FRANCIS DURBRIDGE
Die Brille
EAST OF ALGIERS
Kriminalroman
Wilhelm Goldmann Verlag
Die Hauptpersonen Paul Temp...
43 downloads
562 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
FRANCIS DURBRIDGE
Die Brille
EAST OF ALGIERS
Kriminalroman
Wilhelm Goldmann Verlag
Die Hauptpersonen Paul Temple
Schriftsteller
Steve Temple
seine Frau
David Foster Tony Wyse
}
Reisebekanntschaft der Temples
Simone Lalange Judy Wincott Sam Leyland Pierre Rostand Audry Bryce
Angestellte einer Erdölgesellschaft
}
Mitglieder verschiedener Gangsterbanden
Horst Schultz
Nachtlokalbesitzer
Patrick O'Halloran
Fremdenführer
Szoltan Gupte
Kunsthändler
Der Roman spielt in Paris, Nizza, Algier und Tunis. 1. Auflage Mai 1967 - 1.-15. Tsd. 2. Auflage November 1968- 16.-25. Tsd. 3. Auflage Januar 1974 - 26.-37. Tsd. 4. Auflage Mai 1981 - 35.-43. Tsd. Made in Germany 1981 © der Originalausgabe 1959 by Paul Temple © der deutschsprachigen Ausgabe 1967 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Aus dem Englischen übertragen von Peter Th. Clemens Herausgegeben von Friedrich A. Hofschuster Umschlagentwurf: Atelier Adolf & Angelika Bachmann, München Umschlagfoto: Richard Canntown, Stuttgart Satz: Presse-Druck, Augsburg Druck: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Krimi 2287 Lektorat: Friedrich A. Hofschuster - Herstellung: Hany Heiß ISBN 3-442-02287-8
1
»Pardon, Monsieur, ist dieser Stuhl besetzt?« »Leider ja.« Es geschah schon zum zehntenmal, daß ein ent täuschter Franzose sich abwandte, als ich meine rechte Hand besitzerisch auf den Stuhl legte, den ich für Steve, meine Frau, freihielt. Es war zur Aperitif stunde, und die Tische aller Cafés beiderseits der Champs-Elysees waren besetzt. Die neun Herren, die von mir gehindert worden waren, sich auf Steves Platz niederzulassen, hatten anderswo Stühle gefunden und beobachteten mich nicht ohne Argwohn. Aus ihren Mienen war zu schließen, daß sie zu glauben began nen, die von mir erwartete Person sei ein Gebilde meiner Phantasie. Steve selbst hatte mir versichert, bis um zwölf Uhr würde sie ihre Einkäufe mit Leichtig keit erledigt haben. Also hatten wir uns um zwölf im Café Fouquet verabredet. Aber inzwischen war es leider schon zwanzig Minuten vor eins. Glücklicherweise war das Wetter schön, und die Zeit verging recht angenehm. Der Arc de Triomphe stand lichtgrau gegen einen blauen Himmel, und die Sonne schien warm genug, um die meisten Gäste zu verlocken, lieber an den ins Freie gestellten Tischchen zu sitzen als im schattigen Inneren des Cafés. Was sich vor meinen Augen abspielte, glich einer unter haltsamen Show. Die hübschen Pariser Mädchen in ihrer Frühjahrsgarderobe waren sich der vielen 4
Männeraugen wohl bewußt, von denen sie beobachtet wurden, während sie mit selbstsicherer Eleganz auf dem breiten Gehsteig vorüberspazierten. Immer wieder stoppten da und dort Taxis an der Bordschwel le, um ihre Fahrgäste in eins der vielen Cafés zu entlassen. Auf der mittleren Fahrbahn der breiten Prachtstraße rasten Autos in sechs Reihen nebenein ander dahin. Jedesmal, wenn die Verkehrsampeln auf Rot wechselten, kreischten ihre Reifen bei den erbarmungslosen Bremsmanövern. Und eine halbe Minute später, beim Lichtwechsel auf Grün, heulten die Motoren beim Schnellstart auf, als sei jeder Fahrer bemüht, das kurze Wettrennen bis zur nächsten Straßenkreuzung zu gewinnen. Ich bestellte eben den zweiten Martini, als an der Bordschwelle vor mir ein Kleintaxi stoppte. Der Fahrer öffnete die Tür, und ein Paar schlanker nylon bestrumpfter Beine schwang sich auf den Gehsteig. Zwar erkannte ich diese Beine, aber ich war zunächst außerstande, mehr von ihrer Eigentümerin zu sehen, denn diese blieb noch hinter der Menge Päckchen und Kartons verborgen, die sie vor sich her durch die schmale Tür zu schwenken versuchte. Der Fahrer, der eilfertig ausgestiegen war, nahm sich der zwei größten Kartons an. Nun endlich wurde auch Steve im ganzen sichtbar. Sie lächelte mir zu und erklärte dem Fahrer, daß ich das Fahrgeld bezahlen würde. »Darling«, begrüßte sie mich, »nicht ein Sou ist mir übriggeblieben. Aber ich habe einige der wundervol 5
len Läden entdeckt! Wahrhaftig, nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so etwas wie die Rue St. Honoré! Oh, Darling - das ist Judy Wincott. Sie wird mit uns einen Aperitif trinken.« Ich hatte undeutlich wahrgenommen, daß hinter Steve noch eine zweite weibliche Gestalt dem Taxi entstiegen war. Doch die Sache mit dem Fahrer und dem Bezahlen und den Paketen und der ganzen Wirkung von Steves Ankunft hatte meine Aufmerk samkeit von ihr abgelenkt. Nun wandte ich mich ihr zu, um sie zu begrüßen. Sie war ein knapp mittelgro ßes Mädchen, etwa Anfang Zwanzig. Man konnte sie als gutaussehend bezeichnen. Jedenfalls war sie ein moderner Typ, dem man auf Titelseitenfotos und ganzseitigen Werbeanzeigen häufig genug begegnet, aber sehr sympathisch fand ich sie nicht. Sie wirkte irgendwie aggressiv. Oder vielleicht intelligent und unerhört praktisch. Ich habe nichts gegen intelligente Frauen. Ich meine nur, daß sie es lieber nicht so sehr zeigen sollten. »Oh, Mr. Temple«, sagte sie, während ich sie und Steve durch das Gewirr der Tischchen und Stühlchen lotste und dabei die beiden größten Kartons über den Köpfen der anderen Gäste dahinbalancierte, »oh, Mr. Temple, ich hoffe, Sie nehmen mir nicht übel, daß ich die Gelegenheit nutze, Sie kennenzulernen. Ist es wirklich wahr, daß Ihre Romane auf tatsächlichen Vorkommnissen beruhen, mit denen Sie zu tun hatten?« 6
»Ja, es ist wirklich wahr«, erwiderte ich etwas ge quält. »Nehmen Sie Platz, Miss Wincott. Ich werde versuchen, noch ein Stühlchen zu bekommen.« Steve hatte sich schon hingesetzt und gruppierte ihre Einkäufe rings um ihre Füße. Miss Wincott ließ sich auf meinem Stühlchen nieder. Ich stellte die beiden Kartons ab und winkte dem Kellner, ein drittes Stühlchen an unseren Tisch zu bringen. Miss Wincott blickte zu mir empor, als erwarte sie irgendwelche umwerfenden Offenbarungen zu hören, und sagte: »Oh, es ist verblüffend, sich vorzustellen, daß solche Sachen wirklich passieren!« Ihre etwas schrille Stimme hatte einen leichten, aber unüberhör baren amerikanischen Akzent. »Was Sie in den Büchern lesen«, entgegnete ich, »ist nicht so außergewöhnlich. Mein Kummer ist, daß ich über die verblüffendsten Fälle nicht schreiben kann. Keiner würde mir glauben.« »Ach, tun Sie es doch einmal«, gurrte Judy Wincott mit betörendem Lächeln. »Ich würde Ihnen auf jeden Fall glauben!« Der Kellner kam mit einem eisernen Hocker, und dann saßen wir zu dritt recht beengt um den kleinen Tisch. »Miss Wincott war sehr hilfsbereit«, erklärte Steve, nachdem ich die Getränke bestellt hatte. »Es wäre mir niemals gelungen, die gewünschten Schuhe zu finden, wenn sie mich nicht zu Chisos Schuhbar geführt hätte.« 7
»Sie kennen Paris gut, Miss Wincott?« fragte ich. »Oh, längst nicht so gut, wie ich möchte. Aber ich kenne die wichtigsten Straßen. Ich war schon einige Male mit meinem Vater hier. Er kommt jedes Jahr nach Europa, um alte Bilder aufzuspüren und antike Möbel und andere Sachen dieser Art. Er ist Benjamin Wincott, der Antiquitätenhändler, wissen Sie. Er hat ein sehr bedeutendes Geschäft in New York. Viel leicht haben Sie davon schon gehört?« »Nein, ich fürchte, ich habe noch nicht davon ge hört.« »Es ist weithin bekannt«, versicherte Miss Wincott selbstzufrieden. »Natürlich muß Dad viel reisen. Es ist nicht gut, sich auf anderer Leute Urteil zu verlassen, wenn so viel Geld auf dem Spiel steht. Außerdem hat Dad einen geradezu verblüffenden Instinkt für wirk lich wertvolle Dinge. Es gibt nur wenige Länder auf dieser Erde, die er noch nicht besucht hat. Wir hatten eben einen kleinen Abstecher nach Tunis gemacht, um eine Sammlung seltener alter Bernstein schmuckstücke zu kaufen. Mrs. Temple erzählte mir, daß Sie beide beabsichtigen, in einem oder zwei Tagen selbst nach Tunis zu reisen.« Ich tauschte einen heimlichen Blick mit Steve und fand meinen Argwohn bestätigt, daß Miss Wincott uns mehr aus eigenem Entschluß mit ihrer Gegenwart beglückte; Steves Einladung war wohl nur eine unumgängliche Höflichkeit gewesen. »Ja«, gab ich zu. »Wir werden auch nach Tunis 8
reisen, nachdem wir uns Algier ein wenig angesehen haben.« »Um Stoff für einen Roman zu sammeln?« fragte Judy Wincott eifrig. »Das ist nicht der eigentliche Grund der Reise. Aber man kann ja nie wissen.« Der Kellner brachte die bestellten Gläser. Judy Wincott bekam einen Champagnercocktail. Ich mußte ein leichtes Gruseln unterdrücken, als ich die Hand sah, mit der sie ihr Glas ergriff. Ihre Fingernägel ragten mindestens anderthalb Zentimeter über die Fingerkuppen hinaus, ganz spitz gefeilt und blutrot lackiert. Sie nahm einen Schluck, dann lachte sie leise vor sich hin, als sei ihr eine amüsante Erinnerung gekommen. »Oh«, sagte sie, »ich erlebte weiß Gott eine ver drehte Zeit in Tunis! Hören Sie, ich überlege, ob Sie vielleicht einen jungen Mann treffen können, den ich während dieser paar Tage recht gut kennenlernte. Sein Name ist David Foster. Er arbeitet für die TransAfrika-Öl-Company.« Sie blickte mich fragend an. Da ich kein Hellseher bin, konnte ich ihr nicht sagen, ob ich diesen Mr. Foster treffen würde oder nicht. Es interessierte mich auch nicht. Doch ich brannte darauf, Steve endlich zu fragen, was sie eigentlich in diesem Berg Pakete hatte. Ich zuckte die Achseln und murmelte: »Nun, Tunis ist eine ziemlich große Stadt, habe ich mir sagen lassen.« 9
»Das stimmt!« bestätigte Miss Wincott fröhlich. »Ach, wenn ich daran denke, wie David und ich sie an unserem letzten Abend förmlich auf den Kopf gestellt haben! Die verdrehtesten Sachen passierten...« Judy Wincott gehörte zweifellos zu der Sorte, die sich nicht aufhalten läßt. Da saßen wir nun an einem zauberhaften Frühlingstag in der kultiviertesten Stadt der Welt an deren berühmtester Straße und waren dazu verdammt, das einfältige Geplapper eines egoistischen Kindes anzuhören. Der lange Schluck, den ich von meinem Martini nahm, schmeckte bitter. »Ach, Sie werden es kaum glauben«, fuhr sie mun ter fort. »Aber als wir uns schließlich gegen Morgen vor meinem Hotel voneinander verabschieden woll ten, stellte David plötzlich fest, daß er seine Brille verloren hatte! Wirklich, er war so aufgedreht, daß er es erst vor der Hoteltür merkte! Nun, wir klapperten noch einmal alle Lokale ab, in denen wir gewesen waren, und suchten gründlich. Kein Erfolg. Auch am Nachmittag, als Dad und ich nach Paris abflogen, hatte der arme Dave seine Brille noch nicht wiederge funden. Und wissen Sie, wo sie dann auftauchte?« Judy Wincott starrte zuerst Steve erwartungsvoll an, dann mich. Natürlich wußte keiner von uns die Antwort. »Verraten Sie es uns«, schlug ich vor. »Na, das war zu komisch! Als der Zollbeamte auf dem Flughafen Orly meinen Koffer durchsuchte, fand er sie in meiner Abendtasche!« 10
Steve und ich lachten höflich, wenn auch etwas mühsam. Miss Wincott ließ ein herzliches Gelächter ertönen, hielt aber plötzlich inne. Sie hatte, wie es schien, eine Erleuchtung gehabt. »Wissen Sie, das nenne ich einen glücklichen Zu fall!« jauchzte sie. »Daß Sie nach Tunis wollen, meine ich! Könnten Sie nicht Davids Brille mitneh men, bitte? Ich hoffe, Sie verübeln mir diese Frage nicht?« »Natürlich könnten wir sie mitnehmen«, sagte ich. »Aber ich vermute, sie käme viel schneller nach Tunis, wenn Sie sie mit der Post schicken. Wir werden jedenfalls nicht vor Donnerstag dort sein.« »Nein, mit der Post schicken kann ich sie nicht. David hat mich in seinem Telegramm ausdrücklich darum gebeten; Die Brille könne beschädigt werden oder verlorengehen. Und Davy, dieses arme Lämm chen, ist völlig hilflos ohne sie.« Vermutlich war es die Vision eines hilflosen Lämmchens, die mein Herz erweichte. Außerdem bedachte mich Steve mit einem zustimmenden Blick. Ich willigte also ein. »Oh, fein!« flötete Miss Wincott und genoß den Rest ihres Champagnercocktails. »So bliebe nur noch die Frage, wann und wohin ich Ihnen die Brille überbringen soll. In welchem Hotel wohnen Sie?« »Wir wohnen dieses Mal nicht in einem Hotel«, entgegnete Steve. »Freunde von uns, die zur Zeit verreist sind, haben uns ihre Wohnung überlassen 11
gleich dort um die Ecke in der Avenue Georges V. Wir werden heute abend zu Hause sein. Wollen Sie nicht um sieben Uhr kommen und einen Cocktail mit uns trinken? Es ist Nummer neunundachtzig.« »Ach nein.« Jetzt, da sie erreicht hatte, was sie wollte, spielte Miss Wincott die Scheue. »Bestimmt haben Sie schon genug von mir gesehen. Ich will lieber nur für einen winzigen Augenblick hinauf kommen, um die Brille abzugeben.« Erleichtert bemerkte ich, daß sie ihre Handschuhe vom Tisch nahm und weitere Anzeichen für einen alsbaldigen Aufbruch zu erkennen gab. Um zu verhindern, daß sie ihren Vorsatz womöglich wieder ändere, stand ich auf und rückte mein Stühlchen unter den Tisch, damit sie ungehindert passieren könne. Ihre Abschiedsworte waren hastig, aber überschwenglich. Wir sahen ihr nach, wie sie sich durch die Fußgänger scharen auf dem Gehsteig schlängelte, ein Taxi herbeiwinkte, einstieg und im Davonfahren zu uns zurücksah. »Merkwürdig, was für Bekanntschaften du manch mal machst«, sagte ich zu Steve. »Nun, sie zu einem Aperitif einzuladen war das mindeste, was ich tun konnte. Ich war absolut verlo ren in den Galeries Lafayette, als sie sich wie ein rettender Engel zu mir gesellte. Sie opferte über eine Stunde, um mich zu den besten Läden zu führen. Als ich ihr meinen Namen sagte, war sie direkt rührend daran interessiert, dich kennenzulernen.« 12
»Ich kann nicht behaupten, daß an Miss Wincott etwas Rührendes ist. Ich würde sagen, daß alles, was sie tut, der Förderung ihrer eigenen Interessen dient.« »Aber bei ihrer Sorge, den armen David Foster wieder in den Besitz seiner Brille gelangen zu lassen, zeigte sie sehr nette Seiten.« »Das mag sein«, gab ich widerwillig zu. »Doch nun trink aus, Steve. Um ein Uhr sind wir mit den Chate lets verabredet, und vorher müssen wir noch alle deine Pakete hinauf in die Wohnung bringen.« Wir lunchten mit den Chatelets gut, aber ziemlich zeitraubend. Danach besichtigten wir die Gemälde ausstellung in der Orangerie und saßen dann noch ein gutes Weilchen in einem reizenden kleinen Café. So wurde es fast sieben Uhr, ehe wir zu der Wohnung in der Avenue Georges V. zurückkehrten. An Judy Wincott dachte ich überhaupt nicht mehr. Ich stand am Waschbecken im Badezimmer und ließ mir zur Erfrischung kaltes Wasser über den Kopf laufen, als die Türklingel ertönte. Leicht erschrocken trocknete und kämmte ich mir in aller Eile das Haar und ging, um die Tür aufzumachen. »Aaah«, sagte ich, als ich sah, wer da war. »Treten Sie ein, Miss Wincott. Wir wollten uns eben Cocktails mixen.« Judy Wincott war rot im Gesicht und rang nach Atem, als wäre sie alle vier Treppen heraufgerannt. Sie trug noch dieselbe Kleidung wie bei unserer 13
Begegnung im Café Fouquet und sah nicht so aus, als hätte sie inzwischen auch nur Zeit genug gehabt, ihr Make-up zu erneuern. »Oh, danke. Ich kann aber nicht bleiben«, entgeg nete sie atemlos. »Dad und ich gehen zum Dinner in die Botschaft, und ich habe mein Taxi unten warten lassen. Hier ist die Brille. Ein Zettel mit Davids Adresse liegt im Etui. Ich habe ihm telegrafiert, daß Sie am Donnerstag in Tunis eintreffen, und ihn gebeten, Sie bei dem Flugzeug aus Algier zu erwar ten.« Sie war schon wieder fort, als Steve durch die Schiebetür des Speisezimmers in die Diele kam, bekleidet mit einem zauberhaften Abendkleid, das sie am Vormittag erworben hatte. »Oh, ist sie schon wieder weg?« »Dinner mit Dad in der Botschaft und ein warten des Taxi«, erklärte ich und betrachtete das Brillenetui. Es war mit Leder überzogen und trug weder Namen noch Adresse eines Optikers. Als ich es öffnete, rutschte mir ein gefaltetes Blatt Papier entgegen, ein kleiner Briefbogen des Hotels Bedford in Paris mit drei flüssig geschriebenen kurzen Zeilen: David Foster c/o Trans-Afrika-Öl, Tunis von Judy Die Brille war ein wuchtiges Exemplar - ein sehr starkes und dickes Schildpattgestell mit breiten Bügeln und großen Gläsern. Ich setzte sie versuchs 14
weise auf und mir wurde sofort schwindlig. Die Linsen waren so extrem stark und scharf, daß vor meinen Augen alles verschwamm. Als ich sie schnell wieder absetzte, hörte ich Steve fröhlich lachen. »Oh, du solltest wirklich eine Brille tragen«, sagte sie etwas unlogisch. »Du siehst damit ungemein gelehrt aus.« »Dieser David Foster muß äußerst kurzsichtig sein. Kein Wunder, daß er um seine Brille jammert. Ohne sie dürfte er sich fast blind fühlen. Steve und ich flogen am nächsten Nachmittag nach Nizza. Natürlich hätten wir direkt nach Algier fliegen können, aber Steve neigt dazu, bei längeren Flügen in großer Höhe Kopfweh zu bekommen. Außerdem haben wir beide eine besondere Schwäche für die Côte d'Azur und sind dankbar für jeden Vorwand, dort einen oder zwei Tage verbringen zu können. Wir hatten uns in einem Hotel angemeldet, das wir schon kannten, nicht weit entfernt vom weltberühmten ›Negresco‹ an der Promenade des Anglais gelegen. Es ist ein kleines, aber sehr luxuriöses Hotel mit übli cherweise makelloser Bedienung. An diesem Nach mittag jedoch waren zehn oder zwölf Gäste gleichzei tig eingetroffen, was den Empfangschef etwas durch einandergebracht zu haben schien. Einer der uniformierten Pagen beförderte uns und unser Gepäck im Lift zur ersten Etage hinauf, die in Wirklichkeit die zweite war, weil es hier ein besonde 15
res ›Hochparterre« gab. Noch ehe wir in den Korridor einbogen, an dem unser Zimmer lag, hörten wir das metallische Klappern eines Schlüssels, der nicht in das Schloß zu passen schien, an dem er probiert wurde. Als wir um die Ecke kamen, erblickten wir einen anderen Pagen, der neben einem sehr englisch aussehenden Gast stand und sich vergeblich bemühte, die Tür von Nummer 12 zu öffnen, dem Zimmer neben unserem. Einen Moment später erging es unserem Pagen an der Tür von Nummer 11 genauso der Schlüssel, den ihm der Empfangschef mitgegeben hatte, paßte nicht ins Schloß. Plötzlich schob der englisch aussehende Gast sei nen Pagen zur Seite, zog den Schlüssel aus der Tür von Nummer 12, kam damit zu unserer Nummer 11, schob unseren Pagen zur Seite und tauschte die Schlüssel aus. Dann drehte er den Schlüssel, und siehe da, sogleich ließ unsere Tür sich öffnen. Der Gast warf mir einen etwas unsicheren Blick zu und sagte in entsetzlichem Französisch: »Pardong, Mushoor, vous avez mon clef.« »Nicht mein Fehler«, antwortete ich auf englisch. »Der Empfangschef scheint sich geirrt zu haben.« Der andere Gast stutzte und äußerte erleichtert: »Oh, Sie sind Engländer? Nun, dann ist es gut. Einen Moment lang dachte ich, jemand hätte sich einen dummen Scherz erlaubt. Und solche Art Sachen mag Sam Leyland nicht.« Aus Lancashire und stolz darauf, dachte ich. Seine 16
Stimme war tief und kräftig, und seine Kleidung paßte dazu. Er trug einen etwas zu auffallend karierten Anzug, zweifellos Maßarbeit, weil solche Bauchgrö ßen nicht fertig zu haben sind. Seine Schuhe waren fast gelb, aber sehr sauber geputzt und merkwürdig klein im Vergleich zu seiner Große und Breite. Er prunkte mit einer Seidenkrawatte, auf der das hand gemalte Bild einer Ballettänzerin zu sehen war, und mit einer leicht verwelkten Rose im Knopfloch. Sein Gesicht war rötlich und aufgedunsen, seine Schädel wölbung kahl und sein Nasenbein eingeknickt, vielleicht infolge Kollision mit einem Laternenpfahl oder einem Geschäftspartner. Ich hielt ihn für einen jener Firmendirektoren, die trotz unzureichender Begabung auf rätselhafte Weise genug Geld machen, um viel zu reisen und den Nimbus des Union Jack in die Spielkasinos des Kontinents zu tragen. »Ich glaube nicht, daß es absichtlich geschehen ist«, beruhigte ich ihn. »Ich kenne dieses Hotel und weiß, daß der Service hier sonst recht gut ist.« »Das sollte er auch«, erwiderte der Engländer. »Die Preise sind hoch genug. Und wenn es jemanden gibt, der etwas haben will für sein Geld, dann ist es Sam Leyland!« Da ich mir von einer Fortsetzung der Unterhaltung nichts versprach, nickte ich ihm zu und folgte Steve, die sich inzwischen in unser Zimmer zurückgezogen hatte.
17
Es war uns beschieden, Sam Leyland am selben Abend noch einmal zu begegnen. Wir kehrten nach einem besonders guten Essen gegen halb elf in unser Hotel zurück. Da der Lift irgendwen zur obersten Etage beförderte, entschieden wir, daß es uns nicht umbringen würde, die Treppe zu benutzen. Über die ärgerliche Stimme, die wir schon kurz nach Passieren des Hochparterres vernahmen, konnte es keinen Zweifel geben. Wir waren also nicht überrascht, als wir im ersten Stock um die Korridor ecke bogen und Sam Leyland sahen. Er stand an der offenen Tür seines Zimmers, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und schimpfte aus Leibeskräften auf ein völlig verschüchtertes Zimmermädchen ein. Dabei bediente er sich einer Art Privatsprache, halb Englisch und halb Französisch, die das Mädchen begreiflicher weise nicht verstand. Als er uns kommen sah, zuckte er die Achseln und wandte sich verächtlich von dem Mädchen ab, das sofort davonhuschte, um am Ende des Korridors hinter einer Tür zu verschwinden. »Ich wußte ja, daß hier irgendeine Sauerei im Gan ge ist!« dröhnte Sam Leyland, als er uns wuchtig entgegenstapfte. »Und jemand wird dafür bezahlen müssen, so wahr ich Sam Leyland heiße!« »Was ist denn los? Hat man Ihren Schlüssel wieder vertauscht?« Seine Augen waren wie die eines wütenden Ebers, klein und glitzernd, aber ohne Verstand. Er machte 18
Armbewegungen, als wünsche er etwas zu erklären und könne die passenden Worte nicht finden. Schließ lich atmete er tief ein und aus und knurrte: »Kommen Sie und sehen Sie sich das mal an!« Er führte uns zur Tür seines Zimmers. Sie stand, wie gesagt, offen. Der Schlüssel steckte außen im Schloß. Die Aufmachung des Zimmers glich der des unsrigen - zart fliederfarbene Wände, dunkelblaue Vorhänge, schwarzgrauer Teppich von Wand zu Wand, moderne, hellgebeizte Möbel. Der einzige Unterschied bestand darin, daß Leylands Zimmer statt des Doppelbettes ein Einzelbett enthielt und sich in unbeschreiblicher Unordnung befand. »Alle Wetter, welch ein Durcheinander!« rief ich aus. »Nicht schwer zu raten, daß Sie einen uner wünschten Besucher hatten.« Leylands Antwort war ein gedämpftes Knurren. Ich konnte ihm den Zorn nachfühlen. Alle Schubladen waren geöffnet und auf den Fußboden entleert wor den. Das Bettzeug war vom Bett gerissen. Die Kanten der Matratze hatte man aufgeschlitzt, ebenso die Daunendecke und die Kissen, so daß überall lose Federn herumlagen. Leylands Koffer waren derart gründlich durchwühlt worden, daß ihr Stoffutter nur noch aus Fetzen bestand. Selbst sein elektrischer Rasierapparat war auseinandergebrochen und das dazu gehörende Lederetui zerschlitzt. Der Eindruck, den der Schauplatz dieser Barbarei machte, war bedrückend. 19
»Das ist ja grauenhaft«, seufzte Steve. »Es muß ein Dieb gewesen sein. Hatten Sie denn etwas Wertvolles hier, Mr. Leyland?« Zum erstenmal blitzte so etwas wie Belustigung im Gesicht des Engländers auf. Er klopfte auf die Wöl bung der linken Brustseite seines Jacketts und blinzel te Steve zu. »Meine Wertsachen stecken alle sicher hier drin nen. Sam Leyland läßt es nicht darauf ankommen. Das Wertvollste, was dieser Schurke erbeutet haben kann, würde ein Paar Manschettenknöpfe von Wool worth sein, Kaufpreis sechs Shilling fünfzig. Was mich so wütend macht, ist die Unordnung, die er angerichtet hat. Na, das Hotel wird mir ein anderes Zimmer geben müssen.« Plötzlich fühlte ich, wie Steves Finger sich in mei nen rechten Arm krallten. »Paul! Die Brillantbrosche, die du mir zum Ge burtstag geschenkt hast! Ich habe sie in der Schublade meines Ankleidetisches gelassen.« Durchaus davon überzeugt, daß ich unser Zimmer in ähnlich chaotischem Zustand vorfinden würde, fingerte ich nervös den Schlüssel ins Schloß, machte die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Steve seufzte erleichtert, als das Licht anging und sie sah, daß unser Zimmer noch genauso war, wie wir es verlassen hatten. Das Telefon fing an zu klingeln, aber sie ignorierte es, drängte sich an mir vorbei zu ihrem Ankleidetisch, griff in die Schublade, suchte ein 20
wenig darin herum und hielt selig lächelnd die glit zernde Brosche in die Höhe. »Gott sei Dank, daß er sie nicht gefunden hat!« »Steve!« mahnte ich. »Wie oft habe ich dir geraten, Wertgegenstände nicht im Hotelzimmern zu lassen?« »Ach, Darling, ich wollte es ja nicht. Hättest du mir nicht ständig gesagt, ich müßte mich beeilen, dann würde ich es bestimmt nicht vergessen haben.« Da es keine passende Antwort auf Bemerkungen dieser Art gibt, durchquerte ich das Zimmer, setzte mich auf die Kante des Bettes und nahm den Telefon hörer ans Ohr. »Hallo? Hier Temple.« »Monsieur Temple? Ich bedaure, Sie stören zu müssen, Monsieur. Aber hier ist ein Polizeiinspektor und wünscht unverzüglich mit Ihnen zu sprechen.« Es war die Stimme des Nachtportiers. »Ein Polizeiinspektor? Sagte er, weshalb?« Ich hegte die etwas überspannte Hoffnung, der Hoteldieb wäre bereits erwischt, was der Polizei von Nizza meine besondere Hochachtung eingetragen hätte. »Nein, Monsieur. Aber er sagte, es sei sehr, sehr dringend. Und er müsse Sie unverzüglich sehen.« Ich nahm mir die Zeit, eine Zigarette anzuzünden und Steve zu informieren, ehe ich die Treppe wieder hinabging. Als ich das Foyer erreichte, sah ich den Nachtportier einem Mann zunicken, der in einem der Sessel saß, nun aber sofort aufstand und mir entge genkam. 21
Er war sehr klein, höchstens einsfünfundsechzig. Ein dunkler Typ, drahtig, bemerkenswert elegant in Aussehen und Kleidung, mit glatt zurückgebürstetem schwarzem Haar, makellos weißem Kragen, ebensol chen Manschetten und blinkend sauberen Schuhen. Sein Kopf wirkte im Verhältnis zu seiner Gestalt etwas zu groß; seine Augen blitzten außerordentlich lebhaft. Alles in allem genommen, hätte er für einen Musiker gelten können. »Mr. Temple?« fragte er, und ich merkte sofort, daß er gutes Englisch sprechen würde. »Ja.« Er zeigte mir seinen Ausweis und sagte dabei: »In spektor Mirabel von der Kriminalpolizei. Ich möchte mit Ihnen ein paar Worte unter vier Augen sprechen.« Er dirigierte mich in ein kleines Zimmer, das nor malerweise nur von solchen Hotelgästen benutzt wurde, die darauf bestanden, zum Frühstück herunter zukommen. Die Stühle waren alle hart und geradleh nig, und als wir einander gegenüber an einem unge deckten Tisch Platz nahmen, erschien mir die ganze Situation sehr offiziell und unfreundlich. Mirabels Art und Ton bekräftigten diesen Eindruck. Er klappte ein kleines Notizbuch auf und legte es vor sich auf den Tisch, sah aber nicht hinein. Seine Augen blieben ernst und aufmerksam auf mich gerichtet. »Mr. Temple, ist es richtig, daß Sie heute nachmit tag um zwei Uhr zwanzig mit dem Flugzeug aus Paris hier eingetroffen sind?« 22
»Ja.« »Und in Paris wohnten Sie in der Avenue Georges V, Nummer neunundachtzig?« »Ja. Freunde von uns überließen uns ihre Wohnung für ein paar Tage.« »Wurden Sie dort von einer Miss Wincott be sucht?« »Ja«, antwortete ich, verwundert über diese uner wartete Frage. »Miss Wincott war allerdings kaum anderthalb Minuten in der Wohnung oder, richtiger gesagt, in deren Diele. Sie kam nur, um ein Päckchen abzugeben, und ging sofort wieder.« Im stillen sagte ich mir, daß meine instinktive Ab neigung gegen Judy Wincott berechtigt gewesen war; dieses Mädchen bedeutete Unannehmlichkeiten. »Wie gut kennen Sie Miss Wincott? Bitte sagen Sie mir, welcher Art Ihre Beziehungen zu ihr waren.« »Äußerst oberflächlich. Ich lernte Miss Wincott erst gestern kennen. Sie hatte sich meiner Frau mit Einkaufsratschlägen gefällig gezeigt. Daraufhin lud meine Frau sie ein, mit uns einen Aperitif zu trinken.« »Das war gestern abend?« »Nein, gestern gegen Mittag. Dabei wurde verein bart, daß sie abends um sieben zu uns in die Wohnung kommen würde.« »Und das tat sie? Erinnern Sie sich an die genaue Zeit?« »Ja. Meine Frau und ich kamen kurz vor sieben zurück. Und Miss Wincott erschien ungefähr fünf 23
Minuten später.« Mirabel machte sich eine Notiz. Ich wurde immer neugieriger, wodurch Judy Wincott das Interesse der Polizei erweckt haben mochte, hielt es aber für besser, noch keine Fragen zu stellen. »Gab sie Ihnen irgendeine Adresse?« erkundigte sich Mirabel. »Sie erwähnte beiläufig, sie wohne im Hotel Bed ford zusammen mit ihrem Vater.« »Mit ihrem Vater?« Mirabel blickte überrascht auf. »Er ist Benjamin Wincott, ein bekannter Antiquitä tenhändler aus New York. Die Amerikanische Bot schaft wird Ihnen mehr über ihn sagen können als ich. Wie Miss Wincott erwähnte, waren sie und ihr Vater gestern abend dort eingeladen.« Mirabel blickte mich einen Moment lang an. Dabei umspielte ein kaum merkliches Lächeln seine Mund winkel. »Sie sprachen von einem Päckchen, Mr. Temple. Bitte sagen Sie mir, was es enthielt.« »Oh, es handelt sich nur um ein Etui mit einer Bril le. Miss Wincott bat mich, die Brille für einen Freund von ihr nach Tunis mitzunehmen.« Ich gab Mirabel einen kurzen Abriß der Geschichte, die Judy Wincott mir erzählt hatte. Als ich damit zu Ende war, sagte er: »Ich möchte diese Brille sehen. Würden Sie sie mir zeigen, bitte?« »Gewiß. Ich habe sie hier.« Ich zog das Etui aus meiner Brusttasche und reichte 24
