packt sie doch! Donegal, du Schnarchsack, warum hast du ihr nicht den Weg versperrt?" „Sie war zu schnell!" brüllte der Alte, und er hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige verpaßt. Was war denn heute nur los mit ihm? Erst rutschte er an Deck aus - und jetzt dies. Teufel, das war doch nicht der erste Sturm, den er in seinem Leben abritt! War dies etwa sein schwarzer Tag? Dröhnend rollte ein Brecher heran, donnernd ergoß sich die gischtende
Wasserlast über Deck. Old O'Flynn mußte sich mit aller Kraft festklammern, um nicht mitgerissen zu werden. Und so erging es auch den anderen: Sie hatten mit sich selbst genug zu tun und konnten nicht auf das Mädchen achten. Keiner vermochte ihr nachzulaufen und sie festzuhalten. Lavida glitt aus, als sie die oberste Stufe des Niederganges von der Kuhl zum Quarterdeck erreicht hatte. Die Wucht des Wassers warf sie gegen das Schanzkleid, und sie stöhnte auf, denn sie geriet ausgerechnet mit ihrer Hüfte gegen das harte Eichenholz. Sabicas' Musketenkugel hatte ihre Hüfte gestreift. Der Kutscher hatte die Wunde zwar nach allen Regeln seiner Feldscherkunst verarztet und verbunden, aber ganz verheilt war die Blessur in den vier Tagen seit dem Gefecht vor Tutuila natürlich nicht. Der Brecher rauschte über Lavidas Gestalt weg. Das Wasser drohte sie zu ertränken, sie spuckte und hustete. Rote Feuerwirbel tanzten vor ihren Augen. Jeden Augenblick konnte sie ohnmächtig werden. Ihre Finger glitten von dem Tau ab, an dem sie sich festhielt. Sie begriff, daß sie einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Sie hatte die Gewalt des Sturmes unterschätzt. Aber plötzlich war eine große Gestalt über ihr. Eine Hand griff nach ihr, zog sie mühelos hoch und hielt sie fest. Sie konnte wieder Luft schöpfen, und auch die Schmerzen in der Hüfte ließen nach. Dankbar klammerte sie sich an dem Mann fest, in dem sie erst jetzt den Seewolf erkannte. Hasard hatte das Ruderhaus in dem Moment verlassen, in dem er Lavida auf dem Quarterdeck hatte auftauchen sehen. Pete Ballie mußte
15 sich jetzt allein mit dem Ruderrad abmühen. Lieber riskierte Hasard, vom Kurs abzuweichen, als Lavidas Leben aufs Spiel zu setzen. Er schleppte sie ins Ruderhaus. Schwer atmend lehnten sie sich gegen die Rückwand. Hasard hielt sich wieder am Türpfosten fest, ließ aber auch das Mädchen nicht los. Lavidas kleine, zarte Hände umspannten in erstaunlich festem Griff seinen Arm. „Lobo del Mar", hauchte sie in ihrem akzentgeladenen, nicht ganz fehlerfreien Spanisch. „Du bist mein Lebensretter. Ich - ich danke dir. Zum zweiten Mal hast du mich erlöst, ehe ich ..." „Warum bist du an Deck erschienen?" unterbrach er sie ziemlich unwirsch. „Habe ich dir nicht befohlen, in der Achterdeckskammer zu bleiben?" „Ich habe Angst - furchtbare Angst vor Sturm und Kampf." „Eben deswegen solltest du ja bei dem Kutscher, Batuti und meinen Söhnen bleiben." „Sir!" rief Pete verzweifelt. „Ich kann das verfluchte Rad nicht länger halten!" „Warte!" Der Seewolf streckte den Kopf zur Türöffnung hinaus und schrie: „Ben! Ben Brighton! Hölle und Teufel, Mister Brighton, wo steckst du?" „Hier, Sir!" erklang Bens Stimme im Orgeln des Sturmes. Er befand sich auf der gegenüberliegenden Seite des Quarterdecks und hatte Lavidas Erscheinen im Gischtregen nicht einmal bemerkt. „Zu mir!" brüllte Hasard. „Ins Ruderhaus. Ferris soll deinen Posten einnehmen! Wir brauchen hier dringend Verstärkung!" „Aye, Sir!" Während er diesen Befehl gegeben hatte, hatte Hasard bereits wieder in die Speichen des Ruderrades gegrif-
fen und Pete unterstützt. Wenig später jedoch, als Ben Brighton ins Ruderhaus stolperte, ließ er seinen ersten Offizier und Bootsmann ans Rad und schickte sich an, Lavida zurück ins Achterkastell zu begleiten. Sie stemmte sich gegen seinen Griff, begehrte auf. „Nein! Nein!" rief sie. „Nicht das, Lobo del Mar! Ich will dir helfen. Verstehst du mich denn nicht? Meine Angst ist nicht so groß wie mein Wunsch, dir zu helfen!" „Schon gut", sagte er. „Ich weiß das auch zu schätzen, Lavida. Aber Mädchen haben bei so einem Wetter auf dem Oberdeck eines Segelschiffes nichts verloren. Ich trage die Verantwortung für dich, und ich schaffe dich jetzt wieder 'runter zu den anderen." Energisch wollte er sie fortzerren. Aber sie wehrte sich. „Du begreifst nicht", stieß sie verzweifelt aus. „Zwei Jahre lang war ich Sabicas' Sklavin, deshalb kenne ich nicht nur den Schlupfwinkel auf Ngau, sondern auch die Umgebung der Insel ganz genau. Dies ist meine Heimat und..." „Und du weißt hier im Moment nicht besser Bescheid als wir", fiel der Seewolf ihr ins Wort. „Wenn du verrückt spielst, sperre ich dich in deine Kammer und stelle einen Wachtposten vor der Tür auf!" Sie wies nach Backbord. „Dort! Dort liegen die nördlichen Inseln des großen Korallenatolls. Wir segeln eben daran vorbei, Lobo del Mar. Du hast recht, ich kann sie nicht sehen, kann ihre schönen großen Palmen mit den grünen Blättern nicht erkennen. Aber ich spüre es, wo wir sind! Ngau ist nicht mehr weit entfernt, und ich, Lavida, führe euch durch den gräßlichen Sturm bis dorthin." Verblüfft musterte Hasard das halbnackte, nasse Mädchen. Sie
16 stand da wie ein Häuflein Elend und schien dem äußeren Anschein nach eher vor Furcht zu vergehen als einen klaren Gedanken fassen zu können. Und doch - sie hatte bewiesen, daß sie sich hervorragend zu orientieren verstand. Sie hatte ihre Kammer im Achterkastell nicht verlassen, als die vielen kleinen Inseln des FidschiArchipels in Sicht gekommen waren, aber trotzdem wußte sie, wo das Atoll lag und daß sie im Begriff waren, es Backbord achteraus hinter sich zu lassen. „Also schön", sagte er grimmig. „Dann spiel mal den Lotsen für uns, Mädchen. Vielleicht klappt es ja, und wir bringen es fertig, in eine geschützte Bucht von Ngau zu verholen." Das Mädchen nickte eifrig. „Bestimmt. Ich kenne jede Bucht der Insel. Wir laufen das Ostufer von Ngau an. Dort sind wenig Untiefen, und es gibt geschützte Plätze, wo keine Gefahr mehr ist." „Vielleicht treffen wir dort ja auch unseren Freund Sabicas wieder", sagte der Seewolf. „Na, das gäbe ein Fest." * Das Gelächter der Piraten brach ab. Der Landeplatz, an dem sie ihre Boote zu vertäuen pflegten, war erreicht, und aus dem Uferdickicht des Bachlaufes trat eine abenteuerliche Gestalt hervor. Ein Mann, ganz in lappige Kleider gehüllt und mit einem turbanähnlichen Hut auf dem Kopf. Seine Hautfarbe war hellbraun, seine Lippen breit und etwas wulstig, seine Augen groß und dunkel. Er war ein Dajak aus Kalimantan, Borneo, der auf vielen erstaunlichen Umwegen zu Sabicas und dessen Freibeuterbande gestoßen war.
In seinem Leibgurt trug er eine Pistole, einen Parang - ein kurzes malaiisches Schwert - und einen Kris, den Krummdolch der Malaien. „Treblan!" rief Sabicas, der sich von seiner Ducht aufgerichtet hatte. „Hast du uns lachen hören? Wir haben die ,E1 Gabian' verloren und selbst schwere Verluste hinnehmen müssen. Aber das ist für uns kein Grund zum Verzweifeln. Die Beute ist uns trotzdem sicher, hörst du?" „Ich höre euch schon eine ganze Weile zu", erwiderte der Dajak. „Ich bin euch durchs Dickicht gefolgt und habe euch beobachtet und belauscht." „Dachtest du etwa, wir wären Feinde?" „Freund oder Feind, wer kann das in dieser Dunkelheit und bei diesem Regen und Wind schon unterscheiden?" sagte Treblan, während er sich etwas vorbeugte und die Leine des Bootes von einem seiner Kumpane entgegennahm. „Man kann kaum noch die Hand vor Augen erkennen, und da wollte ich eben sichergehen, daß ich es nicht mit irgendwelchen Eindringlingen zu tun habe." Er entblößte seine untadeligen Zähne. „Immerhin hat unser Ausguck auf dem höchsten Aussichtspunkt der Insel seinen Posten beim Beginn des Sturmes räumen müssen, und da hätte sich jemand Unbefugtes leicht einschleichen können." Er zog die Jolle ganz zu sich heran, und Sabicas, Donato, der Eurasier und die anderen acht kletterten an Land. Rasch war das Boot vertäut. Gleich darauf setzte sich der kleine Trupp im zunehmenden Regen in Marsch. Rafael Sabicas gab dem vorsichtigen Dajak insgeheim recht. Hatte nicht er selbst seinen Kerlen immer wieder eingeschärft, sie sollten gerade bei Schlechtwetter aufpassen, daß
17 keine ungebetenen Gäste auf Ngau landen konnten? Und wenn sie landeten, dann mußte man ihnen irgendwo auflauern und einen Hinterhalt legen. Sabicas brachte sich mit zwei Schritten neben den Dajak und klopfte ihm jovial auf die Schulter. „Ich bin zufrieden mit dir, Treblan. Du hast mich während meiner Abwesenheit angemessen vertreten. Sind die drei anderen oben im Dorf?" „Ja. Ich bin als einziger Späher unterwegs. Aber so groß ist die Insel ja nicht." „Hat es Ärger mit den Eingeborenen gegeben?" „Nein. Und sie werden sich hüten, uns welchen zu bereiten. Waffen haben sie nicht, Boote auch nicht. Sie können uns weder überwältigen noch fliehen", antwortete der Dajak in seinem groben, fehlerhaften Spanisch. „Sie tun gut daran, zu kuschen und folgsam zu sein." „Und die Mädchen?" „Die Mädchen warten auf euch, Señor. Auch sie sind folgsam - und willig." Wieder grinste der Mann von Kalimantan. „Aber wo ist Lavida? Ist sie tot? Und die anderen, sind sie im Kampf gefallen? Gegen wen? Willst du mir nicht erzählen, was euch passiert ist? Habt ihr euch so schwer gegen das Schiff schlagen müssen, das wir vor zehn Tagen hier, vor Ngau, gesichtet haben?" „Wir sind vor einer der Samoa-Inseln noch einer anderen Galeone begegnet", erklärte Sabicas. Und dann berichtete er, was sich ereignet hatte. Eigentlich brauchte er dem Dajak keine ausführlichen Schilderungen zu liefern, er hätte sich mit einer knappen Darstellung der Geschehnisse begnügen können, gerade auch deshalb, weil sie eine so schimpfliche Niederlage erlitten hatten. Aber Sabicas wollte Treblan zu er-
kennen geben, daß er ihm mehr Vertrauen schenkte. In der Tat zog der Andalusier bereits in Erwägung, den Dajak an Donatos Stelle treten zu lassen - als Bootsmann auf der „El Cisne". Künftig würde dann eben der Kalabrier auf Ngau zurückbleiben, wenn sie auf Kaperfahrt gingen. Der Weg durchs Dickicht war beschwerlich. Wurzeln, Zweige und nasse, ledrige Blätter behinderten die Männer bei jedem Schritt. Der Regen weichte den Untergrund auf und ließ den Hang, den sie hochstrebten, schlüpfrig werden. Der Sturmwind peitschte hier, in den höheren Lagen, den Regenwald, in den das Gestrüpp nun überging, und ein Nachlassen des Tobens war auch jetzt noch nicht abzusehen. Endlich gelangten sie in das kleine Dorf im Herzen der Insel. Mächtige Bayon-Bäume streckten hier ihre Äste über niedrigen, reisiggedeckten Hütten aus. Die Luftwurzeln bildeten ein wirres Geflecht, das wie ein Vorhang am Saum der Lichtung herabhing. Sabicas' Gestalt straffte sich, als sie die Siedlung betraten. Er benahm sich jetzt wie der Herrscher eines phantastischen Reiches, der von einem seiner Feldzüge zurückkehrt. Aufmerksam hielt er Umschau. Die Bewohner der Hütten hatten sich unter den Sturmdächern der Vorbauten versammelt. Die drei Piraten johlten und pfiffen und winkten ihrem Anführer zu. Ein Hund kläffte, ein paar Hühner gackerten, zwischen zwei Bauten lief ein schwarzes Schwein durch eine Schlammpfütze. Die Hütten trotzten dem Sturm. Gut gewählt war der Platz für das Dorf, das stellte Sabicas auch jetzt wieder fest, denn die gigantischen alten Bayon-Bäume hielten das schlimmste Wüten des Wetters von den Häuschen fern.
18 Sabicas hob die Hand und grüßte seine Kumpane und „seine" Eingeborenen. Fast gemessenen Schrittes hielt er auf sie zu, und es störte ihn nicht, daß der Regen seine Kleidung durchweichte und seine Gestalt näßte. Eines friedlichen Tages vor zwei Jahren hatten sie das Inselparadies Ngau mehr durch Zufall als durch Absicht entdeckt. Damals hatten sich die Piraten auf der Flucht vor einem spanischen Kriegsschiffsverband befunden, und es war ihnen nur recht gewesen, sich mit der „El Cisne" und der „El Gabian" in der Felsenbucht verstecken zu können. Vorsichtig hatten sie die Insel erkundet und waren auf die Bewohner gestoßen. Diese „nackten Wilden" waren melanesisch-polynesische Mischlinge, völlig friedfertige Menschen, die damals zum erstenmal in ihrem Leben weiße Männer sahen. Auch Malaien, Dajaks, Asiaten und Eurasier hatten sie noch nie gesehen. Freundlich hatten sie die „fremden Götter" aufgenommen und bewirtet, und bitter war der Preis gewesen, den sie für ihre Gutgläubigkeit hatten zahlen müssen. Sabicas hatte sie versklavt. Sie waren seine Leibeigenen auf Lebenszeit. Da er Ngau zu seinem ständigen Aufenthaltsort und Schlupfwinkel bestimmt hatte, wäre es töricht von ihm gewesen, die Inselwilden umzubringen, wie er ursprünglich vorgehabt hatte. Nein, er brauchte sie: Sie hielten Haustiere und bauten Eßbares an. Auf diese Weise konnten sich auch die Seeräuber ihre Verpflegung mühelos sichern. Das Proviantproblem war gelöst - auf Lebenszeit. Auf Ngau gab es also nicht nur Papageien, Schildkröten, Schlangen, Feldermäuse und Mäuse - die Hühner und Schweine der Eingeborenen
waren gut gemästet und erwiesen sich als äußerst wohlschmeckend. Auf ihren Feldern mitten im Dschungel bauten die Insulaner Zuckerrohr, Reis, Pisang, Bataten und Taro an. Außerdem lieferte der Regenwald Bananen, Kokos, Ananas und die Brotfrucht. Süßwasser spendeten drei Bäche, die nie versiegten. Man konnte sorglos in den Tag leben und brauchte nur nach vorbeisegelnden Schiffen Ausschau zu halten. Die erschienen in unregelmäßigen Zeitabständen, und nicht alle waren Kriegssegler wie jene, die die Piraten gejagt und schließlich doch nicht mehr gefunden hatten. Ein halbes Dutzend Beutezüge hatte Sabicas in den zwei Jahren unternommen, und jedesmal war er „fündig" geworden. Gold, Silber, Geld und Gewürze hatte er von spanischen und portugiesischen Galeonen geholt. Einmal hatte er auch einen schwer beladenen Holländer aufgebracht. Das Gold, das Silber und die Münzen hatten Ponce und er behalten und geteilt. Die Gewürze hatten sie bis nach den Salomon-Inseln hinauftransportiert und dort bei Händlern in klingende Münze verwandelt. Eigentlich hatten sie ausgesorgt, aber sie konnten nicht genug kriegen, träumten von immer fetteren Prisen und von Palästen, die sie sich eines Tages bauen würden. Die Niederlage in der Schlacht gegen den Seewolf hatte Sabicas, Überheblichkeit gedämpft, aber sie hatte ihn nicht völlig seiner Selbstsicherheit berauben können. Lächelnd trat er zu den drei wartenden Piraten unter das Vordach der einen Hütte, begrüßte sie und sagte: „Wir haben verloren, aber wir werden siegen, verlaßt euch drauf. Wir kriegen noch so viel Gold und Silber in die Finger, daß euch die Augen übergehen."
