Die Braut des Parasiten Charles W.Runyon 1. Anne hatte noch nie etwas absolut und bewußt Böses erlebt. Sie hatte gesehe...
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Die Braut des Parasiten Charles W.Runyon 1. Anne hatte noch nie etwas absolut und bewußt Böses erlebt. Sie hatte gesehen, wie Jungen mit Luftgewehren Vögel getötet und wie Spielplatztyrannen kleinere Kinder drangsaliert und verprügelt hatten, und einmal hatte sie sogar gesehen, wie der Fahrer eines Wagens absichtlich von seinem Kurs abgewichen war, um eine Landschildkröte zu erledigen, die langsam über die Straße gekrochen war, und beim Anblick des zerplatzten Panzers und des zu blutigem Brei zermalmten Körpers war ihr übel geworden. Aber sie hatte keine dieser Handlungen, so unerfreulich, grausam und sogar sadistisch sie gewesen waren, als eine wirkliche Manifestation des Bösen angesehen. Auch waren sie nicht gegen sie gerichtet gewesen. Der unterirdische Raum war kühl, und es roch nach altem Staub. In den dicken Steinwänden wohnte Stille, und die Stimme der Fremdenführerin klang gedämpft und entfernt wie eine Erinnerung: „Die Konstruktion aus Bruchsteinmauerwerk mit einer äußeren Palisadenbefestigung ist typisch für die Grenzforts, wie sie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entstanden..." Anne verspürte den Drang, die Treppe wieder hinaufzurennen, hinaus in die brennende Hitze der Augustsonne, wo es nach Kreosot roch und wo die vertrauten Gesichter ihres Bruders und ihrer Eltern waren. Aber eine seltsame Faszination hielt sie gebannt, einen Fuß auf dem gestampften Lehmboden der Kammer, den anderen auf der untersten Stufe, die Augen auf den Winkel zwischen den Dachbalken gerichtet. Dort oben war ein schwarzes, nasses, glänzendes Ding, das etwa die Größe einer gespreizten Hand hatte. Ein äußerer Ring war wie aus transparenter Gelatine, in der sich der Raum spiegelte: Deckenbalken, Spinnweben, die grauen Steinmauern, die Stufen, ihr eigener dünner und eckiger Körper mit dem kurzen weißen Kleid - alles in der Mitte verdickt und oben und unten unnatürlich verlängert. Es war, als sähe sie
sich und ihre Umgebung in einem gigantischen Augapfel. Anne fühlte einen Druck an ihrer Stirn. Das schwarze, linsenartige Ding bewegte sich, schwoll zur Größe eines Frühstückstellers an und entsandte kleine dünne Fühler, schwarz wie Tusche, aber mit einem Glanz entlang den Rändern. Plötzlich fiel einer der Fühler herab und glitt schlangenhaft schnell über den Boden auf sie zu. Sie keuchte erschrocken und hob ihren Fuß auf die Stufe. Sie wußte instinktiv, daß das Ding sie vernichten wollte - nicht unpersönlich wie ein Blitzschlag, sondern als ob das Wesen sie bis ins Innerste ihrer Seele kennte und haßte. Sie flog herum und sprang die Stufen hinauf, nur um mit der stämmigen Gestalt ihres Bruders zusammenzuprallen. „He, was ist los?" Sie versuchte an ihm vorbeizukommen, aber er verstellte ihr den Weg, ganz beiläufig, aus Gewohnheit. „Guck mal da oben... da oben in der Ecke", keuchte sie. „Billy, laß mich vorbei!" „Warte mal." Er übersprang die letzten Stufen und stand im Halbdunkel des Raums, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Er war vierzehn, drei Jahre älter als Anne, mit einem unordentlichen kastanienbraunen Haarschopf auf einem Körper, der noch immer glatt vom Babyspeck war. Er hielt einen kurzen zugespitzten Stock in der Hand. Er runzelte mißtrauisch Stirn und Stupsnase, und seine Oberlippe hob sich über die großen Schneidezähne, was ihm in Annes Augen einen starken und eigensinnigen Ausdruck verlieh. Sie sah, daß das Ding seine Fühler eingezogen hatte und zur Größe einer Teetasse geschrumpft war, nicht länger schwarz, sondern von einem kühlen, scharlachrot-durchschossenen Blau. Ihr Magen zog sich angstvoll zusammen, als Billy das Ding angriff, den zugespitzten Stock in beiden Händen, und verbissen stieß und stach, bis der Atem zwischen seinen Zähnen zischte. Ein Tentakel schoß hervor, zog sich zurück, schlug wieder zu. Billy schrie triumphierend auf und rannte gebückt und suchend hierhin und dorthin. „Ich hab's!" Er hob eine Eidechse und schwang sie am Schwanz hin und her. Blut tröpfelte dünn von der Nase des Tiers; der Kopf hing schief herab, fast abgetrennt von dem langen, gefleckten Körper. Die Beine zitterten, dann erstarrten sie allmählich. Ihr Bruder grinste, die Augen hell und stolz, aber zugleich feindselig verengt. „Das Mistvieh wollte mich beißen." Anne blickte zu den Deckenbalken auf; das Ding war ver-
schwunden. Sie bückte sich und spähte in das Auge der Eidechse, zog sich mit einem leisen Keuchen zurück. Das Ding war irgendwie in den Körper der Eidechse übergegangen; sie sah es zusammengerollt dort drinnen und fühlte die Schärfe seines Hasses. „Es ist lebendig." „Du bist verrückt! Wie könnte es lebendig sein? Sieh doch, der Kopf ist fast abgeschnitten." „Es lebt. Wenn du ins Auge schaust, kannst du es sehen." „Kannst es selber sehen. Hier!" Er schwang den Arm mit der Eidechse; Blutstropfen flogen aus dem Tierkörper und bespritzten die Vorderseite ihres Kleids mit roten Tröpfchen. Anne kreischte und sprang zurück. Billy lachte und kam auf sie zu, das Tier auf Armeslänge vorgestreckt. „Was macht ihr Kinder da unten?" Annes Mutter stand oben an der Treppe, die Augen weit aufgesperrt gegen die Dunkelheit. Sie hatte Annes Züge: die Augen groß und mit langen Wimpern, die Haut lehmgrau und mit braunen Sommersprossen gesprenkelt, die Nase lang und mit hohem Rücken, mit einer Beule auf jeder Seite, als habe jemand sie zwischen Daumen und Zeigefinger gedreht. Aber wo Annes dünner, knochiger Körper diese Züge grotesk erscheinen ließ, verbanden sie sich bei ihrer Mutter zu einem angenehmen und charaktervollen Gesicht. Die vage Überraschung in ihren Augen rührte von der Tatsache her, daß sie kurzsichtig war, doch zu eitel und um den Anschein von Jugend besorgt, um eine Brille zu tragen. Nun zwinkerte und beugte sie sich vor, um zu sehen, was Billy in der Hand hielt. Als sie seine Trophäe ausmachte, zuckte sie zurück und legte die flache Hand gegen die Steinmauer, um das Gleichgewicht zu halten. „Mein Gott! Wirf das sofort weg, Billy!" „Ich nehme die Eidechse mit nach Haus und tue sie in ein Glas mit Spiritus, wie Chris es mit seinem Blinddarm gemacht hat!" „Das wirst du nicht tun!" „Papa hat bestimmt nichts dagegen. Ich werde ihn fragen." Billy sprang die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, und war fort. Annes Mutter wich an die Wand zurück, als er vorbeilief, die Augen entsetzt auf das tote Tier gerichtet. Dann schaute sie zu Anne. Es gab einen unmittelbaren Kontakt zwischen den beiden, mehr als ein bloßes Mutter-TochterVerhältnis, mehr auch als die Gemeinsamkeit des Geschlechts. Zwischen ihnen herrschte die Übereinstimmung zweier Frauen in
einem Haushalt mit zwei aggressiven, Ansprüche stellenden Männern. „Willst du hinaufgehen, Anne? Sie erzählt gerade von dem Massaker." Der Himmel glänzte wie ein geschmolzener Spiegel. Die jähe Hitze machte Anne niesen. Das Knirschen ihrer Lackschuhe auf dem Kies klang fremdartig und unwirklich. „Die Indianer untergruben die Palisaden und drangen so ins Fort ein..." Anne spähte zwischen zwei Zuhörern auf die Fremdenführerin. Sie trug eine enge Bluse und einen kurzen Rock, und das blonde Haar hing ihr über die Schultern herab. Anne fühlte Neid und Bewunderung; die Frau war schön, mit einer schmalen geraden Nase und einer Haut wie ein Pfirsich. „... keiner der Soldaten überlebte; die meisten wurden im Schlaf niedergemetzelt. Vermutlich hatten sie nicht genug Wachen aufgestellt, da man das Fort für unbezwingbar hielt..." „Wie die Maginotlinie", sagte Annes Vater. Er war einen halben Kopf größer als die meisten anderen Männer in der Gruppe, und er hielt seine Pfeife zwischen den Zähnen, den Zeigefinger um das Mundstück gehakt, den Ellbogen in die Handfläche seiner Linken gestützt. Ein selbstbewußter Mann mit geraden Schultern und dunkelblondem Haar; Anne wäre am liebsten hingegangen und hätte seine Hand genommen und die anderen wissen lassen, daß er ihr Vater war. Die Frau lächelte. „Nun, ja. Mehr oder weniger. Die Frauen wurden fortgeschleppt, um als Sklavinnen zu dienen - oder was immer für einen Gebrauch die Indianer von ihnen machen wollten." Ihr Blick schoß zu Annes Vater herüber, und ihre Zungenspitze glitt über die Unterlippe. „Sie trugen auch ihre Toten fort, wenn es welche gegeben hatte. Die Indianer glaubten, daß das Zurücklassen eines erschlagenen Kriegers auf dem Schlachtfeld gleichbedeutend mit der Verdammnis seiner Seele sei." Die Frau verschränkte die Arme unter den Brüsten und drückte sie aufwärts und gegen die Bluse, und selbst aus ihrem Blickwinkel konnte Anne den tiefen Spalt zwischen ihnen sehen. Die Frau hatte ihren Rücken an die Wand gelehnt und ihre Hüften etwas vorgeschoben. Die Haltung kam Anne normal vor; ältere Mädchen in der Schule standen so, wenn sie mit Jungen sprachen. Was ihre Aufmerksamkeit erregte, war die schwarz leuchtende Linie, die um die Frau zu flimmern schien. Es war das gleiche Licht, das sie um
die Eidechse hatte leuchten sehen. Ihre Mutter nahm sie bei der Hand und zog sie sanft fort. Sie gingen zu einer niedrigen Brüstung und schauten nebeneinander stehend über das waldige Tal. Anne sagte: „Sie ist wirklich schön, nicht wahr?" „Ja. Wie eine Kobra." Die Mundwinkel ihrer Mutter zogen sich nach unten und ließen ihr Gesicht hart und kantig erscheinen. Dann schmolz die Härte und hinterließ nur ein müdes, altes Aussehen. „Er ist alt genug, um auf sich selbst zu achten, Anne. Laß uns zum Wagen gehen." Eine Brise wehte durch die offenen Wagentüren und bewegte die feinen aschblonden Haare im Nacken ihrer Mutter. Anne sah sie die Handtasche öffnen und eine Schachtel Zigaretten herausnehmen. Das Rascheln von Cellophan klang rauh und laut, wie jemand, der auf einen Korb trat. Das Aufschnappen des Feuerzeuges war wie das Geräusch des Federriegels am Garagentor. Anne fühlte sich unruhig und nervös; sie wollte schreien, fand aber keinen Grund, es wirklich zu tun. Die Teilnehmer an der Führung begannen aus dem Fort zu kommen. Schuhe knirschten auf Kies, Anlasser schnarrten, Staub und Sand wurde von durchdrehenden Reifen fortgeschleudert. Als letzter erschien Billy mit einer Papiertüte. Er sagte „Hallo!" und öffnete die hintere Tür. „Hast du die Eidechse mitgebracht?" fragte Anne. „Nein." Billy grinste. „Mach auf und laß mich sehen." „Versuch's und schau selbst nach." „Ich fahre nicht mit einer toten Eidechse nach Hause." „Kannst ja zu Fuß gehen." „Lieber Himmel! Wollt ihr Kinder euch endlich -? Billy, wo ist dein Vater?" „Keine Ahnung. Drinnen." Die einzigen Autos, die noch auf dem Parkplatz standen, waren das ihre und ein gelber Datsun-Sportwagen. Anne wußte irgendwie, daß er der Fremdenführerin gehörte. Ihre Mutter hielt die Zigarette zwischen den Fingern und schnippte die Fingernägel aneinander, eine Geste, die ihren Mann immer nervös machte. Anne stieg aus dem Wagen. „Ich werde ihn holen, Mama." „Anne, du kannst nicht..." Aber Anne rannte schon, daß die Spitzen ihrer Lackschuhe den
Kies aufspritzen ließen. Sie ging in den schmalen langen Raum, wo glasgedeckte Tische und Vitrinen standen, aus denen Andenken verkauft wurden. Alles war verschlossen, der Drehständer mit Ansichtskarten unbeaufsichtigt. Hinter dem Verkaufstisch war eine Tür mit einem Plastikschild und Buchstaben aus Holzimitation. Anne hielt den Atem an und klopfte behutsam an die Tür: „Papa, wir können fahren." Lange blieb es still, dann kam die undeutliche Stimme ihres Vaters: „Wartet im Wagen. Ich bin gleich draußen." Anne biß sich auf die Zunge und knetete ihre Finger. „Mama sagte, ich solle warten und mit dir kommen." „Warum, in Gottes Namen? Geh nur! Ich komme gleich nach." Anne ging von der Tür fort bis zum gläsernen Verkaufstisch, dann schlich sie auf Zehenspitzen zurück und wartete hinter dem Ansichtskartenständer. Einige Minuten später kam ihr Vater aus dem Büro und ging zur äußeren Tür, ohne sich umzusehen. Draußen hielt er inne, um sich das Haar zu kämmen, dann wischte er den Kamm an seiner Hose ab. Anne beobachtete ihn durch das Fenster, wie er über den Parkplatz wanderte, den Kopf gesenkt, mit schlurfendem Schritt. Anne wollte schnell an der halboffenen Tür des Büros vorbeigehen, doch am Rand ihres Gesichtsfeldes bemerkte sie etwas Seltsames - ein schwarzes Ding, das wie ein großer Tintenklecks aussah und auf der roten Kunstledercouch ausgebreitet war. Es schien wie eine gewaltige Blase zu pulsieren, füllte eben noch fast den ganzen Raum, um im nächsten Moment zur Größe eines Kinderkopfes zusammenzuschrumpfen. Im Inneren der Masse schwebte ein Ring aus farblos-durchsichtiger Gelatine mit einer schon vertrauten schwarzen Linse in der Mitte, die Anne mit schrecklichem Abscheu anzufunkeln schien. Ihr Schritt stockte, ihre Knie wollten nachgeben, und Panik flatterte erstickend in ihrer Kehle. Sie war im Begriff zu fallen, als das Ding sprach: „Was willst du, Mädchen?" Auf einmal gab es auf der Couch keine formlose, pulsierende schwarze Gestalt mehr, nur die Fremdenführerin, die nackt auf dem Rücken lag. Ihre unglaublichen Brüste trotzten der Schwerkraft und standen beinahe aufrecht auf ihrem Brustkorb. Unter dem flachen Bauch war ein dichtes, blondes und schimmerndes Gestrüpp, eine stolze Zierde, die Anne neidisch machte. Sie wollte sie berühren, und der Gedanke machte ihre Haut prickeln. Dann wollte sie laufen, aber zum zweiten-
mal hielt die Faszination sie wie angewurzelt fest. „Das Ding in dem unterirdischen Raum - sind Sie ein Teil davon?" „Ich ein Teil davon? Ein Teil von was?" Die Frau wiederholte es wie ein Kind, das sich um Verständnis bemüht. Anne sah einen schmalen dunklen Rand um den weißen Körper erscheinen. Die Frau schien zu vibrieren. Ihre Wangen nahmen eine wächserne Färbung an, ihre Augen veränderten sich zu einem elektrischen, unmenschlichen Blau, das Haar wurde glatt und glänzend wie gesponnenes Nylon. Sie war eine Puppe. Aber die Augen waren die eines wirklichen kleinen Mädchens, das Anne voller Angst und Verwirrung anstarrte. Der Puppenmund war wie zu einem Schrei geöffnet, doch kein Geräusch kam heraus. Anne fühlte eine heiße Schwere in den Gliedern, als stiege eine Aschenwolke ringsum auf, und das Mädchen verblaßte und verschmolz mit einer dunklen Höhle... Anne wandte sich um und rannte los, schlug mit beiden Händen gegen die äußere Tür. Als sie halb über den Parkplatz war, stolperte sie über die eigenen Füße und fiel ausgestreckt auf den Kies. Sie hörte das Knirschen von Schritten und versuchte fortzukriechen, doch es war nur ihr Vater. Er hob sie auf und stellte sie wieder hin, dann hockte er nieder und bürstete die Sandkörner und kleinen Steine fort, die ihre Knie aufgeschürft hatten. Sie sah die kahle Stelle auf seinem Hinterkopf und begriff, daß er alt wurde. Sie stellte sich vor, wie er tot in einem Sarg lag, sie selbst mit trockenen Augen daneben, unfähig, ihren Kummer auszudrücken. „Komm jetzt", sagte er, erhob sich und legte ihr den Arm um die Schultern. „Wir wollen vergessen, was du dort drinnen gesehen hast, ja?" Sein männlicher Tabakgeruch beruhigte und stärkte sie. Zögernd antwortete sie: „Gut, wenn du willst - aber was war es?" „Es?" Er blickte sie verständnislos an. „Es... sie ist eine Frau, Anne. Nicht die beste Art Frau, aber..." Seine Hand schob sie sanft weiter. „Reden wir nicht mehr davon, ja?" Als sie zum Wagen gingen, blickte Anne zur Tür zurück. Eine blaue Glut schien aus dem Eingang zu kommen, eine Glut, die bösartigen Haß auszustrahlen schien und von dunstigem Luftflimmern umgeben war. Anne erschauerte und löste sich von ihrem Vater. Sie fühlte sich kalt und allein.
Das Gefühl hielt während der Heimfahrt an. Sie fragte Billy, was er mit der Eidechse getan habe, und er sagte: Ich hab' sie in den Kofferraum getan. Papa sagt, ich darf das, richtig? Sag es ihr." Der Blick ihres Vaters begegnete dem ihren im Rückspiegel, wanderte dann weiter; seine Stimme klang müde. Er will sie nur herumzeigen, dann wirft er sie weg." Er fuhr eine Minute schweigend, die Stirn gerunzelt. „Es ist eine gefleckte Rieseneidechse, eine Bewohnerin der Wüste." „Da ist sie weit von zu Hause entfernt", sagte Anne. „Also, so etwas kommt gelegentlich vor; man nennt das eine Anomalie. Tiere, die außerhalb ihrer natürlichen Umwelt angetroffen werden. Aber..." Er furchte die Stirn, als ob er den roten Faden verloren hätte, dann nahm er ihn wieder auf. „Aber so etwas kommt ziemlich häufig vor." Er runzelte immer noch die Stirn, während er eine Tabaksfaser von seiner Unterlippe pflückte. „Hat dir das Fort gefallen, John?" Die Stimme ihrer Mutter war spröde und höflich. „Ja, sehr interessant." „Das glaube ich dir gern. Auf deiner Schulter ist ein langes blondes Haar." „Na und? Soll das irgendwas besagen?" „Nein, nichts. Nichts besagt irgend etwas." Daheim. Billy zog mit seiner Trophäe los. Papa nahm Tabletten und legte sich ins Bett. Sein normalerweise gerötetes Gesicht zeigte blasse Flecken. Mama mixte einen Martini und ließ sich ein Bad einlaufen. Anne fütterte ihre Goldhamster und goß ihre Azalee, dann ging sie hinauf in ihr Zimmer. Sie überschaute den Rasenhang zum Wasser, wo ein Motorboot am hölzernen Steg lag. Auf der anderen Seite der kleinen Bucht erhob sich das im Kolonialstil prunkende Haus der Blyths hinter einer Reihe von Pappeln. Anne dachte daran, hinüberzugehen und Janet von dem Ding im unterirdischen Raum und der nackten Frau im Büro zu erzählen. Sie beschloß, bis zum Abend zu warten, wenn es Janet leichter fallen würde, ihr zu glauben. Sie legte sich nieder und lauschte dem schwachen Geräusch der Stimme, die aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern kamen. Es fing freundlich und beiläufig an, steigerte sich dann allmählich zu vorwurfsvollen, schrillen Tönen. Papas Antworten waren ein dumpfes Gemurmel, das immer wieder in Schweigen verebbte. Seltsam. Gewöhnlich brachte er sie mit ei-
nem lauten Ausbruch zum Verstummen. Anne faltete die Hände hinter dem Kopf und schloß die Augen. Das Abendessen ließ heute wohl auf sich warten; Mama hatte bestimmt geschwollene Augen und zittrige Hände, und die Kartoffeln waren versalzen und der Spinat ohne Essig... Sie erwachte schwitzend. Der Geruch im Raum erinnerte sie an die Zeit, als sie den verwesten Leichnam ihrer Katze unter einem Rosenbusch gefunden hatte. Etwas Totes. Sehr nahe. Sie langte nach hinten, um ihr Kissen aufzuschütteln, und berührte etwas Kühles, das die Festigkeit von Fleisch hatte. Sie schnellte hoch und riß das Kissen fort. Die tote Rieseneidechse. Der verdammte Kerl hatte sie ihr unters Kissen gesteckt! Sie sprang aus dem Bett und wartete auf das Würgen im Hals. Nichts kam. Nicht einmal Zorn auf Billy, nur eine stille Resignation. Er war ein Kindskopf. Sie hob die Eidechse am Schwanz hoch. „Bist du endlich tot?" Die gebrochenen, bläulichen Augen gaben ihr die Antwort. Sie öffnete die Tür und trug den kleinen Leichnam über den Korridor. Billys Zimmer war leer. Unten flimmerte der Fernseher vor einem leeren Sessel. Sie ging in die Küche und warf die Eidechse in den Mülleimer, dann erschauerte sie vor Erleichterung. Endlich war das Ding fort, und sie konnte das Fort und seine Schrecken vergessen. Nachdenklich wandte sie sich ab und ging hinaus auf die Veranda. Es wurde bereits dunkel, aber was sie Janet hatte sagen wollen, schien nicht mehr wichtig zu sein. Was war denn wichtig? Sie wußte es nicht, aber sie fühlte, wie der Augenblick sich wie ein Gummiband dehnte; ihr Herz schlug schneller, ihr Magen zog sich zusammen, als ob sie in einer Achterbahn säße, kurz bevor es in die Tiefe ging... „Anne! Anne!" Sie rannte zum Schlafzimmer ihrer Elter und riß die Tür auf. Ihre Mutter stand mit gerötetem und geschwollenem Gesicht neben dem Bett, versuchte ihren Morgenmantel mit einer Hand zusammenzuhalten und mit der anderen das Haar aus der Stirn zu streichen. Papa lag auf dem Rücken. .. Schlief er? Nein, er schlief nicht. Seine Augen waren offen und starrten zur Decke. „Wir waren - er sprach mit mir, und dann verdrehte er plötzlich die Augen und... und starb!"
2. Großvater, die Jacke ausgezogen und die Krawatte gelockert, sagte: „Man sollte meinen, sie würden außer ,Todesursache unbestimmt' noch etwas anderes schreiben. Herzversagen vielleicht." Großmutter, die neben Anne auf der vorderen Sitzbank saß, sagte: „Wenn sie es nicht wissen, dann wissen sie es nicht, Maynard. Sieh mal, Anne, dort aßen wir die Frikadellen, als du und Billy im letzten Sommer zu uns kamt." Anne nickte. „Darauf hätte ich jetzt Appetit." „Aber du hast doch gerade..." Großvater stockte. „Iß, so oft du willst, Anne. Du brauchst es bloß zu sagen, und ich halte alle fünf Kilometer an." Als sie ihre dritte Frikadelle kaute, mit Tomatenketchup und Gewürzgurke und einem Teller Pommes frites, dachte Anne über ihre Mutter nach. In den zwei Tagen seit Papas Tod schien sie sich immer weiter von ihr entfernt zu haben. Anne hatte versucht, ihr von der Frau zu erzählen, aber Mama hatte nichts davon hören wollen. „Er war ein aufregender Mann, Anne. Er lebte, als ob jeder Tag sein letzter wäre - und so kam es schließlich auch." Anne fragte sich, ob sie ihre Mutter jemals wiedersehen würde, oder Billy, der am nächsten Tag ins Ferienlager fuhr. Sie erinnerte sich an die komische, beinahe poetische Art und Weise, wie Mama sich verabschiedet hatte: „Ich muß eine Weile allein sein, den Wind im Gesicht fühlen und lernen, ohne den Schutz eines starken Mannes zu leben." Anne hatte ihre trockenen Lippen mit dem Gefühl geküßt, daß sie das zum letztenmal tue. Die Farm war zweiunddreißig Hektar groß und eineinhalb Kilometer von der Autobahn entfernt. Nach längerer Fahrt auf einer Schotterstraße hielt Großvater vor dem Haus, einem gedrungenen, nicht sehr großen Bau aus Bruchsteinmauerwerk. „Hab' ich alles damit gebaut", sagte er und hob die Hände vom Lenkrad. Jede war so groß, daß Anne ihr ganzes Gesicht darin verstecken konnte. Nach Minuten hatte Großmutter ihre Schürze um und füllte das Haus mit Gerüchen von gebratenem Huhn, Salat, Kartoffelmus, Bohnen, Apfelkuchen und Kaffee. Großmutter war klein und rundlich, und ihr ehemals kastanienbraunes Haar war zur Farbe von Bienenwachs verblichen. Ihre Augen weiteten sich in gespieltem
Erstaunen, als Anne ihren Teller zum drittenmal füllte. „Ich kann nicht glauben, daß du das Mädchen bist, das letzten Sommer bei uns war. Du hast so wenig gegessen, daß ich Angst hatte, der Wind würde dich fortblasen." Am Abend gab es frisch geschlagene Butter, selbstgebackenes Brot, kaltes Fleisch und Hüttenkäse. Großvater hob seine buschigen Brauen, als die letzte Schnitte Fleisch auf Annes Teller landete. „Mach nur so weiter, und bald kannst du meine Schuhe anziehen." Anne lachte, weil seine Füße so groß waren, daß er aufgeschnittene Tennisschuhe tragen mußte. Aber Anne grübelte nach. Wuchs sie wirklich? Das Essen füllte ihren Magen nur für kurze Zeit; schon nach einer Stunde war sie wieder hungrig. Bei den drei nächsten Mahlzeiten aß sie, bis nichts mehr auf dem Tisch war, und die zwei Hunde und fünf Katzen waren gezwungen, den Haferbrei zu fressen, den Großmutter für sie machte. Trotzdem zwang ein wütender Hunger Anne um zehn Uhr abends aus dem Bett und in die Küche, wo sie den Kühlschrank leerte. Um Mitternacht weckte sie ein Traum von brutzelnden Steaks und langen Reihen von Schokoladentorten mit Walnüssen auf der Glasur. Der Kühlschrank war leer, also ging sie barfuß und im kurzen Nachthemd vor die Tür. Der Wetterhahn auf der Scheune reflektierte das Mondlicht und verwandelte sich in einen märchenhaften Silbervogel. Anne blieb einen Moment stehen, gebannt von dem Gefühl, daß die Scheune, die Ahornbäume und der Rhododendron neben dem Kellereingang allesamt Aspekte eines fremden Ortes wären, so fremdartig und entfernt wie die Jupitermonde. Ein Magenknurren erinnerte sie an ihr Ziel. Sie öffnete die Kellertür und tappte in die warme Dunkelheit hinunter. Ihre Nase nahm den Duft von Äpfeln auf. Sie fand die große Lattenkiste, nahm einen Apfel heraus und biß hinein. Das Kaugeräusch schien unnatürlich laut. Fünf Äpfel nahmen ihrem Hunger die Schärfe, und sie ging hinüber zu den Einmachgläsern, die die Regale füllten. Sie ergriff eines, riß den Gummiring heraus und nahm den Deckel ab. Sie fingerte ein rundes Ding heraus und stopfte es sich in den Mund. Eingemachte Pflaumen. Sie aß das ganze Glas leer und trank den Saft, der von ihrem Kinn auf das Nachthemd rann. Sie griff nach dem nächsten Einmachglas, als Großvaters Stimme dröhnte: „Hände hoch und langsam 'rauskommen!" Das Einweckglas zersplitterte am Boden, der Saft bespritzte ihre
Beine. Anne stieg über die Scherben und ging hinaus. Oben stand Großvater mit einer Schrotflinte. „Allmächtiger Gott", hauchte er, dann schwang er den Lauf der Flinte zur Seite. „Was hast du da unten gemacht, Anne?" „Ich hatte Hunger, Großvater." „Heiliger Jesus", sagte er. Auch Großmutter war inzwischen aufgestanden. Sie füllte die Badewanne, so daß Anne den Saft abwaschen konnte, dann lieh sie ihr ein Flanellnachthemd und steckte sie ins Bett. Anne konnte noch lange das gemurmelte Gespräch durch die Wand hören, dann machte sich das Grollen ihres Magens störend bemerkbar. Sie mußte einen Weg finden, an das Essen heranzukommen, ohne daß jemand es merkte. Sie beschloß die fünfzig Dollar zu nehmen, die Mama ihr gegeben hatte, und per Anhalter in die Stadt zu fahren. Mit dem Geld könnte sie sich eine Kiste mit Lebensmitteln kaufen und sie irgendwo hinter dem Weideland verstecken... Am nächsten Morgen, als sie ihren sechsten Pfannkuchen mit Butter und Ahornsirup aß, hörte sie Großmutter am Telefon sagen: „... Bandwürmer? Ich wollte nur wissen, ob sie in letzter Zeit beim Arzt war." Stille, dann: „Also, dann gehen wir heute mit ihr hin und lassen sie untersuchen. Nicht nötig, daß du kommst, es macht uns Freude, wenn wir jemanden haben, um den wir uns kümmern können. Wie gefällt es Billy im Ferienlager? Das ist gut..." Die Untersuchung beim Arzt war sehr peinlich. Nach schwitzenden Anstrengungen in der Toilette gelang es Anne, die gewünschten Stuhl- und Urinproben hervorzubringen. Der Arzt war jung, mit einem dicken Schnurrbart und langen Koteletten. Er drückte und befühlte ihren Magen und horchte ihre flache Brust mit einem Stethoskop ab. Seine Berührung erregte sie; er war der erste Mann außerhalb ihrer Familie, der ihre Haut berührte, wo sie normalerweise von Kleidung bedeckt war. Nachdem sie sich angekleidet hatte, sagte er zu den Großeltern: „Elf, sagten Sie? Sie scheint früh zu reifen, aber das ist nichts Besorgniserregendes, es sei denn, die Proben ergeben etwas, das ich nicht erwartet habe. Soweit ich es jetzt sagen kann, haben Sie hier eine sehr gesunde Enkelin, und der übermäßige Appetit ist nur ein Teil des beschleunigten Wachstumsprozesses in dieser Zeit." Seine Worte beendeten die Sorge, und Großvater erlaubte ihr
sogar, in der Stadt zu bleiben und später mit einem Taxi nach Hause zu fahren. Sie war schließlich frühreif... Sie ließ das Taxi an der Einmündung des Feldwegs halten, der die rückwärtige Weide begrenzte. Sie stieg aus, schulterte die kleine Kiste mit Lebensmitteln, wanderte den Hügel hinauf und auf der anderen Seite hinab in ein waldiges Tal mit HickoryNußbäumen und Eichen. Am oberen Ende des kleinen Tals lag Großvaters Teich, gespeist von einer klaren Quelle. An diesem heißen Augustnachmittag standen zwei Milchkühe bis zu den Eutern im Wasser, schlugen mit den Schwänzen nach zudringlichen Bremsen und widerkäuten. Anne überlegte. Wo konnte sie die Sachen verstecken, so daß sie nicht zertrampelt und herumgestreut wurden. Unterhalb des Teiches war ein vom Bach durchflossener kleiner Sumpf. Dort stand das sonnenwarme Wasser zehn Zentimeter hoch. Schilfgras und Binsen wuchsen höher als ihr Kopf, und sie versank fast bis zu den Knien im Morast. Auf der Seite, wo der Hang begann, fand Anne einen Haufen halbfertiger Granitblöcke, wo Großvater für den Hausbau Steine gebrochen hatte; auf einem großen Felsblock in der Nähe baute sie aus Steinbrocken und Platten einen Wetterschutz, in dem sie ihre Vorräte verstauen konnte. Das Kleid, durchnäßt vom Schweiß, klebte ihr am Körper. Die Sonne brannte herab, und Stechmücken und Bremsen peinigten sie. Sie kehrte zum Teich zurück, zog ihr Kleid aus und watete hinein. An der Oberfläche war das Wasser warm, doch in der Nähe des sandigen und etwas schlammigen Grunds wurde es kühler. Sie schwamm einige Minuten lang, stieg heraus, legte sich auf ihr Kleid und ließ sich von der Sonne trocknen. Frühreif hatte der Doktor gesagt. War das wahr? Sie stützte sich auf die Ellenbogen und blickte an sich herab; die Knospen ihrer Brüste hatten die Größe von Eicheln und schienen in der Farbe von blassem Beige zu mattem Rosa zu wechseln. Sie erinnerte sich, daß Thelma, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, einen Sommer ins Ferienlager gefahren und mit Brüsten von der Größe von Teetassen zurückgekehrt war. Aber Thelma war dreizehn gewesen, als das passiert war; Anne war gerade elf. Als sie am nächsten Nachmittag baden ging, bemerkte sie, daß zwei schwach ausgeprägte Hügel auf ihrer mageren Brust entstanden waren, jeder eine halbe Handspanne breit. Am Tag darauf waren sie so groß, daß sie einen Schatten warfen. Ging es so schnell? Anne wußte es nicht und hatte auch niemanden, den sie
zu fragen wagte. Am Ende der Woche paßte sie kaum noch in ihre Kleider. Alles Geld hatte sie für Lebensmittel ausgegeben. Sie borgte sich eins von Großvaters Baumwollhemden und fand Gefallen an dem Geruch nach Pfeife und Sonne, der dem Gewebe anhaftete, doch war sie sich auch bewußt, daß er sie mißtrauisch beobachtete. Inzwischen konnte sie ihre Brüste kaum noch mit den Händen bedecken. Ihre Jeans waren um die Hüften unmöglich eng, selbst, wenn sie den Reißverschluß offen ließ. Sie bat ihre Großmutter, sie das Nähen zu lehren. Am Abend saß Anne mit der Nähmaschine am Küchentisch und versuchte ein Kleid zu machen, das ihrem blühenden Körper passen würde. Sie konnte Bruchstücke des Gesprächs im Wohnzimmer hören, während ihr Großvater am Fernseher drehte. „... eine Wendung zum Besseren, findest du nicht? Eine junge Frau, die sich für Nähen und Kochen interessiert." „Anne ist keine junge Frau", sagte Annes Großmutter. „Sie ist ein elfjähriges Kind." „... reifen heutzutage früher. In meiner Zeit hast du bei Schulmädchen nie so einen Balkon gesehen." „Maynard! Dein eigenes Fleisch und Blut...!" „Wenn einer fünfundsechzig wird, dann heißt das nicht unbedingt, daß er blind wird..." „... trotzdem, ich frage mich, ob was mit ihren Drüsen nicht in Ordnung ist. Ich glaube, wir sollten lieber..." Musik klang auf und löschte die Stimmen aus. Sie mußte etwas gegen eine Entdeckung tun; warum, das wußte sie selbst nicht genau. Sie begann aber zu begreifen, daß ihr plötzliches Wachstum sie daran hindern mochte, ihr altes Leben weiterzuführen, und der Gedanke beunruhigte sie sehr. Sie ging ins Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Das schnelle, unheimliche Wachstum hatte sich nicht auf ihren Körper beschränkt. Ihr Haar war mindestens zwanzig Zentimeter länger als noch vor einer Woche; nun hing es in seidigen Wellen halb über ihren Rücken herab. Es sah schwarz wie Samt aus, aber wenn sie es ins Licht hob, schimmerten rötliche Lichter darin. Ihre Augen schienen ernst und reif unter einer breiten, intelligenten Stirn - es waren nicht mehr die idiotischen Kuhaugen, die sie gehabt hatte. Und diese dumme Nase - man konnte sehen, daß es dieselbe war, aber es war, als hätte ein magischer Chirurg die
Wangenknochen erhöht, das Kinn geglättet und den Unterkiefer umgebaut. Das Gesicht war ein sanftes Oval, die Nase nur noch markant, und die neue Fülle ihrer Lippen bedeckte die großen Vorderzähne. Ich werde eine schöne Frau, dachte sie, und das ließ die Zukunft weniger beängstigend erscheinen. Als sie am nächsten Tag zum Teich baden ging, war ihr schon viel besser. Die weiche Brise streichelte ihren Körper, als sie ins Wasser watete; prickelnde kleine Luftblasen stiegen auf, als das Wasser in das dichte, schwarzglänzende Geflecht ihrer Schamhaare sickerte. Sie beugte sich vor und fühlte die Schwere ihrer Brüste, die sich im Wasser in Auftrieb verwandelte. Ein Frosch sprang vor ihr auf die Uferböschung und schlüpfte durch das hohe Gras davon. Sie stieg aus dem Wasser und eilte ihm nach, die Hände, mit denen sie das lange Gras auseinanderbog, vorgestreckt. Auf einmal machte sie halt und stand wie erstarrt. In einer kleinen Laube aus Schilfgras, das zusammengebogen und an den Enden ineinandergewoben war, wie die Entenjäger es zu tun pflegen, saß eine Gestalt. Ein Mann... oder war es etwas anderes? Sein Haar stand ihm auf dem Kopf, wie der Kamm eines Kakadus, und ein drahtiger Bart wuchs beinahe bis zu seinen Augen. Er sah ein wenig wie ein Satyr aus, der nackte Frauen belauerte und durch die Wälder jagte. Sie betrachtete seine Füße, aber einen hatte er untergeschlagen oder im morastigen Boden vergraben, oder... Sie erschrak ein wenig, als sie die Wahrheit erkannte. Er hatte nur ein Bein. Und sein linker Arm endete in einer Stahlklaue. Sie sah das Messer in seiner anderen Hand und öffnete den Mund zu einem Schrei. Dennoch konnte sie nicht glauben, daß er gekommen war, ihr aufzulauern, obwohl sie in den Zeitungen von solchen Sachen und Überfällen gelesen hatte. Nein. Er ließ das Messer fallen und hielt die Hand hoch. Er wollte, daß sie... Was? Seine Hand nahm? Sein Blick hatte etwas Brennendes. Er öffnete den Mund, sagte jedoch nichts. Als er den Kopf hob, sah sie, daß unter seinem Kinn kein Bart war, nur eine tiefe Spalte und das wulstige Rosa von Narbengewebe. Er war einmal furchtbar verletzt worden - aber nicht in letzter Zeit. Sie sah die Erinnerung an den Schmerz in seinen Augen, und die Furcht vor neuen Schmerzen. Stumm streckte sie die Hand aus und berührte seine Finger. Vielleicht war es das Wissen, daß dies ein fremder Mann und sie nackt war, denn ein
knisterndes, prickelndes Gefühl von Elektrizität sprang auf ihre Finger über. Sie fühlte ihre Beine weich werden. Das Gefühl ängstigte sie. Sie wandte sich um und rannte davon, griff nach ihren Kleidern und floh bachabwärts. Als sie die Viehweide erreicht hatte, machte sie keuchend halt und zog Hemd und Blue jeans an. Nun ging ihr auf, daß er sie auf einem Bein nicht hätte verfolgen können und wahrscheinlich ganz harmlos war. Sie dachte an ihn, als sie abends im Bett lag, und sie sah den Schmerz in seinen Augen und erinnerte sich an den Schock seiner Berührung. Seine Grashütte war leer, als sie am nächsten Tag hinkam, aber unter dem steinernen Schutzdach, wo sie ihren Nahrungsvorrat verwahrte, fand sie zwei geschnitzte Holzfiguren. Die eine zeigte sie selbst, als ein Mädchen mit schmalen Hüften, dünnen Beinen und langer Nase. Die andere zeigte eine üppige Frauengestalt mit konischen Brüsten, gerundeten Hüften und Hinterbacken und mit nach unten sanft sich verjüngenden Schenkeln. Das Gesicht hatte ihre Züge. Ein Frösteln überlief sie. Er wußte also, daß sie sich so schnell verändert hatte. Vielleicht war er ein Zauberer, der diese Puppen gemacht hatte, um sie in seinen Bann zu schlagen. Aber sie glaubte es nicht. Die beiden Figuren waren Liebesgeschenke. Sicherlich saß er morgen wieder in seinem Versteck, und sie würde erfahren, was ihn so schrecklich verwundet hatte und warum die Berührung seiner Hand trotz seines abstoßenden Äußeren einen elektrischen Schlag durch ihren Körper geschickt hatte. Als sie nach Haus kam, warteten Großmutter und Großvater mit ernsten Gesichtern in der Küche. Großvater räusperte sich. „Morgen früh kommt deine Mutter. Wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß du nicht normal bist, und deshalb..." Großmutter warf ihm einen mißbilligenden Blick zu. Dann sagte sie zu Anne: „Er meint, daß es bei deiner Entwicklung nicht mit rechten Dingen zugeht. Wir glauben, daß du dich von einem Spezialisten untersuchen lassen solltest. Später kannst du gern wieder zu uns kommen und hier leben..." Anne hatte ein einziges Kleid, das ihr paßte. Die Kleider, die ihr vor zehn Tagen noch bis zur Mitte des Oberschenkeis gereicht hatten, bedeckten jetzt kaum noch ihr Hinterteil, aber in diesem Sommer trug man sowieso kurz. Indem sie unter den Armen die Nähte aufschnitt, verschaffte sie sich Raum zum Atmen. Sie nahm
Großmutters braunen Wollschal, angeblich handgestrickt und aus Irland, tat ein paar Konserven und Kleidung zum Wechseln in ihren Pappkoffer - die zwei geschnitzten Figuren wickelte sie in den Schal ein -, und um ein Uhr zwanzig morgens verließ sie das Haus der Großeltern. Sie nahm den Weg hinter der Scheune und überquerte dann die südliche Viehweide. Ein warmer, feuchter Wind wehte in ihr Gesicht; im Südwesten grollte ferner Donner, und immer wieder erhellten Blitze das nächtliche Land. Eine halbe Stunde später brach der Gewittersturm los. Ein Windstoß verhedderte ihr Kleid in Stacheldraht, sie verlor das Gleichgewicht und fiel. Der Stacheldraht zog eine blutige Furche über ihren linken Oberschenkel und riß ein riesiges Dreieck in den Stoff. Der Regen trommelte in schweren Tropfen herab. Sie rappelte sich auf, nahm den Koffer und ging durch Regen und Wind weiter; ihr Gesicht glühte vor Erregung, es kam ihr fast so vor, als müßte das Wasser auf ihrer Haut zischen. Schwarzweiße Kühe standen zusammengedrängt im Schutz einer Baumgruppe, die Köpfe unten, und ließen den Regen auf ihre Rücken hämmern. Die Nässe hatte den Boden schwammig gemacht; schon nach kurzer Zeit waren Annes Schuhe durchnäßt. Bereits zu eng, rissen die Nähte auf, und die Schuhe blieben im Schlamm stecken. Anne ging barfuß weiter. Der kleine Bach war über seine Ufer getreten, ein brodelnder Strom lehmigen Wassers. Sie watete hinein, fühlte den Zug der Strömung an ihren Beinen, dann an ihren Hüften; plötzlich riß der Wasserdruck sie von den Füßen. Sie wurde herumgedreht und tauchte im eiskalten Wasser unter, dann gewann sie wieder Boden unter den Füßen und kroch am anderen Ufer hinaus. Der Koffer schien unmöglich leicht. Sie sah, daß das Pappmaterial wie nasser Kuchenteig auseinandergerissen war und ihre Besitztümer dem Bach überlassen hatte. Sie warf den Handgriff fort und stapfte weiter. Der Wollschal hing wie ein triefendes Gewicht von ihren Schultern. Sie wrang ihn aus und entdeckte, daß die Frauenfigur verlorengegangen war. Sie wickelte die andere Schnitzarbeit sicher ein und band sie sich mit dem Schal um die Hüfte. Kurz darauf versperrte ihr ein zwei Meter hoher Maschendrahtzaun den Weg. Auf der anderen Seite sah sie den breiten Asphaltstreifen der Fernstraße hinter den Regenschleiern. Sie steckte Zehen und Finger durch die Maschen und erkletterte den Zaun, dann stützte sie sich mit der Rechten auf den Pfosten neben sich und flankte
über den krönenden Stacheldraht auf die andere Seite hinüber. Sie prallte hart auf die steile, schlammige Böschung, rollte durch aufgeweichte Erde und kam endlich im kalten Wasser des Straßengrabens zur Ruhe. Schmutzig, durchnäßt, blutend und halbnackt kletterte sie heraus und stellte sich an den Straßenrand. Dort stand sie lange Zeit und trat von einem Fuß auf den anderen, bevor ein Lastwagen von Süden kam. Sie begann die Arme zu schwenken und glaubte ein blasses Gesicht hinter dem hohen Fenster zu sehen, als der Fernlaster vorbeidonnerte. Im nächsten Moment hörte sie das Zischen und Quietschen von Luftdruckbremsen, sah die Bremslichter hell durch den prasselnden Regen glühen und rannte hinterher. Als sie herankam, wurde eine Tür geöffnet, und jemand leuchtete sie mit einer Taschenlampe an. Geblendet schlug sie den Blick nieder und sah sich in der regenfeuchten Tür des Fahrerhauses gespiegelt: das Kleid naß und fast durchsichtig, halb über die breiten Hüften hinaufgerutscht, das Haar naß an Hals und Schultern klebend, lehmige Streifen auf Brüsten und Armen. Eine Männerstimme bellte: „Steig ein, verdammt noch mal! Die andere Seite! Was zum Teufel ist mit dir los?" Sie rannte barfuß um die Vorderseite des Lastzugs und kletterte durch die offene Tür. „Hast du einen Unfall gehabt oder was?" Ihre Zähne klapperten aufeinander, als sie in der Wärme des Fahrerhauses plötzlich zu zittern begann. „N-nein, es war kein Unfall." „Hat dich jemand aus einem Wagen geschmissen?" „N-nein. Ich b-bin weggelaufen." Er schaltete die Innenbeleuchtung an und betrachtete sie eine Weile. „Viel länger hättest du nicht warten dürfen." Er schaltete das Licht aus und einen anderen Schalter ein. Ein Ventilator surrte. Der Lastzug vibrierte und ruckte an, rollte vorwärts. „Gleich wird es warm. Kannst dich hinten in die Koje legen, da ist eine Decke. Und zieh die nassen Klamotten aus, wenn du willst." Er schien zufrieden mit sich selbst und begann zu summen, als sie hinaufkletterte, sich in der engen Koje auszog und die prickelnde Wolldeckte um ihre Schultern drapierte. Dann schwang sie die Beine aus der Koje und ließ sie über die Sitzlehne hängen. Sie betrachtete seine Hände am Lenkrad, die breiten Handgelenke, die muskulösen Unterarme, den kräftigen Nacken. Sie sah
seine blassen Augen im Rückspiegel auf sich gerichtet und lächelte.