es Mirabel hinüber. Er nahm die Brille heraus und drehte sie langsam zwischen seinen schlanken Fingern hin und her. Dann betrachtete er die Notiz auf dem kleinen Briefbogen des Hotels Bedford, und ich sah, wie seine Augenbrauen sich zusammenschoben. Schließlich balancierte er das Etui in der linken Hand, als wünsche er das Gewicht abzuschätzen. »Ich möchte diese Gegenstände ins Polizeipräsidi um mitnehmen, um sie von Sachverständigen untersu chen zu lassen«, sagte er. »Hätten Sie etwas dage gen?« »Keineswegs. Aber werde ich sie zurückbekom men? Ich fühle mich irgendwie verpflichtet.« »Ich gebe Ihnen eine Quittung«, erklärte Mirabel steif. »Falls sich kein gegenteiliger Anlaß ergibt, werden Sie die Sachen morgen früh zurückerhalten.« »Ich danke Ihnen. Darf ich fragen - ist Miss Win cott irgendwie in Schwierigkeiten geraten?« Mirabel sah mich lange an, sein Ausdruck wirkte seltsam. »Schwierigkeiten?« wiederholte er. »Nun, ich glaube nicht, daß man sagen könnte, sie befände sich in Schwierigkeiten. Ihre Leiche wurde heute nachmit tag von der Portiersfrau in einer der Abfalltonnen hinter dem Haus gefunden, in dem Sie wohnten. Sie ist in den Rücken geschossen worden und war ver mutlich sofort tot. Nach den Feststellungen des Polizeiarztes entspricht die Todeszeit ungefähr der von Ihnen genannten Zeit, zu der Miss Wincott Sie 25
verließ.« Ich sagte nichts. Ich wußte, daß Mirabel mich auf merksam beobachtete, während meine Gedanken zurückeilten zum Café Fouquet und unserer nicht ganz erfreulichen Zufallsbekanntschaft. Mörder wissen für gewöhnlich, was sie tun und warum sie es tun. Aber die Opfer, die sie sich erwählen, geben einem manchmal Rätsel auf. Ich hätte mir vorstellen können, daß Judy Wincott von einem verärgerten Anbeter geohrfeigt, daß sie gesellschaftlich geächtet oder vielleicht sogar wegen Trunkenheit von der Polizei festgenommen werden könnte. Daß jemand sie ermorden könnte, hatte ich mir nie träumen lassen. »Sie sind überrascht?« fragte Mirabel. »Natürlich! Miss Wincott verließ mich gestern abend, um ihren Vater zu treffen und mit ihm in der Amerikanischen Botschaft zu essen. Sollte es mir da normal erscheinen, daß ihre Leiche heute in einer Abfalltonne gefunden wird? Haben Sie eine Vermu tung, wer es getan haben könnte und warum?« Mirabel schüttelte den Kopf und sagte: »Der Täter hinterließ keine Spuren. Bis jetzt haben wir uns darauf beschränken müssen, herauszufinden, wen sie gestern besucht hat und warum.« »Sicher hat ihr Vater die Polizei verständigt, als sie gestern abend ausblieb. Aber ich bin verwundert, daß der Fahrer des wartenden Taxis nicht angefangen hat, nach seinem verschwundenen Fahrgast zu suchen.« Wieder umspielte ein kaum merkliches Lächeln 26
Mirabels Mund. Offenbar war ich der Gegenstand seiner Belustigung. »Die Pariser Polizei«, sagte er, »hat über alle Aus länder recherchiert, die zur Zeit in Pariser Hotels wohnen. Einen Benjamin Wincott gibt es nicht unter ihnen. Auch die Amerikanische Botschaft weiß nichts über ihn.« »Wurde auch beim Hotel Bedford nachgefragt?« »Die Pariser Polizei hat bei allen Hotels nachge fragt. In keinem ist jemand namens Wincott regi striert.« Steve und ich sprachen noch lange, nachdem wir uns zu Bett gelegt hatten. Sie zeigte sich sehr betrof fen über die Vorstellung, daß Judy Wincott praktisch unmittelbar nach Verlassen unserer Wohnung ange griffen und getötet worden war. »Vielleicht wären wir doch irgendwie imstande gewesen, es zu verhindern, Paul. Es muß ein Raub überfall gewesen sein - meinst du nicht auch?« »Möglich. Andererseits glaube ich, daß ein Dieb eher einen Totschläger oder ein Messer benutzt hätte.« Steve erschauderte und flüsterte: »Ich bin froh, dich neben mir zu haben, Paul. Auf dem Kontinent scheint es eine Menge Verbrecher zu geben. Eben erst die Sache im Zimmer nebenan, und nun die Nachricht von diesem Mord...« Mitternacht war längst vorbei, als wir beschlossen, 27
nun endlich zu schlafen, und das Licht ausknipsten. Ich glaubte, eben erst eingeschlafen zu sein, als ich spürte, daß Steve vorsichtig meine linke Schulter schüttelte. Ich machte die Augen auf, sah das Mond licht an der Wand gegenüber unseren Betten und mußte mir einen Moment lang überlegen, wo wir eigentlich waren. »Paul, hör doch!« Steves Worte waren ein alarmie rendes Flüstern. »Im Zimmer nebenan geht irgend etwas sehr Merkwürdiges vor!« Ich setzte mich im Bett auf und lauschte. Tatsäch lich ertönten dort drüben irgendwelche schleifenden und bumsenden Geräusche, als würde ein verhältnis mäßig schwerer Gegenstand teils gezogen, teils mühsam getragen und dann wieder abgesetzt. Außer dem glaubte ich jenseits der Wand heftiges Atmen und gelegentliches Keuchen zu hören. Schließlich ertönte ein besonders lautes Bumsen gegen die Trennwand, gefolgt von einigen leiseren Geräuschen und dem verstohlenen Zumachen einer Tür. »Es ist Sam Leylands Zimmer«, flüsterte Steve. »Ich dachte, er wollte sich ein anderes Zimmer geben lassen.« Wir saßen etwa eine Minute lang lauschend im Dunkeln. Die Geräusche hatten aufgehört, jenseits der Wand herrschte jetzt unheilvolle Stille. Auf einmal klickte es neben mir, und Steves Nachttischlampe erhellte unser Zimmer. Ich schwang die Füße aus dem Bett und langte nach meinem Hausmantel. 28
»Die Sache kommt mir faul vor. Ich will nachse hen, was dort passiert ist.« »Ich gehe mit«, sagte Steve entschlossen und war schon dabei, sich ihren Hausmantel anzuziehen. Wir rissen unsere Tür auf und sausten so schnell in den Korridor hinaus, daß wir mit einem jungen Mann zusammenstießen, der in diesem Moment an unserer Tür vorbeikam. Auch er trug einen Hausmantel und war anscheinend genau wie wir aus dem Schlaf geschreckt worden. »Tut mir leid«, sagte ich, erinnerte mich dann, daß wir in Frankreich waren, und fügte hastig hinzu: »Pardon.« »Schon gut«, erwiderte der junge Mann. »Ich bin auch Engländer. Ich habe ein Zimmer im Hochparter re und bin heraufgekommen, um zu sehen, was dieser Tumult zu bedeuten hat. Aber wenn es nur eine kleine Auseinandersetzung zwischen Ihnen beiden war -« Er sah aus wie eine Art Idol reiferer Frauen - groß, schlank, gut gewachsen, den blauseidenen Hausman tel eng um die schmale Taille gegürtet. Seine Stimme klang gebildet und angenehm; sein langsames und leises Sprechen schien einen ehemaligen Oxfortstu denten zu verraten. Seine Augen, vornehmlich auf Steve gerichtet, verpaßten offenbar nichts. »Das waren wir nicht«, entgegnete Steve schnell. »Ich bin davon aufgewacht, und mein Mann wollte eben nachsehen. Es kam aus diesem Zimmer.« Sie wies auf die Tür von Nummer 12. Der junge 29
Mann trat an die Tür und klopfte zögernd. Nachdem er ein zweites Mal geklopft hatte, ohne Antwort zu erhalten, schlug er wenig begeistert vor: »Vielleicht sollten wir einbrechen?« Aus einem Augenwinkel sah ich, daß Steve sich plötzlich bückte und etwas vom Boden aufnahm. »Versuchen Sie zuerst die Türklinke«, riet ich dem jungen Mann. Er drückte die Klinke herunter, und die Tür öffnete sich in den stockdunklen Raum. Die Korridorbeleuch tung hinter uns warf eine Lichtbahn auf den Boden, in der unser beider verlängerte Schatten sich ausnahmen wie groteske Ungeheuer. Jemand hatte die Fenster vorhänge dicht geschlossen; das indirekte Licht vom Korridor ließ den übrigen Raum nur noch dunkler erscheinen. Einen Moment lang standen wir da wie gebannt, dann tastete der junge Mann nach dem Schalter und knipste die Zimmerbeleuchtung an. Das Zimmer zeigte noch denselben chaotischen Zustand wie vorhin, aber Sam Leylands Besitztümer waren inzwischen hinausgebracht worden. Außer den geschlossenen Fenstervorhängen gab es noch einen Unterschied: Auch die Türen des großen Wand schrankes waren jetzt geschlossen. »Niemand hier«, sagte der junge Mann. »Aber welch ein Durcheinander! Ich denke, wir sollten die Hotelverwaltung informieren.« »Warten Sie einen Moment«, erwiderte ich. Ich dachte an das heftige Bumsen gegen die 30
Trennwand, das uns aus den Betten gejagt hatte. Es mußte irgendwie mit dem Wandschrank zu tun gehabt haben. Ich ging zu dem Schrank, drehte den kleinen Schlüssel und öffnete die beiden breiten Türen. Hinter mir hörte ich Steve den Atem anhalten. Der junge Mann gab einen unterdrückten Ausruf von sich. - Die Leiche lag auf dem Boden des Schrankes, anschei nend schnell und achtlos hingeworfen. Es war die Leiche einer jungen, weiblichen Person, mit Klei dungsstücken, die ich wiedererkannte. Ihre Handge lenke waren zusammengebunden, in ihrem Mund steckte ein Knebel. Ich hob einen Moment lang ihr Gesicht. Ihr Körper war noch warm, aber hinter diesen entsetzt aufgerissenen, starren Augen konnte kein Leben mehr sein. Ich vermutete, daß man sie gewaltsam in dieses Zimmer geschleppt und dann mit einem aufgeschlitzten Bettkissen erstickt hatte. Kein rühmliches Verbrechen. »Sieh nicht her, Steve«, warnte ich und richtete mich auf, um ihr den Blick zu verwehren. Aber sie hatte bereits genug gesehen und wandte sich entsetzt ab. Ich schloß die Schranktüren und begegnete dem Blick des jungen Mannes, der zitternd und mit kalk weißem Gesicht dastand. »Sie sollten lieber hinuntergehen, um die Hotel verwaltung und die Polizei zu verständigen«, sagte ich zu ihm. »Ich werde hier warten.« Er schien glücklich, gehen zu dürfen, und ent schwand ohne ein Wort. Steve, die bessere Nerven 31
besitzt als die meisten Frauen, hatte sich schnell wieder gefaßt. »Paul«, flüsterte sie, »ich habe gesehen, wer es ist. Ich kann mich nicht irren bei diesem Haar und dieser Kleidung. Aber wie kann es sein, daß Judy Wincott, heute nachmittag in Paris tot aufgefunden, jetzt hier noch einmal ermordet worden ist?« Ich antwortete nicht. Eine Bewegung der Fenster vorhänge hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Und ich war mir der Tatsache bewußt, daß wir knapp andert halb Minuten, nachdem der Mörder sein Werk vollen det hatte, in dieses Zimmer gekommen waren. Ich schob Steve zurück, eilte hinüber zu den Vor hängen und riß sie schnell zur Seite. Vor mir stand ein breiter Fensterflügel weit offen, und die schwache Seebrise, die die Vorhänge bewegt hatte, fächelte mein Gesicht. Das grünliche Licht einer Straßenlaterne ließ breite Mauersimse und giebelarti ge Vorsprünge über den Hochparterrefenstern erken nen. Unten auf der Straße, ein ganzes Stück entfernt, fegte ein Straßenkehrer mit seinem langen Besen Abfälle zusammen. Von irgendwo kam ein feiner Duft frisch gebackenen Brotes herübergeweht. Ich drehte mich zu Steve um. »Dies muß der Weg sein, auf dem er entkommen ist. Wir können ihn nur knapp verfehlt haben. Viel leicht hat er sogar noch draußen auf dem Sims gestan den und uns beobachtet, als wir die Schranktüren öffneten...« 32
2
Viel Schlaf war uns in dieser Nacht nicht beschie den. Die Polizei schickte Inspektor Mirabel, dieses Mal mit einem halben Dutzend Mitarbeiter. Kein Wunder, daß die Morgendämmerung den Himmel erhellte, ehe unsere Vernehmungen abgeschlossen waren und wir die Erlaubnis erhielten, uns in unser Zimmer zurückzuziehen. Schon gegen zehn Uhr wurden wir durch das Summen des Haustelefons wieder geweckt. Ob wir im Zimmer frühstücken wollten? Ja, natürlich. Zehn Minuten später brachte man uns auf zwei Tabletts das Frühstück an die Betten. Kaum hatten wir es verzehrt, als das Telefon abermals ertönte. Mirabel war gekommen und verlangte mich zu sprechen. »Ich nehme jetzt sowieso mein Bad«, erklärte Ste ve. »Du kannst ihm also vorschlagen heraufzukom men.« »Ich bin noch nicht angezogen«, sagte ich ins Tele fon. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, in unser Zimmer zu kommen? Falls Sie es lieber nicht möch ten, werde ich mich anziehen und in zehn Minuten unten sein.« Mirabel entschied sich fürs Heraufkommen, Kaum eine Minute später war er an der Tür. Er hatte Zeit gefunden, sich zu rasieren und ein frisches Hemd anzuziehen. Schmuck wie er war, wirkte er etwas fehl am Platz in unserem unaufgeräumten Schlafzimmer. 33
Ich rückte einen Sessel für ihn zurecht und bot ihm eine Zigarette an, die er aber ablehnte. Dennoch schien mir sein Verhalten freundlicher als bei unseren bisherigen Begegnungen. »Sind Sie irgendwie weitergekommen?« fragte ich höflich interessiert. »Ich habe Zeit gehabt, mich mit unseren Londoner Kollegen in Verbindung zu setzen und einige Aus künfte über Sie zu erhalten. Man sagte mir, daß Sie zwar die merkwürdige Begabung besitzen, irgendwie in jede nur denkbare Art Unheil verwickelt zu werden, bisher aber noch nie solches Unheil verursacht haben.« Ich mußte lachen, da ich mir vorstellte, wie mein Freund Vosper, Chefinspektor bei Scotland Yard, sich gewunden haben mochte, als er diese Formulierung von sich gab. »Also bin ich aus Ihrer Liste verdächtiger Personen gestrichen?« »Gewiß«, bestätigte Mirabel und lächelte. »Es dürf te Sie interessieren, zu hören, daß wir das Rätsel von der zweimal ermordeten Frau gelöst haben. Die in der Abfalltonne gefundene Tote war nicht Judy Wincott, sondern eine gewisse Diana Simmonds, ebenfalls Amerikanerin. Der anfängliche Irrtum ist entschuld bar, da in Diana Simmonds Handtasche als einziges Papier ein an Judy Wincott gerichteter Brief gefunden wurde. Außerdem waren beide Frauen einander recht ähnlich und auch fast gleich gekleidet, so daß die 34
brave Portiersfrau in der Toten sogleich Miss Judy Wincott zu erkennen glaubte, die am Abend zuvor nach Ihrer Wohnung gefragt hatte.« Aus Mirabels Miene war zu schließen, daß er wil lens sei, dieses Thema hiermit als erledigt zu betrach ten. Ich hatte erwartet, daß er noch viele weitere Fragen an mich richten und mir damit Gelegenheit geben würde, auch meinerseits einige Fragen zu stellen. Aber er beschränkte sich nunmehr darauf, aus seiner Brusttasche einen in Seidenpapier gewickelten Gegenstand zu ziehen. »Ich gebe Ihnen, wie versprochen, hiermit die Bril le zurück«, sagte er. »Allerdings ohne das Etui. Unsere Fachleute haben es nahezu in seine Grundbe standteile zerlegt.« »Konnten Sie irgend etwas finden?« Mirabel schüttelte den Kopf. »Nichts.« »Auch die Brille ist untersucht worden?« »Ja, natürlich. Nur ist nichts Ungewöhnliches an ihr. Eine teure Brille mit extrem starken Linsen, doch in unserem Sinne völlig uninteressant.« Er wickelte die Brille aus dem Seidenpapier und betrachtete sie noch einmal, ehe er sie mir überreichte. Dabei kommentierte er: »Echtes Schildpatt. Zu durchsichtig, um irgend etwas zu verbergen. Und die Linsen - nun, in ihnen kann auch nichts versteckt sein.« Ich nahm die Brille zögernd entgegen und murmel te: »Ich kann mir nicht helfen, ich bin skeptisch. Alles 35
Durcheinander scheint mit dem Moment begonnen zu haben, als diese Brille in meine Hände kam.« »Sie können beruhigt sein, Mr. Temple. Falls an dieser Brille etwas Abnormales wäre, hätten unsere Fachleute es entdeckt.« Mirabel stand auf, zupfte sein Jackett glatt und äußerte weltmännisch höflich: »Ich bedauere, daß Ihre Gattin und Sie auf so unerfreuliche Art gestört wur den, und bin Ihnen dankbar für die erwiesene Zusam menarbeit.« Er streckte mir seine rechte Hand hin. »Übermitteln Sie Ihrer Gattin meine Empfehlun gen. Ich hoffe, daß Sie eine gute Reise nach Tunis und dort angenehme Ferientage haben werden.« »Wir dürfen also weiterreisen?« fragte ich, noch verwundert, daß Mirabel uns so leicht ziehen ließ. »Sie wünschen nicht, daß wir bei der Leichenschau anwesend sind?« »Das wird nicht nötig sein«, versicherte Mirabel. »Sie dürfen Ihre Reise fortsetzen, damit Mr. David Foster recht bald seine Brille zurückbekommt - die er, wie ich annehme, geradezu schmerzlich vermissen muß.« Ich hatte mich zugleich mit Mirabel erhoben, wollte ihn aber noch immer nicht gehen lassen. »Gestatten Sie, Inspektor, daß ich Sie etwas frage?« Er zuckte unverbindlich die Achseln, wartete aber auf meine Frage. »Wissen Sie Genaueres über die Frau, die in der 36
Avenue Georges V. ermordet wurde?« »Wir haben einiges über sie in Erfahrung ge bracht«, erwiderte Mirabel bereitwillig. »Sie führte, je nach Bedarf, verschiedene Namen, nannte sich jedoch meistens Lydia Maresse. Sie war der Interpol als Mitglied internationaler Verbrecherbanden bekannt.« »Gibt es Anhaltspunkte für das Motiv ihrer Ermor dung?« »Keine.« Ich zögerte einen Moment lang, etwas verwirrt durch Mirabels unübersehbare Ironie. Dann sagte ich: »Inspektor, bestimmt ist Ihnen nicht entgangen, daß zwischen diesen beiden Morden irgendeine Verbin dung bestehen muß, zumal in Diana Simmonds' alias Lydia Maresses Handtasche ein an Judy Wincott gerichteter Brief gefunden wurde. Außerdem muß Ihnen aufgefallen sein, wie merkwürdig es ist, daß meine Frau und ich bei beiden Morden in nächster Nähe waren.« Mirabel hob die Augenbrauen und studierte seine tadellos manikürten Fingernägel, während er erwider te: »Keine dieser Tatsachen ist uns entgangen, Mr. Temple. Um so mehr sind wir befriedigt, daß Sie weder mit dem einen noch mit dem anderen Verbre chen zu tun hatten.« Er lächelte, reichte mir noch einmal die Hand und ging zur Tür. Steve und ich hatten nun einen halben Tag totzu 37
schlagen. Wir hatten wieder für einen Nachmittags flug gebucht, diesmal nach Algier. Steves größter Wunsch für unsere freien Stunden war, möglichst weit fort von dem verwünschten Hotel, möglichst viel reine, frische Luft zu schöpfen. Von früher her wußten wir, wo man kleine Segelboote mieten kann. Da Segeln ein Sport ist, dem wir beide huldigen, befanden wir uns gegen halb zwölf in einem hübschen kleinen Boot schon ziemlich weit draußen auf dem Meer. Für eine Stunde genossen wir die Illusion, nicht von neugierigen Augen beobachtet zu werden. Vom Meer aus gesehen ist Nizza besonders hübsch - die lange Strandpromenade, die weißen Häuser mit ihren lustig-bunten Sonnenmarkisen, dahinter die maleri schen Hügelketten. Eine Anzahl anderer Boote tummelte sich in der Bucht. Schnelle Motorboote zogen Wasserskiläufer hinter sich her. Segeljachten der unterschiedlichsten Größen, zum Teil mit farbigen Segeln, belebten das Bild. Das Wasser war nicht rauh, doch wehte genug Wind, um das Segeln zu einer Tätigkeit zu machen, die etwas Kraft und viel Aufmerksamkeit erforderte. Ab und zu dröhnten, ziemlich niedrig, Flugzeuge über uns hinweg, die vom Flughafen Nizza aufgestiegen waren oder dort landen wollten. Der Wind zerzauste Steves Haar, und ich freute mich zu sehen, daß etwas Farbe in ihre bleichen Wangen zurückkehrte. Wir hatten eben gewendet und 38
saßen auf der Reling, um den Winddruck auszubalan cieren, als sie auf eins der Motorboote zeigte, das, im Gegensatz zu den anderen, seit einiger Zeit immer in unserer Nähe manövriert hatte. »Der Insasse scheint sich für uns zu interessieren«, rief sie mir laut genug zu, um das Zischen des Gisch tes und die anderen Geräusche des Wassers zu über tönen. »Ich glaube, er beobachtet uns durch ein Fernglas.« Ich hielt sekundenlang Ausschau nach dem Motor boot, dann Lachte ich Steve zu. Sie ist eine sehr hübsche Frau, aber außerordentlich bescheiden, und bringt es einfach nicht über sich, das merkliche Interesse eines anderen Mannes in Beziehung zu ihrer eigenen Attraktivität zu setzen. In der blauen Hose und der scharlachroten Hemdbluse, die sie bei unserer Segelpartie trug, bildete sie wahrscheinlich das Ziel für mehr als ein Paar Augen. Eine plötzliche Bö drückte unser Boot so gefährlich auf die Seite, daß wir uns weit hinauslehnen mußten, um zu verhindern, daß das Segel ins Wasser geriet. Es war eine unerfreuliche Situation, und wir brauchten eine arbeitsreiche Minute, um das Boot wieder unter Kontrolle zu bekommen. Unser Segel verbarg das kreuzende Motorboot vor unseren Blicken, bis ich endgültig Kurs auf das Ufer genommen hatte. Die Geräusche von Wind und Wasser waren so laut, daß wir nichts von dem Motorgeräusch hörten. Als ich schließlich das kraftvolle Brummen vernahm, dachte 39
ich, es sei nur wieder eins der startenden Flugzeuge. Steves Ausruf lenkte meine Aufmerksamkeit nach Steuerbord: »Ändre den Kurs, Paul! Er kommt direkt auf uns zu!« Ich blickte auf und sah das Motorboot höchstens siebzig oder achtzig Meter entfernt. Seine Maschine schien mit voller Kraft zu laufen, denn sein Bug ragte schräg aus dem Wasser empor und warf hohe schäu mende Wellen auf. Sein Tempo, von vorn gesehen schlecht zu schätzen, mochte vielleicht fünfzig Kilometer betragen. Bei seinem jetzigen Kurs mußte es uns unweigerlich rammen. Es war aussichtslos, durch Schreien die Aufmerk samkeit des Mannes am Steuer zu erwecken. Er hätte uns nicht gehört. Und der Bug seines Bootes war so hoch erhoben, daß ich bezweifelte, ob er uns über haupt sehen könne. Ich warf die Ruderpinne herum und duckte mich, um die Spiere unseres Großsegels nicht an den Kopf zu bekommen. Unser Boot beschrieb eine Wendung von neunzig Grad, verlor sofort alle Fahrt und wiegte sich dümpelnd auf dem Wasser - eine hilflose, unbe wegliche Beute für das Motorboot, das auf uns zukam wie ein niederstoßender Falke. Als es auf etwa zwanzig Meter heran war, packte ich Steve bei der Hand und schrie: »Springen!« Hand in Hand sprangen wir ins Meer, so weit wir nur konnten. Beim Auftauchen hörten wir hinter uns das Krachen und Splittern von Holz. Das starke 40
Motorboot hatte unsere kleine Jolle buchstäblich in zwei Teile zerschnitten, die sofort abzusacken began nen. Im nächsten Moment traf uns die hohe schäu mende Bugwelle und drückte uns unter Wasser. Die ganze Zeit hielt ich Steves linke Hand fest in meiner rechten. Als wir unsere Köpfe wieder über Wasser brachten und Atem schöpften, klang das Brummen des Motor bootes schon ziemlich weit entfernt. Dann hob mich eine Welle, und ich sah das Boot mit hoher Ge schwindigkeit in Richtung Monte Carlo entschwin den. Das größte Wrackstück, das ich entdecken konnte, war der untere Teil des Mastes mit den beiden daran hängenden Rettungsringen. Ohne einander loszulas sen, paddelten wir darauf zu, bis wir es erreichten und uns an den Rettungsringen festhalten konnten. Sobald Steve wieder einigermaßen normal atmen konnte, fragte sie ironisch: »Nun, behauptest du immer noch, daß der Mann in dem Motorboot nur an meiner Figur interessiert war?« Ich hielt es für besser, die Antwort schuldig zu bleiben. Während wir an unserem Stück Mast im Spiel der Wellen auf und nieder wippten, schien mir die Küste unendlich weit entfernt. Keins der anderen Boote hatte den Unfall bemerkt, und von unserer Jolle war nicht genug übriggeblieben, um Aufmerksamkeit zu erregen. Glücklicherweise war die Wassertemperatur 41
durchaus erträglich. Ich dachte, daß wir es ohne weiteres bis gegen Abend aushalten könnten, und während dieser Stunden würde bestimmt irgendein Boot nahe genug herankommen, um uns zu bemerken. Indessen dauerte es kaum zwanzig Minuten, bis man uns fand. Ein ziemlich langsames, aber offenbar sicheres Fischerboot tuckerte direkt auf uns zu. Als es sich bis auf vierzig oder fünfzig Meter genähert hatte, fing ich allerdings an, mich zu fragen, ob wir darauf überhaupt Platz finden würden. Jedenfalls schien es, als befinde sich annähernd die halbe Bevölkerung von Nizza an Bord, um unsere Rettung mitzuerleben. So zahlreiche eifrige Helfer griffen zu, um uns aus dem Wasser zu ziehen, daß uns beinahe die Arme ausgerissen wurden. Einige besonders beflissene Retter waren auch gar zu gerne bereit gewesen, künstliche Beatmung an Steve zu versuchen. »Doucement, doucement! Faites place pour ma dame!« Mein Französisch klang ziemlich echt. Doch leider verrät sich fast jeder Engländer durch die etwas schleppende Art der Sprache. So wunderte es mich nicht, einen englischen Zuruf zu hören. Ich blickte umher und sah den jungen Mann, der letzte Nacht bei der Entdeckung von Judy Wincotts Leiche anwesend war. Sein Name war, wie ich nun wußte, Tony Wyse. Er schien bei Besatzung und Passagieren des Bootes als Leiter der Rettungsaktion zu gelten; jedenfalls wurde dank seiner Anweisungen etwas Platz für uns 42
gemacht, während hilfreiche Hände trockene Pullover und Decken um unsere nassen Körper schlangen. »Glücklicher Zufall, daß ich sah, wie es passierte«, erklärte uns Tony Wyse, als er sein Feuerzeug an die Zigaretten hielt, die wir von ihm angenommen hatten. »Ich segle selber recht gern und beobachtete Ihr Boot durch eins der Münzfernrohre auf der Promenade.« »Sie haben es also gesehen!« rief ich aus. »Das ist gut! Ich möchte den Eigentümer dieses Motorbootes erwischen! Das Segelboot ist ein völliger Verlust, und irgendwer wird dafür bezahlen müssen!« »Oh, darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen«, beschwichtigte Wyse leichthin. »Alle diese Leihboote sind ausreichend versichert.« Seine Tageskleidung war ebenso individuell wie seine Nachtgewandung. Er prunkte mit einer rehbrau nen Flanellhose, dazu passenden Wildledersandalen, einem dieser farbenfrohen, diagonal gestreiften spanischen Hemden, die man über der Hose trägt, und einem seidenen Halstuch - letzteres natürlich mehr der Eleganz als der Wärme wegen. »Der Kerl tat es absichtlich!« äußerte Steve ziem lich wild. »Ich weiß, daß er uns vorher genau beo bachtet hat! Wären wir nicht ins Wasser gesprungen, hätte der Zusammenstoß uns getötet! Und ich sage dir, Paul, das alles kommt nur durch diese verwünschte -« »Bestimmt war es nur ein unglücklicher Zufall«, unterbrach ich sie schnell und wandte mich an Wyse: »Wie erschien es Ihnen?« 43
Wyse machte eine elegante Handbewegung und erwiderte: »Schwer zu sagen, ob er Ihr Boot gesehen hat oder nicht. Aber ich würde ernstlich kaum behaup ten wollen, daß er Ihr Boot absichtlich überrannt hat. Nein, das würde ich kaum wollen. Übrigens wissen Sie wohl auch gar nicht, wer es gewesen ist? Oder?« Er sprach im Ton eines guten Onkels, der ein er schrockenes Kind beruhigen möchte. »Warum aber -«, begann Steve. »Nein, natürlich nicht«, warf ich hastig ein und versuchte Steves Protest durch ein verstohlenes Zwinkern zu stoppen. »Es war ganz offensichtlich einer dieser unglücklichen Zufälle. Doch sind wir Ihnen deswegen nicht weniger dankbar, daß Sie uns so prompt zu Hilfe kamen. Welch eine gütige Fügung, daß Sie gerade durch ein Fernrohr schauten. Nun sieht es so aus, als können wir das Nachmittagsflugzeug nach Algier doch noch erreichen.« »Oh, Sie fliegen heute nachmittag nach Algier?« fragte Wyse, breit lächelnd und den Blick tröstend auf Steves Gesicht gerichtet. »Das ist aber wirklich nett! Ich selbst werde auch in dem Flugzeug nach Algier sein.« Wir erreichten das Flugzeug buchstäblich in letzter Minute. Es hatte ziemlich lange gedauert, mit dem Bootsverleiher ins reine zu kommen. Danach konnten wir unsere Sachen nur noch auf gut Glück in unsere Koffer werfen, unseren Lunch in Rekordzeit hinun terwürgen und mit einem Taxi zum Flugplatz jagen. 44
Die anderen Passagiere waren bereits in die große Air-France-Maschine geleitet worden. Eine Boden stewardeß brachte uns in einer Art Laufschritt auf das Rollfeld, fast so schnell, wie der Elektrokarren unsere Koffer dorthin fuhr. Unmittelbar nachdem wir die Maschine bestiegen hatten, wurde die Einstiegtreppe fortgeschoben und die Tür geschlossen. Unsere vorbestellten Plätze befanden sich etwa in der Mitte des langen Rumpfes - zwei einander gege nüberliegende Sitze am Fenster. Das Flugzeug war höchstens zu einem Drittel besetzt, aber ausgerechnet auf dem Platz neben dem von Steve hatte sich eine aparte weibliche Erscheinung niedergelassen, deren Alter ich zwischen zweiundzwanzig und siebenund zwanzig schätzte. Daß sie Französin war, schien vom ersten Moment an klar. Höflich lächelnd zog sie die Beine an, um uns passieren zu lassen. Da ich im Mittelgang wartete, bis Steve ihren Platz sicher erreicht hatte, konnte ich sehen, wie die beiden Frauen, beide lächelnd, beide liebenswürdig, wach sam abwägende Blicke tauschten. Der Kontrast zwischen ihnen war beträchtlich. Steve ist dunkelhaarig und begnügt sich meistens mit sparsamem Make-up. Die Französin hatte aschblondes Haar, schimmernd und so makellos frisiert, als wäre sie erst am Vormittag beim Coiffeur gewesen. Ihre Wimpern waren zu lang, um echt zu sein, ihre Finger nägel korallenrot lackiert und ihre Lippen mit einem dazu passenden Lippenstift getönt. Aber es gab nichts 45
Billiges oder Auffallendes an ihrer Erscheinung. Man mußte sie als eine von Natur aus sehr hübsche Person anerkennen, die große Sorgfalt und guten Geschmack für ihre Schönheit aufwendete. In Luftreisen allerdings schien sie unerfahren zu sein. Denn als das Signal zum Anlegen der Sicher heitsgurte aufleuchtete, hantierte sie so ratlos mit ihrem Gurt, daß er sich mit dem von Steve verhedder te. Steve half ihr beim Anschnallen. Die Französin zeigte ein reizendes Lächeln, suchte ihre Englischkenntnisse zusammen und flüsterte: »Oh, ich danken Sie sehr viel.« Dann lachte sie leise und ein bißchen verlegen. »Ach, nichts zu danken«, antwortete Steve freund lich. »Sie sind nicht an Luftreisen gewöhnt?« »Bitte?« »Ich meinte: Sie sind noch nicht oft im Flugzeug gereist?« Die Französin schüttelte den Kopf - behutsam, um die Frisur nicht zu gefährden - und erläuterte: »Oh, manchmal schon. Doch seit einige Jahr nicht mehr.« Das Flugzeug schwenkte auf Kurs zur Startbahn ein und begann schneller zu rollen. Eine ermutigend lächelnde Stewardeß ging den Mittelgang hinunter und ermahnte die Passagiere, ihre Zigaretten oder Zigarren oder Pfeifen auszumachen; gleichzeitig überzeugte sie sich, ob jeder seinen Sicherheitsgurt angelegt hatte. Die Französin beugte sich nach vorn und beobach 46
tete durch das Fenster, wie draußen der Erdboden immer schneller vorbeihuschte. Ich wußte, daß Steve sie ablenken wollte, indem sie eine kleine Unterhal tung begann. »Bleiben Sie in Algier, oder reisen Sie weiter?« »Ich will nach Tunis. Über Nacht muß ich natürlich in Algier bleiben, weil ich erst morgen weiterfliegen kann.« »Genauso machen wir es auch. Wir werden morgen also wieder Reisegefährten sein.« »Ja? Oh, wie hübsch. Ich sah Sie vergangene Nacht im Hotel, als die Polizei alle Hotelgäste vernahm.« »Ach, Sie haben auch dort gewohnt?« »Ja. Oh, wie sehr - äh - desagreable muß es für Sie gewesen sein, das arme Mädchen so zu finden.« »Gewiß«, bekannte Steve, »das war es - sehr unan genehm.« »Wie schrecklich, zu denken, daß Sie im nächsten Zimmer waren, als ein Mörder sein Verbrechen verübte.« Nun, da die Unterhaltung in Gang gekommen, ver besserte sich das Englisch unserer Nachbarin. Sie schien sehr interessiert an Einzelheiten über Judy Wincotts Ermordung und begann Steve mit Fragen zuzusetzen. »Denken Sie, daß es ein Versuch war, die Polizei glauben zu machen, Sie und Ihr Gatte hätten die Tat begangen?« Steve warf mir einen etwas verwirrten Blick zu, ehe 47