Mit diesen Worten wandte er sich von ihnen ab, bückte sich und tauchte in das Dunkel im Inneren der Hütte. Gleich hinter dem Einlaß verhielt er und ließ seinen Blick durch den recht großen, adrett eingerichteten Raum wandern. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die schlechten Lichtverhältnisse. Er sah jetzt die schlanken Gestalten: fünf, sechs, acht-nein, neun: die Mädchen, die er hier zu seiner „persönlichen Betreuung" gefangenhielt. Drei Mädchen stammten wie Lavida, die die schönste von ihnen allen gewesen war, aus dem Dorf von Ngau. Die sechs anderen hatte er bei einem seiner Unternehmen von einer benachbarten Inselgruppe mitgebracht. Dort, auf den sogenannten Hebriden, hatte es außer diesen dunkeläugigen jungen Dingern nichts zu holen gegeben. Er unterbrach sich in der Betrachtung seines Harems und sagte: „Nun? Freut ihr euch denn gar nicht, daß euer Patrón wieder zu Hause ist? Wollt ihr mich nicht begrüßen?" Er breitete die Arme aus und lachte. Sie erhoben sich, eine nach der anderen, und schritten lautlos auf ihn zu. Jede hätte ihm gern ein Messer zwischen die Rippen gestoßen, aber sie hatten keine Messer und konnten sich auch keine beschaffen, weil sie ständig bewacht wurden. Sie hatten als Waffen nur ihre Zähne und Fingernägel, und die reichten nicht aus, um einen Kerl wie den Andalusier zu besiegen. 4. Der Kutscher öffnete die Tür zu Lavidas Kammer. Er hielt eine flakkernde Öllampe in der rechten Hand und mußte aufpassen, daß sie erstens
19 nicht erlosch und zweitens nicht das Schiff in Brand setzte. Außerdem mußte er sich mit der linken Hand festklammern und mit den Beinen das Gleichgewicht im wild schwankenden Achterdecksgang halten. Das alles zusammen kam schon eher einem akrobatischen Kunststück als seemännischer Fertigkeit gleich. Zuckend leckte der Lampenschein durch die Kammer. Der Kutscher sah die leere Koje, die Decke, die zu Boden gerutscht war - und wußte Bescheid. Er hatte eben gerade das Rumoren vor dem Achterdecksschott vernommen, Schreie gehört und beschlossen, nach dem Rechten zu sehen. Jetzt wurde ihm klar, daß es Lavida gewesen sein mußte, die für zusätzlichen Aufruhr auf Deck gesorgt hatte. Fluchend schloß er die Tür und wandte sich dem wild in seinen Angeln hin und her schwingenden Schott zu. Taumelnd bewegte er sich voran, und die Öllampe war ihm eher hinderlich als nützlich. Ein Schwall Wasser ergoß sich in den Gang. Die Planken verwandelten sich in eine nasse Rutschbahn. Der Kutscher stieß einen entsetzten Laut aus und suchte nach neuem Halt, aber jede Initiative erfolgte zu spät. Er glitt aus und fiel der Länge nach hin. Die Öllampe entglitt seinen Fingern. Sie zerschellte an der rechten Gangwand, das Öl lief aus und wurde durch die Flamme entzündet. Aber im nächsten Augenblick erlosch das Feuer unter dem rauschenden und gurgelnden Seewasser, das jetzt alles zuzudecken schien. Der Kutscher versuchte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, sich aufzurappeln. Du mußt das Schott schließen und neu verschalken, dachte er, mein Gott, das Wasser füllt die Laderäume, wenn du nicht
20 sofort hinläufst. Das Schott krachte zu und öffnete sich nicht mehr. Jemand fluchte und schien im Wasser zu zappeln. Etwas polterte dumpf gegen die Wand. Der Kutscher erhob sich und stolperte voran. Weit gelangte er aber nicht, denn jemand war ihm im Weg. Mit diesem Jemand kollidierte er, und sie gingen beide laut wetternd zu Boden. Plötzlich knallte dem Kutscher etwas Bretthartes ins Kreuz und das fand er nun wirklich alles andere als lustig. Stechend fuhr der Schmerz durch des Kutschers Körper, und in dem sonst so friedfertigen Mann schäumte ein wildes Gefühl von Wut und Vergeltungssucht hoch. Er drehte sich, stieß seinen wüstesten Fluch aus und griff dem unbekannten Widersacher an die Kehle. „Himmelhund!" krächzte eine Stimme unter ihm. „Wildsau! Willst du mich wohl loslassen?" Es war stockfinster, aber der Kutscher erkannte den anderen natürlich an seiner Stimme. „Donegal", stieß er verblüfft aus. „Mein Gott, was ist denn in dich gefahren?" „Das wollte ich dich gerade fragen, Kutscher, du Satan von einem Knochenflicker!" „Jesus, Donegal", stammelte der Feldscher und Koch der „Isabella". „Ich hätte dich nicht gepackt, wenn du mich nicht geschlagen hättest. Wie kommst du denn bloß dazu - und was in aller Welt war das, das mir da in den Rücken gekracht ist?" „Meine Krücke. Und mein Holzbein schnall ich auch gleich ab, du Satansbraten, wenn du mich nicht augenblicklich freiläßt." Der Kutscher nahm seine Hände von Old Donegal Daniel O'Flynns Gurgel. Sie rappelten sich beide auf, und der Alte sagte: „Hölle und Ver-
dammnis, das muß heute mein schwarzer Tag sein. So ein Pech hab ich schon lange nicht mehr gehabt." „Donegal, wo ist das Mädchen?" „Bei Hasard, Ben und Pete im Ruderhaus. Alles in Ordnung, ich hab mich selbst davon überzeugt. Sie will uns zeigen, wo die Insel Ngau liegt, und das kann uns doch nur recht sein, oder?" „Ja, aber ..." „Ich hab's satt, diesen beschissenen Sturm abzureiten. Der ist ja fast noch schlimmer als der Taifun, den wir damals im Chinesischen Meer auf die Jacke gekriegt haben." „Donegal, ich glaube trotzdem, daß Lavida sich übernommen hat." Der Alte ließ einen schnaufenden Laut vernehmen. „Das hab ich ja auch gesagt, aber wie es den Anschein hat, vertraut Hasard ihrem Ratschlag. Doch nun verrate mir mal einer, wie sich so ein Weiberrock mitten im dicksten Sturm zurechtfinden will!" „Das meine, ich nicht." Der Kutscher prallte in einer neuen wilden Schlingerbewegung der Galeone gegen die Gangwand und stöhnte auf, weil sein Rücken wieder schmerzte. „Lavida hat ihre Energien überschätzt'. Sie ist noch nicht ganz genesen. Die Wunde wird zwar nicht wieder aufbrechen, da bin ich sicher, aber sie ist noch zu schwach, um sich länger als ein paar Minuten auf den Beinen zu halten. Anderenfalls hätte ich ihr doch keine Bettruhe mehr verordnet." „Mit anderen Worten, du willst lieber nach oben?" „Richtig." „Dann hau ab und sieh zu, daß du das Schott von außen verschalkst", sagte der Alte barsch. „Ich kümmere mich inzwischen um Hasard junior und Batuti. Es ist doch wohl alles beim alten, oder?"
21 „Ja. Aber Philip junior kann bei der Krankenwache gut Unterstützung brauchen." „Das hab ich mir gedacht", knurrte Old O'Flynn und balancierte auf den schlüpfrigen Planken davon. Er öffnete die Kammertür, hinter der er das Krankenlager wußte, trat in den nachtdunklen Raum und sagte: „Philip! He, Philip, was ist? Schläfst du?" „Nein, Sir. Aber ich sehe nichts", antwortete der Junge. „Und ich kann nicht gleichzeitig bei Hasard und bei Batuti sein, um sie aufzufangen, wenn sie aus der Koje fallen." „Batuti fällt nicht", ertönte die tiefe Stimme des Gambia-Mannes. „Batuti ist wieder auf dem Damm und kann auslaufen." „Haha", sagte der Alte, während er mit den Fingern nach einer Lampe tastete und dabei fast über einen am Kammerboden festgekeilten Tisch fiel. „Oben warten sie schon auf dich, du Großmaul. Du sollst gleich in den Vormars aufentern und eine Fackel anzünden, damit wir im Sturm endlich was sehen." Der schwarze Herkules lachte. „Oh, nichts lieber als das, altes O'Flynn. Ich steh gleich auf und ..." „Laß das bleiben, du Affe", fauchte der Alte ihn an. „Zwei Mann haben heute schon meine Krücke zu spüren gekriegt, und es würde mich freuen, sie auch dir übers Kreuz zu ziehen." „Aye, Sir. Batuti ist ganz brav." „Macht euch keine Sorgen, Leute", sagte Old O'Flynn. „Der Sturm klingt bald ab, und unsre Lady hält ihren dicken Hintern so munter und steif in den Wind, daß es eine Freude ist. Wir laufen Ngau an, die Insel der Piraten, und dort werden wir wohl eine Bucht finden. He, Philip, was ist mit Hasard los?" „Er schläft", erwiderte der Junge. „Vorläufig kann ihn nichts wecken,
glaube ich." „Schläft sich gesund, junges Killigrew", sagte Batuti vergnügt. „Recht so." „Ja, recht so", äffte der Alte ihn nach. „So einen festen Schlaf möchte unsereins auch mal haben. Teufel auch, die Jugend von heute kann wohl nichts erschüttern, wie?" Er wurde immer wütender, weil er weder eine Lampe noch Feuerstein oder Feuerstahl fand - und weil heute sein schwarzer Tag war. Schließlich gab er die Suche auf und hockte sich zu Batuti auf den Rand der Koje. Sie schwiegen alle drei und lauschten dem Röhren und Heulen des Sturmes, dem Rauschen der See un i dem dumpfen, unheimlichen Knacken und Rumpeln im Schiffsrumpf. * Der Kutscher war endlich beim Ruderhaus angelangt. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er Lavida aufrecht neben dem Seewolf, Ben Brighton und Pete Ballie stehen sah. Keuchend arbeitete er sich bis zur rechten Türöffnung vor und schob sich zu den Männern und dem Mädchen in das enge Geviert. „Weiter Steuerbord", sagte die Polynesierin gerade. „Unmöglich!" rief Ben Brighton. „Wir können nicht noch weiter anluven, Sir! Das schaffen wir nie. Es zerhaut die ,Isabella' in tausend Stücke, verflixt noch mal!" „Nein, nur das Ruder", meinte Pete Ballie. „Wie, genügt das etwa nicht?" schrie Ben. „Der Sturm hat etwas geraumt!" rief Hasard. „Also geht höher 'ran! Lavida kennt sich weder mit den exakten Kommandos noch mit den nautischen Begriffen aus, aber sie ist
22 diesen Kurs Gott weiß wie viele Male an Bord der ,E1 Cisne' gefahren." „Na, dann mal los", sagte Ben, ließ das Ruderrad kurz los und spuckte in die Hände. „Auf Deubel komm 'raus. Wir tun, was menschenmöglich ist." „Sir", sagte der Kutscher. „Sir, darf ich mir eine Bemerkung erlauben?" Seine Worte gingen im Sturmbrausen fast unter. „Ich weiß schon, was du willst", entgegnete der Seewolf. „Es ist unverantwortlich, das Mädchen hier oben zu behalten; nicht wahr? Da bin ich ganz deiner Meinung. Aber Lavida will sich unbedingt für ihre Lebensrettung revanchieren. Und ich bin egoistisch genug, ihr Angebot anzunehmen. Lange können wir uns in diesem Höllenwetter nämlich nicht mehr halten, weißt du das?" „Ja, Sir." „Dann vergiß deine Einwände!" Der Kutscher bemühte sich, sie zu vergessen, aber er blieb im Ruderhaus. Er half seinem Kapitän und den Kameraden, sich festzubinden, und zum Schluß verlieh er auch sich selbst durch ein Tau, das er sich um die Hüfte schlang und dann an einem Augbolzen belegte, mehr Sicherheit. Alle Männer an Deck - von Ferris Tucker, der auf dem Quarterdeck Bens Platz eingenommen hatte, bis hin zu Bill, dem Moses, Serafin und Joaquin, die sich unmittelbar unterhalb der Back befanden -, alle banden sich jetzt mit Tauen fest, denn die ersten Ermüdungserscheinungen traten auf. Ein winziger Fehlgriff, ein scheinbar unbedeutendes Mißgeschick genügte, und man verließ die „IsabellaVIII." für ewige Zeiten und auf Nimmerwiedersehen. Ja, sie fühlten ihre Energien schwinden, nur der Sturm ermüdete nicht. Um keinen Deut ließ das Heulen und Brausen nach, obwohl die Seewölfe es sich immer wieder ein-
redeten. Nein, dieses Wetter würde auch am Abend noch nicht abflauen, vielleicht dauerte es bis zum nächsten Morgen an - oder noch länger. „Wir liegen höher am Wind!" meldete Ben Brighton seinem Kapitän mit verbissener Miene. „Wir halten Kurs, Sir!" „Gut so, Ben!" „Weiter!" rief Lavida. „Ich fühle, daß wir Ngau nah sind, ganz nah. Nur weiter in dieser Richtung!" „O Jesus, und so brummen wir dick und breit aufs Ufer der Insel", sagte Pete Ballie, der der ganzen Sache irgendwie nicht traute. Zum Glück hörte aber nur Ben Brighton, was er von sich gab. Ben, dem das Manöver selbst nicht geheuer war, äußerte sich nicht weiter dazu. Tief im Heck der „Isabella" gab es plötzlich einen Laut, der wie ein unterdrückter Knall klang. „Das Ruder!" schrie Pete Ballie. „Herrgott, das Ruder!" „Gebt auf das Ruder acht!" brüllte nun auch Ferris Tucker, der das Geräusch ebenfalls gehört hatte - trotz Sturmorgeln und Wasserrauschen. Hasard gab sich keinen Illusionen hin. Eindeutig hatte auch er das verdächtige Knacken als ein Alarmzeichen aus der Ruderanlage des Schiffes identifiziert. Einer der wuchtigen hölzernen Balken, der nach einem simplen mechanischen Prinzip das Rad mit dem Ruderblatt verband, hatte der Belastung nicht standgehalten. Er mußte angebrochen sein, aber noch funktionierte die Anlage. Daß dies aber kein Grund zum Frohlocken war, wußte der Seewolf so gut wie seine Männer. Schon beim Anrollen des nächsten Brechers konnte das Ruder total zu Bruch gehen. Dann drehte das Rad leer, und die „Isabella" trieb hilflos und manövrierunfähig in der See - vorbei an Ngau und jeder rettenden Bucht.
23 Lavida stieß plötzlich einen hellen Laut aus. „Da!" rief sie. „Seht doch! Lobo del Mar - meine Insel!" Ziemlich verdutzt richteten die Männer ihre Blicke nach Backbord. Zuerst glaubte auch Hasard, daß Mädchen sei einer fieberhaften Vision erlegen. Aber dann erkannte er an der Stelle, auf die Lavidas ausgestreckter Finger wies, ein Gebilde, das geisterhaft aus der brodelnden See aufstieg. „Felsen", sagte er, „ein Kap! Und wir laufen keine Kabellänge entfernt daran vorbei. Mein Gott, daß das Wasser hier tief genug für uns ist und daß es keine Riffe gibt..." „... das kommt einem Wunder gleich, Sir!" rief der Kutscher. „Hoch lebe Lavida, sie hat es wirklich meisterhaft verstanden, uns auf die Insel zuzulotsen!" „Wir sind da!" stieß die Polynesierin lachend aus. „Gleich haben wir es geschafft! Nicht weit von hier ist eine Bucht!" „Ohren steifhalten und nicht lokkerlassen, Männer!" schrie Hasard seinen Männern zu. „Dreimal gegen den Wind spucken und dem Teufel von der Schippe segeln!" „Wenn das verdammte Ruder hält!" brüllte Ben Brighton, dem jetzt genau wie Pete Ballie der Schweiß in Strömen ausbrach. Inzwischen hatte die gesamte Crew durch Ferris Tucker erfahren, was geschehen war. Und alle bangten sie mehr um das Ruder als um ihr Leben, denn sie wußten ja, daß das eine mit dem anderen verbunden war. Bill, der Moses, hatte Serafin und Joaquin übersetzt, was die Männer sich zugerufen hatten, und so bekreuzigten sich die Spanier jetzt und schickten ein paar flehende Gebete zum Himmel. „Herr!" rief Joaquin. „Sei uns und unseren englischen Freunden gnä-
dig. Erweise uns nur diesen einzigen, letzten Gefallen - wir werden dir ewig dankbar sein." Das Ostkap der Insel war in Regen und Gischt verschwunden. Die „Isabella" schien wieder allein und ohne jeden Orientierungspunkt in den Fluten zu tanzen. Ja, es hatte den Anschein, als entferne sie sich von Ngau, statt näher an die Küste heranzusegeln und endlich in die ersehnte Bucht zu verholen. Hatte Lavida sich getäuscht? Hatte sie einen gravierenden Fehler begangen, jetzt, da sie dem Eiland schon so nahe gewesen waren? „Lavida", sagte der Seewolf. „Ich
bin der Meinung, wir sollten etwas abfallen und uns in Küstennähe halten. Wir tasten uns weiter nach Norden und wenden uns nach Westen, sobald wir einen natürlichen Hafen sichten." „Warte noch, es gibt ein Riff hier in der Nähe!" rief sie. „Daran müssen wir erst vorbei!" „Das geht nicht gut", murmelte Ben Brighton immer wieder. „Hölle, es nimmt ein böses Ende mit uns, sage ich." Ferris Tucker, der Profos, Big Old Shane und all die anderen an Deck stellten ähnlich düstere Überlegungen an. Ganz pessimistisch sah Old O'Flynn die Lage. Er hockte immer
24 noch neben Batuti auf der Koje in der Achterdeckskammer und hatte genau wie der Gambia-Mann und Philip junior das berstende Geräusch in der Ruderanlage überdeutlich vernommen. Wir saufen alle ab, sagte er sich im stillen, ich hab's ja vorausgesehen, das ist der Weltuntergang. Der Seewolf wollte gerade das Ruderhaus verlassen und mit Ferris Tucker hinunter ins Achterdeck steigen, um wenigstens zu versuchen, den Schaden zu finden und notdürftig zu beheben, da gab Lavida wieder einen hohen, jauchzenden Laut von sich. „Nach Backbord!" rief sie, so laut sie konnte. „Jetzt sind wir vor der Bucht!" Es mußte wirklich der Instinkt des naturgewachsenen Eingeborenen sein, der ihr dies eingab. Zu sehen war dort drüben im Westen nämlich wirklich nichts. Keine Felsen, kein Strand, keine sturmgebeugten Palmen und Mangroven, nein, nur das wogende Meer, die Wolken von Gischt und Regen und die unselige Finsternis breiteten sich rund um die „Isabella" aus. Wie Lavida es also fertiggebracht hatte, die Bucht zu orten, blieb für die Männer ein Rätsel. Nichtsdestotrotz handelte der Seewolf schnell und ohne weiter darüber nachzudenken. Er ließ abfallen, bis der Bugspriet der „Isabella" nach Nordwesten wies, und dann kämpfte sich die Galeone vor dem zornigen Sturmwind in ruhigeres Wasser hinein. Nur schwach waren die buschbewachsenen Streifen Land zu erkennen, die an Backbord und an Steuerbord der „Isabella" vorbeiglitten. Aber diese Entdeckung genügte den Männern. Sie wußten jetzt, daß sie die Einfahrt der Bucht passiert hatten. Ein weiterer Beweis dafür war
das unvermittelte Nachlassen der Dünung. Wie eine schützende Hand schloß sich das Ufer der Ankerbucht um die „Isabella". „Ein dreifaches Hurra für Lavida!" stieß Blacky begeistert hervor. „Schreit gefälligst leise, ihr Bücklinge!" rief Carberry. „Wollt ihr uns Sabicas auf den Pelz locken?" „Ach, der", sagte Smoky grinsend. „Der hat doch vorläufig mit sich selbst genug zu tun. Außerdem kann er uns nicht mehr gefährlich werden." „Da würde ich aber nicht so sicher sein", ließ sich Stenmark vernehmen. „Ngau ist sein Versteck, und hier hält er wieder alle Trümpfe in der Hand. Paß auf, der legt uns noch einen Hinterhalt!" „Egal!" rief Smoky. „Arwenack, wir haben unsern Achtersteven im Trockenen, und der Rest ist nur noch halb so schlimm. Hurra, es lebe Lavida!" „Hurra!" schrien die Männer. „Ruhe, oder ich stopfe euch der Reihe nach in die Vorpiek", fuhr der Profos sie an. „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? He, Mister Davies, grins bloß nicht so. Dich stekke ich als ersten ins Loch, wenn du nicht sofort deinen Schnabel hältst. Ihr disziplinlosen Säcke, reißt euch zusammen!" Lavida wandte sich dem Seewolf mit einem Ausdruck tiefer Glückseligkeit zu. „Gefällt dir diese Bucht? Bald wirst du sie im Sonnenlicht betrachten können. Sie ist ein wundervoller Platz, Lobo del Mar. Hier habe ich immer gebadet, bevor Sabicas erschien ..." Sie wollte weiterreden, aber plötzlich fehlten ihr die Kräfte dazu. Vor ihren Augen senkte sich ein schwarzer Vorhang herab. Ohnmächtig sank sie in Hasards Arme.