3. Anne fragte sich, ob es Liebe sei, was sie für Hubert empfand. Als das Morgengrauen die Landschaft mit zarten, dunstigen Farben tönte, lag sie in der Koje zwischen dem warmen Bettzeug und beobachtete ihn, wie er gleich dem Kapitän eines Ozeandampfers in seinem Fahrerhaus saß und mit sicheren Bewegungen seiner breiten Hände die Hebel, Schalter und Knöpfte bediente. Sie erinnerte sich, wie sie seine Hände an ihrem Körper gefühlt hatte, an sein Gewicht und an seinen Geruch. Tatsächlich war es nicht so einfach gewesen, wie sie es sich immer vorgestellt hatte, aber der Schmerz hatte nicht lange gedauert und war überhaupt nicht der Rede wert, verglichen mit dem köstlichen Gefühl in ihr. Nun ruhte es wie ein Kern von heißer Energie in ihrem Magen, wie ein flammendes Feuerrad, das in ihr kreiste und sich in der Gier nach mehr verzehrte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Er runzelte die Stirn, als er die Berührung spürte, dann schien er sich zu einem Lächeln zu zwingen. „Wir kommen jetzt nach Iowa. Werden anhalten und frühstücken. Hast du Hunger? Ich bin schwach wie eine junge Katze." Er lenkte den Lastzug auf einen weiten, mit Kies bestreuten Parkplatz voller Schlaglöcher und Pfützen. „Warte hier, ich besorge dir was zum Anziehen." Er ging ins Restaurant der Gaststätte, und als er wieder zum Vorschein kam, brachte er eine grüne Uniform mit weißem Spitzenbesatz. Sie zog das Ding über ihren nackten Körper, und er grinste sie an, schob seine Hand unter den Rock. Sie ließ ihn gewähren, mochte das Gefühl. Aber als sie ihn an sich ziehen wollte, wehrte er ab. „Nein, nein. Laß uns jetzt essen." Sie verzehrte vier Spiegeleier mit Speck, Toast mit Butter, Orangensaft und heiße Schokolade. Er war bestürzt, dann voll Mitleid, weil er glaubte, sie habe seit Tagen nichts gegessen. Während er Kaffee trank und eine Zigarette rauchte, betrachtete sie die Männer, die hereinkamen. Sie hatte Verlangen nach ihnen, und wenn sie in ihre Augen blickte, sah sie dort das gleiche Verlangen nach ihr. Sie blickte zu Hubert. Die Zigarette war ihm aus
den Fingern gefallen, und sein Kinn ruhte auf seiner Brust. Die Bedienung kam und sagte: „Hubert, warum legst du dich nicht eine Stunde hin, du wirst noch von der Straße abkommen, wenn du so weiterfährst." Er schüttelte den Kopf. „Irgendwas ist mit mir los, vielleicht kriege ich die Grippe", murmelte er. „Wenn ich sage, daß ich mich beschissen fühle, ist das nicht übertrieben. Vielleicht..." Er stand mit einer Willensanstrengung auf und zahlte die Rechnung. „Nein, ich muß bis Mittag in Grand Island sein." Anne saß neben ihm und war sich seiner schwitzenden Anstrengung, auf der Straße zu bleiben, bewußt. Seine Hände krampften sich immer wieder um das Lenkrad, um dann allmählich zu erschlaffen. Er begann zu zittern. Er drehte die Heizung ganz auf, so daß sie in Schweiß ausbrach, aber er zitterte noch immer. „Ich glaub'..." sagte er. „Ich glaub', ich muß anhalten, wenn wir über den Fluß kommen. Rede du ein bißchen, ja? Halt mich wach. Erzähl mir vor dir. Wie heißt du, wo bist du aufgewachsen, wer ist der Kerl, der dich auf die Straße gesetzt hat? Du mußt mir helfen!" Sie sprach über die Schule, über ihre Lehrer, Freundinnen, Haustiere. Das alles kam ihr wie das Leben eines anderen Mädchens vor. Sie überwanden eine Steigung, erreichten den Scheitelpunkt, und die Straße schien vor der Windschutzscheibe jäh abzufallen. Anne sah sie in langen Windungen wie eine graue Skipiste über die Hänge talwärts ziehen und dann schnurgerade auf den Fluß zuführen. Hubert kämpfte mit dem Schalthebel; sie sah die weiße Linie um seinen Mund, den ängstlichen Ausdruck in seinen Augen. „Kann nicht... runterschalteten. Komm 'rüber - hierher. Hilf mir..." Sie rutschte hinüber, bemerkte, daß die Skala, die er Tachometer nannte, auf siebzig stand, fünf Striche höher als bei seinem gewöhnlichen Tempo. Sie sah die Reihe von Wagen, die ihnen von unten entgegenkamen, kleinen farbigen Käfern gleich, die immer wieder außer Sicht gerieten, um anderswo wieder zu erscheinen. Sie fühlte ein hohles Tönen in ihren Ohren. Es war wie in der ersten Reihe eines Kinos. Irgendwo unter dem Wagen begann es zu knirschen und zu knarren. „Stoß meine Hand! Fest!" Sie legte ihre Hand über die seine und erschrak über ihre kalte, klamme Schwäche. Und doch sah sie den hervortretenden Sehnen und Adern seines Halses an, daß er seine ganze Kraft aufbot. Es rasselte und ratterte. Der Lastzug wurde schneller und schnel-
ler, wie ein Schlitten, der auf eine eisige Stelle gekommen ist. Fünfundsiebzig. „Kupplung! Drück auf mein linkes Knie. Fester! Noch fester!" Sie drückte sein Knie nieder, aber es gab keine Möglichkeit, ihre Kraft anzusetzen; das Lenkrad und Hubert selbst behinderten sie. „Tritt auf die Bremse!" keuchte er. „Das rechte Pedal, wo mein Fuß ist." Sie fand es mit ihrem linken Fuß; sie lernte schnell. Hubert war wie ein Sack Fleisch, eingeklemmt zwischen Lenkrad und Rückenlehne. Sie trat auf das Pedal, fühlte den Widerstand. Irgend etwas kreischte draußen. Der Wagen schaukelte von Seite zu Seite, schlingerte, und dann gab es ein zerreißendes, metallisches Krachen. Risse erschienen in der Windschutzscheibe. Sie sah einen Lieferwagen direkt auf sich zukommen; der Mann hinter dem Lenkrad starrte mit offenem Mund zu ihnen auf. Dann versuchte er nach rechts auszuweichen, es gab ein weiteres rauhes Kreischen von Metall, einen rumpelnden Stoß, der das Fahrerhaus erschütterte. Hubert kämpfte mit dem Lenkrad. „Ich kann's nicht halten. Der Anhänger schiebt so, daß wir uns querstellen. Nimm den Fuß von der Bremse. Hier - halt das Lenkrad. Hilf mir Kurs halten." Sie ergriff das Lenkrad und hielt es fest. Hubert sank heiser atmend in den Sitz zurück. Der Tachometer war bei achtzig Meilen stehengeblieben; nun kletterte er wieder. Fünfundachtzig. Neunzig. Felsklippen rasten vorbei. Der Lastzug holte einen kleinen roten Sportwagen ein, sie waren nahe genug, daß Anne sehen konnte, wie der Fahrer sich eine Zigarette anzündete. Sie überlegte, was geschehen würde, wenn sie ihn einholten. Wahrscheinlich würden sie zusammen über den Straßenrand fliegen und wie eine Lawine den Hang hinunterkrachen. Aber dann rappelte Hubert sich auf und begann die Fanfare zu bedienen. Statt die Geschwindigkeit zu erhöhen, ging der rote Wagen rechts an den Straßenrand, und Hubert zog das Lenkrad herum und schwang den schweren Lastzug auf die linke Seite. Sie waren fast an dem roten Wagen vorbei, als ein anderer entgegenkam. Hubert zog den Lastzug wieder nach rechts, es gab ein Rumpeln und Knirschen, und der rote Sportwagen rutschte seitwärts, überschlug sich einmal und flog hoch in die Luft. Anne konnte nicht sehen, wie es endete, denn unten kam ein Pulk von Wagen in Sicht, drei auf einer Seite und zwei auf der anderen. Hubert ließ die Fanfare ertönen, aber es hatte keinen Zweck, alle waren von Felsen um-
geben und hatten keine Ausweichmöglichkeit. Hubert schloß die Augen und sagte: „Oh, lieber Gott, sei meiner Seele gnädig..." Anne hatte keine Ahnung, wie sie durchkamen. Der Tachometer zeigte siebzig Meilen, und irgendwo brannte Gummi. Sie hielt das Lenkrad mit beiden Händen, und Hubert hing zusammengesackt an der Tür, hatte die Augen verdreht und sabberte blutigen Speichel. Auf der Gefällstrecke hinter ihr sah es aus, als hätte ein Riese Kinderspielzeug durcheinandergeworfen, und von einem Tankzug, der sich überschlagen hatte und in einem Graben lag, brodelte eine fettig schwarze Rauchsäule auf. Anne konnte sich nicht erinnern, den Tankzug angefahren zu haben. Die Vorderräder warfen Streifen von rauchendem Gummi nach beiden Seiten, der Lastzug rumpelte und holperte, und das Lenkrad zuckte unter ihren Händen. Endlich zeigte der Tachometer nur noch vierzig. Ihre Handgelenke schmerzten unerträglich, und so ließ sie den Lkw anstatt der sanften Kurve der Fernstraße zu folgen, seinen eigenen Weg nehmen, direkt über eine mit Buschwerk bewachsene Böschung und hinaus in die Luft, ahh, es war wie Fliegen... Es war dunkel und ihr Kopf schmerzte. Sie öffnete die Augen und sah eine Wand aus grünen Maispflanzen durch die spinnwebartigen Sprünge in der Windschutzscheibe. Ein warmes Rinnsal tröpfelte über ihre Wange, und sie begriff, daß sie sich am Dach des Fahrerhauses den Kopf aufgeschlagen hatte. Hubert lag mit offenem Mund an der Tür. Sie legte ein Ohr an seine Brust und hörte keinen Herzschlag. Sie erinnerte sich an das, was sie in der Schule über erste Hilfe gelernt hatte, und ergriff sein Handgelenk. In seinem Körper schien nichts mehr zu geschehen. Er ist tot, dachte sie. Was immer ihn so plötzlich umgebracht hat, ich kann ihm nicht mehr helfen. Sie fühlte Trauer, aber dann wurde ihr klar, daß es auf der Strecke hinter ihr mehrere andere Tote geben mußte, und daß bald jemand durch das Maisfeld kommen und sie hier mit ihm finden würde. Dann brachte man sie bestimmt zu ihrer Mutter zurück, und es gab Fragen, wieso sie so gewachsen war, und in so kurzer Zeit... Sie nahm eine Decke aus der Schlafkoje und versuchte die Tür zu öffnen. Sie klemmte. Anne griff unter den Sitz und fand ein Montiereisen, mit dem sie das Fenster einschlug. Nachdem sie die im Rahmen steckengebliebenen Splitter herausgeschlagen hatte, kroch sie aus dem Fahrerhaus und ging zwischen den Reihen der hohen Maisstauden hindurch, bis sie am Ufer eines breiten, leh-
migen Flusses ins Freie kam. Sie wandte sich nach rechts und wanderte flußaufwärts unter hohen Ahornbäumen und Birken, die das Ufer säumten. Als sie nicht mehr gehen konnte, legte sie sich in die dürren Blätter und schlief. Als sie erwachte, fühlte sie sich anders. Sie war durch Kindheit und Jugend gegangen; nun fühlte sie sich wie eine Frau. Sie setzte sich auf und sah kleine Spuren in der feuchten Erde ringsum. Die Tiere waren gekommen, hatten sie angesehen und berochen, und waren wieder fortgegangen. Schneewittchen und die sieben Zwerge. Sie entdeckte, daß die Insekten weniger zurückhaltend gewesen waren; sie hatten ihre Arme und Beine zerstochen, und an ihren Schenkeln und unter den Armen saßen Zecken und machten sich daran, ihre Haut zu durchbohren. Anne zog eine nach der anderen heraus, sorgfältig bedacht, keine zu übersehen, und die Berührung ihrer Finger weckte die Erinnerung an Hubert. Ihr Magen knurrte, und gleich wußte sie, was sie wollte: erstens essen. Zweitens, einen Mann. Hunger und Verlangen waren wie zwei Ringe in ihrer Nase; sie führten sie zu einer Stelle, wo ein stilles Altwasser den Fluß begleitete. Sie zog das Kleid aus und badete, dann kämmte sie ihr langes Haar mit den Fingern. Sie hatte keine Angst. Inmitten der Natur fühlte sie sich entspannt und sicher; die Welt würde sich ihrer annehmen. Sie zog die grüne Kellnerinnentracht über den Kopf, zerrte sie über die Hüften herab und fühlte den Stoff feucht auf ihrer Haut. Dann ging sie zur Fernstraße. Drei Wagen fuhren vorbei, und auch der vierte sah nicht vielversprechend aus. Er war weinrot lackiert, ein ausländisches Modell, und raste so schnell vorbei, daß sie keine Einzelheiten erkennen konnte. Dann trat der Fahrer plötzlich auf die Bremse, und mit kreischenden Reifen und schlingerdem Heck kam der Wagen sechzig oder siebzig Meter weiter zum Stillstand. Anne setzte sich in Bewegung. Ein Mann stieg aus: jung, mit dunklem Haar, einem langen Schnurrbart und Koteletten. Seine Augen musterte sie von oben bis unten, und er lächelte. Als sie sich auf den Beifahrersitz schwang, fühlte sie seine Augen noch immer auf sich. Der Mann hinter dem Lenkrad war blond, mit Bartstoppeln im dicken Gesicht. Er jagte den Wagen mit aufheulendem Motor auf die Fahrbahn zurück, ließ den Schalthebel los und fuhr ihr mit der Hand zwischen die Beine. Es fühlte sich gut an und sie lächelte
ihm zu. Er lachte und wandte den Kopf zu seinem Gefährten um. „Mann, Irvin, das ist ein Ding!" Als sie über die lange Brücke fuhren, tranken sie abwechselnd aus einer Flasche und sprachen über die Massenkarambolage vom Vortag: neun Tote, zwölf zerstörte Wagen, der Fahrer des außer Kontrolle geratenen Lastzuges Opfer eines Herzanfalls. Anne war doch froh zu hören, daß all das Gebrüll und Geschrei über Nacht geendet hatte, daß die Toten fortgetragen und die Verwundeten behandelt worden waren. „Na, was ist?" Der dunkelhaarige Mann sprach zu ihr, und seine Hand drückte ihr Knie. Sie hatte die Frage nicht gehört. „Was?" „Willst du zu mir auf den Rücksitz?" „Ja", sagte sie und lächelte. Die zwei Männer tauschten Blicke aus und lachten. Der dunkelhaarige Mann war nicht so breit und groß wie Hubert, eher mager und nervös. Aber das spielte keine Rolle. Sie war sich nur undeutlich bewußt, daß sie durch eine Stadt fuhren, doch das war auch nicht wichtig; sie fühlte, wie ihr Körper der Kontrolle ihres Willens entglitt, fühlte, wie ihre Finger sich in seinen Rücken gruben, fühlte sein Fleisch zwischen den Zähnen. Plötzlich gab es eine Explosion gegen ihre Kinnlade, und er richtete sich auf, hielt seinen Hals und blickte auf den blutigen Fleck in seiner Handfläche. „Menschenskind, Mädchen!" Er blickte ihr ins Gesicht, und seine Verärgerung schien zu schwinden. „Entschuldige, ich wollte nicht... Aber du hast mich gebissen. Verstehst du?" Sie lächelte, denn er hatte seine köstlichen Bewegungen wieder aufgenommen. Sie versank in eine Art wohliger Trance, und als sie wieder aufblickte, sah sie den Mann mit dem blonden Stoppelbarg. Er brachte mehr Brutalität und größere Spannung. Als er fort war, lag sie halb schlafend, zufrieden wie eine Eidechse, in der Sonne, fühlte die sanften Bewegungen des Wagens und beobachtete die wechselnden Lichtreflexe an der Decke. Sie hörte die Männer miteinander flüstern, dann hielt der Wagen. Der Dunkelhaarige beugte sich über die Rückenlehne seines Sitzes und sagte: „Hör zu, wir besorgen uns noch eine Flasche. Du kannst hier warten, wir kommen zurück und holen dich dann ab." Er sah nicht sehr glücklich aus. Tatsächlich begannen beide ein wenig wie Hubert auszusehen, blaß und erschöpft, und wenn sie redeten, schien es, als müßten sie die Worte gewaltsam über die Lippen bringen.
Sie rutschte zur Tür und wollte hinaus, und der Fahrer sagte: „Zieh zuerst dein Kleid an, verdammt!" Sie zog sich an und stieg aus. Die beiden fuhren mit quietschenden Reifen davon und blickten nicht zurück. Sie stand am Straßenrand und wartete, bis die Sonne den Zenit überschritten hatte. Der Hunger trieb sie endlich weiter, und sie wanderte am Rand der Fernstraße entlang, bis sie zu einer Raststätte kam. Mehrere Fernlaster standen auf dem großen Parkplatz, und der Geruch der schweren Dieselmaschinen regte ihre sexuelle Phantasie an. Aber der Duft von Gebratenem lockte sie noch mehr. Sie ging um das Gebäude und sah die Küchentür offen stehen. Ein Mann in der Küche kehrte ihr den Rücken zu und kratzte Töpfe aus. Er hatte die Ärmel aufgekrempelt und die schwarzbehaarten Unterarme arbeiteten kraftvoll und geschickt mit den Töpfen. Sie stellte sich vor, wie diese derbknochigen Hände sich an ihrem Körper anfühlen würden, und eine Wärme durchdrang ihren Magen. Aber zuerst mußte sie essen... Als er hinausging, nahm sie einen Schöpflöffel und tauchte ihn in einen Topf mit einem Schmorgericht, der auf der Seite der großen Herdplatte stand. Sie hatte die mit Soße und Fleischstückchen gefüllte Kelle beinahe am Mund, als sie ihn am Eingang stehen sah, die Daumen hinter die Schürze gehakt. „Im allgemeinen essen unsere Kunden vorn, Mädchen." Er war groß und mager, mit riesigen Ohren und einer Nase, die an einen Papageienschnabel erinnerte. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten einen Ausdruck von sehnsüchtiger Traurigkeit, den sie nicht ergründen konnte. Vielleicht war es die Traurigkeit eines Mannes, der etwas wollte, das er niemals haben konnte. Anne hatte keine Angst vor ihm. Sie hielt den Löffel an ihren Mund und trank. „Kann ich mehr haben?" Er schüttelte seinen Kopf. „Nicht aus dem Topf. Ich gebe dir einen Teller. Kostet fünfunddreißig Cents. Okay?" Sie nickte, aber ihr Blick ruhte auf seinen großen, haarigen Händen, als er einen Teller nahm und aus dem Topf füllte. Er stellte den Teller auf einen kleinen Tisch neben dem Herd. „Pommes frites?" „Ja, bitte." Sie zog einen Hocker heran und begann zu essen. Er ging hinaus und kam nach ein paar Minuten zurück. „Ich habe mich umgesehen. Du hast keinen Koffer. Und du hast keine Taschen im
Kleid. Ich wette, du hast weder Geld noch Papiere, wie?" „Nein." Sie hielt ihm den leeren Teller hin. Er warf ihr einen verdrießlichen Blick zu, füllte jedoch nach. „Das macht siebzig Cents. Die Polizei hinter dir her?" „Nein." Er wischte sich mit nervöser Geste die Hände ab. „Okay, iß, soviel du willst, dann kannst du dafür bezahlen, indem du mir in der Küche hilfst. Oder bedeutet die Uniform, daß du Erfahrung als Bedienung hast?" „Nein. Das hab' ich nie gemacht." „Okay." Er rieb sich noch einmal die Hände ab und kehrte an seine Arbeit zurück. Sie aß den Teller leer, schob ihn zurück und stieß auf. Ihre Augen brannten, als der Dunst frisch geschnittener Zwiebeln in ihre Nase kam. Die große Hand erschien vor ihr, und sie starrte auf ein großes Stück Brombeerkuchen. „Wenn du fertig bist, kannst du dir die Schürze dort umbinden, und ich zeige dir, wie du die Töpfe schrubben mußt." Einige Minuten später stand sie am Spülbecken und versuchte angebrannte Bratkartoffeln aus einer Pfanne zu kratzen, als eine rauhe weibliche Stimme hinter ihr erklang. „Was zum Teufel ist das für eine? Wo kommst du her?" Anne drehte sich um und sah eine kleine blonde Frau, die ein hochgeschlossenes Kleid trug, wie es von Frauen bevorzugt wird, die faltige Hälse zu verbergen haben. In schlechtem Licht hätte man sie schön nennen können, denn ihre Züge waren angenehm und regelmäßig. Aber im kalten Licht der Neonröhren sah Anne die Runzeln um ihre Augen und den harten, angestrengten Blick eines Menschen, der nicht mehr gut sieht. „Ich bin mit zwei Männern per Anhalter gefahren. Sie sagten, sie würden zurückkommen und mich holen. Aber sie kamen nicht." „Du meinst, sie haben dich einfach abgesetzt? Wo?" „Ungefähr zwei Kilometer von hier." Anne zeigte durch die offene Tür in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Wer waren sie? Weißt du ihre Namen?" „Sie nannten einander Irvin und Bill. Ich wartete und wartete, und dann kriegte ich Hunger. Also kam ich her und..." „Und mein Alter gab dir zu essen, stimmt's?" Die Frau stemmte die Hände in die Hüften und musterte Anne eine Weile. „Na gut. Wenn du arbeiten willst, wir zahlen einen Dollar achtzig die Stun-
de plus Trinkgelder. Verpflegung ist frei. Aber ich will, daß du vorn bedienst, wo die Fernfahrer dich sehen können. Bist du schon achtzehn?" „Achtzehn... oh, ja." „Oh ja", imitierte die Frau ihren Tonfall, dann lachte sie. „Du könntest siebzehn sein, mit der Figur, aber ich bezweifele es. Wie auch immer, es spielt keine Rolle." Sie kam näher und legte den Arm um Annes Schultern. „Komm mit ins Haus, ich will dir ein vernünftiges Kleid geben. Und laß die Töpfe stehen, wir haben einen alten Kerl, der sie saubermacht, wenn er nüchtern ist." Das Haus war ein hölzerner Bungalow am Rande der kiesbestreuten Parkfläche. Ein neuangelegter Weg führte zwischen einem jungen Rasen und frischgepflanzten Bäumen zum Eingang. Die Frau brachte sie ins Bad und sagte, sie könne ein Bad nehmen, wenn sie wolle. Die Bemerkung war mehr als eine Empfehlung. „Während du badest, lege ich dir was Passendes bereit. Ich bin Wilma, mein Alter heißt Ned, aber alle nennen ihn einfach Blackie. Und du bist..." „Anne." „Anne...?" Die Frau legte den Kopf schräg, als warte sie auf mehr, dann ging sie achselzuckend hinaus. Anne füllte die Badewanne, zog das Kleid aus und schlüpfte hinein. Sie genoß den Luxus von warmem Wasser und Schaum. Wilma hatte eine Badeseife mit Orangenduft. Der Motorenlärm der großen Lastzüge draußen auf der Abstellfläche lenkte ihre Gedanken auf Hubert... Als sie sich abtrocknete, kam Wilma mit einem lachsfarbenen, braun eingefaßten Kleid, das sich als sehr knapp erwies. „Zieh es wieder aus, und ich lasse ein paar Nähte heraus", sagte sie nach kritischer Begutachtung. Während sie ihre Nähmaschine in Gang setzte, saß Anne mit untergeschlagenen Beinen auf der Couch in dem kleinen Hinterzimmer. Wilma ließ sich durch die Arbeit ihrer Hände nicht am Reden hindern. „Wir haben das Lokal vor einem Jahr gekauft. Zwei Jahre vorher hatten Ned und ich einander bei einer Versammlung kennengelernt. Hast du mal von Alcoholics Anonymous gehört? Das ist eine Hilfsorganisation ehemaliger Alkoholiker. Ned mußte früher mal jeden Tag seine Flasche Schnaps haben, vierzehn Jahre lang. Ich war... nun, was ich war, tut nichts zur Sache. Jedenfalls fanden wir, daß wir nur die Wahl hatten, nüchtern zu bleiben oder zu sterben. Also arbeiten wir jetzt wie die Kulis und gönnen uns keine Zeit zum Nachdenken." Sie
zog den Saum unter der ratternden Nadel durch, nahm den Faden zwischen die Zähne und riß ihn ab. „Bist du weggelaufen, Anne?" „Ja." Wilma schenkte ihr ein wissendes, schiefes Lächeln. „Und deine Familie versteht dich nicht, wie? Sie machte dir Schwierigkeiten wegen der Jungen, wenn du zu spät nach Haus kamst oder wenn du deine Hausaufgaben nicht machtest, richtig? Weißt du, ich habe einen Blick für Menschen. Du redest nicht wie eine, die auf einer Farm hier in den Sandhügeln aufgewachsen ist, und du kommst auch nicht aus einer von den Bretterhütten hinter der Mühle. Du bist hübsche Sachen gewöhnt. Zum Beispiel im Badezimmer, da hast du dich mit Parfüm bespritzt, als ob es Wasser wäre. Ich habe mit Ned darüber gesprochen, und er hat es auch bemerkt. Du hast für drei gegessen, aber du hieltest den Löffel nicht wie eine Waffe. Was macht dein Vater?" „Er ist Architekt. Oh - er starb vor zwei Wochen." Anne hatte es fast vergessen, es schien so lange her. Plötzlich fühlte sie einen Klumpen in der Kehle, und Tränen stiegen ihr in die Augen. „Das tut mir leid, mein Kind." Wilma legte ihre Hände auf Annes Schultern und sah sie an. „Ich wollte nur, daß zwischen uns alles klar ist, weißt du. Du hast keine Bleibe, richtig? Nun, du kannst diesen Raum haben, den ich als Bügelzimmer verwende. Willst du bei uns bleiben?" „Ja." Wilma schloß sie in die Arme wie ein heimatloses Hündchen. In Annes Familie waren solche Gesten selten. Küsse waren höflich und zurückhaltend. Berührungen waren auf bestimmte Bereiche beschränkt und kamen nur unter bestimmten Bedingungen vor. Anne fühlte den Druck von Wilmas Körper, die Wärme ihrer Hände am Rücken, und sie spürte, daß die Zärtlichkeit der Frau keine Grenzen kannte. Sie legte die Arme um Wilma, und unversehens wurde aus der Wärme zwischen ihnen etwas anderes, ein Feuer, das nichts mit ihnen selbst zu tun hatte. Wilmas Lippen bewegten sich über ihre Wange, berührten die ihren, leicht zuerst, dann leidenschaftlich. Annes Hände drückten krampfhaft gegen Wilmas Rücken. Wilma nahm den Kopf zurück und sah ihr in die Augen. „Du bist doch nicht -?" Sie schüttelte den Kopf und erneuerte ihre Umarmung, aber diesmal war sie nicht mehr ganz bei der Sache. „Nein, du bist nicht, und du weißt nicht mal, was du nicht bist.