sie antwortete: »Lieber Himmel, nein, das denke ich nicht.« »Aber ist es nicht eine Tatsache, daß Sie, wäre der andere Monsieur nicht zugegen gewesen, hätten geraten können in eine sehr, sehr unerfreuliche Situation?« »Nun, wahrscheinlich wären wir -«, begann Steve. »Oh«, warf die Französin eifrig ein, »ich allerdings denke, daß sie ermordet wurde, ehe man sie in jenes Zimmer brachte.« »Aber warum«, fragte Steve verwundert, »warum machte dann der Mörder so viel Geräusch, als er die Leiche in den Wandschrank legte?« »Nun«, entgegnete die Französin versonnen, »viel leicht wollte er, daß sie tun sollten, genau was Sie taten - in das Zimmer gehen, wo die Leiche lag.« Das Flugzeug hatte die Startbahn erreicht. Das Dröhnen der Motoren schnitt jede weitere Unterhal tung ab. Die Stewardeß hatte sich auf ihrem Sitz am rückwärtigen Kabinenende angeschnallt. Das Flug zeug begann in schnell zunehmendem Tempo über die Startbahn zu rasen. Die Französin neigte ihren Kopf zurück gegen die Sitzlehne. Ich sah, wie sie zweioder dreimal schluckte, aber das war alles, was sie an Nervosität zu erkennen gab. Nach wenigen Augenblicken erhob sich das Flug zeug vom Boden. Das Rumpeln hörte auf, unsere Vorwärtsbewegung wurde seidenweich. Schon war das Meer unter uns. Es sank schnell zurück, als das 48
Flugzeug stieg und Kurs auf die nordafrikanische Küste nahm. Die Leuchttafeln mit dem Rauchverbot erloschen; von überallher ertönte das Klicken der Verschlüsse, als die Passagiere ihre Sicherheitsgurte lösten. Sobald sie von ihrem Gurt befreit war, öffnete die Französin ihre Handtasche, holte ein goldenes Ziga rettenetui heraus, bot uns Zigaretten an, steckte ihre eigene Zigarette in eine elegante Spitze, griff noch mals in die Handtasche und brachte ein Briefchen Zündhölzer zum Vorschein. Die Hülle des Briefchens war dunkelblau und trug die in Gold aufgedruckten Initialen S.L. Sie riß ein Hölzchen an und hielt es zunächst Steve hin und dann mir. Ich sah, wie meine Frau sehr neugierig auf das Zündbolzbriefchen guckte. Zuletzt zündete die Französin ihre eigene Zigarette an. »Ihnen gefallen meine Zündhölzchen?« fragte sie nach dem ersten Zug; sie hatte also Steves neugieri gen Blick auch bemerkt und lächelte. »Ich lasse sie mir eigens anfertigen. Ein billiges Vergnügen, es kostet nicht viel. Das sind meine Initialen. Simone Lalange. Sehr hübsch, nicht wahr?« Ich hielt Steves betont liebenswürdige Bejahung für etwas verkrampft und war enttäuscht, daß sie die Unterhaltung nicht fortsetzte. Ihr Ausdruck hatte sich verändert; sie sah mich so merkwürdig an, daß ich fürchtete, sie habe mit beginnender Luftkrankheit zu kämpfen. 49
Ich lehnte mich zu ihr hinüber und fragte besorgt: »Fühlst du dich ganz wohl, Steve?« »Ach, danke. Eigentlich ja. Aber ich glaube, ich könnte einen Brandy brauchen, um meinen Magen zu beruhigen. Wir haben unseren Lunch wirklich in Weltrekordzeit verschlungen.« »Im Heck dieser Maschine ist eine kleine Bar. Wol len wir hingehen und etwas trinken?« »Oh, gerne.« Bisher hatte noch niemand daran gedacht, die Bar aufzusuchen; wir hatten das kleine Abteil also für uns. »Paul«, flüsterte Steve mir zu, sobald der Steward unsere Getränke gebracht und sich wieder hinter seinen winzigen Tresen zurückgezogen hatte, »Paul, erinnerst du dich daran, wie wir letzte Nacht vor jener Zimmertür standen, kurz bevor wir die Leiche ent deckten?« »Ja, genau.« »Nun, ich bemerkte etwas auf dem Boden des Kor ridors und hob es auf. Es war ein leeres Zündholz briefchen.« »Ich sah, daß du dich bücktest, und wunderte mich, was dir hinuntergefallen sein könnte. Inzwischen hatte ich es völlig vergessen.« »Ich auch. Aber jetzt weiß ich es wieder genau. Das Briefchen hatte eine blaue Hülle mit den Initialen S.L.« Ich blickte instinktiv durch die offene Tür zu den Sitzen, die wir eben verlassen hatten. 50
»Du hast das Zündbolzbriefchen dieser Simone Lalange gesehen«, fuhr Steve fort. »Es stimmt haar genau mit dem überein, das ich gefunden habe.« »Warum hast du der Polizei nicht von deinem Fund erzählt? Er könnte sehr wichtig sein.« »Ach, ich hatte die ganze Sache völlig vergessen. Das gefundene Briefchen ist noch in der Tasche meines Hausmantels.« »Nun, vielleicht ist es auch nicht so sehr wichtig«, versuchte ich Steve zu beruhigen. »Man mag Made moiselle Lalange das Zimmer gezeigt haben, ehe es an Mr. Leyland vermietet wurde. Oder sie hat das Briefchen fortgeworfen, als sie zufällig den Korridor entlangging. Oder es war überhaupt nicht ihr Brief chen. Sam Leyland hat dieselben Initialen. Und Geschäfte, in denen man solche Spezialanfertigungen machen lassen kann, gibt es auch in England. Viel leicht stammte das gefundene Briefchen also von Sam Leyland.« »Vielleicht«, entgegnete Steve zweifelnd. »Aber hast du nicht gehört, was sie über den Mord sagte? Sie scheint mehr Theorien zu haben als sonst jemand.« »Nun, wenn du wirklich Argwohn gegen sie hegst, würde ich dir raten, etwas freundlicher zu ihr zu sein. Sie dürfte sich dann offener geben, als wenn du ihr die kalte Schulter zeigst.« »Habe ich ihr die kalte Schulter gezeigt?« »Ja. Du wurdest stumm wie eine Auster, als sie dir Feuer für deine Zigarette reichte. Ich kann mir nicht 51
vorstellen, daß sie in diese Sache verwickelt ist. Aber ich denke, du solltest sie ein bißchen hofieren. Auf jeden Fall wäre sie eine attraktive Bekanntschaft für die Familie.« Steves Blick hatte das Glitzern eines Dolches in sich. »Ich weiß ja, daß du alle meine Theorien für sehr belustigend hältst«, sagte sie nicht ohne Würde. »Aber ich bin überzeugt, daß eine höchst fragwürdige Sache im Gange ist und daß diese Sache mit der verwünsch ten Brille zu tun hat. Der Brille wegen wurden Judy Wincott und diese Diana Simmonds ermordet, der Brille wegen sollten wir beide heute vormittag auf den Grund des Meeres geschickt werden. Irgendwer ist entschlossen, zu verhindern, daß wir sie David Foster übergeben.« »Während du entschlossen bist, uns keinesfalls daran hindern zu lassen?« »Zum erstenmal richtig«, antwortete Steve kriege risch und zeigte den energischen Ausdruck, den sie immer zeigt, wenn sie etwas unbedingt will. Das Flugzeug hatte seine Flughöhe erreicht und zog nun waagerecht dahin. Ich stellte mein Glas auf unser niedriges Tischchen und blickte Steve vergnügt an. »Wenn diese Brille so unerhört wichtig ist, bin ich froh, daß du dich um sie kümmern willst. Ich hoffe doch, du hast sie noch?« »Natürlich. Sie ist hier in meiner Handtasche.« Sie machte die Handtasche auf, um es mir zu be 52
weisen. Eine Sekunde später wühlte sie fieberhaft in der Kollektion teils nützlicher, teils überflüssiger Dinge, die sie darin spazierenträgt. Dann zog sie die Hand heraus und klappte die Tasche zu. »Sie ist weg! Jemand muß sie aus meiner Tasche genommen haben, seit wir im Flugzeug sind. Sie war noch da, als wir unsere Flugscheine vorzeigten. Diese Französin -! Ich weiß, daß sie -« Steve wollte sich erheben, aber ich hielt sie zurück und klopfte mit der anderen Hand auf meine Brustta sche, in der die Brille sicher hinter dem Taschentuch verborgen war. »Ich hielt es für weise, dich von dieser Verantwor tung zu befreien. Hast du vergessen, daß dir seit Beginn unserer Ehe drei Handtaschen verlorengegan gen sind, die ich dir geschenkt hatte?« Sie betrachtete mich nun mit unverhohlener Abnei gung. »Bisweilen erweckst du den Eindruck, als seist du der Loyalität einer anständigen Frau nicht würdig«, erklärte sie in ihrem verächtlichsten Ton und verließ die Bar. Ich sollte nicht lange allein in der Bar bleiben. Entweder durch Zufall oder weil er Steve hatte hinausgehen sehen, erschien nach wenigen Augen blicken Tony Wyse. Er begrüßte mich herzlich und setzte sich, nachdem er einen Brandy mit Soda bestellt hatte, an mein Tischchen. Für die Reise trug er einen 53
eleganten dunkelgrauen Anzug, dunkelgraue Wildle derschuhe und, zu einem beigefarbenen Seidenhemd, eine dunkelgrau und schwarz gemusterte Krawatte. Nach den Ereignissen der letzten Nacht und der Rettungsaktion an diesem Vormittag schien er mich als eine Art lange vermißten Bruder zu betrachten. »Eins verwirrt mich, Temple. Als Sie letzte Nacht die Schranktüren öffneten und uns den gräßlichen Anblick des ermordeten Mädchens enthüllten, reagier te Ihre Frau auf eine Art, die mich sehr nachdenklich machte. Sie schien sofort zu wissen, wer die Ermorde te war.« Wyse spielte mit seinem Glas, beobachtete mich aber genau, als er hinzufügte: »War sie eine Freundin von Ihnen beiden?« »Das eigentlich nicht. Wir sind ihr zwar in Paris begegnet, aber nur ganz flüchtig.« »In Paris?« Diese Neuigkeit schien ihn zu überra schen. »Ja. Eine Zufallsbekanntschaft. Sie war meiner Frau mit Einkaufsratschlägen behilflich. Daraufhin luden wir sie zu einem Aperitif ein.« »Haben Sie das der Polizei gesagt?« »Natürlich. Glauben Sie, ich hätte versucht, etwas zu verschweigen?« »Nein, wahrhaftig nicht!« Wyse nahm einen Schluck aus seinem Glas und bemühte sich, seinen Charme, der vorübergehend etwas verblichen war, wieder strahlen zu lassen. »Ich bedauere, so neugierig gewirkt zu haben. Aber es ist doch begreiflich, daß 54
man viel über einen Mord nachdenkt, wenn man sozusagen über das Opfer stolperte, als es noch warm war.« »Ich fürchte, ich kann Ihnen dazu nichts Neues sagen.« Wyse schien den Wink zu verstehen und wechselte das Thema.« »Ist dies Ihre erste Reise nach Nordafrika?« »Ja.« »Vielleicht kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Ich kenne Algier und Tunis ziemlich gut. Ich empfände es als Auszeichnung, wenn Sie mir erlau ben würden, Sie und Ihre Gattin zu einigen Sehens würdigkeiten zu führen.« Ich hatte das Gefühl, daß mir ein ganzer Tag von Wyses Allerweltsgeschwätz ziemlich auf die Nerven gehen würde, und entgegnete höflich lächelnd: »Oh, das ist außerordentlich nett von Ihnen. Aber wir hoffen in Algier und Tunis Freunde zu treffen. Fliegen Sie geschäftlich dorthin?« »Ja. Ich arbeite für Freeman und Bailey - die Inge nieursfirma, wissen Sie. Wir haben viel mit der TransAfrika-Öl-Company zu tun.« »Mit der Trans-Afrika-Öl? Vielleicht kennen Sie einen Bekannten von mir, der bei dieser Firma arbeitet? David Foster ist sein Name.« »David Foster?« Wyse wiederholte den Namen nachdenklich. »Nein, ich kann nicht sagen, daß ich ihn kenne. Wissen Sie, ich komme soviel herum, daß 55
ich von jeder Niederlassung nur ganz wenige kenne.« »Sind Sie Ingenieur?« »Kein ausgebildeter Ingenieur, obwohl ich natür lich gewisse Kenntnisse habe. Ich bin in der Abtei lung, die sich mit der Herstellung neuer und der Pflege bestehender Beziehungen befaßt. Praktisch also immer unterwegs, könnte man sagen.« Er lächelte herzerwärmend, aber ich spürte, daß er, so gerne er fragte, selbst nicht gerne auf Fragen antwortete. Kurz darauf entschuldigte er sich, bezahlte sein Getränk und entschwand. Die Bar wurde allmählich voller, und ich fand, daß ich meinen Platz für jemand anders frei machen sollte. Ich schickte mich eben an aufzustehen, als mich der sanfte Druck einer Hand auf meine rechte Schulter stoppte. Leicht verwundert blickte ich auf die Hand hinab. Sie war fett und weiß, mit Grübchen an den Finger knöcheln. Hinter der schneeweißen Seidenmanschette war der schwarze Stoffärmel eines sehr teuren Anzugs zu sehen. Mein Blick wanderte weiter, bis er die gesamte Erscheinung des Mannes erfaßt hatte, der nun neben mir Platz nahm. Ich konnte ihn auf Anhieb nicht leiden. Das schwe re süßliche Parfüm, das er benutzte, legte die Vermu tung nahe, daß sein eigener Körpergeruch stark und unangenehm sei. Seine Augen waren klein und verschlagen, seine dicken Lippen lasterhaft. Er hatte eine Stirnglatze, aber sein öliges Nackenhaar ringelte 56
sich über den Kragen hinab. »Einen Moment, bitte. Sie sind Mr. Temple, nicht wahr?« Er sprach mir unangenehm dicht ins Gesicht und mit wispernden Tönen. »Der bin ich. Aber ich glaube nicht, daß ich das Vergnügen habe, Sie zu kennen.« »Wahrscheinlich nicht«, bestätigte der feiste Mann. »Mein Name ist Constantin, Blanys Constantin. Und Sie sind also Mr. Paul Temple?« Ich hielt es für überflüssig, darauf zu antworten. Der Steward kam, um Constantin nach seinen Wün schen zu fragen, aber jener winkte ihn ungeduldig fort. »Sie waren letzte Nacht in Nizza, Mr. Temple, und wohnten in dem Hotel, in dem Judy Wincott umge bracht wurde?« »Ja. Die Zeitungen haben eine gute Geschichte daraus gemacht.« »Keine ganz vollständige Geschichte, Mr. Temple. Nirgendwo war zu lesen, daß Sie Miss Wincott bereits in Paris getroffen hatten.« »Wahrscheinlich wurde dies nicht als mitteilens wert erachtet.« »Andere Leute mögen es trotzdem als sehr interes sant erachten - meinen Sie das nicht auch, Mr. Tem ple? Insbesondere solche Leute, die den Grund für Miss Wincotts Besuch in Ihrer Wohnung in der Avenue Georges V. kennen.« 57
Der Mann war noch näher gerückt und wisperte mir jetzt fast direkt ins Ohr. Da ich in einer Ecke saß, konnte ich nicht ausweichen, falls ich nicht Gewalt anwenden wollte. Er fuhr fort: »Sie sagten der Polizei nicht, daß Miss Wincott Ihnen ein sehr wertvolles Dokument anver traute. Das haben Sie verschwiegen - nicht wahr, Mr. Temple?« Ich fühlte Ärger in mir aufwallen, gab es aber nicht zu erkennen, sondern erwiderte ruhig: »Ich habe der Polizei nichts dergleichen gesagt, weil es absolut unwahr gewesen wäre.« »Ei, ei«, hauchte er mir ins Ohr, »Sie und ich wis sen das besser.« »Wenn Sie die Wahrheit hören wollen, bitte. Miss Wincott bat mich lediglich, einem Mr. David Foster, der in Tunis lebt, eine Brille zu überbringen. Miss Wincott hatte zufällig erfahren, daß meine Frau und ich nach Tunis wollen.« Constantin blinzelte mehrmals sehr hastig und schien irgendwie außer Fassung geraten. Doch dann ging er gleich wieder zum Angriff über. »Man hat Sie zum Narren gehalten, Mr. Temple. Es gibt keinen David Foster. Und diese Brille wird Ihnen nur Schwierigkeiten bringen.« »Mr. Constantin, ich denke, Sie sind es, der sich hier zum Narren macht. Es ist eine ganz normale Brille, ohne jedes Geheimnis. Das hat die Polizei festgestellt. Erwiesen ist auch, daß sie mit dem Mord 58
an Miss Wincott nicht in Verbindung gebracht werden kann.« »Nichtsdestoweniger« - Constantin spähte unruhig umher, um sich zu vergewissern, daß niemand lausch te -, »nichtsdestoweniger werde ich Ihnen eintausend Pfund geben, wenn Sie mir diese Brille überlassen.« Ich begann zu lachen und schüttelte den Kopf, aber Constantin rückte mir so auf den Leib, daß er mich mit seinem Wanst regelrecht in die Ecke drückte. »Fünftausend Pfund!« zischte er mir ins Ohr. Und dann, fast ohne Pause: »Zehntausend! Ich kann soviel zahlen, glauben Sie mir! Sie erhalten Ihr Geld, wenn wir in Algier ankommen!« »Mr. Constantin, Sie verschwenden Ihre Zeit«, sagte ich grob und stieß ihn beiseite, so daß ich endlich aufstehen konnte. »Nein«, rief er mir halblaut nach, als ich die Bar verließ, »Sie sind es, der seine Zeit verschwendet. Ich sage Ihnen, Sie werden Ihren David Foster niemals finden!«
59
3
Als ich zu unseren Sitzen zurückkehrte, fand ich, daß Steve der Französin ihren Fensterplatz geopfert hatte. Aber Mademoiselle Lalange war, vermutlich ermüdet vom Anblick des eintönig ruhigen Meeres, in Schlaf gesunken. Ich winkte Steve, auf meinen Platz hinüberzuwechseln, und setzte mich auf den leeren Sitz daneben. Außer uns dreien war niemand weiter in der unmittelbaren Nähe. »Du hattest recht«, raunte ich Steve zu. »Diese Brille hat irgendeine eigentümliche Bedeutung. Ich kann mir nicht vorstellen, wieso. Aber es gibt Leute, die viel Geld dafür bezahlen wollen. Und wo es um viel Geld geht, sind häufig genug auch Mordmotive vorhanden.« Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit Con stantin und dem märchenhaften Angebot, das dieser Mann mir gemacht hatte. Steve nickte, ohne den Blick von der schlafenden Französin zu wenden. Sie schien meinen Bericht nur als eine Bestätigung dessen zu empfinden, was sie längst gewußt hatte. »Der Anlaß für die Ermordung dieser beiden Mäd chen steckt in deiner Brusttasche«, antwortete sie milde. »Übrigens habe ich auch etwas Interessantes entdeckt. Ich hatte« - sie wies auf die schlafende Französin - »eine nette Unterhaltung mit ihr. Sie hat mir praktisch ihre ganze Lebensgeschichte erzählt. Ahnst du, was sich herausstellte? Sie reist nach Tunis, 60
weil sie Freunde bei der Trans-Afrika-Öl hat. Ein merkwürdiger Zufall, nicht wahr?« »Kennt sie David Foster?« »Ich fragte sie. Aber sie sagte nein, sie kenne bis jetzt nur die Namen von drei oder vier Leuten in der Firma.« Wir beide betrachteten das schlafende Mädchen und stellten uns im stillen wahrscheinlich dieselbe Frage: Was hatte Simone Lalange in der vorigen Nacht - falls das leere Zündholzbriefchen von ihr stammte - bei der Tür von Nummer 12 zu tun gehabt? Der Rest des Fluges verlief ereignislos. Weder Constantin noch Wyse kamen wieder in unsere Nähe. Simone Lalange allerdings wachte nach einem Weilchen auf und erwies sich dann als recht unterhalt same Reisegefährtin. Sie widmete ihre Aufmerksam keit hauptsächlich mir und entwickelte dabei beachtli chen Charme. Mit stillem Vergnügen nahm ich die kleinen Doppelsinnigkeiten zur Kenntnis, die sich nach und nach in Steves anscheinend harmlose Bemerkungen schlichen. Am Ende war ich aber doch irgendwie erleichert, als die afrikanische Küste in Sicht kam und unser Flugzeug bald darauf zur Lan dung ansetzte. Die Air France hatte für die meisten Fluggäste Zimmer im Hotel Aletti gebucht, dem modernsten Hotel von Algier, mit wunderbarem Blick auf den Hafen. In dem Bus, der uns zum Hotel brachte, fuhren 61
auch Simone Lalange und Tony Wyse. Constantin war mir gleich nach der Landung aus den Augen geraten. Entweder hatte er beim Flughafen Freunde getroffen oder ein privates Beförderungsmittel vorgezogen. Der Empfangschef im Hotel ließ uns die üblichen Anmeldeformulare ausfüllen. Als er meins entgegen nahm, hob er die Augenbrauen und sagte: »Mr. Temple? Wir hatten einen Telefonanruf für Sie. Vor einer halben Stunde fragte ein Herr, ob Sie bereits eingetroffen wären.« »Seltsam«, raunte ich Steve zu. »Ich kenne nie manden in Algier und habe doch auch niemanden benachrichtigt, daß wir kommen.« Ich wandte mich an den Empfangschef: »Nannte er einen Namen?« »Non, Monsieur. Er sagte, er würde Sie später wie der anrufen.« Unser Zimmer erwies sich als ein Prachtraum mit sehr schönem Ausblick auf den Hafen. Aber zuerst mußten wir uns um unsere Kleidung kümmern, die wir in Nizza so hastig und lieblos in die Koffer geworfen hatten. Während wir dabei waren, sie in den großen Schrank zu hängen, sagte Steve: »Ach, Paul, ich wünschte, du würdest diese Brille an einem sicheren Ort deponieren.« »Traust du mir nicht zu, daß ich sie gut genug ver wahren kann?« »Das ist es nicht. Wenn dieser Mann Constantin sie 62
so dringend haben will, daß er zehntausend Pfund dafür geboten hat, könnte er leicht versuchen, sie dir gewaltsam abnehmen zu lassen. Du selbst sagtest, daß, wenn es um viel Geld geht, häufig genug auch Mordmotive vorhanden sind. Warum bittest du nicht die Hotelverwaltung, die Brille in ihren Safe zu schließen?« Ich war mit meinen Toilette- und Rasierutensilien auf dem Weg in das kleine Badezimmer. »Du kannst doch nicht im Ernst von mir erwarten«, entgegnete ich, »daß ich die Hotelverwaltung bitte, eine ganz gewöhnliche Brille in ihren Safe zu schlie ßen. Man würde mich für übergeschnappt halten. Außerdem könnte es bloß Aufmerksamkeit erregen.« »Es kann keine ganz gewöhnliche Brille sein«, widersprach Steve. »Sie muß einen sehr hohen Wert haben - für diesen David Foster und für andere.« »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieso. Die französische Polizei ist sehr gewissenhaft, und du darfst überzeugt sein, daß sie diese Brille peinlich genau untersucht hat.« Aus dem Bad wieder in das Zimmer zurückkeh rend, holte ich die Brille aus meiner Brusttasche und legte sie auf den Schreibtisch beim Fenster. Steve stand neben mir; wir beide sahen auf die Brille hinab. Es war schwer, sich etwas Harmloseres vorzustellen. Sie erinnerte mich irgendwie an den gütigsten Schul lehrer, den ich in meiner Kindheit gehabt hatte; ich mußte an süßlichen Pfeifentabaksrauch denken, an die 63
Lederrücken alter Lehrbücher und an das vertraute Rasseln des alten Rasenmähers auf der Kricketwiese vor unseren Klassenfenstern. Aber seitdem diese Brille in meine Hände gekommen war, hatten brutale Morde zwei Menschenleben ausgelöscht, hatte ein gemeiner Versuch stattgefunden, Steve und mich zu ertränken, hatte ein völlig Fremder mir zehntausend Pfund angeboten, wenn ich ihm die Brille überließe. »Ich begreife deine Haltung nicht, Paul.« Steves Ton verriet, daß sie meine Nachdenklichkeit mißdeu tete. »Du willst es einfach nicht ernst nehmen.« Ich legte ihr einen Arm um die Schultern. »Ich nehme es ernst, Steve. Ich glaube durchaus, daß an dieser Brille ein finsteres, wahrscheinlich tödliches Geheimnis hängt. Aber ich habe einem jetzt toten Mädchen mein Wort gegeben, sie ihrem Eigen tümer abzuliefern. Das will ich so schnell wie möglich hinter mich bringen. Und dann, Steve, werden wir unsere Ferien unbeschwert genießen.« Steve beantwortete mein Lächeln nicht. Ihr Blick war düster, als sie sagte: »Angenommen, Constantin hat recht, und du wirst David Foster nicht finden? Vielleicht existiert überhaupt kein David Foster?« »Wenn sich das herausstellt, werde ich die Brille wieder nach Frankreich mitnehmen und der dortigen Polizei übergeben. Dennoch denke ich, daß David Foster existiert - auch wenn er vielleicht unter einem anderen Namen bekannt ist. Es wäre durchaus mög lich, daß wir ihn schon getroffen haben.« 64
»Du meinst, er könnte Tony Wyse sein? Warum hatte er dich dann nicht einfach gebeten, ihm sein Eigentum auszuhändigen? Aber ich glaube nicht an diese Theorie. Ich bezweifle, daß Mr. Wyses Sehkraft so geschwächt ist.« Es war kennzeichnend für meine Gefühle, daß ich, als plötzlich das Telefon schnarrte, die Brille schnell in meine Brusttasche steckte und hinter dem Taschen tuch verbarg. Erst dann nahm ich den Hörer ab. »Hallo?« »Ist dort Mr. Temple?« »Ja. Wer spricht dort?« »David Foster. Ich erfuhr, daß Sie meine Brille haben, und hielt es für richtig, Sie anzurufen, um zu vereinbaren, wie ich sie von Ihnen erhalten kann.« »Oh, Mr. Foster?« Ich wiederholte den Namen, um Steve einen Wink zu geben. Sie stellte sich neben mich und drückte ein Ohr an die Außenseite des Hörers. »Ich habe nicht erwartet, von Ihnen zu hören, ehe wir nach Tunis kämen.« »Ach ja, freilich. Wissen Sie, ich bin geschäftlich für ein paar Tage nach Algier gekommen. Judy telegrafierte mir, daß Sie über Algier nach Tunis reisen würden. Ich dachte, ich könnte Ihnen weitere Mühen ersparen, wenn ich mir die Brille gleich hier von Ihnen geben ließe.« »Gewiß. Ich nehme ja an, Sie kommen ohne die Brille schwer zurecht.« »Oh -?« Die Stimme klang unsicher. »Bitte, wie 65
meinen Sie das?« »Nun, ich denke, daß es für Sie, als einen so kurz sichtigen Menschen, schwierig ist, zu lesen - und ähnliches.« »Ach so, ja. Natürlich.« Der Anrufer lachte nervös. »Ja, ich - äh - ich stolpere fortwährend über alles mögliche, und so weiter. Eine schreckliche Plage. Nicht zuletzt, weil ich fast mit Sicherheit immer in den falschen Omnibus steige. Ha, ha, ha. Treffe ich Sie im Hotel an, wenn ich jetzt direkt hinkomme?« »Ja. Wie lange würden Sie brauchen?« »Nicht lange. Ich bin in der Villa Negra -«, die Stimme verstummte plötzlich. Ich legte eine Hand über die Sprechöffnung und sah zu Steve. »Wir scheinen getrennt worden zu sein.« Steve sagte: »Mir scheint es eher, als habe er genau dasselbe getan wie du - die Hand über die Sprechöff nung gelegt. Aber was -« Ich winkte Steve zu schweigen, denn die Stimme im Telefon meldete sich wieder: »Sind Sie noch da?« »Ja.« »Ich werde in etwa zwanzig Minuten im Hotel sein. Würden Sie in der Eingangshalle auf mich warten?« »Ja. Fragen Sie am Empfang nach mir.« »Gut. Übrigens - wie geht es Judy?« »Judy Wincott? Ich fürchte, da habe ich schlechte Nachrichten für Sie. Aber darüber nachher, wenn wir uns treffen.« »Schlechte Nachrichten?« 66
»Leider ja. Bis nachher also, Mr. Foster.« Es war zweiundzwanzig Minuten nach sieben, als ich auflegte. Kurz vor halb acht erschienen Steve und ich in der Halle und baten den Mann am Empfang, dem erwarteten Besucher zu zeigen, wo wir säßen. Um halb neun fragte ich zum drittenmal am Emp fang nach, aber niemand hatte sich nach uns erkun digt, niemand hatte telefoniert. »Noch immer nichts«, sagte ich zu Steve, als ich wieder zu ihr kam. »Ich fürchte, unser Vogel wird nicht erscheinen.« »Ich hatte den Eindruck, als sei euer Telefonge spräch etwas merkwürdig gewesen. Kann es dein Freund Constantin gewesen sein?« »Nein. Constantins Stimme hätte ich unter allen Umständen erkannt. Vielleicht hat David Foster wieder den falschen Bus genommen.« »Es gibt wohl keine Möglichkeit, den Anruf zu rückzuverfolgen?« »Er erwähnte die Villa Negra. Aber das schien ihm versehentlich herausgeschlüpft zu sein. Vielleicht kann man uns am Empfang helfen.« Die drei Männer an der Rezeption waren anfangs merkwürdig zurückhaltend und skeptisch. Erst als ich ihnen sagte, dann müsse ich mich eben an die Polizei wenden, änderte sich ihr Verhalten. Adreßbücher und Stadtpläne wurden aus verschiedenen Schubladen geholt. Nach wenigen Minuten zeigte einer der Hotelangestellten auf einen Stadtplan und begann zu 67
erklären. Die Villa Negra war ein ziemlich großes Haus an einer kleinen Bucht westlich der Stadt, ungefähr fünfzehn Autominuten vom Hotel entfernt. »Können Sie uns ein Taxi besorgen?« fragte ich. »Das wird nicht nötig sein, Monsieur. Drei, vier Taxis warten ständig vor dem Hotel.« Ein Page wurde herbeigewinkt. »Führe Monsieur zu einem Taxi.« »Aber unser Dinner?« fragte Steve, als ich ihr mit teilte, wohin wir fahren wollten. »Ich muß gestehen, daß ich schon seit einer halben Stunde ziemlich Hunger habe.« »Leider werden wir damit noch ein wenig warten müssen. Zuerst die Villa Negra. Ich denke, wir werden mit besserem Appetit essen, wenn wir Mr. Foster gefunden und ihm seine Brille zurückgegeben haben.« Der Taxifahrer kannte den betreffenden Vorort von Algier nicht gut genug, um uns auf kürzestem Wege zur Villa Negra zu bringen. Er mußte einigemal fragen und stoppte schließlich unterhalb eines weißen, etwas vernachlässigt aussehenden Gebäudes, das auf einem Hügel abseits der Straße stand. Das Gittertor, das er gefunden hatte, war zu schmal für ein Auto, und der Weg dahinter schien eher eine Art Pfad zu sein. »Na ja«, murmelte der Fahrer und rückte sich seine Mütze ins Genick. »Vielleicht ist dies bloß der 68
Hintereingang.« »Genügt uns«, sagte ich zu ihm und stieg aus. »Wieviel schulde ich Ihnen?« Der erste Teil des Weges ließ sich leicht an. Die Steigung war mäßig, und wir schritten munter aus, obwohl der Pfad von Gras überwuchert war und die Dornen der Brombeerbüsche links und rechts unsere Kleidung bedrohten. Natürlich war es längst dunkel geworden, aber das starke Licht hinter den hohen Parterrefenstern der Villa erhellte indirekt auch den Weg. Die Villa mußte ehedem ein vornehmes Wohnhaus gewesen sein. Sie hatte einen gewiß großartigen Ausblick auf das Meer und besaß eine offenbar ringsherum führende Terrasse. Der Pfad wurde steiler und endete schließlich in engen Kehren. Als wir uns dem Ende des Pfades zu nähern schie nen, flüsterte Steve: »Ich möchte nur hoffen, daß der echte David Foster wirklich hier wohnt.« Gleich darauf machten wir halt, da plötzlich aus einem Zimmer des Hauses wütendes Schimpfen ertönte, so laut, daß es trotz der geschlossenen Glastü ren unangenehm deutlich zu hören war. Auf einmal kam, die Arme zum Schutz über den Kopf erhoben, die Gestalt eines Mannes durch das Glas einer Fen stertür gesprungen. Fast gleichzeitig mit dem Klirren des Glases ertönte ein Schuß und sofort noch einer. Der Mann stieß einen Schmerzensschrei aus. Wir sahen ihn geduckt über die Terrasse der kurzen 69
steinernen Treppe entgegen wanken, die zu dem Pfad hinabführte, auf dem wir standen. Am Kopf der Treppe blieb er eine Sekunde lang stehen, um Atem ringend, vor Schmerz gekrümmt. Dann stolperte und taumelte er die Stufen hinab. Da er nun im Schatten war, sahen wir ihn nicht mehr, konnten aber sein Keuchen und Stöhnen hören, als er näher kam. Oben beim Haus war eine der Türen geöffnet wor den, und zwei Männer hatten sich vorsichtig ins Freie gewagt. Durch die Dunkelheit getäuscht, begannen sie suchend die verkehrte Seite der Terrasse entlangzu laufen. Der fliehende Mann war ganz dicht vor uns, ehe er uns bemerkte. Er kam so gekrümmt daher, daß ihm unsere Gegenwart erst bewußt wurde, als er unsere Füße sah. Er blieb erschrocken stehen und richtete sich mit großer Schwierigkeit halb auf. Seine Ellbo gen, Unterarme und Hände waren von dem zersplitter ten Glas verletzt und bluteten. Auch über das Gesicht rann ihm Blut. Aber das Schlimmste war der Schuß, den er in den Rücken bekommen hatte. Er taumelte schrecklich, als er zu erkennen ver suchte, ob wir Freunde oder Feinde seien. Ich griff nach einem seiner Arme, um ihn zu stützen. Meines Erachtens konnte er nur überleben, wenn er sich sofort niederlegen und möglichst reglos auf das Eintreffen eines Arztes warten würde. »Keine Angst haben«, sagte ich beruhigend. »Wer sind Sie?« keuchte er argwöhnisch. »Was tun 70