25 5. Die Lagebesprechung fand in Hasards Kammer statt. Ben Brighton, Ferris Tucker, Big Old Shane, Carberry, die beiden O'Flynns, Smoky und der Kutscher waren zugegen. Der Seewolf schenkte Whisky in kleinen Zinnbechern aus. Auch die Mannschaft hatte er inzwischen mit einer Sonderration Branntwein versorgen lassen. Nach den zuletzt durchgestandenen Strapazen brauchten sie alle dringend eine Stärkung. Der Kutscher trank seinen Becher in einem Zug leer, setzte das Gefäß ab und sagte: „Der Schwächeanfall, den das Mädchen erlitten hat, ist nicht so schlimm, wie er auf den ersten Blick gewirkt hat. Lavida ist bereits wieder bei Besinnung, Sir." Hasard stand vor der Tür, die auf die Heckgalerie hinausführte, und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie soll in ihrer Koje liegenbleiben und sich gründlich erholen. Gib ihr gut zu essen und zu trinken, Kutscher. Was ist mit ihrer Hüftwunde?" „Die habe ich noch mal kontrolliert. Sie ist vollständig vernarbt." „Gut. Glaubst du, daß Lavida bis heute abend wieder zu Kräften kommt?" „Ja, aber ich..." „Ich setze sie keinen übermenschlichen Anstrengungen aus, Kutscher, sei ganz beruhigt. Ich will nur, daß sie uns in ihr Dorf führt, das ist alles. Lavida hat selbst den Wunsch geäußert, so schnell wie möglich die Insel zu betreten." Der Seewolf wandte sich seinem rothaarigen Zimmermann zu. „Wie sieht es mit dem Ruder aus, Ferris?" „Ein Querbalken der Anlage ist so schwer angeknackst, daß ich ihn er-
setzen muß." „Schaffst du das bis heute abend?" „Ja, denn ich habe ein passendes Stück Holz an Bord und brauche nicht erst im Urwald nach einem Baum zu suchen, den ich fällen müßte", versetzte der Riese grinsend. „Und um gleich deiner nächsten Frage vorzugreifen: Weitere nennenswerte Schäden haben wir nicht erlitten. Ich traue mir also zu, die Lady in vier, höchstens fünf Stunden wieder komplett instand zu setzen - vorausgesetzt, du gibst mir fünf Mann als Helfer." „In Ordnung. Such dir die Männer selbst aus." „Batuti möchte aus seiner Koje abentern", sagte nun der alte O'Flynn. „Ja, das hat er allen Ernstes geäußert. Und ich soll es dir mitteilen. Er will wissen, ob er sich zurück zum Dienst melden darf." Der Seewolf lachte. „Dann antworte ihm, mein streng dienstlicher Befehl laute, daß er weiterhin auf seinem Kojenposten bleibt und an der Grasmatratze lauscht. Gib ihm meinetwegen eine Doppelration Whisky, Rum oder Brandy, damit ihm das Warten nicht zu schwer fällt. Wie geht es Hasard junior?" „Der ist endlich mal aufgewacht", erwiderte der Alte mit verkniffener Miene. „Hat eine Menge dumme Fragen gestellt, der Bengel. Außerdem hat er einen Bärenhunger und einen Mordsdurst." „Da schaffe ich gleich Abhilfe", sagte der Kutscher. „Je mehr Hasard junior schläft und ißt, desto schneller kommt er wieder auf die Beine." „Was hat er dich denn gefragt, Donegal?" wollte Shane wissen. „Ob wir Sturm kriegen", gab der Alte verdrossen zurück. „Von dem Wetter hat er nicht die Spur mitgekriegt, stellt euch das vor." „Und was ist mit Philip junior?"
26 erkundigte sich Dan. „Der pennt", entgegnete der Alte, und diesmal grinste er. „Hat ja auch lange genug am Lager seines Bruders Wache gehalten, der arme Teufel." „Ja, sagte der Seewolf. „Männer, alles in allem gesehen können wir also noch recht zufrieden mit dem Verlauf der Dinge sein. Doch nun zu meinem Plan. Ich will ein Boot bemannen und als erstes die Bucht auskundschaften. Sollte der Zufall auch Sabicas und seine Bande hierherbefördert haben, so will ich ihm zuvorkommen." „Wie?" rief Carberry verblüfft aus. „Du rechnest allen Ernstes damit, daß dieser Hundesohn mit seinem Scheißkahn in derselben Bucht ankert wie wir?" „Ich rechne nicht damit, Ed. Aber ich will vor Überraschungen sicher sein." „Aye, Sir. Und was geschieht, wenn wir die Bucht abgeforscht haben?" Hasard sah seinen Profos ernst an. „Dann landen wir. Ich nehme Lavida und einen Trupp von zehn Männern mit. Wir steigen in die Berge der Insel auf und marschieren in das Dorf. Ich habe euch erzählt, was Lavida mir über das Schicksal ihrer Brüder und Schwestern berichtet hat. Dies ist ja auch der Grund, warum ich Sabicas doch noch gefolgt bin und unbedingt nach Ngau wollte." „Eine Handvoll Piraten paßt auf die Insulaner auf", sagte Ben Brighton. „Soviel wissen wir. Es handelt sich um rund vierzig Sklaven, Frauen und Männer, und unter den Mädchen, die Sabicas sich als seinen persönlichen ,Harem' hält, befinden sich auch sechs von den Neuen Hebriden entführte Schönheiten. Es ist Ehrensache, daß wir sie alle heraushauen und für immer aus der Gefangenschaft der Freibeuter befreien, wenn
ich dich richtig verstanden habe, Sir." „Genau das meine ich. Hast du Einwände, Ben?" „Nein. Aber ich schließe nicht aus, daß die ,El Cisne' die versteckte Felsenbucht an der Westseite der Insel doch noch erreicht hat." Hasard nickte. „Ich bin sogar ziemlich sicher, daß sich Sabicas und seine Leute mittlerweile in dem Inseldorf befinden. Nach meinen Schätzungen sind sie noch etwa ein Dutzend Kerle. Hinzu kommen die Bewacher des Dorfes, vier Burschen unter der Leitung eines Dajaks." Auch diese Details waren aus Lavidas Schilderungen hervorgegangen. „Somit hätten wir also sechzehn, siebzehn Piraten gegen uns", fuhr der Seewolf fort. „Hölle", brummte Shane. „Da sollten wir uns lieber überlegen, ob wir nicht noch den morgigen Tag und eine mögliche Wetterberuhigung abwarten." „Warum?" fragte Hasard. „Damit Sabicas uns sichten und angreifen kann - aus dem Hinterhalt?" „Nein, das meine ich natürlich nicht", erwiderte der graubärtige Riese. „Es geht mir um was anderes. Wenn die See es zuläßt, können wir mit der ,Isabella' die Insel runden und in die westliche Felsenbucht einlaufen, von der das Mädchen gesprochen hat. Dort würden wir die ,El Cisne' aus vollen Rohren befeuern und mit Brandpfeilen und Höllenflaschen bepflastern, während unser Landtrupp zur selben Zeit das Dorf aufsucht." „Eine kombinierte Aktion, wie wir sie schon oft durchgeführt haben", sagte der Seewolf. „Natürlich wäre sie das Sinnvollste, Shane, da gebe ich dir durchaus recht. Aber noch haben wir einen Vorteil, und den müssen wir ausnutzen: Sabicas und
27 seine Spießgesellen wissen nicht, daß „Aber auch nur zahlenmäßig." wir hier sind. Vielleicht glauben sie „Wie auch immer, du bleibst hier, sogar, daß wir mit unserem Schiff du hast es ja gehört", zischelte Old auf den Korallenriffen zerschellt Donegal Daniel O'Flynn. Er hob den sind. Unser Eindringen in das Dorf Kopf und sah seinen Kapitän an. würde also völlig überraschend für „Aber, Teufel auch, ich würde bei sie erfolgen. Diesen Trumpf lasse ich dem Landunternehmen gern mitholmir nicht aus der Hand nehmen." zen, Sir." „Ja, Sir. Dann möchte ich bei dem „Donegal, irgend jemand hat mir Landunternehmen aber bitte mit da- vorhin gesagt, du hättest heute deibeisein." nen schwarzen Tag", sagte der Seewolf, ohne eine Miene zu verziehen. „Einverstanden." „Ich melde mich ebenfalls freiwil- „Wenn das der Fall ist, ist es wohl lig", sagte Ben Brighton. „Wenn es doch nicht so angebracht, daß du mit Sabicas ans Leder geht, will ich nicht an Land gehst." „Was? Welcher Hund hat sich erfehlen." dreistet, so was zu behaupten?" wet„Ich auch nicht!" rief Dan O'Flynn. terte der Alte los. Alle meldeten sich jetzt freiwillig, Dan grinste schief. „Kann sein, daß und für einen Augenblick entstand hektische Unruhe. Hasard dämpfte du es selbst gewesen bist, Dad. Was sie und brachte seine Männer zum meinst du?" „Ich meine, daß du dein vorlautes Schweigen, indem er beide Hände Maulwerk halten sollst. Sir, ich werhob. „Langsam, langsam", sagte er. „Na- de beweisen, daß ich voll getakelt türlich kann ich nicht die ganze und geflaggt bin und meinen Mann Schiffsführung mitnehmen, das zu stehen weiß, geschehe, was da müßt ihr einsehen. Ferris, daß du will." Hasard begegnete dem Blick des hierbleibst, ist schon mal klar. Schließlich mußt du das Ruder repa- Alten. Natürlich wußte er, wie es um Old O'Flynns Gemütszustand berieren und die Lecks abdichten." „Das verfluchte Ruder", brummel- stellt war. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut, hatte im te der rothaarige Riese. Old O'Flynn tickte mit der Krücke Sturm Carberry und den Kutscher gegen sein Bein und fragte: „Bist du angerempelt und kein sehr glücklidenn wirklich so scharf darauf, dich ches Bild abgegeben. Das wollte er abknallen zu lassen, Mister Tucker?" jetzt bereinigen. Er wollte sich selbst „Ich würde diesem Sabicas gern ei- neu bestätigen, sich selbst herausne Lektion erteilen, Mister O'Flynn, fordern. Die Möglichkeit dazu mußte Hadas ist es", erwiderte Ferris. „Wer sich Mädchen wie ein Rudel Hunde sard ihm fairerweise geben. „Gut, hält und obendrein auch noch auf sie Donegal", sagte er. „Du bist mit daschießt, der gehört meiner Ansicht bei. Du ebenfalls, Shane. Ja, und nach auseinandergenommen. Und auch du, Dan. Ed, du begleitest uns. ich laß mich schon nicht niederschie- Ben, dich möchte ich diesmal auch ßen, Mann, da kannst du ganz beru- mithaben. Kutscher, du bleibst an Bord; keiner kann unsere Patienten higt sein." „Du vergißt, daß die Piraten uns besser betreuen als du. Nein, Smoky, zahlenmäßig überlegen sind", gab tut mir leid, aber auch du bist auf der ,Isabella' wichtiger als auf der Insel. der Alte zu bedenken.
28 Ferris übernimmt während meiner Abwesenheit das Kommando, und du als Decksältester hast ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen." „Aye, aye, Sir", antworteten die Männer. „Ed, sag den anderen Bescheid, daß sie sich bereithalten sollen. Zur endgültigen Bootsbesatzung gehören außer uns Sechsen Matt Davies, Jeff Bowie, Sam Roskill, Al Conroy und Luke Morgan - und natürlich Lavida. Um die Bucht zu erkunden, genügen mir aber fünf Mann", sagte der Seewolf. „Ja, Sir. Und wann soll ich die Jolle abf ieren lassen?" erkundigte sich der Profos. „Sofort." * Der Seewolf hatte sich in der Beurteilung der in der Bucht gehenden Dünung nicht verkalkuliert: Zwar herrschte auch hier, an ihrem Ankerplatz, noch beachtlicher Seegang, aber er war doch nicht so stark, eine mit sechs Seeleuten bemannte Jolle umzuwerfen. Auf die kurze Patrouillenfahrt nahm der Seewolf Shane, die beiden O'Flynns, Sam Roskill und Al Conroy mit. Mit zügigem Schlag pullten die fünf das Boot durch das aufgewühlte Wasser. Hasard saß auf der Heckducht und bediente die Ruderpinne. Aufmerksam spähte er voraus. Schemenhaft zeichnete sich der weiße Sandstrand von Ngau in Regen und Dunkelheit ab. Ein heller Streifen, der sich im Nichts zu verlieren schien - mehr war nicht zu erkennen. Hasard hielt auf diesen seiner Schätzung nach breiten und ausladenden Strand zu, ging ziemlich dicht an ihn heran und steuerte
schließlich nach Norden. Er folgte dem Verlauf des Ufers, gewahrte bald bewaldetes, ansteigendes Gelände und orientierte sich daran. Dies alles ging in der kabbeligen, widerspenstigen See nicht so einfach vonstatten. Die Wogen hoben die Jolle hoch und ließen sie abrupt absakken. Sie knallten unter ihren Bug und hieben gegen ihre Bordwände. Gischt sprühte über die Dollborde und näßte die Gesichter und die Gestalten der Männer, als ob der niederrauschende Regen nicht schon genug wäre. Die Bucht erwies sich als recht geräumig - so groß, daß drei, vier Galeonen mühelos darin Platz zum Ankern und zum Manövieren gefunden hätten. Ihr westliches Ufer bestand ganz aus dem flachen weißen Strand, der sich harmonisch in das Grün des Regenwaldes fügte wie die Feder eines Paradiesvogels in einen Moosteppich. Im Norden, Süden und Osten - hier bis zur Einfahrt der Bucht - wucherte das Dschungeldikkicht bis ans Wasser. Die Wurzeln von Mangroven und Bayon-Bäumen ragten wie Gespensterfinger in die Luft. Das natürliche Hafenbecken bildete von Norden nach Süden eine länglich-runde, schalenähnliche Form, und Hasard konnte sich jetzt sehr gut vorstellen, daß sie in ihrer Gesamheit bei schönem Wetter einen traumhaften Anblick bot, der zum Verweilen einlud. Eins war sicher: Außer ihrer „Isabella" befand sich kein anderes Schiff in dieser Bucht. Der Seewolf war jetzt nahezu sicher, daß die „El Cisne" auf der anderen Seite von Ngau in der von Lavida erwähnten Felsenbucht ankerte. Er hatte seine Rundfahrt durch die Bucht abgeschlossen. Die „Isabella" kam wieder in Sicht, allmählich vervollständigen sich ihre Konturen zu
einem wuchtigen Ganzen. Fast eine Stunde war vergangen, seit sie sie verlassen hatten. „Wir gehen längsseits", sagte der Seewolf zu seinen Männern. „Sehen wir nach, ob Lavida bereits wieder soweit zu Kräften gelangt ist, daß sie uns begleiten kann. Wenn ja, nehmen wir auch den Rest unseres Trupps ins Boot auf und legen gleich wieder ab." Plötzlich lächelte er. Lavida erwartete sie bereits. Sie stand am Steuerbordschanzkleid der Kuhl und winkte ihnen zu eine gertenschlanke, bronzen wirkende Gestalt, deren lange schwarze Haare wild im Sturmwind flatterten. 6. Treblan, der Dajak, fand auch an diesem Abend keine Ruhe. Er hatte zwei Männer mitgenommen, um einen ausgiebigen Streifzug quer über die Insel zu unternehmen. Er fühlte sich für die Sicherheit der Bande verantwortlich und wollte nichts unterlassen, um einen ruhigen und ereignislosen Verlauf der Nacht zu gewährleisten. Wie Donato, der Kalabrier, spürte auch er unterbewußt, daß sich Sabicas mit seiner Behauptung, die „Isabella" sei sicherlich auf die Korallenriffe gelaufen, auf dem Holzweg befinden konnte. Der höchste Punkt der Insel Ngau, den sie den „Aussichtsplatz" nannten, befand sich keine Meile vom Dorf entfernt. Hier oben warf der Sturmwind aus Südosten die drei Piraten fast um. Erkennen konnten sie in den Sturzbächen von Regen, die jetzt niederprasselten, noch weniger als beim Beginn des Wetters. So stieg Treblan mit seinen beiden Kumpanen zum Ostufer der Insel
29 hinunter und kämmte auf geheimen Pfaden das Dickicht ab. Auf Zickzack-Wegen arbeiteten sie sich langsam auf die Küste zu. Immer wieder blieb der Dajak stehen und hielt mißtrauisch nach links und rechts Ausschau. Der Mann hinter ihm sagte in einem Sunda-Dialekt, den sie alle drei beherrschten: „Verdammt, Treblan, was glaubst du eigentlich zu finden?" Er war ein schwarzhaariger Malaie von mittelgroßer Statur und schlankem, geschmeidigem Körperbau. „Hier ist doch nichts. Hier hält sich keiner versteckt, nicht bei diesem Wetter", meinte jetzt auch der dritte, ein hellhäutiger Mischling aus Neuguinea. „Warum geben wir es nicht auf und gehen zu den anderen zurück? Die lassen sich jetzt den Hals vollaufen und vergnügen sich mit den Weibern." Treblan fuhr zu ihnen herum. „Gerade bei diesem Wetter besteht die Gefahr, daß Feinde auf Ngau landen. Euch hat das lange Faulenzen nicht wohlgetan. Ihr seid vollgefressen, schlaff und sorglos, aber ich sage euch, das ist eine große Gefahr." „Du witterst überall Gefahr", sagte der Malaie. „Aber diesmal übertreibst du wirklich, glaube es mir." „Wir gehen weiter - bis zu der großen Bucht mit dem weißen Sandstrand", zischte der Dajak. „Oder wollt ihr, daß ich Sabicas von eurem Widerwillen und Unmut berichte?" „Nein", entgegnete der Mann aus Neuguinea, als Treblan einen scharfen Blick auf ihn abschoß. „Natürlich nicht. Lieber lassen wir uns gründlich durchregnen. Schon gut, Treblan." Er fürchtete den Dajak, denn der konnte mit dem Parang und dem Kris besser umgehen als der Malaie und er zusammen. Schweigend schlossen sie sich also wieder dem Dajak an, der sich um-
30 wandte und dem Verlauf des schmalen Urwaldpfades nach Südosten folgte. Etwas mehr als zweihundert Schritte später verharrte Treblan erneut. Er wußte, daß sie jetzt fast auf dem Strand angelangt waren, aber ehe er mit seinen Kumpanen bis ganz an den Rand der Bucht vorpirschte, wollte er lieber noch einmal Umschau halten. Ihr Standort lag auf dem Hang eines sanft abfallenden Hügels, und an diesem Punkt kannte der Dajak einen Baum, dessen gekrümmter Stamm sich hervorragend zum Klettern eignete. Er entdeckte diesen Baum nach einigem Suchen, gab dem Malaien und dem Mann aus Neuguinea durch eine Gebärde zu verstehen, sie sollten sich verstecken und kein Wort reden, und kletterte den nassen, schlüpfrigen Stamm hoch. Wenig später konnte er vom Wipfel aus den Streifen weißen Sandes erkennen. Auch der Regen war nicht dicht genug, um die Helligkeit des flachen Ufers ganz verblassen zu lassen. Angestrengt blickte der Dajak über den offenbar leeren Strand und versuchte, etwas von dem zu erkennen, was hinter der Brandung lag. Es gelang ihm nicht. Er wollte schon wieder auf den Boden zurückkehren, da nahm er plötzlich nahe der Brandung eine Bewegung wahr. Seine Augen wurden noch schmaler, sein Gesicht verzerrte sich leicht, und er verharrte in steifer, völlig regloser Haltung auf dem Ast des Baumes. Als er die Umrisse eines Bootes erkannte, hielt er sogar den Atem an. Das da - das war eine Jolle, wie die „El Cisne" sie als Beiboot führte. Zweifellos handelte es sich um das Beiboot eines größeren Segelschiffes. Treblan sah die Gestalten, die
darin hockten und sich durch kräftige Riemenschläge voranbrachten, und er dachte sofort an Verrat und Überfall, an Fechten, Ringen, Würgen und Morden. Das Boot schob sich mit seinem Bug auf den Strand. Rasch waren die Gestalten ausgestiegen, und ebenso flink hatten sie das Boot auf den Strand gezogen. Die Gruppe löste sich auf und formte gleich darauf eine Schlangenlinie, die sich in Richtung auf den Busch in Bewegung setzte. Der Dajak konnte jetzt zwölf Gestalten unterscheiden elf Männer und ein Mädchen. Plötzlich glaubte er, das Mädchen zu erkennen. „Lavida", flüsterte er. „Elende!" Der Trupp tauchte im Dickicht unter. Er war nur einen Steinwurf von ihnen entfernt. Treblan bezweifelte nicht, daß Lavida die fremden Männer ins Dorf hinaufführen würde und sie würden den Pfad benutzen, den auch der Dajak, der Malaie und der Mann von Neuguinea genommen hatten. Zwangsläufig würden sich also ihre Wege treffen. Treblan hielt beide Hände vor den Mund und ahmte den leisen Ruf eines Nachtvogels nach. Sofort schob sich unter ihm eine Gestalt aus dem Gebüsch hervor. Der Mann kletterte behende am Baumstamm hoch und schob sich auf Treblan zu. Es war der Malaie. „Donato hatte recht mit seinen bösen Vermutungen", raunte der Dajak ihm zu. „El Lobo del Mar lebt, und sein Schiff ist nicht gesunken. Eben ist er mit seinen Männern gelandet ..." „Woher willst du wissen, daß er es ist?" „Weil Lavida, diese Hure, bei ihnen ist. Sagt dir das nicht genug?" „Doch. Einer von uns muß zurück ins Dorf und Sabicas und die ande-
31 ren alarmieren", flüsterte der Malaie. Treblans Augen nahmen einen tückischen Ausdruck an. „Ja. Und die beiden anderen lauern diesen Hundesöhnen auf, um sie auf Ngau willkommen zu heißen." * Hasard und Lavida schritten ganz vorn und führten die zwölfköpfige Gruppe an. Ihnen folgten Ben Brighton, Big Old Shane, Dan O'Flynn, der Profos, Matt, Jeff, Sam, Al und Luke, und den Schlußmann stellte Old Donegal Daniel O'Flynn dar. Er hatte den Seewolf ausdrücklich darum gebeten, das Ende der Schlange absichern zu dürfen. „Weil ich felsenfest davon überzeugt bin, daß Sabicas' Kerle uns von achtern angreifen", hatte er behauptet. „Wir kannst du so sicher sein?" hatte Luke Morgan ihn gefragt. Der Alte hatte geantwortet: „Das sagt mir eine innere Stimme." „Siehst du schon wieder Gespenster?" „Ich seh keine Gespenster, du Stockfisch, ich lausche nur meiner inneren Stimme, und die sagt mir die Wahrheit, klar?" So hatte der störrische Alte gesprochen, als sie noch im Boot gesessen hatten. Und jetzt marschierte er auf drei Schritte Distanz hinter Luke Morgan her und sah sich immer wieder nach allen Seiten um. Ein Pfad führte in Windungen durch den Regenwald. Ein Pfad, den nur jemand wiederfinden konnte, der jeden Quadratyard dieser Insel kannte. Old O'Flynn sprach dem Mädchen Lavida insgeheim seine Anerkennung aus. Helles Kind, dachte er, um so einen guten Ortssinn würde dich mancher Seemann beneiden.