Also ist es wohl an mir..." Sie brach ab und trat steif zurück. „Ich werde dir etwas Unterzeug bringen, und dann kannst du die Uniform anziehen. Wir gehen zusammen ins Lokal, und ich zeige dir, was du zu tun hast." Anne lernte, wo das Geschirr verwahrt wurde, wie man Kaffee machte und die Registrierkasse bediente, wie man Teller mit Speisen trug, ohne mit dem Daumen hineinzulangen, wie man die Teller auf den Tisch stellte, ohne daß die Mahlzeit dem Gast in den Schoß rutschte. Nach einem halben Dutzend Proben meinten Wilma und Ned, sie könne den nächsten Gast selbständig bedienen. Anne sah ihn in einem grauen Lincoln vorfahren. Er schloß die Tür, steckte die Schlüssel in die Tasche und rückte an seinem Gürtel - ein großer junger Mann, der ganz aus geraden Linien zu bestehen schien, von den Bügelfalten bis zu der strengen Nase und der kargen Linie seines Mundes unter den kühlen grauen Augen. Er nahm einen Tisch am Fenster. Anne griff zur Speisekarte und kam hinter der Theke hervor. Sie war sich ihrer bebenden Brüste und schaukelnden Hüften bewußt. Ihr Körper war eine gut entwickelte Hülle, die ein elfjähriges Gehirn umgab. Er blickte in ihre Augen, als sie die Speisekarte vor ihn legte, und sie fühlte sein Wissen wie einen Stich im Inneren. Sie wollte ihn, und er wußte es. Ihr Atem beschleunigte sich. „Bringen Sie mir eine Tasse Kaffee." Sie verschüttete den Kaffee und fühlte die brühheiße Flüssigkeit auf dem Fuß wie ein glühendes Eisen, das ihren Schuh durchsengte. Wilma klopfte ihr auf die Schulter und nahm den Kaffee. „Du hast es schon richtig gemacht. Nun geh nach hinten und wasch dein Gesicht mit kaltem Wasser. Du bist rot wie eine Verkehrsampel." Anne legte die nassen Hände vor das Gesicht und fühlte das Feuer, das in ihr brannte und sie verzehrte. Sie mußte etwas haben. Ja. Den Mann. Irgendwie konnte er die Hitze absorbieren, aus ihr herausziehen. Wenn er es nicht tat, würde sie einfach zu Schlacke verbrennen. Sie blieb in der Küche, bis sie ruhiger geworden war. Als sie hinauskam, stand Wilma an der Registrierkasse und kontrollierte Bons. Zwei Fernfahrer tranken Kaffee an der Theke, während ihr Fahrzeug mit grollendem Motor draußen in der Nachmittagshitze wartete. Der schlanke junge Mann warf etwas Kleingeld auf den
Tisch und ging. Im Vorbeigehen sagte er etwas, aber Annes Verstand registrierte die Bedeutung der Worte nicht. Er stieg in seinen Wagen und fuhr hinaus auf die Fernstraße, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie sah den grauen Wagen in der Ferne kleiner werden, und erst als er außer Sicht war, fiel ihr ein, daß er gesagt hatte: „Wir sehen uns um Mitternacht." Er hatte leise gesprochen, und sie Lippen kaum bewegt, doch die Worte hatten sie erreicht. Wilma kam zu ihr. „Er fragte, wann du dienstfrei hast, und ich sagte ihm, du hättest bis zehn zu tun und wärst dann zu müde, um noch auszugehen." „Oh", sagte Anne. Sie war enttäuscht. Wilma bemerkte ihre Reaktion und zuckte die Achseln. „Tut mir leid, Kind. Ich will dein Leben nicht reglementieren. Aber dieser Kerl..." Sie schüttelte den Kopf. „Er kommt einmal die Woche. Er geht zu Spielautomaten in der Legion Hall und in anderen Lokalen. Er kassiert für irgendeine Firma im Osten. Manchmal hat er ein Mädchen bei sich, manchmal nicht. Aber immer trägt er eine Pistole in einem Schulterhalfter. Und wie er aussieht, glaube ich nicht, daß er Hemmungen haben würde, sie zu gebrauchen." Sie klopfte Anne freundlich auf die Schulter. „Ich will dir bloß Ärger ersparen. Er ist von anderem Kaliber als die zwei Burschen, die dich hier draußen abgesetzt haben." Der Abend kam und es gab zu tun. Um acht Uhr dachte sie nicht mehr an Sex; Männer waren Münder, die gefüttert werden mußten, waren Bestellungen, die aufzuschreiben waren, Teller und Tassen, die serviert werden mußten, Gelder, die man lächelnd annahm. Die Münzen in ihrer Tasche hörten auf zu klimpern und wurden ein schweres Gewicht, das gegen ihre Hüfte schlug. Um halb zehn war das Lokal leer, und sie saßen in der Küche und tranken Kaffee, als die Glocke über der Tür läutete. Anne sagte: „Ich geh raus", und stand auf. Zwei Streifenbeamte polterten mit polierten Stiefeln herein, rückten an ihren Pistolenhalftern und setzten sich auf die Hocker vor der Theke. Anne servierte Kaffee und Kuchen. Als sie es tat, fühlte sie es wieder: die schwitzende Angst aus dem unterirdischen Raum, die Gegenwart des Bösen. Sie sah winzige dunkle Flecken auf der Hose eines Polizisten und wußte mit absoluter Gewißheit, daß es Blut war. Wessen Blut? Es war Wilma, die die Antwort erhielt, nach einem müden Ver-
such der Jovialität an der Registrierkasse: „Haben gerade zwei Kerle aus einem Mercedes gezogen", sagte einer der beiden. „Der Wagen kam von der Straße ab und fuhr fast hundert Meter durch Felder und Gestrüpp, bevor er in einem Graben landete und sich überschlug. Muß schon heute vormittag passiert sein, aber niemand hat was gewußt." „Verletzte?" fragte Wilma. „Das ist das Komische. Der Fahrer hatte nur eine Platzwunde am Kopf - aber er war tot. Und sein Beifahrer war auch tot, und der hatte überhaupt keine Verletzungen." „Wie hießen die beiden?" fragte Anne. Einer der Beamten wandte den Kopf und sah sie mit eisblauen Augen an. „Nach ihren Kennkarten hießen sie Irvin Wilson und Bill Yates. Kennen Sie sie?" Anne fühlte plötzliche Trockenheit im Mund. „Oh, ich..." „Nein, sie waren nicht hier", unterbrach Wilma. Sie schlug auf die Tasten der Registrierkasse und zählte das Wechselgeld auf die Theke. „Auf der Landstraße passieren seltsame Dinge. Besuchen Sie uns wieder." Wilma schwieg, bis sie aufgeräumt und alles für die Nachtschicht vorbereitet hatten. Als sie zum Haus gingen, blickte sie Anne an und sagte mit halblauter Stimme: „Nun weißt du, warum sie nicht zurückgekommen sind. Sahen sie krank aus oder was?" „Nein..." Anne runzelte angestrengt die Stirn und dachte an Hubert. „Sie hatten eine Flasche dabei und tranken, ließen es sich gut gehen." „Vielleicht haben sie schlechten Schnaps erwischt. Nun, schlaf gut. Ich habe dir einen Schlafanzug ins Zimmer gelegt, der dir passen wird. Bis morgen." Anne schlief nicht, auch zog sie den Pyjama nicht an. Sie lag auf dem gemachten Bett und behielt den kleinen elektrischen Wecker auf dem Nachttisch im Auge. Fünf Minuten vor Mitternacht ging sie leise hinaus und sah den grauen Lincoln am anderen Ende des Parkplatzes stehen, in der Nähe der Fernstraße. Sie ging hinüber und öffnete die Tür. „War nicht sicher, daß du die Botschaft verstanden hattest." Seine Zähne blitzten in einem Lächeln, das weder Freundlichkeit noch Humor zeigte. Er fuhr ein Stück auf der Schnellstraße entlang und bog dann in einen Feldweg ein. Unter einer Baumgruppe hielt er an. Anne kletterte auf den Rücksitz, ohne Fragen zu stel-
len. Inzwischen konnte sie Vergleiche anstellen: er war bisher der beste von den vieren. Als er endlich von ihr abließ, sagte er: „Morgen sehen wir uns wieder." Wilma erwartete sie mit verschränkten Armen vor der Tür. „Du bist also doch mit ihm gegangen, wie ich sehe. Hast du gekriegt, was du wolltest?" Anne nickte und wollte an ihr vorbei ins Haus. Wilma packte sie am Ellbogen und drehte sie herum. „Nun, ich kann das nicht haben, so vor meiner Nase. Morgen gehst du..." Sie schluckte. „Verstanden?" Anne war enttäuscht, aber sie war zu müde, um irgend etwas zu sagen oder sich zu verteidigen. Sie nickte und ging in ihr Zimmer. Ihr Bett war gemacht, und auf ihrem Nachttisch brannte eine kleine Lampe mit geblümtem Schirm. Anne zog sich aus und schlüpfte in den Pyjama, den Wilma bereitgelegt hatte. Als sie das Licht ausschaltete, fühlte sie ihre Glieder bereits vom Schlaf beschwert. Sie erwachte von den Bewegungen der Frau, die bei ihr im Bett lag und ihre Schultern streichelte. „Du brauchst nicht zu gehen, Kleines. Du bleibst bei mir, okay? Es ist schon in Ordnung, verstehst du?" Anne murmelte etwas und legte ihren Arm über Wilma. Dann schlief sie wieder ein. Der nächste Tag war der Beginn eines langen Wochenendes, und das Restaurant der Raststätte war voll von müden Erwachsenen und nervösen, aufsässigen Kindern. Die männlichen Gäste reagierten auf Annes Erscheinen nur mit gelegentlichen sehnsüchtigen Blicken und einem resignierten Herabsinken der Schultern, als ob ihre Familien dort oben säßen und sie niederdrückten. Anne nahm Bestellungen entgegen, servierte, räumte Geschirr ab und kassierte. So ging es bis zum Abend, und als sie um elf ins Bett fiel, dachte sie nicht an den Mann mit dem Lincoln. Als am nächsten Morgen die Zeitungen für den Verkaufsständer geliefert wurden und Anne die Titelseiten überflog, sah sie ein unscharfes Foto des Mannes mit dem grauen Lincoln. Hastig las sie den Begleittext: Tot in Motel aufgefunden... Selbstmord vermutet... Unterweltfigur... Mit sechzehn Jahren wegen schweren Überfalls zu drei Jahren Jugendstrafe verurteilt... Seither mehrmals verhaftet, wegen mangels an Beweisen auf freien Fuß gesetzt. Wilma, die an der Registrierkasse lehnte und das gleiche Blatt las, blickte auf und sagte: „Sieht so aus, als ob du den Kuß
des Todes verteilst, Kind." Anne versuchte das Ereignis zu verstehen; sie war traurig, weil er nicht zu ihr zurückkehren würde. Sie mußte einen Mann haben. Er kam gegen Ende des abendlichen Stoßbetriebes: untersetzt, mit gelocktem, dunklem Haar, olivbrauner Haut und blitzenden Augen. Anne spürte seinen Blick, als sie ihm das Glas Wasser und die Speisekarte brachte; ihre Beine drohten weich zu werden, und ihre Brüste verhärteten sich schmerzhaft. Sein Daumen fuhr über den Rand der Speisekarte, und er sagte: „Was ich möchte, steht nicht auf der Karte." Er grinste zu ihr auf, verschmitzte Fältchen in den Augenwinkeln. „Wann haben Sie frei?" „Um zehn", sagte sie. „Geht es dann in Ordnung? Wir können uns in den Laster setzen und - sprechen." „Ja", sagte sie mit einem Seufzen. Es war erst halb neun. Er verbrachte eine halbe Stunde mit dem Essen und bei einer Tasse Kaffee, dann ging er zur Theke, um zu zahlen. Anne, die schmutzige Teller aufstapelte, hörte ihn etwas lauter als notwendig sagen: „Ist es in Ordnung, wenn ich heute nacht hier parke? Der große Tanker draußen, der mit der Aufschrift Crowley Oil Company." Wilma nickte, spießte seinen Bon auf und griff in die Kassenschublade, alles mit einer glatten Bewegung. Um halb zehn, nachdem sich Anne auf die Lippen gebissen hatte, bis sie wund waren, kam Wilma zu ihr und gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil. „Hast du dich mit diesem Mexikaner verabredet?" Anne nickte. „Also gut, dann geh jetzt, bevor du mir einen Stapel Teller fallen läßt. Herr im Himmel, ich habe schon einige mannstolle Weiber gesehen, aber so was -!" Anne hörte den Rest nicht mehr; sie lief durch die Küche hinaus und band sich unterwegs ihre Schürze auf. Sie fand den Mann in der Koje hinter seinem Fahrerhaus, wo er in einem Buch las. Der kleine Alkoven hatte rote Samtvorhänge, die jetzt zurückgezogen waren. Als er sich beeilte, ihr Platz zu machen, erklärte er, daß er die Vorhänge in seinem Koffer verwahre, weil die Firma so etwas nicht erlaube. „Nicht daß ich das oft tue, weißt du, Mädchen in den Wagen holen und so. Aber es ist etwas, das ich mir immer gewünscht habe..." Anne streckte sich neben ihm aus und ließ ihre Hand auf seiner Hüfte ruhen. Er blickte sie an und seine Augen wurden groß. „Soll ich -das Licht ausmachen?"
„Ja", sagte Anne, und ihre Finger gingen auf Erkundungsjagd. Wilma saß auf dem Bett, als sie eine Stunde später hereinkam. „Was ist los mit dir, Anne? Brauchst du es so dringend?" Anne nickte ernst, ohne zu sprechen. Wilma blickte sie lange an, dann seufzte sie. „Na, da kann man nichts machen. Aber es gibt ein paar Dinge, die du wissen solltest. Komm mit ins Bad." Wilma zeigte ihr, wie sie sich gegen Krankheit schützen und eine unerwünschte Schwangerschaft verhindern konnte. Anne versuchte aufzupassen, aber sie war sehr müde, und Wilmas Bemühungen waren so einlullend angenehm, daß sie kaum etwas im Gedächtnis behielt. In einem Zustand benebelter Schläfrigkeit wurde sie ausgekleidet und zu Bett gebracht. Sie hörte das dumpfe Aufbrüllen des Diesels, als der Tankzug vom Parkplatz rollte. Das Licht ging aus, und sie lag in Wilmas Armen. „Weißt du, du bist ein seltsames Mädchen, Anne. Du weckst etwas in mir, wovon ich keine Ahnung hatte. Ich meine, ich habe nie... Aber weißt du, wenn du nur Liebe brauchst, dann kann ich dir geben, was du willst. Ich kenne mich aus, verstehst du? Natürlich nicht heute abend, sondern ein anderes Mal..." Am nächsten Morgen, als Anne frühstückte, hörte sie ein Gespräch zwischen Wilma und einem Fernfahrer, der an der Theke Kaffee trank. „... hatten so ziemlich alles aufgeräumt, als ich vorhin vorbeikam. Man sah nur noch das ausgebrannte Chassis, völlig verbogen und verglüht. Und ringsum alles schwarz." Wilma blickte zu Anne, dann zurück zum Fernfahrer. „Ein Tanklastzug von Crowley, sagst du?" Der Fahrer nickte. „Der Kollege muß eingeschlafen und gegen die Böschung gerast sein. Wahrscheinlich ist er gar nicht mehr aufgewacht." Anne ging hinaus und wanderte ziellos auf dem Parkplatz hin und her. Sie wünschte, sie hätte nie von dem Unfall, nie von dem Tod des Mannes mit dem Lincoln gehört, nie mit den beiden Streifenbeamten gesprochen. Es war so einfach und schön gewesen, die Männer glücklich zu machen und gleichzeitig die Bedürfnisse ihres Körpers zu befriedigen. Sie zum Tode zu verurteilen, war eine andere Sache... Trotzdem ertappte sie sich am selben Nachmittag, wie sie dem Brotmann zulächelte, der so dick war, daß er über den Handknöcheln Grübchen hatte. Nur Wilmas Räuspern und ihr warnender Blick hinderten Anne daran, sein Angebot zu einer kleinen Ausfahrt anzunehmen. In dieser Nacht wälzte sie sich stundenlang
schlaflos im Bett, bis Wilma kam und sich zu ihr setzte. „Erinnerst du dich, was ich dir sagte? Ich kann dir geben, was du brauchst." „Ja", sagte Anne. „Tu es." In dieser Nacht war sie mit Wilma zusammen, doch am nächsten Tag fühlte sie sich nervös, angespannt und frustriert. Wilma hatten einen gespannten Zug um den Mund, und ihre Augen wirkten fiebrig. Während des langsamen Spätnachmittags, als Ned seine zweistündige Pause einlegte, setzte sich Anne an den Tisch, wo Wilma Kaffee trank, und sagte: „Ich glaube, ich sollte lieber gehen, Wilma." Wilma ergriff ihre Hände und blickte sie elend an. „Ich schaffe es ohne dich nicht. Baby. Ich könnte es nicht ertragen." „Aber... wenn es bei dir nun genauso wirkt wie bei den Männern?" „Das ist mir gleich. Es hat mich erwischt, was immer es ist. Ich kann nicht mehr klar denken, wenn du nicht in der Nähe bist. Wenn ich an der Kasse sitze, sage ich mir: Wilma, du bist eine dumme Gans. Du hast ein gutgehendes Geschäft und Geld auf der Bank und zwei Wagen und einen Mann... Aber dann kommst du und es ist alles anders. Verglichen mit dir ist es alles unwichtig. Du bist die einzige, die eine Rolle spielt. Ich würde alles wegwerfen... ja, sogar Ned, nur um dich zu berühren. Mir ist manchmal, als müßte ich den Verstand verlieren." Während der nächsten drei Tage bemerkte Anne, wie Wilma manchmal minutenlang ins Leere starrte. Sie kicherte oft, gab falsch heraus, zerbrach Gläser. Jede Nacht kam sie zu Anne ins Bett, sobald Ned eingeschlafen war. In ihrem Verlangen, Anne zu gefallen, wurde sie immer hektischer; sie weinte, wenn Anne kühl schien, fragte ständig, ob Anne sie liebe, ob sie befriedigt sei, ob sie immer noch einen Mann wolle. Anne sagte nein, was eine Lüge war. Am vierten Nachmittag, als Ned wieder seine Pause machte, hängte Wilma das Schild mit dem Wort ,Geschlossen' an die Tür und sperrte ab. Sie legte die Arme um Anne und sagte: „Baby, ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber ich muß dich einfach haben. Ich werde verrückt, wenn ich an letzte Nacht denke..." Anne fühlte die Luft an ihren Beinen, als ihr Rock angehoben wurde, und Wilma fiel auf die Knie. Dann brüllte Neds Stimme von hinten: „Also, das ist doch... Ich will verdammt sein! Ich sah die Leute kommen und zur Tür gehen und umkehren, und ich konnte mir nicht denken... Was zum Teufel geht hier vor?"
Wilmy brach in hysterisches Schluchzen aus. Sie sagte, sie wisse nicht, was mit ihr los sei, sie habe nur gefühlt, wie ihr alles entgleite und nichts mehr wichtig sei, außer Anne. Ned legte die Arme um sie und sagte: „Geh und leg dich ins Bett und ruh dich aus. Ich mache für den Rest der Tages zu, und wir können versuchen, die Sache auszubügeln." Als Wilma gegangen war, sagte Anne: „Ich glaube, ich packe lieber meine Sachen und verschwinde." Aber Ned sagte: „Nein, nicht. Ich muß in die Stadt fahren und was besorgen, und wenn ich zurückkomme, bereden wir die ganze Sache, ja? Bleib hier, während ich fort bin, okay?" Nach einer halben Stunde kam Ned mit einer Papiertüte zurück, die oben zusammengedreht war und die Umrisse einer Flasche enthüllte. Anne wartete eine Stunde, dann ging sie in ihr Zimmer. Von nebenan hörte sie das Auf und Ab der Stimmen hören. Anfangs schluchzte Wilma sehr, dann ertönte kreischendes Gelächter, in das auch Ned einstimmte. Als es draußen dunkelte, verebbten die Geräusche zu einem leisen Gemurmel und vermischten sich schließlich mit dem rhythmischen Quietschen der Bettfedern. Während der langen Stille, die nun folgte, schlief Anne auf ihrem Bett ein. Sie erwachte von einem Geräusch, und als sie die Augen öffnete, sah sie Ned schwankend in der Türöffnung stehen, die Flasche am Hals haltend, die Augen stierend und blicklos. Er trug nur seine Socken und ein Unterhemd. Er hob die Flasche und trank, dann lachte er und taumelte auf sie zu. „Wilma ist völlig weg, sie wird nie was merken..." murmelte er. Es war so lange her, daß sie einen Mann gehabt hatte, und ihr Hunger war so groß, daß sie nicht aufstehen und fortgehen konnte, wie sie es hätte tun sollen. Statt dessen wälzte sie sich herum und öffnete die Arme. Am nächsten Morgen schlief Wilma immer noch, und so öffneten Anne und Ned das Restaurant. Obschon rotäugig und zittrig, schien Ned fröhlich, als er ihr Spiegeleier briet. Anne dachte, daß der Bann vielleicht gebrochen sei. Sie ging nach vorn, um drei ältere Damen zu bedienen, die früh zu einer Reise aufgebrochen waren. Sie bestellten Tee mit genau angegebenen Mengen von Zitronensaft, Zucker und Kondensmilch. Anne nahm ein Tablett und bereitete alles vor, und Ned stellte den Teekessel auf den Herd und legte die Teebeutel bereit, als Wilma splitternackt aus
der Küche kam, die Augen stier und vorquellend. Anne fühlte ein Flattern im Magen, als Wilma die Pistole unter der Registrierkasse hervorzog und auf Ned richtete. Der erste Schuß durchbohrte die Kaffeemaschine, die zweite Kugel traf ihn in die Kehle. Er stand noch eine Sekunde aufrecht da, während ihm das Blut in pulsierenden Stößen aus der Kehle spritzte und zusammen mit dem dampfenden dunkelbraunen Strahl aus der Kaffeemaschine auf den Boden regnete. Er tat einen Schritt auf Wilma zu, dann brach er zusammen und riß dabei ein Tablett mit Kaffeetassen zu Boden. Anne sah in Wilmas Augen den verzweifelten Blick eines Kaninchens, das sich in der Umklammerung einer Schlange sieht. Wilma richtete die Waffe auf sich selbst, doch die Kugel fuhr ihr durch das Haar über dem Ohr und schlug den Deckel vom Kaugummiautomaten. Glassplitter und Kaugummikugeln flogen umher, und eine der älteren Damen begann zu kreischen. Anne sah eine Bitte in Wilmas Augen; sie fühlte einen Drang, hinzugehen und ihr zu helfen, ihr die Hand mit der Waffe zu halten oder irgend etwas. Aber dann lächelte Wilma unerwartet, und eine tödliche Ruhe breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sie sah weiter Anne an, während sie den Pistolenlauf in den Mund steckte. Es gab eine dumpfe Explosion, und Anne sah Klumpen von grauem Zeug an der Innenseite der Thekenverglasung herunterrutschen. Eine der älteren Frauen war ohnmächtig geworden und lag neben dem Tisch. Die beiden anderen rannten fuchtelnd und kreischend hinaus. Anne fühlte große Müdigkeit. Sie wollte sich niederlegen und die Welt kreisen lassen, ohne von ihr berührt zu werden, aber eine innere Stimme sagte, daß sie sich davonmachen mußte... Sie erinnerte sich nicht, über den Parkplatz gegangen zu sein, fand sich aber nach einer Weile in ihrem Zimmer wieder, wo sie den Plastikkoffer packte, den sie drei Tage zuvor gekauft hatte. Als sie die kleine Holzfigur einwickelte und zwischen ihre Kleider legte, fühlte sie einen schmerzlichen Anflug von Kummer um die Vergangenheit und das kleine Mädchen, das sie gewesen war. Im Rückblick erschien ihr das Leben eines häßlichen mageren Kindes einfach und friedlich und erstrebenswert. Sirenen heulten in der Ferne, als sie die Schlösser des Koffers zudrückte. Sie ging hinaus und stieg in Wilmas Chevrolet, kurz bevor die Streifenwagen von der anderen Seite über den Park-
platz rollten. Wilma hatte sie nur einmal fahren lassen, aber sie erinnerte sich an die Bewegungen. Die Hinterräder drehten durch, als sie die Raststätte verließ; ein Polizist rannte um die Ecke und winkte, doch sie konnte nicht anhalten. Sie brauste hinaus auf die Schnellstraße und folgte dem Hinweisschild zur Stadt. Als sie die Hauptstraße hinunterfuhr, sah sie einen Bus anrollen. Sie ließ den Wagen auf den Gehsteig rumpeln, hielt an, nahm ihren Koffer und sprang heraus. Als sie dem Bus winkte, hielt er an, und der Fahrer verkaufte ihr eine Fahrkarte nach Denver. Sie fand einen schönen kühlen Sitzplatz hoch oben im Heck des Reisebusses. Das Licht, das durch die blaugetönten Fenster fiel, war so beruhigend, daß sie beinahe sofort einschlief.
4. Erst eine Woche nach den Schüssen erreichte David Hall, der einer längst erkalteten Fährte gefolgt war, den Schauplatz des Geschehens. Die Polizei hatte den Tod von Ned und Wilma Baker als Mord mit anschließendem Selbstmord behandelt. Eine weibliche Angestellte war nach der Tat in Wilma Bakers Wagen geflohen. Den Wagen hatte man verlassen in der Stadt gefunden. Der Polizeisergeant erklärte David: „Wir vermuten, daß das Mädchen einfach durchgedreht ist. Und kein Wunder. Nach der Aussage einer alten Dame, die Augenzeugin war, muß es haarsträubend gewesen sein. Wilma kam splitternackt aus der Küche und schoß ihrem Mann eine Kugel in den Hals; als der Krankenwagen kam, war er schon tot. Ich nehme an, das Mädchen hätte uns mehr erzählen können, wenn es dageblieben wäre, aber wir haben auch so das meiste zusammengebracht. Am Vorabend hatten sie sich betrunken, und wir gehen davon aus, daß der alte Ned sich an die Bedienung herangemacht hatte. Dafür tötete Wilma ihn. Ein hoher Preis für einen kleinen Seitensprung, aber wir alle gehen Risiken ein, nicht wahr?" Der Sergeant lachte und warf David einen unbehaglichen Blick zu. Wahrscheinlich frustrierte es ihn, mit jemandem zu reden, der nicht antworten konnte. David hielt den Schreibblock mit der linken Handprothese fest und schrieb: Sah jemand das Mädchen die Stadt verlassen? Der Sergeant las die Frage und schüttelte den Kopf. „Nicht daß
ich wüßte. Niemand erinnert sich, sie gesehen zu haben. Aber der Wagen stand halb auf dem Bürgersteig und nicht weit von der Busstation. Wir nehmen an, daß sie einen Bus genommen hat. Jedenfalls ist sie seit jenem Tag nicht mehr in der Stadt gesehen worden." - Um welche Uhrzeit wurde der Wagen gefunden? Der Sergeant blätterte in seiner Akte und sagte: „Neun Uhr." David nickte dankend, klemmte sich die Leichtmetallkrücken unter die Arme und drehte auf dem guten Bein um. Seine Beinprothese gab ein weiches, furzendes Geräusch von sich, als sie sich gegen seinen Beinstumpf drückte, und David errötete verlegen. Er schwang sich hinaus auf die Straße, einen halben Kopf kleiner als der Durchschnitt, mit fächerförmigen Ohren und drahtigem, mausgrauem Haar, das am Hinterkopf hochstand. Seine Nase war dünn, sein Kinn etwas fliehend, zum Ausgleich hatte er sich einen Bart wachsen lassen, aber die dicke Brille, die er wegen seiner starken Kurzsichtigkeit tragen mußte, gab ihm das Aussehen eines verwirrten Buchhalters, der die Übersicht verloren hat. Die Busstation war nur ein Schalter mit angebautem Erfrischungskiosk. Dem mit Kreide auf eine Tafel geschriebenen Fahrplan entnahm David, daß jeden Morgen um sieben Uhr vierzig ein Bus nach Denver durchkam, während ein anderer Bus um acht Uhr zwanzig nach Chicago fuhr. David überlegte, daß sie wahrscheinlich den Bus nach Denver genommen hatte, weil er der erste gewesen war, der nach der Schießerei gefahren war. Er schrieb eine Notiz und zeigte sie dem Mann hinter dem Fahrkartenschalter. Der Mann schürzte die Lippen, kratzte sein dünnes braunes Haar und ging hinaus zu einem Tisch im Freien, an dem zwei Fahrer Kaffee tranken. Nach einer Minute kam er zurück und sagte: „Harvey Shoop fuhr an dem Tag den Bus nach Denver. Er hat jetzt Nachmittagsdienst und wird um acht hier durchkommen, wenn Sie mit ihm reden wollen. Vielleicht erinnert er sich an das Mädchen. Ich kann nur sagen, daß sie keine Fahrkarte gekauft hat; jedenfalls nicht hier am Schalter." David lächelte dankbar und hoppelte hinaus. Er fühlte die Blicke, aber sie störten ihn mit jedem Tag weniger. Das verdankte er Anne; auf der alten Farm seiner Eltern war er fast zu einem Einsiedler geworden, zu einem Mann, der neben seiner Holzschnitzerei keine Unterhaltung gekannt hatte.
Er stieg in seinen Wagen und blickte auf die Uhr am Armaturenbrett. Sechs Stunden zu warten. Er öffnete das Handschuhfach und nahm die hölzerne Statuette heraus, die er angespült am Bachufer gefunden hatte. Als seine Finger die Kurven der weiblichen Formen nachfuhren, schloß er die Augen und erinnerte sich an den Nachmittag, da er im Röhricht gesessen und die Libellen beobachtet hatte. Annes unerwartetes Auftauchen am Teich hatte ihn überrascht und verwirrt, aber dann hatte er der Enkelin des alten Maynard viele Tage lang unbemerkt beim Baden zugesehen und war so Zeuge ihrer unglaublichen Entwicklung geworden. Zuerst hatte er sie nur zum Spaß in Holz geschnitzt, als willkommene Gelegenheit, sich in der Fertigkeit zu üben. Aber dann war sie vor seinen Augen eine andere geworden, und er hatte eine zweite Figur machen müssen. Und zuletzt hatte er das Wort ,Liebe' in die Standflächen der Statuetten geschnitten und sie in das Versteck gelegt, in dem sie ihre Vorräte verwahrte. Auch am Tag des Gewitters war er dort gewesen, hatte aus einem Haseldickicht nach ihr Ausschau gehalten und gehofft, daß sie wieder schwimmen würde, aber sie hatte die Figuren genommen und war fortgegangen... David legte die Figur ins Handschuhfach zurück und fuhr hinaus zur Raststätte. Ein Fenster war mit Sperrholzplatten vernagelt, und eine Kette mit einem Vorhangschloß sicherte die Tür. Darüber war eine Papptafel mit der Aufschrift „polizeilich geschlossen" angeheftet. Eine düstere Stille hing über dem Ort, die gleiche Art von Stille, die am Tag nach dem Unwetter über dem Teich gelegen hatte - eine Stille, die ihm sagte: ,Ich bin gegangen. Ich werde nicht zurückkehren.' Er hatte das gleiche empfunden, als er Huberts Lastzug im Maisfeld gesehen hatte, zwei Tage nach dem Unfall noch immer nicht abgeschleppt: die tiefe Stille eines Friedhofs, wo die Geister von Ermordeten liegen und ihre Mörder erwarten. „Ich habe die Schüsse gehört." David blickte aus dem Wagenfenster und sah einen mageren Jungen mit wirrem braunem Haar draußen stehen. Ein Grinsen teilte sein Gesicht in zwei ungleiche Teile. „Ich habe die Schüsse gehört", sagte er wieder. „Ich wohne gleich dort drüben, hinter dem Parkplatz. Ich sah die alten Frauen herausrennen und kreischen, also lief ich gleich hin und sah alles. Es war furchtbar! Überall Blut, und Wilma hatte überhaupt nichts
an... Sind Sie von hier?" David schüttelte den Kopf. Er zeigte auf seinen Mund und schüttelte neuerlich seinen Kopf. Das Grinsen des Jungen verblaßte zu einem ungewissen Lächeln, wurde dann zu einem mißtrauischen Stirnrunzeln, als David ihm eine seiner gedruckten Karten gab. Sie zeigte seinen Namen, seinen früheren militärischen Rang und wies darauf hin, daß eine Kriegsverletzung ihn der Sprache beraubt hatte. Während der Junge las, nahm David seinen Block und schrieb: - Kanntest du Anne, das Mädchen, das hier arbeitete? „O ja, bloß ist sie nicht mehr hier." - Ich suche sie, schrieb David. - Erzähl mir von ihr. „Also, sie war sehr hübsch. Ich fand das gar nicht, aber viele Leute sagten es. Mein Zimmer geht auf diesen Platz, und eines Nachts sah ich sie aus dem Haus kommen und zu dem Kerl in den Wagen steigen, von dem alle sagen, er sei ein Gangster. Sie hatte nur ein Nachthemd an. An einem anderen Abend sah ich sie ins Fahrerhaus von einem Tanklastzug steigen. Sie war eine Hure, sagte meine Mutter. Bevor Anne kam, trank meine Mutter immer mit Wilma Kaffee, aber danach nicht mehr. Wilma sagte, Anne verhexe die Männer." Der Junge hob die schmalen Schultern und ließ sie wieder fallen. „Mehr weiß ich nicht. Die Männer, mit denen ich sie sah, sind beide tot." David gab ihm eine Dollarnote, und der Junge schob sie in seine Hosentasche. „Waren Sie in Vietnam?" David nickte, und der Junge verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Was hat Sie getroffen, ein Granatwerfer?" David schüttelte den Kopf. „Eine Mine?" David nickte. Der Junge sagte: „Jesus!" und David fuhr weg. Für die Dauer eines Augenblicks schien es ihm, als führe er wieder in einem Jeep die schmale Dschungelstraße entlang, unterwegs zum Gefechtsstand seines Bataillonsführers. Das lautlose Krachen... Fliegen... eine brennende Taubheit am ganzen Körper... das Vorgefühl der alles auslöschenden Schmerzwellen... der Gedanke: ich sollte einfach aufgeben... dann die Stimme von jemandem, der in einem gelangweilten monotonen Vortrag erklärte, als habe er bereits mehrere Minuten darüber gesprochen: „... riß das linke Bein unter dem Knie weg, zerfetzte seinen linken Arm, so daß wir knapp unterhalb des Ellbogens amputieren mußten. Der Splitter, der seine Kehle traf,
ließ die Arterien glücklicherweise intakt. Wir flickten die Luftröhre, so daß er normal atmen kann, aber der Kehlkopf und die Stimmbänder mußten entfernt werden, so daß er niemals wieder sprechen wird. Seine linke Niere war nicht mehr zu retten, und die rechte ist nur teilweise funktionsfähig; aber mit viel Glück,- keinen ernsten Krankheiten, guter Diät, viel Ruhe und regelmäßigen Blutreinigungen durch eine künstliche Niere kann er weitere fünf bis acht Jahre leben. Die hufeisenförmige Röhre hier am Arm wird Weiche genannt. Hält die Arterie offen - andernfalls müßten wir es chirurgisch machen, jedesmal wenn er an die Maschine angeschlossen wird. Wenn wir weitergehen, dann sehen wir hier das Opfer eines Hubschrauberabsturzes. Beachten Sie bitte die Röntgenaufnahme, die ein mehrfach gebrochenes und gestauchtes Rückgrat und einen komplizierten Beckenbruch zeigt..." David suchte die Büros der Lokalzeitung auf und durchblätterte die Zeitungen der Woche vor dem Mord und Selbstmord. Ein auswärtiger Gangster, wahrscheinlich Mitarbeiter eines Verbrechersyndikats, war tot in einem Motelzimmer aufgefunden worden. Ein Fernfahrer namens Luis Martinez war mit seinem Tanklastzug von der Straße abgekommen und in eine steile Böschung gefahren. David addierte die Fälle, als er hinausging. Hubert Reece. Tot. Der Gangster. Luis Martinez. Ned und Wilma. Tot, alle tot. Und er war hier und suchte das Mädchen, das den tödlichen Stachel trug. War er lebensmüde? Der Busfahrer, ein dünner Mann mit einem bläulichschwarzen Kinn, erinnerte sich an Anne. „Kaufte eine Fahrkarte nach Denver und schlief die ganze Strecke. Ich weiß es, weil ich sie zwei- oder dreimal schütteln mußte, um sie wach zu kriegen. Wohin sie gegangen ist? Schwer zu sagen. Sie stellte Fragen wie... na, wissen Sie, ich hatte das Gefühl, daß sie Anschluß suchte. Gab ihr den Namen einer Bar. Vielleicht ist sie hingegangen, vielleicht nicht." - Name der Bar? „Oh, Seebold Inn. Ein paar Hundert Meter südlich von der Busstation. Ich weiß nicht mehr, wie die Straße heißt..." David machte sich sofort auf den Weg. Um Mitternacht hielt er bei einer Raststätte, trank warme Milch und aß ein Käsebrötchen. Um zwei Uhr früh machte er anderswo Station, um Spargelsuppe und Toast zu essen. Dann schlief er ein paar Stunden auf einem Parkplatz neben der Straße und erreichte Denver und die Seebold Inn nachmittags um drei Uhr. Der Barmann sagte David, er habe
nicht Dienst gehabt, als Anne gekommen sei. Er deutete auf ein breithüftiges Mädchen, das auf einer kleinen, von Punktlichtern angestrahlten Plattform tanzte, und sagte: „Sie war an dem Tag hier. Nehmen Sie sich einen Tisch, und ich schicke sie zu Ihnen." Sie war eine Brünette mit einem mißmutigen Schmollmund. Sie wollte nicht reden, aber als David eine Fünfdollarnote über den Tisch schob, lehnte sie sich zurück und zündete eine Zigarette an. „Okay, Mister, was wollen Sie wissen?" Sie hatte die stumpfe Art einer professionellen Hure, und David war froh, daß er niemals der Versuchung nachgegeben hatte, sein körperliches Verlangen auf diese Art und Weise zu befriedigen. Er zeigte ihr die Schnitzfigur und schrieb Zeit und mutmaßliche Umstände von Annes Erscheinen auf. „Ich glaube, ich weiß, wen Sie meinen. Sexy?" David nickte. „Also, Sie können dieser - dieser Person von mir sagen... ach, lassen wir das. Ich saß mit drei Kadetten von der Militärakademie hier, als sie 'reinkam. Auf einmal war es, als ob es mich nicht mehr gäbe. Ich stand auf, um meine Nummer abzuziehen, und dann sah ich, wie sie alle drei an ihren Tisch gingen. Bevor ich fertig war, hatte einer schon seine Hände an ihren Beinen, und ein anderer begrabschte sie oben... Richtig schamlos, wenn Sie verstehen, was ich meine. Na, jedenfalls kümmerten sich die drei nicht weiter um mich und zogen mit ihr ab. Ein paar Stunden später kamen ein paar Kameraden rein. Sie ließen sich vom Barmann den Namen des Hotels geben und hauten wieder ab. Rialto heißt es, eine stinkende Absteige..." Nachdem David minutenlang auf den Empfangstresen des schäbigen kleinen Hotels geklopft hatte, erschien ein langhaariger Mann mit teigiger, ungesunder Gesichtsfarbe aus einem Hinterzimmer. Sobald David eine Fünfdollarnote auf den Tresen gelegt hatte, zeigte sich der Mann auskunftsbereit: „Zweiter Stock, das letzte Zimmer rechts. Es ist an Kadetten der Luftwaffenakademie dauervermietet. Nein, ich hab' kein Mädchen gesehen. Ich weiß nicht, was die heute da machen. Wollen Sie hinaufgehen? Wenn Sie noch mal fünf zahlen, gebe ich Ihnen den Schlüssel, obwohl ich es eigentlich nicht darf." David fühlte seine Kopfhaut prickeln, als er die Tür des Zimmers öffnete. Teller mit angetrockneten Essensresten waren auf Frisierkommode und Tisch gestapelt. Leere Flaschen und Gläser be-
deckten jede Abstellfläche. Schimmelige Reste von Pizza und Frikadellen lagen auf dem abgetretenen Teppich herum. Doch der eigentliche Schock kam erst, als er das Bett sah. Ein großer bräunlicher Fleck bedeckte die Mitte der durchhängenden Matratze. Es stank nach getrocknetem Blut und Fäkalien. David ließ sich mühevoll auf ein Knie nieder und sah, daß das Blut Bettzeug und Matratze durchtränkt und am Boden unter dem Bett eine Pfütze gebildet hatte. Nun war es getrocknet und staubig. In der benachbarten Duschkabine fand er Handtücher, die vom getrockneten Blut steif waren. Im Kleiderschrank lag ein dünnes, kurzes Nachthemd, gleichfalls blutdurchtränkt und vorn, wo offensichtlich etwas Scharfes hineingestoßen worden war, aufgerissen. Er lehnte an der geschlossenen Tür und versuchte zu überlegen. Anscheinend war in den letzten Tagen keiner der Kadetten in das Zimmer zurückgekehrt. Das bedeutete entweder, daß sie wußten, welche böse Tat hier verübt worden war, oder daß sie selbst die Opfer geworden waren. Das Beweisstück des blutgetränkten Nachthemds bedurfte keiner Erläuterung. Anne war erstochen worden. Getötet? Vielleicht, urteilte man nach der Position der Wunde. Niemand konnte soviel Blut vergossen haben und noch am Leben sein. Er war wie betäubt vom Kummer um das Mädchen, das er zu einer schönen Frau hatte heranwachsen sehen. Aber manche Fragen blieben offen. Die Handtücher, zum Beispiel - warum würde jemand sie erstechen und dann versuchen, die Wunde mit Handtüchern zu verbinden? Wer hatte die Tatwaffe entfernt? Wo war der Leichnam? David sperrte die Tür ab und verließ das Hotel. Er ging zurück zur Seebold Inn, nahm einen Tisch und bat den Barmann, ihn zu verständigen, wenn Kadetten kämen. Er trank lustlos von seinem Mineralwasser und bedauerte, daß sein Körper nicht stark genug war, die Gifte des Alkohols zu verarbeiten. Er brauchte dieses Linderungsmittel jetzt. Ein paar Leute kamen herein, hauptsächlich junge Männer und einige Frauen, die sich an getrennten Tischen niederließen und einander spekulativ beäugten. Davids Aufmerksamkeit wurde auf einen jungen Mann in Sporthemd, beigefarbenen Hosen und blauen Segeltuchschuhen gelenkt. Er war überzeugt, daß er ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte. Der junge Bursche ging an die Theke und bestellte etwas; ihre Augen begegneten einander im Spiegel, und David erinnerte sich. Der Bursche hatte gegenü-