Sie hier?« Seine Stimme kam mir bekannt vor. Ich fragte: »Sind Sie der Mann, der mich vorhin im Hotel Aletti angerufen hat? Ist Ihr Name David Foster?« Er wischte sich über die Stirn, damit ihm das Blut nicht in die Augen liefe. Wenn ich ihn nicht festgehal ten hätte, wäre er gefallen. Seine Kräfte schwanden schnell. »Sie sind Temple«, ächzte er. Um ihn nicht loszu lassen, mußte ich mich niederbeugen, denn jetzt sank er vor Schwäche auf die Knie. »Ach, ich wünschte, ich hätte zu Ihnen kommen können, aber -« Seine Stimme versagte, und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Steve, die das Haus und die Terrasse beobachtet hatte, flüsterte warnend: »Vorsicht, Paul! Ich glaube, sie kommen jetzt hierher!« »Sind Sie David Foster?« raunte ich dem Verwun deten dringlich zu. »Nein. Aber ich habe Sie angerufen. Er wollte es so.« »Wer?« Von der Terrasse ertönten eilige Schritte und ein Ruf. Der Verwundete klammerte sich angstvoll an mir fest, als die Schatten zweier Gestalten am oberen Ende der Treppe erschienen und stehenblieben, als hielten sie Ausschau. Die eine Gestalt war sehr groß und schlank, die andere kurz, breit und affenähnlich. »O Gott!« flüsterte der Verwundete heiser. »Lassen 71
Sie diese Bestien nicht wieder über mich kommen!« Ich sah voll Entsetzen die Blutpfütze, die sich seit lich von ihm am Boden bildete. Er verlor beängsti gend viel Blut aus der Wunde, von der ich nur wußte, daß sie irgendwo in seinem Rücken war. »Nur ruhig«, versuchte ich ihn zu ermutigen. »Wir werden Sie beschützen.« »Paul!« flüsterte Steve mir zu. »Die beiden sind zur anderen Seite des Hauses hinübergelaufen. Aber ich bin sicher, daß sie zurückkommen werden.« Der Verwundete hörte Steves Worte und machte eine furchtbare Anstrengung, wenigstens seinen Oberkörper aufzurichten. »Temple, was auch geschehen mag« - seine Stim me war kaum noch zu hören -, »was auch geschehen mag, geben Sie ihnen die Brille nicht!« Es war sein letzter Willensakt. Er kippte vornüber, ein totes Gewicht in meinen Händen. Ich ließ ihn behutsam zu Boden gleiten und drehte ihn auf den Rücken. Von der Terrasse her hörte ich Schritte an der anderen Seite des Hauses entlanglaufen. Ich nahm die Brille aus meiner Brusttasche und reichte sie Steve. »Hier, nimm das. Und geh zurück zu dem Gittertor, durch das wir hereingekommen sind. Warte dort auf mich - zwischen irgendwelchen Sträuchern versteckt, falls du das für besser hältst. Sollte ich binnen einer halben Stunde nicht gekommen sein, benachrichtige auf schnellstem Wege die Polizei von dem, was hier geschehen ist.« 72
»Paul«, begann sie, »ich verlasse dich nicht -« »Du gehst«, knurrte ich. »Begreifst du denn nicht, daß du im Moment die einzige Sicherheit bist, die ich habe?« Ich legte ihr eine Hand auf den Arm und fügte freundlicher hinzu: »Bitte tu, was ich dir sage.« »Gott schütze dich«, flüsterte sie, als sie die Brille nahm. »Ich glaube, ich höre die beiden zurückkom men.« Eine Sekunde später - war sie hinter der nächsten Biegung des Pfades verschwunden. Ich kniete mich zu dem verwundeten Mann. Viel leicht war er noch zu retten, wenn es mir gelang, einen weiteren Blutverlust zu verhindern. Er trug keine Jacke, nur ein dünnes Hemd und eine leichte Hose. Seine Füße waren nackt. Ohne auf die Schritte zu achten, die die Treppe herunterkamen, drehte ich ihn auf die Vorderseite. Er ließ es willenlos geschehen und gab keinen Laut von sich. Sein Rücken war von den Schultern abwärts mit Blut besudelt. Vermutlich war er schwer geprügelt worden, ehe man auf ihn geschossen hatte. Ich riß sein Hemd entzwei und sah die Einschußöffnung, aus der das Blut pulste. Als ich mein zusammengelegtes Taschentuch daraufdrückte, traf mich der Lichtkegel einer starken Taschenlampe. Die näher kommenden Schritte machten halt. Einen Moment lang herrschte bedrohliche Stille. »Wer sind Sie? Was machen Sie da?« Die Stimme war hart und befehlsgewohnt; ihr Französisch klang akzentfrei. 73
»Dieser Mann braucht schnellstens ärztliche Hilfe«, erwiderte ich auf englisch. »Haben Sie ein Telefon im Haus?« »Zum Teufel, ich fragte, wer Sie sind!« Jetzt sprach er englisch, mit einer Spur von amerikanischem Akzent. »Was tun Sie auf meinem Grundstück? Falls dieser Kerl ein Freund von Ihnen ist -« Der Lichtkegel wurde auf den Verwundeten gerichtet, der mir er schreckend still vorkam. Ich fühlte nach seinem Puls. Da rührte sich nichts mehr. »Er ist niemandes Freund mehr. Er ist tot.« Ich stand auf und versuchte mir die Hände an mei nem Taschentuch abzuwischen. Der kleinere der beiden Männer trat in den Lichtkegel. Er war ein breitschultriger, aber buckliger Araber mit unnatürlich langen Armen und riesigen Händen. Ohne die gering ste Anstrengung drehte er den Toten wieder auf den Rücken und starrte ihm in die Augen. »C'est vrai«, murmelte er dem Mann mit der Ta schenlampe zu. »Il est mort.« Ohne es zu sehen, hatte ich gespürt, daß dieselbe Waffe, aus der der Mann am Boden den tödlichen Schuß erhalten hatte, auf mich gerichtet war, seit der Lichtkegel der Lampe mich beleuchtete. Ich wußte, daß ich ein durchaus unerwünschter Zeuge des Vorfalls war und daß es für den Mann mit der Waffe die einfachste Lösung dargestellt hätte, mich zu erschießen und dann im Meer verschwinden zu lassen, sicher mit ein paar Steinen beschwert. Ich fand, daß es 74
an der Zeit wäre, mich vorzustellen. »Mein Name ist Temple«, begann ich. »Ich kam hierher, weil mir diese Adresse von einem Mr. David Foster genannt wurde.« »Sie sind Temple?« Der Lichtkegel wurde wieder auf mein Gesicht gerichtet. »Ich bin Colonel Rostand, der Eigentümer dieses Hauses. Ich bedauere, daß Ihnen ein so unfreundliches Willkommen zuteil wurde. Dieser Mann brach in mein Haus ein. Aber glücklicherweise ertappten wir ihn auf frischer Tat. Er riß sich los und versuchte zu entfliehen. Ich schickte einen Schuß hinter ihm her - um ihn zu erschrecken und zu vertreiben, versteht sich. Ich hatte gewiß nicht die Absicht, ihn zu verletzen.« »Zwei Schüsse«, berichtigte ich. »Und ich bin überrascht zu hören, daß er sich losriß. Nach seiner oberen Rückenpartie zu urteilen, ist er schwer geprü gelt worden.« »Nun«, erwiderte Rostand, »ich fürchte, mein Hel fer hier ist gelegentlich ein wenig impulsiv.« Der Bucklige beobachtete mich auf seltsam hungri ge Art; die riesigen Hände baumelten ihm dabei in Wadenhöhe herum. Seine Stirn war so widernatürlich flach, und seine Oberkieferzähne ragten so tierisch über seine Unterlippe hinaus, daß ich unwillkürlich an einen Orang-Utan denken mußte. Rostand schwenkte den Lichtkegel seiner Stablam pe von mir fort und wandte sich dem Haus zu. »Natürlich muß ich die Polizei anrufen und ihr 75
melden, daß ich einen Mann erschossen habe«, sagte er. »Sie kommen bitte mit mir ins Haus, Mr. Temple. Ich werde Sie dort mit Mr. Foster bekannt machen.« »Er ist also da?« »Ja, natürlich. Er wartet auf Sie, um seine Brille in Empfang zu nehmen.« Als ich mich in Bewegung setzte, um Rostand zu folgen, wartete der Araber, bis ich an ihm vorüber war, und trottete dann hinter mir drein. Wie ein gut abgerichteter Schäferhund, der auch die wortlosen Wünsche seines Herrn spürt, hatte er begriffen, daß mir nicht erlaubt werden durfte zu entkommen. Wir betraten das Haus durch die beschädigte Glas tür, deren beide Flügel jetzt weit offenstanden. Der erste Raum war ein großer Salon mit so altmodischer Einrichtung, daß er an ›die gute Stube um die Zeit der Jahrhundertwende‹ in einem provinziellen Heimatmu seum erinnerte. Rostand führte mich weiter in einen kleineren Raum, dessen Wände hinter Regalen voll verstaubter Bücher versteckt waren. »Wenn Sie mich für eine Minute entschuldigen möchten, werde ich jetzt mit der Polizei telefonieren. Sandro sorgt inzwischen für Ihr Wohlergehen.« Er nickte dem Buckligen bedeutsam zu, ging wie der hinaus und machte die Tür hinter sich zu. Sandros Sorge für mein Wohlergehen beschränkte sich darauf, daß er mit dem Rücken zur Tür Aufstel lung nahm, seine unglaublich langen Affenarme baumeln ließ und mich anstarrte. Um seinen wenig 76
sympathischen Blick zu vermeiden, wandte ich mich dem nächsten Bücherregal zu und nahm auf gut Glück einen Band heraus. Es war Pierre de Marivaux' Komödie ›Die unaufrichtigen Geständnisse‹. Ich hatte nicht ganz die Hälfte der ersten Szene gelesen, als Rostand zurückkehrte, jetzt ganz Joviali tät und pensionierter Armeeoffizier. Er war lang und hager, mit sehr aufrechter Haltung, braunem Schnauzbart und kleiner unmoderner Nickelbrille. Seine Hände befanden sich ständig in Bewegung. »Die Polizei kommt«, versicherte er mir mit biede rem Lächeln. »Der Beamte, mit dem ich sprach, konnte den Mann nach meiner Beschreibung als einen gesuchten Einbrecher erkennen. Foster habe ich gesagt, daß Sie hier sind. Er wird in einer Minute unten sein.« Er wandte sich an den Araber und sagte ihm barsch in Französisch, daß er jetzt gehen könne. Ohne ein Wort ging Sandro hinaus. Er hatte die Tür hinter sich bereits halb zugemacht, als er sie schnell wieder aufmachte, um einen anderen Mann eintreten zu lassen. »Ah, Foster«, sagte Rostand liebenswürdig zu dem Ankömmling, »hier ist Ihr sehnlich erwarteter Freund Mr. Temple.« Der andere Mann blieb wie angewurzelt in der offenen Tür stehen, ohne seine bereits zur Begrüßung ausgestreckte rechte Hand sinken zu lassen, und glotzte mich an. Ich starrte ebenfalls. 77
»Das also ist David Foster?« fragte ich Rostand. »Habe ich es nicht eben gesagt?« fragte Rostand ungeduldig zurück, offenbar verwirrt durch unser beider Verhalten. »Nun, Mr. Foster«, äußerte ich höflich, »ich finde ja, Sie hätten sich schon in Nizza vorstellen können. Aber vielleicht hatten Sie dort noch keinen Bedarf an Ihrer Brille. Mir jedenfalls schien es, als sei an Ihrer Sehkraft nichts auszusetzen.« Der Mann, der sich in Nizza fortwährend als Sam Leyland bezeichnet hatte, zuckte betreten die Achseln und murmelte Rostand vorwurfsvoll zu: »Colonel, Sie hätten mich aber auch warnen können.« »Warnen? Wovor?« »Daß dies derselbe Bursche ist, dem ich schon in Nizza begegnet bin.« Rostand machte einen letzten Versuch, den An schein zu wahren, indem er würdevoll zu mir sagte: »Ich weiß nicht, wie er sich in Nizza nannte, Mr. Temple, und warum er es für nötig hielt, sich nicht unter seinem richtigen Namen vorzustellen. Aber ich gebe Ihnen mein Offiziersehrenwort, daß er David Foster ist. Wenn Sie ihm nun freundlicherweise seine Brille übergeben würden, könnte ich Sandro befehlen, Sie sogleich in Ihr Hotel zurückzufahren, damit Sie nicht erst in die langwierigen Formalitäten mit der Polizei verwickelt werden.« Sam Leyland starrte mich so eindringlich an, als wolle er mich beschwören, zu tun, wie Rostand gesagt 78
hatte, um dann zu meinem eigenen Wohl schleunigst aus diesem Haus zu verschwinden. Aber ich schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Colonel Rostand. Ich kann Ihrem Vorschlag nicht folgen. Erstens glaube ich nicht, daß dieser Mann David Foster ist. Zweitens glaube ich nicht, daß der Mann, den Sie erschossen haben, ein gesuchter Einbrecher war. Ich glaube vielmehr, daß er es war, der mich zwanzig Minuten nach sieben im Hotel Aletti anrief und sich als David Foster ausgab. Er versprach, ins Hotel zu kommen. Aber er kam nicht. Warum nicht? Hatte Sandros Impulsivität ihn ungeeignet gemacht, vor anderen Leuten zu erschei nen?« Wie durch Zauberei hatte Rostand plötzlich eine Pistole in der Hand. Die joviale Pose des pensionier ten Armeeoffiziers war von ihm abgefallen. »Schön, Temple«, knurrte er, »Sie haben es selbst gewollt.« Er pfiff wie nach einem Hund. Daraufhin kam San dro hereingestürmt, sah, daß Rostand mich mit der Pistole in Schach hielt, und handelte unverzüglich. Wegen der auf mich gerichteten Waffe und in Erinne rung an die jammervolle Gestalt draußen auf dem Pfad verspürte ich keine Lust, Widerstand zu leisten. Viel hätte ich in Sandros Griff sowieso nicht tun können. Mit übermenschlicher Kraft zog er mir die Arme hinter den Rücken und hielt meine beiden Handgelenke mit einer seiner Riesenpranken so fest, 79
als steckten sie in einer stählernen Fessel. Seinen anderen Arm warf er mir von hinten um den Hals und drückte meinen Kopf zurück - so gewaltsam, daß er mir fast die Luft abschnitt. Es konnte keinen Zweifel geben, daß Sandro ungemein impulsiv war. »Los, Leyland!« kommandierte Rostand. »Durch suchen!« Leyland kam herbei - nicht allzu begeistert, wie es schien - und griff sorgfältig in alle meine Taschen. Als er damit fertig war, wandte er sich unglücklich an Rostand: »Er hat sie nicht bei sich.« »Diese Mühe hätten Sie -«, begann ich, aber Sandro verstärkte den Druck auf meinen Kehlkopf, und der Satz endete in einem Gurgeln. »Laß ihn sprechen!« fuhr Rostand den Araber auf französisch an. Sandros Griff wurde sogleich lockerer. Ich holte Luft und erklärte: »Ich wollte Ihnen nur sagen, Sie hätten Sam diese Mühe ersparen können. Ich habe die Brille nicht bei mir.« Rostand nickte ganz vernünftig und erwiderte: »Das war zu erwarten. Aber wir haben Sie, und das ist beinah genausogut. Ich weiß, daß Sandro enttäuscht sein wird, wenn Sie mir jetzt sagen, wo die Brille zu finden ist. Ich habe ihm heute abend nämlich schon einmal den Spaß verdorben, einem Mann das Genick zu brechen. Aber es könnte uns viel Umstände ersparen -« »Sie glauben doch wohl nicht«, warf ich ein, »daß ich hierher gekommen bin, ohne irgendwelche 80
Sicherheitsmaßnahmen zu treffen? Wenn ich binnen einer halben Stunde nicht wieder in meinem Hotel bin, erfährt die Polizei schnellstens und sehr genau, wo ich bin.« Wieder nickte Rostand, als erkenne er den geglück ten Schlag seines Golfpartners an, und sagte recht verbindlich: »Vielleicht bluffen Sie, vielleicht auch nicht. Ich glaube, großzügig sein zu dürfen. Mögli cherweise gelangen wir doch noch zu einem geschäft lichen Arrangement.« »Aber zuerst sagen Sie Ihrem Araber, daß er mich loslassen soll.« Rostand gab den entsprechenden Befehl auf franzö sisch und fügte hinzu, Sandro wisse ja, was er jetzt zu tun habe. Sandros Hände gaben meinen Hals und meine Handgelenke frei. Ich fühlte mich weit weniger unglücklich, als ich Sandro hinausgehen und die Tür hinter sich zumachen hörte. »Also, Mr. Temple. Ich weiß nicht, welches Inter esse Sie an dieser Sache haben oder weshalb Sie sich hartnäckig weigern sollten, Fosters Brille herauszuge ben. Aber jeder Mann hat seinen Preis. Ich werde Ihnen fünftausend Pfund in britischen Banknoten zahlen, sobald Sie mir die Brille übergeben.« »Ihr Angebot imponiert mir nicht«, erwiderte ich. »Mr. Constantin war großzügiger. Er offerierte zehntausend Pfund.« Zum erstenmal schien Rostand die Fassung zu ver 81
lieren. »Constantin?« Sein Blick irrte von mir zu Leyland und kehrte einen Moment später zu mir zurück. Die Hand mit der Pistole spannte sich. »Haben Sie die Brille etwa an Constantin verkauft?« Hätte ich ja gesagt, dann wäre es mit mir vorbei gewesen. Rostand hätte kein Interesse mehr gehabt, mich am Leben zu lassen. Im Gegenteil. Andererseits wollte ich mich weder seinen Drohungen beugen noch seinen Vorschlag annehmen. Ich schätzte, daß kaum mehr als zehn oder zwölf Minuten vergangen waren, seit Steve und ich uns getrennt hatten. Wenn Steve meine Instruktionen befolgte, würde es - vorausge setzt, sie fände in der Nähe ein Telefon - noch minde stens dreißig bis vierzig Minuten dauern, ehe die Polizei hier sein könnte. Ich bezweifelte, daß ich imstande sein würde, das Spiel so lange hinauszuzie hen, aber einen Versuch war es wert. »Colonel, Sie sagten, daß jeder Mann seinen Preis hat. Nun gut. Aber meiner ist ziemlich hoch. Ich muß bekennen, daß ich Constantins Angebot zugestimmt habe. Sollten Sie jedoch mehr anlegen wollen, sagen wir zwölftausendfünfhundert, dann -« »Also haben Sie die Brille noch«, unterbrach Ros tand schnell. »Nicht buchstäblich«, schränkte ich ein. »Sie ist im Moment unterwegs. Aber ich denke, ich kann sie zurückhalten lassen, ehe sie zu Constantin kommt.« »Sie lügen!« zischte Rostand. »Ich bin nicht der 82
Narr, für den Sie mich halten! Sie haben kein Angebot von Constantin! Und das einzige Angebot, das Sie von mir noch bekommen, ist eine Kugel in Ihr Ge därm! Sagen Sie mir jetzt schnell die Wahrheit, oder Sie kriegen dieselbe Behandlung wie Thompson! Sie haben selbst gesehen, wie er verreckte! Ihnen bleiben fünf Sekunden, bis ich den Abzug drücke! Eins -« Ich zweifelte nicht daran, daß Rostand seine Dro hung wahrmachen würde. Der Ausdruck seiner Augen verriet genug. »Zwei.« Leyland hatte sich in eine Ecke zurückgezogen und wartete bedrückt. Wahrscheinlich hatte er die Sache mit Thompson miterlebt und fühlte sich elend bei der Aussicht, noch einen Mann sterben zu sehen. »Drei.« Das Nächstliegende wäre jetzt gewesen, eine Lüge zu erzählen. Aber dazu war ich angesichts dieser Bedrohung außerstande. Es heißt, daß ein Mann auf dem Totenbett nur die Wahrheit sagt. Das kann ich nach meinen Erfahrungen in der Villa Negra bestäti gen. Die Versuchung war groß, Rostand von Steve zu erzählen, die kaum zweihundert Schritte weit entfernt hinter irgendeinem Strauch hockte, mit der Brille in ihrer Handtasche. Ich preßte meine Lippen zusammen und hoffte inständig, daß Rostands Nerven nicht durchhalten würden. »Vier.« Im selben Augenblick, als dieses Wort ertönte, 83
begann im Zimmer nebenan das Telefon zu läuten. Vielleicht war es nur eine Fehlverbindung. Aber das Läuten genügte, um Rostand zu stoppen. Ich habe schon oft bewundert, wie stark die Macht eines läutenden Telefons ist. »Sieh nach, wer es ist!« fauchte Rostand. Leyland trampelte eilfertig hinaus, offenbar froh, der Szene einstweilen zu entrinnen. Die Tür klappte hinter ihm zu, schnappte aber nicht ein. Immerhin war seine Stimme jetzt nur als Gemurmel zu hören. Rostand hielt die Pistole nach wie vor auf mich gerichtet, verringerte aber seine Entfernung zu mir, da er sich in einer Art Halbkreis der Tür näherte, um besser zu erlauschen, was Leyland sprach. Schließlich waren nur noch etwa zwei Meter zwischen uns. Das Telefongespräch dauerte nicht lange. Dann hörte ich Leyland schnell über den knarrenden alten Parkettboden herbeikommen. Als er die Tür mit einem Ruck aufmachte, mußte Rostand etwas auswei chen. Dadurch verringerte sich die Entfernung zwi schen uns noch ein bißchen. »Es war Constantin!« berichtete Leyland erregt. »Temple muß die Wahrheit gesagt haben. Constantin hat die Brille und läßt bestellen, daß er bereit ist, Kaufangebote zu hören, aber -« Diese unerwartete Neuigkeit verführte Rostand zu einem Fehler. Seine rechte Hand mit der Pistole schwankte, als er überrascht zu Leyland sah. Ich fühlte, daß es meine einzige Chance war und daß ich 84
sie nützen mußte. Ich sprang und riß dabei wie ein Fußballer den rechten Fuß in die Höhe. Der Stoß traf Rostands rechte Hand und schickte die Pistole in hohem Bogen durch die Luft. Beim Aufsprung mußte ich mich ducken, um mein Gleichgewicht zu wahren. Als ich mich aufrichtete, sah ich Rostands Faust zum Schlag erhoben. Ich kam ihm zuvor, indem ich meinen rechten Ellenbogen mit aller Kraft unter sein Kinn stieß. Ich hörte seine Kinnbacken knacken und seine Zähne knirschen. Sein Kopf ruckte nach hinten. Im Augenblick hatte ich keine weitere Zeit für ihn. Leyland kam auf mich zu, und nun wußte ich auf einmal, woher er seine eingeknickte Nase hatte. Er bewegte sich wie ein alter Schwergewichtsboxer, der aus einer Ecke herbeistapft, um dem Gegner den K. o. zu verpassen. Ich erwischte Leyland mit einem Schlag unter der Gürtellinie, für den englische Boxsportfans mich Stück um Stück auseinandergenommen hätten. Als Leyland zu Boden ging wie ein Zweizentner mehlsack, riskierte ich einen Blick auf Rostand. Er hielt sich mit beiden Händen sein Kinn, fing aber eben an, zu der Pistole zu stolpern, die vor einem der Bücherregale lag. Ich war schneller da und beförderte das Ding mit einem Tritt außer Reichweite und Rostand für einige Zeit ins Reich der Träume. Leyland stöhnte noch und zeigte ein schmerzver zerrtes Gesicht. Ich fühlte kein Bedauern. Meine 85
Hauptsorge war, daß Sandro den Tumult gehört haben könnte und zurückkäme. Ich hatte Eile, und die Erinnerung an Thompson verhärtete mein Herz. Leyland kam mühsam auf die Beine. Als ich mich näherte, versuchte er nach mir zu schlagen. Ich wich aus und benutzte seinen eigenen Schwung, um seinen Schlagarm mit einem Fesselgriff abzufangen. Er jaulte und begann auf den Zehenspitzen zu tanzen. »Sie werden jetzt ein bißchen erzählen müssen«, sagte ich zu ihm. »Und ich rate Ihnen, meine Fragen schnell zu beantworten.« Um ihn aufzumuntern, verstärkte ich den Druck meines Griffes ein wenig. Er wollte schier in die Luft gehen. Ich fragte: »Warum ist Rostand so scharf auf die Brille? Wieviel ist sie ihm wert?« »Weiß nicht, warum er sie will«, ächzte Leyland. »Das hat er mir nie erzählt. Er sagte nur, ein Freund von ihm hätte eine Spezialbrille verloren und würde dem, der sie wiederbringt, viertausend Pfund bezah len.« »Und Sie wollten sich dieses Geld verdienen. Er schien Ihnen die Sache nicht irgendwie faul?« »Klar. Aber Rostand gab mir einen Vorschuß von tausend Pfund. Was sollte ich da viel fragen? Sir, drücken Sie nicht so stark auf meinen Arm! Ich erzähle Ihnen doch die Wahrheit!« »Kann ich das wissen?« erwiderte ich, verminderte aber den Druck ein wenig. 86
»Ich ahnte nicht, daß es sich zu solcher scheußli chen Sache entwickeln würde«, fuhr Leyland hastig fort. »Mord und alles das. Ich hatte nichts zu schaffen mit dem, was heute abend hier passierte. Das kann ich beschwören!« »Vielleicht. Trotzdem bleiben Sie ein Mittäter. Was haben Sie in Nizza gemacht?« Leyland wollte nicht heraus mit der Sprache, und ich mußte den Druck wieder etwas verstärken. »Auuuu, ich erzähl's ja schon! Rostand sagte mir, daß eine gewisse Judy Wincott dann und wann in einem gewissen Hotel wäre und daß sie höchstwahr scheinlich die Brille hätte. Ich sollte nur herausfinden, wo ihr Zimmer lag -« »Sie wußten also, daß Judy Wincott nach Nizza kommen würde?« »Ja, durch Rostand. Aber gesehen habe ich sie nie. Das schwöre ich! Als ich hörte, daß sie ermordet worden war, wurde mir so mulmig, daß ich am liebsten abgesprungen wäre. Aber von den tausend Pfund Vorschuß fehlte schon zuviel.« Ich fand, daß ich Leyland glauben könnte. Er war ein Gauner, gewiß. Doch erinnerte ich mich an den beschwörenden Blick, den er mir zugeworfen hatte, als Rostand mir eine Gelegenheit anbot, frei aus dem Haus zu gehen. »Sam«, sagte ich, »Sie haben sich da wirklich eine scharfe Suppe eingebrockt und werden sie auslöffeln müssen. Aber was ist nun mit David Foster? Kennen 87
Sie ihn? Haben Sie ihn je gesehen?« Leyland schüttelte den Kopf. »Rostand sprach öfter von ihm, doch zu sehen kriegte ich ihn nie. Dachte mir schon, vielleicht wäre es bloß ein Deckname.« »Das ist möglich. Alles in allem wissen Sie also nicht viel?« »Nein. Und doch zuviel für mein Seelenheil«, klag te Leyland jämmerlich. »Ich wünschte, ich hätte diesen Rostand nie gesehen!« »Wie lange kennen Sie ihn?« »Knapp einen Monat. Lernte ihn in Tunis durch einen - äh - einen Geschäftsfreund kennen.« Ich hätte noch viel zu fragen gehabt. Aber Rostand begann sich zu bewegen, und ich fürchtete ständig, daß Sandro zurückkommen könnte. »Eine letzte Frage. Sagte Constantin, von wo aus er telefonierte?« »Nein. Er sagte nur, Rostand könnte ihn im Nacht club ›El Passaro‹ treffen, wenn er Lust hätte, über Geschäfte zu sprechen.« »Kennen Sie diesen Nachtclub?« »Nein. Ich habe nur davon gehört.« Rostand ächzte und spuckte. Ich bugsierte Leyland, der keinen Widerstand versuchte, in eine Art Abstell raum am Ende des Bibliothekszimmers und schloß die Tür hinter ihm zu. Die Pistole stieß ich außer Sicht unter ein schweres Bücherregal. Dann schlüpfte ich aus der Bibliothek in 88
den großen Salon. Alle Lichter waren noch einge schaltet, aber von Sandro zeigte sich nichts. Ich trat durch die offene Glastür hinaus in die merklich kühler gewordene Nachtluft. Als ich die Stelle erreichte, an der ich mich von Steve getrennt hatte, blieb ich einen Moment lang stehen. Ich sah die dunkle, feuchte Stelle, wo Thomp son gelegen hatte, aber seine Leiche war verschwun den. Das konnte nur Sandros Werk gewesen sein. Und da Sandro nicht ins Haus zurückgekehrt war, mußte er den Weg zum Gittertor eingeschlagen haben, in dessen Nähe Steve wartete. So schnell ich konnte, eilte ich zu dem Tor. Zu sehen war dort niemand. »Steve!« rief ich leise. Dann etwas lauter nochmals: »Steve!« Ein Schatten bewegte sich zwischen den Büschen und kam herbei. »Paul! Gott sei Dank, daß du da bist. Ich fürchtete schon, meine Uhr ginge nicht mehr richtig. Es kann doch nicht erst zweiundzwanzig Minuten her sein, daß wir uns trennten? Was ist geschehen?« »Das erzähle ich dir später. Hast du die Brille noch?« Steve nickte und berührte ihre Handtasche. »Besser, du gibst sie mir wieder«, sagte ich. »Diese Brille ist Dynamit für jeden, der sie bei sich hat.« Sie gab mir die Brille, und ich steckte das ver wünschte Ding wieder in meine Brusttasche. 89
»Ist jemand hier vorbeigekommen, während du gewartet hast?« »Ja.« Steve schüttelte sich bei der Erinnerung. »Ein furchtbar buckliger Araber. Er trug etwas über der Schulter. Ich glaube, es war eine Leiche.« »Es war die Leiche des Mannes, der durch die Glastür sprang. Wohin ist der Araber gegangen?« Steve deutete zu einem Gittertor auf der anderen Seite der schmalen Straße - einem genauen Gegen stück zu dem Tor, neben dem wir standen. Offenbar lag hinter dem anderen Tor ein Privatweg zum Strand. »Und er ist noch nicht zurückgekommen? Ich frage mich, was er dort unten zu tun hat. Wenn es ihm gelingt, die Leiche verschwinden zu lassen, wird meine Aussage, daß hier ein Mord verübt wurde, gegen das Wort von drei Schurken stehen. Hättest du etwas dagegen, hier noch ein wenig zu warten?« »Allein? Ja, sehr viel!« Steves Antwort klang äu ßerst entschieden. »Ich hätte beinah vor Schreck aufgeschrien, als du so schnell und lautlos auftauch test und anfingst, hinter die Büsche zu gucken. Wenn du dort drüben hineingehst, komme ich mit.« »Gut«, stimmte ich nach kurzem Überlegen zu. »Aber du bleibst hinter mir und machst kein Ge räusch.« Das Tor quietschte zum Gotterbarmen, als ich es öffnete. Ich winkte Steve, es offenstehen zu lassen. Vom Strand her konnten wir schon das gleichmäßige Plätschern kleiner Wellen hören. Aber irgendwo in 90
der Nähe mußte ein Tümpel sein, in dem Frösche quakten. Das Quaken verstummte plötzlich, als wir vorüberschlichen. Die jähe Stille war unwirklich. Hinter einer scharfen Biegung des abfallenden Pfa des kam der Strand in Sicht. Es war eine halbmond förmige Miniaturbucht mit ziemlich schrägem Ufer. Die steinerne Mole am entfernten Ende hatte zwei Aufgaben: Ihr ins Wasser hinausgebauter längerer Teil war als Schutz für Boote gedacht, während der an Land gelegene kürzere Teil das Fundament eines kleinen Holzhauses darstellte. Zur Zeit war kein Boot da, und die Fenster des Hauses lagen im Dunkeln. Nirgendwo bewegte sich etwas. Nahe der Stelle, wo die Mole sich ins Wasser hi nausschob, entdeckte ich am Strand ein dunkles klumpiges Gebilde, dessen Formen mir etwas merk würdig erschienen. Ich bat Steve zu warten und ging vorsichtig näher. Schließlich erkannte ich, daß mein erster Eindruck stimmte. Das Gebilde war ein auf dem Sand liegender Mann. Er bewegte sich nicht. Aber er lebte. Seine eigen tümlich röchelnden Schnarchtöne verrieten, daß er bewußtlos geschlagen worden war. Und der Buckel offenbarte seine Identität. Trotz der Dunkelheit sah ich die schwere Beule an seiner rechten Schläfe und hatte den Eindruck, daß er noch eine gute Weile bewußtlos bleiben würde. Ich ließ ihn, wo er lag, winkte Steve herbei und näherte mich mit ihr dem Holzhaus. Die Fensterläden 91
waren zu, und die Tür war verschlossen. Im Licht meiner Taschenlampe untersuchte ich das Schloß. Ich holte einen Streifen Zelluloid aus meiner Brieftasche und hatte das Schloß nach einer halben Minute offen. Der Lichtstrahl meiner Taschenlampe reichte knapp bis zur Mitte des ziemlich großen Wohnzimmers, in das die Tür sich direkt öffnete. Die Zimmerbeleuch tung wagte ich nicht anzuknipsen, denn irgendwo mochte jemand lauern, der nicht zu erkennen brauch te, wer wir waren. Ich ging vorsichtig bis zur Mitte des Zimmers und leuchtete überall herum, aber zu entdecken war hier niemand. Eine Tür am entfernten Ende des Zimmers stand offen; sie führte in ein kleines Zimmer, das - nach den beiden einfachen Betten zu urteilen - als Schlafraum diente. Zum Zubettgehen war es eigentlich noch etwas zu früh. Doch das erste, was ich beim Betreten des Raumes erspähte, war eine Gestalt in dem Bett an der gegenüberliegenden Wand. Mein Instinkt riet mir, umzukehren und zu verschwinden, ehe die Gestalt erwachen und mich bemerken würde. Aber meine Neugier trieb mich näher und führte schließlich sogar dazu, daß ich die Bettdecke zurückschlug. Zuerst dachte ich, ich hätte Thompson gefunden. Doch der Mann, der mir den Rücken zuwandte, war vollständig bekleidet, auch sein Jackett hatte er noch an. Außerdem war er entschieden beleibter als Thompson. Ich drehte ihn auf den Rücken, und der Lichtstrahl meiner Taschenlampe traf den Handgriff 92