In gemessenem Tempo stiegen sie einen Hang hinauf. Der Untergrund war aufgeweicht und rutschig, man mußte höllisch achtgeben, daß man nicht darauf ausglitt. Schwül und stickig war hier im Dickicht die Luft. Der Dschungel atmete Feuchtigkeit aus, schien zu dampfen, und man hatte Mühe, Luft zu schöpfen. Old O'Flynn murmelte Flüche und verwünschte den Urwald und die ganze Insel in Grund und Boden. Langsam hatte er alles satt: die Südsee mit ihren unzähligen Inseln und Inselchen, die ewige Kreuzerei in unbekannten Gewässern, das Suchen nach einem günstigen westlichen Kurs, der zurück in die Alte Welt führte - zum Hals heraus hingen ihm das Tropenklima, die Palmen, die Strände, das Schnattern der Papageien, die Bananen, die Brotfrucht und der verdammte Dschungel. Wo das Meer endlich mal wieder aufhörte, war sofort der lausige Regenwald mit seiner dumpfen, brütenden Hitze. Verdrossen steckte Old O'Flynn die Spitze seiner Krücke in den Schlamm. Ursprünglich hatte er die Krücke an Bord zurücklassen wollen, um beide Hände frei zu haben. Schließlich gelangte er auch ohne sie gut voran, sofern der Beinstumpf nicht mal wieder schmerzte. Aber jetzt stellte sich doch heraus, daß sie gerade auf diesem Pfad ein brauchbares Hilfsmittel war. Der Alte verlagerte sein Körpergewicht darauf und brachte sich voran. Das Holz steckte tief genug im Morast, um nicht abzurutschen. Zügig arbeitete er sich voran. Über diese Technik vergaß er es fast, in die nähere Umgebung zu äugen - und um ein Haar wurde ihm dies zum Verhängnis. Plötzlich war die Gestalt einfach da.
32 Luke Morgan hatte erst jetzt den Sie nahte von rechts, schlüpfte in einer einzigen fließenden Bewegung erstickten Schrei des ersten Piraten aus dem Dickicht hervor, hob ein hinter seinem Rücken vernommen. Er blieb ruckartig stehen und fuhr Messer und sprang ihn an. Old O'Flynn begriff nicht nur, daß herum. Im nächsten Augenblick er mit seinen düsteren Visionen mal zückte er auch schon seinen Säbel. wieder recht behalten hatte, er erAl Conroy spürte, daß Luke hinter kannte auch blitzartig, daß ihm kei- ihm zurückblieb, und begriff, daß etne Zeit mehr blieb, das Entermesser was nicht in Ordnung war. Auch er zur Verteidigung aus dem Waffen- wirbelte herum und tastete nach seigurt zu reißen. nen Waffen. Nach und nach verharrMit einem nur halb ausgesproche- ten auch die anderen. Hasard und nen Fluch auf den Lippen ließ er die Lavida verließen die Spitze des Krücke hochschwingen. Ihr Ende Trupps, als sie Old O'Flynns saftigen konnte zwar die Brust des Gegners Fluch hörten. Sie stürmten auf dem nicht mehr treffen und diesen voll Pfad zurück, so schnell sie konnten, stoppen, dazu war der Kerl schon zu vorbei an Ben, Shane, dem Profos nah heran. Aber ihr solides engli- und den anderen. sches Eichenholz vermochte den Der alte O'Flynn hatte die Bewefremden, exotisch kostümierten gung über sich buchstäblich im letzMann zumindest noch von der Seite ten Augenblick registriert. Mit eizu erwischen. Hart knallte sie ihm nem Satz, den er sich selbst kaum zugegen die linke Schulter, härter noch, getraut hätte, brachte er sich dem als sie dem Kutscher vor nicht allzu Gestrüpp näher, aus dem der erste langer Zeit gegen die Wirbelsäule ge- Gegner hervorgesprungen war. prallt war. Dann vollführte er eine halbe KörDie Wucht des Hiebes brachte den perdrehung und senste mit seinem Angreifer von seiner Sprungbahn Entermesser quer durch die Luft. ab. Er landete nicht auf dem alten Der Mann aus dem Baum war geO'Flynn, sondern vor ihm, und sein landet. Er hatte seinen Aufprall sehr Messer hackte nicht wie beabsichtigt geschickt in den Kniekehlen abgein dessen Brust, sondern in den fangen und stand geduckt zum Anschwarzen Inselschlamm. griff bereit. Old O'Flynn rückte auf ihn zu. Old O'Flynn trat wütend mit seinem Holzbein zu, und der hellhäutige „Dich holt jetzt der Teufel, und du Mann aus Neuguinea hatte plötzlich verdammst den Tag, an dem man kein Messer mehr in der Faust. Old dich irrtümlich auf die Welt gesetzt Donegal knallte ihm der Gründlich- hat", sagte er grollend. „Streich lieber keit halber noch einmal die Krücke gleich die Flagge, du Mißgeburt." in den Rücken, und dann zog er sein Er erkannte die Herkunft des KerEntermesser. les an dessen Kleidung und an der Gerade noch rechtzeitig genug! Waffe, die er in der rechten Hand Der Mischling wand sich zwar unter hielt. Ein Dajak mit einem mörderiheftigen Schmerzen und war für schen Parang! Unangenehm fühlte kurze Zeit außer Gefecht gesetzt, Old Donegal sich an die Zeit erinnert, aber über Old O'Flynn war eine hu- die sie an den Küsten von Kalimanschende Bewegung, und ein zweiter tan verbracht hatten - und er wurde Feind segelte aus der Krone eines noch wütender. Baumes auf ihn nieder. Treblan stieß einen fauchenden
Herr M S , München, schrieb der Redaktion der SEEWÖLFE einen Leserbrief und fragte, ob wir sicher seien, daß man ein Segelschiff in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bereits mit einem Steuerrad ausgerüstet habe - statt des zu dieser Zeit üblichen Kolderstocks (siehe SEEWÖLFE Forum, Band 202). Er bezieht sich in seinem Brief auf das Steuerruder der „Isabella VIII.", das ja, jedenfalls im Roman, von Ferris Tucker, dem Schiffszimmermann der „Isabella" erfunden wurde. Nun, unsere Antwort lautet, daß wir uns da natürlich nicht sicher sind, zumal schiffbauliche Details gerade aus dieser Zeit relativ selten sind - leider! Auch die Historiker, die sich speziell mit dem Schiffsbau beschäftigten, wissen da noch keine eindeutige Antwort und uns scheint, daß es sich in diesem Fall wie mit dem Rad verhält, von dem auch niemand weiß, wann und wer es erfunden hat. Es war plötzlich da, mit Achse unter einem Wagen, und der Wagen rollte. Als wir Ferris Tucker in einem Genieblitz das Steuerruder erfinden ließen, gingen wir davon aus, daß eine solche Veränderung des Steuersystems zu dieser Zeit durchaus im Bereich des Denkbaren lag, jedenfalls für einen findigen Kopf. Vorstellbar ist, daß dem Rudergänger der damaligen Zeit - und mit ihm den Schiffszimmerleuten, Kapitänen und „Lotsen" - der primitive Kolderstock ein Grausen war, schwer
bedienbar, unhandlich und in der Wirkung auf das Ruder mehr als langsam. Vorstellbar ist ferner, daß ein Mann der Praxis, hier ein seebefahrener Schiffszimmermann vom Kaliber Tuckers, tatsächlich nach einigem Nachdenken die Lösung eines besseren Steuer-, systems findet. Wir sind - was die „Isabella VIII." betrifft - noch einen Schritt weitergegangen und haben diesen Galeonentyp mit überlangen Masten und einer schlankeren Form sowie niedrigeren Aufbauten versehen. Auch das war für diese Zeit noch unüblich. Aber wir wollten den SEEWÖLFEN ein schnelles, wendiges und dennoch tüchtiges Schiff „an die Hand geben", um sie ihre Raids und Entdeckerfahrten bestehen zu lassen.
Das war's für heute. Es grüßt Sie herzlich Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Äutoren.
36 Laut aus und schnitt zweimal mit dem kurzen Schwert durch die Luft, zünftig nach der Art der Kopfjäger von Borneo. Aber ehe er vorschnellen und den Alten überwältigen konnte, war dieser dicht vor ihm und trieb ihn durch einen schräg von oben nach unten geführten Entermesserhieb zurück. Treblan entging nur knapp dem tödlichen Streich. Erschrocken riß er den Parang zur Abwehr hoch. Er hatte sich verrechnet. Leichtes Spiel hatte er sich von dem hinkenden Alten mit der Krücke und dem Holzbein erhofft, aber dieser erwies sich jetzt als ein überraschend schneller, höllisch gefährlicher Gegner. Luke Morgan hatte auch die Pistole gezogen. Er spannte ihren Hahn und zielte auf den Dajak. Hasard war jetzt neben ihm und bremste ihn durch eine rasche Geste. „Nicht schießen, Luke! Du holst uns die ganze Bande auf den Hals", rief er ihm zu. Dann stürzte er an Luke vorbei und eilte Old O'Flynn mit gezücktem Degen zu Hilfe. Luke stand etwas verdattert da, denn er begriff in diesem Moment, daß er etwas zu lange gezögert hatte. Old Donegal wollte dem Dajak den Parang aus der Hand schlagen, aber in diesem Moment wurde der Mann aus Neuguinea wieder aktiv. Er wälzte sich im Schlamm herum und packte das Holzbein des Alten. Wild riß er daran. Der Alte stöhnte auf. Schmerzen peinigten seinen Beinstumpf, und das Holzbein drohte unter der zornigen Attacke des Gegners zu zerbrechen. Er strauchelte, fiel und geriet dabei fast mit seiner eigenen Waffe in Kollision. Treblan wollte die Gelegenheit nutzen und dem Alten den Garaus bereiten. Aber Hasard sprang zwi-
schen die beiden und parierte den Prang-Streich des Piraten. Hell klirrten die Klingen gegeneinander. Old O'Flynn drehte sich im Fall und entriß die hölzerne Prothese dem Griff des Mischlings. Die Krükke landete irgendwo im Dickicht, und der Alte ging nicht weit von ihr entfernt zu Boden. Sein Sturz war unsanft, aber er hatte doch Glück. Ein Strauch dämpfte den Aufprall. Fluchend lag er auf dem Rücken und schien völlig hilflos zu sein. Der Mann aus Neuguinea hatte sein Messer wieder an sich gerissen, bevor ihn Luke, Al oder sonst jemand daran hindern konnte. Mit einem wilden Laut warf er sich auf Old Donegal Daniel O'Flynn. Lavida blieb stehen und schlug die Hände vors Gesicht. Etwas zuckte hoch, war zwischen dem Alten und seinem Todfeind und mit einemmal erstarben die Bewegungen des Freibeuters. Ehe er mit dem Messer zustoßen konnte, hauchte er sein Leben aus. Old O'Flynn hatte sein Entermesser gerade noch schnell genug hochgebracht, und der Mischling hatte seinen Sprung nicht mehr zu bremsen vermocht. Treblan sah, wie die schlaffe, reglose Gestalt seines Spießgesellen von dem Körper des Alten wegrollte und im Gebüsch liegenblieb. Blinder Haß stieg in ihm auf, er schlug wilder zu. Damit wurden seine Parang-Hiebe aber auch unkontrollierter. Hasard fintierte, lockte den Gegner an und ließ ihn fast durch seine Verteidigung brechen. Erst im letzten Augenblick riß er den Degen in einer traumhaft schnellen Attacke hoch, zog die Klinge über Treblans Arm und Hand und knallte sie dann mit aller Wucht auf die gegnerische Waffe. Treblan verspürte siedenden
37 Schmerz in seinem Arm, und er hatte der neben dem Seewolf aufgetaucht plötzlich nicht mehr die Kraft, den war. „Selbstmord - wer hätte das geParang zu halten. Mit einem leisen dacht?" Schrei ließ er das Heft los. Die Waffe Hasard ließ den Degen sinken. „Es fiel zu Boden und blieb im Schlamm ist meine Schuld. Ich hätte besser liegen. Treblan konnte sich nicht aufpassen müssen." mehr nach ihr bücken, denn Hasards Lavida legte ihm die Hand auf die Degenspitze berührte seine Kehle. Schulter. Hasard hatte englisch geWie erstarrt blieb der Dajak ste- sprochen, aber sie begriff, daß er sich einen Selbstvorwurf machte. hen. „Du kannst nichts dafür, Lobo del „Töte mich", sagte er auf spanisch. Mar", flüsterte sie. „Dies war Tre„Nein." Der Seewolf blickte ihn an. „Du begleitest uns zu deinem Anfüh- blan, einer der schlimmsten Kerle. Er rer ins Dorf. Sabicas ist doch auf der war zu jeder Teufelei fähig. Mehr als tausend Schritte sind es noch bis zum Insel gelandet, oder?" Treblan schwieg. Seine Augen Dorf, und mehr als hundertmal hätte er versucht, uns zu überlisten oder weiteten sich. Lavida und die Männer der „Isa- sich umzubringen. Er war - unberebella" näherten sich. Old O'Flynn chenbar." „Wir halten ihn als Geisel gegen hatte sich aufgerappelt und brachte sich vorsichtshalber hinter den Rük- Sabicas benutzen können", meinte ken des Dajaks, damit dieser nicht in Old O'Flynn. „Das glaube ich nicht", widerden Dschungel entweichen konnte. Treblans Augen huschten hin und sprach Big Old Shane. „Der Andaluher. Er suchte verzweifelt nach ei- sier hätte sich einen Dreck darum nem Ausweg. Nie, nie würde er mit geschert, was aus seinem Gefolgsdiesem Schwarzhaarigen gehen, der mann geworden wäre. Nein, von El Lobo del Mar, der Seewolf, sein Nutzen wäre uns dieser Dajak ganz mußte. Er ahnte, daß er im Dorf ster- bestimmt nicht gewesen." ben würde, entweder durch die Hand „Und den Weg ins Dorf weist uns dieser Fremden oder durch Sabicas' Lavida", murmelte Ben Brighton. Hand, der ihn einen Verräter „Bestatten wir die Leichen. Diese schimpfen würde. zwei Kerle waren Mörder und Galgenstricke, aber wir können sie hier Plötzlich duckte er sich. Hasard wollte ihn mit der Faust nicht so liegen lassen." „Natürlich nicht", sagte der Seeniederschlagen, aber sein Handeln erfolgte schon zu spät. Mit überra- wolf. Er schob den Degen in die schender Schnelligkeit hatte der Da- Scheide zurück und bückte sich nach jak den Kris aus dem Leibgurt geris- dem toten Dajak. „Los, faßt mit an. sen, drehte ihn um und stürzte sich Wir begraben sie hier drüben, im Geauf die Klinge. Er krümmte sich, fiel büsch neben dem Pfad." Minuten später hatten sie ihr Werk auf die rechte Körperflanke und hielt das Heft des Messers dabei mit vollbracht. beiden Händen fest. Schweigend schritten sie weiter. „Ihr Hunde - verreckt", stammelte Erst nach einiger Zeit sagte Haer noch. sard: „Wir müssen auf der Hut sein. Dann war auch sein Leben been- Vielleicht waren die beiden Piraten det. nicht allein, als sie uns erspäht ha„Mein Gott", sagte Ben Brighton, ben. Vielleicht war ein dritter Mann
38 bei ihnen, der jetzt zum Dorf läuft, um die anderen zu warnen." „So ein verfluchter Mist", stieß Shane hervor. Keiner der anderen fügte etwas hinzu, denn es gab nichts zu sagen. Die Tatsache sprach für sich: Sie hatten das Überraschungsmoment aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr auf ihrer Seite - und es war fraglich geworden, ob ihnen der Angriff auf das Lager der Piraten überhaupt noch gelang. Hasard grübelte darüber nach und wandte sich schließlich an Lavida. „Gibt es noch einen anderen Weg, auf dem man in das Dorf gelangt?" fragte er sie. Sie musterte ihn aus großen, ziemlich verständnislosen Augen, während sie nebeneinanderher schritten. „Es gibt noch zwei andere Pfade", entgegenete sie. „Aber Sie würden einen Umweg bedeuten." „Den nehmen wir gern in Kauf", sagte er mit grimmigem Ausdruck. „Wenn es geht, würde ich mich von Norden her an Sabicas' Bande heranpirschen." Sie griff nach seinem Arm und zog ihn weiter. „Ja. Wir sind gleich an einer Abzweigung. Dort gehen wir nach rechts, und ich führe dich auf den richtigen Pfad." „Es läßt sich also verwirklichen?" „Ja", raunte sie ihm zu. Sie beschleunigten ihre Schritte. Im Weitergehen stellten sie plötzlich fest, daß das Prasseln des Regens und das Heulen des Sturmwindes nachließen. Ganz unverhofft schien sich eine Wetteränderung anzubahnen. 7. Es gab Wein auf Ngau, tiefroten spanischen Rioja in dunkelbraunen Kastanienholzfässern. Vierzig Fäs-