ber vom Hotel auf der anderen Straßenseite gestanden, als David herausgekommen war. David hob sein Glas und nickte ihm zu. Der junge Mann fuhr sichtlich erschrocken zusammen; er rutschte vom Barhocker und schien im Begriff, zur Tür hinauszurennen, dann änderte er abrupt seine Richtung und kam an Davids Tisch. „Wollen Sie etwas von mir?" Seine unsteten braunen Augen zuckten hinter den Gläsern seiner Nickelbrille hin und her. Er hatte einen kleinen, runden Kopf mit ordentlich gescheitelten schwarzem Haar, und David hatte das Gefühl, daß er seine Hände sehr oft wusch. Doch als er hinsah, bemerkte er, daß sie unsauber waren, gelb verfärbt zwischen den Fingern. Etwas mußte geschehen sein, das sein Bemühen um persönliche Reinlichkeit aus dem Lot gebracht hatte. David handelte rein impulsiv und schrieb auf seinen Block: - Wissen Sie, was aus dem Mädchen wurde? Der junge Mann gab ein leises Stöhnen von sich und sank auf einen Stuhl. Er drückte die zitternden Finger an seine Stirn und spähte hindurch. „Waren Sie -? Wie kommt es, daß Sie von ihr wissen?" - Ich bin ihr durch vier Staaten gefolgt. „Sind Sie von der Polizei? Warum sprechen Sie nicht laut? Gibt es hier Abhörwanzen, oder..." Er wandte den Kopf von einer Seite zur anderen und blickte ziellos umher. David zeigte seine Karte und erläuterte, daß seine Nachforschungen privater Natur seien. Dann bat er den jungen Mann um seine Mithilfe bei der Suche nach Anne. „Ich will sie nicht finden." Die Hand des Jungen zitterte ziemlich stark, als er ein Glas Bourbon an die Lippen hob. „Ich bin schon so halb verrückt. Seit fünf Tagen ohne Urlaub von der Truppe fort. Wenn ich mich wieder in der Militärakademie blicken lasse, schmeißen sie mich 'raus oder buchten mich wegen unerlaubter Entfernung zwei Wochen ein. Meine Freundin... Wir wollten heiraten. Aber jetzt gibt es keine Möglichkeit. Ich sah... die Frau aus dem Hotel kommen, drei Tage nachdem..." Er brach ab, um sich eine Zigarette anzuzünden, sog gierig am Filtermundstück. „Hörte auf zu rauchen, als ich in die Akademie aufgenommen wurde. Trank auch nicht mehr. Jetzt - lieber Gott! Es war ein typisches Wochenendvergnügen. Ein paar von uns hatten das Hotelzimmer gemietet, in dem wir unsere Mädchen treffen konnten, und es war immer wirklich nett und freundlich, ich meine, die Jungen tausch-
ten schon mal die Mädchen und so... ich aber nicht, denn ich wollte heiraten und hatte keine Lust, mich vorher womöglich anzustecken. Aber ich ging immer Essen und Schnaps und Zeug holen, und es machte mir wirklich Spaß, wissen Sie. Also, ich weiß nicht, wie sie zu dieser Frau gekommen sind. Ich ging ziemlich spät mit Tex hierher, und der Barmann richtete uns aus, daß wir ins Rialto kommen sollten. Also gingen wir hin, und da saßen Bud und Lou und Mike und tranken, und das Mädchen aß. Sie saß mit dem blanken Arsch da, hatte keinen Faden am Leib. Mike sagte, ihr könnt gleich anfangen, wir haben uns alle schon bedient, bis es nicht mehr ging. Also machte Tex sich an die Frau 'ran... Ich werde das nie vergessen, sie hatte eine halbe Pizza in der Hand, und Tex setzte sich neben sie auf das Bett. Sie aß die Pizza zu Ende und wischte ihre Hände und dann packte sie ihn. Ich dachte, sie müßte eine richtige Nymphomanin sein. Ich hatte noch nie eine gesehen. Sehen Sie, wir waren insgesamt sechs. Sieben sogar, wenn Sie mich mitzählen. O nein. Ich machte nicht mit. Ich bin ja verlobt und wollte heiraten. Kurz darauf fingen Bob und Vern an zu kotzen. Sie dachten, sie hätten was Verdorbenes gegessen oder so. Sie beschlossen, ins Quartier zurückzugehen und sich in der Krankenabteilung zu melden. Danach waren nur noch Bud und Lou und Mike und Tex da - und ich. Bud klappte in der Duschkabine zusammen und war ohnmächtig, und ich dachte, er sei besoffen. Dann sagten Lou und Mike, sie fühlten sich auch ganz lausig, und nahmen Bud zwischen sich und gingen 'runter, um einen Bus oder ein Taxi zu suchen. Tex war am Boden eingeschlafen. Er hatte sie zweimal gehabt und konnte nicht mehr. Sie lag auf dem Bett, und es war kein Licht im Zimmer, nur der Schein von der Straßenlaterne draußen, und sie sagte: ,Was ist mit dir?‘" Der Junge schüttete seinen Whisky hinunter und blickte David mit runden Augen an. „Und dann kam mir die Idee, daß sie eine böse Hexe sei. Sie können darüber lachen, ich habe auch nie an solche Sachen geglaubt. Ich dachte, ich würde sie umbringen, wenn sie mir nahekäme, oder vielleicht aus dem Fenster springen. Aber sie weckte Tex. Nicht daß es viel geholfen hätte, er war schon ganz weg, und am nächsten Tag starb er im Militärlazarett. Bob und Vern kamen nicht bis ins Quartier. Sie hatten unterwegs einen Frontalzusammenstoß, und ich glaube, es waren nachher nur noch Fetzen übrig, die man in einen Sack tun mußte. Und Lou
und Mike... also, man versuchte sie zu wecken, als der Bus bei der Akademie hielt, aber sie waren schon tot. Alle drei. Ich dachte, es würde einen höllischen Stunk geben, aber dazu kam es nicht. Jemand oben in Washington mußte gedacht haben, daß der Feind eine Geheimwaffe habe oder was, also wurde der Fall schleunigst niedergeschlagen. Aber ich greife der Geschichte vor. Zuerst nahm sie Tex mit ins Bett. Er konnte das Böse in ihr nicht sehen, für ihn war sie schön. Aber ich durchschaute sie. Sie war ein Reptil, wie ein Krake hielt sie die Männer in ihren Tentakeln, während sie ihnen das Leben aussaugte. Da war dieses schwarze Zeug... Mein Gott, diese Schwärze. Sie... es sah mich. Und ich fühlte schrecklichen Haß. Dann hielt ich es nicht länger aus und rannte fort." Er trank etwas ruhiger aus seinem Glas, dann fuhr er mit beherrschter Stimme fort: „Alle sechs starben innerhalb von zehn Stunden. Ich bin der einzige, der weiß, daß alle mit derselben Frau geschlafen hatten. Mir war sofort klar, daß ich niemanden überzeugen konnte. Ich glaube, ich würde verrückt. Ich steckte am nächsten Tag mein Bajonett ein und kehrte zum Hotel zurück. Es war der Abend des folgenden Tages. Ich ging ins Zimmer, und da lag sie auf dem Bett, nicht viel anders, als am Abend zuvor, schläfrig und träge, wie eine Boa Constrictor, die ein Kaninchen verschlungen hat. Ich sagte: ,Ich habe dir was für den Magen gebracht; hast du Hunger?' Sie lächelte und nickte und ich riß das Bajonett heraus und stieß es in ihren Bauch, so fest ich konnte. Das Blut sprudelte nur so, und ihre Augen wurden groß und rund, und sie wand sich und zuckte. An der Art und Weise, wie sich der Handgriff des Bajonetts bewegte, war zu sehen, daß die Klinge sie an die Matratze geheftet hatte. Sie fing an zu gurgeln und Blut zu spucken, und ich hielt es nicht länger aus; ich rannte aus dem Zimmer und versteckte mich irgendwo in einem Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Ich dachte mir, sie würde schreien und jemand würde kommen und sie wegschaffen." Er schluckte, blickte vor sich hin und malte mit dem Finger nasse Kreise auf die Tischplatte. Sie hätte sterben müssen. Ich verstehe genug von Anatomie. Das Bajonett ging durch den Magen und durch den unteren Teil ihrer Lunge. Oder durch ihre Leber. Ein Bajonett hat eine lange und breite Klinge, wissen Sie. Wie war es also möglich, daß sie zwei Tage später aufstand und das Hotel verließ? Ich trieb mich die ganze Zeit in der Nähe herum und beobachtete das Hotel. Ich konnte nicht weggehen, und
ich konnte nicht - wagte mich nicht in das Zimmer zurück. Dann, am übernächsten Morgen, es war noch nicht richtig hell, sah ich sie aus dem Hoteleingang kommen und fortgehen. Sie hielt sich ein bißchen krumm, vornübergebeugt, als ob sie Bauchweh hätte, aber sie humpelte nicht." - In welche Richtung ging sie? „Keine Ahnung. Ich betete zu Gott, daß sie mich nicht sehen würde, an etwas anderes dachte ich nicht..." David war enttäuscht. Er war seinem Ziel so nahe gekommen, und nun war die Fährte wieder kalt. Er hatte wenig Mitgefühl für die jungen Männer, die gestorben waren; sie hatten nach einem Mädchen Ausschau gehalten, das sie aufs Kreuz legen konnten und statt dessen waren sie zur Ruhe gelegt worden. Und dieser elende kleine Feigling hatte zwei Tage lang auf der anderen Straßenseite gestanden und gewartet, daß Anne an der Verletzung stürbe. David stand auf, warf eine Banknote auf den Tisch und verließ die Bar, ohne sich noch einmal umzusehen. Er verbrachte den größten Teil der Woche in Denver und versuchte ihre Fährte wiederzufinden. Als er eines Morgens in den Spiegel blickte, sah er, daß sich seine Gesichtsfarbe safrangelb verfärbt hatte. Er ging zur Städtischen Klinik, legte seine Papiere vor und kam an die künstliche Niere. Während er im Halbschlaf fühlte, wie sein Blut herausgezogen und durch die Filter gepumpt wurde, erwog er den Zustand seiner verbliebenen Niere. Acht Jahre hatte der Arzt ihm gegeben; zwei davon waren bereits abgelaufen, und die Mühen und Unregelmäßigkeiten in seinem Leben hatten ohne Zweifel an den übrigen sechs genagt. Wäre es nicht nett, von Anne zu erfahren, wie man zwei Tage nach dem Empfang einer tödlichen Verletzung aufstand und herumging? Das wäre mal ein Trick, den zu lernen sich lohnte. Aber zuerst mußte er sie finden, und Denver war eine Sackgasse. Zwei Tage später stand David in der Stalltür, während Annes Großvater Mist ausräumte und mit der Gabel auf einen übelriechenden Haufen warf. Dann stützte er sich auf die Gabel und zog an seiner Pfeife, während er mit zusammengekniffenen Augen las, was David aufgeschrieben hatte. David hatte erklärt, wie er Anne bis Denver nachgereist war und dort ihre Spur verloren hatte. (Von der Bajonettwunde im Bauch hatte er nichts geschrieben; das hätte die alten Leute nur unnötig aufgeregt). Um seine Suche fortsetzen zu können, wollte er wissen, was zu Annes
Weggang geführt hatte. Der alte Mann blickte ihn halb mißtrauisch und halb verschmitzt an. „Nun, Dave, du wirst deine eigenen Gründe haben, sie zu suchen. Was immer dich auf ihre Fährte treibt, wir wissen deine Hilfe zu schätzen. Also will ich dir ein paar Dinge sagen, die wir der Polizei verschwiegen haben." Er klopfte seine Pfeife aus und sah den glühenden Klumpen Asche zischend in eine Jauchepfütze fallen. „Da war unser kleines Mädchen, elf Jahre alt. Nichts Besonderes an ihr, nur war sie so verdammt dickköpfig, daß es nicht immer leicht war, mit ihr fertig zu werden. Ihr Vater war gerade vor zwei Tagen gestorben. Bei bester Gesundheit, kommt nach einem Sonntagsausflug nach Hause, legt sich hin und stirbt. Anne sollte bei uns bleiben. Ihre Mutter war ganz durcheinander, wollte freie Hand haben und ihre Lage überdenken. Den Jungen schickte sie ins Ferienlager. Nun, ich sehe das nicht ein, ich finde, eine Familie sollte in solchen Fällen zusammenkommen, statt auseinanderzulaufen. Aber Norma war irgendwie verwöhnt, sie ist unser einziges Kind. Also kam Anne zu uns. Das erste, was mir an ihr auffiel, war ein abwesender Blick in den Augen. Na, vielleicht war es der Kummer, also beobachtete ich sie. Sie wanderte wie benommen herum, aber sonst fiel mir nichts auf. Dann fing sie auf einmal an zu essen. Mein Gott, Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie das Mädchen gegessen hat! Und sie wuchs auch. Ich meine, sie wurde nicht viel größer und schwerer, sie legte einfach an den Stellen zu, wo es eigentlich erst in ein paar Jahren hätte losgehen müssen. Meine Frau meinte, sie sollte zu einem Spezialisten. Also riefen wir Norma an und sagten Anne, was wir vorhatten. Ich glaube, sie lief noch am gleichen Abend weg, mitten in einem Gewitter. Ich hätte nie gedacht, daß sie das tun würde, sonst hätten wir nichts gesagt." David ging, nachdem er Normas Anschrift bekommen hatte. Annes Mutter wohnte in einem Vorort, aber David roch bereits den metallisch-chemischen Smog der Großstadt in der Luft. Er fuhr in die Einfahrt und betrachtete den Ziegelbau mit seinen vorgesetzten Säulen, und blickte über den mit Ziegeln belegten Fußweg zum Wasser hinunter und dachte, daß Norma eine gute Partie gemacht habe, wie man zu sagen pflegte. Doch jetzt ging es ihr nicht gut. Ihre Augen sahen glasig aus, als sie die Tür öffnete; ihr seidiger Morgenrock war zerknautscht und zeigte Flecken, die wahrscheinlich von verschüttetem Alkohol
herrührten. Als er merkte, daß sie ihn nicht wiedererkannte, gab er ihr seine Karte und trat zurück. Ein jüngerer Mann stand hinter ihr und musterte David mit verdrießlichem Mißtrauen. „Dave Hall. Ich hatte ja keine Ahnung... Natürlich hatte ich von Ihren... äh, Verletzungen gehört, aber..." Sie hielt sich am Türrahmen fest, um nicht zu schwanken, und ihr Mund war schlaff und willenlos. Plötzlich entsann sie sich der Etikette. „Oh, kommen Sie doch herein. Wir wollten gerade... das ist Ted Chalmers, er war mit Billy im Ferienlager, als aufsichtsführender Jugendleiter, und nun ist er hier, um Billy in Mathematik und Physik Nachhilfeunterricht zu geben. Möchten Sie was trinken? Oh, Sie können nicht. Kaffee? Nicht mal Kaffee? Dann also Wasser. Ted, ich nehme noch einen bitte. Papa rief mich an und sagte, Sie seien Anne bis nach Denver gefolgt. Was in aller Welt kann sie in Denver wollen? Und diese unheimlichen Dinge, die Papa sagte, daß sie für sechzehn durchgehen könnte, wenn sie wollte..." Sie schwafelte wirres Zeug, gerade wie es ihr in den umnebelten Sinn kam, und Teds Augen waren zu scharf, zu schnell. David fragte sich, wieviel von der Versicherungsprämie des Mannes übriggeblieben sein mochte, und wie lange Ted bleiben würde, wenn das Geld aufgebraucht wäre. Er schien eifrig bemüht, Normas Glas nicht leerstehen zu lassen. David sah wenig Hoffnung, die alkoholische Barriere anders als durch Schock zu durchbrechen, und schrieb: - Hatte Ihr Mann am Tag seines Todes sexuelle Beziehungen mit einer Frau? Sie zerknüllte das Blatt in der Faust und wandte sich an den Mann. „Bitte, laß uns eine Weile allein, Ted. Du könntest Billy von der Schule abholen, wenn du willst." Ted ging; dabei warf er einen finsteren Blick auf David. Norma wurde plötzlich nüchtern. Sie setzte sich auf die Lehne eines Sessels und sagte: „Ich habe wohl ein Recht zu wissen, warum Sie eine solche Frage stellen." - Ich glaube, Anne ist von demselben Ding infiziert, das den Tod Ihres Mannes verursachte. „Aber - ein elfjähriges Kind? Was kann die Sache mit den sexuellen Beziehungen..." Sie brach ab, als David einen weiteren Zettel schrieb. - Ihre Tochter hat sich in einer unglaublichen Art und Weise verändert. Es ist nicht mehr möglich, sie als Kind anzusehen. Stellen Sie sich Anne als eine Frau mit abnorm starkem Sexualtrieb vor.
Sie nagte auf ihrer Unterlippe, schüttelte den Kopf. „Kann ich nicht. Ich meine, ich zweifle nicht an Ihren Worten, aber ich kann mir Anne nicht anders vorstellen als so, wie... wie ich mich an sie erinnere. Darf ich fragen, warum Sie ihr nachforschen?" Da er fürchtete, sie werde über die Wahrheit lachen, schrieb er: - Ich habe noch sechs Jahre zu leben. Das Phänomen, das ihr Wachstum verursachte, könnte mich möglicherweise heilen. „Aber Sie sagten, es habe den Tod meines Mannes verursacht." - Ich glaube, daß es Risiken gibt. Der Tod ist eins davon. Sie prustete vor Lachen. „Ein Risiko! Sie tun so, als ob der Tod nichts weiter wäre als... o Gott!" Sie barg das Gesicht in den Händen, wandte sich von ihm ab und tastete nach einem Taschentuch. „Entschuldigen Sie. Es ist nur, daß plötzlich alles so seltsam ist. Ich meine, als John starb und dann Anne..." Sie wischte sich die Augen, schneuzte sich und hob den Kopf. „Ich erinnere mich sehr gut an den Tag", sagte sie in verändertem Ton. „Wir fuhren nach Fort Baggett. Billy tötete in einer der alten Kasematten eine Eidechse, und Anne bekam deswegen einen hysterischen Anfall - obwohl Billy immer solche Sachen machte. Die Frau, die uns führte, war sehr attraktiv und machte sich an John heran. Mein Mann war gegen solche Avancen nicht mehr immun als jeder andere. Ich kämpfte nicht dagegen an man spart seine Kräfte für Frauen, die alles wollen, und läßt die Eintagsfliegen vorbei. Nicht daß es einen nicht kränken würde, aber - naja, jedenfalls passierte es. Als wir nach Haus kamen, sagte John, daß er sich elend fühle, aber ich hörte nicht darauf. Später wurde er leichenblaß, und sein Puls ging rasend schnell. Ich wollte den Arzt rufen, aber er faßte meine Hand und flüsterte, daß die Frau im Fort ihm etwas weggenommen habe. Er wisse nicht, was es sei, aber er habe ein Gefühl, als werde er in einen Sumpf gezogen. Dann sagte er: ,Billy wird schon zurechtkommen. Kümmere dich um deine Gesundheit. Und gib acht auf Anne.' Ich dachte immer, er habe damit gemeint, ich solle gut für Anne sorgen. Erst jetzt fällt mir ein, daß er meinte - ich solle vor Anne auf der Hut sein. Was meinen Sie?" David schrieb: - Zweifelhaft. Er konnte nicht gewußt haben, daß sie infiziert worden war. „Infiziert von was?" - Weiß nicht. Ich hoffe etwas von der Frau im Fort zu erfahren. „Seien Sie vorsichtig."
David lächelte, als er mit seinen Krücken aufstand. Frauen fanden ihn nicht so attraktiv, daß er in der Defensive sein mußte. Sie hatten ihn natürlich nie bedrängt, aber früher war das etwas anders gewesen. Die Zufahrt zum Fort war mit einer Kette verhängt, und an der Kette hing ein Schild mit der Aufschrift: ,Führungen sonntags 13 17 Uhr'. David sah einen alten Mann mit einer goldenen Uhrkette an der Lederweste, der einen Besen schwang. Als David ihm aufgeschrieben hatte, warum er gekommen sei, grinste der Mann und kratzte die weißen Bartstoppeln an seinem Kinn. „Ich glaube, da sollten Sie in der Nervenheilanstalt nachsehen. Dahin wollte der Sheriff sie bringen. Warum? Also, vor etwa einem Monat riß sie sich die Kleider herunter und rannte über das Feld da hinten. Der Sheriff mußte sie von einem Baum holen. Der Name? Margaret Tuttle. Sagen Sie, Sie können wirklich geschickt mit diesem Klauending umgehen. Könnte man nicht auch einen Schraubenzieher oder einen Schlagbohrer daran befestigen?" Die Heilanstalt war dreißig Kilometer entfernt. Nach einigen Stunden begann David stumm das Gefängnis aus Vorschriften und Formularen zu verfluchen, mit dem die Gesellschaft ihre Opfer umgibt. Schließlich grub eine freundliche blonde Angestellte, die ihre Brille an einer silbernen Kette trug, Margarets Einlieferungspapiere aus und gab sie David zu lesen: Tuttle, Margaret. Fall Nr. 21001. Diese zweiundzwanzigjährige weiße unverheiratete Frau wurde am 28. August erstmalig eingeliefert. Grund für die Aufnahme ist, daß sie an Zwangsvorstellungen leidet. Sie glaubt, sie sei in der Gefangenschaft von Indianern gewesen und flüchte vor ihnen. Sheriff Thayer gab an, daß sie Angst vor seinem Wagen gezeigt habe und entsetzt reagierte, als er mit hoher Geschwindigkeit fuhr. Die Diagnose nach der Erstuntersuchung: Schizophrene Reaktion, chronisch undifferenzierter Typ. Ihr Leben als Margaret Tuttle scheint einer totalen Amnesie zu unterliegen. Sie gibt an, ihr Name sei in Wirklichkeit Nora Gates, und sie sei im Jahre 1848 in Cleveland, Ohio, geboren. Ihre Phantasie ist sehr vollständig und erstreckt sich sogar auf ihre Redeweise und ihre deutliche Aversion gegen alltägliche mechanische Geräte wie Schreibmaschinen und Staubsauger. Vorläufige Behandlung: Die Patientin erhält täglich 100 mg Melleril. Die Besuchszeit in der Frauenabteilung begann um siebzehn Uhr. David trug seine Eintrittserlaubnis durch die parkartige
Landschaft mit den verstreuten Pavillons und überreichte sie endlich einer großen rothaarigen Frau, deren Bizeps sich unter den kurzen Ärmeln ihrer weißen Uniform deutlich abzeichnete. Sie führte ihn durch einen langen Korridor und ging dann allein durch eine Stahltür mit einem Fenster aus Sicherheitsglas. David spähte hindurch und sah eine Frau in einem formlosen geblümten Kleid auf einem Sofa sitzen: das gelbe Haar hing ihr ungekämmt um die eingesunkenen Schultern. Als sie zu der rothaarigen Wärterin aufblickte, hing ihr Unterkiefer locker herab, und ihr Gesicht zeigte die aufgedunsene Erschlaffung eines Menschen, der aufgegeben hat. David dachte: Soll das die Frau sein, die einen bekannten Architekten unter der Nase seiner Ehefrau verführt? Die Wärterin kam zurück, die breiten Hüften schaukelnd, und gab ihm seine Karte zurück. „Sie will nicht mit Ihnen sprechen." David fragte, ob dies wirklich die richtige Patientin sei, und die Wärterin schnaubte entrüstet durch die Nase. „Nun, selbstverständlich. Glauben Sie, ich kenne meine Patientinnen nicht? Kommen Sie morgen wieder, wenn Sie sie sehen müssen. Oder vielleicht übermorgen. Margaret hat ihre guten und ihre schlechten Tage." Auch am nächsten und am übernächsten Tag wollte sie ihn nicht sehen, und die Stahltür und der beschützende Instinkt der Wärterin hinderten David daran, sich ihr aufzudrängen. Er nahm ein Zimmer in einer Pension unweit von der Heilanstalt und richtete sich auf eine längere Wartezeit ein. Jeden Tag besuchte er die Stadtbücherei und durchkämmte die Tageszeitungen der westlichen Staaten nach möglichen Nachrichten über Anne. Er glaubte jetzt zu wissen, wonach er suchen mußte: plötzliche und unerklärliche Todesfälle und die Anwesenheit einer Frau mit schwarzem Haar und starken sexuellen Instinkten. Das Wetter wurde warm und kündete den Indianersommer an. Die Patienten der Anstalt durften unter den großen Ulmen, Linden und Ahornbäumen sitzen, rauchen, auf den Rasenflächen schlendern und den grauen Eichhörnchen zusehen, die Nüsse und Samen zu ihren Höhlen trugen. Die rothaarige Wärterin hatte in der Zwischenzeit den Schritt von bloßer Toleranz zu aktiver Konspiration getan; sie erlaubte David, neben ihr auf der Bank zu sitzen, und rief die Frau herüber. „Margaret, dies ist David, der Mann, der schon öfter gekommen ist." Margaret blickte auf ihre Füße, barfuß in Tennisschuhen ohne Schnürsenkel. „Ich heiße nicht
Margaret, sondern Nora." Ihr harter, herausfordernder Blick traf David. Nach einem Moment sagte sie: „Wißt Ihr, wer mich verhext hat?" David schüttelte seinen Kopf. „Steht auch Ihr unter einem Zauberbann?" David wiederholte sein Kopfschütteln. „Man sagt mir, ich sei in einem Krankenhaus, das in Wahrheit ein Irrenhaus ist, richtig?" Als David nickte, fuhr sie fort: „Die Kutschen, in denen die Leute fahren, werden sie von gefangenen Dämonen gezogen, die stöhnen und mit den Zähnen knirschen und den Gestank der Hölle von sich geben! Ihr könnt nicht sprechen? Gut, dann werdet Ihr mir nicht sagen, daß ich jemand mit Namen Tuttle sei und daß einhundert Jahre wie im Flug vergangen wären. Gott im Himmel, wie bin ich dieser Worte müde. Sie haben das Fuhrwerk verbrannt und meinen Vater und meine Schwestern getötet. Eine alte Squaw brachte mich in ihren Wigwam und hielt mich wie eine Sklavin. Sie peitschte mich, weil ich ihre heidnische Sprache nicht verstand. Eines Nachts lief ich fort und verbarg mich in einer Höhle. Ich träumte von einem Mann, der mich heiratete und in ein goldenes Schloß brachte. Ich erwachte in einem fremden Bett, und ein Mädchen mit großen grünen Augen starrte mich an. Dieser Körper gehört nicht mir. Ich glaube, ich starb und kam in dieser Gestalt zur Erde zurück. Ich fühle mich so leer. Mein Leben ist ohne Freude. Meine Eltern, meine Schwestern, meine Heimat, alles ist verschwunden, als wäre es nie gewesen, es gibt nur diese verrückten Menschen und einen Kasten mit Bildern, die sich bewegen..." Sie begann zu weinen und die Wärterin legte ihr die Hand auf die Schulter. „Es ist jetzt Zeit, hineinzugehen, Margaret." „Mein Name ist nicht Margaret." „Natürlich nicht. Komm jetzt, wir nehmen unsere Medizin und werden ein bißchen schlafen..." Als David in seine Pension zurückkehrte, fand er eine Nachricht von Annes Mutter vor. Anne hatte ihr eine Postkarte aus Phoenix, Arizona, geschickt. ,Mama, es geht mir gut. Versuche nicht, mich zu finden. Anne.' Er schrieb Norma an, schrieb ihr, sie über die weitere Entwicklung zu informieren, und führ in die Stadtbücherei. Der ,Phoenix Republic' meldete keine mysteriösen Todesfälle, jedenfalls nicht an dem Tag, da Annes Postkarte abgestempelt worden war. Aber
in Tucson war ein Geschäftsmann auf dem Parkplatz einer Bank tot in seinem Wagen aufgefunden worden. Es war ein dürftiger Hinweis, aber er gab ihm die Richtung. Eine Zeitung aus Las Cruces, New Mexico, berichtete von einem zweiundvierzig jährigen Handelsvertreter, der tot in einem Motel gefunden worden war. Die Todesursache war unbekannt, die Polizei untersuchte den Fall. Ebenfalls dürftig, aber mehr hatte er nicht. In Sapulpa, Oklahoma, machte er Station und aß Hüttenkäse und Joghurt. Seine nächste Station war Shamrock, Texas, wo er warme Milch trank und ein halbes Weißbrot verzehrte. Als ihn die Müdigkeit übermannte, war er nicht mehr weit von Tucumcari, New Mexico, entfernt. Sechs Stunden später ging es weiter, und er fuhr bis Lordsburg durch, wo er Buttermilch und Zwieback zu sich nahm. Das Wetter war sonnig und frisch - sehr angenehm nach der feuchten Hitze in Missouri. Der Angestellte, der das Motel in der Nähe von Las Cruces leitete, war unzufrieden mit seinem Job und gelangweilt und schien Davids Nachforschungen als willkommene Abwechslung zu begrüßen. „Sie haben Herzinfarkt in den Totenschein geschrieben. Ja, das passiert öfter. Sie kriegen irgendein hübsches junges Ding in die Finger und glauben, sie wären noch dieselben wie in ihrer Collegezeit. Haben Sie ein persönliches Interesse an dem Mann? Oh, Sie kennen das Mädchen! Na, um die Wahrheit zu sagen, offiziell gab es kein Mädchen..." Eine Zehndollarnote wurde auf die Theke gelegt und verschwand augenblicklich. „Okay, da war also die Frau. Wenn Sie eine Beschreibung wollen, ich kann Ihnen keine geben. Ich kann nur sagen, ich war weg. Sie hatte die richtige Figur für ihr Gewerbe. Auch als sie noch den reichen Kerl am Arm hatte, machte sie mir Augen, und was für Augen! Sie waren grün, glaube ich. Das Haar war schwarzkupfern. Sie war hübsch und groß, größer als er, aber ihre Proportionen waren vollkommen, ich meine... äh, essen? Ja, sie hatten das Zimmer zehn Stunden, und sie aßen fünfmal in dieser Zeit. Ich glaube, als er im Sattel den Tod fand, platzte sie. Oder vielleicht platzte sie schon vorher, ich weiß es nicht. Niemand sah sie weggehen." David verzehrte ein Abendessen aus Hüttenkäse, grünem Salat und warmer Milch. Er kaufte alle örtlichen Zeitungen, die er finden konnte, und zog sich in sein Motelzimmer zurück. Die Zeitungen boten keine Anhaltspunkte, und er legte sich schlafen und träumte von einer grünäugigen Frau, die ihm eine Brust wie eine
reife Melone bot und dazu sagte: „Trinke die Milch des Lebes." Er wachte auf, als sein Weckradio die Nachricht plärrte: „... erklärte, die Salt-Verhandlungen würden fortgesetzt, bis eine Einigung zustandekäme. Und nun die lokalen Nachrichten. Der mysteriöse Tod eines Geschäftsmannes aus San Diego, Grover Maxwell, wird gegenwärtig von der Polizei untersucht. Mr. Maxwell wurde neben der Bundesstraße 80 in der Sierra Diablo tot in seinem Campingbus gefunden. Ein einheimischer Rancher, Her-man Snibble, entdeckte den Leichnam, als er nach entlaufenem Vieh suchte. Mister Maxwell war bereits seit ungefähr zwei Tagen tot... Bei einem Auffahrunfall in der Nähe von El Paso kamen fünf Personen..." David schaltete das Radio aus, kleidete sich rasch an und ging. Rancher Snibble reparierte gerade einen Transportanhänger für Vieh, den einer seiner Stiere beschädigt hatte. „Also, ich könnte Sie zu der Stelle führen, aber die Polizei war schon da und hat den Campingbus abgeholt. Ringsum ist alles Fels und Geröll, nicht mal ein beschlagenes Pferd würde Spuren hinterlassen. Das Komische an der Sache war, daß der Kerl ohne Hose auf dem Vordersitz saß. Irgendwie unwürdig, ohne Hosen zu sterben, nicht?" David aß zuckerlosen Haferbrei in einem Restaurant in Odessa und fragte sich, wo Anne nun sein mochte. Die Lokalzeitung gab ihm eine mögliche Antwort: in den rauhen Davis Mountains im westlichen Texas waren vier Schafhirten aus noch unbekannter Ursache gestorben. Man vermutete Alkoholvergiftung, weil der zwölfjährige Sohn eines der Männer überlebt hatte. Natürlich, dachte David. Er wandte sich an die Polizei und erfuhr, daß der Junge jetzt bei seinen Großeltern in San Angelo wohnte. Er fuhr hin und sprach mit einem scheuen, mageren Jungen mit dunklen Mandelaugen. - Wie sah die Frau aus, die euer Lager besuchte? Der Junge rannte ins Schlafzimmer und schloß die Tür ab. Der Großvater des Jungen, ein drahtiger Alter mit weißem Walroßschnurrbart, sagte: „Er hat Angst, daß auch er sterben wird." David schrieb: - Ich möchte nur wissen, ob eine Frau das Lager seines Vaters besuchte, bevor alle starben. Der alte Mann nahm die Fünfdollarnote und ging in den Raum, in dem der Junge war. Nach einer Weile kam er kopfschüttelnd heraus. „Die Antwort ist ja. Mehr will er nicht sagen." David fuhr hinunter nach San Antonio, wo er ein Hotelzimmer nahm und Zeitungen aus allen Teilen von Texas sammelte. Jähe
Todesfälle gehörten sozusagen zur texanischen Lebensart, aber die meisten wurden erläutert: Verkehrsunfälle, Alkohol, Drogen, Schlägereien, Herzanfälle, Selbstmorde, Morde. Er suchte nach Fällen mit der Markierung: Todesursache ungeklärt. So fuhr David nach Dallas, wo ein Mann tot in einem Treppenhaus aufgefunden worden war, aber es stellte sich heraus, daß jemand ihm den Schädel eingeschlagen Hatte. Er fuhr nach Brownsville, wo ein Toter neben einem Bewässerungsgraben gefunden worden war, doch als er eintraf, hatte die Frau des Verstorbenen einen Abschiedsbrief von ihm gefunden, und der Fall war geklärt. Er kaufte eine große Karte von Texas und markierte mit Nadeln, wo Tote gefunden wurden, über deren Todesursache nichts bekannt war. In der Gegend von Corpus Christi schienen sich die Fälle zu häufen, aber das hörte nach drei Tagen auf. Dann fiel David auf, daß die Zahl der unerklärten Todesfälle in Houston rasch anstieg. Wie die Zeitung ,Houston Post' meldete, war die Zunahme des Phänomens hauptsächlich bei Herumtreibern, Obdachlosen, Trinkern und Drogensüchtigen zu verzeichnen. Meistens schien der Tod um die Mittagszeit eingetreten zu sein. David hatte die Lebenserwartung eines Mannes, der mit Anne geschlafen hatte, auf sechs bis zehn Stunden berechnet. Das schien darauf hinzudeuten, daß sie zwischen Mitternacht und Morgengrauen auf der Jagd war. Vielleicht kam sie bei Tageslicht überhaupt nicht ins Freie. Er fuhr nach Houston und nahm ein Zimmer in einem billigen Hotel in einer heruntergekommenen Gegend. Da es erst zwanzig Uhr war, legte er sich auf die klumpige Matratze seines Bettes und machte Atemübungen. Er hatte gelesen, daß eine gute Sauerstoffzufuhr das Blut reinigte und den Nieren etwas von ihrer Arbeit abnahm. Um elf schwang er sich mit seinen Krücken hinaus auf die glitzernde Straße, zwischen zuschlagenden Autotüren, Mehrklanghupen, Trillerpfeifen und dem allgegenwärtigen Branden des Verkehrs. Nachdem er in die Gesichter von hundert hübschen Frauen gestarrt hatte, stand er sich plötzlich vor einer fast lebensgroßen Fotografie im Schaukasten einer Nachtbar mit Diskothek. Das Gesicht war von der Spritzpistole des Retuscheurs zu maskenhafter Starre geglättet, aber er war sicher, daß das Foto Anne darstellte. Außer einem hohen goldenen Kopfschmuck und einem Dreieck von der Größe einer Geldbörse hatte sie nichts an. Die Ankündigung darunter lautete:
Prinzessin Maya Täglich drei Auftritte David betrat einen ungefähr viereckigen Raum mit niedriger Decke und kleinen Tischen, die sich um eine halbkreisförmige Bühne drängten. Eine dünne Blondine zog ihr Höschen aus, während ein Dutzend Gäste desinteressiert zusah. David suchte sich einen Platz und bestellte Mineralwasser und Whisky, den er stehen lassen konnte. Ein müder Komödiant kam auf die Bühne und erzählte zwanzig Minuten lang abgeschmackte Witze, dann folgte eine stämmige Brünette, die sich die Kleider mit ruckartigen Bewegungen vom Leib riß und eine Viertelstunde damit verbrachte, sich von Gästen in der ersten Reihe liebkosen zu lassen. Der Raum wurde vom Zigarettenrauch mehr und mehr eingenebelt. David wandte den Kopf und sah, daß weitere Tische an der Rückwand aufgestellt wurden. Die unbekleideten Brüste der Kellnerinnen glänzten, als sie sich mit ihren Tabletts durch das Gedränge kämpften. Schließlich gingen die Lichter aus und nur ein rotes Punktlicht spielte über den Vorhang. Der Schlagzeuger schlug einen düsteren Rhythmus, während eine Stimme hinter der Bühne intonierte: „In alter Zeit, bevor der weiße Mann kam, pflegten die Indianer Yucatans Jungfrauen zu opfern, indem sie sie in einen heiligen Brunnen warfen. Hier auf dieser Bühne können wir Ihnen heute den berühmten Todestanz der Jungfrauen zeigen, dargeboten von unserer großartigen und berühmten Prinzessin Maya!" Kleine Spiegel klimperten in ihrem goldenen Kopfputz; silberne Quasten vom Saum eines langen blauen Gewandes umspielten ihre Knöchel, als sie barfuß zum Bühnenrand kam. Sie stand dreißig Sekunden lang unbeweglich da, dann, als weiße Scheinwerfer aufflammten, breitete sie ihre Arme und öffnete das Gewand wie die Flügel einer Fledermaus. Die weißen Scheinwerfer erloschen, das Gewand wurde wieder geschlossen, und der Tanz begann. In Davids Augen brannte noch immer die überraschende Vision ihres nackten Körpers, das Blut kochte in seinen Schläfen, als er ihre wirbelnde Gestalt beobachtete. Noch bevor ihre ziemlich kunstlose Darbietung, die nichts anderes als eine sexuelle Pantomime war, zu Ende ging, schrieb David eine Notiz und winkte der Kellnerin zu. Sie nahm die Fünfdollarnote, dann las sie seinen Zettel
und schüttelte den Kopf. „Die Prinzessin empfängt niemanden." - Sie wird mich empfangen. Bringen Sie ihr das. Er reichte ihr eine Papiertüte, in der die Schnitzfigur war. Die Bedienung nahm die Tüte, blieb aber stehen. „Passen Sie lieber auf, Mister. Für die Prinzessin interessiert sich ein ziemlich reicher Mann - ein wichtiger Mann, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es wäre besser für Ihre Gesundheit, wenn Sie sich anderswo bemühen würden. Für zehn Eier könnte Ihnen die kleine Brünette etwas Zeit opfern. Oder ich könnte mir eine Viertelstunde freinehmen..." David schüttelte den Kopf. Die Bedienung zuckte die Achseln und verschwand. Fünf Minuten später drängte sich Anne in einem schwarzen Morgenmantel durch die Tischreihen. Sie blieb vor ihm stehen und blickte aus ihren großen grünen Augen auf ihn herab. Plötzlich erkannte sie ihn, und alles Unechte fiel von ihr ab und sie wurde wieder zum Kind. Sie nahm einen Stuhl ihm gegenüber und beugte sich mit der Vertraulichkeit einer alten Bekannten über den Tisch. „Warum haben Sie damals nichts gesagt?" Er zeigte auf seine Kehle und schüttelte den Kopf. „Sie hätten mir nachgehen können." Er nahm ihre Hand und legte sie an seine Beinprothese. Während ihr Mund ein mitleidiges O machte, nahm er seinen Block und schrieb: - Eine Mine ging unter mir los. Tut mir leid. Zu seiner Überraschung lächelte sie. „Na, es freut mich, daß Sie gekommen sind. Es ist so einsam, wenn man niemanden hat, mit dem man reden kann, den man einen Freund nennen kann. Aber Sie wissen bereits über mich Bescheid. Vielleicht wissen Sie, was mit mir los ist. Ich weiß es nicht." Sie seufzte, und Tränen füllten ihre Augen. David sah das elfjährige Mädchen, gefangen in einem großen, üppigen, wollüstigen Körper. Er schrieb: - Sterben die Männer alle? Sie beobachtete ihn längere Zeit mit einem Anflug von Mißtrauen, dann seufzte sie und deutete ein Achselzucken an. „Ich weiß es nicht. Lange Zeit war mir der Zusammenhang nicht klar. Die Männer waren bei mir... dann starben sie. Ich redete mir ein, es sei Zufall. Aber dann war da die Sache mit den Luftwaffenkadetten - wissen Sie davon? Na, die Jungen waren so nett; ich wollte sie alle auf einmal umarmen. Es ist, wie wenn man sich an eine große Tafel setzt und sich sagt, man will mit dem Essen aufhören, wenn man satt ist, aber irgendwie kriegte ich nie genug. Als dann
der Junge kam und mich erstach, dachte ich, endlich ist es vorbei. Aber ich starb nicht. Ich wurde ohnmächtig und kann mich nicht erinnern, Denver verlassen zu haben. Als ich wieder wußte, wo ich war und was um mich vorging, war ich in Salt Lake City und hatte nur die kleine Narbe am Bauch. Ich war hungrig und... scharf, würden Sie vielleicht sagen. Da waren Erntearbeiter, die wollten in Idaho Hopfen pflücken, und ich fing an, Wein mit ihnen zu trinken, und... sie wollten mich. Ich lockte sie nicht. Ich sagte immer nur nein, aber mein Körper sagte ja. Hinten im Lastwagen machten wir es... Sie wechselten sich ab. Als sie dann anfingen, sich krank zu fühlen, verließ ich sie und ließ mich nach Süden mitnehmen. Lange Zeit ging ich mit jedem, der mich wollte, und versuchte nicht über das nachzudenken, was später geschehen würde. Ob ich jemals bei ihnen blieb, wenn sie starben? Ja, da war ein Mann, der mich in New Mexico mitnahm, er hatte eine Menge Lebensmittel in seinem Campingbus und wollte die Nacht mit mir unter den Sternen verbringen. Um Mitternacht bekam er Schüttelfrost und Fieber. Er begann mich mit dem Namen seiner Frau anzureden, hielt sich an mir fest und fragte, erinnerst du dich an dies, erinnerst du dich an das? Sein ganzes Leben spulte sich vor ihm ab. Zuletzt blinzelte er mich an und fragte, wie hast du es gemacht? Ich sagte, ich wisse es nicht und ich könne nichts dagegen tun. Darauf sagte er, ich solle mich selbst töten, um der Menschheit willen, und dann hörte er auf zu atmen. Alles begann schwarz zu werden. Ich hatte das Gefühl, auseinanderzugehen, mich zu einem dünnen Netz auszubreiten, das den Mann bedeckte und einsaugte. Als ich aufwachte, saß der Mann immer noch mit offenen Augen da und seine Zähne grinsten mich an. Ich nahm etwas Essen mit und ging in die Berge. Aber ich wurde durstig, und mein Verstand geriet durcheinander, und die Felsen sahen bald wie komische und unheimliche Gestalten aus, wissen Sie... Ich fand einen Mann mit langem schwarzem Haar, der auf einem Lieferwagen saß und Schafe hütete. Er gab mir Wasser zu trinken und sagte, ich solle mit ihm zum Lager kommen. Dort gaben sie mir zu essen und sangen Lieder, und ich fühlte mich so wohl, daß ich dachte, ich sei geheilt. Nichts werde passieren. Sie tranken Wein, und einer nach dem anderen ging mit mir in die Büsche. Alle bis auf den Jungen, der zu jung war. Am Morgen fühlten sich alle krank, und ich ging fort. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist."