des Messers, das ihm dicht unter dem Herzen zwi schen den Rippen steckte. Dies mußte das Werk eines berufsmäßigen Killers sein. Ich richtete den Licht strahl auf das Gesicht des Mannes. »Constantin!« Ich war so verblüfft, daß ich den Namen laut aus sprach. Nach der Körpertemperatur zu urteilen und unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die Bett decke eine gewisse Menge Wärme bewahrt haben mußte, war der Mann schon einige Zeit tot. Wer aber hatte dann bei Rostand angerufen und ein Zusammentreffen im Nachtclub ›El Passaro‹ verein bart? Wer hatte Constantin getötet und Sandro be wußtlos geschlagen? Und was war aus Thompsons Leiche geworden? Steve, die bei der Haustür gewartet hatte, um den Strand zu beobachten, kam jetzt zur Schlafzimmertür. »Hast du gerufen, Paul? Übrigens glaube ich, daß der Araber bald aufwachen wird. Ich habe eben gesehen, daß er sich etwas bewegte.« Ich hatte die Taschenlampe ausgeknipst, um Steve den Anblick der Leiche zu ersparen, und flüsterte: »Steve, ich denke, wir sollten die erwiesene Gast freundschaft nicht überfordern. Laß uns von hier fortgehen, solange wir es noch können.« Wir mußten ein gutes Stück laufen, ehe wir eine Hauptstraße erreichten - ich fand also genügend Zeit, Steve von allem zu erzählen, was geschehen war, seit 93
wir uns getrennt hatten. »Wenn Constantins Telefonanruf dir das Leben gerettet hat«, sagte Steve, »dann tut es mir leid, daß dieser Mann getötet wurde - egal, was für ein Lump er gewesen sein mag.« »Aber er kann gar nicht angerufen haben«, entgeg nete ich. »Zu dieser Zeit, als der Anruf kam, muß er schon ein ganzes Weilchen tot gewesen sein.« »Demnach hat sein Mörder bei Rostand angerufen. Und wer er auch sei - er wird in diesem Nachtclub warten.« »Was uns beide natürlich veranlaßt, dem Nachtclub einen Besuch abzustatten.« »Ich frage mich nur«, wandte Steve ein, »wie der Kerl diese Verabredung vorschlagen kann, da er die Brille gar nicht hat. Sie steckt doch in deiner Brustta sche.« »Bestimmt hat er eine ähnliche Brille und beabsich tigt, Rostand zu begaunern. Rein äußerlich ist es ja eine Brille wie viele andere auch.« Ich nahm Steve beim Arm und begann mit ihr zu rennen. »Komm! Da ist ein Bus, der zum Hafen fährt. Wir können ihn noch erwischen.«
94
4
Es war fast elf, als wir wieder im Hotel Aletti ein trafen. Gegessen hatten wir noch nicht. Mein Magen knurrte bisweilen, und Steve mußte vor Hunger fortwährend gähnen. Ungeachtet der etwas hektisch gewordenen Situati on bestand sie darauf, sich umzuziehen und ihr Make up zu erneuern, ehe sie vor die Augen der anderen Gäste im ›El Passaro‹ träte. Ich schlug ihr vor, schon zu unserem Zimmer hinaufzufahren, während ich selbst noch mit dem Mann am Empfang reden wollte. Glücklicherweise war es derselbe Hotelangestellte, mit dem ich vorhin schon gesprochen hatte. Er beantwortete meine Frage, ehe ich sie äußern konnte. »Hat Monsieur Constantin Sie gefunden, Monsi eur?« Ich starrte ihn verblüfft an. »War er hier?« »Ja, Monsieur. Er behauptete, es sei für ihn sehr wichtig, Sie zu finden. Ich sagte ihm, Sie seien zur Villa Negra gefahren.« »War das bald nach unserem Aufbruch?« »Ja, Monsieur. Kaum zwei Minuten später. Ich hoffe, er hat Sie gefunden.« »Nun, sagen wir - ich habe ihn gefunden. Auf jeden Fall besten Dank.« »Gern geschehen, Monsieur.« Im Lift überlegte ich. Constantin war uns also zur 95
Villa Negra gefolgt und hatte seinerseits auch wieder einen Verfolger gehabt - den Mann, der ihm das Messer zwischen die Rippen stieß und ihn dann in dem kleinen Haus versteckte. Dank der Ortsunkun digkeit unseres Taxifahrers, seiner mehrmaligen Fragerei nach dem Weg und der dadurch entstandenen Verzögerung mußte Constantin mit seinem ›Schatten‹ ein Weilchen früher als wir bei der Villa Negra eingetroffen und wahrscheinlich gleich durch das verkehrte Gittertor dirigiert worden sein. Sicher war er schon tot gewesen, als wir unser Taxi verließen. Daß irgendwo in der schmalen Straße ein anderes Auto gestanden hätte, konnte ich mich nicht erin nern... »Vierte Etage, Monsieur.« Der kleine Liftboy lächelte und trat zur Seite, um mich hinauszudienern. Steve war bereits im Hausmantel;, aus dem Bade zimmer kam das Rauschen des einlaufenden Bade wassers. Sie nahm ihr Abendkleid mit und machte hinter sich die Tür zu, damit ich ungestört mit der Polizei telefonieren könnte. Der Kriminalinspektor vom Dienst, den ich erreich te, war ein gewisser Flambeau. Als ich mich vorstell te, ergab sich, daß er meinen Namen kannte. Wie es schien, hatte er irgendwann eine Begegnung mit Sir Graham Forbes von Scotland Yard gehabt; erstaunli cherweise war er sogar darauf verfallen, ein Buch von mir zu lesen - um sein Englisch zu vervollkommnen, 96
wie er liebenswürdig erklärte. Ich gab ihm eine kurze Zusammenfassung der Si tuation und verhieß ihm, daß seine Männer, wenn sie sehr schnell wären, eine oder vielleicht zwei Leichen bei der Villa Negra finden würden. »Außerdem dürfte es sich lohnen, ein Motorboot mit Suchscheinwerfer zu der kleinen Bucht unterhalb der Villa Negra zu schicken. Ich habe die Ahnung, daß dort in der Nähe ein treibendes Boot zu finden ist. Daß Ihre Leute viel von Rostand oder Leyland sehen werden, bezweifle ich. Aber warnen Sie sie vor einem buckligen Araber. Er ist gefährlich.« »Wir werden unser Bestes tun«, versicherte Flam beau. »Der Mann, der sich Ihnen gegenüber Rostand nannte, ist mir nicht unbekannt. Wir beobachten ihn, seit er die Villa Negra gemietet hat. Er ist als interna tionaler Gauner bekannt. Aber wir wußten nicht, womit er sich zur Zeit beschäftigt. - Werden Sie nachher noch zum Polizeipräsidium kommen, bitte?« »Ich denke, es könnte zweckmäßiger sein, wenn wir uns im ›El Passaro‹ träfen. Wäre es Ihnen mög lich, dorthin zu kommen?« »Eine ausgezeichnete Idee, Mr. Temple. Zumal es meine Behörde sein wird, die etwaige Unkosten bezahlen muß. Dieser Nachtclub ist mit Abstand das teuerste Lokal in Algier.« Dieses Mal gab unser Fahrtziel dem Taxichauffeur keinen Anlaß zum Zweifeln. »›El Passaro‹?« wiederholte er und schaltete seine 97
Taxameteruhr ein. »Sehr wohl, Monsieur.« »Sie kennen es?« »Selbstverständlich, Monsieur. Oben am le Bardo.« Wir setzten uns in den Fond, und das Taxi schnurr te los. Schon nach wenigen Minuten jagten wir die Straße hinauf, die die Hügel außerhalb von Algier erklimmt. Die Lichter des Hafens sanken rechts von uns zurück. Die Häuserzeilen machten luxuriösen Villen in umgitterten Gärten Platz. Ich lehnte mich nach vorn, um mit dem Fahrer zu sprechen. »Das ›El Passaro‹ ist ein gutes Lokal, hörte ich?« »Ja, und das exklusivste in Algier«, sagte der Fah rer. »Dieser Bursche Schultz hat wirklich etwas daraus gemacht. Eins muß man den Deutschen lassen. Wenn sie etwas tun, dann gründlich.« »Schultz - ist das der Eigentümer?« »Ja. Man erzählt sich, er wurde während des Krie ges in der Wüste gefangengenommen, entfloh schon auf dem Transport und lebte dann jahrelang bei den Arabern. Jetzt hat er vier solcher Lokale - hier, in Oran, in Constantine und in Tunis. Muß eine Menge Geld damit machen. Das ›El Passaro‹ wurde erst vor sechs Monaten eröffnet. Die Leute sagen, hinsichtlich der Aufmachung hätte es nicht seinesgleichen.« »Ich hoffe, man kann dort auch essen«, ließ Steve sich sehnsuchtsvoll vernehmen. Das ›El Passaro‹ residierte in einem Haus, das frü 98
her der Wohnsitz eines reichen arabischen Kaufmanns gewesen war. Das Gebäude war von prächtig gehalte nen Gärten umgeben, die Schultz mit Flutlichtanlagen versehen hatte. Die Reihen modernster amerikani scher, deutscher, französischer und italienischer Autos beiderseits der Zufahrt gaben Zeugnis von dem Wohlstand der Gäste. Sobald unser Taxi vor dem strahlend erleuchteten Eingang hielt, wurde die Tür von einem dunkelhäutigen Jungen geöffnet. Er trug einen weißen Seidenturban und über seinen Pluderho sen einen dreiviertellangen himmelblauen Seidenman tel. Schon im Garderobenraum fühlten wir uns von einer Art Haremsfluidum angehaucht. Die Gardero bieren trugen Gesichtsschleier und Pluderhosen und hatten nackte Bäuche - Gott sei Dank erfreulich schlanke. Ich wurde meinen Hut an einen Prachtkerl in traditioneller Tuareggewandung los. Schultz hatte wirklich Ernst gemacht mit seiner Arabische-NächteAtmosphäre. Dicke Orientteppiche bedeckten die Stufen, die hinab zu dem saalartigen Raum führten, aus dem die träumerischen Klänge eines Tangoorchesters ertönten. Im übrigen war dieser Raum beinah so dunkel wie ein Kino während der Vorstellung. Rot verhüllte elektri sche Leuchtkörper, ein paar Brennölflämmchen in zierlichen Messinglampen, da und dort die bläuliche Flamme der Wärmeschüssel eines servierenden Kellners - das waren die Lichtquellen, die uns viele, 99
viele dichtbesetzte Tische und die wogende Masse tanzender Paare auf der Tanzfläche mehr ahnen ließen als zeigten. Die Gäste sprachen sehr gedämpft. Zu sagen, die Stimmung wäre intim, hätte als phantasie lose Untertreibung gelten müssen. Der Empfangschef, der am oberen Ende der kurzen Treppe stand, trug den für seinesgleichen traditionel len Frack mit weißer Schleife. Er begrüßte mich mit höflichem Lächeln, schüttelte aber bedauernd den Kopf, als ich nach einem Tisch für zwei Personen fragte. »Es tut mir aufrichtig leid, Monsieur. Alle Tische sind vergeben. Ich kann Ihnen nicht helfen.« »Hat Monsieur Constantin einen Tisch reservieren lassen? Er würde nichts dagegen haben, wenn wir seinen Tisch mit ihm teilten.« »Monsieur Constantin? Sind Sie ein Freund von ihm?« Der Empfangschef betrachtete mich genauer, um sich darüber klarzuwerden, ob er mich schon früher gesehen habe. »Bitte, warten Sie einen Mo ment, Monsieur.« Er eilte von dannen, im Zickzack zwischen den Tischen hindurch, offensichtlich auf einen Mann zusteuernd, der neben der Tanzfläche stand und den tanzenden Paaren zuschaute. Sie wechselten ein paar Worte, sahen herüber und setzten sich zu mir in Bewegung. Nach der Art, wie der Empfangschef devot hinterdrein ging, schätzte ich, daß der andere Mann Schultz sein müsse. 100
Er war ein großer, blonder Mann, der sich wie ein Athlet bewegte. Seine Augen strahlten blau. Seine Haut war sonnengebräunt und glatt, doch schien es mir, als sei er ein gut Teil älter, als er wirkte. Seine Kleidung war von nobler Eleganz. Ich fand, daß ihn mindestens auf den ersten Blick - ein Nimbus von Vertrauenswürdigkeit und Charakterstärke umgab. »Sie fragten nach einem Monsieur Constantin, Sir? Ich fürchte, daß niemand dieses Namens einen Tisch bestellt hat. Ich würde Ihnen gerne helfen. Doch wie Sie sehen, sind wir voll besetzt.« Sein Englisch war bemerkenswert gut und doch nicht ganz frei von der kleinen Härte, die manchen Deutschen verrät, wenn er unsere Sprache spricht. »Hm, vielleicht gibt es eine Bar, an der wir etwas trinken könnten? Ich habe vereinbart, hier einen Freund zu treffen.« Anstatt zu antworten, wandte Schultz sich halb zur Seite und vollführte eine elegante Verbeugung. Der Empfangschef tat es ihm nach. Steve war aus dem Garderobenraum gekommen. Ich mußte mir jetzt eingestehen, daß die Zeit, die sie mit dem Wechseln ihrer Kleidung verbracht hatte, nicht verschwendet war. Mit ihren langen Ohrringen, der an ihrem Dekol lete blitzenden Brillantbrosche und dem raschelnden, engtaillierten Abendkleid sah sie zugleich jugendlich und vornehm aus. »Madame«, sagte Schultz mit leicht veränderter Stimme, »ich bedauere, daß ich Sie einen Moment 101
lang warten lassen muß, bis wir einen Tisch finden können.« Steve lächelte ihm verzeihend zu und sah, während er davonging, über meine Schulter. Ihr Blick wurde von einem Mann aufgefangen, der an einem nicht allzu weit entfernten Tisch saß und uns nun zuwinkte. »Das ist doch Tony Wyse«, sagte sie zu mir. »Ich glaube, er bittet uns an seinen Tisch.« Es war Tony Wyse. Wir nahmen an seinem Tisch Platz; der vierte Stuhl blieb leer. »Welch ein glücklicher Zufall!« Wyse strahlte uns freudig an. »Aber natürlich - jeder kommt ins ›El Passaro‹. Wirklich jeder! Ich habe schon in Paris davon gehört. - Kellner, noch eine Flasche Champagner.« »Es war nett von Ihnen, uns zu erlösen«, sagte Ste ve. »Ich hoffe nur, wir stören Ihre Gesellschaft nicht.« »Oh, keineswegs«, antwortete Wyse und sah auf seine Uhr. »Ich begann bereits einen Anflug von Einsamkeit zu verspüren. Mein Gast scheint nicht zu kommen.« Das Tanzorchester beendete seine Nummer mit einem langen Akkord, und die Tanzpaare fingen zögernd an, die Tanzfläche zu verlassen. Dann ratterte der Trommler einen Wirbel, ein Scheinwerfer flamm te auf, und in die Mitte des Parketts trat Schultz. »Mesdames, Messieurs, Mesdemoiselles - ich stelle Ihnen Yatasha vor, ungekrönte Königin der Oase Ouhir.« 102
Männlicher Applaus ertönte, allerdings nicht allzu leidenschaftlich. Am rückwärtigen Ende des Raumes erkletterten einige Herren reiferen Alters, vermutlich französische Geschäftsreisende, ihre Stühle, um besseren Ausblick zu haben. Während ein verborge nes Viermannorchester arabische Melodien zu spielen begann, kam ein dunkelhäutiges Mädchen auf die Tanzfläche gewirbelt, mit verschleiertem Gesicht und einer an Taille und Fußknöcheln befestigten Pluder hose aus dünnem, fast durchsichtigem Stoff. Zehn Minuten lang wirbelte sie herum, drehte und wand sich und ließ dabei Hüften und Schultern mit unglaub licher Geschwindigkeit vibrieren. Es war eine seltsa me Mischung von Barbarei und Kunst, irgendwie erregend. Als sie schließlich wie erschöpft zu Boden sank, übrigens sehr graziös, fielen drei der reiferen Herren im Hintergrund von ihren Stühlen, weil sie sich gar zu waghalsig nach vorn geneigt hatten, um alles ganz genau zu sehen. Als der Applaus verebbte, bemerkte ich, daß ein Kellner den leeren Stuhl an unserem Tisch zurück rückte. Ein Mädchen in weißem Abendkleid, mit einem hauchdünnen Schal um die Schultern, kam zwischen den benachbarten Tischen hindurch auf uns zu. Ich sah, daß Wyse aufstand, und tat mechanisch dasselbe. Das Mädchen hob den Kopf; ihr aschblon des Haar schimmerte im Lichtreflex des Scheinwer fers. Sie streckte Wyse ihre rechte Hand entgegen. Wyse verbeugte sich und Hauchte einen Kuß darauf. 103
»Simone«, sagte er, »ich denke, Sie kennen Mr. und Mrs. Temple bereits.« Simone Lalange schien leicht enttäuscht darüber, daß sie Wyse nicht für sich allein haben würde. Nachdem wir uns alle gesetzt hatten, herrschte einen Moment lang ein etwas betretenes Schweigen. Um es zu überbrücken, äußerte Steve ganz harmlos: »Ich wußte nicht, daß Sie beide so gut miteinander bekannt sind.« »Oh, es ist zwar eine neue Freundschaft«, erklärte Wyse fast pedantisch, »aber eine sehr schnell reifen de. Mademoiselle Lalange und ich haben viele gemeinsame Interessen entdeckt.« Sie lächelten sich an, und damit schien die Konver sation wieder ins Stocken kommen zu wollen. Ich dachte daran, Steve um einen Tanz zu bitten, damit die beiden ungestört Händchen halten könnten. Aber auf einmal raunte mir eine Stimme ins Ohr: »Sind Sie Mr. Temple, Sir?« Es war Schultz. Ich bejahte. »Monsieur Flambeau ist hier und möchte Sie spre chen«, sagte Schultz diskret. Ich entschuldigte mich bei den anderen und folgte Schultz durch den Saal und über eine kurze Treppe hinauf zu einer Art Empore, an der hinter schweren Vorhängen einige kleine Nischen für vertrauliche Unterredungen lagen. In einer von ihnen wartete Flambeau auf mich. Ehe Schultz uns verließ, fragte ich ihn, ob er mir 104
einen Gefallen tun würde. »Jederzeit zu Ihren Diensten, Sir.« »Können Sie versuchen festzustellen, ob jemand namens Constantin hier diniert?« »Ich werde tun, was ich kann, Sir.« Schultz verbeugte sich mit leicht ironischer Dienst beflissenheit und entschwand. Ich wandte mich Flambeau zu, um ihm die Hand zu schütteln. »Ich bedauere, daß Sie ein Weilchen auf mich war ten mußten, Mr. Temple. Aber ich hielt es für richtig, selbst zur Villa Negra mitzufahren.« Flambeau gefiel mir vom ersten Moment an. Er war noch verhältnismäßig jung und sehr intelligent. Seinem Typ nach hätte er eher Stabsoffizier als Kriminalbeamter sein können. Groß, schlank, unauf fällig elegant gekleidet, schien er die Welt mit leicht belustigter Duldsamkeit zu betrachten. Ich fragte: »Hatten Sie etwas Glück?« »So-so. Ihr Vorschlag mit dem Boot war gut. Die Besatzung fand ein treibendes Kanu mit der Leiche eines dürftig bekleideten Mannes darin. Zweifellos handelt es sich um Ihren Thompson, aber seine wahre Identität müssen wir noch feststellen.« »Und was ist mit dem anderen Ermordeten? Dem, der völlig bekleidet in dem Bett lag?« »Gefunden haben wir ihn, ja. Da er uns nicht be kannt ist, habe ich seine Beschreibung an die Interpol in Paris durchgeben lassen. Vielleicht erfahren wir von dort einiges über ihn.« 105
»Einen seiner Namen kann ich Ihnen sagen. Im Flugzeug nannte er sich Constantin - wenigstens mir gegenüber.« »Er war im Flugzeug mit Ihnen?« fragte Flambeau schnell. »Sahen Sie ihn auch schon in Nizza? Wohnte er im selben Hotel?« »Ah, Monsieur Flambeau, ich sehe, Sie haben mei ne Anmeldung im Hotel Aletti studiert. Oder sollte Ihnen Inspektor Mirabel einige Vorausinformationen übermittelt haben?« Flambeau errötete kaum merklich, und ich fand ihn noch sympathischer, weil ich sah, daß er noch verle gen werden konnte. »Wir stehen ohnehin in ständiger Verbindung mit einander«, erwiderte er ruhig und nicht ohne Würde. »Um auf die Villa Negra zurückzukommen: Rostand und seine zwei Komplicen haben wir nicht erwischt. Sie sind aus der Villa verschwunden, ohne etwas Persönliches zu hinterlassen.« »Das überrascht mich nicht. Ich hatte den Eindruck, daß sie dort nur kampieren. Es war interessant, vorhin zu hören, daß Sie bereits ein Auge auf Rostand hatten.« »Ja, wir haben ihn beobachtet, seit er vor einigen Wochen hier auftauchte und die Villa mietete. Er war früher in alle möglichen Sachen verwickelt und ist mehrfach vorbestraft, unter anderem auch als Heirats schwindler. Hier hatte er sich bisher nichts zuschulden kommen lassen - das heißt, soviel uns bekannt wurde. 106
Jetzt haben wir den ersten unmittelbaren Beweis für seine kriminellen Unternehmungen. - Würden Sie nun bitte so freundlich sein, mir zu erzählen, warum Sie zur Villa Negra gingen? Und wie ist die ganze Ge schichte über die Brille?« Ich gab Flambeau eine umfassende Schilderung aller bisherigen Ereignisse. Als ich auf meinen Besuch in der Villa Negra zu sprechen kam, bat er um eine genaue Beschreibung der Personen, die ich dort getroffen hatte, und steno grafierte dann eifrig mit. »Besten Dank«, sagte er schließlich. »Ihre Angaben werden uns eine gute Hilfe sein. Ich glaube nicht, daß wir Mühe haben sollten, Rostand und seine Kompli cen zu verhaften -« Er hielt plötzlich inne und machte eine warnende Handbewegung. Schultz war die Treppe wieder heraufgekommen und näherte sich unserer Nische. »Sir«, sagte er beim Eintreten, »ich bedauere, Sie enttäuschen zu müssen. Soweit es sich feststellen ließ, ist niemand namens Constantin in unserem Lokal anwesend.« »Nun, auf jeden Fall vielen Dank.« »Oh, nichts zu danken, Sir.« Schultz wollte wieder gehen, aber Flambeau hielt ihn zurück: »Einen Moment bitte, Monsieur Schultz. Wie ich hörte, sind Sie mit Colonel Rostand be kannt?« Ich blickte überrascht zu Schultz hinauf; Flambeau 107
hatte mir hiervon nichts gesagt. Schultz lächelte noch, aber seine Augen wirkten wachsam. »Colonel Rostand? Ja, er hat mich bei einer oder zwei Gelegenheiten in die Villa Negra eingeladen. Ich bin diesen Einladungen gefolgt, denn er ist ein sehr guter Kunde meines Hauses.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Schultz überlegte einen Moment lang und antworte te: »Vor einer Woche, ungefähr.« »Heute abend nicht?« »Nein.« »Sie haben heute abend auch keine Nachricht von ihm erhalten?« »Entschuldigen Sie, Inspektor. Darf ich den Grund für alle diese Fragen über Colonel Rostand erfahren?« »Er wird von der Polizei gesucht«, sagte Flambeau kurz. »Und ich weise Sie darauf hin, daß Sie, falls er kommt oder Sie ihn anderswo sehen, unverzüglich die Polizei benachrichtigen müssen.« »Aber selbstverständlich.« Schultz wirkte schok kiert und überrascht von der Neuigkeit. »Welches Verbrechens wird der Colonel beschuldigt?« »Mord«, erwiderte Flambeau. Jetzt sah Schultz ihn eher belustigt als überrascht an. »Aber, Inspektor Flambeau! Das kann ich von Co lonel Rostand einfach nicht glauben!« »Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht«, gab Flambeau zurück. »Auf jeden Fall denken Sie bitte 108
daran, daß jeder, der uns Informationen vorenthält, als Komplice gilt.« Er nickte, um Schultz zu zeigen, daß das Gespräch beendet sei. Schultz machte eine kleine Verbeugung, nun wieder mit seinem leicht ironischen Lächeln, und ging hinaus. »Ich bin sehr gespannt, diese Brille zu sehen«, sag te Flambeau, als wir wieder allein waren. »Haben Sie sie bei sich?« Wieder einmal zog ich die Brille heraus und über reichte sie. »Nichts Bemerkenswertes daran«, äußerte Flam beau, als er sie mir nach gründlicher Betrachtung zurückgab. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß zwischen der Brille und diesen Verbrechen irgendein Zusammenhang besteht.« »Vielleicht nicht. Und doch werde ich sehr glück lich sein, wenn ich sie aus der Hand geben kann. Wir fliegen morgen nach Tunis weiter. Und ich möchte Ihnen versichern: Das erste, was ich dort tue, wird sein, den richtigen Mr. David Foster zu finden.« Als ich an unseren Tisch zurückkehrte, fand ich Simone Lalange allein dort sitzen. Tony Wyse, als Gentleman, hatte beschlossen, daß er auch Steve auf das Tanzparkett führen müsse. Ich entdeckte die beiden nahe dem Orchester, beim Tanzen fröhlich lachend über irgendeinen Scherz, den vermutlich Wyse gemacht hatte, und offenbar sehr einig mitein ander. 109
Das mindeste, was ich tun konnte, war nun, Simone Lalange um einen Tanz zu bitten. Sie schenkte mir ihr verwirrendes Lächeln und erklärte sich begeistert einverstanden. Sicher wäre mir beim Tanzen wohler gewesen, hätte ich nicht das Gefühl gehabt, daß Steves Blicke mich etwas zu häufig streiften. Denn Simone Lalan ges Art zu tanzen war kein konventioneller Kontakt von Hand zu Hand. Sie schmiegte sich eng an mich, und als ihr Haar einmal zufällig mein Kinn streifte, atmete ich einen zarten Parfümduft, der an Lotustei che und Tannennadelrauch erinnerte. Jeder Versuch, eine höfliche Tanzunterhaltung zu führen, erübrigte sich. Das hier war eine intime, geheime Sensation, die mehr und tieferes Einverständnis als banales Wortge plänkel voraussetzte. Bei einer Gelegenheit beugte Simone ihren Ober körper plötzlich zurück und schien nach meiner Brusttasche zu spähen. Als die Musik endete, löste sie sich mit merklichem Zögern von mir. Dann begannen wir, hintereinander gehend, im Zickzackkurs zwischen den Tischen hindurch zu unserem Tisch zurückzukehren. Kurz bevor wir ihn erreichten, rempelten zwei Kellner, aus verschiedenen Richtungen kommend, schwer zusam men. Einer von ihnen hob seine rechte Faust, schlug zu und schickte den anderen unter erheblichem Geklirr und Getöse zu Boden. Eine Frau schrie auf. Simone fuhr herum und klammerte sich an mir fest. 110
In diesem Moment erlosch die elektrische Beleuch tung. Die paar flackernden Öllämpchen gaben so wenig Licht, daß fast völlige Finsternis herrschte. Ich fühlte rings um mich ein heftiges Gedränge, aber nichts mehr von Simone Lalange. Dann traf irgend etwas Schweres meine Brust und warf mich um. Instinktiv griff ich nach meiner Brusttasche. Die Brille war schon weg! Fieberhaft suchte ich auf Händen und Knien am Boden herum, handelte mir aber nur schmerzende Tritte auf die Finger ein. Verschiedene Frauen fingen an zu schreien. Mehrfaches Krachen und Klirren verriet, daß einige Tische umgeworfen worden waren. Den ganzen Lärm übertönte eine kräftige Männer stimme, die alle bat, Ruhe zu bewahren. Dann flammte die elektrische Beleuchtung wieder auf, jetzt verstärkt durch einen riesigen Kronleuchter in der Mitte der Saaldecke. Schultz war auf das Orchesterpodium gesprungen. »Kein Grund zur Aufregung!« rief er. »Es war nur eine durchgebrannte Sicherung!« Er gab den Musikern ein Zeichen, und der Dirigent hob seinen Taktstock für die nächste Melodie. Die Gäste begannen, zum Teil etwas geniert, ihre Plätze wieder einzunehmen; Kellner lasen die Trümmer des zu Boden gefallenen Geschirrs auf. Meine Suche nach der Brille war sinnlos; sie konnte mir nicht einfach aus der Tasche gefallen sein. Steve, Tony Wyse und Simone Lalange versam 111
melten sich, über den Zwischenfall lachend und scherzend, um unseren Tisch. Steve erkannte an meiner Miene, daß irgend etwas danebengegangen war, und kam schnell an meine Seite. »Was ist geschehen, Paul?« »Die Brille ist weg! Jemand muß sie mir aus der Tasche gezogen haben, als das Licht ausging!« »Bist du sicher, daß du sie nicht mehr hast?« »Natürlich!« Ich schlug demonstrativ auf die leere Brusttasche. »Vielleicht ist Flambeau noch da. Dann könnten wir die Ausgänge sperren lassen.« »Was ist denn?« fragte Wyse. »Haben Sie etwas verloren?« »Ja«, antwortete Steve. »Mein Mann vermißt eine Brille.« Auf der anderen Seite des Tisches steckte Simone Lalange ihr Spiegelchen wieder in die Handtasche, nachdem sie ihre Frisur und ihr Make-up kontrolliert hatte. »Wir könnten den Dirigenten um eine Durchsage bitten«, tröstete Wyse. »Sicher wird jemand die Brille finden. Vermissen Sie sonst nichts? Das plötzliche Ausgehen des Lichts kann ein Trick von Taschendie ben gewesen sein.« »Oh, meine Handtasche!« stöhnte Steve. »Be stimmt habe ich sie an meinem Platz auf dem Tisch liegengelassen, und jetzt ist sie nicht mehr da!« Wyse zog Steves Stuhl zurück, um sich unter den Tisch zu bücken. Aber das brauchte er gar nicht. 112
»Hier ist sie ja«, sagte er erfreut und hob die kleine schwarze Handtasche vom Sitz des Stuhles. »Aber schauen Sie lieber nach, ob irgend etwas daraus fehlt.« Steve nahm die Tasche dankbar lächelnd entgegen, öffnete sie, sah hinein und hob merkwürdig langsam den Blick. Ihr Ausdruck war sehr verwirrt, als sie die Brille aus der Tasche zog und mir überreichte. »Echt Frau!« lachte Wyse. »Sie muß dieses Ding die ganze Zeit über in ihrer Handtasche gehabt haben!« »Nun, Paul, noch fünf Minuten, und wir sind da! Hoffentlich erwartet uns der richtige David Foster am Flughafen!« Ich sah zu Steve, die mir gegenüber auf ihrem Platz am Flugzeugfenster saß, kühl und nobel in einem eleganten weißen Complet, und bewunderte wieder einmal ihre Fähigkeit, nach einer abenteuerlichen Nacht so frisch und hübsch auszusehen. Unser Flugzeug schwebte über den luxuriösen Vor ort Sidi bou Said dem Flughafen El Aouina entgegen, der einige Meilen außerhalb von Tunis liegt. Viele der Passagiere waren schon auf dem Flug von Nizza nach Algier unsere Reisegefährten gewesen; von denen, die jetzt fehlten, war mir nur Constantin in deutlicher Erinnerung. Wyse und Simone Lalange saßen weiter vorn in der langen Kabine nebeneinander. Seit dem Zwischenfall im ›El Passaro‹ hatte ich 113
Mademoiselle Lalange mit wesentlich intensiverem Interesse beobachtet. Für sie wäre es beim Erlöschen der Lichter leichter als für jemand anders gewesen, mir die kostbare Brille wegzunehmen. Aber wenn sie es getan hatte - weshalb sollte sie dann das eben gestohlene Objekt gleich wieder in Steves Handtasche manipuliert haben? Natürlich hatten wir beide, Steve und ich, an die Möglichkeit einer Vertauschung gedacht. Ich war aber so vorsichtig gewesen, auf der Innenseite einer der Linsen einen klaren Daumenab druck anzubringen, und hatte nach der Rückkehr in unser Hotel einwandfrei festgestellt, daß der Abdruck noch vorhanden und daß es auch wirklich mein eigener Abdruck war. Bei einer flüchtigen Betrach tung wäre er selbst in hellem Licht kaum zu entdecken gewesen, und die Möglichkeit einer Fälschung schied begreiflicherweise völlig aus. Die tunesische Paß- und Zollkontrolle wurde un gemein bürokratisch gehandhabt. Tony Wyse brachte es fertig, durch sein Reden und Auftreten die Beamten gegen sich einzunehmen. Daraufhin untersuchten sie jeden einzelnen Gegenstand in seinem Gepäck mit äußerster Sorgfalt und bestanden sogar darauf, daß er seine Taschen leerte. Als wir schließlich aus den Kontrollräumen kamen, ging ich zu den Benachrichti gungstafeln für eintreffende Reisende. Leider war dort keine Botschaft für uns. Auch schien niemand aus der Stadt gekommen zu sein, um uns in Empfang zu nehmen. 114
Ich sah, wie Tony Wyse sich etwas betrübt von Simone Lalange verabschiedete. Sie wünschte ein Taxi für sich allein, ohne Begleitung durch Mister Wyse. Er half ihr beim Einsteigen, machte die Tür hinter ihr zu und sah dem davonrollenden Taxi ein paar Sekunden lang nach. Dann winkte er ein Taxi für sich selbst herbei. Steve und ich warteten eine Viertelstunde, um Da vid Foster, falls er da war, jede Chance zu geben, uns zu treffen. Dadurch verpaßten wir den kostenlosen Flughafenbus zur Stadt und mußten schließlich ebenfalls ein Taxi nehmen. Wir hatten eine kleine Suite im Hotel Concorde auf der Avenue Jules Favre bestellt. An der Rezeption ließ ich mir ein Telefonbuch geben, um die Trans-AfrikaÖl-Company herauszusuchen. »Da haben wir sie ja«, sagte ich zu Steve und wies auf die Eintragung. »Bitte, schreib die Telefonnum mer für mich auf.« In Tunis dauert die allgemeine Mittagsruhe bis vier Uhr. Also mußte ich mich in Geduld fassen. Es wäre reine Zeitverschwendung gewesen, irgendein Büro vorher anzurufen. Fünf Minuten nach vier machte ich meinen Anruf. Die unpersönliche Stimme einer Vermittlerin meldete sich: »Trans-Afrika-Öl-Company.« »Ich möchte Mr. Foster sprechen, bitte. Mr. David Foster.« »Ich verbinde.« 115
Ich hörte mehrfaches Klicken, dann ein Rufzeichen, schließlich eine schläfrige Männerstimme: »Forster.« »Mein Name ist Temple«, sagte ich. »Ich nehme an, Sie haben von Judy Wincott eine Nachricht über mich erhalten. Ich möchte nun eine Verabredung tref -« »Judy - wer?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang sehr ärgerlich. Es schien, als sei ihr Eigentümer eben aus süßem Büroschlummer aufgeschreckt und könne durchaus nicht leiden, was er da hörte. »Judy Wincott. Ich traf sie zufällig in Paris. Sie bat mich, Ihnen Ihre Brille zu überbringen.« »Hören Sie«, fauchte die Stimme. »Soll das ein Spaß sein? Ich habe nie von einer Judy Wincott gehört. Und die einzige Brille, die ich habe, sitzt mir fest auf der Nase.« »Aber Sie sind David Foster?« »Ich bin Daniel Forster, mit einem ›r‹ hinter dem ›o‹. Und wenn Sie nun so freundlich sein würden, aus der Leitung zu gehen -« »Einen Moment«, sagte ich schnell, ehe er auflegen konnte. »Die Sache ist ziemlich wichtig. Gibt es in Ihrer Firma einen Mann namens David Foster?« »Nein«, erwiderte Mr. Forster nachdrücklich. »Wenn wir so einen hätten, wüßte ich es. Ich bin der Personalchef.«