ser hatte Rafael Sabicas erbeutet, als er vor über einem halben Jahr eine spanische Prise aufgebracht hatte. Er hatte sie damals auf die „El Cisne" und auf die „El Gabian" verfrachtet, sie in das Dorf von Ngau hinaufbefördern und sorgsam in einer eigens dafür errichteten Hütte verstauen lassen. Inzwischen waren neun Fässer leer, und in der „Weinhütte" befanden sich nur noch dreißig volle Holzbottiche. Ein Faß hatte Sabicas in sein „Frauenhaus" schaffen lassen. Er hockte neben dem Faß, drehte den Zapfhahn auf und ließ das kostbare Naß in einen Kelch fließen. Randvoll schenkte er das Gefäß, dann schloß er den Hahn wieder, setzte sich auf eine Decke und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Truhe, die er wie seinen Augapfel hütete. In dieser Truhe befanden sich die schönsten Schmuckstücke aus Gold, Silber und Diamanten, die er bei seinen Beutezügen für sich vereinnahmt hatte. Sabicas trank, gab einen schmatzenden Laut der Zufriedenheit von sich und blickte zu den Mädchen. Sie lagen auf ihren Mattenlagern und rührten sich nicht. Dabei wußte er ganz genau, daß höchstens zwei oder drei von ihnen wirklich schliefen. Er lachte leise. Seine nasse Kleidung hatte er mit einem leichten seidenen Mantel vertauscht, den er einem portugiesischen Schiffskapitän abgenommen hatte. Dem Andalusier war zumute, als habe er mit diesem bodenlangen Gewand auch gleichzeitig eine neue Persönlichkeit übergestreift. Das alte Gefühl der Überlegenheit und Arroganz war wieder da. Er spürte, daß er neu auflebte. Vergessen waren die schmähliche Niederlage, die Ängste, Härten und Entbehrungen. „Ihr braucht mir nichts vorzugau-
39 keln", sagte er zu den Mädchen. „Ihr kommt doch nicht darum herum. Heute nacht feiern wir zünftig. Bis zum frühen Morgen. Ihr kriegt kein Auge zu, das verspreche ich euch." Er lachte wieder. „Und wenn der Sturm sich gelegt hat, segeln wir in den Morgenstunden zur ,Isabella' auf das Atoll hinaus, um uns ihre Schätze zu holen." Plötzlich wandte er den Kopf und lauschte. Jemand schien draußen, zwischen den Hütten, durch den Regen zu laufen. Jemand rief seinen Namen: „Sabicas - Señor! Señor Sabicas ..." Der Andalusier hatte einige Schwierigkeiten, sich aufzurappeln und sicher auf seinen beiden Beinen zu stehen. Ärgerlich schritt er zum Eingang seiner Hütte, trat unter das Vordach und blickte sich nach dem Störenfried um. „Was gibt es?" zischte er. „Was zum Teufel hat das zu bedeuten?" Der Malaie rückte von rechts her in sein Blickfeld. Schwer atmend blieb der Mann vor ihm stehen. „Sie sind gelandet", stieß er keuchend hervor. „Sie kommen ins Dorf." „Drück dich deutlich aus", fuhr Sabicas ihn an. „Von wem sprichst du?" „El Lobo del Mar - und die Männer der ,Isabella'. Sie sind am Ostufer gelandet. Lavida ist bei ihnen", sagte der Malaie. Dann berichtete er, was Treblan beobachtet hatte, wie er, der Malaie, zu ihm auf den Baum geklettert war und wie sie beschlossen hatten, sich zu trennen. „Allmächtiger", sagte Sabicas. „So haben diese Hunde es also doch fertiggebracht ..." „Und ich habe recht behalten", ließ sich eine Stimme von links her vernehmen. Sabicas lenkte seinen Blick dorthin und sah Donato, den Kalabrier, mit-
ten auf dem Dorfplatz stehen. Der Eurasier trat soeben zu ihm. Weitere Gestalten verließen die Hütten und näherten sich. Sabicas musterte seinen Bootsmann aus schmalen Augen. „Schön, du hast also recht gehabt. Und? Können wir uns dafür was kaufen? Wir müssen rasch handeln, du Narr, und dürfen nicht viele Worte verlieren. Treblan und dem Mischling wird es nicht gelingen, den ganzen zwölfköpfigen Trupp aufzuhalten. Wir müssen ihnen sofort zu Hilfe eilen und zusehen, daß wir den Seewolf, diesen Hurensohn, und seine Kerle in eine Falle locken. Los, bewaffnet euch und folgt mir." „Nein!" Donato sagte es laut und klar und trat dabei näher an seinen Anführer heran. Er hielt seinen kompakten Oberkörper leicht vorgebeugt und ließ die Arme herunterbaumeln. In seinen Augen war plötzlich eine tödliche Drohung. „Ich habe mich wohl verhört", sagte der Andalusier. „Ich will für dich hoffen, daß ich mich verhört habe, du Bastard. Los, befolge jetzt meinen Befehl. Hol deine Waffen." „Nein!" Donato blieb neben dem Malaien stehen und fixierte Sabicas kalt. „Wir haben beschlossen, heute nacht nicht mehr zu kämpfen. Nicht mit dir - und nicht gegen El Lobo del Mar. Du hast uns lange genug für dumm verkauft, und der Seewolf ist ein zu mächtiger Gegner für uns." Sabicas sah ihn so grenzenlos verächtlich an, als wäre er eine niedere, minderwertige Kreatur. „Also gleich zwei Dinge auf einmal, du Hund! Meuterei und Kapitulation! Das hast du dir ja fein ausgedacht." „Nicht ich - wir." Der Eurasier und die anderen Piraten, die sich inzwischen unter dem nachlassenden Regen auf dem Platz
40 versammelt hatten, rückten wie zur Bestätigung dieser Worte des Kalabriers vor. Sabicas wich nicht von der Stelle, aber er bereute jetzt bitter, sich nicht wenigstens eine Waffe zugeteckt zu haben, bevor er die Hütte verließ. Er spürte, daß seine Autorität versagen würde, und plötzlich stieg ein Gefühl der Panik in ihm auf, schlimmer noch als vor Tutuila. „Wir haben uns geeinigt, Sabicas", erklärte Donato. „Aber in unserem neuen Bündnis ist kein Platz für dich. Wir setzen dich ab. Wir nehmen deinen Besitz an uns und verschwinden von hier, bevor es zu spät ist." „Ihr wollte an Bord der ,E1 Cisne'?" Sabicas lachte auf. „Wie die Ratten werdet ihr im Sturm ersaufen. Was seid ihr doch für hirnverbrannte Narren!" „Der Sturm klingt ab", sagte der Kalabrier. „Wir werden es also schaffen. Lieber gehen wir mit einem ramponierten Schiff auf Irrfahrt, als daß wir uns von der Übermacht der Gegner abschlachten lassen." „Es sind nur elf Kerle", zischte Sabicas. „Und die, die auf der ,Isabella' geblieben sind? Hast du die mitgezählt?" „Du bist ein erbärmlicher Feigling, Donato", rief Sabicas. „Ich habe es dir ja schon vor Tutuila gesagt: Du sprichst wie ein altes Weib. He, ihr anderen! Wollt ihr euch etwa einem Jammerlappen wie diesem hier anschließen?" „Ja", erwiderte der Eurasier und schob sich noch näher heran. „Deine Stunde hat geschlagen, Sabicas", sagte der Kalabrier. „Laß uns vorbei, wir wollen deine Schatztruhe holen. Unsere Beuteanteile haben wir bereits ausgegraben und in Säkken verstaut. Wir nehmen alles mit
an Bord der ,E1 Cisne'." „Beeilen wir uns", drängte der Eurasier. „Auf Treblan und den Mischling können wir nicht mehr warten. Sollen sie sehen, wo sie bleiben." „Halte diese Hunde auf!" schrie Sabicas den Malaien an. „Auf uns wartest du? Gib mir deinen Parang!" Der Malaie zog den Parang und hob ihn drohend hoch, bereit, damit auf Sabicas einzuschlagen. „Ich schließe mich dem Stärkeren an", sagte er. „Zur Seite, Sabicas!" „Niemals. Nur über meine Leiche!" „Wie du willst!" rief Donato. Er sprang vor und griff den Andalusier an. Sein erster Fausthieb traf Sabicas unvorbereitet. Tief bohrte er sich in seine Magengrube. Sabicas stöhnte auf. Der Schmerz krümmte seine Gestalt. Voll Haß trat er dem Kalabresen gegen das Bein, wehrte den nächsten Schlag ab und verteidigte sich. Aber es fehlte ihm an Kraft und Schnelligkeit. Der dunkle Rioja hatte seinen Geist umnebelt und verminderte seine Reaktionsfähigkeit. Der Eurasier trat zu den Kämpfenden unter das Vordach der Hütte. Die anderen schlossen sich ihm an. Als Sabicas sich für einen Augenblick von Donato losreißen konnte, fielen sie alle über ihn her.
Die Mädchen hatten sich von ihren Mattenlagern erhoben und krochen zur Rückwand der Hütte. Mit fliegenden Fingern nestelten sie an dem schilfverkleideten Bretterwerk und legten einen Durchschlupf frei, den sie schon seit einiger Zeit geschaffen hatten. Sie hatten verstanden, was draußen gesprochen worden war, und wußten, daß der Moment günstig für sie war. Fluchend balgten sich die
41 Priaten mit ihrem Anführer herum und keiner von ihnen achtete auf das, was unterdessen im Dorf geschah. Neun geschmeidige Schönheiten verließen ihren goldenen Käfig. Sie richteten sich im Freien auf und blickten sich untereinander an. Nie wieder würden sie in dieses Gefängnis zurückkehren, so lautete ihr stummer Schwur. Lieber würden sie alle sterben. Sie sicherten nach allen Seiten und vergewisserten sich, daß sie nicht mehr aufgehalten werden konnten. Dann schlichen sie davon. Die drei Mädchen aus dem Dorf wandten sich den Hütten ihrer Angehörigen zu. Sie wollten ihre Familien über das unterrichten, was vor Sabicas' Hütte seinen dramatischen Verlauf nahm, und auch ihre Mütter und Väter, ihre Brüder und Schwestern retten. Die sechs Mädchen von den Neuen Hebriden tauchten sofort im Urwald unter, um sich dort zu verstecken. Leise raschelnd schlugen die nassen Blätter und Zweige hinter ihren braunen Gestalten zusammen. Rafael Sabicas' „Harem" existierte nicht mehr. Er hatte sich aufgelöst, die Hütte war leer, und nur das Weinfaß und die Schatztruhe kündeten noch als stumme Symbole von der einstmals so uneingeschränkten Macht des Andalusiers, die jetzt zerbrach.
Ein Hagel von Hieben prasselte auf den Andalusier nieder. Er brach zusammen und blieb reglos unter dem Vordach liegen. Donato richtete sich auf und drang indie Hütte ein. Sein Atem ging heftig und unregelmäßig. Er bückte sich nach einer kleinen Öllampe und entfachte sie. Dämmri-
ger rötlicher Lichtschein breitete sich unter den schmalen Deckenbalken aus. Donato sah betroffen auf die verlassenen Lager der Mädchen und fuhr zu den allmählich nachrückenden Kumpanen herum. „Sie sind weg!" rief er. „Hölle, sie haben die Chance wahrgenommen und sind abgehauen!" „Wir müssen ihnen nach!" brüllte der Eurasier. „Sie könnten uns an den Seewolf verraten!" „Wartet", sagte der Kalabrier. „Erst will ich sehen, was in der Truhe ist. Sie ist verschlossen, aber Sabicas trägt den Schlüssel bei sich." „Nicht in dem Seidenmantel", rief der Malaie. „Ich habe seine Taschen durchsucht, aber nichts gefunden." Donato stieß eine lästerliche Verwünschung aus. Er winkte den Kumpanen zu, und sofort begannen sie, die Hütte zu durchstöbern. Sie arbeiteten fieberhaft und unter großem Zeitdruck. Jeden Augenblick konnte der Feind eintreffen und sie überraschen. „Lassen wir die Truhe hier", stieß der Malaie hervor. „Sie behindert uns doch nur!" „Und der Inhalt?" schrie der Eurasier. „Willst du den etwa aufgeben? Du bist wohl nicht ganz richtig im Kopf, was?" „Dann laßt uns die Truhe so mitschleppen", schlug der Malaie hastig vor. „Wir können sie ja noch an Bord der ,El Cisne' aufbrechen. Wir kriegen sie bestimmt irgendwie auf. Werkzeug haben wir in der Kammer des Schiffszimmermanns und ..." „Ich habe ihn", sagte Donato triumphierend und richtete sich von den Bettstätten der Mädchen auf. Er hatte die geflochtenen Matten beiseite gerückt und an einer Stelle im Erdboden zu graben begonnen, die durch ein winziges Kreuz gekennzeichnet war. Jetzt hielt er den
42 Schlüssel zwischen seinen schmutzigen Fingern. Grinsend stapfte er auf die Truhe zu und steckte den Schlüssel in das große eiserne Schloß. Die Piraten lachten und stießen sich mit den Ellenbogen an. Ihre Gier nach Gold und Silber war größer als die Furcht vor dem anmarschierenden Gegner. Nur der Eurasier hatte sich vor die Mulde gekniet, die der Kalabrier im festgestampften Boden der Hütte ausgehoben hatte. Er scharrte weiter darin herum und vergrößerte das Loch. Donato hatte den Schlüssel zweimal umgedreht. Er hob den Deckel der Truhe an, warf einen ersten prüfenden Blick ins Innere und riß den Deckel im nächsten Moment mit einem Fluch ganz hoch. Im Licht der Öllampe konnten es die Freibeuter in aller Deutlichkeit erkennen: Die Truhe war nur zu knapp einem Drittel ihres Fassungsvermögens mit glitzernden Schmuckstücken gefüllt. „Dieser Satansbraten hat uns betrogen!" schrie Donato. „Dies ist nicht sein kompletter Schatz! Er muß den Rest irgendwo vergraben haben! Holt ihn, damit wir es aus ihm herausprügeln können, wo das Zeug liegt!" Der Malaie und ein zweiter Pirat kehrten zu dem immer noch besinnungslosen Andalusier unter das Vordach der Hütte zurück. Sie hoben ihn an den Armen hoch und schleiften ihn hinter sich her. Fragend blickten sie zu Donato. „Hierher", befahl der Kalabrier. „Legt ihn so hin, daß er mit dem Kopf genau unter den Weinhahn gerät. Ich kriege ihn schon wach, diesen Hurensohn!" Fast behutsam plazierten die Kerle ihren degradierten Anführer so, daß er mit dem Gesicht genau unter der
Öffnung des Zapfhahnes lag. Donato drehte den Hahn auf, und herb riechender, dunkelroter, süffiger Rioja ergoß sich über Rafael Sabicas' Züge. Stöhnend schlug Sabicas die Augen auf. Donato drehte den Hahn mit einem Ruck zu. „Wo hast du deine anderen Reichtümer versteckt?" fragte er herrisch. „Spuck es aus, oder es geht dir dreckig. Ich weiß, daß du so viel Schmuck, Gold- und Silberbarren hast, daß du die Truhe bis über ihren Rand hinaus damit füllen könntest. Wo liegt der Schatz, wo? Gib es preis, Sabicas!" „Niemals", murmelte der Andalusier. Donato öffnete den Weinhahn von neuem. Der Strahl traf Sabicas' Wange, aber Sabicas schloß die Augen und den Mund und drehte seinen Kopf einfach zur Seite. Der Kalabrier schloß den Hahn, er sah ein, daß er so nicht weiterkam. Mit einem wütenden Laut beugte er sich über Sabicas, zerrte ihn an den Aufschlägen des Seidengewandes hoch und drängte ihn bis zur Hüttenwand. „Wo?" sagte er. „Sag es mir. Wo? Ich schwöre dir, daß du es mir verraten wirst." „Du erfährst es nicht", stieß Sabicas mit brüchiger Stimme hervor. Donato stieß ihn gegen die Holzwand, daß die Hütte erzitterte. „Wo?" brüllte er. „Im Höllenfeuer, wo auch du verbrennen wirst!" Donato schlug zu. Sabicas wollte sich zu Boden sinken lassen, aber der andere hielt ihn fest. Sabicas rechnete damit, unter diesen mörderischen Schmerzen wieder bewußtlos zu werden, aber er wurde es nicht. Er blieb voll bei Sinnen, und als es nicht mehr zu ertra-
43 gen war, stöhnte er: „Aufhören. Ich sage es dir." Donato hielt inne und lächelte siegesgewiß. „Gut. Sehr gut. Also heraus damit." „Ich habe meine Schätze - auf Espiritu Santo vergraben", flüsterte der Andalusier. Donato blickte ihn für eine Weile verwirrt und ungläubig an, dann schüttelte er ihn wild hin und her. „Was?" schrie er. „Auf der Insel der Neuen Hebriden, von der wir die Mädchen geholt haben? Das ist nicht wahr! Das lügst du!" „Es ist die Wahrheit..." „Donato", sagte der Eurasier. Er hielt etwas in seiner derben rechten Hand und wedelte damit hin und her. „Sieh mal, was er hier noch vergraben hatte, dieser Hund. Eine kleine Ledermappe mit einer Landkarte darin." „Zeig her!" Der Eurasier erhob sich, trat zu dem Bootsmann und reichte ihm die handgezeichnete Karte. Die Skizze wies alle Details eines richtigen Lageplan auf. Sie zeigte den Umriß einer eigenartig geformten Insel, und mittendrin prangte ein rotes Kreuz, das offensichtlich die Lage des Schatzes angab. „Das könnte Espiritu Santo sein", sagte Donato. „Aber wie finden wir jemals wieder dorthin?" „Wir müssen fort", stieß der Malaie erregt hervor. „Die Feinde sind gleich hier. Wir sind zwölf gegen zwölf, wenn Treblan und der Mischling nicht auftauchen, aber wir werden auf jeden Fall unterliegen. Erinnert ihr euch an die Waffen, die die Männer der ,Isabella' verwenden? Sie haben Brandpfeile und richtige Pulverbomben..." „Sei still", fuhr der Kalabrier ihn an. „Schließ lieber die Truhe wieder zu. Schafft sie schon ins Freie und