- Sie starben alle. „Ah", sagte sie und starrte vor sich hin. „Ich tanze für die Leute und verdiene damit Geld", sagte sie. „Wenn ich mit der Arbeit fertig bin, gehe ich durch die Straßen, bis ich einen Betrunkenen finde. Ich sage mir, der Kerl stirbt sowieso am Alkohol oder einer anderen Sache. Und ich versuche es ihm angenehm zu machen, weil ich weiß, daß es sein letztes Mal ist. Aber es ist schrecklich, das zu wissen. Ich sehne mich nach einem großen, gesunden Mann, der nicht sabbert oder torkelt. Ich dachte, es wäre wundervoll, schön zu sein. Aber das hier... ist die Hölle. Der alte Mann, dem das Nachtlokal gehört, Haverill, zahlt meine Miete und kauft mir Geschenke, so daß andere mich nicht haben können. Wenn er mich besucht, sage ich ihm, ich hätte eine ansteckende Krankheit. Er sagt, er wolle mich nur sehen und anfassen. Aber ich weiß, daß er mehr will, und ich mußte ihm versprechen, daß es bald mehr gibt. Ich hasse ihn nicht. Ich will nicht, daß er stirbt. Aber was kann ich tun?" - Die Frau aus dem Fort ist jetzt in einer Heilanstalt, schrieb David. - Behauptet, hundert Jahre alt zu sein, erinnert sich aber an nichts. Ich glaube, sie hatte einmal die Kraft, die du hast. Komm mit, wir werden sie besuchen. Anne las den Zettel und erschauerte. „Der Gedanke, sie wiederzusehen, macht mir eine Gänsehaut, aber... einverstanden. Ich habe noch einen Auftritt. Gehen Sie in meine Wohnung, es sind nur ein paar Blocks von hier. Grenville Apartments, 1004 Bradley Avenue." Sie stand auf und streckte ihm die Hand hin. Er fühlte den prickelnden Schock, als er sie berührte, dann war sie fort und in seiner Handfläche lag ein Schlüssel. Er nahm seine Krücken und humpelte hinaus in die Nacht. Sie hatte eine Luxuswohnung mit dicken Teppichen, Samtvorhängen, Jadestatuetten und Räucherstäbchen. David stellte sich vor, in dieser sinnlichen Umgebung allein mit ihr zu sein. Die Türglocke läutete. David war verwundert, dann fiel ihm ein, daß sie ihm ihren Schlüssel gegeben hatte. Er öffnete die Tür und sah zwei massige dunkle Gestalten, eine mit erhobenem Arm. Er riß den Kopf zur Seite, und der Totschläger traf seine Schulter wie eine explodierende Granate. Er taumelte, benommen vom Schmerz, und fühlte ein aufwärtsstoßendes Knie gegen seinen Brustkorb krachen und den Atem aus seinen Lungen treiben. Er wollte sagen, daß er ein kranker Mann war, daß ein paar Schläge
wahrscheinlich ausreichen würden, ihn zu töten. Der Schmerz überflutete ihn mit gelbroten Wellen, und er fühlte, wie er auf den Boden niederschwebte, sanft wie eine Feder.
5. Anne fühlte sich immer besonders zu Männern gezogen, die nichts von ihr wollten. Dazu gehörte auch Bill Ewing, der Kapitän von Haverills Segelschoner. Untersetzt, breitschultrig und sonnengebräunt, hatte der blondhaarige Skipper nur einmal mit ihr gesprochen, als sie den zweiten Tag auf See waren. Er hatte an ihre verschlossene Kabinentür geklopft und gerufen: „Schlechtwetterfront voraus. Nehmen Sie lieber Pillen gegen Seekrankheit." Nun waren sie seit Galveston drei Wochen unterwegs, hatten den Panamakanal hinter sich gelassen und segelten in den endlosen blauen Pazifik. Sie erkannte sein zögerndes Klopfen und den entschuldigenden Tonfall: „Ich muß Ihre Deckenbalken auf Trockenfäule überprüfen, Madam. Darf ich 'reinkommen?" Die Bitte um Erlaubnis war natürlich nur eine höfliche Floskel; sie war Haverills Gefangene und konnte die Kabine nicht verlassen, es sei denn, der Wächter sperrte das Vorhängeschloß auf. Sie bejahte, und der Kapitän kam herein und begann die Deckenbalken mit einem kleinen Hammer abzuklopfen. „Lieben Sie Ihr Schiff, Kapitän?" Seine Augen wichen ihr aus, und sie starrte aus dem Bullauge. Die Seeschwalben waren zurückgefallen, dies war der fünfte Tag mit blauem Himmel und sanfter Brise. „Ich bin keiner von diesen sentimentalen Dummköpfen, die denken, ein Schiff sei eine Frau. Ich weiß aber, daß es sich rächt, wenn man es vernachlässigt." Er klopfte weiter, dann steckte er den Hammer ein, nickte ihr zu und ging zur Tür. Anne bewunderte die gedrungene Breite seines Rückens, die dicken Muskeln, die unter dem Baumwollhemd spielten. „Wann ist der große Abend?" fragte sie. Er hielt inne und drehte sich um. „Wie bitte?" „Na, das Kapitänsdinner natürlich. Es ist der Höhepunkt jeder Schiffsreise, wie man weiß." Er schaute sie verdutzt an. „Also", sagte er lahm, „wenn Mr. Haverill nichts dagegen hat, werden wir heute abend auf dem
Achterdeck speisen. Er, Sie und ich." Anne legte beide Hände auf den Magen und machte eine Pantomime des Erbrechens. Der Kapitän zuckte die Achseln und ging hinaus. Anne hörte das Murmeln der Wache, das Einrasten des Riegels, das Klicken des Vorhängeschlosses. Sie tappte barfuß über die federnde Korkmatte, nahm das Bordtelefon auf und drückte den Knopf neben der Markierung ,Kombüse'. „Bari, ich habe Hunger." „Ja, Madam." Sie legte auf und ging zum Bullauge. Das Einwegglas verlieh den fernen Schönwetterwolken einen bläulichen Ton. Der große schwarze Seemann aus Curacao, Emil, sang leise, während er mit einer gebogenen Nadel ein Segel flickte. Die Muskeln seiner Arme gewegten sich wie geölte Kabel. Notley kam von der anderen Seite über das Deck. Er starrte einen Moment zu ihrem Bullauge herüber, wilde Intensität in den blauen Augen, in dem schmalen Gesicht. Seine gebleichten Augenbrauen zogen sich zusammen, seine dünnen Lippen krümmten sich in säuerlicher Mißbilligung. Dann wandte er den Kopf und sagte etwas zu Emil, und der Schwarze stand auf, und die beiden gingen zum Mannschaftsquartier unter dem Achterdeck. Emil überragte Notley um einen Kopf. Anne wußte, daß es ihnen verboten war, mit ihr zu sprechen oder auch nur durch das Bullauge zu spähen, wenn es offen war. Sie hörte den Riegel zurückgleiten, dann klopfte es dreimal in rascher Folge an die Tür. „Kommen Sie herein, Bari." Der indische Koch lächelte, als er das Serviertablett durch die schmale Türöffnung bugsierte. Seine weißen Zähne schienen im Kontrast zu seiner olivbraunen Haut beinahe zu fluoreszieren. Mit beiläufiger Anmut nahm er den Deckel von einer silbernen Schüssel und löffelte dampfenden Reis auf ihren Teller, um ihn mit Hühnerfrikassee und scharfer Currysoße zu bedecken. „Es ist erst drei Uhr nachmittags", sagte er, als sie zu essen begann. „Der Kapitän hat meine Kajüte inspiziert", sagte Anne. „Das hat mich hungrig gemacht." Bari, noch immer lächelnd, füllte ihre Teetasse. Seine langen Finger hatten die Farbe von Zimt, die Nägel waren perlgrau. Sie starrte in seine ruhigen, schokoladenfarbenen Augen. „Was machen Sie, Bari, wenn Sie nicht für mich und die anderen kochen?"
„Ich atme. Ich meditiere über den unendlichen Frieden des Atman. Ich bedenke meine Rückkehr nach Indien am Ende dieser Reise." „Und ich esse", sagte Anne. Der Inder neigte den Kopf. „In der Tat. Gestern einen zehnpfündigen Rotfisch. Ein Pfund getrocknete Aprikosen. Zwei Pfund Nüsse. Kartoffeln, Karotten, Bohnen, Reis..." „Die Seeluft regt meinen Appetit an." „Ich kontrolliere laufend den Kaloriengehalt und arbeite nach ernährungswissenschaftlichen Plänen». Was Sie gestern verzehrt haben, hätte für fünf ausgewachsene Männer gereicht." Anne zuckte unwillig die Achseln. Sie hätte das Thema lieber unerörtert gelassen, doch Bari fuhr fort: „Sie verbringen Ihre ganze Zeit in dieser Kabine. Ihre körperliche Aktivität beschränkt sich auf Spaziergänge auf Deck, wenn die Mannschaft unten zu tun hat, wo sie Sie nicht mit ihren Blicken beleidigen kann. Und doch bleibt Ihre Figur unverändert, Ihr Fleisch ist fest. Sie nehmen Berge von Energie auf, aber Sie verausgaben sie nicht durch Übungen, noch lagern Sie Fett ab. Das Rätsel beschäftigt mich." „Aber sonst interessiere ich Sie nicht?" sagte Anne. „Ich meine, als Frau?" „Ich bewundere Sie; Ihr Körper ist eine wundervolle Maschine. Aber ob ich eine Verbindung wünsche? Nein, ich suche meine Energien auf eine höhere Ebene zu heben." „Wie?" „Der Yogi kontrolliert seine Diät, so daß nichts unnütz vergeudet wird. Er kontrolliert seinen Atem, hält seinen Geist im Zaum und zieht seine Sinne aus dem Körper zurück. So erreicht er die Vereinigung mit dem Absoluten." „Wollen Sie es mich lehren? Können Sie das?" „Wenn Ihr Verlangen stark genug ist, kann ich Ihnen den Weg zeigen. Aber Sie müßten es Mr. Haverill erklären. Andernfalls würden seine Strolche mich den Haien vorwerfen, die unserem Schiff folgen." Nachdem er gegangen war, drückte Anne den Telefonknopf von Haverills Kabine. Als der alte Mann sich meldete, machte sie keinen Versuch, die Verachtung zu verbergen, die in ihrer Stimme schwang. „Der Kapitän sagte, wir könnten heute abend auf dem Achterdeck essen. Das würde mir gefallen, wenn ich luvwärts vor dir sitzen könnte." „In Ordnung, Anne. Ich habe dir schon oft gesagt, wie ich es
bedaure..." Sie legte den Hörer auf. Wieder erinnerte sie sich, wie David ausgesehen hatte, als sie die Tür zu ihrer Wohnung geöffnet hatte: das Gesicht blau wie entrahmte Milch, seine Krücken unter und neben ihm, die Plastikröhre aus seinem Arm gerissen und Blut auf den Teppich tröpfelnd. Haverill, der im Schatten gewartet hatte, war hervorgetreten und hatte gesagt: „Es sollte nur eine Warnung sein..." Sie hatte ihn angesprungen und mit den Fingern sein Gesicht zerkratzt, nur um von rückwärts niedergeschlagen zu werden. Sie war erst wieder zu sich gekommen, als die Jacht den Schiffskanal von Houston zur Golfküste bereits hinter sich gelassen hatte... Als sie Haverill auf dem Achterdeck gegenübersaß, überlegte sie, wie es wäre, wenn sie ihr Weinglas abbrechen und ihm den Stiel in die Kehle stoßen würde. Nicht gut, dachte sie; sie hatte den Tod vieler Männer verursacht, ohne sich absichtlich darum zu bemühen. Außerdem sah Haverill in seiner weißen Jachtmütze und der blauen Jacke sehr distinguiert aus, und der seidene Schal verbarg die faltigen Hautlappen unter seinem Kinn, die an einen Truthahn erinnerten. Die untergehende Sonne rötete die Narben, die ihre Fingernägel in seinem Gesicht hinterlassen hatten. Tiefe Bräune überdeckte die Leberflecken auf seinen Wangen und auf der fliehenden Stirn, und die scharfen dunklen Augen ließen ihn viel jünger erscheinen als seine siebzig Jahre. Wenn sie nur seinen Kopf sah, konnte Anne sich ihn als einen großen, mächtigen Mann vorstellen; doch sie wußte, daß der Kopf auf einem runzligen, spitzbäuchigen, dünnbeinigen Körper saß, der nichts Eindrucksvolles mehr hatte. „Es ist ein System von Konzentrationsübungen", erklärte sie. „Stellt das körperliche und seelische Gleichgewicht her und stärkt die Nerven..." Haverill schnitt mit finsterer Miene das Ende von seiner Zigarre ab. „Wenn du irgendwelche Spielchen mit diesem gottverdammten Hindu im Sinn hast..." „Bari ist ein Yogi." „Läuft auf das gleiche hinaus, nicht wahr? Fangt nur an und starrt einander auf die Bauchnabel. Aber ich werde die Augen offen halten." Am nächsten Tag übte sie im Bikini, während Bari einen weißleinenen Dhoti trug. Die Begrüßung der Sonne. Halasana, der
Pflug. Atemkontrolle, Bauchrollen, Sirchasana, oder Kopfstand schwierig selbst bei ruhiger See. Haverill sah aus seinem Liegestuhl zu, ohne die Zigarre jemals weiter als zehn Zentimeter von seinen Lippen zu entfernen. Nach einer Stunde verließ er den Platz und setzte sich auf seinen Drehstuhl am Heck, wo er mit seinem Colt auf die fliegenden Fische schoß. So ging es die ganze nächste Woche hindurch. Haverill pflegte die ersten fünf oder zehn Minuten zuzusehen, dann ging er, um über Radio mit seinen Anwälten zu konferieren, mit dem Wächter Romme zu spielen oder im Gesellschaftsraum zu sitzen und seine Pornofilme aus Dänemark anzusehen. Anne spürte, daß sie Fortschritte machte; wenn sie sich auf ihren Nabel konzentrierte, schwirrte etwas in ihr wie ein Hummel. „Die Kundalini-Kraft", sagte Bari. „Eines Tages wird sie eine feurige Bahn durch Ihr Rückgrat brennen und wie eine Rakete in Ihrem Gehirn explodieren." Seine Worte stachelten ihren Eifer an, und sie wollte den ganzen Tag üben, aber Bari sagte: „Sie dürfen die Muskeln nicht verkrampfen. Nun werden wir Pratyahara lernen. Legen Sie sich auf die Matte, ganz entspannt, die Füße etwas auseinander, die Handflächen nach oben. Atmen Sie, wie wir es geübt haben. Zählen Sie dabei. Einatmen bis vier, Atem anhalten bis sechzehn, ausatmen bis acht. Nach einer Pause das Ganze wiederholen." Bari ließ sich im Lotussitz nieder. „Nun lassen Sie Ihren Geist in Ihren Körper ausfließen. Stellen Sie sich vor, wie er alles ausfüllt bis zu den Spitzen Ihrer Zehen und Finger..." Sie schloß ihre Augen, aber noch immer konnte sie sein Gesicht sehen, seine weißglänzenden Zähne. Sie empfand vage Verblüffung, gemischt mit Bewunderung. Worte erschienen an der Oberfläche ihres Geistes wie leuchtende Kreide auf einer Wandtafel: ,Ich kann nicht verstehen, warum sie ihre schöne weiße Haut der Sonne aussetzt.' Sie hob den Kopf und blickte ihn an. „War das Ihr Gedanke, Bari?" „Wiederholen Sie." Sie tat es und er lächelte. „Sehr gut. Ja, es war ein kontrollierter, gezielter Gedanke." „Werde ich auch ungerichtete Gedanken aufnehmen können?"
„Das hängt von Ihrer Begabung, der Vervollkommnung Ihrer geistigen Disziplin und der Vollkommenheit der Konzentration ab. Wenn Sie das erreichen, werden Sie das Gefängnis des Körpers verlassen und der Falle Ihrer Sinne entrinnen." „Wie war das möglich?" fragte sie. „Unsere Seelen waren eins." „Dann - dann wissen Sie alles über mich?" fragte sie besorgt. „Ich meine, wenn Sie meine Gedanken lesen können..." Er nickte langsam. „Aber es gibt Geheimnisse. Sie sind ein junges Mädchen, doch Sie haben den Körper einer Frau." „Ist das ungewöhnlich?" „Nein. Aber es gibt einen Bereich, den ich nicht durchdringen kann." Er furchte seine Stirn, und seine Augen schienen ihre Fixierung zu verlieren. „Es ist etwas über dem Hals. Eine schlafende Kraft, die nicht zum Rest von Ihnen paßt. Ihre Lebensenergie fließt darum herum, weicht ihr aus." Sie hatte ein Vorstellungsbild von dem gelatineartigen Klumpen an der Wand des unterirdischen Raumes. „Ist es - eine Art Parasit?" „Vielleicht. Konzentrieren Sie sich auf das Innere Ihres Schädels, auf die Stelle hinter dem rechten Ohr. Sagen Sie mir, wenn Sie irgendein Gefühl in diesem Bereich haben." Anne schloß die Augen. Sie fühlte ihren Körper leicht werden, als sei er im Begriff, den Kontakt mit der Matte zu verlieren und aufwärts zu schweben. Hallo, sagte eine Stimme in ihrem Geist. Ich habe es gefunden. Jetzt dringe ich ein. Stille. Ein Jucken tief in ihrem rechten Ohr. Heiße Schmerzstiche wie Funken von einem Schleifstein. Ein verbalisierter Gedanke. Würmer in heißer Asche. Und dann... etwas anderes. Es stand so weit außerhalb ihrer Erfahrung, daß ihr Verstand es nicht erfassen konnte. Der Faden des Bewußtseins wurde zerschnitten und wieder zusammengefügt. Sie lag zitternd und steif da, erinnerte sich einer Geräuschexplosion, als ob ein Eisenblech aus großer Höhe herabgefallen wäre und die Echos noch in der Höhle ihres Schädels donnerten. Bari, was ist passiert? Seine Antwort kam wie aus weiter Ferne. - Sie haben es gehört. Es schrie. Anne öffnete die Augen und sah Haverill an Deck kommen. „Was zum Teufel geht hier vor?"
„Wir bringen unseren Geist in Einklang'', sagte Anne. Er blickte finster auf ihren Körper, und sein Mund bewegte sich, als wolle er spucken. Dann zog er seinen Morgenmantel aus und warf ihn über ihre Hüften. „Bari, bring mir einen Gin Tonic." Als Bari gegangen war, grollte Haverill: „Wälz dich nicht so herum. Das bringt ihn auf dumme Ideen." „Nicht Bari. Er ist nicht auf dem körperlichen Trip." „Bewegt sich wie eine Schlange", sagte Haverill und biß mit den Zähnen das Ende einer Zigarre ab. „Ich will den Hurensohn nicht in der Nähe haben. Ich setzte ihn irgendwo ab." Die Aussicht, den einzigen Freund zu verlieren, den sie außer David gefunden hatte, schien ihr unerträglich. Sie setzte sich auf und versuchte ihre Stimme ruhig zu halten, als sie erklärte: „Bari als Person ist mir gleichgültig. Er weiß nur von Dingen, über die andere Leute nicht einmal nachdenken. Und ich glaube, daß er mir helfen kann..." Sie brach ab, als Bari an Deck kam, einen dreibeinigen Serviertisch aufstellte und ein beschlagenes Glas in die Mitte der Platte stellte. Mit einer leichten Verbeugung und einem schnellen Blick zu Anne kehrte er zum Aufgang zurück und verschwand unter Deck. Anne erschrak zusammen, als ein heißer Schmerz durch ihren Oberschenkel schoß. Haverill hatte das weiche Fleisch ihres Schenkels zwischen Daumen und Zeigefinger genommen und drehte die Hand scharf herum. Er sagte gepreßt: „Als Mann ist er dir gleichgültig, wie? Du hältst mich für einen senilen alten Esel, nicht wahr?" In seinen Augen brannte ein mörderischer Zorn. Sein Griff war für einen alten Mann überraschend fest. In einer jähen, wilden Reaktion zuckte ihre Hand vor, so schnell, daß er den gekrümmten Fingern nicht mehr ausweichen konnte, deren Nägel über sein Gesicht kratzten. Drei rote Striche erschienen unter seinem rechten Auge, und rubinrote Blutströpfchen quollen hervor. Haverill ließ sie los und betastete seine Wange. „Dawson! Hierher!" Anne sollte fliehen, doch der athletische Wächter war bereits zur Stelle und vertrat ihr den Weg. Sie trat ihm mit dem Fuß in den Unterleib und spürte, daß sie ihn schmerzhaft getroffen hatte, doch Dawson bewahrte die unerschütterliche Sturheit eines angreifenden Grizzlybären. Er legte die Arme um sie und drückte zu, bis sie verzweifelt nach Luft schnappte. Nur undeutlich hörte sie Haverill sagen, Dawson solle sie in die Kabine bringen und ein-
sperren. Sie fühlte sich die Gangway hinuntergetragen, und Dawson machte sich einen Spaß daraus, ihr mit jedem Schritt ein Knie in den Hintern zu rammen. Kapitän Ewing starrte verdutzt aus dem Fenster des Ruderhauses. Emil stand auf dem Deck und grinste wie ein großer, fröhlicher Idiot... Dawson stieß die Tür zu ihrer Kabine auf und warf sie hinein, daß sie auf allen vieren landete. Dann hörte sie die erhobene Stimme des Kapitäns: „... scheißegal, ob Sie der Besitzer sind. Auf meinem Schiff werden keine Frauen verprügelt." Haverill sagte etwas Unhörbares, dann antwortete der Kapitän in einem Ton, der Resignation erkennen ließ: „Mr. Haverill, die nächste Landemöglichkeit sind die Marquesas, siebenhundert Seemeilen östlich von hier. Das sind zwei bis drei Wochen, weil wir die meiste Zeit gegen den Passat kreuzen müßten. Es lohnt sich nicht, die Reise zu machen, nur um einen Mann an Land zu setzen." Sie hörte einen Teil von Haverills unverständlicher Antwort, dann entfernten sich beide Stimmen. Kurz danach spürte Anne, wie das Schiff sich unter ihren Füßen bewegte. Es schien auf einmal leicht zu stampfen, und ihr Tee ergoß sich über den Rand der Tasse. „Was ist los, Dawson? Wo ist Haverill?" „Wir ändern den Kurs", kam die Antwort durch die Tür. „Der Chef hat zu tun." Anne setzte sich und ließ den Kopf hängen. Die Kursänderung bedeutete, daß Haverill seinen Machtkampf mit dem Kapitän gewonnen hatte und Bari irgendwo an Land setzen würde. Süßlicher, schwerer Marihuanarauch sickerte durch die Türritzen. Dawson törnte sich an. Das brachte sie auf eine Idee. „Dawson!" rief sie. „Kommen Sie 'rein." „Kann nicht. Der Boß würde einen Schlaganfall kriegen." „Sie könnten sagen, Sie hätten bloß das Geschirr weggeräumt." Eine Minute passierte nichts, dann hörte sie den Riegel zurückgleiten. Dawson trat ein und schloß die Tür. Seine Augen blinzelten und waren rotgerändert. Sein Körper, wenn auch mit einer Fettschicht versehen, hatte die schmalhüftige, breitschultrige Form eines Athleten bewahrt. Sie lächelte ihn an und sagte in gespielt scheltendem Ton: „Sie sind ein brutaler Mensch, Dawson.
Sehen Sie sich an, was Sie getan haben, als Sie mich in die Kabine trugen." Sie ließ die Jacke von der Schulter gleiten und zeigte ihm die Druckstellen, die seine Finger hinterlassen hatten. Dawsons Augen waren nicht auf den Arm, sondern auf die Brust gerichtet, die sie herauslugen ließ. „Aber das ist noch nicht so schlimm", sagte sie. „Sehen Sie den blauen Fleck, den Haverill mir verpaßt hat." Sie hob das Bein und zeigte ihm die Stelle am inneren Oberschenkel. Dawson schluckte, und seine Kiefermuskeln verkrampften sich unter dem Fett seiner Kinnbacken. Anne stand auf und ging zu ihrer Koje. Unterwegs warf sie die Jacke ab. „Schließen Sie die Tür ab, Dawson." Als sie dalag und ihn näherkommen sah, fühlte sie ihr Bewußtsein in einer roten Wolke des Verlangens untergehen. Daß sie Dawson verführte, hatte einen Grund und einen Zweck, aber im Moment konnte sie sich nicht erinnern, was es war. Später nahm sie sich soweit zusammen, daß sie fragen konnte, was mit Bari geschehen war. Dawson war angezogen und fühlte sich zufrieden und arrogant, nachdem er sie, wie er dachte, durch die schiere Gewalt seiner männlichen Unwiderstehlichkeit erobert hatte. Als sie die Teller zusammengeräumt hatte („Ich möchte, daß du deine Energie sparst", sagte sie dabei), zündete er sich eine neue Marihuana-Zigarette an und erzählte, daß Ewing und Haverill ihren Streit fortgesetzt hätten. Haverill habe ihm gedroht, ihn nicht nur zu feuern, sondern darüber hinaus dafür zu sorgen, daß er niemals wieder ein amerikanisches Schiff befehligen würde. Der Kapitän hatte daraufhin eingewilligt, Bari auf Maiden Island abzusetzen, einer ziemlich gottverlassenen Insel, die etwas näher war als die Marquesas-Gruppe. Nun kreuzten sie gegen den Passat, und Bari verbrachte die Nacht eingeschlossen in der Farbenkammer, um über seine Sünden zu meditieren. „Und ich hab' den Schlüssel", sagte Dawson. Als sie ihn hinausließ, sagte Anne: „Später heute nacht. In Ordnung?" Der Wächter nickte, dann runzelte er unsicher die Stirn. Gegen zehn klopfte er leise an ihre Tür. Als sie öffnete, hielt er sich den Magen und sagte: „Mir ist wirklich nicht danach. Der verdammte Kahn stampft und schlingert, daß man sich wie in einer Achterbahn vorkommt." „Leg dich auf die Koje." „Aber Haverill..."
„Der kommt nicht. Glaubst du nicht, daß ihm auch schlecht ist?" Innerhalb weniger Minuten schnarchte er. Anne nahm ihm den Schlüssel aus der Tasche und schlich barfuß an Deck. Der Wind heulte, der weiße Mond warf kaltes Licht auf die weißgezähnte See. Mittschiffs sah sie die Silhouetten von Emil und Notley, die mit einem wild klatschenden Segel kämpften. Sie öffnete die Farbenkammer und schlüpfte hinein. Im trüben, rötlichen Schein einer Zehn-Watt-Birne sah sie Bari ruhig auf einer Taurolle sitzen. Es war so eng, daß er nicht liegen konnte. „Ich war gerade im Begriff, das Schloß zu untersuchen", sagte er. Dunkle Blutergüsse zeichneten sein Gesicht, ein Auge war geschlossen, seine Nase klumpig angeschwollen. Sie kniete neben ihm nieder und berührte seine Stirn, aber er lächelte. „Mein Geist fühlt die Schmerzen nicht. Nur der Körper reagiert." „Wissen Sie, daß man Sie auf Maiden Island absetzen will?" „Nein. Das wird nicht sein. Ich werfe die Netze meines Geistes in die Zukunft und sehe etwas anderes." „Was?" Er schüttelte den Kopf. „Wenn ich es Ihnen sagte, würde die Zukunft in die Gegenwart eingeführt. Alles würde sich ändern." „Nun, warum nicht, wenn die Zukunft schlecht ist?" „Sie ist... nichts. Ich bin nichts. Sie sind das bewegende Element. Was geschieht in Ihrem Kopf?" Sie ließ ihren Geist inaktiv werden, wie er es sie gelehrt hatte; es war wie das Halten einer Schüssel Wasser, bis jede Oberflächenkräuselung aufhörte. „Hinter meinem rechten Ohr ist eine sich ausbreitende taube Stelle, wie wenn der Zahnarzt eine örtliche Betäubung macht." Bari nickte. „Ich nehme seine Gedanken wahr, oder was man vielleicht als Gedanken bezeichnen kann. Infantile Wut. Ich habe es gestört, nun möchte es mich töten." Er holte tief Atem. „Ich weiß nicht, ob es intelligent ist oder nicht, aber irgendwie beeinflußt es die Menschen um Sie herum. Ich fühle den Haß von allen an Bord. Sie glauben, Sie handelten logisch, aber Sie werden von der Kreatur gebraucht, um mich zu vernichten." „Wir werden das Dingi nehmen und fliehen. Können Sie damit umgehen?" „Ja." Er lächelte, doch seine Augen waren traurig. „Einverstanden. Lassen wir es auf diese Weise geschehen." Sie schlichen nach achtern, schwenkten das Boot an seinen Da-
vits aus und ließen es zu Wasser. Es tanzte wie ein Korken auf der turbulenten See. Bari kletterte hinunter und streckte den Arm aus, um ihre Hand zu nehmen. Als sie einander berührten, verstand sie, warum er gelächelt hatte. „Wenn das Ding in mir ist... dann wird es mit seinen Versuchen, Sie zu töten, fortfahren." „Ja." „Dann werden Sie allein segeln müssen." „Ich weiß. Leben Sie wohl, Anne." Er war nur wenige Meter entfernt, als sie schon das niederdrückende Gewicht der Verzweiflung fühlte. „Was kann ich tun, Bari? Wie werde ich das Ding los?" „Versuchen Sie Liebe an seine Stelle zu setzen." Sie sah, wie er das Segel des Dingis eingerollt ließ und an der Schnur zog, die den Außenbordmotor im Heck startete. Als der Auspuff spuckte, kam ihr die wichtigste Frage in den Sinn: „Was ist Liebe, Bari?" Zuerst dachte sie, der Außenbordmotor habe eine Fehlzündung. Doch dann fiel Bari wie von einem Faustschlag getroffen rücklings ins Boot, und eine dunkle Fontäne spritzte aus seiner Brust. Im Mondlicht sah sein Blut wie Tinte aus. Anne wandte sich um und sah Haverill über und hinter ihr an der Reling stehen. Sein Pyjama war zerknittert und um die dünnen Waden hochgezogen. Der Revolver in seiner Hand bockte und spuckte eine Flammenzunge über ihren Kopf. Sie blickte wieder hinaus und sah das kleine Dingi steuerlos in den Wellen treiben, sah die dunkle Gestalt Baris sich aufrichten und schwankend im Boot stehen. Er hielt beide Hände an das spritzende Loch in seiner Brust, und Anne sah, daß ein weiteres in seiner Seite erschienen war, etwas über der Hüfte. Zwei weitere Schüsse krachten. Baris Kopf wurde zur Seite gerissen, er verlor das Gleichgewicht und kippte seitwärts über Bord. Einen Moment lang konnte sie ihn noch zwischen den Wellen erkennen, dann war er verschwunden. Anne schloß die Augen. Baris Gesicht erfüllte ihren Geist. Sein Lächeln war hell wie der Sonnenschein. ,Liebe ist Aufopferung...' Sie hörte das kurze, heftige Grunzen von kämpfenden Männern. Aufblickend sah sie, daß die gedrungene Silhouette Kapitän mit Haverill rang. Wieder krachte der Revolver, und diesmal zuckte die Flamme aufwärts. Der Kapitän hatte Haverills Handgelenk gepackt und zurückgezwungen; nun entwand er die Waffe mit Leichtigkeit der Hand des alten Mannes. Haverill griff an, doch
Ewing stieß ihn rückwärts aufs Deck. Der alte Mann fing an zu schreien: „Dawson! Dawson! Kommen Sie her!" „Sie werden Ihren Gorilla nicht brauchen", keuchte der Kapitän. „Die Waffe ist alles, was ich wollte." „Ewing, das macht das Maß voll. Sie sind entlassen." „Sie können mich vom Kommando entbinden, wenn wir einen Hafen erreichen. Einstweilen klage ich Sie des Mordes an meinem Koch an." „Damit kommen Sie nicht durch. Er hat das Beiboot gestohlen..." „Halten Sie den Mund. Emil! Hol das Dingi." Der große schwarze Mann kam an die Reling, schwang einen Enterhaken und warf ihn wie ein Lasso. Haverill stampfte fort und bellte nach Dawson. Anne folgte ihm. Über seine Schulter konnte sie Dawson in ihrer Koje liegen sehen, anscheinend schlafend, die Augen geschlossen. Haverill stürzte zur Koje und packte ihn an den Aufschlägen. „Dawson, Sie elender Trottel! Was..." Ein plötzliches Schlingern des Schiffs ließ Dawson aus der Koje rollen, und er landete wie ein Sack auf den Korkmatten. „Eine Überdosis Drogen", sagte der Kapitän hinter ihr. „Quatsch", sagte Haverill. „Bei Shit gibt es keine Überdosis, und Dawson gab sich nicht mit harten Sachen ab." Er beugte sich über den Körper, den Rücken Anne zugekehrt. „Muß was gewesen sein, das er gegessen hat. Ihr verdammter Koch hat ihn vergiftet, und auf Ihren Befehl, vermute ich. Sie mußten ihn aus dem Weg schaffen, bevor Sie auf mich losgehen konnten." „Seien Sie kein Dummkopf, Haverill. Sie sind in einer schlechten Position, um Beschuldigungen vorzubringen." „Meinen Sie?" Der alte Mann fuhr erstaunlich behende herum, einen kurzläufigen Revolver in der zitternden Hand. „Sieht das nach einer schlechten Position aus, eh?" Er lachte meckernd. „Sie dachten wohl nicht, daß Dawson auch so ein Ding hatte, was? Dummkopf, sagten Sie? Sie selber sind einer, Ewing. Jetzt heben Sie die Hände über den Kopf und bewegen sich nicht. Anne, nimm ihm meine Waffe aus der Tasche und gib sie mir." Anne war, als habe ihr Körper sich in Blei verwandelt. Sie konnte das Bild der zwei Männer nicht akzeptieren, die einander gegenüberstanden, zwischen sich den toten Dawson. Sie schienen wie Modelle aus luftgefülltem Plastik; sie würden einander mit ihren Spielzeugrevolvern erschießen, und einer würde umkippen. Der
andere würde ihren Körper als Siegespreis beanspruchen, und sie würden mit dem trocken kratzenden Quietschen von Styropor kopulieren... „Anne, was ist los mit dir?" sagte Haverill mit bebender Stimme. Er ließ Ewing nicht aus den Augen. „Du bist nicht in Gefahr", sagte Anne. „Du wirst niemals bestraft werden, weil du Bari getötet hast. Also zum Teufel damit. Ich werde mir anderswo eine Koje suchen. Ich bin müde." Sie wandte sich um und ging. Hinter ihr sagte Ewing: „Ich gehe auch, Haverill." „Ewing! Ich werde schießen!" Der Kapitän blieb stehen und wandte den Kopf. „Ich kann mir nicht denken, daß Sie Ihren Verstand völlig verloren haben. Wie könnten Sie einen Hafen erreichen, wenn ich tot wäre?" Er trat hinaus und schloß die Tür. Drinnen bellte der Revolver dreimal auf. Drei splitternde Löcher erschienen in der Teakholztür, jedes einen Fuß höher als das andere, in einer schräg nach rechts aufsteigenden Linie. Der Kapitän taumelte mit erstauntem Gesicht herum, strauchelte und fiel vorwärts. Seine Finger kratzten über die Planken, als er hochzukommen suchte. Es gelang ihm, den Kopf ein paar Zentimeter zu heben, bevor die Kräfte ihn verließen. Sein Kinn fiel mit hölzernem Klang auf das Deck. Langsam streckten sich seine Beine zitternd aus; dann erschlaffte er plötzlich. Anne war schwach zumute. Wie in einem bösen Traum sah sie Haverill aus der Kabine kommen, die Waffe in der herabhängenden Rechten. Er sah wie eine Nagetier aus, das aus seinem Bau kam. Sogar seine Nase schien zu zucken. Er atmete kurz und keuchend und hielt die linke Hand gegen die Brust gedrückt. „Sagte ihm... daß er ein verdammter Dummkopf ist. Er dachte nicht... daß ich lernen könnte, dieses Schiff zu segeln. Von wegen. Hab' in zwei Stunden fliegen gelernt. Er hat Bücher und Seekarten..." Anne sah eine Bewegung draußen in der mondhellen See. „Wer wird die Segel bedienen, Kapitän Haverill?" „Die Mannschaft, natürlich. Was zum Teufel grinst du so albern?" Sie nickte zur See hinaus, und er wandte den Kopf. Der Schoner sank in ein Wellental, wurde von der langen Dünung wieder emporgehoben. Das kleine Dingi war auf dem nächsten Wellenkamm, mindestens hundert Meter entfernt. Anne sah Emils mas-
sige Gestalt unter dem Mast sitzen und die Riemen bedienen, während Notley an der Ruderpinne saß. Haverill rannte zur Reling. „He, Männer! Kommt zurück! Ich zahle euch hundert Dollar am Tag!" Das Dingi verschwand im Wellental, und auch die Jacht tauchte abwärts, bohrte ihren Bugspriet ins Wasser, schüttelte sich wie ein nasser Hund, und stieg wieder aufwärts. Das Dingi hatte sich weitere zwanzig Meter entfernt. Notley zog an der Schnur, und sie hörten das Knurren des Außenbordmotors. Haverill bellte: „Zweihundert Dollar pro Tag!" Emil hob die Riemen aus dem Wasser und zog sie ein. Anne lachte. „Sie halten dich für einen verrückten Mörder, Haverill." „Halt's Maul! Fünfhundert Dollar, Männer! Fünf-" Er brach ab, als der Schoner seitwärts in ein Wellental glitt, und die See das Deck überspülte. Sekundenlang stand Anne im knietiefen Wasser, dann erhob sich das Schiff, den nächsten Wellenhang zu nehmen. Haverill starrte auf das Wasser, das um seine Füße brodelte. „Tausend! Eintaus…" Er brach ab, einen verblüfften Ausdruck im Gesicht. Er wandte sich zu Anne um, öffnete den Mund, brach dann auf dem Deck zusammen. „Meine... Pillen. In meiner Kabine. Bitte!" Sie ging hinein, fand die kleine Schachtel, die er meistens in seiner Hemdentasche trug und kam zurück. Er hielt sich mit letzter Kraft an einem Seil fest, und Wasser strömte von seinem Körper. Sie stieß eine Tablette zwischen seine Lippen und fühlte, wie er schluckte. Nach zwei Minuten normalisierte sich sein Atem. „Wahnsinn", sagte er später, mit einem Kissen im Rücken in seiner Koje liegend. „Etwas kam und stieß mich aus dem Fahrersitz und übernahm das Steuer. Ich bin kein netter Mann, habe nie vorgegeben, einer zu sein. Aber ich bin auch nicht dumm. Ich dachte andauernd: blöder Bastard, das bringt dir nichts ein. Aber ich tat es trotzdem..." Seine Worte verstummten, und er schloß die Augen, atmete leicht, als ob er schliefe. Sie stand auf und verließ die Kabine. Sie wußten beide, daß er sterben würde, die Frage war nur, wer zuerst untergehen würde, er oder das Schiff. Der Morgen war gekommen, aber kein Sonnenschein. Die Wolken zogen tief über dem Schiff dahin, der Regen peitschte in schrägen Schleiern herab. Das Deck war übersät mit Seetang und Schaum, etwas war abgerissen und hatte die Reling auf der anderen Seite durch-
schlagen, aber sie wußte nicht, was es war. Über ihr knatterte ein Segel und überschauerte sie mit Tropfen. Sie hatte das Gefühl, sie müsse es irgendwie festmachen, bevor es sich losriß, hatte aber keine Ahnung, wo das lose Ende angebunden werden mußte. Als sie in das Durcheinander aus verknäulten Leinen und flatterndem Segeltuch blickte, wußte sie, daß sie unfähig war, auch nur die geringste Verbesserung ihrer Lage herbeizuführen... Als sie Haverill stöhnen hörte, ging sie wieder hinein. Seine Augen waren das einzige, was in seinem Gesicht noch lebte. Sie glitzerten dunkel in einer toten Maske, als er kaum merklich die Lippen bewegte. „Geld in meinem Gürtel hier... ungefähr zehntausend in bar. Gehört dir. Amulett an einer Goldkette... kannst du es herausholen?" Sie griff in sein Hemd und nahm das Medaillon heraus. Es zeigte das Miniaturfoto einer mageren müden Frau, das Haar glatt zurückgekämmt und hinter den Ohren aufgesteckt. „Deine Mutter?" „Nein... nur ein Bild. Dekoration. Drück auf das Gesicht, dreh es gegen die Uhrzeigerrichtung. Siehst du? Ein Schlüssel. Tu ihn wieder 'rein. Und häng dir das Ding um den Hals. Wenn du es zurück nach Houston schaffst, geh zur Texas Chemical Bank, Schließfach vier-drei-fünf. Zeig das Medaillon dem Präsidenten, wenn sie dir Schwierigkeiten machen. In dem Fach sind Wertsachen, Juwelen und Bargeld. Eine halbe Million. Gehört dir..." Er streckte die Hand aus und berührte ihr Knie; langsam kroch die Hand aufwärts, wie eine betagte Spinne. „Kann mich nicht mehr... bewegen. Alles wird dunkel. Anne... tanz für mich. Bitte." Sie tanzte - nicht mit dem Kopfschmuck und dem langen blauen Umhang, sondern mit einer seidenen Decke, die sie vom Bett des alten Mannes zog. Der einzige Rhythmus war der Trommelschlag in ihrem Geist, das einzige Geräusch war das Tappen ihrer bloßen Füße auf der Korkmatte. Während sie tanzte, wurde Haverills Atem heiser und röchelnd. Einen Augenblick empfand sie fast Liebe für ihn. Er war... ihr Vater, ihr Großvater, der Schulrektor, der Präsident der Vereinigten Staaten, alle die Figuren männlicher Autorität, denen zu gehorchen ihr seit ihrer Geburt anerzogen worden war. Und weil hier er der einzige Mann auf hoher See war, repräsentierte er die Menschheit schlechthin. Auch nachdem er nicht mehr atmete und die gebrochenen Augen in die Höhlen zurückgesunken waren, bedauerte sie, daß ihr Tanz keinen letz-
ten Funken von Leben erweckt hatte. Sie blickte auf das schlaffe und runzlige Symbol seiner Männlichkeit, seufzte und ging an Deck. Sie fühlte sich ausgelaugt, bitter und einsam. Der Wind hatte sich gelegt, die See hob und senkte sich in einer öligen, langen Dünung. Ewings Leichnam lag mit dem Gesicht nach oben da, die Beine unter einem Lukendeckel verkeilt. Sein Kopf rollte mit den Schlingerbewegungen des Schoners hin und her. Eine Möwe mit gelbem Schnabel landete auf der Brust des Kapitäns, plusterte ihr Gefieder auf, reckte die Flügel, und pickte ihm ein Auge aus. Dann schluckte der Vogel, wandte ihr den Kopf zu und schien zu zwinkern. Anne sprang vor und wedelte mit den Händen. „Seh, seh!" Der Vogel flatterte schwerfällig auf und ließ sich einige Meter entfernt auf der Reling nieder. Ich muß die Toten über Bord werfen, dacht sie. Sie betrachtete die ruhige See und erinnerte sich an einen Film, in dem der Körper eines Ermordeten um das Schiff getrieben war. Ich muß sie einwickeln und beschweren, damit sie sinken, dachte sie. Sie ging in ihre Kabine, um eine Decke zu holen, und sah Dawson. Sie hob ein Bein und versuchte ihn hinauszuzerren, aber seine Gelenke hatten sich bereits versteift. Eine Wolke von Fliegen erhob sich, kreiste und ließ sich wieder auf dem Leichnam nieder. Reifer Verwesungsgeruch erfüllte den Raum. Sie riß den Vorhang der Duschkabine herunter und wickelte Ewing hinein. Sie fühlte sich ungewöhnlich schwach und mußte eine Pause machen, als sie fertig war. Sie ging in Haverills Kabine und wickelte auch den alten Mann in eine Decke. Er war erstaunlich leicht, als sie ihn aus der Koje hob und an Deck schleifte; sie hatte das Gefühl, seine Knochen müßten hohl sein, wie die eines Vogels. Aber dann, als sie Dawson bewegte, wurde ihr klar, daß sie kräftiger war als zuvor. Dennoch fühlte sie sich nicht gut. Sie blickte die drei Toten an, die nebeneinander auf dem Deck lagen, und überlegte, wie sie sie beschweren und über Bord werden könnte. Es wäre einfacher, selbst über Bord zu springen. Es war ein verrückter Gedanke. Die Welt schien zu zittern und seitwärts davonzugleiten. Sie öffnete die Augen weit und spähte angestrengt und sah das Deck nur zwei Zentimeter vor ihren Augen. Die Nase schmerzte, als ob ihr jemand mit der Faust ins Gesicht geschlagen hätte. Muß sie mir gestoßen haben, als ich fiel. Ein schreckliches Gefühl, ohnmächtig zu werden. Wie wenn man ei-
nen mit dem Hammer kriegt. Sie hatte sich noch nicht erholt. Die Realität war wie ein dünnes Gewebe, das sich über einem schwarzen Abgrund spannte. Sie wollte nicht in den Abgrund sehen. Das Ding, das Bari geweckt hatte, verbarg sich dort, beobachtete sie mit kleinen roten Augen. Sie wollte nicht hinsehen, es war böse... Als sie erwachte, fühlte sie sich ausgeruht. Sie hatte den Eindruck, lange Zeit geschlafen zu haben, und doch hatte die Sonne den Zenit noch nicht erreicht. Auch fühlte sie eine Veränderung in den Bewegungen des Schoners. Sie öffnete die Augen und entdeckte, daß sie in Kapitän Ewings Koje lag. Benommen ging sie an Deck. Die meisten Segel hingen in zerschlissenen Streifen herab, aber drei Segel waren gesetzt und blähten im Wind. Sie öffnete die Tür zum Ruderhaus und sah, daß das Steuerrad mit den Speichen an den Pfosten gebunden war. Als sie zuletzt ins Ruderhaus geschaut hatte, hatte es sich ziellos gedreht. Jemand hatte die Segel gesetzt und das Schiff auf Kurs gebracht. Wohin? Sie wußte es nicht, aber die Sonne stand jetzt an Steuerbord. Entweder fuhr das Schiff zurück, oder es war Nachmittag statt Morgen... Muß Ewing gewesen sein, dachte sie. Oder er hat mir geholfen, die Segel zu setzen und das Schiff auf Kurs zu bringen. Sie hob die Hände und sah, daß sie schwielig waren, die Nägel waren gesprungen und eingerissen. Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand hatten die gleiche braungelbe Farbe, die sie bei Dawson bemerkt hatte. Sie hatte also auch geraucht. Jemand hatte geraucht. Ein hysterisches Kichern kam über ihre Lippen. Sie kehrte in die Kapitänskajüte zurück und blickte in seinen runden Rasierspiegel. Die Erleichterung, die sie beim Anblick ihres Gesichts empfand, machte ihr klar, wie dicht am Abgrund sie gewesen war. Die Sonne hatte sie mahagonifarben gebräunt. Ihre grünen Augen wirkten kühl wie Wasser, ruhig wie Sterne. Sie war jetzt in Ordnung. Und die Toten waren fort. Diese unangenehme Aufgabe war erledigt. Schwer zu sagen, was sie alles gewesen war. Wenn sie nach der Dunkelheit ihrer Hautfarbe urteilte, hatte sie mindestens eine Woche außerhalb ihrer gewohnten Identität zugebracht... Der Gedanke an die Zeit machte sie hungrig. Sie ging in die Kombüse und sah sofort, daß sie sie häufig benützt hatte. Der kleine Butanherd war mit Fett bespritzt, im Spülbecken stapelten sich schmutzige Töpfe und Pfannen. Unter dem Spülbecken war
ein Abfallbehälter voller Knochen. Es waren seltsam aussehende Knochen. Sie trat näher, bückte sich, sah die wimmelnden Maden. Es stank nach fauligem Fleisch. Sie beschloß, an Deck zu essen, öffnete den Kühlschrank und erstarrte. Der Kühlschrank war voll von Fleisch. Rippenstücke, Steaks, eine Schüssel voll Leber. Sie langte hinein und zog aus dem unteren Fach ein Gebilde, das wie ein Hühnerschenkel aussah. Sie betrachtete es einen Moment, dann warf sie es mit einem Aufschrei zu Boden. „Ein Daumen", murmelte sie, den Blick krampfhaft durch das Bullauge auf die offene See gerichtet. „Ich weiß, es war ein Daumen. Ich sah den Nagel. Am Ende war eine gelbliche Verfärbung, aber sonst war die Haut des Knochen bläulichweiß..." Sie blickte wieder auf den Boden. Dawsons Daumen. Wo war der Rest von ihm? Sie würgte und versuchte, sich zu übergeben, aber die Übelkeit steckte tiefer. Es war, als bestünde ihr Geist aus den Gedanken toter Menschen und ihr Körper aus den Leibern der Männer, die sie gegessen hatte. Sie haßte sich selbst, haßte das Ding, daß sie beherrschte. Sie mußte es zerstören. Sie ergriff die Verbindungsleitung zwischen Gasbehälter und Herd und riß sie vom Anschluß los. Sie schloß alle Bullaugen und äußeren Türen, dann öffnete sie die inneren Durchgänge. Als der Gasgeruch unerträglich wurde und sie zu benebeln drohte, zündete sie ein Streichholz an. Die Explosion fühlte sich an ihrem Körper weich an, unerwartet sanft, als bliese jemand behutsam eine Kerze aus... Dies mußte allem ein Ende setzen. Das Feuer würde kein Fleisch hinterlassen, das heilen konnte.