116
5
»Na«, sagte ich, als ich den Hörer auflegte, »das war's also.« »Kein David Foster?« »Kein David Foster. Der einzige, den ich erreichen konnte, war ein Mr. Daniel Forster.« »Aber das ist beinah derselbe Name, Paul. Kann Judy Wincott sich nicht geirrt haben?« »Judy Wincott vielleicht. Aber nicht Daniel Forster. Eine Judy Wincott kennt er nicht, und die einzige Brille, die er hat, sitzt ihm fest auf der Nase. Ich bin sicher, er hat mit dieser Sache nichts zu tun.« »Kann es sein, daß man irgendwie mit seinem Na men operiert, ohne daß er davon weiß?« »Das kommt mir unwahrscheinlich vor. Ich nehme an, der ähnliche Name ist reiner Zufall - soweit man es Zufall nennen kann, daß eine so große Firma wie die Trans-Afrika-Öl einen Angestellten mit einem so verwechselbar ähnlichen Namen wie David Foster hat.« »Wer und wo ist dann der richtige David Foster?« »Ich vermute, den gibt es gar nicht.« »Du meinst, die ganze Geschichte war erfunden?« »Vielleicht. Möglich wäre allerdings auch, daß David Foster inzwischen tot ist. Anscheinend ist hier ein sorgfältig ausgeklügelter krummer Plan irgendwie geplatzt. Und wir sind die zwei Dummen, die das Baby in Verwahrung genommen haben.« 117
»Unter ›Baby‹ verstehst du die Brille? Was wirst du nun damit machen? Einem nicht existierenden Eigen tümer kannst du sie ja kaum zurückgeben.« Ich nahm ein Paar in Algier gekaufte Bastschuhe aus dem Schuhschränkchen und setzte mich auf das Sofa, um sie gegen die ledernen Halbschuhe auszu tauschen, die ich an den Füßen hatte. »Ich denke, am korrektesten wäre es, sie als herren losen Gegenstand bei der Polizei abzugeben. Aber das ginge mir irgendwie gegen den Strich. Überleg nur, wie viele seltsame Leute in unser Leben getreten sind, seit wir die Brille haben. Sam Leyland, Tony Wyse, Constantin, Colonel Rostand, nicht zu vergessen der einzigartige Sandro -« »Und Simone Lalange«, erinnerte mich Steve mit dunklem Blick. »Tu nicht, als hättest du sie verges sen.« »Hab' ich auch nicht. Du ließest mir bloß keine Zeit, zu ihr zu kommen.« »Was ich auch nie erlauben würde, solange ich etwas dagegen tun kann«, warnte Steve. Wir lachten beide. Ich stand auf und bewegte versuchsweise die Ze hen. Meine Füße fühlten sich wohl in den neuen leichten und bequemen Schuhen. »Weißt du, Steve«, sagte ich, »mir ist manchmal, als würden wir von einem unsichtbaren Reisezirkus begleitet und als hätte das ganze Zirkuspersonal, so eifrig es auch vorgibt, anderweitig beschäftigt zu sein, 118
in Wirklichkeit nur eine einzige Sache im Sinn - diese Brille. Nein, ich werde das Prachtstück behalten. Mich interessiert, wer der nächste Bewerber um unsere Freundschaft sein mag.« Ich stellte mich vor den großen Spiegel, um meine neuen Schuhe zu bewundern. Steve kam herbei und beguckte über meine Schulter hinweg unser gemein sames Spiegelbild. »Ich denke, du mußt sehr vorsichtig sein, Paul. Diese Leute sind entschlossen, sich gegenseitig umzubringen. Wenn du zuviel riskierst, kommen sie auf den Gedanken, auch dich umzubringen. Ich wünschte, Darling, du würdest wenigstens darauf verzichten, die Brille mit dir herumzutragen.« Ich drehte mich um und sah ihr in die Augen. »Ich glaube, für eine Weile wird sich nichts ereig nen, Steve. In Algier hat man einen plumpen Versuch gemacht, mich zu überzeugen, daß ich die Brille herzugeben hatte. Bestimmt wird ein neuer und besserer Versuch hier in Tunis gemacht werden. Doch das braucht Zeit, weil es vorbereitet werden muß. Und ich verspreche dir, daß ich morgen früh, sobald die Banken öffnen, die Brille bei der hiesigen Filiale von Lloyds Bank deponieren werde.« Ich beklopfte zärtlich meine Brusttasche. Trotz meines leichten Anzugs zeichnete sich äußerlich nichts von der Brille ab. Ich hatte ein zurechtgeschnit tenes Stück Pappe so in die Tasche gesteckt, daß es die Brille zugleich verbarg und schützte. 119
»Nun«, sagte ich, »wenn du fertig bist, Steve -« »Wenn ich fertig bin?« echote sie. »Ich warte seit fünf Minuten. Wer ist es denn, der seine neuen Schuhe im Spiegel bewundert?« Ich schob sie lachend in den Korridor hinaus und schloß die Zimmertür hinter uns ab. »Wohin gehen wir?« fragte sie. »Da wir eigentlich hierhergekommen sind, um etwas von Tunis zu sehen, wollen wir mit einem kleinen Bummel durch die umliegenden Straßen beginnen.« Unsere Avenue Jules Favre, die während der Sie stazeit recht still gewesen war, hatte jetzt schon wieder lebhaften Betrieb. Wir überquerten den Fahrdamm vor dem Hotel, um auf der Mittelprome nade unter dem Schatten von zwei Reihen stattlicher Bäume dahinzuspazieren. Eine bunte Schar von Straßenhändlern wollte Stadtpläne, Postkarten, Reiseandenken, Füllfederhalter, frische Austern, gesponnenen Zucker und noch vielerlei anderes an uns verhökern. Wir hielten an einem Zeitungsstand, um einige Abendzeitungen zu kaufen, beobachteten interessiert, wie drei glutäugige Araberjungen einen Laternenmast erkletterten, um ihr papierenes Modell flugzeug zu bergen, das in einem Baum hängenge blieben war, riskierten Gesundheit und das Leben bei einer nochmaligen Überquerung der Fahrbahn und begannen einen Schaufensterbummel durch die Avenue de Rome. 120
Beim Weitergehen nach der dritten oder vierten Schaufensterbesichtigung raunte ich Steve zu: »Wir werden beobachtet.« Sie hütete sich, sich neugierig umzudrehen. Da wir Arm in Arm gingen, merkte ich aber, daß ihre Haltung sich unwillkürlich versteifte. »Schon?« »Vielleicht ist er ein gewöhnlicher Taschendieb, wie sie immer in der Nähe großer Hotels auf Gele genheiten lauern. Wir wollen ihm die Chance geben, näher heranzukommen.« »Wie sieht er aus?« »Könnte ein Landsmann sein. Oder wenigstens ein Ire. Etwa einsfünfundsechzig groß, um die Fünfzig, bartlos, grauer Fischgrätmusteranzug, der ihm zwei Nummern zu weit sein dürfte, mattgrüner Filzhut.« Wir machten bei der nächsten Ecke eine Wendung nach rechts, die uns um den Block herum zurück zum Hotel bringen mußte, und blieben auf unserem Weg auch weiterhin bei jedem Schaufenster stehen, das uns interessierte. Unser Verfolger war weit davon ent fernt, ein Meister seines Fachs zu sein; jedesmal, wenn wir stehenblieben, geriet er in Verlegenheit, wo er ein Versteck finden oder wie er sich ganz unauffäl lig verhalten konnte. Unser Hotel hatte eine Bar mit separatem Eingang von der Straße. Wir machten davor halt, als seien wir noch unentschlossen, ob wir hineingehen sollten; aus einem Augenwinkel sah ich, wie unser Verfolger uns 121
beobachtete. Als wir eintraten, hegte ich keinen Zweifel, daß er nun wußte, wo er uns finden könnte, falls er dies wollte. Die Bar war noch ziemlich leer. Eine kleine Musik anlage ließ dezente Melodien ertönen. Der arabische Barmann, bekleidet mit makellos weißer Nylonjacke, mixte Cocktails für zwei südfranzösische Geschäfts leute, die fast so orientalisch aussahen wie echte Araber. Wir erkletterten Hocker an der Bar und bestellten Martinis. Der Barmann hatte sie noch nicht serviert, als ich durch den Spiegel über der Bar unseren kleinen Verfolger hereinkommen sah. Er machte keine Umstände, sondern kam stracks zur Bar marschiert, erklomm den Hocker neben mir und nickte dem Barmann zu. »'n soir, Achmed. Un Scotch avec Seltz, s'il vous plait.« Nachdem er sein Sprüchlein in gräßlichem Franzö sisch aufgesagt hatte, drehte er sein etwas ungewa schen wirkendes Gesicht zu mir, lächelte wohlwollend und fügte auf englisch hinzu: »Aber ein Wetterchen haben wir heut - direkt zum Verlieben, eh?« Seine Stimme klang etwas gequetscht, und sein Atem hatte ein unleugbares Whiskyaroma. Dem Akzent nach war er wirklich ein Ire. »Angenehm mild für die Jahreszeit«, pflichtete ich höflich bei; ich hatte gelesen, daß der frühe April in Tunis schon tropisch heiße Tage bringen könnte. 122
»Zur Erholung hier, die Herrschaften?« »Ja. Wir suchten eine Gegend, in der es noch nicht von Touristen wimmelt.« Er nickte mehrmals, was eine Anerkennung der Weisheit meiner Absicht zu bedeuten schien. Sein weiß und blau gestreiftes Hemd war nicht allzu sauber; die rot-gold-grün karierte Krawatte sollte wohl, obschon selbst etwas fleckig, die Aufmerksam keit davon ablenken. Er behielt seinen Hut auf, keck zur Seite geschoben, die Krempe vorn herunterge klappt, um wenigstens eines seiner geröteten Trinker augen zu beschatten. Er hatte sich an diesem Morgen nicht rasiert und offenbar seit Jahren nicht gewagt, seine Zähne von einem Zahnarzt anschauen zu lassen - jedenfalls waren sie bräunlich von Nikotin und wiesen einige Lücken auf. Was mir Kopfzerbrechen machte, war sein Anzug; ich konnte mir nicht vorstel len, daß jemand einen um zwei Nummern zu großen Anzug wählen würde, und kam im stillen zu dem Schluß, die Hitze von Tunis habe diesen Mann allmählich schrumpfen lassen. »Ja, da haben Sie sich das richtige Reiseziel ausge sucht! Wundervolle Stadt, dieses Tunis! Aber Sie werden genau überlegen müssen, wo Sie hingehen. Bei Dunkelheit durch die Eingeborenenviertel wan dern würde ich Ihnen dringend abraten. Schon man chen, der etwas von den ›Arabischen Nächten‹ sehen wollte, fand man am nächsten Morgen -« Er hielt inne, stieß ein fauchendes Geräusch aus 123
und zog sich einen gestreckten Finger über die Kehle. »Sie leben hier?« fragte ich. »O'Halloran ist mein Name«, erklärte er unvermit telt und bot mir seine nikotinfleckige Rechte. »Die Lady ist gewiß Ihre Gattin?« Da ich bejahte, ließ er sich vom Stuhl gleiten, ha stete an mir vorbei und begann Steve die Hand zu schütteln. Steve sah von der Höhe ihres Barhockers etwas verdutzt auf ihn hinab. »Ist sie nicht eine bildschöne Frau?« rief er voll Begeisterung. Steve versuchte, ihre Hand wegzuzie hen, aber der kleine Ire wollte durchaus nicht loslas sen. Ich paßte scharf auf, ob er vielleicht Anstalten machen würde, ihr einen Ring oder die Armbanduhr abzuziehen oder in ihrer Handtasche zu angeln. »Sagen Sie mir bloß nicht, da wäre kein irisches Feuer in Ihren Augen, Madam!« jubelte er und staunte über Steves energisches Kopfschütteln. »Nein, da sei keins? Ah, Madam, das kann ich einfach nicht glau ben. - Danke sehr, Achmed. Merci. Nein, nicht soviel Sodawasser. - Entschuldigen Sie, Sir, wenn ich einen langen Arm mache, ha, ha, ha. Also auf Ihre Gesund heit und erfreuliche Ferientage in Tunis. - Aaah, das tut gut! Möchten Sie eine amerikanische Zigarette?« Er schmatzte und holte ein verdrücktes Päckchen Camel-Zigaretten aus der Hosentasche. Steve und ich lehnten dankend ab. O'Halloran befeuchtete sich die Lippen, steckte eine Zigarette dazwischen, rollte sie hin und her, bis sie feucht genug war, und setzte sie 124
mit einem Zündholz in Brand, das er sehr routiniert an seinem Hosenboden anriß. Er blies das Flämmchen aus, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, und inhalierte mindestens dreißig Sekunden lang. Dann begann er wieder zu sprechen, aber der Rauch kam erst gegen Ende der folgenden Passage zum Vorschein. »Ist es nicht seltsam, wie der Zufall spielt? Hier sitzen Sie vor Ihren Drinks und fragen sich, wie um alles auf der Welt Sie Ihren Weg durch diese fremde Stadt finden sollen. Und wer kommt da herein? Ausgerechnet ich - in ganz Tunis der beste Mann, der Ihnen helfen kann! Ja! Ist das nicht seltsam?« »Sie wollen damit sagen«, erkundigte sich Steve mit einer Stimme, die vor unterdrücktem Lachen nicht ganz sicher war, »Sie wollen damit sagen, daß Sie ein Fremdenführer sind, Mr. O'Halloran?« »Ein Fremdenführer, Gnädigste? Sagen wir lieber: der Fremdenführer! Ich kenne Tunis wie den Rücken meiner Hand!« O'Halloran sah dramatisch einen Moment lang auf den Rücken seiner Rechten, dann steckte er sie schnell in seine Jackettasche. »Hier, werfen Sie einen Blick darauf!« Er zückte eine abgewetzte Brieftasche, prall gefüllt mit Geschäftskarten, Zeitungsausschnitten, Briefen und sogar einigen Geldscheinen. Vorsichtig angelte er darin nach einem ausgeschnittenen Zeitungsfoto, das viele, viele Jahre alt sein mußte; es war vergilbt und begann sich am Knick aufzulösen. Ich wußte, daß 125
O'Hallorans Augen auf mich gerichtet waren, als ich es betrachtete. Es zeigte eine Gruppe wohlhabender Amerikaner neben einem Charterflugzeug. Mitten unter ihnen war, wie ein Maskottäffchen, Mr. O'Halloran zu sehen, damals noch im Lenz seines Lebens. »Der Bund amerikanischer Bierbrauer! Die Gent lemen erwählten mich zu ihrem offiziellen Fremden führer für die ganzen drei Tage ihrer Anwesenheit in Tunis!« »Eine wertvolle Urkunde, Mr. O'Halloran. - Schau, Darling, das ist Mr. O'Halloran mit dem Bund ameri kanischer Bierbrauer.« »Oh, und diese Ähnlichkeit!« äußerte Steve Schicksals ergeben, während sie das Foto betrachtete. »Ich bin glücklich, daß es Ihnen gefällt. Und nun...« Mit gleicher Vorsicht zückte O'Halloran eine Ge schäftskarte und überreichte sie Steve, die sie dann an mich weitergab: Haus künstlerischer Raritäten Szoltan Gupte, Kunsthändler 227, Avenue Mirabar Tunis Amerikanische und englische Besucher willkom men Tel. 18 75 92 Darunter stand in zittrigen Buchstaben geschrieben: Patrick O'Halloran, Spezialvertreter. 126
»Es ist einen Besuch wohl wert«, versicherte uns der kleine Ire mit plötzlichem Ernst. »Bestimmt werden Sie es lohnend finden. Ich selbst kann Sie dorthin führen. Wann würde Ihnen eine Besichtigung recht sein?« »Nun, Mr. O'Halloran, unsere Pläne liegen noch nicht fest. Zunächst möchten wir uns ein wenig auf eigene Faust umsehen. Später wollen wir dann gerne auf Ihre Dienste zurückkommen. Wie können wir Sie erreichen?« »Rufen Sie einfach diese Nummer an. Und erinnern Sie sich - ob Tag oder Nacht, Patrick O'Halloran steht zu Ihren Diensten. ›Haus künstlerischer Raritäten‹ vergessen Sie es nicht! Ich an Ihrer Stelle würde mit der Besichtigung nicht zu lange zögern. Und wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden? Ich werde von Touristen erwartet, denen ich die Kasbah zeigen soll.« O'Halloran schwenkte seinen Hut, wodurch ein Schopf überraschend jugendlicher Locken enthüllt wurde, beglückte uns mit seinem wohlwollenden Lächeln und entschwand wie ein eiliges Kaninchen. Er hatte sich nicht damit aufgehalten, seinen Drink zu bezahlen. Sobald er fort war, platzten wir los vor Lachen. »Hätte ich ihn nicht mit eigenen Augen gesehen, würde ich nicht glauben, daß es so etwas gibt«, sagte Steve. »Er ist ja eine Type wie vom Possentheater!« Sie steckte O'Hallorans Karte in die Handtasche. »Das darf ich nicht verlieren. Hast du bemerkt, Paul, wie 127
sehr ihm an unserem Besuch in diesem ›Haus künstle rischer Raritäten‹ gelegen ist? Meinst du nicht, daß irgend etwas dahintersteckt?« »Durchaus möglich. Wir werden O'Halloran ein bißchen schmoren lassen. Wir wollen warten, bis er sich von selbst wieder zeigt. Ich vermute, das wird schon bald sein.« Die Bar begann sich allmählich zu füllen; sie schien ein beliebter Treffpunkt zu sein. Die meisten Gäste nahmen an kleinen Tischen Platz, während Steve und ich noch immer weithin sichtbar an der Theke saßen. O'Halloran war nicht ganz das gewesen, was ich erwartet hatte. Aber ich glaubte zu fühlen, daß jemand anwesend war, der auf eine Gelegenheit wartete, mit mir zu sprechen. »Steve«, schlug ich vor, »möchtest du nicht hinauf gehen und anfangen, dich umzuziehen? Ich bleibe noch ein wenig hier sitzen. Vielleicht erscheint jemand, den wir kennen.« Sie warf mir einen etwas merkwürdigen Blick zu, befolgte aber den Wink und ließ sich von ihrem Barhocker gleiten. »In einem Viertelstündchen komme ich auch hin auf. - Achmed, bitte noch einen Martini.« Ich hatte recht mit dem Gefühl, daß ein bestimmter junger Mann die Gelegenheit ergreifen würde, mit mir zu sprechen. Sobald Steve durch die Tür zum Hotel foyer entschwunden war, kam er von seinem Tisch chen herbei und stellte sich vor. Er war geschäftlich in 128
London gewesen, zu einer Zeit, als ich mit Sir Gra ham Forbes von Scotland Yard an einem Mordfall arbeitete, der Schlagzeilen machte; er hatte damals in den Zeitungen Fotos von mir gesehen und mich nun wiedererkannt. Da er sich als ein sehr gebildeter und liebenswürdiger junger Franzose erwies, waren wir bald in eine lebhafte Erörterung der Möglichkeiten vertieft, die internationale Verbrecher von Witz und Format aus der Verwendung moderner Verkehrsmit tel, eigener Funkanlagen und anderer technischer Neuerungen zu ziehen vermögen. Wir hatten etwa sieben oder acht Minuten lang recht angeregt gesprochen, als ich durch die Tür zum Hotelfoyer eine Frau sehr eilig in die Bar kommen sah. Sie war ziemlich groß und das, was man ansehn lich nennt. Ihre Kleidung war betont seriös, aber gut geschneidert und von jener Art Eleganz, die häufig bei ernsthaft arbeitenden und verantwortungsbewußten Chefsekretärinnen führender Männer des Bankwesens oder der Industrie zu finden ist. Ich schätzte sie auf etwa dreißig. Sie schaute nervös umher, bis ihr Blick mein Tweedjackett traf, das mich als mutmaßlichen Eng länder charakterisierte. Dann kam sie, einen besorgten Ausdruck auf dem Gesicht, rasch auf mich zu. »Entschuldigen Sie, Sir. Sind Sie zufällig Mr. Temple?« Ihr Akzent klang amerikanisch. »Ja, mein Name ist Temple.« 129
»Gott sei Dank, daß ich Sie gefunden habe, Mr. Temple. Verzeihen Sie, daß ich mich so aufdränge...« Sie sah zu meinem Gesprächspartner, der wohler zogen von seinem Barhocker geglitten war und nun dastand - bereit, sich vorzustellen. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« fragte ich. »Es handelt sich um Ihre Frau. Ich fürchte, sie hatte einen häßlichen Schock. Aber jetzt geht es ihr wieder gut - seien Sie unbesorgt. Ich habe ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben. Ich hätte sie nicht verlassen, aber sie bestand darauf, daß ich in die Bar gehen und Sie benachrichtigen sollte -« »Entschuldigen Sie mich bitte«, sagte ich über die Schulter zu dem jungen Franzosen, der mich entgei stert ansah, und eilte mit der Frau ins Foyer. »Zum Hotelpersonal gehören Sie doch nicht?« fragte ich sie, während wir auf den Lift warteten. »Nein. Ich bewohne das Zimmer neben Ihrer Suite, Mr. Temple. Ich wollte eben anfangen, mich für den Abend umzuziehen, als ich Ihre Frau schreien hörte -« »Schreien?« Der Lift war endlich ins Parterre zurückgekehrt. Wir stiegen ein. Sobald die Tür sich geschlossen hatte, drückte ich auf den Knopf für die dritte Etage, und die Liftkabine begann ihre ruckelnde Aufwärts fahrt. »Natürlich eilte ich sofort hinüber. Ihre Frau lag auf dem Bett und wehrte sich gegen einen Mann, der ihr ein Kissen über das Gesicht drückte -« 130
»Um Himmels willen! Weiter!« »Nun, das ist eigentlich schon alles. Sobald er mich bemerkte, jagte er zur Balkontür und verschwand nach draußen. Ich habe nicht versucht, ihm zu folgen. Ich war zu besorgt um Ihre Frau. Sie rang um Atem -« »Und dann haben Sie sie allein in diesem Zimmer gelassen?« unterbrach ich sie ärgerlich. Die Amerikanerin sah mich vorwurfsvoll an. »Natürlich habe ich mich überzeugt, daß niemand mehr auf dem Balkon war, Mr. Temple. Dann habe ich die Balkontür verriegelt und die Zimmertür hinter mir abgeschlossen. Hier ist der Schlüssel.« »Ich bitte um Entschuldigung. Sie werden verste hen, daß ich ziemlich entsetzt war, als Sie sagten -« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Mr. Temple.« Eine Hand legte sich begütigend auf meinen linken Unterarm; durch den Ärmelstoff fühlte ich den leichten Druck verläßlicher Finger. »Sie hatte einen entsetzlichen Schock. - Übrigens, mein Name ist Bryce. Miss Audry Bryce.« Die Liftkabine stoppte, die Tür rollte zur Seite. Wir stiegen aus und eilten, Miss Bryce mit dem Schlüssel voran, zur Tür der Suite. Miss Bryce schloß auf und trat zurück, um mich zuerst hineingehen zu lassen. Steve lag auf dem Bett, hob aber den Kopf, als sie mich sah. Sie hatte ein gerötetes Gesicht und zitterte noch. Miss Bryce blieb taktvoll im Hintergrund, während ich mich überzeugte, daß Steve glücklicherweise 131
weiter nichts passiert war. Nach einer halben Minute hüstelte Miss Bryce, um an ihr Vorhandensein zu erinnern, und sagte: »Ich glaube, ich werde jetzt gehen. Den Zimmerschlüssel habe ich auf der Innen seite ins Schloß gesteckt.« »O bitte, gehen Sie noch nicht«, entgegnete Steve. »Paul, Miss Bryce war sehr gut zu mir. Ich weiß nicht, was hätte geschehen können, wenn sie nicht so schnell zu Hilfe gekommen wäre. Aber ich fürchte, im ersten Moment bin ich dann beinah hysterisch geworden.« »Miss Bryce, wir sind Ihnen aufrichtig dankbar«, beteuerte ich. »Möchten Sie nicht mit uns zu Abend essen? Es würde uns beide sehr freuen.« »So nett es von Ihnen gemeint ist, Mr. Temple leider bin ich für den Abend schon verabredet. Aber vielleicht finden wir an einem der nächsten Tage Gelegenheit, uns mal zu treffen.« »Das hoffe ich sehr. Und nochmals Dank, Miss Bryce.« Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, setzte Steve sich auf und schwang die Beine vom Bett. »Paul, ahnst du, wer der Mann war?« »Nein. Wie könnte ich das?« »Sam Leyland!« »Sam Leyland? Erzähl mir genau, was geschah.« Ich setzte mich auf den Bettrand und zog Steves Kopf an meine Brust. »Also, ich kam herauf, schloß die Tür auf, trat ein 132
und machte die Tür wieder zu - ganz mechanisch und ohne mir dabei etwas zu denken, du kennst das ja. Plötzlich sprang hinter den Betten ein Mann hoch, stürzte sich auf mich und preßte mir eine Hand über den Mund. Ich biß kräftig hinein, und er ließ mich los. Da schrie ich um Hilfe und sah, daß es Sam Leyland war. Er packte mich gleich wieder und stieß mich auf das Bett. Oh, Paul, und als er mir das Kissen übers Gesicht drückte, mußte ich an Judy Wincott den ken...« »Ich wünschte, ich hätte Sam in der Villa Negra etwas nachhaltiger außer Betrieb gesetzt! Hast du eine Idee, was er hier tat? Durchwühlt sieht das Zimmer nicht aus.« »Vielleicht habe ich ihn überrascht, ehe er anfangen konnte. Oder er hatte wirklich vor, mich zu erstik ken.« Ich stand auf, öffnete die Balkontür und trat hinaus. Unser Balkon war natürlich leer. Aber es handelte sich um einen sogenannten Etagenbalkon, der, nur durch niedere Trennwände unterteilt, um das ganze Hotel lief. »Nein, Steve«, sagte ich, als ich in das Zimmer zurückkehrte, »ich glaube nicht, daß er dir etwas antun wollte. Das Kissen sollte wohl nur verhindern, daß du weiter um Hilfe riefest.« »Du meinst also, er war wegen der Brille hier? Bilden diese Leute sich ein, wir ließen die Brille einfach in einem Hotelzimmer herumliegen - nach 133
allem, was geschehen ist?« »Wahrscheinlich halten Sie uns für dümmer, als wir sind. Aber sag, mein Schatz, wie fühlst du dich? Möchtest du einen Brandy oder irgend etwas anderes dieser Art?« Steve schüttelte den Kopf. »Ach, danke, ich fühle mich ganz wohl.« »Was hieltest du davon, wenn wir uns das Dinner hier oben servieren ließen?« »Nein, das würde mir nicht gefallen. Ich möchte so schnell wie möglich hier hinaus und viel gute, frische Abendluft atmen.« »Das dürfte ein seltener Artikel in Tunis sein. Aber ich glaube, ich weiß das nächstbeste Ding.« Als Steve sich umgezogen hatte, fuhren wir hinun ter, verließen das Hotel und gingen zum nächsten Halteplatz für Pferdedroschken. Ein arabischer Kutscher, der aussah, als sei er einhundertundelf Jahre alt, kletterte von seinem Kutschbock, um uns mit orientalischer Höflichkeit in das ledergepolsterte offene Fahrgastabteil seiner Kalesche zu helfen. »Monsieur, Sie wollen Kasbah besuchen? Altstadt von Tunis?« »Fahren Sie, wohin Sie wollen«, sagte ich. »Aber Ihr Pferd muß Kraft genug behalten, um uns heute noch hierher zurückzubringen.« Die Peitsche knallte über dem Kopf des Pferdes, und wir zuckelten los. Der Abend senkte sich hernie der, und eine angenehme Brise umfächelte unsere 134
Wangen. In der nächsten Stunde versuchten wir, eingelullt vom rhythmischen Klipp-Klapp der Hufe, alles zu vergessen, was mit Mord und Gewalttat zusammen hing, und uns als ganz normale Touristen zu fühlen. Unser Kutscher schien mit uns seine gewohnte Routinerundfahrt zu machen, und ich war froh, daß in den Straßen, durch die wir kamen, niemand Notiz von uns zu nehmen schien. Der Himmel verwandelte sich in tiefdunkles Blau, und im Osten blinkten schon die ersten Sterne. Wir fuhren über heitere Boulevards mit dichtbesetzten Caféhaustischchen auf den Gehsteigen. Dann und wann wies unser Kutscher mit der Peitsche auf die Fragmente einer Mauer oder eines Torbogens, um uns moderne Reisende daran zu erinnern, daß die alten Römer auch schon hiergewesen waren. Schließlich kamen wir in die engen Gassen des Araberviertels. Sogleich begann eine Schar schreien der Araberjungen hinter der Droschke herzulaufen. Der Kutscher vertrieb sie mit der Peitsche. Die dicht beieinanderstehenden Häuser ragten dunkel zu beiden Seiten auf. Nur wenige Europäer waren in diesen Gassen zu sehen. Auf den Vortreppen und neben dunklen Eingängen hockten Araber in ihren wallen den Gewändern. Frauen mit Gesichtsschleiern, die nur die Augen sehen ließen, drückten sich gegen die Häuserwände, um uns vorbeizulassen. Im Vorbeifah ren warfen wir flüchtige Blicke in überfüllte und wenig einladende Arabercafés, hin und wieder hörten 135
wir Bruchstücke eigentümlich monotoner Gesänge. Einmal gerieten wir unversehens in die Nähe einer heftigen Straßenschlägerei. Unser Kutscher trieb das Pferd mit der Peitsche an und brachte uns sicher aus dem Getümmel. Die ganze Zeit, während wir durch das Araberviertel fuhren, hatte ich die Empfindung, daß ständig Hunderte von Augen auf uns gerichtet waren, teils gleichgültig, teils feindselig, teils berech nend. Aus der Art, wie Steve sich an mich schmiegte, erkannte ich, daß sie es auch empfand. Es war eine Erleichterung, als wir in eine breite Straße einbogen und in den modernen Teil der Stadt zurückkehrten. Ich bezahlte den Kutscher an derselben Stelle, von der wir gestartet waren. In Erinnerung an die Schläge rei gab ich ihm ein gutes Trinkgeld, was ihn veranlaß te, den Segen Allahs auf unsere Häupter herabzufle hen. »Was macht dein Appetit, Darling?« fragte ich Steve, als wir uns dem Hotel näherten. »Oh, ich glaube, ich bin jetzt ziemlich hungrig, obwohl mir etwas seltsam im Magen wurde, als wir die Messerstecherei sahen.« »Dann schlage ich vor, daß wir direkt in den Spei sesaal gehen. Oder möchtest du vielleicht zuerst noch einmal hinauf?« »Nein. Ich bin bereit für den Speisesaal - falls es dir nichts ausmacht, neben einer Frau mit ungepuderter Nase zu sitzen.« 136
Ich fragte einen Pagen nach dem Weg zum Speise saal, aber ein herbeieilender Mann in Cut und gestreif ter Hose hielt uns auf. »Mr. Temple!« Seine Stimme war dringlich und derart auf Flüstertöne gestimmt, als übermittle er eine ganz geheime Botschaft. »Kommissar Renouk wartet auf Sie! Ich wußte nicht, wo Sie zu finden wären. Er ist sehr ungeduldig geworden. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Temple - er wartet in meinem Büro.« »Kommissar Renouk? Von der Polizei?« »Sogar vom Polizeipräsidium.« »Will er nur mich sprechen oder auch meine Frau?« »Nur Sie, Mr. Temple.« »Sie sind der Hoteldirektor?« »Für die Nachtschicht, ja.« »Sie sprechen ein ausgezeichnetes Englisch.« Der kleine Mann versuchte gleichzeitig geschmei chelt und bescheiden auszusehen. »Mr. Temple sind zu gütig.« »Ich übergebe meine Frau Ihrer persönlichen Für sorge während der Zeit, in der ich mit dem Kommis sar spreche.« Der Direktor legte sich eine Hand auf den Magen, die andere auf den Rücken und verbeugte sich tief. »Entzückt, Madam. - Und nun, Mr. Temple, diesen Weg, wenn ich bitten darf. Der Kommissar ist bereits sehr ungeduldig.« Der Mann, den ich im Büro des Direktors vorfand, hatte es vermocht, den kleinen Raum mit einer 137
Atmosphäre aus Argwohn und Drohung zu erfüllen. Sein Gesicht war bleich, seine Augenbrauen sehr schwarz und buschig, sein Mund dünn und an einer Seite nach unten gezogen. »Nehmen Sie Platz, bitte«, sagte er schroff. »Ihr Name ist Paul Temple?« »Ja.« »Ihre Nationalität?« »Britisch.« »Ich bitte um Ihren Paß.« Ich reichte ihm meinen Paß. Er blätterte sorgfältig einige Minuten lang darin herum, ehe er ihn mir zurückgab. »Der Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes?« »Erholung, Vergnügen. Alles, was man Tourismus nennt.« »So. Sie sind nicht hierhergekommen, um einen gewissen Patrick O'Halloran zu treffen?« »Keineswegs. Ich ahnte nicht -« »Aber Sie hatten heute abend um sechs Uhr eine Verabredung mit ihm? In der Bar dieses Hotels?« »Das war keine Verabredung. Er ist uns dorthin gefolgt.« »Wie lange kennen Sie diesen Patrick O'Halloran?« Ich sah auf meine Uhr und sagte: »Etwas über zwei Stunden. Vor heute abend habe ich ihn nie gesehen.« »Sie behaupten, er sei kein Freund von Ihnen? Im merhin wurden Sie in sehr angeregter Unterhaltung mit ihm beobachtet.« 138
»Oh, Sie haben mit Achmed gesprochen! Warum alle diese Fragen, Kommissar? Hat O'Halloran jemandes Geldbörse gestohlen?« »Ich bitte, nicht zu ulken, Mr. Temple. Dies ist eine sehr ernste Angelegenheit. Wenn Sie nicht die Wahr heit sagen und mir Ihre volle Unterstützung zusichern wollen -« »Monsieur le Commissaire«, unterbrach ich, »selbstverständlich bin ich dazu bereit, wenn Sie mir erklären würden, welchen Zweck dieses Verhör verfolgt? Was hat O'Halloran getan?« Renouk richtete seine dunklen Augen scharf auf mich, um meine Reaktion zu beobachten. »Heute abend um halb sieben wurde im Arabervier tel ein männlicher Leichnam gefunden. Wir haben ihn als Patrick O'Halloran identifiziert. Wir glauben, Sie waren der letzte, der ihn lebendig gesehen hat.«