setzt euch in Trab, ich komme sofort nach." Sie schlugen den Deckel der Truhe zu, wuchteten sie hoch und hievten sie nach draußen. Sie forschten ihre Umgebung mit den Blicken ab, sahen, daß die Luft rein war und setzten sich zum westlichen Ausgang des Dorfes hin in Marsch. „Lassen wir die Mädchen laufen", sagte der Eurasier. „Wir können keine Zeit mehr damit vergeuden, nach ihnen zu suchen." Donato stand in der Hütte immer noch Rafael Sabicas gegenüber und drohte ihm mit den Fäusten. „Verrate mir, wie der Kurs nach Espiritu Santo ist", sagte er. „Ich will den Schatz holen." „Ich kann mich selbst nicht mehr daran erinnern." „Lüge!" „Die Neuen Hebriden liegen vier Tagesreisen weiter im Westen", murmelte Sabicas. „Das weiß ich!" schrie der Mann aus Kalabrien. „Aber es kann eine Woche oder noch mehr Zeit vergehen, bis ich unter den vielen Inseln der Gruppe das richtige Eiland entdeckt habe!" „Das ist dein Problem", sagte Sabicas und brachte dabei fast ein höhnisches Lächeln zustande. Plötzlich duckte er sich und versuchte, Donato den Kopf in den Leib zu rammen. Er tauchte unter den Fäusten des Kalabriers weg, aber der war auf der Hut und wich geistesgegenwärtig zur Seite aus. Sabicas stolperte an ihm vorbei. Er wollte sich irgendeiner Waffe bemächtigen, um den verhaßten Rivalen zu erledigen. Ein Knüppel genügte. Aber Donato brachte sich durch einen gewaltigen Satz neben ihn und schmetterte ihm beide Fäuste in den Nacken. Sabicas brach zusammen
44 Als sein Körper den Boden berührte, glaubte er in einer letzten Wahrnehmung einen Feuersturm der Hölle über Ngau hinwegrasen zu sehen, der alles niederfackelte. Dröhnend und grollend versank die Insel im Ozean, und erlösende Finsternis breitete sich über den schweigenden Wassern aus. Donato untersuchte seinen Todfeind, nickte wie zur Selbstbestätigung und schleppte den schlaffen Körper zurück zum Weinfaß. Er ließ ihn sinken. Mit der nächsten Handbewegung riß er den hölzernen Zapfhahn aus dem Spundloch, und rauschend ergoß sich der Rioja über Sabicas' Gestalt. „Sauf, soviel zu willst", sagte der Kalabrier noch. Dann stürzte auch er ins Freie und hastete seinen Kumpanen nach. 8. „Wir haben das Dorf fast erreicht", raunte Lavida dem Seewolf zu. „Es sind nur noch zwanzig Schritte. Vorsicht jetzt." Hasard hielt den Radschloß-Dreh--ng, eine seiner besten Waffen, schußbereit. Hinter ihm standen die zehn anderen bereit: Ben, Carberry und die beiden O'Flynns mit Tromblons und Pistolen, Matt, Jeff, Luke und Sam mit Musketen, Big Old Shane mit seinem Bogen und den Brandund Pulverpfeilen und Al Conroy mit seinen Flaschenbomben. Zum Glück regnete es nicht mehr. Sie hatten es verstanden, die Pulverladungen ihrer Waffen trocken zu halten, und so bestand kaum die Gefahr, daß die eine oder andere Ladung nicht zündete. Plötzlich raschelte es vor ihnen im Dickicht. Lavida verkrampfte ihre Hände um Hasards Unterarm. Der Seewolf
blieb stehen, brachte auch das Mädchen zum Stoppen und gab seinen Männern durch eine Gebärde zu verstehen, sie sollten sich im Gestrüpp verstecken und keinen Laut von sich geben. Er selbst duckte sich mit Lavida unter die dichten, schweren Blätter eines wild wuchernden und betörend duftenden Strauches. Sie warteten ab und bereiteten sich innerlich darauf vor, eine Handvoll umherstreifender Priaten zu überwältigen. Dann aber stellte sich heraus, daß ihre Vorsicht diesmal übertrieben gewesen war. Eine schlanke Gestalt schob sich vor ihnen aus dem Blätterwerk. Zu seiner Verblüffung stellte der Seewolf fest, daß es sich um ein halbnacktes, blutjunges Mädchen handelte. Lavida stieß einen freudigen Laut aus, kroch aus dem Busch und umarmte in einer stürmischen Wiedersehensgeste das fremde Mädchen. Sie begannen beide zu weinen. Hasard nahm wieder Laute wahr, die aus der Richtung des Dorfes kamen. Er hielt sich noch zurück, wollte Lavida und das andere Mädchen sogar warnen, weil er es für wahrscheinlich hielt, daß die Eingeborenen geflohen waren und jetzt von den Freibeutern verfolgt wurden, aber dann atmete auch er erleichtert auf und trat aus seiner Deckung hervor. Der halbe Stamm von Ngau schien sich hier im Dschungel getroffen zu haben. Immer mehr braune Gestalten schoben sich aus dem Dickicht und umringten die beiden Mädchen. Männer, Frauen, Kinder und Greise sie redeten aufgeregt durcheinander. Lavida löste sich aus der Umarmung des Mädchesns und wandte sich dem Seewolf zu. „Dies ist meine Freundin Ahira", erklärte sie in ihrem etwas holprigen Spanisch. „Und
45 sie hat mir bereits alles erzählt. Die mehr von Bedeutung. Lavida, hast Piraten sind fort. Geflohen. Meine du mit deinen Leuten gesprochen? Brüder und Schwestern haben auch Seid ihr sicher, daß keiner fehlt, daß das Dorf verlassen, um sich im gro- die Piraten keinen von euch mit aufs ßen Wald zu verstecken." Schiff genommen haben?" „Wie?" sagte der Profos. „Sabicas Sie beschrieb mit beiden Händen kneift? Das kann doch wohl nicht eine aufgeregte Geste. „Die Mädchen wahr sein." von Espiritu Santo - sie sind irgend„Ich kann es selbst nicht glauben", wo im Dschungel verschwunden!" versetzte der Seewolf. „Aber eins „Wie viele sind es?" steht fest. Er ist durch einen seiner „Sechs - und es könnte sein, daß sie Späher gewarnt worden. Los, nichts sich in die gleiche Richtung bewegen wie ins Dorf. Versuchen wir, ihm zu wie die Seeräuber..." folgen und ihn noch zu stellen. Viel„Verdammt", sagte der alte leicht hat er einige seiner Sklaven O'Flynn. „Ich mag mir nicht ausmamitgenommen. Das dürfen wir nicht len, was passiert, wenn die armen zulassen." Mädchen mit dem Rudel Galgenstricke zusammentreffen. Ist es denn * sicher, daß beide Gruppen zur Felsenbucht im Westen unterwegs Diese Vermutung Hasards stellte sind?" sich als Irrtum heraus. Sabicas hatte Hasard richtete diese Frage noch seine Hütte nicht verlassen. Er be- einmal an Lavida, und sie bestätigte, fand sich weder auf der Flucht noch daß es aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er irgend jemand aus dem Dorf so war. entführt. „Matt und Jeff!" rief der Seewolf. Er lag in einer riesigen Lache Rot- „Ihr bleibt als Wachtposten hier im wein. Seine Haltung war steif und Dorf zurück. Ihr seid mir für das Leseltsam verkrümmt, seine Augen ben der Eingeborenen verantwortwaren blicklos zur Balkendecke des lich, verstanden?" Gebäudes gerichtet. Ein paar letzte „Aye, Sir." Tropfen Rioja fielen aus dem Spund„Falls die Piraten den Nerv besitloch des Fasses auf seine Stirn. zen, hierher zurückzukehren, feuert Rafael Sabicas war tot. ihr als erstes zwei Schüsse in die Luft „Jesus", sagte Ben Brighton, als sie ab, um uns Bescheid zu geben." „In Ordnung, Sir", sagte Matt Dasich in der schwach erleuchteten Hütte zu einer betroffenen Ver- vies. „Die anderen folgen mir!" Hasard sammlung einfanden. „Das sieht nach Meuterei aus. Haben seine Ker- wandte sich zum Gehen. Er hatte kaum noch einen Zweifel daran, daß le ihn etwa im Wein ersäuft?" Hasard unterzog den Leichnam ei- Sabicas' Spießgesellen zur Felsenner kurzen Untersuchung, dann bucht unterwegs waren. Gewiß, da drückte er die Lider der gebrochenen war auch noch die Möglichkeit, daß Augen zu. Er stand wieder auf und sie es mit einem Trick versuchten drehte sich zu seinen Männern und und ihre Flucht nur vortäuschten den Eingeborenen um. „Jemand hat um wenig später zum Dorf zurückihn erschlagen", sagte er auf spa- zukehren und aus dem Hinterhalt nisch. „Wer, sollte uns nur am Rande auf die Widersacher zu feuern. Aber interessieren. Es ist für uns nicht Hasard hielt es für weitaus denkba-
46 rer, daß sie Ngau tatsächlich verließen, um nicht mit dem Feind aneinanderzugeraten, der ihnen schon einmal höllisch eingeheizt hatte. „Lobo del Mar!" rief Lavida. „Es gibt ein paar Auslegerboote, die am Ufer des Baches liegen. Sabicas hatte sie unseren Männern abgenommen und gut versteckt, aber meine Brüder haben trotzdem erfahren, wo die Boote zu finden sind." „Dann sag ihnen, sie sollen uns dorthin führen. Falls die Piraten es bis zur Bucht schaffen - und das ist bei ihrem Vorsprung wahrscheinlich -, brauchen wir ein paar Fortbewegungsmittel." Lavida brauchte dies ihren Leuten nicht erst zu übersetzen. Sie verstanden auch so. In den zwei Jahren Knechtschaft unter Sabicas Knute hatten sie genug Spanisch gelernt, um die Worte des Seewolfs jetzt sinngemäß begreifen zu können. Spontan setzten sich vier Insulaner mit dem Seewolf an die Spitze des Trupps. Sie deuteten auf den Pfad, der in westlicher Richtung aus dem Dorf führte. Hasard lief mit ihnen los, und Ben Brighton, Big Old Shane, die beiden O'Flynns, der Profos, Sam Roskill, Al Conroy und Luke Morgan hefteten sich an ihre Fersen. Der Pfad führte zunächst ein Stück bergan, fiel dann aber zunehmend ab. Er wurde ziemlich schmal und steil, und sie alle mußten mächtig aufpassen, auf dem weichen, morastigen Untergrund nicht auszugleiten. Aber wenigstens regnete es jetzt nicht mehr, und ihre Kleidung trocknete allmählich. Der Sturmwind schwächte merklich ab, wechselte aber nicht seine Richtung. Mit nunmehr sanftem Heulen strich er aus Südosten über Ngau hinweg. *
Fast hatten die Piraten den Platz erreicht, an dem sie mit ihrer Jolle Stunden zuvor gelandet waren, da vernahm der Malaie mit einemmal nicht weit von ihnen entfernt ein verdächtiges Geräusch. „He", raunte er seinem Vordermann, dem wildbärtigen Eurasier, zu. „Ich habe Stimmen gehört, von dort vorn - vom Bachlauf, nehme ich an." Der Eurasier gab es an Donato weiter, und dieser gab das Zeichen zum Anhalten. Sie verharrten auf dem Trampelpfad, ließen ihre Säcke aus Segeltuch und Sabicas' Schatztruhe sinken und lauschten in den tropfenden, dampfenden Regenwald. „Helle Stimmen waren es", zischte der Mailaie seinem neuen Anführer zu. „Mädchenstimmen. Ich bin ganz sicher. Da - da sind sie wieder!" Auch Donato nahm jetzt das Tuscheln wahr, das da schräg links vor ihnen im Dickicht war. Er verengte seine Augen zu schmalen Schlitzen. Zweifellos waren sie auf eine Gruppe der entflohenen Mädchen aus Rafael Sabicas' „Harem" gestoßen. Die Frage war jetzt: Sollte er sie aufstöbern und aus dem Gestrüpp zerren oder tat er besser daran, mit seiner Meute weiterzurennen, bis sie die Jolle vor sich hatten und durch die Grotte bis zur „El Cisne" pullen konnten? Er dachte an die Insel Espiritu Santo, an Sabicas' vergrabenen Schatz - und daran, daß einige der Mädchen ja von den Neuen Hebriden stammten. Wieder machte er sich seiner Gefolgschaft durch eine Geste verständlich. Er handelte schnell und entschlossen: Den Eurasier ließ er als Posten auf dem Pfad zurück, mit den anderen zehn Männern bahnte er
47 sich einen Weg durchs Dickicht. Sie konnten jetzt das Wasser des Baches plätschern hören - und wieder waren die unterdrückten Stimmen der Mädchen da! Die Mädchen von Espiritu Santo wußten, wo die Auslegerboote versteckt waren. Sie hatten es von Rafael Sabicas selbst erfahren, als dieser ihnen in einer weinseligen Nacht einige seiner „Geheimnisse" zugeflüstert hatte. Und so hatten die Mädchen einen ebenso verwegenen wie verzweifelten Plan gefaßt. Ehe die Piraten sie wieder fingen, wollten sie zur „El Cisne" paddeln und mit der Galeone auslaufen. Obgleich sie nicht wußten, wie man ein solches Schiff handhabte, wollten sie doch zumindest versuchen, auf diese höchst abenteuerliche Weise nach Espiritu Santo zurückzukehren. Sie hatten die Vertäuungen der Boote bereits gelöst. Doch sie gelangten nicht mehr dazu, hineinzuklettern und sich vom Ufer abzustoßen. Donato und die anderen Kerle waren heran. Sie stoben aus dem dichten Ufergestrüpp hervor und warfen sich auf die schreienden Mädchen. Der Kalabrier griff sich die, die ihm am nächsten stand, ein hochbeiniges Ding mit großen, festen Brüsten. Grinsend zog er sie zu sich heran. Als sie ihn kratzen wollte, gab er ihr zwei Ohrfeigen. Sie schrie wieder, aber er riß sie zu sich heran und hielt ihr den Mund zu. Ähnlich verfuhren auch die anderen. Die Mädchen setzten sich verzweifelt zur Wehr, aber jeder Widerstand war nutzlos. Die Piraten lachten rauh. Sie bereiteten sich einen Spaß daraus, die zappelnden Mädchen festzuhalten. „Verfrachten wir sie in die Boote", sagte Donato. „Wir legen ab und paddeln zur Jolle. Einer von euch gibt
dem Eurasier Bescheid, und beide lauft ihr dann zur Jolle hinunter, löst ihre Leinen und pullt ebenfalls los. So lassen wir kein Boot zurück, mit dem man uns verfolgen könnte. Zwei andere holen die Säcke mit unseren Habseligkeiten, die wir auf dem Pfad zurückgelassen haben. Der Eurasier soll die Truhe in der Jolle verstauen, kapiert?" Die Kerle nickten. Hastig führten sie die Befehle ihres neuen Anführers aus. * Hasard und seine Begleiter hörten die Schreie, die durch den Dschungel von Ngau gellten. Sie liefen schneller. Al Conroy begann zu fluchen, denn er drohte im Morast auszurutschen. Während er um sein Gleichgewicht kämpfte, fingerte er an einer der mitgebrachten Höllenflaschen herum, um sie gegen die Freibeuterbande einzusetzen. Aber wie alle anderen ahnte er, daß sie bereits zu spät kamen. Die vier Eingeborenen gaben dem Seewolf Zeichen. Er verstand, daß sie nicht mehr weit vom Bach und den Auslegerbooten entfernt sein konnten, und hielt seinen RadschloßDrehling schußbereit. Ein paar Atemzüge später hatte er als erster die Gestalten zweier Piraten vor sich. Geduckt stürmten die Kerle auf dem Pfad davon. Sie trugen etwas, das er nicht genauer zu identifizieren vermochte. Es schien sich um eine Truhe oder Kiste zu handeln. Er hetzte ihnen nach. Das Schreien der Mädchen hatte aufgehört, aber ihm war klar, daß dies alles andere als ein gutes Zeichen war. Er gab seinen Männern ein Zeichen. Sie schwärmten aus und arbeiteten sich durch das widerspen-
48 stige, verfilzte Unterholz. Ben Brighton war am weitesten voraus und steuerte auf den Platz zu, an dem er zuletzt das klagende Rufen eines Mädchens vernommen hatte. Hasard war den beiden mit der Truhe flüchtenden Piraten dicht auf den Fersen. Er hob den Drehling, stemmte den Kolben gegen die Schulter und gab einen Warnschuß in die Luft ab. Krachend fuhr die Ladung aus dem Lauf. Der Kolben rammte heftig gegen seine Schulter. Plötzlich blitzte es vor ihm auf. Grell zerriß das Mündungsfeuer einer Waffe die Dunkelheit. Im Belfern des Schusses wich der Seewolf nach links aus - und die Kugel der Piraten sirrte an ihm vorbei. Der Eurasier hatte den Schuß abgegeben. Zornig zerrte er an der Schatztruhe und bugsierte sie mit seinem Helfer zusammen über die letzten zehn, zwölf Schritte Distanz, die sie noch von der Jolle trennten. Mit Schwung beförderten sie ihre Last zwischen die Duchten. Das Boot schwankte wild hin und her. Der Eurasier warf seine leergeschossene Muskete ins Boot, sprang hinterher und winkte seinem Kumpanen zu. Dieser säbelte die beiden Bootsleinen einfach mit dem Messer durch. Mit einem Satz landete auch er in der Jolle. Sie griffen beide zu den Riemen und begannen zu pullen, als säßen ihnen sämtliche Teufel der Hölle im Nacken. Fast stießen sie mit den Auslegerbooten zusammen, die mit der Strömung heranglitten. Donato rief ihnen etwas zu, das sie nicht verstanden. Geistesgegenwärtig packte der Eurasier die Ruderpinne, drückte sie herum und dirigierte das Boot von der Bachmitte zum rechten Ufer hinüber.