6. Ihr Element war das Salzwasser, der Meeresschaum und die Vielzahl von schwimmenden Lebewesen, die es mit ihr teilten. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie im Wasser gewesen war. Das Licht kam und ging viele Male, bevor sie zu der goldenen Münze am Himmel aufblickte und dachte: Sonne. Bald wurde die Scheibe von einer aus Silber ersetzt, die in einer purpurschwarzen See schwebte: Mond. Sie hatte keine Ahnung, woher die Geräusche in
ihrem Kopf kamen, aber es gab mehr: Stern. Himmel. See. Land. Dieses Wort hatte nichts mit der buckligen, blauen und weißen Welt zu tun, die sie von einem Wellenkamm aus sehen konnte; Land war grün und hügelig, mit Bäumen und Kühen. Ein Baum war unten dick und glatt und oben verzweigt und blätterig. Kühe waren haarige Dinger mit dicken gebogenen Spitzen, die aus ihren Köpfen herausragten. Eines Tages flog ein Schwarm bunter Vögel über sie hinweg. Ihr grünes und scharlachrotes Gefieder stand in lebhaftem Kontrast zu dem Grau und Weiß der Seevögel. An einem anderen Tag hörte sie das hohle Donnern der Brandung. Die Wogen begannen sie höher zu heben, und sie sah die langgezogenen Reihen weißer Wellenkämme auf einen breiten Streifen weißgoldenen Sandes zumarschieren, wo sie sich brachen. Hinter dem Sandstreifen sah sie die grünen Wedel von Kokospalmen, und noch weiter zurück erhob sich eine graupurpurne Masse, größer als die größten Wellen, die sie jemals erlebt hatte: Berge. Sie war aufgeregt und begeistert, Land zu sehen. Vor ihr lag eine neue Welt, in der es viel zu lernen gab. Sie war unvorbereitet auf den Schock, als ihre Füße den Sand berührten. Längst vergessene Muskeln kamen ins Spiel, als sie zu stehen versuchte; ein Brecher schleuderte sie zu Boden und auf die grauen Sandkörner, und sie überschlug sich mitten im weißen Schaum. Es bedurfte mehrerer Versuche, bevor sie in der blasigen weißen Gischt schwimmen konnte, und die Unterströmung zog sie immer wieder zurück, doch schließlich kroch sie auf den nassen Sand. Sie fühlte sich schwindelig. Die Erde schien zu schwanken. Dann begriff sie, daß ihre Muskeln, an den Rhythmus der See gewöhnt, ihre mechanischen Schwimmbewegungen fortgesetzt hatten. Sie erhob sich auf die Füße und war erstaunt zu sehen, wie weit es bis zum Boden war. Sie erinnerte sich, wie man ging: mit dem Absatz zuerst, dann über die Zehen abrollend, einen Fuß vor den anderen. Es war leicht. Und der Wind in ihrem Gesicht! Soviel besser als auf dem Bauch im Wasser zu liegen, oder auf dem Rücken zu treiben. Die Sonne fühlte sich stechend heiß an. Sie sah, daß ihre Haut runzlig geworden war, trocken und schuppig. Das Brennen in ihrer Kehle war Durst. Ich muß durch die Haut Wasser aufgenommen haben, dachte sie, während ich schwamm. Bzzzzzz... klick! Das Geräusch kam von einem kleinen schwar-
zen Kasten, der auf drei Beinen stand. Als sie näherkam, sah sie, daß er auf ein sternförmiges Meerestier gerichtet war, das von der Flut auf den Strand getrieben worden war. Sie wußte, wie es sich anfühlte; die Trockenheit, die als Jucken begonnen hatte, stach ihre Haut wie mit Nadeln. Sie kniete nieder, um das Tier seinem Element wiederzugeben. „Nicht anfassen!" Er kam mit wehendem schwarzen Haar den Strand heruntergerannt, braune Knie unter abgeschnittenen Blue jeans. Drei Meter von ihr entfernt blieb er stehen und starrte sie an. Er trug eine altmodische randlose Brille. In einer Hand hielt er eine angebissene ovale Frucht, deren tropfender Saft ihre Kehle schmerzen machte. „Haben Sie die Kamera bewegt? Wenn ja, ist die ganze Serie ruiniert." Bedeutungslose Geräusche in ihren Ohren. Zuerst brachte sie sie nicht mit den Bewegungen seines Mundes in Verbindung, doch dann begriff sie, daß er sprach. Was für eine komplizierte Methode, die Worte in ihren Kopf zu bringen! Sie wußte, daß er sich Sorgen um die Kamera machte, und schickte ihm die Botschaft, daß alles genau so sei wie es gewesen war. Aber er reagierte nicht, also öffnete sie den Mund und weckte die schlafende Erinnerung an das Sprechen. „Ich... habe... nicht..." Plötzlich verwirrt, begann sie die Stichworte zu sortieren, die sein Geist ausschickte. Angefaßt. Berührt. Bewegt. Herumgepfuscht. Beschädigt. Er runzelte die Brauen. „Sind Sie high, oder was? Hier, halten Sie mal." Sie nahm die Frucht aus seiner Hand und fühlte den kühlen Saft über ihre Finger rinnen. Sie wollte sie in den Mund stecken, zögerte aber wegen der Feindseligkeit, die er immer noch ausstrahlte. Sie sah ihn mit der Kamera hantieren und in ein rechteckiges kleines Glasfenster spähen. Sein glatter brauner Rücken gefiel ihr. Sie hätte ihn gern berührt, doch hatte sie das Gefühl, daß etwas Unangenehmes geschehen würde, wenn sie es täte. „Was fotografieren Sie?" „Leben." „Das Tier stirbt aber." Er nickte, ohne aufzublicken. „Gehört zum Leben. Sterben. Für ihn ist Leben Wasser." Er richtete sich auf und sah sie an. „Was
ist das Leben für Sie?" Sie dachte an Bari - ein Gefühl von hoffnungsloser Sehnsucht mischte sich mit dem Krachen von Schüssen an einem stürmischen Abend. „Liebe." „Ich wußte, daß Sie das sagen würden." Er lächelte zum erstenmal. „Splitternackt am einsamsten Pazifikstrand Mexikos. Wo haben Sie Ihre Kleider gelassen?" „Ich weiß nicht. Ich bin lange geschwommen." Er kam näher und blickte ihr forschend in die Augen; dann trat er kopfschüttelnd zurück. „Ich weiß nicht - ich werde aus Ihnen nicht schlau. Aber ich glaube, Sie sollten eine Weile bei mir bleiben. Einige von den rancheros, die in der Gegend leben, könnten Ihre Erscheinung mißverstehen." Er nahm ihr die Mangofrucht ab und setzte sich in Bewegung. Als sie einen niedrigen Dünenkamm erreichten, sah sie unter den Bäumen neben einer Lagune ein Fahrzeug stehen. Unweit davon lag ein Schlafsack, und ein geschwärzter irdener Topf stand auf Steinen über einem schwelenden Feuer von Kokosnußschalen. „Ich lebe hier sozusagen vom Land. Früchte, Fisch und Kokosnüsse. Muscheln und so weiter." Er deutete auf eine große Filmkamera mit Stativ. „Ich mache einen Einmann-Film, der das Überleben im Dschungel behandelt. Mein Name ist übrigens Verne." „Anne." Sie sagte es ohne ein Gefühl von Identität; es war nur ein Etikett für die Konstruktion aus Knochen und Gewebe, die sie zufällig bewohnte. Er wiederholte den Namen, dann kniete er nieder und legte frische Kokosnußschalen in das Feuer. „Haben Sie Hunger, Anne?" „Wenn ich eine von den Früchten haben könnte, die Sie aßen..." „Mango? Selbstverständlich." Aus einem Strohkorb nahm er eine orangegelbe Frucht, schälte die lederige Haut zurück und gab sie ihr. Die Frucht hatte einen dicken süßen Saft, den sie mochte, obwohl er einen Beigeschmack von Terpentin hatte. Sie sah, daß er grüne Blätter auf die Oberfläche des kochenden Wassers streute. Dann nahm er den Topf vom Feuer, setzte ihn in den Sand und lachte. „Das ist einfach zuviel. Ein Mädchen kommt aus dem Wasser an den Strand und trägt nur ein Medaillon an einer Kette, weiß nicht, wo es gewesen ist oder wo es hin will. Und was mache ich? Ich mache Tee. Wenn ich versuchen sollte, so was zu filmen, würde man's mir nicht glauben." Er blickte zu ihr auf, plötzlich ernüchtert. „Sie haben eine hübsche Figur, aber wenn es Ihnen
nichts ausmacht, möchte ich Ihnen Hose und Hemd leihen, damit Sie nicht wie eine Wilde herumlaufen müssen. Okay?" Der Stoff scheuerte ihre Haut, aber sie mochte den Geruch von Schweiß und Tabak, der den Kleidern anhaftete. Verne schien sich zu entspannen, als sie bekleidet war. Sie tranken Tee, und er sagte: „Ich habe in Kalifornien Aktaufnahmen und solches Zeug gemacht, weil ich das Geld brauchte, um hierher zu kommen und meinen eigenen Film zu machen. Seitdem habe ich von weiblichen Körpern genug, verstehen Sie? Als ich Sie ohne Kleider sah, mußte ich ständig an Arbeit denken, eine Art Kater, könnte man sagen, aber ich komme eines Tages darüber hinweg." Er redete weiter, als sie am Strand Treibholz für das Feuer sammelten. Seine Philosophie erinnerte sie ein wenig an Bari. Als er die hungernden Kinder erwähnte, die er in einem Bergarbeiterdorf gefilmt hatte, fragte sie: „Hatten Sie nicht Mitleid mit ihnen?" Er hielt die linke Hand hoch, und sagte: „Wenn ich mir diesen Finger abschneiden würde, würde meine rechte Hand meine linke bemitleiden? Nein, ich fühlte ihren Schmerz und ihren Hunger." Anne nickte und erinnerte sich an eine Zeit, da sie in ständigem Hunger gelebt hatte. Später, als Verne Kartoffeln und Zwiebeln in eine gefettete Pfanne schnitt, lief ihr das Wasser im Mund zusammen, aber ihr Hunger hatte nichts von der Gier, die sie früher geplagt hatte. Ich werde gesund, dachte sie. Und dann fragte sie sich: Wie war ich krank? Sie suchte sich zu erinnern, aber es gab undurchdringliche Barrieren für ihr Gedächtnis. Sie sah Verne bei der Arbeit zu und dachte an David, der eine stählerne Klaue als Hand hatte. Warum hatte er sie gesucht? Sie wußte es nicht. Sie wußte auch nicht, wieso ihr plötzlich übel wurde, als Verne einen Rotfisch aufschlitzte und das Blut herausquoll. Am Abend bestand er darauf, daß sie seinen Schlafsack nehme, während er sich in einige Decken rollte, die er aus dem Landrover nahm. Sie fand es schwierig, sich in der Enge des Schlafsacks zu entspannen, aber nachdem sie sich ihrer Kleider entledigt hatte, war es nicht allzu schlimm. Sie blickte zu den Sternen auf und hörte sich Vernes Bericht an wie er zum Filmen gekommen war, als er bei der Armee in einer Nachrichtenabteilung gedient hatte. Das brachte ihre Gedanken auf Uniformen und ein muffiges, schmutziges Hotelzimmer. Draußen blinkte eine elektrische Leuchtschrift, und etwas bohrte sich in ihren Magen... Besser, man läßt die Vergangenheit ruhen, dachte sie.
Nach dem Frühstück ließ er sie die Kamera halten, während er ein Netz auswarf. Er machte ein Dutzend sinnlose Versuche, bevor er keuchend innehielt. „Die verdammten Bleigewichte machen einen fertig. Wollen Sie mal probieren?" Sie nahm das Netz und lief durch die Ausläufer der Brandung, bis sie die kleinen, knabbernden Fischgedanken aufnahm, mit denen sie so viele Monate gelebt hatte. Sie wirbelte auf den Fußballen herum und schleuderte das Netz hinaus, zog es an der Schnur wieder herein. Im Nylongewebe zappelten drei silbrige Fische. Er nahm die Kamera herunter und lächelte. „Wenn ich Sie sehe, komme ich mir wie ein Bündel von Brettern und Hölzern vor, die von rostigen Nägeln zusammengehalten werden. Eine so glatte Symmetrie der Bewegung - ich habe das Gefühl, daß der Raum für Sie ein flüssiges Medium ist, wie Wasser. Tun Sie etwas anderes. Öffnen Sie das Netz und werfen Sie die Fische wieder ins Wasser." Sie war froh darüber, denn sie wußte, wie elend die Fische sich fühlten. Als sie fertig war, verschloß Verne die Kameralinse mit einem Deckel und sagte: „Okay. Sie können bei meinem Film mitmachen, wenn Sie wollen - ich meine, wenn Sie nichts anderes zu tun haben." Sie hatte nichts anderes zu tun. Also spielte sie für ihn die Überlebende, sammelte Treibholz, machte Feuer. Sie wanderte im nassen Sand herum und grub mit ihren Zehen Muscheln aus. Sie erforschte den Dschungel, schnitt Bambusschößlinge, grub eßbare Wurzeln aus dem Boden. Sie kochte, aß und badete in der Lagune. Während der nächsten Woche behandelte Verne sie als Kollegin und einen Gegenstand seiner Filmarbeit. Als sie die gewundene sandige Fahrspur zu den steinigen, mit dornigem Gestrüpp bewachsenen Hügel hinauffuhren, sagte er: „Ich gebe den Film in Uruapan auf, dann komme ich zurück, weil ich noch etwas Zeit habe und Wellenreiten möchte. Ich werde Ihnen genug Geld geben, daß Sie nach Hause fahren können. Sie haben mehr als das verdient, aber das kann ich Ihnen erst geben, wenn ich für meinen Job bezahlt werde - wenn das je geschieht." Sie schwieg. Es gab dunkle und zwingende Gründe, warum sie nicht nach Hause zurückkehren konnte, aber die waren in den Höhlen der Vergeßlichkeit verloren. Auf einemal trat er so hart
auf die Bremse, daß alle vier Räder blockierten und der Landrover ein Stück durch den Sand rutschte. Sie sah eine meterlange Echse auf einem toten Stamm sitzen, den mit einem Zackenkamm geschmückten Kopf majestätisch erhoben. Der runzlige Hals irisierte grünlich und purpurn. Ein Beben der Angst durchlief ihren Körper. „Was ist das?" „Ein Leguan", sagte Verne, die surrende Kamera ans Auge gepreßt. „Im trockenen Hügelland trifft man sie häufig an, aber ein so großes Exemplar habe ich noch nie gesehen." Sie mußte zugeben, daß es ein schönes Tier war, doch sie hatte ein Gefühl von etwas monströs Bösem. Für einen Moment verwandelte sich die Landschaft in einen Kasemattenraum, der nach altem Staub roch, und von den Deckenbalken starrte ein einzelnes Auge voller Haß und Abscheu herab... Sie war froh, als sie weiterfuhren, und mehrere Minuten vergingen, bis die heiße Sonne ihre Gänsehaut wieder glättete. In der Stadt wirkte Verne unscheinbar und unterwürfig, wie er vor dem Postschalter in der Schlange wartete. Anne ging hinaus und setzte sich in den Wagen; sie war sich der seltsam gleitenden Blicke der Frauen und des harten, raubtierhaften Starrens der Männer bewußt. Sie empfand ein Unbehagen bei dieser Begegnung mit der Welt der Menschen. Als sie das Gefühl analysierte, fand sie, daß sie nicht wegen Nahrung, Obdach und Kleidung besorgt war, denn diese Dinge waren immer leicht zu beschaffen gewesen. Nein, das Problem lag in ihr selbst. Etwas Übles und Böses verbarg sich in den dunklen Räumen ihres Geistes; sie spürte wie es sich regte, auf die dünnen Gedankenfühler reagierte, die von allen Seiten hereintasteten. Ein Mann in einem Ford fuhr vorbei, knirschte mit den Zähnen und hupte wütend die Menschen und Esel an, die ihm den Weg versperrten; er blickte sie aus schmalen Augen an, und sie sah sich nackt an eine Wand gekettet, während eine Stahlrute ihren Rücken blutig schlug, daß die Tropfen auf den Boden spritzten. Eine zerlumpte alte Frau kam heran und streckte die Hand aus, murmelte eine unverständliche Bitte. Anne hatte kein Geld. Sie blickte die alte Frau an und zuckte die Achseln; und wie das plötzliche Zuschnappen einer Mausefalle kam die Vision von tausend Rasierklingen, die ihre Haut aufschnitten, und den Saft aus ihrem Körper ließen, bis auch sie vertrocknet, runzlig und alt wäre. Haß, Haß! Gibt es denn niemanden hier, der liebt?
Sie war froh, als Verne endlich aus dem Postamt kam. Er fuhr durch das Gewimmel von Fußgängern und Eseln und Marktverkäufern zur Busstation, hielt an und schaltete den Motor aus. Seine Bewegungen schienen langsam und schwer. „Ich werde mir den Fahrplan ansehen und Ihre Fahrkarte kaufen. Wohin wollen Sie fahren?" „Oh... irgendwohin. Ist mir gleich." Er blickte geradeaus, trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. „Ich komme wie Wasser, und wie Wind gehe ich. Ist das Ihre Einstellung?" Er lachte, doch sein Gesicht blieb nüchtern. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie mit mir an den Strand zurückfahren." „Ich will Sie nicht behindern." „Nein, hören Sie." Er wandte sich um und sah sie an. „Als ich Sie das erstemal sah, sagten Sie, das Leben sei Liebe. Ich kam nie dazu, Sie zu fragen, was Liebe sei. Jetzt könnten wir uns vielleicht damit beschäftigen." Liebe ist Aufopferung, dachte sie. So hatte Bari gesagt. Sie fühlte Wärme und Vertrauen, wenn sie an ihn dachte. Er hatte sein Leben ihretwegen verloren. Und nun dieser junge Mann - so unbekümmert, jung und frei, warum wollte er es ändern? Und warum hatte sie das Gefühl des Gleitens, Treibens, des unaufhaltsamen Abrutschens in einen Alptraum? „In Ordnung", sagte sie widerwillig. „Kehren wir um." Sie kehrten nicht zum gleichen Strand zurück, sondern fuhren zu einem Fischerdorf weiter südlich. Dort hatte ein Politiker ein luxuriöses dreistöckiges Strandhotel gebaut, offenbar in Erwartung einer Fernstraße, die aber das Zeichenbrett noch nicht verlassen hatte. Das Hotel hatte private Balkons, ein Schwimmbad und uniformierte Angestellte, die mit verschränkten Armen auf den polierten Marmorstufen am Eingang standen und ihnen finstere Blicke nachschickten, als sie vorbeifuhren. Verne fand eine Fünfzimmer-Pension mit einer strohgedeckten Veranda, von der aus man den Strand überblicken konnte. Ein halbwüchsiger Junge
spielte unter einer Gaslaterne mit einem älteren Mann Schach. Der Mann war im Unterhemd und benutzte eine zusammengerollte Zeitung als Fächer und Fliegenklatsche. Sie schliefen in dieser Nacht im selben Bett, aber als Verne seine Hand auf ihren bloßen Bauch legte, reagierte sie nicht, und er drehte sich um und schlief ein. Anne jedoch konnte nicht schlafen; die Wärme des Mannes neben ihr brachte Erinnerungen an andere Männer, Erinnerungen an billigen Wein und stachlige Schnurrbarte, Verkehrslärm und grunzende Leidenschaft in dunklen Höfen und Durchgängen. Hundert Paare von Händen hatten sie berührt, und für jedes Paar sah sie ein Gesicht, und jedes Gesicht hatte einen Mund, der ihren Namen sagte: „Anne, ich will... brauche... Liebe." Als sie am nächsten Morgen den Strand entlanggingen, um einen ungestörten Platz zum Schwimmen zu finden, fragte er, warum sie am Abend zuvor uninteressiert gewesen war. „Ich möchte wissen, ob du nur müde warst, oder ob du... nicht für so etwas bist." „Früher war ich anders, aber... ich habe aufgehört." „Warum?" „Also, es ging immer schlecht aus." „Wenn du sagst, es ging schlecht aus, meinst du, es habe dir keinen Spaß gemacht?" „Oh, doch. Aber die Männer starben." „Was?" Er blieb stehen und starrte sie an. „Du meinst, du hattest einen Mann, und er ging hin und wurde erschossen oder was?" „Einer wurde erschossen. Nein, es gab zwei, die erschossen wurden, wenn man Ned mitzählt. Bari wäre der dritte, aber er hat nie, das heißt, wir haben nie..." Verne lachte und schlug ihr auf die Schulter. „Du siehst dich als femme fatale, wie? Du erinnerst dich einfach nicht gern an die Männer, die fortgingen und dich am nächsten Tag vergaßen." Er rannte ins Wasser und schwamm durch die Brandung hinaus. Anne setzte sich in den Sand, kämpfte den Drang nieder, ihm ins Wasser zu folgen. Sie war nicht sicher, ob sie jemals die Willenskraft aufbieten würde, wieder an Land zurückzukehren. Nach einer Weile kam Verne aus dem Wasser und streckte sich neben ihr in der Sonne aus. Wassertropfen glänzten in den Haaren auf seiner Brust.
„Ich habe nachgedacht", sagte sie. „Es gab keine." „Keine was?" „Keine Männer, die mich vergaßen, nachdem sie mich gekannt hatten. Sie sind alle tot, Verne." Er richtete sich auf und starrte sie an. „Meine Güte, du glaubst ja wirklich daran!" Das Thema wurde fallen gelassen, aber es schien wie eine Wolke über ihnen zu schweben. Sie hatten geplant, Nahrung zu sammeln und das Mittagessen am Strand zu kochen, aber drei Tage Restaurantessen hatten sie für das einfache Leben verdorben. Sie planten den Sonnenuntergang abzuwarten, bevor sie in die Pension zurückkehrten, doch ein kühler Seewind kam auf und blies prickelnden Sand gegen ihre Beine. Verne erschauerte. „Ich glaube, ich gehe zurück und sehe zu, daß ich was Warmes in den Magen bekomme. Los, laß uns laufen." Das Zimmer war muffig von der abgestandenen Hitze des Nachmittags. Ein anderer Geruch sträubte Annes Nackenhaare. Auch Verne rümpfte die Nase. „Irgendwo ist hier eine tote Ratte. Ich werde dem Wirt sagen, daß wir die Zimmer wechseln wollen." Pepe, der Wirt, trug ihren Koffer zu einem Raum, am anderen Ende der Veranda. Zehn Minuten später blickte Verne vom Zuschnüren seiner Turnschuhe auf. „Ich rieche es schon wieder. Muß ein toter Hund sein, der angetrieben worden ist." Sie aßen an diesem Abend in einer kleinen Fonda am Strand, die ein Strohdach und kein elektrisches Licht hatte. Die Petroleumlampe schwankte im Wind und ließ schwarzen Rauch aufsteigen. Lange Schatten tanzten über Wände aus geflochtenen Palmrippen. Dann und wann huschte eine Ratte über die rohbehauenen Deckenbalken über ihnen. Verne sagte, sie lebten in den Palmen und seien sehr saubere Tiere, aber sie bemerkte, daß er sie so wachsam beäugte wie sie ihn beobachtete. Sie hatte ihn nie trinken sehen, aber an diesem Abend trank er zwei Gläser Rum vor dem Muschelgericht und einen Tequila vor dem gebratenen Fisch. Er blieb sitzen und trank weiter, auch nachdem der Koch das Holzkohlenfeuer gelöscht hatte und nach Haus gegangen war. Seine Ellenbogen entwickelten die Neigung, seitwärts wegzurutschen, wenn er das Kinn auf die Hände stützen wollte. Um zehn stierte er sie unter halbgeschlossenen Lidern an und murmelte: „Laß uns gehen." Ihre Füße waren schwer wie Blei, als sie neben ihm zur Pension
ging. In ihrem Zimmer angelangt, stand er schwankend und sah ihr beim Auskleiden zu, die Hände an den Hüften. „Nun...?" „Gute Nacht." Sie zog die Decke über sich und blies die Lampe aus. Als sie seine Hände an ihrem Körper fühlte, blieb sie passiv. Das hatte ihn am Abend zuvor entmutigt, aber diesmal zögerte er keinen Augenblick. Er behandelte sie rauh, wie einen Gegenstand, der nur dazusein braucht. Nach einer Weile wurde ihr bewußt, daß es ihr gefiel. Sie veränderte ihre Lage, um sich ihm zugänglicher zu machen. Sie begann sich seinem Rhythmus anzupassen, sich in einer Weise zu winden und zu drehen, die den angenehmen Druck vermehrte, als plötzlich... Es war, als würde ein Sack über ihren Kopf gezogen. Sie konnte weder sehen noch hören noch fühlen, doch in einem entlegenen Winkel ihres Bewußtseins saß sie und beobachtete mit entsetzter Faszination, wie ihr Körper von einer anderen Macht beherrscht wurde. Ganz gewiß fühlte sie, die Beobachterin, nicht die Emotionen, die das Gesicht des Mädchens verzerrten und ihre Zähne entblößten, so daß sie wie Wasser im Mondlicht glänzten, noch konnte sie sich in irgendeiner Weise für die tierischen Laute verantwortlich fühlen, die aus ihrer Kehle kamen... Danach konnte sie sich daliegen sehen, die Beine ausgestreckt, die Hände mit den Handflächen nach oben, das vollkommene Klischee gesättigter Weiblichkeit. Sie dachte: ich muß zurück und meinen Körper wiedergewinnen. Dann war es, als ob die fremde Gegenwart einen Arm ausstreckte und den letzten Vorhang absoluter Schwärze niederzöge... Verne schüttele sie. „Siehst du es? Mein Gott, kannst du es nicht sehen?" Sie hob den bleiernen Kopf und starrte in die Dunkelheit. Einen Augenblick glaubte sie, sie sei blind geworden, dann begriff sie, daß das Zimmer dunkel war. Der schwere, süßliche Geruch des Todes hing wie eine Wolke über ihnen. „Es ist fort", sagte er. „Es lag da auf dem Boden und glühte. Eine blaue Strahlung in der Mitte und ringsum schwarz. Und was für ein Schwarz - schwärzer als schwarz. Wie Löcher im Nichts." Es kostete sie Mühe, die Worte über die Lippen zu bringen: „Bist du sicher?" „Teufel noch mal, natürlich bin ich sicher. Solche Halluzinationen habe ich nie gehabt. Nicht mal, wenn ich high war. Selbst wenn ich riechen, fühlen und sehen konnte, war ich immer in der
Lage, mir zu sagen, sieh mal, was für eine Halluzination, verstehst du? Aber das da - war etwas anderes." „Es gibt verschiedene Ebenen von Halluzinationen." „Ich weiß. Und ich will dir noch was sagen. Das ganze Leben ist eine Halluzination. Wir werden geboren und sterben, und die Szene ist ein einziger Ego-Trip. Trotzdem fürchtete ich mich eben. Dieses Ding war von anderswo." Er tastete umher, zündete ein Streichholz an, und die Petroleumlampe leuchtete hell auf. Sie sah den Schweiß auf seinem Gesicht glänzen, als er die Rumflasche ansetzte und trank. „Ein Ding, von dem man gar nicht träumen kann. Ich sagte dir, wie es aussah, aber das Aussehen war nur ein kleiner Teil. Nur um dir eine Vorstellung von dem kalten Ding zu geben, das da wartete und völlig ohne Gefühl am Boden kauerte, monströs und bösartig. Ich kann es nicht beschreiben. Ich hatte das Gefühl, daß ich sterben könnte und daß nicht einmal das Sterben helfen würde, denn das Ding reichte über die Linie, die Leben und Tod trennt. Verdammt noch mal, ich halt's nicht mehr aus! Ich muß hier 'raus." Sie sah ihn Hemd und Hose anziehen. „Ich glaube, es kam von mir, Verne." Er blickte sie eine Weile an. „Ja, vielleicht." Er wandte sich ab und wich ihrem Blick aus, als er fortfuhr: „Ich komme später zurück, wenn ich wieder einen klaren Kopf habe." Er wollte zur Tür, kehrte noch einmal um und griff nach der Flasche. Er sah Anne nicht an, als er hinausging, und sie hatte das Gefühl, daß er nicht zurückkommen würde. Wenige Minuten später hörte sie den Landrover anspringen. Die Gangschaltung knirschte, Reifen drehten durch und verspritzten Steine. Sie hörte ihn brüllend die Hauptstraße des Dorfs hinaufjagen, an der Kreuzung verlangsamen und dann in die schlaglochübersäte Landstraße einbiegen, die durch die Küstenebene führte. Noch nachdem er außer Hörweite war, sah sie den zuckenden Lichtschein seiner Scheinwerfer in der Ferne über Kokospalmen und Jacarandabäume tanzen. Viel später sah sie tiefe Dschungelschatten und Schlingpflanzen, die sich wie Schlangen im Mondlicht wanden. Auf einmal verspürte sie ein tiefgreifendes Entsetzen, eine lähmende Todesfurcht. Ihr Körper lag steif und erstarrt auf dem Bett. Ein blendender Lichtblitz breitete sich aus und durchdrang ihr ganzes Wesen, und dann... Frieden. Sie schlief.