139
6
Das Dinner schmeckte uns nicht recht an diesem Abend. Wir hatten in unserer Umgebung, weiß Gott, schon manchen plötzlichen und gewaltsamen Todes fall erlebt. Aber das Schicksal des kleinen Mr. O'Halloran rührte uns ganz eigenartig an. Wir fühlten echtes Bedauern bei dem Gedanken, daß diese nasale Whis kystimme nun für immer verstummt war. »Ich hatte ja gleich das Gefühl, er hinge irgendwie mit der Brille zusammen«, erinnerte Steve. »Nun, weißt du, mein Schatz, die Tatsache, daß ein Mann im Araberviertel von Tunis getötet wird, bedeutet noch nicht, daß er mit dieser Sache zu tun hatte.« »Es ist zuviel, um ein bloßer Zufall zu sein. Da ist ein Mann, den du für einen Taschendieb hältst. Er forciert ein kurzes Gespräch mit uns, und eine Stunde später findet man ihn tot.« »Ja, da hast du recht, Steve. Das ist merkwürdig.« »Weißt du noch, wie dringend er uns einen Besuch in diesem ›Haus künstlerischer Raritäten‹ empfahl?« Steve holte die Geschäftskarte, die O'Halloran uns übergeben hatte, aus ihrer Handtasche und studierte sie. Dabei bemerkte ich auf der Rückseite der Karte eine Zeichnung. »Schau dir einmal die andere Seite an, Steve.« Sie drehte die Karte um, sah mich an und reichte sie mir schweigend hinüber. Die Zeichnung auf der 140
Rückseite, recht linkisch ausgeführt, stellte eine Brille mit dicker Hornfassung dar. »Da haben wir den Zusammenhang. Vielleicht hat O'Halloran nicht mal gewußt, was es damit auf sich hat. Aber zweifellos gehört dieser Szoltan Gupte zu der verbreiteten Gilde leidenschaftlicher Brillenlieb haber. Ich frage mich, ob wir ihn schon unter einem anderen Namen kennen?« Wir aßen unseren Geflügelsalat schweigend. Als der Kellner kam und uns zum Auswählen der Haupt gerichte die lange Speisekarte präsentieren wollte, schüttelten wir beide den Kopf. »Für mich nur noch Kaffee, Paul. Aber laß dich dadurch nicht abhalten -« »Ich nehme auch nur Kaffee. Aber wir wollen ihn draußen auf der Terrasse trinken. Dort ist es luftiger.« »Sehr wohl, Monsieur. Sehr wohl, Madame.« Während der Kellner mit seiner Serviette den Tisch abwedelte, gingen wir hinaus auf die Terrasse, die den kleinen Garten des Hotels überblickte - eine hübsche Anlage mit steinernen Bodenplatten und hölzernen Tischen und Stühlen und modernen Hollywoodschau keln. Jetzt, in der Dunkelheit, blinkten viele kleine bunte Lichter von den Ästen der Bäume. Neben einer marmornen Tanzfläche spielte eine Dreimannkapelle schwüle Melodien, aber niemand tanzte. Während wir nach einem geeigneten Tisch Aus schau hielten, hörten wir eine Stimme hinter uns: »Hallo, Mr. Temple, Mrs. Temple!« 141
Miss Audry Bryces Abendverabredung schien nicht lange gedauert zu haben. Wenn alle ihre Verabredun gen so kurz verliefen, brauchte man sich nicht zu wundern, daß sie noch Miss war. Sie saß auf einer bunten Hollywoodschaukel, die langen, wohlgeform ten Beine über einander geschlagen. »Wollen Sie nicht bei mir Platz nehmen?« rief sie aus. »O danke, sehr gerne«, antwortete Steve. Wir gingen zu dem Tisch. Die nächste Minute war erfüllt von Begrüßungsworten und dem Zurechtrücken einer zweiten Hollywoodschaukel für Steve. Ich begnügte mich mit einem Stuhl. Audry Bryce hatte ihren Kaffee bereits getrunken. So bestellte ich, als unsere Kaffees kamen, Likör für uns alle drei. »Sie fühlen sich jetzt wieder besser, nicht wahr, Mrs. Temple?« »O danke, viel besser. Wir unternahmen eine hüb sche Droschkenfahrt durch die interessantesten Teile von Tunis.« »Ach, diese alten Pferdedroschken! Putzige Dinger, finden Sie nicht? Mir gefällt Tunis ja außergewöhn lich gut. Ich wollte ursprünglich nur eine Woche bleiben und bin nun schon fast einen ganzen Monat da. Diese faszinierende Mischung, wissen Sie, der Osten mit dem Westen, und alle diese hübschen kleinen Läden im Araberviertel. Bestimmt haben Sie schon gehört, daß Tunis berühmt ist für seine Par füms? Es soll geheime Herstellungsrezepte geben, die 142
nur in einer Familie bleiben und vom Vater auf den Sohn übergehen. Außerdem macht man hier reizende Sachen aus Leder.« »So etwas beabsichtigen wir zu kaufen«, warf ich ein. »Uns wurde ein Geschäft in der Avenue Mirabar empfohlen. Kennen Sie es vielleicht? ›Haus künstleri scher Raritäten‹ nennt es sich.« Audry Bryce zog die Augenbrauen zusammen und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, ich kenne es nicht«, sagte sie verächtlich. »Aber ich würde Ihnen nicht raten hinzugehen. Mir gefällt dieser kleine aufdringliche Ire nicht, der dafür Reklame macht. Sicher hat er auch mit Ihnen gespro chen. Er belästigt ja alle neueintreffenden Gäste, dieser O'Harrigan oder wie er heißt.« »O'Halloran.« »Richtig, O'Halloran.« Miss Bryce wandte sich an Steve: »Beachten Sie seine Empfehlungen nicht, Mrs. Temple. Er ist nur ein kleiner Anreißer, dem an Ihrem Geld liegt. Außerdem trinkt er zuviel. Als er mich zu beschwatzen versuchte, roch er schon um neun Uhr morgens nach Whisky. Ich weiß ja nicht, wie Sie dazu stehen, aber ich finde das einfach indiskutabel, und -« »Er ist heute abend ermordet worden«, warf ich ein. »Vorhin war ein Kriminalbeamter hier, um Einzelhei ten über unser Gespräch mit O'Halloran in der Bar zu führen. Ich bin überrascht, daß er nicht auch Sie gefragt hat.« Miss Bryces Redestrom war wie abgeschnitten. 143
Sekundenlang zeigte sie ein erschrockenes, nicht eben intelligentes Gesicht. Dann stammelte sie: »Ermordet? Aber das - das ist doch unmöglich!« »Wieso unmöglich? Tunis ist eine recht gewalttäti ge Stadt. Wir wissen das gut genug - nicht wahr, Steve?« Steve lächelte matt. Ich beobachtete, wie Audry Bryce um Fassung rang. »Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand diesen unbedeutenden kleinen Mann ermordet haben sollte. Doch wohl kaum, um ihn zu berauben?« »Das würde ich auch nicht annehmen. Es sei denn, O'Halloran war ein Dieb, der etwas Wertvolles gestohlen und damit die Habgier eines anderen Gauners erweckt hatte.« Miss Bryce schien über diese Vorstellung entsetzt. Sie griff nach ihrem Glas Benediktine und nahm einen hastigen Schluck daraus. »Das ist ja schrecklich! Welch ein Abend! Zuerst der brutale Überfall auf Mrs. Temple und dann der Mord an diesem armen kleinen Mann! Ich bin sicher, daß ich heute nacht kein Auge schließen kann!« Während sie sprach, hatte sie angefangen, ihre Habseligkeiten zusammenzuraffen - ein Abendtäsch chen, eine Chiffonstola, einen amerikanischen Roman mit auffallendem Einband. »Nun müssen Sie mich bitte entschuldigen. Ich habe einer Freundin versprochen, sie bis um zehn Uhr anzurufen.« 144
Ich stand auf, während sie sich verabschiedete, dann setzte ich mich zu Steve auf die Hollywood schaukel und zündete mir eine der kleinen Zigarren an, die ich auf unserem Nachmittagsspaziergang gekauft hatte. Steve blickte dem emporsteigenden Rauchwölkchen nach. »Paul, du warst etwas hart mit Miss Bryce. Ich fürchte, du hast sie verscheucht.« »Miss Bryce ist so leicht zu durchschauen wie eine Flasche Selterswasser. Wenn sie eine harmlose amerikanische Touristin sein will, dann sind wir beide Don Quichotte und Sancho Pansa.« »Was hat sie, deiner Meinung nach, im Sinn?« »Wie Sherlock Holmes zu sagen pflegte: ›Ich habe eine Vermutung.‹ Wir werden es schon herausfinden. - Möchtest du tanzen? Jetzt sind einige Paare auf der Tanzfläche.« »Nein. Laß uns still hier sitzen bleiben.« Sie schob ihren linken Arm unter meinen rechten. »Genieße deine Zigarre. Ich sehe gerne den Rauchkringeln zu.« Auf unserem Weg zum Lift fragte ich an der Re zeption nach dem Direktor. Beim Verlassen seines Büros zupfte er sich eine Serviette vom Kragen und ließ sie, leicht verlegen, in seiner Hosentasche ver schwinden; leider hatten wir ihn beim Abendessen gestört. »Ich wollte Sie nur eins fragen. Wie lange wohnt Miss Bryce schon hier?« 145
»Die amerikanische Lady? Zwei Wochen, Mr. Temple. Sie ist eine gute Bekannte von Ihnen, nicht wahr?« Ich bejahte dies etwas vage, aber der Direktor strahlte trotzdem. »Gefällt Ihnen Ihre Suite, Mr. Temple?« »Ja, sie ist sehr hübsch.« »Miss Bryce sagte, Sie legen Wert auf gute Aus sicht, und diese würde Sie entzücken. Es war etwas schwierig, Ihnen die Suite neben der von Miss Bryce zu geben. Aber Miss Bryce ist stets sehr großzügig zum Personal, und daher haben wir -« »Sie legte Ihnen nahe, uns diese Suite zu geben?« »Aber gewiß Mr. Tempel. Und wir versuchen im mer, den Wünschen unserer Gäste zu entsprechen.« »Das ist nett von Ihnen. Vielen Dank. Und gute Nacht.« »Gute Nacht, Mr. Temple, gute Nacht, Mrs. Tem ple. Angenehme Ruhe.« Während wir auf den Lift warteten, raunte ich Steve zu: »Er liebt sehr viel Knoblauch in seinem Essen.« Sie nickte lächelnd. Im Lift fragte ich sie: »Ist dir aufgefallen, daß wir seit unserer Ankunft in Tunis nichts von Tony Wyse oder Simone Lalange gesehen haben?« »Sehnst du dich nach der aschblonden Simone?« »Nicht unbedingt. Ich überlege nur, ob ihre und Tony Wyses Pflichten mit der Landung des Flugzeu ges in El Aouina endeten und von Patrick O'Halloran 146
und Audry Bryce übernommen wurden?« Die Wände des Hotels hatten so viel Sonnenwärme aufgesogen, daß dank der geschlossenen Balkontür die Luft in unserem Schlafzimmer unangenehm drückend war. Wegen der Mücken, Fliegen und Nachtschmetterlinge konnten wir aber die Balkontür nicht öffnen, solange wir Licht im Zimmer hatten. Und nachher, als wir in unseren Betten lagen, wollten wir sie auch nicht offenstehen haben, weil ja der Balkon um das ganze Hotel lief und es keineswegs sicher war, daß niemand auf diesem Weg bei uns einzudringen gedachte. Obwohl wir uns nur mit den Laken zudeckten, konnten wir nicht richtig einschla fen. Wir fielen wohl dann und wann in einen kurzen Schlummer, wachten aber immer wieder auf und hatten den Eindruck, als schleiche die Zeit unerträg lich langsam dahin. Gegen drei Uhr hörte ich Steve aus dem Bett auf stehen und die Balkontür öffnen, um etwas frische Luft zu haben. Eine Minute später war sie wieder da und schüttelte mich an der Schulter. »Wach auf, Paul«, flüsterte sie. »Nebenan, in Au dry Bryces Zimmer, geht irgend etwas vor.« Ich brauchte nicht erst wach zu werden, richtig geschlafen hatte ich sowieso nicht. »Was denn? Hoffentlich doch kein neuer Erstickungsversuch?« »Nein, Stimmen. Bei ihr ist ein Mann.« »Oh, Steve«, seufzte ich und ließ mich wieder nie 147
dersinken. »Nein, Paul. Sei ernst. Komm und höre.« »Gut. Aber du darfst nicht mit hinaus. Höchstens bis zur Balkontür.« Steve fügte sich etwas zögernd und blieb in der Dunkelheit des Zimmers nahe der Tür, während ich vorsichtig auf den mondbeglänzten Balkon hinaus ging. Ein Fenster des Nachbarzimmers stand offen; ich sah das Licht durch eine dichte Mückengardine schimmern und konnte das Gemurmel einer Männer stimme und einer Frauenstimme hören, aber nicht verstehen, was gesagt wurde. Nach dem Tonfall glaubte ich zu erkennen, daß sie englisch sprachen. Nach einigen Minuten hörte das Gemurmel auf. Ich wollte es schon wagen, über die Trennwand hinweg auf den anderen Balkon zu klettern, als ich den Schatten einer Frau auf die Mückengardine des offenen Fensters fallen sah. Gleich danach ertönte, gedämpft und doch gut zu verstehen, Audry Bryces Stimme ganz in der Nähe des Fensters. »Jedenfalls hättest du mich wissen lassen können, daß er getötet wurde. Angenommen, ich hätte mich verraten? Dann wäre all die gute Arbeit umsonst gewesen, die Sam und ich am Spätnachmittag gelei stet haben.« Der Schatten bekam plötzlich andere Konturen; wahrscheinlich war der Mann zu Audry Bryce getre ten und hatte ihr die Hände auf die Schulter gelegt. 148
»Wie hätte ich es dich wissen lassen können, Che rie, wenn ich es selbst nicht wußte? Und ich bin sicher, daß du dich nicht verraten hast. Dafür bist du viel zu klug. Aber komm jetzt fort vom Fenster. Wir wollen doch unsere Nachbarn nicht stören.« Die Schatten verschwanden von der Gardine. Im selben Moment schwang ich mich lautlos über die Trennwand. Die beiden waren jetzt weiter hinten im Zimmer. Unter dem offenen Fenster hockend, konnte ich das meiste verstehen, was sie sprachen. Ich hörte den Mann sagen: »...hab' ohnehin nicht erwartet, daß sie dumm genug wären, die Brille im Schlafzimmer zu lassen. Weißt du, wer von den beiden sie bei sich hat?« »Er. Seine Brusttasche hat eine leichte Wölbung, die nicht vom Taschentuch herrühren kann. Und er selbst trägt keine Brille.« »Hm. Dachte mir, daß er es wäre. Wenn er bloß nicht auf so verflixt gutem Fuß mit der Polizei stünde. Aber warte nur, unsere Zeit kommt. Wir werden einen Weg finden. Allerdings darf es nicht mehr lange dauern.« »Die Temples müssen ja argwöhnisch sein. Dieser Narr Leyland! Wie kann er bloß den Schlüssel im Schloß überhört haben? Du mußt ihn feuern, Pierre. Er ist ein schrecklicher Patzer.« »Er hat seinen Nutzen«, antwortete Pierre. »Er mag dumm sein, aber er ist zuverlässig. Er hat nicht Verstand genug, um mich zu hintergehen, und das 149
honoriere ich ihm.« »Solange ich keine Jobs mehr mit ihm zusammen erledigen muß -« »Brauchst du auch nicht. Dein Job ist, freundlich mit den Temples zu sein.« »Oh, im Freundlichsein bin ich gut! Du solltest das wissen, Pierre!« Audry Bryces Stimme hatte einen merkwürdig sinnlichen Klang bekommen. »Du mußt doch nicht gleich wieder fort - nein, Liebling? Wir haben so wenig Gelegenheit, allein zu sein.« »Nein, ich muß nicht gleich wieder fort«, entgegne te Pierre etwas heiser. Ich hörte Seide rascheln und ein leises Ächzen der Sprungfeder. Da eine sachliche, interessierende Konversation nun kaum noch zu erwarten war, kehrte ich auf unseren Balkon zurück. Steve empfing mich mit der gespannten Frage: »Konntest du etwas hören? Hast du die Stimmen erkannt?« »Audry Bryce natürlich, obwohl sie ganz und gar nicht mehr wie die einer korrekten amerikanischen Touristin klang. Und die andere Stimme werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Sie gehört Rostand!« »Rostand? Oh, er ist also in Tunis! Konntest du verstehen, was sie sprachen?« Ich machte unsere Balkontür vorsichtshalber zu, ehe ich die erlauschte Unterhaltung wiederholte, und schloß mit den Worten: »Dank Audry Bryces liebe voller Mühe um unsere Unterbringung haben wir also 150
recht nützliche Informationen erhalten.« »Welche meinst du im besonderen?« »Daß mehr als eine Bande an der Brille interessiert ist. Rostand und seine Leute wußten nichts von O'Halloran oder wenigstens nicht, worauf er aus war. Das hatte ich bereits vermutet. Es enthält die einzige Erklärung für alle die Morde.« »Ja, ich verstehe. Wenn einer der Jagdhunde der Beute zu nahe kommt, beißen die anderen ihn tot.« »Genau.« »Und was wird, wenn nur noch ein Jagdhund übrig ist?« »Bis dahin wird noch einige Zeit vergehen. An diesem Rennen sind sehr viele Jagdhunde beteiligt.« »Und alles wegen einer gewöhnlichen Brille. Das macht die Sache so phantastisch. Ich wünschte, Paul, du fändest bald heraus, warum.« Sie blickte mich so gespannt an, als sei ich ein Au tomat, in den sie eine kleine Münze geworfen hätte, um dafür ein Kartellen zu erhalten, das ihre Zukunft voraussagte. Ich lachte leise. »Für gewöhnlich ist es umgekehrt, Steve. Da bittest du mich, den Fall aufzugeben und das Durcheinander zu meiden.« »Ich weiß. Aber dieses Mal bin ich so neugierig, daß ich es kaum ertragen kann. Außerdem habe ich endlich einmal nicht das Gefühl, es könnte dir etwas Ernstliches passieren.«
151
Nach dieser unruhigen Nacht schliefen wir ziemlich lange. Ich bestellte telefonisch das Frühstück in unser Zimmer. Ehe es heraufgebracht wurde, blieb mir Zeit genug zum Duschen und Rasieren. Steve frühstückte schrecklich verschlafen im Bett und gähnte dabei so häufig und hingebungsvoll, als würde sie am liebsten bis mittags liegenbleiben. Ich entschloß mich daher, allein zur Bank zu gehen, wickelte die Brille in einige Bogen Seidenpapier und tat das Päckchen in einen Briefumschlag, den ich dann in die Tasche steckte. Nachdem ich die Jalousie vor der Balkontür herunter gelassen und verriegelt hatte, bat ich Steve, für einen Moment aus dem Bett zu kommen und hinter mir die Zimmertür abzuschließen. »Und mache für niemanden auf«, schärfte ich ihr ein. »Ich bleibe nicht lange fort - eine halbe Stunde vielleicht.« Wie sich herausstellte, sollte es bedeutend länger dauern, bis ich mein Vorhaben ausgeführt hatte. Auf dem Weg zur Filiale von Lloyds Bank lockte mich das Schaufenster eines Optikers an. Da ich mich verge wissert hatte, daß ich nicht verfolgt oder beobachtet wurde, betrat ich, ohne zu zögern, das Geschäft. Ein langer ausgemergelter Mann mit spärlichem weißem Haar hockte hinter einer Glaswand an einem Arbeitstisch, eine Optikerlupe ins linke Auge ge klemmt, und untersuchte etwas. Bei meinem Erscheinen stand er mühsam auf und kam mit winzigen Schritten hinter seinen Ladentisch. 152
»Ich möchte ein Brillenetui kaufen«, sagte ich. »Sehschärfeuntersuchung?« krächzte er und ver drehte seltsam die Augen. Da er sich gleichzeitig die rechte Hand hinters Ohr hielt, begriff ich, daß er sehr schwerhörig war. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund antwortete ich sehr laut: »Ja, bitte.« Er blickte etwas glücklicher drein und begab sich zu einer Kabine mit den bekannten Buchstabentafeln und sonstigen Utensilien für eine Sehschärfeprüfung. »Diesen Weg, bitte, Sir.« Er knipste die Beleuchtung in der Kabine an und zog einen dunklen Vorhang herunter, der uns von der Außenwelt abschloß. Ich mußte die Reihen verschie dener Buchstaben von den Tafeln ablesen und zum Schluß auf den leuchtendroten Punkt und die zwei parallelen Linien gucken, die sich so schrecklich gerne vereinen möchten. »Ja«, erklärte er ernst, als die Prozedur vorüber war, »Sie hätten es sehr nötig, eine Brille zu tragen.« »Ich habe befürchtet, daß Sie dies sagen würden«, antwortete ich traurig, obwohl glücklicherweise an meiner Sehschärfe nichts auszusetzen ist. »Es wird einige Tage dauern, sie anzufertigen. Können Sie, nun, sagen wir, am Dienstag wieder kommen?« »Ich fürchte, nein. Ich bin nur auf der Durchreise hier, aber mir war in Paris sehr empfohlen worden, Sie zu konsultieren. Stellen Sie mir bitte das Brillen 153
rezept aus.« Er brauchte eine Minute, um es zu begreifen, war dann aber sehr geschmeichelt über die Empfehlung aus Paris und schrieb einige Zahlen auf einen Notiz zettel mit Firmenaufdruck. Als er mir den Zettel überreichte, lächelte er sogar. »Wieviel schulde ich Ihnen?« »Zwei tunesische Dinar.« »Sehr wohlfeil für diesen Preis«, lobte ich und meinte es auch. »Ich werde Sie ebenfalls weiteremp fehlen.« Nun war er so glücklich, daß er zur Tür mitkam und mich hinausdienerte. Beim Betreten der Filiale von Lloyds Bank war mir, als sei das ganze Tunis eine Illusion, die in dem Moment versank, als ich dieses Portal durchschritt. Die Filiale hatte eine undefinierbar englische Atmo sphäre und erinnerte mich sehr stark an die Londoner Filiale von Lloyds, bei der ich Kunde bin. Der rundli che, lächelnde Mann im korrekten grauen Cut, der mich durch sein Schalterfenster begrüßte, gab mir ein Gefühl vollkommener Geborgenheit, und als ich ihm erklärte, ich sei in London ein Kunde von Lloyds, war er ohne weiteres bereit, mein Päckchen in die Stahl kammer zu nehmen. Mir war beträchtlich leichter zumute, als ich wieder auf die Straße hinaustrat. Die schwache Wölbung meiner Brusttasche, von der ich nun befreit war, hatte 154
für mich nach und nach die Bedeutung einer Zeit bombe bekommen, die jeden Moment explodieren konnte. Ich ließ mich von einem Taxi zum Hotel fahren. Ich hatte Steve gesagt, daß ich in einer halben Stunde wieder da wäre, aber mittlerweile war fast eine Stunde vergangen. Im Hotelfoyer hielt ich die Augen offen, entdeckte jedoch weder Audry Bryce noch irgendei nen Mann, der die geringste Ähnlichkeit mit Rostand gehabt hätte. Als ich an die Tür unserer Suite klopfte, blieb alles still. Ich versuchte die Türklinke, und die Tür ging auf. »Steve!« Keine Antwort aus dem Badezimmer. Dann be merkte ich ein Blatt Papier auf dem Tisch. ›Mochte nicht länger warten. Gehe mir tunesische Lederpantoffel kaufen. Treffe dich um elf auf der Hotelterrasse.‹ »Nicht ganz richtig«, murmelte ich und sah auf die Uhr. Drei Minuten vor elf. Ich verließ das Zimmer und ließ den Schlüssel an der Innenseite der Tür stecken. Falls jemand unsere Sachen zu durchsuchen wünschte, würde es für alle Betroffenen angenehmer sein, wenn das Türschloß nicht erst aufgebrochen werden mußte. Im Vorbeigehen klopfte ich an Audry Bryces Tür. Niemand antwortete. Da ich eben im Lift die Gesell schaft einer unverschleierten, vielleicht fünfzehnjähri 155
gen Araberin genossen hatte, die entwickelter war als manche Engländerin von Anfang Zwanzig und mich unangenehm herausfordernd anstarrte, benutzte ich dieses Mal lieber die Treppe zum Hotelfoyer. »Haben Sie meine Frau hereinkommen sehen?« fragte ich den Mann am Empfang. »Nein, Mr. Temple. Mrs. Temple ist noch nicht zurück.« »Sie sahen sie also fortgehen?« »Ja, Mr. Temple. Vor etwa zwanzig Minuten.« »War sie allein?« »Ja, Mr. Temple.« Unmittelbar neben mir wurde eine schwere Akten mappe recht nachdrücklich auf den Empfangstisch gestellt, und eine Männerstimme sagte in steifem Französisch: »Ich glaube, Sie haben eine Anmeldung für mich. Der Name ist Schultz.« Ich schaute zur Seite und erblickte das blonde Haupt und die athletischen Schultern des Nachtclub besitzers aus Algier. »Hallo«, sagte ich auf englisch, »Sie scheinen he rumzukommen.« »Pardon, Monsieur?« »Vielleicht erinnern Sie sich nicht an mich. Ich traf Sie neulich abends in Ihrem Club in Algier.« »Entschuldigen Sie«, erwiderte Schultz, jetzt auf englisch. »Ich habe so viele Gäste, ich kann mich unmöglich an jeden erinnern.« »Sicher erinnern Sie sich an den Polizeiinspektor, 156
der Interesse für Ihren Freund, den Colonel Rostand, bekundete.« »Ich glaube, Sie wünschten jemanden zu finden einen Mr. Constantin. Hatten Sie Erfolg?« »Nein. Leider fand ich ihn damals nicht und habe ihn seither nicht mehr gesehen. Ein Jammer, da ich gehofft hatte, wir könnten sehr einträgliche Geschäfte miteinander machen.« Schultz nickte flüchtig und murmelte, das Gesicht schon halb dem Empfangschef zugewandt: »Ent schuldigen Sie mich, bitte. Es war sehr nett, Sie wiederzusehen.« »Sie haben auch hier einen Club, nicht wahr?« fragte ich beharrlich. »Ich möchte meine Frau dorthin führen. Wie heißt Ihr Club?« »›Le Trou du Diable‹ - ›Die Teufelshöhle‹, Sir. Er ist draußen in Sidi bou Said.« »Vielleicht sehe ich Sie dann dort.« Schultz zuckte unverbindlich die Achseln und nahm keine weitere Notiz von mir. Die Hotelterrasse erfreute sich um diese Tageszeit nur weniger Besucher, obwohl sie schattig und verhältnismäßig kühl war. Steve hatte sich noch nicht eingestellt. Ich wählte einen Tisch, von dem ich zu der Tür sehen konnte, durch die sie kommen würde. Nachdem ich einen schwarzen Kaffee und ein Glas Eiswasser bestellt hatte, zündete ich mir die zweite Zigarette des Tages an. Ich drückte den Rest der Zigarette in den Aschen 157
becher, als ein Erstrahlen lebhafter Farben meinen Blick auf die Tür zum Hotelfoyer lenkte. Dort stand Simone Lalange in der Haltung einer Ballerina und schaute umher. Sie trug eine purpurrote Bluse und einen weiten weißen Rock. Ihre Arme und Schultern waren bronzefarben. Sie sah mich, winkte flüchtig und kam mit graziöser Eleganz zu meinem Tisch. Ihre Taille war sehr schlank; ihr Rock bewegte sich anmutig im Rhythmus ihrer Schritte. Ich stand auf, um sie zu begrüßen, aber sie ließ sich uneingeladen in ein Sesselchen neben dem meinen sinken. »Welche Freude, Ihnen wieder zu begegnen!« rief sie aus, anscheinend völlig aufrichtig. »Mrs. Temple ist nicht hier?« »Ich warte eben auf sie. Sie ist einkaufen gegangen. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee oder einen Aperitif?« Sie spitzte nachdenklich die Lippen. »Vielleicht einen Fruchtsaft. Orange, wenn man das hier hat.« Ich winkte dem Kellner und bestellte. Simone La lange lehnte lächelnd ab, als ich ihr eine Zigarette anbot, und nahm das goldene Etui aus ihrer Handta sche. »Ich bevorzuge meine eigenen.« Ich sah zu, wie sie eine ihrer Zigaretten in der ele ganten Spitze befestigte und die Spitze zwischen die Lippen nahm. Feuer reichte ich ihr nicht. Ich wollte 158
die Initialen auf ihrem Zündholzbriefchen sehen. Sie warf das Briefchen nach dem Anzünden achtlos auf den Tisch, wo es mit den Initialen S.L. nach oben liegenblieb. Als ich aufblickte, fand ich ihre Augen ironisch auf mich gerichtet. Sie war in der Tat eine sehr attraktive Frau und sich dessen durchaus bewußt. »Gefällt es Ihnen in Tunis, Mr. Temple?« »Abgesehen von zwei kleineren Pannen recht gut, danke sehr. Ich bin überrascht, Tony Wyse nicht bei Ihnen zu sehen.« »Oh, er?« Simone zuckte ein wenig die Schultern. »Er ist ein ganz netter Junge, aber er kann einem zuviel werden. Ich ließ ihn lieblos abblitzen, wie man so sagt.« »Er erbot sich, uns Tunis zu zeigen, doch haben wir ihn noch gar nicht gesehen. Wissen Sie, wo er wohnt?« »Er sagte, er würde im Hotel Mimosa wohnen. Ich nehme an, er hat geschäftlich viel zu tun. Das dürfte der Grund sein, weshalb er sich noch nicht sehen ließ.« »Ich denke, wir werden ohne ihn auskommen«, entgegnete ich leichthin. »Wir haben uns die Dienste eines Fremdenführers gesichert - eines Mr. Patrick O'Halloran.« Simone Lalange lehnte sich zurück, da ihr der Kellner den Orangensaft servierte. Sie hatte nicht das geringste Interesse an meiner Mitteilung gezeigt. Nicht einmal ihre langen künstlichen Augenwimpern 159
waren in Bewegung geraten. Ich sagte: »Ich sah Mr. Schultz, als er hier im Hotel eintraf. Sind Sie ihm zufällig begegnet, als Sie kamen?« Der Trinkhalm des eisbeschlagenen Glases war bereits zwischen ihren Lippen. Sie blickte mich aus unschuldigen Augen an. »Mr. Schultz? Wer ist das? Sollte ich ihn kennen?« »Der Eigentümer des ›El Passaro‹. Haben Sie unse ren Tanz dort vergessen?« Das war eine Bemerkung, die Steve mir gewiß mehr als einmal vorgehalten hätte. Simone warf mir einen Seitenblick zu. Sie war sehr verführerisch, als sie so lässig dasaß und mit sanft gespitzten Lippen durch ihren Strohhalm trank. Dann neigte sie sich nach vorn, um das halbgeleerte Glas auf den Tisch zu setzen, und antwortete: »Ich habe das nicht vergessen. Ich frage mich, ob wir nicht eines Tages wieder miteinander tanzen können. Es war so kurz - finden Sie das nicht auch?« »Simone«, sagte ich und hoffte, daß meine Stimme nicht zu eindringlich klang. »Als damals die Lichter ausgingen - haben Sie da die Brille aus meiner Brusttasche gezogen und dann in die Handtasche meiner Frau gesteckt?« Simones klingendes Lachen ließ alle Gäste in unse re Richtung schauen. »Das trauen Sie mir zu? Weshalb sollte ich etwas so Albernes getan haben?« 160
»Das weiß ich nicht. Ich hatte gehofft, vielleicht würden Sie es mir sagen.« »Oh, glauben Sie, ich versuche Unklarheiten zwi schen einem Mann und seiner Frau zu stiften?« »Nein, das glaube ich nicht.« »Mr. Temple, warum sehen Sie fortwährend auf Ihre Uhr? Langweile ich Sie so sehr?« »Entschuldigen Sie bitte. Es ist nur, weil meine Frau angekündigt hat, sie würde um elf Uhr hier sein, und jetzt ist es schon Viertel vor zwölf.« »Nun, eine Frau vergißt manchmal die Zeit, wenn sie Einkäufe macht. Ich will versuchen, Sie sehr gut zu unterhalten, bis Ihre Frau kommt.« Das tat sie während der nächsten Viertelstunde wirklich. Es ist äußerst amüsant, sich von einer so reizvollen und obendrein intelligenten Frau, die in diesen Künsten erfahren ist, mit neckendem Geplau der die Zeit vertreiben zu lassen. Trotz meiner Unruhe über Steves Ausbleiben mußte ich Simones Voll kommenheit bewundern. Schließlich schenkte sie mir ein etwas schiefes Lächeln und rüstete sich zum Gehen. »Unsere Unterhaltung hat mir Freude gemacht. Ich denke, Mrs. Temple ist eine glückliche Frau.« »Warum meinen Sie das?« »Weil sie einen so unerschütterlich getreuen Mann hat.« Ich versuchte in meinem Abschiedslächeln anzu deuten, daß ich wünschte, manches hätte anders sein 161
können. Es war fünf nach zwölf, als Simone im Hotel verschwand. Meine Unruhe wuchs. Steve konnte sich dreißig oder sogar fünfundvierzig Minuten verspäten, aber niemals über eine Stunde. Ich wußte plötzlich, wohin sie gegangen sein mochte. Nachdem ich am Empfang die Nachricht hinterlassen hatte, sie möge in unserer Suite auf mich warten, falls sie käme, solange ich fort sei, eilte ich hinaus auf die Straße und nahm mir ein eben freigewordenes Taxi. »Fahren Sie mich zum ›Haus künstlerischer Raritä ten‹, Avenue Mirabar, Nummer zwei-zwei-sieben.«
162
7
Die Avenue Mirabar erwies sich als locker bebaute, lange Straße, am Rand des Araberviertels. Das ›Haus künstlerischer Raritäten‹ stand an einer Ecke, von wo eine schmale, lärmerfüllte Gasse sich in das Gewirr winziger Straßen verlor, das wir am vorigen Abend bei unserer Droschkenfahrt mit neugierigen, aber nicht allzu entzückten Blicken gestreift hatten. Es war eine mit der Patina des Exotischen überhauchte Altwarenhandlung, vollgestopft mit Krimskrams von überallher zwischen Timbuktu und Stratford upon Avon. Ich ließ das Taxi warten, während ich zu der Glastür ging und hineinspähte, im stillen hoffend, ich würde Steve sehen, eifrig mit einem eingeborenen Handelsmann feilschend, um einen Preisnachlaß von zwanzig Prozent für irgendeinen ziemlich zwecklosen Gegenstand zu erkämpfen. Aber das Geschäft war leer von Kunden und Verkaufspersonal. Entmutigt machte ich die Tür auf. Über mir ertönte ein kleines Glocken spiel. Fast unmittelbar danach teilte sich ein Perlen vorhang im Hintergrund des Ladens, und ein Mann erschien, von dem ich instinktiv wußte, daß er Szoltan Gupte wäre, was sich übrigens schnell als richtig erwies. Er wirkte wie ein anthropologisches Kuriosum. Auf den ersten Blick hielt ich ihn für einen Ägypter, dann für einen Inder, schließlich für einen Perser. Tatsäch lich war er, wie ich später erfuhr, halb Türke, halb 163