So vermied er den drohenden Zusammenprall. Er hielt die Pinne mit einer Hand fest, pullte mit der anderen weiter und lag auf groteske Art verkrümmt quer über zwei Duchten. Immer wieder spähte er dorthin, wo die Verfolger auftauchen mußten, und dann sah er den Seewolf im Dikkicht knien und mit einem merkwürdigen Gewehr auf sich zielen. Der Kalabrier hatte den Feind ebenfalls gesichtet. Hoch richtete er sich in dem Auslegerboot auf, hielt sich eins der Mädchen von Espiritu Santo wie einen Schutzschild vor den Leib und brüllte auf spanisch: „Lobo del Mar - zurück! Wage es nicht, uns anzugreifen! Dieses Mädchen hier stirbt als erste, wenn du dich nicht sofort zurückziehst!" Er war sich nicht klar, ob Hasard das Leben der Mädchen verschonen würde, dazu wußte er nicht genug über ihn. Aber er hatte in den Berichten, die über diesen Killigrew und seine Mannschaft von Teufelskerlen kursierten, vernommen, daß sie ausnahmslos faire, aufrichtige Kämpfer waren, die das Leben Unschuldiger nicht leichtfertig aufs Spiel setzten - und darauf baute er jetzt. Hasard richtete sich halb im Gebüsch auf. „Gib die Mädchen heraus, und du hast freies Geleit!" rief er. Donato lachte schallend auf. „Ich wäre ein Narr, wenn ich's täte. Hol dir die Weiber doch, wenn du glaubst, daß du es schaffst!" Ben Brighton, der Profos und Shane stürmten bachabwärts heran, sie wollten auf die Piraten in den drei Auslegerbooten und der Jolle anlegen und feuern. Al Conroy befand sich neben seinem Kapitän und zündete die Lunte der Flaschenbombe an. Die beiden O'Flynns ließen sich soeben im Gebüsch nieder und brachten ihre Waffen auf Donato in
49 Anschlag. „Nicht schießen", rief der Seewolf seinen Kameraden zu. „Hasard", sagte Al Conroy. „Du willst die Hunde doch wohl nicht so abziehen lassen, oder? Himmel, laß mich wenigstens eine Flaschenbombe ins Wasser schmeißen. Die wirft die Boote glatt um und ..." „Und es geht trotzdem ins Auge, denn diese Kerle haben sechs Geiseln." Ein Schuß krachte - Donato hatte ihn aus seiner Pistole auf den Seewolf abgegeben. Hasard zog den Kopf ein. Die schlecht gezielte Kugel pfiff über ihn und Al Conroy weg. „Fahr zur Hölle, Lobo del Mar!" schrie der Kalabrier. „Adios, wir sehen uns nie wieder!" „Da würde ich mal nicht so sicher sein", sagte Hasard gepreßt. Voll ohnmächtiger Wut mußten seine Männer und er vorläufig mit ansehen, wie die Auslegerboote und die Jolle mit den grölenden und pfeifenden Freibeutern an Bord in der Dunkelheit untertauchten. 9. Zehn Stunden später pflügte die „Isabella" unter strahlendblauem, wolkenlosem Himmel mit westlichem Kurs die Südsee. Seit ihrem Auslaufen aus der Ostbucht von Ngau waren ungefähr achteinhalb Stunden vergangen. Zunächst hatte sie sich noch durch kabbeliges Wasser boxen müssen, aber später, als der Seewolf das Nordkap der Insel gerundet hatte und auf Kurs ging, hatte der Seegang merklich nachgelassen. Der Wirbelsturm war jetzt nur noch eine erlöschende Erinnerung im Gedächtnis der Männer. Ferris Tucker und dessen Helfer hatten
während der Abwesenheit ihrer Kameraden sämtliche Schäden an Bord ausgebessert. Die Ruderanlage war um einen neuen Balken reicher, und durch die sorgsam abgedichteten Lecks drang kein einziger Tropfen Wasser mehr. Hasard stand auf dem Quarterdeck, ließ sich von der Morgensonne wärmen und trank das heiße Gebräu aus Rum und Wasser, das der Kutscher ihm gebracht hatte. Die Nacht war schlaflos verstrichen, aber der Trunk weckte seine Lebensgeister wie ein heilsames Elixier. Er ließ seinen Blick über die Kuhl wandern. Die Männer nickten und winkten ihm lächelnd zu. Der Kutscher marschierte über Deck und teilte das Frühstück aus. Für Seraf in und Joaquin, die beiden Spanier, hatte er wieder eine Doppelration zubereitet, denn sie hatten es ja besonders nötig. Seit Tutuila hatten sie zwar schon ein wenig zugenommen, aber sie waren immer noch so abgemagert, daß man unter ihren Hemden jede Rippe erkennen konnte. Hasard grüßte seine Crew. Eben erst hatte er das Ruderhaus verlassen, wo er einige Berechnungen angestellt hatte. Blacky hatte Pete Ballie am Ruder abgelöst und orientierte sich an den Eintragungen einer von Hasard angefertigten Skizze. Der Seewolf hob den Blick. Voll griff der handige Südost-Passat in die Segel. Er hatte jeden Fetzen Zeug setzen lassen, und die „Isabella" lief gute Fahrt, aber dennoch gab er sich nicht der Hoffnung hin, sie würden die „El Cisne" früher oder später an der Kimm erblicken. Sabicas' Schiff war ein schneller Segler, das wußte er ja bereits. Sicher, bei einem Rennen Seite an Seite hätte die „Isabella" die Galeone der Piraten wahrscheinlich überholt, aber ihr geringer Geschwindigkeits-
50 vorteil reichte nicht aus, um den großen Vorsprung der Flüchtigen auszugleichen. Ben Brighton, Ferris Tucker, Shane und der Profos traten zu ihrem Kapitän. „Wenn der Passat so weiterbläst, sind wir in vier Tagen auf den Neuen Hebriden, nicht wahr, Hasard?" fragte Ben. „Nach allen Daten, die ich über diese Inselgruppe vorliegen habe, müßte die Rechnung aufgehen, Ben. Ich zeige euch die Skizze." Sie wollten sich dem Ruderhaus zuwenden, da entstand auf der Kuhl Unruhe. Irgend jemand polterte und fluchte vor dem Achterdecksschott herum. Verwundert blickten sich Hasard, Ben, Ferris, Shane und Carberry an. Sie traten an die Schmuckbalustrade, beugten sich etwas vor und konnten nun sehen, was sich abspielte. Batuti hatte die Hütte verlassen. Aufrecht stand er da, und eigentlich zeugte nur noch der weiße Leinenverband um seinen nackten schwarzen Oberkörper davon, daß er tagelang sterbenskrank in der Koje gelegen hatte. Sonst schien der GambiaMann wieder ganz der alte zu sein, und er wäre zweifellos aufs Quarterdeck gestiegen, um sich bei seinem Kapitän zurück zum Dienst zu melden, wenn ihm nicht Old Donegal Daniel O'Flynn in den Weg getreten wäre. „Batuti, du Himmelhund", schimpfte der Alte. „Bist du nicht mehr ganz richtig im Kopf oder hast du zuviel von dem Rum gesoffen, den der Kutscher dir überlassen hat? Hölle, du sollst in deiner verfluchten Kammer bleiben!" Die Stirn des schwarzen Herkules umwölkte sich drohend. „Jetzt is' genug mit der Liegerei", brummte er. „Ich halt es nicht mehr aus. Bin wie-
der voll auf dem Damm." „Das kannst du gar nicht beurteilen, du Ochse." „Batuti will auf der Stelle tot umfallen, wenn er nicht wieder soviel Kraft im Leib hat, daß er Großmast aus dem Kielschwein rupfen kann." „Du willst wohl meine Krücke zu schmecken kriegen, was?" fuhr Old Donegal ihn an. „Auf Ngau habe ich damit einen Piraten gefällt, und es macht mir nichts aus, sie auch auf deinem Rücken tanzen zu lassen, wenn du nicht..." „Donegal", sagte der Seewolf. „Laß Batuti in Ruhe. Ich bin damit einverstanden, daß er wieder seinen Dienst aufnimmt. Die Arbeit an Deck und die frische Luft sind jetzt die beste Medizin für ihn." Batuti schaute zu ihm auf und strahlte. „Sir, vielen Dank!" rief er. „Das werde ich dir nie nicht vergessen, ganz bestimmt nicht." ,,He, Moment mal", protestierte der Alte. „Wer soll denn jetzt auf Hasard junior aufpassen?" „Philip junior natürlich", gab der Profos zurück. „Wer denn wohl sonst? Blöde Frage, Donegal." „Von wegen. Philipp ist zum Kombüsendienst abgeordert worden, du Rochen", erklärte O'Flynn giftig. „Sag bloß, das weißt du nicht. Wer ist denn hier der Profos, du oder ich?" Carberry schaute reichlich verdattert drein. Hasard lachte und meinte: „O Verzeihung, Mister Carberry, ich habe ganz vergessen, dir das mitzuteilen. Ja, ich selbst habe Philipp zum Kutscher in die Kombüse geschickt, sonst schlägt er in der Achterdeckskammer noch Wurzeln. Und was Hasard betrifft, so können wir ganz beruhigt sein, glaube ich. Der ist nämlich auch bald so weit genesen, daß er aus seiner Koje abentern kann." „Na, Gott sei Dank", sagte Ben
51 Brighton. Hasard drehte sich um, und die Männer folgten ihm jetzt zum Ruderhaus. Hasard trat neben Blacky und wies auf die Skizze, die er gegen die Innenwand des Ruderhauses geheftet hatte. Die Fidschi-Insel und die Neuen Hebriden waren darauf zu sehen, und Ngau und Espiritu Santo waren durch Kreuze besonders gekennzeichnet. „Auf unseren Seekarten sind diese Inseln nicht eingetragen", erklärte der Seewolf. „Aber ich habe mir das ,Logbuch des Satans' angesehen und einige nützliche geographische Angaben herausziehen können. De Larra wollte die Neuen Hebriden anlaufen und hat ihre Position ziemlich genau berechnet und aufgeschrieben. Er ist dort dann aber nie gelandet, weil ihn die Stürme von seinem Kurs abbrachten und auf wochenlange Irrfahrt warfen." Er griff in seine Westentasche und zog daraus hervor, was Lavida ihm kurz vor dem Abschied ausgehändigt hatte: eine Seekarte der Polynesier aus Blattgeflecht. Die Lage der Inseln war darauf durch Muscheln markiert. „So absonderlich uns diese Karte erscheinen muß", sagte Hasard, „sie ist doch von erstaunlicher Präzision, wie ich durch Vergleiche herausgekriegt habe. Lavida und ihre Stammesschwestern hatten sie auf die Berichte ihrer Leidensgenossinnen von Espiritu Santo hin angefertigt - und die Lage der Neuen Hebriden deckt sich fast genau mit der Position, die de Larra in seinem Logbuch angibt." „Du traust dir also zu, Espiritu Santo auf Anhieb zu finden?" erkundigte sich der Profos. „Ja, vorausgesetzt, sie liegt tatsächlich auf dem fünfzehnten Breitenkreis, wie ich annehme."
„In vier Tagen wissen wir es", sagte Big Old Shane. ,,Aber können wir wirklich sicher sein, daß die Piraten dorthin unterwegs sind?" „Ja. Die Bewohner von Ngau haben den Streit zwischen Sabicas und seinen Männern mitangehört und fast jedes Wort verstanden. Donato, der Kalabrier, will den Schatz heben, den Sabicas auf Espiritu Santo vergrub, als er einen ausgiebigen Streifzug rund um die Insel unternahm und die sechs Mädchen entführte. Außerdem besteht die Möglichkeit, daß die Piraten dort einen neuen Schlupfwinkel anlegen. Hinfinden werden sie auf jeden Fall, denn die Mädchen geben mit Sicherheit genauso gute Lotsen ab wie Lavida." Lavida - er mußte an das Mädchen zurückdenken. Sie hatte viele heiße Tränen vergossen, als sie sich voneinander getrennt hatten, und zum Abschied hatte sie ihm noch einen leidenschaftlichen Kuß aufgedrückt. Sicherlich hätte sie ihn gern begleitet, aber ihr Platz war bei ihrem Stamm. So hatten sich die Seewölfe zu ihrer Ankerbucht zurückbegeben, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß die „El Cisne" tatsächlich aus der Felsenbucht im Westen der Insel ausgelaufen war. Die dankbaren Eingeborenen hatten Hasard noch einige andere Karten aus Blattgeflecht und auch Proviant mitgegeben, die einzigen Kostbarkeiten, die sie besaßen. Der Seewolf wußte diese Gaben zu schätzen. Für ihn bedeuteten sie mehr als Gold, Silber und Juwelen. Er hütete die Seekarten wie einen Schatz. Mit der großen Karte, die er von der Neuen Welt, Ostindien und der Südsee gezeichnet hatte, hielt er die seltsamen Werke der Insulaner in einem Fach seines Kapitänspultes verborgen. Dort lag auch das Log-
52 buch des Satans, das er Don Mariano José de Larra nach einem beispiellos harten Kampf abgenommen hatte. Hasard gab seinen Männern noch einige Erläuterungen zu der Skizze, die er für die Überfahrt angefertigt hatte, dann wandte er sich ab, verließ das Quarterdeck und suchte die Hütte auf. Er steckte seinen Kopf durch den Türspalt in Hasard juniors Kammer und lächelte seinem Sohn zu. Der Junge war wach. Freudig erregt setzte er sich in seiner Koje auf und rief: „Dad, Dad, bitte, komm zu mir. Erzähle mir, wohin wir segeln - und was geschehen ist. Bis jetzt habe ich nichts Genaues erfahren. Haben wir wirklich einen Sturm abgeritten?" „Ja." Der Seewolf trat ein, durchmaß den Raum mit wenigen Schritten und setzte sich ans Fußende der Koje. „Außerdem haben wir uns noch mit Piraten herumschlagen müssen, denen wir jetzt nachjagen. Das alles ist vor und auf Ngau geschehen, und Ngau gehört zu einer riesigen Gruppe winziger Inseln, die von den Polynesiern ,Fidschi' genannt werden. Nach allem, was ich über den Archipel gehört habe, muß er aus zwei- bis dreihundert Eilanden bestehen. Aber am besten fange ich von vorn an." „Fein, Dad." „Kannst du dich entsinnen, wie wir vor Tutuila lagen?" „Ja." Hasard juniors Mundwinkel sanken herab. „Dieser gräßliche Glatzkopf, der mit dir an Bord enterte. Hat der wirklich auf Batuti und auf mich geschossen?" „Ja", sagte der Seewolf. „Und jetzt hör mir gut zu ..." Espiritu Santo. Gut eine Kabellänge vom Strand
des Ostufers entfernt war die „El Cisne" vor Anker gegangen. Das auflaufende Wasser zerrte an ihrem Rumpf und schien sie von der Trosse losreißen zu wollen, um sie auf den Strand zu werfen. Stark war der Wellenschlag. Er hob die Galeone hoch und ließ sie im nächsten Moment in so tiefe Wogentäler absacken, daß die Männer an Oberdeck die Insel nicht mehr zu sehen vermochten. Eine hohe, schäumende Brandung donnerte auf das Land zu - und mitten in ihren rauschenden Fluten schwebte wie eine klägliche Nußschale die Jolle des Seglers. Donato, der Eurasier, zwei weitere Piraten und zwei Mädchen saßen darin. Die Mädchen klammerten sich zitternd aneinander fest, als das Boot auf dem zischenden Wogenkamm mit beängstigender Geschwindigkeit auf das Ufer zuraste. Die Brandung hatte schon manches Boot und Schiff zerschmettert und war vielen mutigen Männern zum Verhängnis geworden. Für die jungen Insulaner galt es als Tapferkeitsprobe, die wogende Flut zu bezwingen und in den schmalen, zerbrechlich wirkenden Auslegerbooten darauf zu reiten. Wer sein Gefährt nicht zu lenken verstand, der mußte in dieser blau-weißen gischtenden Hölle untergehen. Donato hielt die Ruderpinne mit eiserner Hand und glich jede drohende Kenterbewegung sofort durch entsprechenden Gegendruck aus. Konzentriert arbeitete er, während seine Begleiter im Schweiße ihres Angesichts pullten, und es gelang ihnen, die Jolle ohne Unfall bis auf den Strand zu bugsieren. Knirschend schob sich der Rumpf auf den hellen, feinkörnigen Sand. Donatos Miene entspannte sich, er lachte auf. Bis hier war er gelangt,
54 alles andere erschien ihm wie ein Kinderspiel. Er stieg als erster aus, trieb seine Männer zur Eile an und blickte sich nach allen Seiten um, um rechtzeitig auf „unliebsame Überraschungen" aufmerksam zu werden. Nachdem sie alle die Jolle verlassen und sie weit genug auf den Strand gezogen hatten, präsentierte sich ihnen die Überraschung: Gut ein Dutzend braunhäutiger Männer näherte sich ihnen von den Palmen her, die den Strand säumten. Die Eingeborenen führten Speere, Pfeil und Bogen als Waffen mit, aber sie näherten sich unschlüssigen Schrittes. Hatten sie Freunde oder Feinde vor sich? Sie wußten es nicht. Erst als sie die Mädchen als ihrem Stamm zugehörig erkannten, stießen sie laute Willkommensrufe aus. Donato packte das eine Mädchen und dirigierte es vor sich her. „Sag ihnen, daß sie nichts gegen uns unternehmen sollen", zischte er ihr zu. „Erkläre ihnen, daß ihr zwei und die anderen vier an Bord der ,El Cisne' unsere Gefangenen seid und daß ein Unheil geschieht, wenn sie nicht tun, was wir ihnen befehlen!" Das zitternde Mädchen rief den Ankömmlingen etwas in der eigentümlich singenden Sprache der Insulaner zu. Sie blieben verdutzt stehen, schienen untereinander zu beratschlagen und wichen schließlich ein Stück zurück. „Stehenbleiben!" schrie Donato. „Sie sollen sich nicht wegrühren, sonst knallt es. Los, sag ihnen auch das! Wir schießen zwei oder drei von ihnen nieder, wenn sie versuchen, die Flucht zu ergreifen." Das Mädchen übersetzte auch dies in ihre Sprache. Wie vom Donner gerührt verharrten die Eingeborenen auf dem Strand, ließen ihre Waffen sinken und blickten fassungslos auf die Piraten, die mit ihren Geiseln
jetzt langsam auf sie zurückten. Die Mädchen begannen zu weinen. Donato schlang seiner unfreiwilligen Begleiterin den einen Arm um den Hals und preßte ihren Körper fest gegen den seinen. „Hör auf. Sei still. Hörst du? Du sollst das Jammern lassen. Wenn ihr alle euch hübsch brav und folgsam benehmt, geschieht euch nichts Übles. Sag deinen Leuten, sie sollen uns quer über die Insel zu dem Platz begleiten, an dem laut unserer Karte der Schatz liegt. Sie werden uns bei der Suche behilflich sein." „Ihre Waffen sollen sie wegwerfen", sagte der Eurasier, der jetzt das zweite Mädchen vor sich festhielt. „Sie brauchen sie ja sowieso nicht mehr." Er grinste verächtlich. „Nachher suchen wir eine gute Ankerbucht für unser Schiff, und dann besetzen wir das Dorf dieses braunen Gesindels. Wir werden uns hier auf Espiritu Santo häuslich niederlassen und es mit diesen Bastarden so halten wie auf Ngau, nicht wahr, Donato?" „Genau das tun wir", versetzte der Kalabrier. Wieder sprach das erste Mädchen und die Insulaner ließen ihre Speere, Pfeile und Bogen auf den weichen, weißen Sand fallen. „Ausgezeichnet", sagte Donato mit triumphierender Miene. „Ich sehe schon, hier haben wir leichtes Spiel." Er wandte sich seinen Kumpanen zu. „Gebt dem Malaien und den anderen auf der ,El Cisne' jetzt das Zeichen, daß alles in Ordnung sei." Sein Nebenmann zur Rechten wandte sich um, hob seine Muskete und winkte damit zur „El Cisne" hinüber. Als die Galeone aus einem tiefen Wellental hochschwang, konnten die acht Piraten, die an Bord zurückgeblieben waren, das Signal deutlich erkennen.
55 traf er kurze Zeit darauf mit dem Ausguck zusammen die erschütternde Feststellung, daß jener unter 10. Vollzeug heranrauschende DreimaEtwa eine halbe Stunde später - ster alles andere als ein Unbekannter Donato und sein Trupp waren zu für sie war. diesem Zeitpunkt längst im Urwald „Die ,Isabella' ", stieß er entsetzt der Insel verschwunden - machte der aus. „Teufel, das darf nicht wahr Ausguck der „El Cisne" eine Entdek- sein." kung, die ihn sofort in höchste „Wir müssen Donato und die andeAlarmbereitschaft versetzte. ren benachrichtigen", sagte der Aus„Deck!" schrie er, indem er sich guck. weit über die Umrandung des Groß„Warte." marses lehnte. „Mastspitzen an der „Es wird zum Kampf kommen östlichen Kimm! Sie halten genau und..." auf uns zu!" „Warte noch." „Abwarten", rief der Malaie, der Schweigend beobachteten sie das breitbeinig auf dem Achterdeck der Schiff mit den flachen Aufbauten schwankenden Galeone stand, zu und den hohen Masten. Ihre Nervosiihm hinauf. „Das ist noch kein tät wuchs von Minute zu Minute. Grund, sich zu beunruhigen. Laß den Längst war die „El Cisne" gefechtsKahn nicht aus dem Auge. Verfolge bereit. Schon der Kalabrier hatte die jede seiner Bewegungen und melde Kanonen ausrennen lassen, um mir laufend, was du sehen kannst." eventuellen Überfällen durch die In„Jawohl", sagte der Ausguck. selbevölkerung sofort mit einer Der Malaie hatte von Donato für Breitseite begegnen zu können. die Zeit des Landeunternehmens das Mit bloßem Auge war die „IsabelKommando über die „El Cisne" über- la" jetzt zu erkennen. Der Malaie nommen. Er überlegte, ob er den nagte an seiner Unterlippe und Kalabrier durch einen Kanonen- überlegte, was er tun solle. Donato schuß verständigen sollte, gelangte alarmieren? Vielleicht werteten die aber zu dem Schluß, daß er dies bes- Seewölfe das als Herausforderung, ser unterließ. Erstens drohte durch vielleicht griffen sie dann sofort an. das fremde Schiff noch lange keine Den Feind heransegeln lassen und Gefahr - vielleicht segelte es vorbei, erst im letzten Moment das Feuer auf ohne sich weiter um sie zu kümmern. ihn eröffnen? Das war mehr als risZweitens wurde der Kapitän des kant, zumal die „Isabella" im Gefecht Seglers, der sie inzwischen auch ge- die Luvposition haben würde. sichtet haben mußte, durch einen Der Malaie wurde seines EntscheiGeschützböller mit Sicherheit miß- dungskonfliktes enthoben. Etwas trauisch. Seltsames, Unerklärliches geschah. Der Malaie wartete die Entwick- Die „Isabella" drehte bei und verhielt mit aufgegeiten Segeln, als noch eine lung der Dinge ab. „Es ist eine Dreimast-Galeone", halbe Meile die beiden Schiffe vonmeldete ihm der Ausguck wenig spä- einander trennte. Sie lagen zu weit ter. „Sie weicht um keinen Strich von auseinander, um sich befeuern zu können. ihrem Kurs ab." Jetzt enterte der Malaie selbst in „Was haben diese Hunde vor?" den Großmars auf, und von hier aus fragte sich der Malaie immer wieder.