In den nächsten drei Wochen regnete es jeden Tag. Anne aß ein wenig, doch sie war niemals hungrig. Sie wußte, daß Verne nicht zurückkehren würde, denn zwischen der Küste und den Bergen waren alle Straßen überflutet. Der Wirt sprach ein wenig Englisch. Er lehrte sie Schach spielen, aber gewöhnlich saßen sie im Hof, übten Spanisch und sahen dem Regen zu, wie er in Bindfäden vom Strohdach rann. Graugrüner Schimmel begann alles zu überziehen. Die Fischerboote fuhren nur selten hinaus, und wenn sie es taten, kehrten sie leer zurück, denn das ablaufende Regenwasser hatte die Fische aus der Ufernähe vertrieben. Die Fischer blieben in den Cantinas und tranken; es gab einige Schlägereien und Messerstechereien, aber Anne hielt das für normal. Eines Nachts wurden zwei Männer in der Nähe des Luxushotels erstochen. Man hörte mehrere Schüsse, Frauen kreischten und Männer brüllten, aber Anne dachte, sie träume. Erst am nächsten Morgen erfuhr sie, daß alles Wirklichkeit gewesen war, als der Wirt in ihr Zimmer kam und ihr mit verlegener Miene erklärte, daß die Leute aus dem Dorf sie dafür verantwortlich machten. „Ich war im Bett und habe geschlafen. Wie könnte ich damit zu tun haben?" Er breitete die Hände aus und sagte entschuldigend: „Frauen reden. Sie sagen, daß es im Dorf keine Gewalttätigkeit gab, bevor Sie kamen. Sie nennen Sie eine bruja. Böse Hexe. Sogar meine eigene Señora..." Anne war zumute, als hätte der graugrüne Schimmelpilz auch ihren Verstand überzogen. Sie fand es schwierig, sich zu einer Handlung aufzuraffen, aber sie brachte es fertig, zum Anlegesteg zu gehen und mit dem Kapitän des kleinen Küstendampfers eine Passage nach Acapulco zu verabreden. Er nahm ihr dafür den Rest von Vernes Geld ab und sagte, daß er um sechs Uhr abends fahren würde. Um fünf stand sie am Strand und sah den altertümlichen Dampfer qualmend ausfahren. Seltsame Dinge geschahen. Eine große Seeschildkröte wurde gefangen und zum Dorfmarkt gebracht. Der Fischverkäufer schnitt sie auf und begann die Eier aus ihrem Bauch zu verkaufen. In einem postmortalen Reflex hob das Tier den Kopf und biß dem Mann die Hand ab. In den Hügeln brach ein Damm, dessen
Stauweiher das Dorf mit Wasser versorgte. Drei Häuser wurden eingerissen und mit Schlamm bedeckt; zwölf Menschen starben. Danach war der Ort ohne Trinkwasser. Es gab nur einen Brunnen, und die Leute, die davon tranken, wurden krank. Nichts davon schien mit Anne zu tun zu haben. Sie fühlte, daß sie zunahm, und mit jedem Tag kostete es sie größere Anstrengung, aufzustehen und auf die Veranda zu gehen. Pepes Señora war eine dünne Frau mit Raubvogelaugen und zeternder Stimme; sie kreischte mit dem Personal, bis alle gingen, dann wandte sie sich gegen Pepe. Sie hatte erfahren, daß der Kapitän des Versorgungsdampfers Annes Geld genommen hatte, und nun verlangte sie, daß Pepe sie hinauswerfe. Pepe weigerte sich, und nach einem Zweikampf, der alle Müßiggänger im Dorf anzog, verließ die Frau das Haus. Anne wußte, daß sie gegen sie agitierte. An den wenigen Tagen, an denen es nicht regnete, pflegte sie in dem kleinen Park vor dem Postamt zu sitzen. Anfangs hatten die Kinder in ihrer Nähe gespielt und um Geld gebettelt. Jetzt versteckten sie sich hinter Büschen und beobachteten sie. Die Mutigsten warfen Steine. Die Überschwemmungen hatten Dutzende von verwilderten Hunden aus dem Tiefland an die Küste getrieben, wo sie Rudel bildeten. Eine Familie kehrte von einem Einkauf zurück und entdeckte, daß etwas in ihre Hütte eingedrungen war und zwei Kleinkinder getötet hatte. Einige behaupteten, es könnten keine Hunde gewesen sein, da die Körper nicht angefressen waren, doch verwilderte Hunde waren in der Gegend gesehen worden, und so richtete sich die Vergeltungsaktion der Männer gegen sie. Man tötete eine Kuh und vergiftete das Fleisch mit Strychnin; fast eine Woche lang echote das Geheul sterbender Hunde durch die Nacht, und der Verwesungsgeruch hing lange über dem Strand. Anne ging nicht mehr schwimmen, denn die verrottenden Kadaver wurden von den Wellen endlos hin und her gewälzt. Geier hockten in den Palmen und sogar auf den wenigen Bänken des kleinen Parks. Anne ging auch nicht mehr ins Dorf, weil die Leute sich von ihr abwandten und bekreuzigten. Selbst der Dorfpfarrer, ein freundlicher junger Mann, den das Weihen von Hütten und das Einsegnen von Toten hager gemacht hatte, begann sie zu meiden. Dann starb Pepe. Anne wußte es, als sie im Morgengrauen mit dem sterbenden Echo eines Schreies in den Ohren erwachte. Der
Alptraum war wie viele andere gewesen, die sie in letzter Zeit gehabt hatte: das abrupte Aufhören all ihrer Sinneswahrnehmungen, gefolgt von einem Gefühl des Schwebens durch dunkle Straßen. Oft hatte sie in Angst und Schrecken verzerrte Gesichter gesehen. Heute nacht waren es Pepes Züge gewesen. Sie lag da und lauschte den fernen Rufen. Sie bemerkte, daß der Regen aufgehört hatte, aber von den Bäumen und dem Strohdach tropfte es gleichmäßig weiter, ein Geräusch, das ihr seit Wochen vertraut war. Sie erinnerte sich, wie sie am Abend zuvor mit Pepe Schach gespielt und er dabei eine Pistole im Gürtel gehabt hatte. Warum? „Sie wollen mich umbringen. Ich weiß nicht, warum. Letzte Nacht versuchte jemand, mich im Schlaf zu ersticken. Ihr Zug." Sie wußte, daß er den Zorn der Dorfbewohner von ihr ferngehalten hatte; nun würde sie ihn zu fühlen bekommen. Sie stand auf, packte ihre wenigen Habseligkeiten, rollte sie zu einem Bündel und verließ die Fonda durch den Hinterausgang. Auf der Gasse kam ihr der Padre entgegen, der einen schwarzen Maulesel ohne Sattel am Strick führte. Er war barfuß, sein Gesicht unter dem breitkrempigen schwarzen Hut sah geisterhaft bleich aus. Stumm zeigte er auf den Maulesel, und sie saß auf. Gesichter spähten aus dunklen Eingängen, als er vor ihr durch die Gassen ging, den Maulesel am Strick führend. Anne fühlte die Angst und den Haß der Leute; sie sah Visionen, wie sie selbst an einen Pfahl gebunden war und Flammen an ihr emporleckten, aber niemand kam ins Freie. Eine dichte Wolkendecke hing niedrig über dem Dorf; die Luft war schwer und warm und gesättigt mit den Gerüchen des Todes und des Wachstums. An der Kreuzung gab er ihr den Strick. „Sie wissen, daß Pepe tot ist?" „Ja." „Ich frage nicht, woher sie es wissen. Ich bin ein gebildeter Mann. Ich habe keinen Aberglauben. Er lief aus der Fonda zum Strand hinüber und fiel tot zu Boden. Der Junge, der den Leichnam entdeckte, sagte, daß etwas auf ihm saß und fraß. Er konnte das Gebilde nicht beschreiben." Er warf ihr ein trauriges, entschuldigendes Lächeln zu. „Es war natürlich dunkel, und der Körper zeigt keine Verletzungen. Aber die Menschen glauben an diese Geschichten. Die Leute suchen hier immer äußere Gründe für ihre Schwierigkeiten, anstatt in ihre Herzen zu blicken und das
Böse dort zu suchen. Pues bien. Bleiben Sie auf der Landstraße. Im Busch gibt es Gefahren, doch Sie werden dort sicherer sein als hier. Vaya con Dios." Sie ritt den ganzen Tag, und am Abend kam sie an einen Fluß. Als sie den Maulesel über die Böschung trieb, hatte sie das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Sie sprang ab, band den Strick um einen Schößling und begann durch die triefenden Büsche und Farne zu stapfen, die am Ufer wuchsen. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie ging, doch sie schritt in dem vagen Bewußtsein aus, geführt zu werden. Getrieben war ein besseres Wort. Sie hatte die vollkommene Kontrolle über ihren Körper, aber jedesmal, wenn sie sich vom Fluß abwandte, verwirrten sich ihre Gedanken und sie bekam eine Gänsehaut vor Angst, bis sie sich zurücktastete. Sie dachte an Verhaltensforscher, die Ratten mittels elektrifizierter Gitter lenkten. Sie verstand die hilflose Wut, die die Ratten fühlen mußten, das verzweifelte Verlangen, zu verstehen, was verlangt wurde, damit keine weiteren Elektroschocks kommen würden. Dann sah sie den Landrover, gefangen in den Riesenwurzeln eines umgestürzten Baumes. Schlamm bedeckte ihn bis an die Kühlerhaube. Das Dach war von graugrünem Schimmel überzogen, und eine Würgfeige hatte vom Chassis Besitz ergriffen. Es war nicht schwierig, zu verstehen, was geschehen war. Verne hatte versucht, den Fluß bei der Furt zu durchfahren, hatte die seichte Stelle in der Dunkelheit verfehlt und war vom ansteigenden Wasser mitgerissen worden. Aber wie war er gestorben? Sie wußte es nicht zu sagen. Sein Skelett saß noch immer hinter dem Lenkrad, vom angetriebenen Schlamm aufrecht gehalten. Sein graugrün schimmernder Schädel verspottete sie mit seinem Elfenbeinlächeln. Sie fühlte keinerlei Emotion, sondern nur müde Verzweiflung. Ich bin hier, dachte sie. Minuten vergingen, und sie konnte fühlen, wie die Erde sich unter ihren Füßen drehte. Endlich schrie sie: „Was willst du? Sag mir, was ich tun soll!" Der Dschungel schien von ihrem Ausbruch schockiert und bestürzt. Die Rankengewächse, die Pflanzen und Bäume, alle hatten kleine Augen, die sie anstarrten. Sie flüsterten miteinander, beleidigten sie. Der Schädel grinste, und Vernes Zähne leuchteten in der Dunkelheit. Sie fühlte, wie sie sich auflöste. Sie sah ihr Fleisch von ihrem
Körper fallen. Sie bückte sich und berührte mit knöcherner Hand den schimmerndweißen Knochen ihres Schienbeins. Er zerbröckelte wie Hefe, und Gelächter echote durch die Bäume. Wer lachte? Nicht sie. Sie existierte nicht. Sie war von dem Ungeheuer verzehrt worden, von Anne war nichts übrig.
7. Per Anhalter nach Houston zurückgekehrt, ging sie als erstes in die Bank und öffnete Haverills Schließfach. Den größten Teil des Bargelds und den Erlös der unter ihrem Wert verkauften Juwelen legte sie auf ein Girokonto. Der Betrag machte eine sechsstellige Zahl aus, aber sie bezog keine Befriedigung daraus. Geld war nur in dem Sinne wichtig, als es ihr Macht und Beweglichkeit verlieh. Sie benötigte beides, um die doppelte Aufgabe auszuführen, die sie nun zum erstenmal klar vor sich sah: Zuerst mußte David Hall, der einzige Sterbliche, der ihr Geheimnis kannte, ausfindig gemacht und vernichtet werden. Dann mußte sie ein männliches Exemplar ihrer Spezies finden und sich mit ihm paaren. Wahrscheinlich würde sie den rechten Moment erahnen, genau wie die Menschen und die niederen Tiere Bescheid wußten, wenn sie durch den Instinkt zur Kopulation getrieben wurden. Die Jahre waren einsam gewesen, und kein Mann hatte jemals die nagende Leere ausgefüllt, die sie in sich fühlte. Zwei Tage später, um neun Uhr früh, stoppte ihr Mietwagen vor dem Farmhaus, das einmal ihrem Großvater gehört hatte. Der Name am Briefkasten lautete Reardon. Auch andere Veränderungen waren zu sehen; an der Eiche hing eine Kinderschaukel, Hühner kratzten zwischen den zerrupften und verkommenen Blumenstauden herum, die einmal Großmutters Stolz und Freude gewesen waren, und der Obstgarten hinter dem Haus stand voller Autowracks. Ein kräftiger junger Mann mit braunem Haar und grobem Gesicht ließ seinen Schraubenschlüssel fallen und kam herbei. Schmutziges Öl und Fett von Maschinenteilen schien in seine Haut eingebettet und zu einem unlösbaren Bestandteil seines Körpers geworden zu sein; nur seine leeren blauen Augen waren sauber. Sein feindseliger Blick wich einem Grinsen, als er den Kopf zum Wagenfenster hereinsteckte und sie aus der Nähe betrachtete.
„Gestorben", antwortete er, als sie nach Maynard Grosz fragte. „Ich glaube, vor drei Jahren; die alte Frau zog dann zu ihrer Tochter. Anscheinend ist sie inzwischen auch gestorben, aber ich weiß es nicht genau. Wir zahlen an die Bank. Die Adresse der Tochter weiß ich nicht. Sie wohnt irgendwo in der Stadt." „Auf der anderen Seite des Tals gibt es einen David Hall, dem das Haus dort gehört. Kennen Sie ihn?" „Ach, Sie meinen den Krüppel?" Er blickte zu einer kurzbeinigen, dunkelhaarigen Frau hinüber, die in der Haustür erschienen war, und lachte verlegen. „Also, ich kann Ihnen nicht viel über ihn sagen. Bald nach unserem Einzug hier fuhren wir 'rüber, aber der Kerl konnte nicht reden, schrieb nur Zettel. Er war... ich weiß nicht, wir gingen nie wieder hin. Ich glaube, die Leute gehen nie aus, nicht, Wanda?" Die junge, dunkelhaarige Frau sprach mit schüchterner Stimme. „Vor einem Jahr ließen sie das Telefon abholen und den elektrischen Strom abschalten und dann bauten sie vor ihre Zufahrt ein Tor mit einem großen alten Vorhängeschloß." Ein beleidigter Unterton kam in ihre Stimme. „Nachbarschaftliche Kontakte, oder wie man dazu sagt, gibt es da keine." Der Mann sagte: „Im letzten Sommer verlor der Ahorn einen Ast, der direkt über die Eingangsstufen fiel. Vor ein paar Monaten sah ich, daß der Ast immer noch dalag. Also nehme ich an, daß sie weggezogen sind." Anne dankte und fuhr die ungeteerte Straße hinunter, die zu einem Feldweg wurde und an dem erwähnten Tor endete. Sie kletterte hinüber und ging den unkrautbewachsenen Fahrweg zum Haus entlang. Der ungestrichene Holzbau hatte ein Obergeschoß und einen Küchenanbau. Die vordere Tür war mit einem verrosteten Vorhängeschloß gesichert, also ging sie um das Haus zur Küche, schlug mit einem trockenen Ast ein Fenster ein und kletterte hindurch. Sie glaubte sich hundert Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Die Herdstelle der Küche füllte beinahe eine ganze Wand aus, und über einem Haufen grauer Holzasche hing ein schwarzer gußeiserner Kessel von mächtigen Ausmaßen. An der anstoßenden Wand stand ein altertümliches gemauertes Becken
mit offenem Ablauf nach draußen, daneben sah sie auf einem wackeligen Tisch eine weiße Waschschüssel und eine Wasserkanne, beides aus schwerem Steingut. Rohe Bänke flankierten einen derbgezimmerten Tisch. In einem der Vorderräume fand sie ein Spinnrad mit einem Wollfaden auf der Spindel. Auf dem Sitz eines Schaukelstuhls lagen ein Wollkamm und eine Bürste, und daneben stand ein Sack mit lockerer Schurwolle. Oben fand sie ein altes, hohes Holzbett mit vier Pfosten und einem Himmel. Flickenteppiche lagen auf dem gescheuerten, staubbedeckten Boden. In den Schubladen einer Kommode ruhten Damenhüte eines Stils, den sie von den Bildern aus der Zeit des Bürgerkriegs her kannte, wollene Strümpfe und schwarze Schlüpfer mit Elastikbändern an den Knien. In dem anderen Raum stand ein eisernes Feldbett, ein zusammengeklappter Rollstuhl, in Regalen darüber eine Werkbank mit Werkzeug zum Holzschnitzen, einige Stücke unbearbeiteten Holzes als Materialvorrat in einer Ecke. Sie stieg die Treppe hinunter und verließ das Haus wieder durch das Küchenfenster. Eine alte Scheune war zusammengebrochen, die Wände nach außen gekippt und das Dach in die Mitte gefallen. Sie ging einmal herum und fand einen überwachsenen Pfad, der zu einem Obstgarten führte. Abgebrochene Äste lagen überall verstreut; ein Bienenhaus war zerbrochen und vom Sturm umgeworfen, und die Reste trockener Waben lagen überall im langen Gras. Die alten Stockrosen lenkten ihre Aufmerksamkeit auf das Grab. Sie wuchsen zwei Meter hoch in rosaroter und purpurner Pracht und verdeckten beinahe das hölzerne Grabmal, das kaum einen Meter hoch war, geschnitzt aus weichem Fichtenholz und anscheinend mit einer konservierenden Chemikalie behandelt. Unter dem geschnitzten Relief eines Engels mit ausgebreiteten Flügeln waren die Worte in das Holz geschnitten: NORA GATES die ein anderes Leben als MARGARET TUTTLE lebte 1846 – 1974 Also war David zu der Frau aus dem Fort zurückgekommen und hatte sie zum Sterben hierhergebracht. Und was hatte er von ihr
erfahren? Es würde nützlich sein, das herauszubringen, bevor sie tat, was notwendig war. Die Frau in dem kleinen Postbüro bestätigte, daß David Hall den Landkreis verlassen hatte. „Er bestellte seine ganze Post ab und gab keine Adresse zum Nachsenden an. Ich weiß nicht, wie er sich seine Invalidenrente überweisen läßt. Früher ließ er die Schecks manchmal zu einem Mädchen in der Stadt schicken, wenn er nicht da war. Janet Blyth war ihr Name. Ich erinnere mich, weil die Schwester meines Mannes einen Mann namens Blyth heiratete, walisischer Abstammung, aber keine Verwandschaft, soviel ich weiß." Janet, meine alte Freundin, dachte Anne. Sie fühlte sich von Erinnerungen bestürmt, als sie nach Norden fuhr, der Stadt entgegen. Sie und Janet beim Seilspringen, beim Händehalten um das Lagerfeuer, beim gemeinsamen Kauf eines neuen Plattenalbums von Bob Dylan... Seltsam, daß nur sieben Jahre vergangen waren, seit sie Janet zuletzt gesehen hatte. Anne fragte sich, ob sie sich tarnen sollte. Ein Blick in den Rückspiegel zeigte ihr, daß sie einigermaßen sicher war. Ihr früher rotbraunes Haar war fast schwarz, und die grünen Augen hatten einen gleichmütigen, fast starren Blick, der etwas Altersloses an sich hatte. Sie war nicht länger Anne; zuviel von dem, was geschehen war, stand in ihrem Gesicht geschrieben. Auch in der feinen Nachbarschaft am Seeufer hatte sich manches verändert; nur wenige Namen, die Anne aus ihrer Kindheit erinnerten, waren noch dort. Niemand blieb sehr lange oben auf der Stufenleiter; man stieg entweder höher oder rutschte ab. Als Anne langsam an ihrem alten Haus vorbeifuhr, konnte sie sehen, daß ihre Mutter abgerutscht war. Die Farbe um die Fenster blätterte ab, der Garten war ungepflegt, mit ungeschnittenen Hecken, eine der Betonvasen neben der Einfahrt war umgeworfen worden und zerbrochen, und nun wuchs Unkraut aus den Scherben. Anne fuhr um den See und parkte vor Janets Haus. Als sie den vertrauten Plattenweg hinaufging, kam der Spaniel, den sie als Welpen gekannt hatte, kläffend und japsend um das Haus gerannt. Zwei Meter vor ihr blieb er stehen, dann zog er sich kehlig
knurrend zurück. Anne kümmerte sich nicht darum; Hunde reagierten auf sie immer zurückhaltend. Janet öffnete die Tür und nickte mit der höflichen Reserviertheit, mit der man einen respektabel aussehenden, aber unbekannten Besucher begrüßt. Ein stämmiges Mädchen mit rundem Gesicht und derben Knochen, hätte Janet sich in keiner Weise herausputzen können, und sie besaß die Intelligenz, es auch gar nicht zu versuchen. Noch immer war ihre Nase mit Sommersprossen übersät, und die Vorderzähne hatten sich nicht ganz geschlossen, aber sie brachte es fertig, eine gesunde und angenehme Erscheinung abzugeben. Anne sagte: „Ich suche David Hall. Ich hörte, es sei hier bekannt, wo er sich aufhält." „Nein..." Janet zog die Stirn in Falten. „Sie kennen David?" „Ich bin ihm vor Jahren begegnet." „Also, er ist fort. Er sagte, er würde nicht zurückkommen. Niemals." Sie legte den Kopf schief und musterte Anne neugierig. „Wissen Sie, er hatte ein Nierenleiden und rechnete nicht damit, noch lange am Leben zu bleiben." „Ich weiß. Ich dachte, er hätte vielleicht eine Botschaft hinterlassen." Janet blickte über die Schulter, dann kam sie ins Freie und schloß die Tür. Sie bedeutete Anne, ihr zu folgen, und ging um das Haus in den Garten. Da war die alte Laube, noch immer von Kletterrosen umgeben, in der sie und Janet so manchen langen Sommernachmittag verbracht hatten. „Dort drüben am anderen Ufer wohnte mal eine Freundin von mir, Anne. Meine beste Freundin, als ich ein Mädchen war, aber sie lief fort. Ich bin jetzt sehr gut mit ihrem Bruder befreundet. Wir haben eine Wohnung in der Stadt. Billy besucht die Ingenieurschule. Ich bin heute nur zufällig zu Hause, weil meine Mutter krank ist. Billy und ich werden heiraten, wenn seine Familiensituation geklärt ist." „Ich sehe." Anne fand die Vorstellung von Billy und Janet als Ehepaar irgendwie interessant, aber keineswegs überraschend. „Was für eine Familiensituation?" „Da ist so ein Mann, der mit seiner Mutter lebt. Ein absoluter... Herumtreiber. Na, vielleicht hat er liebenswerte Qualitäten, aber ich habe sie nie entdecken können. Ich gehe nicht mehr hin, weil er immer versucht, sich an mich heranzumachen. Ich weiß nicht,
warum er es auf mich abgesehen hat, denn er hat keinen Mangel an Gelegenheiten. Er ist sozusagen eine Gottesgabe für einsame Hausfrauen. Jedenfalls hat er das ganze Versicherungsgeld von Billys Mutter für Motorboote und schnelle Wagen ausgegeben. Als nichts mehr da war, machte er sich davon. Wir hofften, er würde wegbleiben, aber nach ungefähr einem Jahr kam er zurück. Sie überläßt ihm das Einlösen ihrer Rentenschecks, und er gibt das Geld aus. Auf dem Haus liegt jetzt eine zweite Hypothek, aber er denkt nicht daran, etwas zurückzuzahlen, und Billy bekommt nie Geld. Ich muß in Vaters Labor arbeiten, um Billy durch die Ingenieurschule zu helfen, er trägt eine so schwere Last..." „Ja", sagte Anne. „Aber was ist mit David Hall...?" „Ach ja. Na, ich besorgte ihm einen Job bei meinem Vater, nicht aus Barmherzigkeit, denn David Hall war ein guter Chemiker. Er und ich arbeiteten zusammen, und wir verstanden uns gut - nicht in einem romantischen Sinne, aber wir sprachen über Tod und Leben und was in der Welt passiert. Er hatte Billys Schwester, meine Freundin Anne, gesucht und auch gefunden und erzählte mir, daß sie Seltsames erlebt habe, aber er erklärte das nie genauer. Er meinte, sie würde zurückkommen oder vielleicht jemanden schicken. Er hinterließ einen Brief für sie oder ihren Boten..." Das Mädchen wartete, den Kopf auf die Seite gelegt. „Ich werde dafür sorgen, daß sie den Brief bekommt", sagte Anne. Janet nickte. „Ich hatte gleich das Gefühl, als ich Sie an der Tür sah", sagte sie zögernd. Sie stieg auf das Geländer der Laube und griff unter den Dachbalken. Da hätte ich den Brief selbst finden können, dachte Anne. Wir hatten dort das pornographische Magazin versteckt, das ich Billy geklaut hatte. Die Erinnerung daran war bittersüß. Vergangene Dinge, die niemals wiederkehren würden. Lag ihr wirklich daran? Janet war das Mädchen, das sie selbst hätte werden können. Nein, es war ein sinnloser Ausflug in die Nostalgie. Selbst wenn sie gewollt hätte, sie konnte niemals wieder durch dieses Nadelöhr. Janet sprang herunter, einen gepolsterten Umschlag in der Hand. „David Hall wollte ganz sicher sein, daß nur Anne den Brief lesen würde. Um zu verhindern, daß er in die unrechten Hände gelangt, gab er mir eine Frage auf, die ich beantwortet haben muß, bevor ich den Umschlag hergeben
darf: Wer war der Besitzer der Jacht, die Anne von Houston wegbrachte?" „Haverill", sagte Anne. Janet streckte ihr den Umschlag hin. Ihre Finger zitterten. „Dann bist du Anne", sagte sie leise. „Wirklich Anne." „Ja. Sag es niemandem." „Aber..." Janets Lippen bebten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Was ist aus dir geworden? Du siehst so anders aus, älter... und schön!" „Der Preis ist ungeheuer hoch. Sei glücklich mit dem, was du hast. Leb wohl." Sie nahm Janets zitternde Hand in ihre, aber Janet kam näher und gab ihr wie ein kleines Mädchen einen Kuß auf die Wange, der Anne das Gefühl gab, hundert Jahre alt zu sein. „Leb wohl... Schwester." Anne fuhr zu einem Drive-in, bestellte ein Bier und riß den Umschlag auf. Liebe Anne: die Männer meiner Familie neigen zu kleiner Statur, aber unter der meist unauffälligen äußeren Erscheinung verbirgt sich ein monumentales Ego. Ich überlebte den Überfall in Houston, wenn auch nur um Haaresbreite. Eine Putzfrau fand mich und rief einen Krankenwagen. Die Krankenhauserlebnisse sind es nicht wert, festgehalten zu werden; man spülte mich durch wie ein Bündel schmutziger Wäsche, und nach acht Monaten entließ man mich als sauber, mit einer Lebenserwartung von vier Jahren - zwei weniger als zuvor. Im Klub erfuhr ich, daß Du mit Haverill auf seine Jacht gegangen bist. Wie meine Nachforschungen ergaben, wurde die Jacht zuletzt beim Passieren des Panamakanals gesehen und wollte Hawaii und von dort die Fidschi-Inseln anlaufen. Später wurde das Wrack gefunden, und man stellte fest, daß es eine Gasexplosion und Feuer an Bord gegeben hatte. Zwei Besatzungsmitglieder wurden geborgen und meldeten, daß Haverill den Verstand verloren und angefangen habe, die Mannschaft umzubringen. Du weißt besser als ich, was geschah. Meine Vermutung war, daß Du Deine Magie auf Haverill angewendet und seinen verdienten Tod herbeigeführt hast. Ich habe keine großen Sorgen um Dich. Da ich mich gut erinnere, daß Du eine tödliche Bajonettwunde überlebtest, schrieb ich Dich nicht als tot ab, wie die Behörden es taten.
Ich blieb hier, um mit Deiner Mutter in Verbindung zu bleiben und Deine Rückkehr abzuwarten. Zunächst setzte ich meine Besuche bei Margaret Tuttle in der Heilanstalt fort. Mein Leumund war gut, und da die unglückliche Frau Zutrauen zu mir faßte, erreichte ich, daß sie in meine Obhut entlassen wurde. Aber die Stadt verwirrte und erschreckte sie, also brachte ich sie zurück zur Farm und schuf eine Umgebung, in der sie sich wohlfühlen konnte. Mit jedem Monat, der verging, alterte sie um wenigstens ein Jahr. Es scheint, daß die Kreatur, als sie Margaret verließ, auch die Unterstützung zurückzog, die sie ihrem Körper und seinen Systemen gegeben hatte. Margaret starb nach drei Jahren, und sie sah wie siebzig aus. Obschon ihre Erinnerung niemals zurückkehrte, hatte sie kurze Perioden, in denen ihre Amnesie nachließ, so daß ich imstande war, mir im Laufe der Zeit ein ungefähres Bild von den Gewohnheiten der Kreatur zu machen. Inzwischen wirst Du all das erfahren haben, aber für den Fall, daß Du es nicht weißt, magst Du es nützlich finden. Wir müssen uns vergegenwärtigen, daß Margaret keine besonders intelligente Person war; in ihrer normalen Lebenszeit hätte sie einen Farmer geheiratet und ihm Kinder geboren und seine Wäsche gewaschen und wäre schließlich gestorben, ohne jemals über das Warum der Existenz nachzudenken. Sie reagierte auf die Kreatur in Begriffen der Hexerei. Sie sagte, eine Squaw, die sie im Wald mit einem Bären habe kopulieren sehen, habe sie mit einem Bann belegt. (Dies stimmte wahrscheinlich, wie Du später sehen wirst.) Anscheinend ging die parasitäre Lebensform von der Squaw auf Margaret über. Um zu erklären, wie dies geschah, muß ich die Hexerei-Analogien der armen Margaret aufgeben und in wissenschaftlichen Begriffen fortfahren. Die X-Parasiten (den Namen habe ich der Kreatur verliehen) kommen in zwei Geschlechtern vor. Ob dies natürlich ist oder eine Anpassung an die irdische Ökologie, weiß ich nicht. Sie beginnen das Leben als amöbenähnliche Wesen, die an schwarze Eidotter ohne Schalen erinnern - oder erinnern würden, wenn sie sichtbar wären. (Margaret sagte, sie könnten nur von jenen gesehen werden, die den bösen Blick haben, womit sie vermutlich übersinnliche Wahrnehmung meinte.) Da es ihm an natürlichem Schutz mangelt, muß der X-Parasit innerhalb von fünf bis acht Stunden einen Wirt finden oder sterben. Das Geschlecht des Organismus, den sie zuerst bewohnen, bestimmt ihr eigenes Ge-
schlecht für alle Jahrhunderte ihres Lebens. Während sie von einem Wirt auf einen anderen übergehen können - zum Beispiel von einer alternden Frau auf eine junge -, können sie nicht von einer Frau auf einen Mann übergehen oder umgekehrt. Andere Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind mir unklar. Ich stelle mir vor, daß die Kreaturen selbst einen Unterschied sehen, aber für uns ist es wie der Versuch, das Geschlecht einer Qualle zu bestimmen. Sie paaren sich alle sieben Jahre, was zur Geburt eines amöbenartigen Jungen führt. Diese Amöbe trachtet nun danach, in die höchste tierische Lebensform einzudringen, die sie finden kann. Wenn keine Menschen in der Nähe sind, wird sie parasitär ein Tier bewohnen und dort bleiben, bis sie eine höhere Lebensform findet, auf die sie übergehen kann. Der Übergang wird bewerkstelligt, indem der X-Parasit den vorgesehenen Wirt veranlaßt, den gegenwärtigen Wirt zu töten. Wird zum Beispiel ein bewohntes Kaninchen von einem Menschen erschossen, benützt der X-Parasit den körperlichen Kontakt zwischen dem Jäger und seiner sterbenden oder toten Beute, um in den Menschen einzudringen. (Die Neue Welt scheint vor dem Kommen des weißen Mannes von diesen Kreaturen überlaufen gewesen zu sein. Ein Zeugnis ist der Indianerglaube, daß Jäger die Geister der getöteten Tiere in sich aufnehmen. Ähnliches gilt für die Priester der Mayas und Azteken, die zu bestimmten Gelegenheiten geopferte Menschen verzehrten, um ihre Seelen zu erwerben.) Meine Information über die Ernährungsweise des Parasiten sind lückenhaft. Seine Diät scheint eine Art von Lebenskraft zu sein, die zu isolieren menschlichen Wissenschaftlern noch nicht gelungen ist. Gewöhnlich benützt der X-Parasit den Geschlechtsverkehr seines Wirts zur Nahrungsaufnahme, indem er ein wahrscheinlich fühler-förmiges Organ entsendet, das in den Körper des Opfers eindringt. Auf diesem Wege findet der Parasit auch selbst seinen Weg zu einem neuen Wirt. So kam Margaret vermutlich zu ihrer Nemesis, und so wird sie den Parasiten auch verloren haben. Ich nehme an, daß sie Deinen Vater verführte, und daß er dann von ihm auf Dich überging... Aber diese Erinnerungen mögen schmerzhaft sein. Das Ding, das Du in dem unterirdischen Raum sahst (ich hörte von Deinem Bruder Bill darüber), war einer von Margarets Sprößlingen in seiner amöbenähnlichen Phase. Instinktiv suchte der Parasit sich im nächsten verfügbaren Organismus zu verbergen,
der zufällig eine Eidechse war. Dein Bruder tötete sie, bevor der X-Parasit imstande war, sich in dem Tier einzunisten. So war er in einem, sterbenden Körper wie in einer Falle gefangen, unfähig die Energie abzusaugen, die er benötigte. Ich vermute, daß er starb. Unterdessen drang Margarets Parasit in Dich ein. Natürlich war er hungrig; er benötigte Nahrungsenergie, um Deinen Körper in eine für das andere Geschlecht mehr attraktive Form zu bringen. Was es wiederum ihm leichter machen würde, sich zu ernähren. Wahrscheinlich entnahm er die Form Deiner eigenen Vorstellung, wie eine ideale Frau aussehen sollte. Wenn Dein Ideal sich veränderte, würdest Du Dich ebenso verändern, um Dich ihm anzupassen. Auf diese Weise könntest Du Dich einer neuen Situation mit der Schnelligkeit eines Chamäleons anpassen, das heißt, wenn Du plötzlich in die Arktis kämst, würde Dir möglicherweise ein Pelz wachsen oder eine Transchicht unter der Haut. Ich konnte von Margaret nicht in Erfahrung bringen, wie der Parasit sich fortpflanzt und wie die Geschlechter einander während der Brunftzeit finden. Sie war schüchtern und gehemmt in einer Art und Weise, die Du Dir nur vorstellen kannst, wenn Du mit der viktorianischen Mentalität vertraut bist. Sie nahm für diesen Gegenstand totale Amnesie in Anspruch (die ich bezweifle), obwohl sie sich erinnerte, daß sie wiederholt mit demselben Mann geschlafen hatte. In jedem Fall deutet die Anwesenheit eines jungen Parasiten im Fort darauf hin, daß Margaret in den Wochen vor Deinem Besuch im Fort mit einem Mann geschlafen hatte, der Träger eines männlichen X-Parasiten war. Um jede noch so geringe Chance zu nutzen, habe ich die Namen aller Männer notiert, die sich in dem halben Jahr vor Eurem Besuch in die Besucherliste des Forts eingetragen hatten. Nachdem ich nun die arme Margaret begraben habe, werde ich mich auf den Weg machen und sie überprüfen. Wenn einer von ihnen der Wirt ist, werde ich eine Gelegenheit suchen, seinen X-Parasiten zu übernehmen. Die ethischen Fragen sind Legion, aber das Leben als Wirt eines X-Parasiten scheint mir besser als kein Leben. Ich lasse diesen Brief bei Janet zurück, da es mir nicht gelungen ist, einen Anhaltspunkt zu finden, der über Deinen Aufenthalt Aufschluß geben könnte. Außerdem habe ich jetzt keine Zeit, Dich zu suchen. Von der Lebensspanne, die die Ärzte mir zugebilligt haben, verbleibt weniger als ein Jahr. Wenn meine Suche erfolg-
reich ist, werde ich Dich finden. Wenn nicht... nun, das Leben ist kurz, und ich hoffe, Du kannst die Informationen dieses Briefes gebrauchen. David. Der Brief war zwei Jahre alt. Wenn die Ärzte recht behalten hatten, war David tot. Ein Rest menschlichen Gewissens sagte ihr, daß sie Mitleid für ihn empfinden solle. Aber wenn er tot war, dann existierte er nicht, also wen sollte sie betrauern? Den David, der gestern existiert hatte? Das Gestern existierte auch nicht, also... Es gab nichts, was zu bemitleiden wäre. Sie zündete den Brief an und drehte ihn, während die Flammen alles bis auf eine Ecke verzehrten. Dann warf sie die Asche auf den Kies und drückte auf die Hupe, um die Bedienung aufmerksam zu machen. Ein Mann fuhr auf die Parkfläche neben ihr und lächelte herüber. Sie bewunderte den muskulösen Arm, der auf dem Fensterrahmen ruhte - aber er trug eine Brille und seine Zähne waren nicht die besten. Sie aber mußte das Beste finden, denn nur die hervorragendsten Exemplare menschlicher Männlichkeit beherbergten den Partner, den sie suchte. Ein solcher Mann würde nicht ausgehen und Frauen nachsteigen; er würde es bequem haben und seine Wahl treffen, und welche Frau würde ihm widerstehen? Aber er würde ständig in Bewegung bleiben müssen, oder aus dem Verborgenen operieren, andernfalls würden ihm die Kadaver seiner Opfer die Tür verstopfen. Sie bezahlte ihr Bier und fuhr nach Westen.
8. Als sie am dritten Tag ihrer Reise das Motel verließ, wo sie übernachtet hatte, gewann sie den Eindruck, daß sie verfolgt wurde. Auf der Fernstraße sah sie wiederholt undeutliche Bilder vom Heck und von der Zulassungsnummer ihres Wagens - wie durch andere Augen gesehen. Aber in der Fahrzeugkolonne hinter ihr konnte sie den Verfolger nicht ausmachen. Auch schien keine Bedrohung vorzuliegen, nur eine verborgene Absicht. Nach hundertfünfzig Kilometern war der Verfolger noch immer hinter ihr. Sie hielt vor einem Restaurant, ging hinein und bestell-
te Steak und Eier. Sie wandte nicht den Kopf, als die Tür aufging, aber sie fühlte, wie er den Raum überflog und dann zu dem Platz ging, der an ihrem Tisch noch frei war. Als er sich setzte, witterte sie den Geruch von Alkohol und teuren Zigarren. Die Hand, die sich nach der Speisekarte ausstreckte, war lang und wohlgepflegt, mit manikürten Nägeln und einem glitzernden Brillantring am kleinen Finger. „Mir gefällt die Art, wie Sie essen", sagte er. „Wie ein vollkommenes Tier." Sie blickte auf. Sein Anzug war elegant und von bester Qualität, dazu modisch. Er hatte langes und volles Haar. Seine gleichmäßigen Zähne, wahrscheinlich durch Jakkettkronen verschönert, schimmerten unter einem seidigen blonden Schnurrbart. Sein Gesicht wich von den scharfen Kanten der Nase und des Kinns jäh zurück und verlieh ihm einen Ausdruck hundeartiger Wildheit. Sie erkannte in ihm ein Raubtier von einer anderen Klasse als der ihren - eines, das gern im Rudel jagte, das die Umgangsformen der zivilisierten Menschen annimmt, den Wolfskörper in feine Stoffe hüllt und seine Reißzähne in der Brillanz seines Lächelns verbirgt. Aber die Augen verrieten ihn. Hart, glänzend und blau, saßen sie tief in ihren Höhlen und beobachteten die Herde, warteten auf das erste Zeichen von Schwäche, um vorzuspringen und ein Opfer niederzureißen. Anne tat Schlagrahm in ihren Kaffee, rührte um und hob die Tasse an die Lippen. „Sie führen eine Untersuchung über Eßgewohnheiten durch?" Ihre Augen bohrten sich in seine. Er warf schnelle Blicke nach links und rechts, dann schien er sich auf sich selbst zurückzuziehen und seine Stimme klang verletzt: „Ich meinte das nicht in abwertendem Sinne." Sie sagte nichts, stand auf und zahlte ihre Rechnung, dann ging sie hinaus. Neben ihrem gemietetem Chrysler parkte ein langer grauer Luxuswagen italienischer Herkunft. Der Mann kam heraus und lehnte sich an die schnittige Karosserie, die Hände tief in den Taschen. „Würden Sie gern mit mir kommen?" Sie schüttelte ihren Kopf. „Keine Chance." Er lächelte wie ein Mann mit einem Geheimnis, zog die Linke aus der Tasche und entfaltete eine Banknote mit der Zahl 100 in jeder Ecke. Er kniff sie mit dem Zeigefinger wie Zigarettenpapier
und steckte sie durch ihr Wagenfenster. Anne schnippte ihr Feuerzeug an und hielt es unter die Banknote. Sie beobachtete seine Augen, als der bläuliche Rauchfaden aufstieg und die Flammen sich seinem Finger näherten. Dann riß er seine Hand zurück, und seine Augen zwinkerten schmerzhaft. Anne griff nach ihrem Schlüssel. „Warten Sie bitte. Sagen Sie mir, was Sie wollen." „Was bringt Sie auf den Gedanken, ich könnte etwas wollen?" „Ich sah Sie schon gestern in einem Restaurant. Sie hielten Ausschau." „Ja. Nach einem Mann, der den Tod nicht fürchtet." Sie lächelte und startete den Motor. „Sie sind nicht qualifiziert." Er wartete, bis sie rückwärts aus der Parklücke manövriert war und den Vorwärtsgang eingelegt hatte, dann rief er: „Ich kenne jemanden, der es ist!" Sie fuhr einige Kilometer, bevor sie ernsthaft darüber nachzudenken begann. In ihrer ersten Reaktion hatte sie ihn mit der großen Masse von Schürzenjägern in einen Topf geworfen, den Strandjungen, Bademeistern, Skilehrern, Friseuren und Gigolos, all jenen, die ihre Männlichkeit herumtragen wie ein Produkt, das verkauft, zu Bargeld gemacht, für freundliche Worte, kostenlose Mahlzeiten und Unterkunft verhandelt wird. Solche Männer verfolgten sie gewöhnlich nicht, denn sie zogen leichtere Beute vor. Doch sie sah im Rückspiegel, daß der graue Wagen einen halben Kilometer hinter ihr war, drei Wagen zurück. Sie bog in eine Seitenstraße ein und hielt. Eine Minute später stoppte er neben ihr und grinste aus seinem Wagen. „Was brachte Sie zum Anbeißen? Mein Stil?" „Ich möchte mehr über den Mann wissen, der den Tod nicht fürchtet." Er stieg aus und schlenderte herüber, wobei er die Wagenschlüssel an einem Finger herumwirbelte. „Er hat alles gemacht. Autorennen in den italienischen Bergen, Fallschirmabsprünge, Unterwasserexpeditionen, was Sie wollen. Er hat wochenlang in einer Taucherglocke gelebt. Er ist ein guter Polospieler, ein Tennischampion." Er nahm eine kleine Faltmappe mit Fotohüllen aus durchsichtigem Plastik aus der Tasche und gab sie Anne. Sie blätterte die Bilder durch, die einen jungen blonden Mann zeigten, der Blumen hielt, Siegestrophäen hob, Küsse von Filmstars entgegennahm, Hände schüttelte... und auf jedem Foto trug sein
Gesicht genau das gleiche Lächeln, zeigte genau die gleiche Zahl glänzender weißer Zähne. Sie betrachtete ein Bild von ihm, das ihn in der weiten weißen Hose und mit dem schwarzen Gürtel eines Karatemeisters zeigte und fragte: „Wovon lebt er?" Der Mann lachte. „Mister Van ist eine Viertelmilliarde schwer. Er tut, was ihm gefällt." „Mister Van?" „Dirk van Diemann." Der Name war Anne nicht bekannt - aber sie hatte auch nie in den Kreisen der Superreichen verkehrt, ebensowenig las sie die Klatschspalten, wo die Aktivitäten dieser Leute sklavisch und kriecherisch gemeldet wurden. „Gehört es zu Ihren Aufgaben, Frauen für ihn zu finden?" Er hob sein Kinn. „Ich bin sein Anwalt." „Und Dirk van Diemann kann es sich leisten, einen Anwalt als seinen privaten Kuppler zu beschäftigen, richtig?" Seine Lippen dehnten sich zu einem dünnen Lächeln. „Wenn es um vierstellige Zahlen geht, erscheinen Wörter wie Kuppler und Hure unnötig derb, würden Sie nicht sagen?" „Vierstellige Zahlen?" Sie lächelte, zog den Zündschlüssel ab und hielt ihn aus dem Fenster. „Ich habe einen Koffer hinten. Würden Sie ihn herausholen?" „Was ist mit Ihrem Wagen?" „Man wird ihn früher oder später entdecken. Und die Autovermietung hat einen Zweitschlüssel." Der Name des Anwalts war Joe Carrick. Er lebte dreißig Kilometer entfernt in einer Wüstensiedlung, die am Rande eines glitzernden blauen Sees entstanden war. Seine Wohnung war doppelstöckig und luxuriös, ausgelegt mit weißen Teppichen und mit einer Wendeltreppe zu einem Balkon, der das Wohnzimmer überblickte. Er trug ihren Koffer in eines der Schlafzimmer hinauf und schlug vor, daß sie bade und ihre Kleider wechsle. Seine Manieren waren brüsk geworden, und sie begann sich wie ein Gepäckstück vorzukommen. „Wann komme ich mit Mister van Diemann zusammen?" „Ich rufe ihn jetzt an", sagte er und ging hinaus. Im Badezimmer fand sie eine lange schwarze Badewanne mit vergoldeten Armaturen. Ein Alkoven mit Frisiertisch und Bidet zeigte, daß es für Frauen eingerichtet worden war. Sie ließ Wasser einlaufen, kleidete sich aus und stieg in die Wanne. Das Was-
ser hatte genau die richtige Temperatur und war mit Aromastoffen versetzt, die ihm einen frischen Pfefferminzgeruch verliehen. Spiegel waren so plaziert, daß sie sich in der Wanne beobachten konnte. Ihre elfenbeinweißen Schultern leuchteten, ihre Brüste stellten fruchtbare Fülle zur Schau. Sie genoß die Wärme und Stille und ließ den Hinterkopf auf dem kühlen Material des Badewannenrandes ruhen. Dann ging die Tür auf, und Carrick kam mit zwei beschlagenen, eisklirrenden Gläsern herein. Er stellte eins neben ihren Kopf, behielt das andere in der Hand und setzte sich auf die niedrige, gepolsterte Bank neben der Badewanne. „Mister Van wird Sie heute abend empfangen." Anne nahm ihr Glas und nippte von dem kühlen Wodka mit Zitronensaft. „Ich werde darüber nachdenken." Carrick schüttelte seinen Kopf. „Tut mir leid, Anne. Die spröde Tour verfängt bei Mister Van nicht. Um acht Uhr gehen Sie mit mir zu dem Klub, in dem er sein wird. Um Mitternacht hole ich Sie ab und bringe Sie hierher zurück. Wenn Sie es so nicht wollen -" Er stieß mit dem Daumen über seine Schulter wie ein Schiedsrichter. „Wie ist der Name des Klubs?" „Kann ich Ihnen nicht sagen." „Ich möchte einen Anruf machen. In meinem Zimmer ist kein Telefon." Wieder schüttelte er seinen Kopf. „Keine Anrufe." „Angenommen, ich ginge jetzt fort?" Er zuckte die Achseln. „Wie Sie wollen. Ich sagte ihm, daß Sie den Hunderter angezündet haben. Er lachte. ,Gib ihr fünftausend', sagte er. Wenn Sie das Geld nicht wollen..." Sie trank in kleinen Schlucken und dachte darüber nach. Geld würde dem Mann, den sie suchte, wenig bedeuten. Angenommen, daß dies die Art und Weise war, wie van Diemann seinen Parasiten fütterte, hatte er in Wirklichkeit keine Ausgaben, denn er konnte den Leichen das Geld wieder abnehmen. „Ich weiß, es hört sich seltsam an", sagte Carrick. „Aber Mister Van hat eine Menge Schwierigkeiten mit kleinen Mädchen, die großes Geld wittern. Es ist da - aber der Grund, daß es da ist, ist der, daß Mister Van sich nicht mit billigen Tricks wie beim Herbeirufen eines Ehemanns oder dem Präsentieren eines Babys nach neun Monaten hereinlegen läßt."
„Ich verstehe." Anne stieg aus der Wanne, ließ das Wasser von ihrem Körper ablaufen und in dem dicken Teppich versickern. Sie nahm ein Handtuch vom Halter und warf es dem Anwalt zu. „Machen Sie sich nützlich, Carrick." Sie fühlte das Zittern in seinen Händen, als er ihr den Rücken abrieb. Er wollte das Handtuch zurückgeben, doch sie sagte: „Sie machen Ihre Sache großartig." Sie setzte sich auf die gepolsterte Bank und wartete, bis Carrick vor ihr niederkniete, dann hob sie den Fuß und ließ ihn auf seinem Knie ruhen. „Erzählen Sie mir von den van Diemanns. Wie haben sie ihr Vermögen gemacht?" „Nun... van Diemanns Ururgroßvater fing damit an, als er in Südafrika Diamanten fand. Dann ging der Urgroßvater nach Kalifornien, um Vieh zu züchten, und fand statt dessen Gold. Sein Großvater stieß in Sumatra, wo er eine Pfefferplantage anlegen wollte auf Öl. Sein Vater kaufte eine stillgelegte Mine in Utah, und es stellte sich heraus, daß er einen guten Riecher - oder gute Berater - gehabt hatte, denn das Erz war ungewöhnlich reich an Uran. Dirk mehrt das Vermögen; er hat seine hundertste Million noch nicht gemacht, aber das ist nur eine Frage der Zeit." Anne schloß die Augen und lehnte sich zurück, als er mit dem Handtuch zu ihren Hüften kam. „Wie kommt es, daß niemand von dem van Diemann-Vermögen weiß?" „Es ist über die ganze Welt verstreut, das ist ein Grund. Und die van Diemann-Erben sind keine Playboys; sie zeigen sich kaum in der Öffentlichkeit." „Gibt es auch weibliche van Diemanns?" Er hob die Schultern. „Ich nehme an, daß sie Frauen haben. Aber was die Nachkommenschaft betrifft - es hat immer nur einen männlichen Erben pro Generation gegeben. Das ist ein Fortschritt, wissen Sie - bewahrt das Vermögen vor der Zersplitterung." Ja, dachte Anne, aber es wäre das gleiche, wenn in all den Generationen nur ein Mann existiert hätte. Sie begann dem Zusammentreffen mit erwartungsvoller Spannung entgegenzusehen. Sie hob den Fuß und bewegte die Zehen. „Wann kommen Sie zu Ihrer Chance, Carrick? Nach Mitternacht?" Er hob die Augen mit erschrockenem Blick, dann schaute er mit einem vagen, unverbindlichen Achselzucken zur Seite. „Wenn Sie wollen, sicher. Aber ich habe noch nie erlebt, daß eine wollte danach."
Was alles bedeuten konnte, dachte Anne, einschließlich der Tatsache, daß die meisten Mädchen zu der Zeit schon todkrank waren... Der Klub wurde auf einer schmalen, gewundenen, steinigen Straße erreicht, die steil aufwärts durch Kiefernwald führte. Carrick hielt vor einem Stahltor aus dicken Platten, die an einen Rahmen geschweißt waren. Er zog die Bremse an, stieg aus und steckte einen Schlüssel in ein Schloß am linken Torpfosten. Die Stahlplatten der Torflügel schwangen auf, schlossen sich wieder, nachdem sie durchgerollt waren. Die Straße hatte eine Asphaltdecke. Der Klub sah wie ein mehrstöckiges Schweizerhaus aus, das an eine rote Sandsteinklippe gebaut war. Als sie an einem Schwimmbecken vorüberfuhren, hüpfte ein platinhaariges Mädchen in einem Badeanzug ohne Oberteil vom Sprungbrett und ließ sich weit hinaustragen. Carrick fuhr hinter das Klubgebäude und hielt, ohne den Motor abzuschalten. Er zeigte auf fünf oder sechs Chalets, die an der Felswand zu kleben schienen. „Nummer zwei. Ich werde Sie um Mitternacht abholen." Er reichte ihr einen langen weißen Umschlag. „Da ist alles drin, kein Betrug. Mister Van gibt oft einen großzügigen Bonus, also würde ich raten..." „Bleiben Sie bei Ihrer Spezialität, Carrick." Sie steckte den Umschlag in die Handtasche und stieg aus. Sie fühlte sich albern und aufgeregt wie ein Mädchen vor der ersten Verabredung. Impulsiv griff sie durch das Fenster und zwickte Carrick in die Wange. „Wir sehen uns um Mitternacht. Machen Sie keine Dummheiten." Er fuhr ab, ohne zu lächeln. Als sie die Stufen zu Nummer zwei hinaufstieg, dachte Anne, daß er den Job fürchtete, später ihren Körper verschwinden zu lassen. Am klügsten wäre es, wenn er sie zu ihrem Wagen zurückführe und hinter das Lenkrad setzte. Selbst wenn er mit ihr gesehen worden wäre, würde es keine Anhaltspunkte dafür geben, daß sie nicht eines natürlichen Todes gestorben war. Aber ich werde nicht tot sein, dachte sie. Komisch, ich... „Was?" Er schnippte mit den Fingern. „Die Teile, die beweisen, daß du eine Frau bist. Zeige sie." Sie verspürte den schrecklichen Drang, ein Messer zu nehmen, und ihn aufzuschlitzen und zu töten. Du Schweinehund, du eingebildeter Adonis, dachte sie. Du selbstsicherer, selbstgefälliger Drecksack.
Sie stand auf, öffnete den Reißverschluß an der Seite ihres Kleides und löste die Spange im Nacken. Sie trug nichts darunter; und als das Kleid zu Boden fiel, stand sie nackt vor ihm. Er sah mit einem etwas gelangweilten Ausdruck zu, dann erhob er sich vom Tisch und trat vor sie hin. Seine Hand schoß heraus und versetzte ihr einen Stoß, daß sie taumelte, strauchelte und rücklings auf den dicken Teppich fiel. Sie sah keine Gemütsbewegung in seinem Gesicht, als er auf sie herabblickte; er schien den genauen Abstand zwischen ihren Brüsten zu messen, die genaue Tiefe ihres Nabels, den Umfang ihrer Schenkel. Es war ein abschätzender, kalkulierender Blick, der genauso irgendeiner Ware hätte gelten können. „In Ordnung, Anne. Wir werden jetzt essen." Als er mit gleichmäßigen, ruhigen Schritten fortging, wußte sie, wie es sein würde, Spaß am Töten zu haben. Das Essen war vorbereitet und wartete auf einer elektrischen Wärmeplatte in der Mitte des Tisches. Schildkrötensuppe, Gurkensalat, Gemüse, grüner Pfeffer, frische Bachforellen, goldbraun gebacken, und dickes Filetsteak, das sich von ihrem Messer schneiden ließ wie fette Erde von einem Pflug. Das Tafelsilber war so schwer, daß ihre Handgelenke vom Umgang damit schmerzten; es war mit dem Monogramm DD dekoriert, das in eine Art Schlange eingearbeitet war, die sich um den Handgriff wand. Nein, es war keine Schlange. „Krake", sagte er und beobachtete sie über den Tisch. „Die Darstellung zeigt einen Riesenkraken. Sie leben viele hundert Meter unter der Meeresoberfläche. Man sieht sie nie lebendig, weil sie in den oberen Meeresschichten explodieren." „Und Ihre Familie wählte ihn als eine Art Wappentier?" Er nickte. „Einer von meinen... Vorfahren war Walfänger. Er pflegte solche Kraken aus dem Magen des Pottwals herauszuholen." Stille. Anne war zum ersten Mal in ihrem Leben völlig ohne Appetit. Ihr Mund war trocken, frei von Speichel. Angst? Nicht Angst, nur eine große Unsicherheit über den Mann ihr gegenüber. Sie sah ihn den Wein aus einem silbernen Kübel nehmen und um den Tisch kommen, ihr Glas zu füllen. Sie hatte ein Gefühl, daß er niemals wirklich über irgend etwas nachdachte, sondern bloß wartete, bis die Zeit zum Handeln gekommen war, und dann den geeigneten Schritt tat. Als sie ihn zu seinem Stuhl zurückkehren
sah, kam ihr der Gedanke, daß der generationenlange Dienst an der Kreatur seine Menschlichkeit zu einem vertrockneten Rest hatte zusammenschrumpfen lassen. „Ich versuche dich als Jungen zu sehen, Dirk", sagte sie und stützte das Kinn in die Hände. „Ich denke mir, daß du Frösche, Schlangen und Insekten fingst, segeln und schwimmen gingst, solche Sachen." „Wir sammelten Insekten, töteten sie mit Chloroform und steckten sie an eine Tafel." Er blickte unerschütterlich ruhig in ihre Augen, während seine weißen Zähne das Steak zu einem grauen, blutlosen Brei kauten. „Ich sehe." Sie hustete und bewegte die Füße. „Machte es dir Spaß?" „Nur wenn uns das Chloroform ausging." Sie blickte auf den Tisch und bemerkte seine gebräunten Hände und die feinen goldenen Haare, die in genauen Vierecken auf jedem Fingerknochen wuchsen. Sie erinnerte sich, daß er ihre Zigarette mit der linken Hand angezündet und mit seiner rechten gegessen hatte. Beidhändig natürlich. Sein X-Parasit hatte zu gut gearbeitet. Sie dache an ihren zu breiten Mund, den Leberfleck an ihrer Hüfte, die Unbeholfenheit ihrer linken Hand, verglichen mit ihrer rechten. Vielleicht gab es persönliche Unterschiede zwischen Kreaturen. Möglicherweise waren sie und van Diemann von Grund auf unvereinbar. Sie wußte nur, daß sie kein Verlangen hatte, sich mit ihm auf irgendeiner Ebene zu paaren. „Meine Handtasche bitte. Ich gehe." Er nickte und stand auf, betupfte seine Lippen mit der Serviette. Er brachte ihre Handtasche, ging dann zur Tür und öffnete sie. „Du darfst das Geld behalten." In diesem Moment kochten ihr Zorn und ihre Frustration über. Sie nahm den Umschlag heraus, riß ihn in der Mitte durch und warf ihm die Hälften ins Gesicht. Als er die zerrissenen grünen Scheine von seinem Anzug fegte, spielte ein Lächeln um seine Lippen. Er neigte den Kopf ein wenig und sah sie an. „Fühlst du dich jetzt besser?" Die heiße Röte wich so rasch aus ihrem Gesicht, wie sie gekommen war. Sie war kühl und entspannt. „Wieso, ja." „Gut. Dann können wir gehen." Er drückte einen Knopf an der Wand. „Meinen Wagen, bitte." „Warte", sagte Anne. „Wohin fahren wir?"
„Den Mann besuchen, den zu sehen du gekommen bist." „Du bist nicht van Diemann?" „Eine paradoxe Frage. Ich bin van Diemann, wenn es für jemanden nötig ist, einen öffentlichen Auftritt zu machen." Anne fühlte sich von einer seltsamen Erleichterung überflutet. Sein Gesicht war identisch mit dem auf den Fotos, die Carrick ihr gezeigt hatte. Alles das hatte nichts bedeutet angesichts ihres instinktiven Wissens, daß dieser Mann ihr nichts zu bieten hatte. Die wirkliche Probe stand jedoch noch bevor, und Davids Schlußfolgerungen mochten sich noch immer als völlig falsch erweisen. „Ich frage mich jetzt", sagte sie, „ob es einen Mann wie Dirk van Diemann gibt." Er lächelte und berührte ihre Hüfte mit der Hand. „Der Wagen ist unten und wartet. Wir werden ihn früh genug sehen." Aber es war nicht früh. Am Nachmittag des folgenden Tages fuhren sie immer noch. Anne überblickte die Wüstensteppe mit ihren Hügeln und den kalten Bergen, während ihre rechte Hand das weiße Emaille der Tür streichelte. Ein neuer Ferrari, das kostspieligste Modell. Sie war verdrießlich über den graugelben Staub, der in dichten Wolken hinter dem Wagen aufbrodelte. Sie fühlte, wie die feinen Staubpartikel sich auf ihren Unterarmen niederließen, sich in den Gängen ihrer Ohren sammelten und jedes Haar überzogen. Sie würde gründlich duschen müssen, bevor sie zu Bett ging. Oder was immer sie tun würde. „Wenn ich nun gestern abend nicht reagiert hätte?" fragte Anne mit einem flüchtigen Blick auf den Mann hinter dem Lenkrad. „Du hättest mich um Mitternacht vor die Tür gesetzt, ohne mir den Unterschied zu sagen, nicht wahr?" „Ja." „Das ist gut." Sie dachte darüber nach und lächelte. Es war ein wirksames Abschirmsystem, zuerst Carrick und dann dieser Kerl, der ihr gesagt hatte, sie solle ihn Webb nennen. So ungefähr hätte sie es selbst einrichten müssen, dachte sie. Nach ein paar hundert Jahren neigte man leicht dazu, gelangweilt zu sein. Wie jetzt. Seit sie vor vier Stunden die mexikanische Grenze überschritten hatten, rumpelten sie auf einer un-geteerten Straße durch eine scheinbar menschenleere Wildnis aus schieferfarbenen Gebirgszügen, Schluchten, einsamen Tälern - mit wenigen Bü-
schen und Bäumen und sinnlosen Anhäufungen von gelblichem Gestein. Die Landschaft erinnerte an riesige Abraumhalden, überwuchert von dornigen Sträuchern und Kakteen. Jede Pflanze schien von Dornen und Stacheln zu starren. Sie zählte acht Wüsteneidechsen, vier Kaninchen, zwei Klapperschlangen, drei Raubvögel und eine gehörnte Kröte, bevor sie des Spiels überdrüssig wurde. „Lebt er allein auf dem Landsitz?" fragte sie. „Es gibt Diener", sagte er. In ihrem Geist tauchten Visionen von einem weißgekleideten Filipino auf, der geeiste Drinks servierte, einem mexikanischen Gärtner, der respektvoll seinen Sombrero berührte, einem schmächtigen Mulattenmädchen, das ein Handtuch hielt, als Anne aus einer in den Boden eingelassenen Badewanne stieg. Ah, das Bad. Sie würde eine Stunde darin liegen... Der Wagen überwand einen Höhenzug, und gegen ihren Willen fühlte sie Freude in sich aufsteigen und gab sie zu erkennen. „Oh! Halt an!" Sie war von dem Anblick so bezaubert, daß sie das Stoppen des Wagens nicht fühlte. Man hätte das Haus eine Burg nennen können, wäre sein Stil nicht ein gänzlich anderer gewesen, einer, der in die karge mexikanische Landschaft paßte, als wäre er mit ihr gewachsen. Trotzdem hatte das Gebäude eine eigene Atmosphäre. Die Ziegeldächer des um einen weiträumigen Patio errichteten vierseitigen Hauses leuchteten rot in den Strahlen der untergehenden Sonne, und wo sie im Schatten lagen, waren sie zu einem stumpfen Braunschwarz verblichen, das den felsigen Hängen im Hintergrund glich. Die früher einmal weiß getünchten Wände waren graugestreift, wo Farbe und Verputz von den Lehmziegeln abgefallen waren. Rankengewächse überzogen große Partien der Außenmauern wie eine grüne Brandung, und Bougainvilleen glühten wie rote Flammen von den hölzernden Arkaden des Innenhofs. Mauerbogen von angedeuteter Hufeisenform ließen sie an Marokko denken, aber die Frontseite des Hauses hatte einen Säulenvorbau, der eher an klassizistische Vorbilder erinnerte. Vom Eingang führte ein plattenbelegter Weg zu einem alten Mauerbogen mit einem schmiedeeisernen Tor in der abbröckelnden äußeren Umfassungsmauer. Die kleinen Rasenflächen zu beiden Seiten des Eingangs leuchteten wie Smaragde aus den stumpfbraunen und schiefergrauen Tönen der Halbwüste.
„Herrlich", sagte sie mit einem Blick auf Webb. Ohne eine Miene zu verziehen, legte er den Gang ein und fuhr weiter den Hang hinunter. Als sie einen kleinen klaren Bach überquerten, fühlte sie die kühle Feuchtigkeit der Luft im Gesicht. Sie dachte, wie schön es wäre, zwischen den Felsblöcken umherzuwaten und die Wasserkresse zu pflücken, die in grünen Teppichen an der Oberfläche schwamm. Ein kurzes Stück vor dem äußeren Tor wurde der Straßenschotter zu Pflaster. Als der Wagen vor dem Tor hielt, wurde es sofort geöffnet; sie rollten hindurch, ließen den Eingang rechts liegen und hielten in einem kleinen gepflasterten Hof, der von Akazien spärlich beschattet wurde. Als Anne zurückblickte, sah sie den Mann, der das Tor geöffnet hatte, nachkommen. Er trug Sandalen, eine weite Leinenhose und eine Lederweste. Beim Gehen setzte er die Füße genau voreinander, wie Indianer es zu tun pflegten; seine Augen waren wie schwarze Kirschen in einem walnußbraunen Gesicht. Er hatte hohe Backenknochen und die breite Stirn und die gebogene Nase eines Maya-Indianers. „Geh mit ihm", sagte Webb. „Er bringt dich in dein Zimmer. Du wirst dich waschen wollen, bevor du Mister Van begegnest." Sie stieg aus dem Wagen und sagte: „Buenas tardes", doch der Indianer wandte sich nur um und ging zum Haus. Sie folgte ihm und erinnerte sich, daß Webb nicht zu ihm und er nicht zu Webb gesprochen hatte. Eine seltsame, unfreundliche Atmosphäre. Als sie ihr Zimmer sah, stockte ihr wieder der Atem. Weißgetäfelte Wände mit vergoldetem Schnitzwerk. Neben der Tür hing ein feiner alter Wandteppich, offenbar eine Kopie nach Fragonard, die eine Schäferszene der Rokokozeit darstellte. Der offene Kamin war mit azulejos verkleidet, und auf dem Sims standen Porzellanfiguren, die - passend zum Wandteppich - Nymphen, Schäfer und Satyrn verkörperten. Anne hörte ein Geräusch aus dem angrenzenden Badezimmer, ging hinein und sah eine dunkle Frau in einem braunen, sackartigen Kleid, die sich über eine altertümliche Badewanne beugte. Es war ein reichverziertes, gußeisernes Ding, das auf Klauenfüßen stand und dessen weißes Emaille vom Alter gelb geworden war. Die Frau richtete sich auf, wischte sich die Hände am Kleid ab und betrachtete Anne mit völlig ausdrucksloser Miene. Anne lächelte und probierte wieder ihr Spanisch aus: „Me Hämo Ana.
Yusted?" Die Frau tat oder sagte nichts; ihre Augen gaben nicht zu erkennen, ob sie verstanden hatte oder zu verstehen versuchte. „You speak English?" fragte Anne. „Parlez-vous franc ais? Sprechen Sie deutsch? Govoritye Porusski?" Auf jede Frage folgte Schweigen. Die Frau stand wie eine Wand. Schließlich machte Anne eine Geste, daß sie gehen solle, und die Frau ging an ihr vorbei und verließ das Zimmer. Anne zog sich aus und stieg in die Wanne. Das Wasser war zu kalt. Sie drehte den Heißwasserhahn auf und lauschte dem Tröpfeln und Gurgeln aus entfernten Leitungsrohren, das sich allmählich näherte, bis es hustend und spuckend in die Badewanne floß. Sie lehnte sich zurück, streckte die Beine aus, genoß die besänftigende Wärme und gähnte. Ein Anlasser schnatterte, ein Motor sprang an. Sie stieg schnell aus der Wanne, ergriff ein großes Badetuch und lief zum Fenster. Der Ferrari fuhr zum Tor zurück, und hinter ihm ratterte ein staubiger blauer Lieferwagen. Die nahen Bergkämme lagen in blaugrauen Schatten, doch auf einer fernen Mesa brannte die Sonne unwirklich purpurrot und rosa. Das leere Land lag schattenlos in der zunehmenden Dämmerung. Es war düster, einsam und beängstigend. Anne kleidete sich an und beschloß, ein wenig hinauszugehen. Als sie ins Freie kam, sah sie einen Mann bewegungslos in der Nähe des äußeren Tors stehen. Die Einsamkeit und die Stille zogen sie zu ihm, und sie war ihm dankbar, nur weil er ein Mensch war und dort stand. Das kurzgeschnittene Gras kitzelte ihre nackten Fußsohlen, als sie den Rasen überquerte. Als sie bis auf drei Meter herangekommen war, sprach er, und sie wußte, daß er sich ihrer Gegenwart die ganze Zeit bewußt gewesen war, obgleich er nicht in ihre Richtung geblickt hatte. „Ich habe sie fortgeschickt, Anne. Ich dachte mir, es würde schöner sein, nach all den Jahren mit dir allein zu sein." Sie blieb stehen, starr vor Verwunderung. Nach all den Jahren? Die Schlußfolgerung war, daß er sie kannte, doch sie hatte den vibrierenden, vollen Klang seiner Stimme noch nie gehört. Er war breitschultrig und schlank, hatte kleine Ohren, und sein Haar, das blond zu sein schien, hing in gedrehten kleinen Locken um seinen Kopf. Sie fühlte das Verlangen, mit den Fingern durch dieses Haar zu fahren. Seine Blickrichtung verweigerte ihr seine Züge, aber
sie konnte seinen festen Unterkiefer und die regelmäßige Kurve seines Backenknochens sehen. Er war kein Ungeheuer, soviel war klar. Warum sollte sie sich fürchten? „Ja, warum?" sagte er, und sie begriff, daß er ihre Gedanken las. Es war frustrierend, daß dieses Spiel nun gegen sie gewandt wurde - um so mehr, als sein Geist ihr völlig undurchsichtig blieb. Sie trat einen Schritt näher, und im gleichen Moment wandte er sich lächelnd um. Eine seltsame Schwäche ergriff von ihr Besitz und machte ihre Knie weich. Sie fühlte sich wie nackt vor ihm. Ein Gedanke wie ein Schatten aus alter Zeit kam ihr in den Sinn: ich bin Euer, mein Herr. Tut mit mir, wie Euch beliebt. Und er tat es, zog sie in seine Arme und bog ihren Hals mit einem Kuß zurück, der ihre Muskeln zu Wasser machte. Sein Mund schien alle Kraft aus ihrem Körper zu ziehen; sie fühlte ihre Knie gegen seine Beine sinken, dann ging sein Arm um ihre Mitte, sein Mund löste sich von ihren Lippen, sein Finger hob ihr Kinn. „Erkennst du mich jetzt?" Die grauen, amüsierten Augen, die Form des Lächelns - all das kam ihr irgendwie bekannt vor, doch wenn sie versuchte, es mit einer Person aus ihrer Vergangenheit in Verbindung zu bringen, entglitt ihr die Erinnerung. Sie hatte viele Männer gekannt, aber alle waren gestorben... „Nicht alle", sagte er. „Du bist..." Sie keuchte, als das Erkennen in ihr Bewußtsein flutete. „David! Aber alles das..." Sie legte die Hand an seine breite Brust, strich über die Linie seines Unterkiefers. „Und deine Stimme... natürlich weiß ich, wie es geschah, weil ich es durchgemacht habe. Aber wie bist du van Diemann geworden?" „Nun, ich fand Carricks Namen in der Besucherliste des Forts. Vielleicht machte er sich an Margaret heran und brachte sie zu van Diemann, oder vielleicht arrangierte er nur eine Begegnung. Jedenfalls führte Carrick mich zu van Diemann. Ich verbrachte beinahe ein Jahr dort draußen." Er machte eine weit ausholende Armbewegung in die öde Landschaft. „Lebte von Eidechsen und Kakteen und Insekten. Achtzehn oder neunzehn Mädchen wurden hereingebracht und ihre Körper in den Busch hinausgeschleift, um von den Geiern und den anderen Aasfressern abgenagt zu werden, bevor ich eine Gelegenheit bekam, van Diemann während der... der Nahrungsaufnahme zu überraschen." „Und was machtest du mit ihm?"
„Nun, die Organisation, die er hatte, war recht gut. Schließlich hatte er seit zweihundert Jahren von hier aus operiert, ohne entdeckt zu werden. Ich ließ alles, wie es war - mit der einen Ausnahme, daß van Diemann, anstatt für sich selbst zu arbeiten, nun mein Strohmann ist." „Du meinst, Webb ist in Wirklichkeit van Diemann?" „Ja. Er ist zu lange unter Kontrolle gewesen, um noch für sich selbst sorgen zu können. Er ist nicht viel mehr als eine Gliederpuppe - eine denkende Gliederpuppe, aber ohne eigenen Willen." „Und Carrick? Hat er mich gesucht?" „Ich hatte alle auf deine Fährte gesetzt. Carrick ist einer von einem halben Dutzend Kundschaftern, die von Diemann gebrauchte." „Dieser Carrick hat seine eigenen Leute verraten...", sagte Anne. „Er wußte nicht, daß van Diemann nicht menschlich war." „Aber er wußte, daß die Mädchen, die er ihm zuführte, sterben mußten!" „Nun ja. Das stört ihn. Eines Tages wird er Selbstmord begehen, aber einstweilen ist er ein gewissenhafter Arbeiter. Das gleiche kann ich von dem sagen, den ich bei deiner Mutter zurückließ, um auf dich zu warten. Erst als du wieder fort warst, kam er darauf, daß du dort gewesen warst." Er legte ihr die Hand auf die Schulter und zog sie mit. „Laß uns hineingehen, es wird kühl." Ihre Erregung wuchs, als sie seinen Raum betraten. Er kleidete sich aus. Als sie zusammen auf dem seidenen Laken lagen, holte sie tief Atem und drängte sich an ihn. „Ich bin ganz aufgeregt, als ob es meine Hochzeitsnacht wäre. Machen wir es so?" „Weißt du etwas anderes?" „Nein. Nein." Die Frage war bedeutungslos geworden, denn er war bei ihr und es fühlte sich so gut an, daß ihr Herz schmerzte. Jede Bewegung war ein Seufzen parfümierter Luft in eines Sultans Garten, jede Berührung eine musikalische Note, die durch ihre Nervenbahnen pulsierte. Sie schien aus einem Tal einen hohen Berg zu ersteigen. Bald würde sie den Gipfel erreichen, Nirwana, Himmel... Plötzlich stellte David seine Bewegung ein. Sie machte noch einen Moment weiter, wie eine Maschine, die noch einige Umdrehungen macht, nachdem sie ausgeschaltet wurde. Dann wurde ihr bewußt, daß sein Gewicht leblos geworden war, wie kaltes
Hammelfleisch. Die Temperatur seiner Haut, eben noch wie sonnenwarmer Stein, war neutral geworden. Seine Augen - sie verdrehte den Hals, um sie zu sehen, und ihre Kiefer klappten zu einem lautlosen Schrei auf. Seine Augen waren nicht Augen, sondern bemaltes Glas. Nicht daß sie zu sehen aufgehört hätten, sie hatten niemals gesehen. Der schöne, stattliche Körper war nicht tot; er hatte niemals gelebt. In Panik stieß sie ihn von sich und sprang aus dem Bett. Ihre Haut versuchte von ihrem Körper zu kriechen. Sie fühlte eine Gegenwart hinter ihr, die jedes einzelne Haar auf ihrem Kopf sträubte, jede Zelle ihres Fleisches in einem Knoten kalter Angst Zusammenkrampfte. Sie wandte sich um. Es lag im offenen Kamin, eine Masse grauer Zuckungen. Es machte ein trocken wisperndes Geräusch, als seine graue, mit tausend Fühlern besetzte Gestalt sich gleitend über den Boden ausbreitete. Es kam näher, ohne sich eigentlich zu bewegen, als habe es den Kamin ausgefüllt und ergieße sich nun in den Raum, um auch ihn mit seiner Masse zu füllen. Alterslos, ewig, abscheulich. Sie kreischte, und das Geräusch zerriß die Schleier der Selbsttäuschung, in die sie sich so sorgfältig gehüllt hatte. Haß explodierte in ihrem Gehirn und brannte alle Furcht fort. Das Ding war das Böse. Es hatte seinen Samen in sie gepflanzt. Wann? Vor vielen Jahren im Fort, an jenem seltsamen, von Grillengezirp erfüllten Nachmittag - winzig zuerst, wie eine Spinne in ihrem Gehirn; als die Jahre vergingen, durchdrang es ihren Körper wie eine Million grauer Maden, bis sie vom Bösen so vollständig verzehrt war, daß sie es nicht wußte. Sie kreischte vor Wut und sprang auf das Wesen zu, das nun den größten Teil des Bodens bedeckte. Sie stampfte mit bloßen Füßen darauf herum, und ihr Mund sprühte Speichel, als sie die schrecklichsten Schimpfwörter und Beleidigungen hervorstieß, die sie sich denken konnte. Ein Fühler umschlang ihren Knöchel und schob sich an ihrem Bein empor, verdickte sich... O Gott, nein! Ein weiterer schlang sich um ihre Mitte, heiß trocken, glatt wie die Oberfläche von Mottenflügeln. Sie krallte mit den Fingernägeln danach, aber der Fühler schien nur zu schwellen und zu wachsen und vor Vergnügen zu pulsieren. Sie heulte auf, als er ihren Hals umwickelte und seinen Weg durch ihre Kiefer erzwang. Selbst dann ergab sie sich nicht, sondern biß mit den Zähnen auf die
gummiartige Substanz und mahlte von einer Seite zur anderen. Zufrieden anschwellend, nährte sich die Kreatur stumm von der reifen Frucht. Hier und dort war Annes weißer Körper sichtbar, noch immer mit den Fangarmen kämpfend, die ihn überall umschlungen hatten. Nach einiger Zeit kam ihr Kopf wieder zum Vorschein, die Augen glänzend und stier, die vollkommen weißen Zähne im Todesgrinsen gebleckt. Die Kreatur begann sich zu teilen, und dann gab es zwei. Anne, sagte er, du bist schön. Seine Verschlingungen schienen zu pulsieren. Glitzernde Rinnsale von Diamanten gingen von seinem Gehirnzentrum aus und tröpfelten von jeder Tentakelspitze. Im Infrarotspektrum begann ein Netzwerk zu rotieren und smaragdene Farbausbrüche auszustoßen. Sie fühlte den sanften Stoß seines KommunikatorTentakels, fühlte die warme Durchdringung. In ihre emotionalen Organe floß ruhige Zufriedenheit, köstliche Lethargie... - Ja, David. Ich fühle genauso. Aber wie kann ich ein Bewußtsein meiner Identität haben, wenn ich da hinschauen kann und meinen Körper sehe - so schwammig und aufgedunsen und weiß? - Sie sehen so aus, weil wir in dieser Form sind. - Sind wir wirklich so? - Wir werden nur zu diesem Zweck in unserer Gestalt manifest. Wenn wir uns paaren, hören wir auf, wir zu sein, und verschmelzen mit dem einen. Du weißt es. - Ja, aber ich verstehe nicht. David laß es uns noch mal machen... Der Orgasmus zerstörte das Bewußtsein des Ich und brachte ihr die Erkenntnis, daß ihre Vereinigung nicht allein mit David Hall, sondern mit der Gesamtheit ihrer Rasse stattfand und in die Zeit zurückreichte, als ihre Vorfahren in die oberen Schichten des Ozeans vorgedrungen waren - lange bevor die Ahnen des Menschen auf zwei Beinen gingen. Die rauhen Stürme und Winde an der Meeresoberfläche hatten ihre Körper in Stücke gerissen. Mit der Zeit hatten sie dann gelernt, einen Energiekörper zu projizieren und diese Körper mit Energie zu erhalten, die sie von den Kreaturen der Oberflächenwelt bezogen. Schließlich gab es keine Notwendigkeit mehr, in die Tiefen zurückzukehren, und so blieb die Spezies, endlich angepaßt, in der Welt des Lichts und der
Wärme und nährte sich von ihren Bewohnern. „Aber die Menschen sind unsere Kreaturen", sagte Anne, während sie sich im Badezimmer das Haar bürstete. Die Veränderung nach der Vereinigung war schmerzlos gewesen; sie hatte gefühlt, wie ihr neuer Körper mit dem Einfließen der Lebensenergie leichter wurde. Zuletzt war die formlose Amöbengestalt verblichen und verschwunden. „Sollten wir ihnen nicht helfen?" „Wie helfen?" sagte David. Er saß auf dem Badewannenrand und rauchte eine Zigarette - eine Gewohnheit, von der er nach seiner Verletzung hatte lassen müssen, die er aber nun wieder angenommen hatte. „Vor mehreren tausend Jahren veranlaßte einer von uns einen von ihnen, einen Stein zu schleudern, um uns zu verteidigen. Bald hatten alle Steinschleudern. Nun beschloß ein anderer von uns, seinen Träger oder Wirt zu beschützen, indem er ihn eine zugespitzte Stange erfinden ließ. Kurz darauf trug jeder einen Speer. Jahrhundertelang hatten wir ein Monopol in Telepathie; jetzt fangen alle damit an. Die Kreaturen ahmen alles nach, und sie vermehren sich wie die Fliegen. Das einzige, was wir für sie tun können, ist, ihre Zahl zu dezimieren." „Aber wir nehmen immer die Besten." „Selbstverständlich." Er streckte die Hand aus und tätschelte ihre Hüfte. „Das ist ganz natürlich." „Es scheint irgendwie... böse." „Das ist eine Sache des Standpunkts. Für den Wurm ist ein Huhn böse. Für den Fuchs ist ein Huhn eine köstliche Mahlzeit. Böse ist die Bezeichnung, die wir dem Feind geben. Ich würde nicht überrascht sein, wenn sich herausstellte, daß nicht einmal wir am Ende der Nahrungskette stehen. Das bringt mich auf einen Gedanken..." Er stand auf und warf seine Zigarette in die Toilette. „Wir werden zum Essen ausgehen müssen. Ich habe keinen Bissen im Haus." Er sah sie an und lachte.
ENDE