56 ungestört hantieren. Vorsichtig tastete er sich nach vorn - bis zur Ankertrosse. Wieder stieß er in die Tiefe hinunter, zückte das Messer und begann, eifrig an der Trosse herumzusäbeln. Lavida und Ahira, die Mädchen von Ngau, hatten ihm erzählt, daß sie von den sechs Leidensgenossinnen von Espiritu Santo einige bemerkenswerte Details über die Insel der Neuen Hebriden erfahren hatten. Da war die hohe Brandung, die zur mörHasard war, nur mit einer kurzen derischen Falle werden konnte, und Hose bekleidet und mit einem langen da war der Sog der Flut, der ein vor Messer bewaffnet, an der Luvseite der Küste liegendes Schiff in die seiner „Isabella" in die See gesprun- Brandung zerrte - Details, die für gen. Er war unter ihrem Heck hin- den Seewolf an Bedeutung gewondurchgetaucht, war weiterge- nen hatten, seit er an diesem Morgen schwommen und hatte erst nach gut errechnet hatte, daß sie sich ihrem Ziel höchstwahrscheinlich mit der zehn Yards wieder Luft geschöpft. Jetzt tauchte er wieder und brach- Flut nähern würden. te sich mit ausholenden Zügen der Die Trosse. „El Cisne" näher. Er überprüfte seiHasard hielt sich unter Wasser und nen Plan noch einmal in Gedanken. wartete solange ab, bis die „El Cisne" Hatte er auch alles einkalkuliert? ein Stück abgetrieben war. Die Luft Konnten sie ihn entdecken? wurde ihm knapp, er verspürte ein Nein - wenn er den Seegang auf für schmerzhaftes Stechen in den Lunihn vorteilhafte Weise ausnutzte. Er gen. Er ließ sich jetzt von der Aufverstand es, sich dem Rhythmus der triebskraft des Wassers mitnehmen, auf und ab schwingenden Wogen an- schoß hoch - und sah die Galeone mit zupassen. Immer, wenn ein Wasser- zunehemnder Fahrt davongleiten. berg zwischen ihm und der PiratenEr folgte ihr. Galeone war, konnte er hochschieDer Ausguck entdeckte ihn endßen und Luft schnappen. Wenn er es lich. Gebrüll setzte an Bord der Gaschaffte, Takt zu halten, konnten die leone ein. Ein paar Musketen wurden Kerle ihn nicht entdecken. übers Schanzkleid geschoben, zwei, Es gelang ihm. Es war ein be- drei Schüsse auf Hasard abgegeben, schwerliches Stück Arbeit, sich auf aber keiner traf. Grinsend verfolgte diese Weise der „El Cisne" zu nähern, Hasard, wie die Kerle jetzt auf die aber er bewältigte es. Während das gekappte Ankertrosse aufmerksam Augenmerk der Piraten ausschließ- wurden. lich auf die „Isabella" konzentriert Ihr Geschrei wurde noch lauter war, glitt der Seewolf in einem letz- und steigerte sich fast zu einem ten Tauchgang ganz an den hölzer- Kreischen. nen Schiffsleib heran. Hasard blickte sich um. Die „IsaEr tauchte auf und spähte an der bella" schob sich näher. Ben BrighBordwand hoch. Noch beugte sich ton und die anderen bereiteten sich niemand außenbords, noch konnte er darauf vor, vor Anker zu gehen und „Was nur, was?" Vorläufig geschah nichts, das ihm und seinen sieben Kumpanen Anlaß zur Panik gab. Scheinbar friedlich dümpelte die Galeone des Seewolfes in den Fluten - scheinbar friedlich. Totenstille hatte sich über die „El Cisne" gesenkt. Die Spannung der Freibeuter steigerte sich ins Unerträgliche. *
57 die Beiboote abzufieren. Wenn die „El Cisne" strandete, wollten sie landen und die Verwirrung ausnutzen, um die Mädchen zu befreien. Einen anderen Weg gab es nicht - wie sonst sollten sie die Geiseln der Gewalt der Piraten entreißen? Hasard wußte, daß es die Galeone zerschmettern würde, aber er rechnete auch fest damit, daß sie ihre Besatzung noch heil bis an Land beförderte. Es kam anders. Jeder Versuch der Piraten, das Schiff noch aus dem Sog der Flut zu manövrieren, schlug fehl. Als die Brandungswogen die „El Cisne" wie ein leichtes Boot hochhoben und auf den Strand zukatapultierten, ergriff die Panik von den acht Piraten Besitz. Sie sprangen von Bord - und mit ihnen sprangen die vier Mädchen. Hasard schwamm schneller, schlug heftig mit den Beinen auf und ab und tauchte tief mit den Armen ein. So brachte er sich inmitten der tosenden Brandungswelle, die auf den Strand von Espíritu Santo zurauschte, in die Nähe der Mädchen. Sie konnten hervorragend schwimmen - fast noch besser als er. Er lachte auf und ließ sich von Wasser und Schaum auf den weißen Sand werfen. Leicht wankend richtete er sich auf, streckte die Arme helfend nach den Mädchen aus und rief ihnen zu: „Ich bin euer Freund! Ich habe Lavida, Ahira und die anderen Mädchen von Ngau befreit und bin hier, um auch euch zu helfen!" Sie taumelten auf ihn zu. Dann geschahen mehrere Dinge gleichzeitig: Die „El Cisne" torkelte am brodelnden Hang der Brandungswoge auf die Insel zu, und es sah so aus, als müsse sie gleich durch die Luft bis zu den Palmen fliegen. Eine Schar Eingeborener brach aus dem Inseldickicht hervor und rannte mit erhobenen Waffen auf
Hasard, die Mädchen und die jetzt nach und nach eintreffenden Piraten zu. Ein Späher hatte beobachtet, wie der erste Trupp Insulaner von Donato und dessen Spießgesellen überwältigt worden war, und er war sofort ins größte Dorf gelaufen, um den Vorfall zu melden. Daraufhin hatte sich ein halbes Heer wütender Männer in Marsch gesetzt. Hasard nahm den Malaien in Empfang. Er schlug ihm das Messer aus der Hand und rammte ihm die Faust unters Kinn. Alles in allem hatte er leichtes Spiel mit diesem Kerl, denn der Malaie hatte zuviel Wasser geschluckt und war zu benommen, um wirklichen Widerstand zu leisten. Die Mädchen riefen ihren Stammesbrüdern etwas Erklärendes zu, und die Insulaner schwärmten aus, um die übrigen Piraten gefangenzunehmen. Fünf Kerle holten sie noch aus dem schäumenden Wasser - die beiden anderen blieben verschwunden. Sie waren ertrunken. Die „El Cisne" raste mit Donnern und Krachen auf den Strand. Ihr Rumpf zerbarst, und das Wrack legte sich schwerfällig auf die Backbordseite. Mit dem Bug zur See und dem Heck zum Land blieb es liegen, ein großer Haufen zersplitterten Holzes, der nie wieder über das große Wasser segeln würde. * Donato stand in der Grube, die er von dem Eurasier und den beiden anderen Kerlen hatte ausheben lassen. Er selbst scharrte jetzt mit seinen Händen den letzten Rest Erde von der Kiste, die Sabicas' Reichtümer enthielt. Hier, auf einer Lichtung, keine drei Meilen vom Strand entfernt, hatte er sie nach den Angaben auf der Karte gefunden - und er
58 war viel zu fasziniert, um auf seine Umgebung zu achten. „Ich habe es gewußt", flüsterte er. „Sabicas hat die Kiste gut verborgen, aber er hätte keinen Lageplan zeichnen dürfen. Doch wie gut, daß er es getan hat. Oh, ich werde ihm dafür ewig dankbar sein." Er kicherte und beugte sich tief über die Kiste, um ihren Deckel zu öffnen. „Senor", sagte der Eurasier über ihm. „Ich habe Schreie und merkwürdige Geräusche vom Strand her gehört." „Du leidest an Halluzinationen", meinte der Kalabrier. „Was soll uns denn hier schon geschehen? Sieh von mir aus nach, was dort los ist, aber laß dir gesagt sein, daß es nichts sein kann, das uns irgendwie schadet. Wenn Gefahr im Verzug wäre, würde der Malaie einen Kanonenschuß abgeben." „Ich sehe trotzdem nach", sagte der Eurasier. Er wandte sich ab und ließ die beiden anderen Kerle bei den beiden Mädchen und den zwölf eingeborenen Männern stehen. Schweren Schrittes verließ er die Lichtung, aber er kam nur fünf, sechs Yards im Gebüsch voran. Eine Gestalt wuchs hinter ihm hoch, und ehe er herumfahren konnte, krachte ein hölzerner Gegenstand auf seinen Schädel nieder - Old O'Flynns Krücke. Grinsend beugte sich der Alte über die zusammensinkende Gestalt. Er vergewisserte sich, ob der Kerl auch wirklich bewußtlos war. Die Seewölfe waren gelandet. Dan O'Flynn schob sich dicht neben seinen Vater, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen Pfiff aus, als Hasard, der etwas weiter vorn kauerte, ihm das Zeichen dazu gab. Hasard huschte geduckt weiter. Donato hievte den Kistendeckel
hoch. Er vernahm den Pfiff, sah aber immer noch nicht auf. „Das ist der Eurasier", sagte er. „Einer von euch läuft ihm nach und schaut nach, was los ist. Na los, nun beeilt euch schon." Einer der beiden Bewacher der Eingeborenen setzte sich in Bewegung. Sein Kumpan blickte ihm nach, halb verwundert, halb argwöhnisch. Er registrierte zu spät die Gestalt, die schräg von hinten auf ihn zuschlich - und brach unter dem Kolbenhieb des Radschloß-Drehlings zusammen. Ben Brighton hatte den Drehling von Bord der „Isabella" mitgenommen und seinem Kapitän ausgehändigt. Hasard drehte die Waffe jetzt schleunigst in der Hand um, lächelte den verblüfften Eingeborenen zu und legte auf Donato an. Der Pirat, der dem Eurasier gefolgt war, drehte sich am Rand der Lichtung um. Er sah seinen Kumpan am Boden liegen und wollte die Muskete hochreißen, aber zwei Männer schnellten aus dem Dickicht und rissen ihn um: Serafin und Joaquin, die Spanier. Hasard spannte den Hahn des Radschloß-Drehlings. Donato vernahm das metallische Knacken und richtete sich von der offenen Kiste auf. Gold- und Silberbarren, Schmuck und Diamanten lagen in der Kiste, sie war bis zum Rand damit gefüllt. Serafin fällte den Piraten mit einem gut gezielten Fausthieb. Fassungslos starrte Donato, der Kalabrier, in die Waffenmündung. „Es ist aus", sagte der Seewolf auf spanisch. „Steig aus der Grube, Amigo. Du hast dir zwar dein eigenes Grab geschaufelt, aber ich will Gnade vor Recht ergehen lassen. Die Geiseln sind befreit, und du darfst mitsamt deinen letzten Galgenstricken in
60 einem Beiboot der ,El Cisne' das Weite suchen. Herzlichen Dank übrigens dafür, daß du Sabicas' Privatschatz gehoben hast. Wir werden ihn in Ehren halten - zusammen mit dem, was wir an Bord deiner Galeone gefunden haben." Donato stöhnte auf und fuhr sich in einer verzweifelten, resignierenden Geste mit beiden Händen durchs Gesicht. Die Mädchen lachten und umarmten ihre Stammesbrüder. Old O'Flynn trat mit den anderen Männern der „Isabella" aus dem Dikkicht und rief: „Sir, diese Insel ist auch nicht anders als alle anderen verdammten Eilande der Südsee. Wann gehen wir wieder in See?" „Noch heute", antwortete der Seewolf.
Serafin und Joaquin grinsten und stießen sich an. „Senor", sagte der bärtige Serafin. „Für uns ist diese Insel gut genug. Ein paradiesisches Fleckchen Erde und irgendwann wird hier schon ein spanischer oder portugiesischer Segler vorbeikommen, der uns mitnimmt, zurück zu den Philippinen. Bis er eintrifft, würden wir gern hier verweilen. Bist du damit einverstanden, wenn wir abmustern? Der Gambia-Mann ist ja wieder wohlauf, und auch dein Sohn Hasard kann bald wieder zum Decksdienst antreten. Du brauchst uns nicht mehr." „Läßt du uns also hier zurück?" fragte Joaquin. „Einverstanden", sagte der Seewolf. „Für euch ist der Törn hier zu Ende. Aber die ,Isabella' segelt weiter
61 nach Westen. Es gibt noch ein paar Er winkte Donato aufmunternd weiße Flecken auf meiner Landkar- mit dem Radschloß-Drehling zu. Der te, die ich ganz gern ausfüllen würde Kalbrier stieg aus der Schatzgrube, - wenn wir diesen Halunken hier ein an Körper und Seele gebrochener und seine Kerle versorgt haben." Mann.
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 204
Nuami, Perle der Südsee von Kelly Kevin Der Schamane - oder was das war — traute sie beide: Nuami, die Perle der Südsee, und Smoky, den bulligen Decksältesten der „Isabella". Smoky kriegte das nur nicht so richtig mit, weil er zuviel Rum und Kawa gebechert hatte und außerdem höflich sein wollte. Zu spät kapierte er, daß er nunmehr ein trautes Weib hatte, und als er es kapierte und die Flucht antreten wollte, hatte Nuami etwas dagegen und entführte Smoky. Die Crew war ratlos, weil Smoky wie vom Erdboden verschwunden war, nur die Rübenschweinchen Hasard und Philip wußten etwas, verschwiegen es aber, weil der Profos ihnen das Fell mit einem Tauende versohlt hatte . . . Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler und in allen Bahnhofsbuchhandlungen.
Die seemännische Sprache von A-Z
Schute
1. die Segelschute, früher ein den Mutten (siehe dem) ähnliches Wattenfahrzeug der westfriesischen Inseln und der Niederelbe, vorn und achtern spitz zulaufend, plattbodig, ausgestattet mit zwei Seitenschwertern, ein bis zwei umlegbaren Masten und Gaffeltakelung. Die Segelschuten dienten als Frachtensegler. 2. prahmartiges Transportfahrzeug Im Schlepperbetrieb und im Hafen, meist ohne eigenen Antrieb, aber mit großem Laderaum ausgestattet.
Schutzdecker
auch Schutzdeckschiff oder Shelterdeckschiff genannt, ein Frachtschifftyp, dessen oberstes durchlaufendes Deck ständige Öffnungen oder Öffnungen in der Außenhaut zwischen oberstem und dem darunterliegenden Deck aufweist. Dieses sogenannte Schutzdeck gilt als offener Raum und hat dadurch Vermessungsvorteile, was sich z. B. auf die Hafenabgaben auswirkt.
Schwabber
1. ein Deckschrubber (siehe Dweil), der aus altem Tauwerk besteht. 2. früher scherzhafte Bezeichnung für die Epauletten der höheren Seeoffiziere.
Schwalbennest
auf Booten und Yachten meist im Cockpit oder unter Deck angebrachtes kleines Fach, in dem Gegenstände verstaut werden, die rasch zur Hand sein sollen.
Schwanenhals
ein in Form des Schwanenhalses gebogenes Eisen, das zur drehbaren Befestigung des Baums am Mast dient (siehe auch Lümmel). Der Schwanenhals wird zu diesem Zweck in ein an der Rückseite des Mastes angebrachtes Auge eingehängt. Diese Art Baumoder Spierenbeschlag wurde von moderneren Beschlägen abgelöst.
Schwanzwelle
der hintere Teil der Welle, auf dem der Propeller angebracht ist.
Schweberuder
ein Ruder, das nur im oberen Spurlager befestigt ist, unten hingegen frei hängt.
Schweinsrücken
Schwell
Schwert
Schwertboot
1. Durchbiegung der Schiffsenden nach unten. Dieser Fall tritt bei Holzschiffen von über 80 m Länge auf, weil die Plankennähte die in der Außenhaut wirkenden großen Scherkräfte kaum noch abzufangen vermögen. So gibt und gab es kaum hölzerne Segelschiffe, die länger als 80 Meter waren. Das änderte sich erst, als Ende des 19. Jahrhunderts Eisen bzw. Stahl als Baumaterial genommen wurde. 2. eine früher übliche Möglichkeit, einen Anker an Deck zu haltern. In der Regel bestand der Schweinsrücken aus zwei Konsolen, auf denen der Anker lagerte und von zwei Ketten festgehalten wurde, die durch eine gemeinsame Schlippvorrichtung losgeworfen werden konnten. Die obere Fläche der beiden Konsolen war zum Wasser geneigt, so daß der Anker bei Loswerfen der Ketten durch seine eigene Schwere nach unten glitt. Ebenfalls als Schweinsrücken werden bei anderer Ankerhalterung die schräg nach außenbords abfallenden und mit Querschienen versehenen Gleitbahnen bezeichnet. Dünung wie sie an Strände, Ufer oder in Häfen läuft, teils vom Seegang oder wie in Häfen vom ständigen Schiffsverkehr hervorgerufen. metallene, hölzerne, aus Sperrholz oder heute auch Kunststoff hergestellte Platte, die versenkbar im Schwertkasten (siehe dem) speziell von Jollen untergebracht ist und wie der Kiel (siehe dem) einer Abdrift entgegenwirkt sowie den Lateralplan (siehe dem) vergrößert. Ein Kentern (wie häufig angenommen) verhindert das Schwert nicht. Nach der Art der Bedienung unterscheidet man das Mittel- oder Senkschwert (siehe Mittelschwert) und das Steckschwert (siehe dem). Nach der Art der Unterbringung gibt es das Seitenschwert (siehe dem), das Mittelschwert, das Kimmschwert (siehe Kimmschwerter) und das Kielschwert (siehe Kielschwerter). Die äußere Form des Schwerts hat sich entsprechend der Erkenntnisse über Strömungsabläufe im Lauf der Zelt erheblich geändert. Ergebnis dieser Änderung ist das Profilschwert, das ähnlich wie Profilmast, Profilruder usw. strömungsgünstig geformt ist. andere Bezeichnung für Jolle (siehe dem), es hat statt eines festen Kiels das aufholbare Schwert, ist formstabil und kenter-, aber aufrichtbar. Durch die heute üblichen und zum Teil vorgeschriebenen Auftriebskörper ist das Schwertboot unsinkbar.