Armenier. Im übrigen sprach er fließend ein Dutzend Sprachen. Englisch war eine davon. Er warf mir einen unangenehm verschlagenen Blick zu und erkannte sofort meine Nationalität. »Guten Morgen, Sir. Wünschen Sie irgend etwas Spezielles zu sehen?« »Eigentlich bin ich hierhergekommen, um meine Frau zu finden. War heute vormittag eine Engländerin hier? Ich weiß leider nicht, was sie angehabt haben könnte, aber sie ist dunkelhaarig und dürfte sich für tunesische Lederpantoffeln interessiert haben...« Szoltan Gupte schüttelte, bereits während ich sprach, mehrmals entschieden den Kopf. »Leider hat mir heute vormittag noch keine engli sche Lady die Ehre gegeben, Sir. Möchten Sie sich ein wenig umschauen, während Sie warten?« In Guptes Art lag irgend etwas Reserviertes, als wisse er, daß dies nur ein Eröffnungsgeplänkel wäre. Ich beschloß direkt zur Sache zu kommen, holte die Karte heraus, die O'Halloran uns gegeben hatte, und überreichte sie Gupte, wobei ich die Rückseite wie aus Versehen nach oben drehte. »Ein Mann, der sich als Ihr Spezialvertreter be zeichnete, empfahl uns den Besuch Ihres Geschäfts. Sein Name steht auf der Karte.« Szoltan Gupte zeigte keine Überraschung. Er besah sich nur die Zeichnung auf der Rückseite der Karte und steckte die Karte ein. »Ihr Name ist Temple?« 164
»Ja.« Er nickte, spitzte die Lippen und studierte eine halbe Sekunde lang mein Gesicht. Dann drehte er sich um und machte eine einladende Handbewegung. »Kommen Sie hier entlang, bitte. Ein Freund von Ihnen ist da.« Er ging mir voraus hinter den Ladentisch und hielt den Perlenvorhang für mich offen. Ich habe grund sätzlich etwas dagegen, an einem fremden Mann vorbei einen unbekannten Durchgang zu passieren, denn dies ist eine der einfachsten Methoden, einen Schlag auf den Hinterkopf zu beziehen. Aber Steves Sicherheit galt mir mehr als meine eigene. Ich schlüpfte durch den Perlenvorhang und kam in einen engen Korridor. Dumpfe Luft schlug mir entgegen. »Die Tür geradeaus.« Ich ging zur Tür und öffnete sie. Sie führte in ein mit fabelhaftem orientalischem Luxus ausgestattetes Zimmer. Die Wände waren mit schwerer, kostbarer Seide bespannt. Den Boden bedeckten prachtvolle persische und ägyptische Teppiche. Wunderbar gemusterte, edle Kelims und farbenfrohe Kissen schmückten die Diwane. Die Möbel aus feinem Holz waren von fast viktorianischem Pomp. Räucherkerzen erfüllten die Luft mit schwerem süßlichem Geruch. Der Mann, der mir aus einem Sessel im Hinter grund des Zimmers entgegenblickte, paßte nicht in dieses Milieu, aber seine Lebensgeister schienen in keiner Weise gedämpft. 165
»Ah, da sind Sie nun endlich! Ich hätte Sie beinah als Niete abgeschrieben.« Es dauerte einige Sekunden, bis ich meine Stimme wiederfand. Hinter mir hörte ich Szoltan Gupte leise lachen, als er behutsam die Zimmertür schloß. »O'Halloran! Ich hielt Sie für tot. Die Polizei sagte mir, Sie wären ermordet worden. Anfänglich glaubte ich sogar, man hielt mich für den Mörder.« O'Halloran knallte die flachen Hände auf seine Oberschenkel und krümmte sich vor Lachen. »Bring dem Gentleman ein Glas, Freund!« sagte er zu Gupte, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Das muß begossen werden!« Gupte öffnete die Tür eines Wandschranks, der etliche Reihen verschiedenartiger Flaschen enthielt, und holte ein Glas heraus. Die Whiskyflasche und ein Sodasiphon standen bereits auf einem Tischchen in O'Hallorans Reichweite. Übrigens trug der kleine Ire jetzt einen recht gut passenden Anzug, wie ich verwundert feststellte. O'Halloran, der meinen erstaunten Blick bemerkte, sagte amüsiert: »Sie finden, daß ich erheblich besser gekleidet bin als gestern - nicht wahr, Mr. Temple? Na, wenn Sie je den Wunsch haben, zu verschwinden, könnte ich Ihnen hier in Tunis nur empfehlen, sich ›ermorden‹ zu lassen. Dazu besorgen Sie sich einfach eine Leiche von ungefähr der richtigen Größe, Gestalt, Haut- und Haarfarbe, versehen sie mit Ihrer Kleidung und Ihrer Brieftasche, und den Rest erledigt, der 166
Himmel segne sie, die löbliche Polizei.« »Sagen Sie, wieviel«, unterbrach Szoltan Guptes ruhige Stimme. »Nur wenig Whisky und die doppelte Menge So dawasser«, entgegnete ich und wandte mich wieder an O'Halloran. »Ich nehme an, es ist nicht schwer, im Arabervier tel eine Leiche zu bekommen - nach dem zu urteilen, was ich gestern abend dort sah.« »Zwei für einen Penny«, bestätigte O'Halloran glücklich. »Und wenn Sie dann ins Leben zurückzu kehren wünschen, brauchen Sie nur zur Polizei zu gehen und zu sagen, Sie seien beraubt worden.« Mich interessierte sehr, was O'Halloran zu diesem komplizierten Manöver veranlaßt hatte, doch zuerst mußte ich ihn etwas anderes fragen. »O'Halloran, wissen Sie etwas über den gegenwär tigen Aufenthalt meiner Frau? Ich habe guten Grund zu der Annahme, daß sie beabsichtigte, heute vormit tag hierherzukommen.« »Wie könnte ich etwas darüber wissen, da ich die ses Zimmer seit gestern abend nicht verlassen habe? War sie in deinem Geschäft, Freund Szoltan?« »Ich habe Mr. Temple bereits gesagt, daß seine Frau nicht hier war.« »Vielleicht kommt sie noch«, meinte O'Halloran und verließ das Thema. »Warum setzen Sie sich nicht, Mr. Temple? Ich denke, Sie haben Anspruch auf eine Erklärung von mir.« 167
Szoltan Gupte schob einen Sessel für mich zurecht. Ich setzte mich, lehnte aber eine Zigarette ab, die er mir anbot. O'Halloran sagte: »Ich wollte Sie gerne hierher kommen lassen, Mr. Temple, weil Sie etwas haben, was ich von Ihnen erhalten möchte, ohne daß jemand anders davon erfährt.« »Und was wäre das?« »Ich denke, Sie wissen es bereits. Es ist die Brille, die einem gewissen Mr. David Foster gehört.« »Ach so.« O'Halloran war völlig offen. »Haben Sie sie bei sich, Mr. Temple?« »Ich muß Sie enttäuschen, Mr. O'Halloran.« »Aber sie befindet sich noch in Ihrem Besitz?« »Ich weiß, wo sie ist, und daß niemand außer mir sie bekommen kann. Warum sind Sie daran interes siert?« »Weil ich sie so gerne ihrem rechtmäßigen Eigen tümer übergeben möchte.« O'Halloran blickte mich sehnsüchtig an und drehte dabei sein Whiskyglas zwischen den Handflächen. Szoltan Gupte hatte sich in die Nähe der Tür zurück gezogen. »Warum bemüht sich dieser Mr. David Foster nicht selbst zu mir, um seine Brille abzuholen?« »Ach, ach, ach!« jammerte O'Halloran. »Das ist ja das Kreuz bei der Sache! Sie wundern sich natürlich, warum Sie Foster nie gesehen haben, warum er Sie 168
nicht beim Flughafen erwartet hat - nicht wahr?« »Ja, darüber wundere ich mich.« »Nun, die Erklärung ist einfach. Ich darf mich rüh men, David Fosters vertrautester Freund zu sein, und kann Ihnen alles darüber sagen. Die betrübliche Tatsache ist, daß er von der Polizei gesucht wird.« O'Halloran machte diese Offenbarung mit beinah ehrfurchtsvoller Stimme, um sie besonders glaubwür dig klingen zu lassen. Anscheinend gelang es mir nicht, eine gewisse Skepsis aus meinem Blick zu verbannen. Jedenfalls fügte O'Halloran schnell und in wahrhaft beschwö renden Tönen hinzu: »Ja, von der Polizei wird der arme David gesucht! Und dazu wegen einer Sache, mit der er überhaupt nichts zu tun hatte! Sie können ermessen, was das bedeutet, Mr. Temple! Insbesonde re für einen Mann, der so rührig und vielbeschäftigt ist wie er und jetzt untätig in einem Zimmer versteckt sitzen muß, denn sobald er auch nur die Nase zur Tür hinaussteckt, würde die Polizei ihn fassen! Er könnte sich die Zeit mit Lesen vertreiben, werden Sie sagen, könnte sein Wissen erweitern. Aber wie soll er lesen, wenn er seine Brille nicht hat? Möchten Sie mir das verraten? Ohne die Brille ist er blind wie ein Maul wurf, der arme Dave! Ein jammervoller Anblick, das kann ich Ihnen sagen!« Patrick O'Halloran war von seiner Deklamation weit ergriffener als ich. In seinen Augen schimmerten echte Tränen. Ich leerte mein Glas und stand auf. 169
»Sie müssen sich etwas Besseres einfallen lassen, Mr. O'Halloran. Ich glaube Ihnen kein Wort.« Wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt unter dem Blick des kleinen Iren leblos zu Boden gesunken. »Bah!« fauchte er. »Manche Leute haben keinen Anstand im Leibe!« Szoltan Gupte kam langsam und geräuschlos her bei. Er hatte die ganze Zeit lächelnd zugehört. »Pat liebt seine kleinen Scherze, Mr. Temple. Ich denke, im Grunde genommen verstehen wir einander recht gut. Sie sagen, Sie hätten die Brille nicht bei sich?« »Wie könnte ich sie mit mir herumtragen, wenn sie zehntausend Pfund wert ist?« O'Halloran sprang auf und ließ dabei sein leeres Whiskyglas zu Boden fallen. »Zehntausend Pfund? Wie kommen Sie denn dar auf?« »Dieses Angebot hat mir ein Monsieur Constantin gemacht.« O'Halloran und Gupte wechselten einen Blick. »Sie kennen ihn also?« fragte ich. »Ich hörte von ihm«, gab Gupte vorsichtig zu. »Hörten Sie auch, daß er ermordet wurde? Ich mei ne, richtig ermordet - nicht so, wie unser Freund Halloran. Ich habe seine Leiche gesehen.« »Davon weiß ich nichts.« Die einzige Veränderung an Szoltan Gupte war, daß er etwas schneller zu atmen begann und daß Schweißtröpfchen auf seiner 170
Stirn erschienen. »Wann ist das geschehen?« »Vorgestern abend, in Algier.« »Weiß die Polizei, wer es getan hat?« »Ja. Es war ein Mann, bekannt als Colonel Ros tand, unterstützt von einem Komplicen namens Sam Leyland.« »Rostand, sagten Sie? Wie war der andere Name?« »Sam Leyland, ein englischer Name. Kennen Sie ihn nicht?« »Nein.« Gupte schüttelte den Kopf. »Diesen Colo nel Rostand auch nicht. Ist er ein Franzose?« »Vielleicht Franzose, vielleicht Amerikaner. Er spricht beide Sprachen.« Gupte wandte sich an O'Halloran: »Sagen dir diese Namen etwas, Pat?« O'Halloran schüttelte den Kopf. Er grollte mir noch. Szoltan Gupte schien nachzudenken. Ich war sicher, daß er mir gleich einen Vorschlag machen würde, und wartete. Da sagte er auch schon: »Wenn wir Ihnen den rich tigen David Foster vorstellen würden, Mr. Temple, nehme ich an, daß Sie bereit wären, ihm die Brille zu übergeben. Wie hoch ist Ihr Preis hierfür?« »Warum sollte ich einen Preis haben? Sofern er seine Identität beweisen kann, bekommt er seine Brille, und es kostet ihn keinen Penny.« »Je eher wir dies arrangieren können, um so besser also!« Gupte rieb sich die Hände und starrte suggestiv zu O'Halloran. 171
In diesem Moment erklang aus dem Laden das Glockenspiel über der Eingangstür. Gupte entschul digte sich und ging hinaus. »Wie wär's mit heute abend, Mr. Temple?« fragte O'Halloran. »Hätten Sie Zeit?« »Etwas früher wäre mir lieber.« »Das ist unmöglich, fürchte ich. Wir müssen bis zur Dunkelheit warten. Oder kurz davor.« »Also etwa sieben Uhr. Wo soll ich Sie treffen?« O'Halloran überlegte. »Kennen Sie Khérédine?« »Die schmale Landzunge vor der inneren Bucht von Tunis?« »Ja. Wo die Docks und die Anlegestellen der Schif fe sind. Dort hat ein Mann namens Durant einen Bootsplatz. Sein Haus liegt neben dem Hotel du Port. Ich werde Sie heute abend um sieben Uhr dort erwar ten, verläßlich.« Szoltan Gupte kam wieder herein. »Es ist Ihr Taxifahrer, Mr. Temple. Er weiß nicht, ob er noch warten soll.« »Sagen Sie ihm bitte, ich käme gleich. - Ist nun alles klar, O'Halloran? Keine Verschwindetricks mehr?« »Bei allem, was mir heilig ist! Oh, und Mr. Temple -« Ich blieb an der Tür stehen und blickte zurück. O'Halloran grinste mir verschwörerisch zu und murmelte: »Sie verraten aber der Polizei nichts davon, daß ich nicht ermordet worden bin - ja? Wir mögen uns gegenseitig nicht, ich und die Polizei. Ich habe 172
meinen kleinen Spaß daran, wenn sie sich ein wenig zum Narren macht.« »Keine Sorge, O'Halloran. Soweit es mich betrifft, sind Sie ein totes Kaninchen.« Als ich durch den Korridor ging, hörte ich hinter mir sein beglücktes Gekicher. Es war Viertel vor zwei, als ich unser Hotel wieder betrat. Vier Stunden waren vergangen, seit ich Steve zuletzt gesehen hatte. Der Mann am Empfang zeigte einen etwas ironi schen Ausdruck, als er mein sorgenvolles Gesicht bemerkte. Offenbar hielt er mich für einen Gatten, der seine Frau bei einem Nebenbuhler wähnt. »Ist Mrs. Temple zurückgekommen?« »Nein, Mr. Temple.« »Sind Sie dessen sicher?« »Ja, Mr. Temple. Durch das Foyer ist Mrs. Temple jedenfalls nicht gekommen. Ich habe den Portier und die Pagen beauftragt, Mrs. Temple zur Rezeption zu bitten.« »War auch sonst keine Nachricht?« »Doch, Mr. Temple. Kommissar Renouk telefonier te. Sie möchten sich bitte mit ihm in Verbindung setzen, sobald Sie zurückkämen.« »Aber keine Nachricht von Mrs. Temple?« »Leider nichts von Mrs. Temple. Gar nichts.« »Vielleicht ist sie in unserer Suite«, sagte ich und wollte mich abwenden. 173
»Ihr Schlüssel, Mr. Temple«, mahnte der Emp fangsportier. »Den habe ich doch in der Tür gelassen.« »Das Zimmermädchen brachte ihn herunter, nach dem es Ihre Suite aufgeräumt hatte, Mr. Temple.« Er gab mir den Schlüssel. Obwohl dies bestätigte, daß Steve nicht zurückgekommen war, fuhr ich zu unserer Suite hinauf. Die Betten waren gemacht, die Teppiche abgekehrt, alles war untadelig aufgeräumt, nicht einmal der Zettel mit Steves Nachricht hatte Gnade vor den Augen des pflichtbewußten Zimmer mädchens gefunden. Im übrigen hegte ich kaum Zweifel, daß die Nachricht echt gewesen war; nie mand hier im Hotel hätte Steves vertraute Handschrift so vollendet fälschen können. Sie hatte also das Hotel aus eigenem Entschluß verlassen; was immer ihr zugestoßen sein mochte, es mußte außerhalb des Hotels geschehen sein. Die Suite war schrecklich leer ohne Steve. Hätte ich bloß darauf verzichtet, allein zu Lloyds Bank zu gehen... Ich stoppte diesen Gedankengang abrupt. Dadurch, daß ich anfing, mich selbst zu tadeln, war nichts ungeschehen zu machen. Mehr denn je galt es jetzt, klar zu denken. Appetit hatte ich begreiflicherweise nicht, aber in psychischer wie in physischer Hinsicht mochten mir schwere Belastungen bevorstehen, denen ich lieber nicht mit leerem Magen begegnen sollte. Ich fuhr also hinab ins Foyer, ging in den um diese Stunde 174
kaum noch besetzten Speisesaal und bestellte mir ein Omelett mit Ragoutfüllung. Während ich auf das Essen wartete, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Natürlich war es möglich, daß Steve einen Unfall gehabt hatte oder plötzlich erkrankt war. Aber das konnte ich nicht recht glauben; sie trug ihren Paß bei sich, und gegebenenfalls wäre es der Polizei oder einem Krankenhaus mittlerweile bestimmt gelungen, das Hotel zu benachrichtigen. Die offensichtliche Erklärung war, daß man sie irgendwo als Geisel festhielt, um mich zur Herausgabe der Brille zu bewegen. Aber warum hatte ich dann noch keine Drohbotschaft erhalten? Ich mußte plötzlich daran denken, daß ich zu Steve gesagt hatte, ich würde O'Halloran schmoren lassen. Jetzt saß ich selbst wie auf glühenden Kohlen. Wer mochte Steves Entführung organisiert haben? Ich glaubte ziemlich sicher zu sein, daß Szoltan Gupte und O'Halloran nichts davon wußten. Dennoch blieben genug andere Möglichkeiten. Rostand, Leyland und Audry Bryce bildeten eine sehr verdäch tige Dreiergruppe. Leyland hatte bereits einen Über fall auf Steve verübt, und zu welchen Gewalttätigkei ten Rostand fähig war, wußte ich sehr gut. Aber diese Gruppe hätte sicher Audry Bryce als Lockvogel benutzt, und dieser gegenüber wäre Steve zweifellos äußerst argwöhnisch gewesen. Dann waren da Simone Lalange und Tony Wyse. Letzterer hatte sich hier außer Sicht gehalten, und ich 175
argwöhnte fast von Anfang an, daß er nichts Gutes im Schilde führte. Simone war vorhin bestimmt aus wohlberechneten Gründen auf der Hotelterrasse erschienen. Zu dieser Zeit mußte Steve sich längst in den Händen der Entführer befunden haben. Warum aber hatte Simone Lalange nicht die Gelegenheit benutzt, um den Handel zu eröffnen? Schließlich war da noch Schultz, dessen Ankunft im Hotel zeitlich mit Steves Verschwinden zusam menfiel. Vermutlich brachten ihn seine Geschäfte regelmäßig nach Tunis, aber warum stieg er hier in einem Hotel ab, wenn er im Vorort Sidi bou Said einen eigenen Club hatte? Sicher bedeutete dies, daß er mit zu Rostands Gruppe gehörte und im Hotel Concorde Wohnung genommen hatte, um eine Begegnung mit dem angeblichen Colonel zu tarnen wahrscheinlich in Audry Bryces Zimmer. Wer immer Steve entführt haben mochte - der Um riß der Sache war klar. Ich hatte die Brille, die andere Seite hatte das Teuerste, das ich auf Erden besaß. Früher oder später würden die anderen mir den Vorschlag zuspielen, daß wir ein Tauschgeschäft machen könnten. Das war der Gedanke, den ich in den kommenden Stunden allem anderen voranstellen mußte. Solange ich die Brille hatte, würde Steve kein Haar gekrümmt werden. Und da der Weg zu Steve über eine Lösung des Rätsels führte, mußte ich fortfahren, jedem Hinweis zu folgen, der sich bieten mochte. 176
Ich unterdrückte die Versuchung, auf die Straße zu rennen, um Taxifahrer und Ladenbesitzer nach Steve zu fragen; das hätte mich doch nur in eine Sackgasse geführt. Mein Omelett schlang ich achtlos hinunter. Das Glas Wein, das der Kellner mir eingeschenkt hatte, blieb unberührt; statt dessen leerte ich ein kleines Glas Eiswasser. Ich war der letzte Gast, der den Speisesaal verließ. Da ich in unserem Etagenkorridor niemanden sah, klopfte ich laut an Audry Bryces Tür. Noch immer keine Antwort. In unserer Suite verschloß ich hinter mir die Tür und trat hinaus auf den Balkon. Ein zufällig emporblickender Straßenpassant hätte beo bachten können, wie ich mich über die Trennwand schwang und die Nachbarsuite betrat. Sie war kleiner als unsere, enthielt nur ein Einzelbett und erwies sich als ebenfalls makellos aufgeräumt. Ich verriegelte die Tür von innen und durchforschte systematisch Audry Bryces Besitztümer. Sie war offenbar gut geschult nirgendwo ließ sich auch nur das kleinste Stück Papier finden. Als einzig Bemerkenswertes stellte ich fest, daß die meisten ihrer Kleidungsstücke in einem Pariser Modesalon geschneidert und daß die freien Stellen der eingenähten Herstelleretiketts mit dem handgeschriebenen Namen ›Mme. Audry Leather‹ versehen waren. Ich entriegelte die Tür wieder, ehe ich auf dem Weg, den ich gekommen war, in unsere Suite zurück 177
kehrte. Dort setzte ich mich auf mein Bett, griff zum Telefon und bat die Vermittlerin um eine Verbindung mit Kommissar Renouks Büro im Polizeipräsidium. Als ein Sergeant sich meldete, nannte ich meinen Namen und verlangte Renouk zu sprechen. »Monsieur le Commissaire ist zur Zeit nicht hier, Mr. Temple. Er hat sich zum Essen begeben.« Da meine Uhr Viertel vor drei zeigte, wollte ich mich über diese ausgedehnte Mittagspause wundern, doch fiel mir die geheiligte tunesische Siesta ein, und ich fragte: »Wann erwarten Sie ihn zurück?« »Gegen vier Uhr, Mr. Temple. Vielleicht -« »Hinterläßt er nicht für etwaige dringende Angele genheiten eine Telefonnummer?« »Doch, Mr. Temple, aber -« »Dann rufen Sie ihn sofort an, und sagen Sie ihm, daß ich ihn um drei Uhr in seinem Büro sprechen möchte. Haben Sie mich verstanden?« »Das - das kann ich nicht tun, Mr. Temple«, begann der Sergeant zu stammeln. »Es ist nämlich -« »Tun Sie, wie ich gesagt habe«, unterbrach ich und legte energisch auf. Als ich Punkt drei Uhr in einem Taxi beim Haupt eingang des Polizeipräsidiums vorfuhr, stand dort eine lange, makellos polierte schwarze Citroen-Limousine mit einem Fahrer am Steuer. In der Eingangshalle empfing mich ein uniformier ter Polizist mit der Frage: »Sind Sie Mr. Temple?« 178
»Ja. Und ich wünsche Kommissar Renouk zu spre chen.« »Monsieur le Commissaire hat sein Auto geschickt. Steigen Sie ein, und der Fahrer wird Sie zu ihm bringen, Mr. Temple.« »Das ist sehr entgegenkommend. Ich danke Ihnen.« Der Polizei-Citroen brachte mich mit beängstigen der Geschwindigkeit zu einer gartenumgebenen Villa in einem nordöstlichen Vorort von Tunis. Ein arabi scher Diener in weißem Gewand öffnete mir die Tür. »Monsieur le Commissaire erwartet Sie«, erklärte er und geleitete mich zu einem jenseits der Vordiele gelegenen Zimmer. Da alle Fensterblenden geschlossen waren, fühlte ich mich beim Eintreten blind wie ein Kinobesucher, der erst nach Beginn des Films in den Saal kommt. Außerdem glaubte ich durch dicke Wolken Zigarren rauch zu schwimmen. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht, und da mir von irgendwoher ein »Ah, Mr. Temple!« entgegenklang, entdeckte ich auch Renouk. Er nahm seine Siesta ernst. In einen leichten Haus mantel gehüllt, das Hemd am Hals geöffnet und ohne Krawatte, ruhte er auf einem Diwan. Auf dem Tisch chen daneben bemerkte ich ein kleines Likörglas. Er stand nicht auf, winkte mich aber in einen Sessel. »Nehmen Sie Platz, Mr. Temple, nehmen Sie Platz. Wie ich sehe, hat man Ihnen bestellt, daß ich Sie im Hotel zu erreichen versuchte. Möchten Sie einen sehr 179
guten Magenlikör? Nein? Dann vielleicht eine aroma tische kleine Verdauungszigarre? - Ja, bitte, rauchen Sie eine Zigarette, wenn Sie das lieber mögen.« Irgend etwas mußte geschehen sein, denn Renouk war mir jetzt viel besser gewogen. Ich sollte bald erfahren, warum. »Seit wir uns zuletzt sahen, erhielt ich einige Nach richten von meinen Kollegen in Algier, Nizza und Paris. Auch habe ich mit der Interpol in Paris gesprochen.« »Sie wissen nun also alles über die seltsame Sache, in die meine Frau und ich unwissentlich verwickelt wurden?« »Nun, es wäre übertrieben zu sagen, ich wüßte alles darüber. Aber ich weiß genug, um Ihnen verraten zu können, daß es sich um einen sehr ernsten Fall handelt. Wirklich sehr ernst. Hohe Werte stehen auf dem Spiel, und Sie und Ihre Frau sind in großer Gefahr.« »Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Meine Frau verließ unser Hotel zwischen zehn und elf heute vormittag und ist bisher nicht zurückgekehrt. Meines Erachtens hat man sie gekidnappt.« Renouk zuckte immerhin so erschrocken zusam men, daß die lange Asche seiner Zigarre zu Boden fiel. Seine schwarzen Augenbrauen hoben sich um Daumenbreite. »Gekidnappt? Haben Sie irgendwelche Drohungen erhalten?« »Bis jetzt nicht. Ich wollte Sie bitten zu veranlas 180
sen, daß in den Krankenhäusern nachgefragt wird. Ich meine, für den Fall, daß -« »Selbstverständlich«, unterbrach Renouk. »Obwohl ich mir keinen Erfolg davon verspreche. Ich habe erwartet, daß so etwas geschehen würde.« Er stand auf, zog seinen Hausmantel zurecht und fuhr fort: »Den erwähnten Nachrichten entnahm ich, daß sich in Ihrem Besitz eine Brille befindet, mit der es eine besondere Bewandtnis zu haben scheint.« »Tatsache ist, daß wir nichts als Unannehmlichkei ten hatten, seitdem uns diese Brille übergeben wurde. Aber Ihre Kollegen in Nizza und in Algier schienen überzeugt, daß an der Brille nichts Besonderes wäre.« »Diese Ansicht ist revidiert worden. Die Brille soll nochmals untersucht werden. Daher möchte ich Sie bitten, sie mir zu übergeben.« »Leider habe ich sie nicht bei mir«, sagte ich zum zweitenmal an diesem Tag. »Dann werden sie wohl so freundlich sein, sie zu holen. Mein Fahrer bringt Sie zu Ihrem Hotel.« »Die Brille ist nicht im Hotel«, begann ich und hielt inne. Renouk erschien mir plötzlich als zumindest indirekte Gefahrenquelle. Wenn ich die Brille fortgä be, würde mir nichts bleiben, was ich für Steves Sicherheit und Leben in die Waagschale werfen konnte. Die Brille war jetzt für mich das wichtigste Ding auf der Welt. Ich fügte in bedauerndem Ton hinzu: »Sie ist mir heute vormittag gestohlen worden.« 181
»Gestohlen!« wiederholte Renouk entsetzt. »Wie konnten Sie das zulassen?« »Nun, die Polizei hat mir mehrmals versichert, daß die Brille nichts mit den Morden zu tun hätte, und das habe ich natürlich geglaubt. Ich vermute, ein gewöhn licher Taschendieb hat sie mir entwendet, als ich heute durch eine sehr belebte Straße ging.« Renouk murmelte einen arabischen Fluch, sah mich bitterböse an und knirschte: »Das ist eine sehr ernste Entwicklung, Mr. Temple. Sagen Sie mir ganz bestimmt die Wahrheit?« »Wie könnte ich Sie belügen, Monsieur le Com missaire? Ich brauche doch Ihre Hilfe, um meine Frau wiederzufinden.« »Das stimmt«, pflichtete Renouk bei. »Wir fahren sofort zum Polizeipräsidium. Entschuldigen Sie mich für zwei Minuten, bis ich meine Uniform angezogen habe.« Im Polizeipräsidium beauftragte Renouk einen Beamten, sofort Nachfrage bei allen Krankenhäusern und Polizeistationen zu halten. Ich hatte Gelegenheit, ihn in voller Aktion zu bewundern. Er gab eine Unmenge Befehle und brüllte seinen Untergebenen mit großer Lautstärke Anweisungen zu, aber mir schien es nicht so, als ob er den Fall fest im Griff habe. Ich war froh, ihm auf der Fahrt nicht zuviel erzählt zu haben. Diese Situation mußte mit Glacé handschuhen angefaßt werden. 182
Die Nachfragen bei den Krankenhäusern und Poli zeistationen brachten kein Ergebnis. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Temple. Wenn Sie mir eine Beschreibung Ihrer Gattin geben wollen, sorge ich dafür, daß jeder uniformierte Polizist und jeder Kriminalbeamte in Tunis Ausschau nach ihr hält. Wer weiß, ob die Beschreibung nicht eine Erinnerung bei einigen unserer Leute wachruft. Noch besser wäre es natürlich, wenn Sie eine Fotografie hätten.« Glücklicherweise hatte ich in meiner Brieftasche einen sehr guten, aus geringer Entfernung aufgenom menen Schnappschuß von Steve. Ich gab ihn Renouk, der ihn interessiert betrachtete und dann zu mir sah. »Ich kann Ihre Besorgnis verstehen, Mr. Temple. Sie haben eine sehr reizvolle Frau.« Ich wollte nicht gerne länger als unbedingt nötig aus dem Hotel fort sein. Renouk war so nett, mich in seinem eigenen Auto hinfahren zu lassen. Er mahnte mich nochmals, unbesorgt zu sein, und ich selbst wußte auch, daß ich nur dann von Nutzen für Steve sein würde, wenn ich einen klaren Kopf behielt. Am Empfang war jetzt ein anderer Hotelangestell ter, aber er gab mir dieselbe Antwort. Keine Nach richt. Ich verspürte plötzliche Lust, eine der großen Ziervasen des Hotelfoyers gegen den nächsten Mar morpfeiler zu schmettern. Dies war ein Nervenkrieg. Steves Entführer wollten mich in Ungewißheit lassen, bis ich dicht vor dem Überschnappen stand. Da sie 183
mich wahrscheinlich beobachten ließen, würde ich nur in ihre Hände spielen, wenn ich mir anmerken ließ, daß meine Nerven versagten. »- das heißt, abgesehen von dem Telegramm aus Paris für Sie, Mr. Temple.« Erst als ich meinen Namen hörte, begriff ich, daß der Hotelangestellte noch zu mir sprach, und streckte eine Hand nach dem Telegrammkuvert aus, das er mir über den Empfangstisch reichte. In unerträglicher Spannung riß ich das Kuvert auf. Dies konnte es sein aber warum aus Paris? Immerhin sah ich mit einiger Befriedigung, daß meine Hände ganz ruhig waren, als ich das Telegramm entfaltete. Es war um zwei Uhr nachmittags in Paris aufgegeben worden. ›Eintreffe Tunis heute spätabends. Versuche Sie im Hotel zu erreichen. Forbes‹ Ich starrte verblüfft auf den Text. Was brachte mei nen alten Freund von Scotland Yard in diesem kritischen Moment nach Tunis? Er war schon vor Wochen aus London verschwunden, und wir, Steve und ich, hatten an die offizielle Version geglaubt, daß er überarbeitet sei und auf ärztliches Geheiß einige Zeit ausspannen müsse. Aber wenn es so war, wes halb kam er dann so Hals über Kopf nach Tunis? Und woher, um alles in der Welt, wußte er, daß wir im Hotel Concorde wohnten? Nun, ich würde die Ant wort noch an diesem Abend erfahren. Und das Telegramm bedeutete auf alle Fälle, daß ich in dieser feindseligen und geheimnisvollen Stadt einen starken 184
Verbündeten haben würde. »Hoffentlich keine schlechte Neuigkeit?« Audry Bryce. Glücklicherweise hatte ich das Tele grammformular inzwischen schon wieder so weit zusammengefaltet, daß sie keine Gelegenheit hatte, über meine Schulter hinweg den Inhalt zu lesen. Ich wandte mich um und begrüßte sie mit einem Lächeln, das so frei und offen war wie ihr eigenes. »O danke, nein. Nur eine Nachricht von einem meiner alten Freunde von Scotland Yard.« Sie nahm dies, wie ein cleverer Boxer einen Schlag nimmt, den er hat kommen sehen. »Mrs. Temple ist nicht hier?« Mir klang diese Frage so, als kenne Audry Bryce die Antwort ohnehin. »Nein, sie macht Einkäufe. Sie wissen ja, wie Frau en dabei die Zeit vergessen können. Würden Sie meine Einladung zum Tee annehmen? Ich hätte gerne Gesellschaft.« »Oh, sehr nett von Ihnen, Mr. Temple. Ja, ich neh me gerne an.« Sie war wieder völlig in ihre Rolle als harmlose amerikanische Touristin zurückgekehrt. Heiter plaudernd wie vertraute alte Bekannte, schlenderten wir auf die Terrasse hinaus. Als der Tee kam, fragte ich, ob sie ›Hausmütterchen‹ spielen würde, und wir kicherten gemeinsam über den alten Scherz. »Übrigens«, erkundigte ich mich, »wie geht es Pierre? Ich bin überrascht, daß er nicht bei Ihnen ist.« 185
Der Deckel der Teekanne fiel mit erheblichem Krach auf meine Tasse und warf sie um, woraufhin sich ein Teestrom über den Tisch ergoß. Ein Kellner eilte herbei und opferte seine schneeweiße Serviette, um Audry Bryces Rock abzutupfen. Das gab ihr einige Sekunden Zeit, damit sie ihre Fassung zurück gewinnen konnte. »Wer ist Pierre?« fragte sie mich, als die Ordnung auf unserem Tisch wiederhergestellt war. »Ich erinnere mich nicht, jemanden dieses Namens zu kennen.« »Mein Irrtum. Vielleicht verwechselte ich ihn mit jemandem gleichen Namens - oder umgekehrt.« »Was meinen Sie nun damit wieder?« »Derselbe Mann mit einem anderen Namen«, sagte ich und lächelte sie strahlend an. »Das widerspricht sich selbst«, entgegnete sie, aber nicht eben überzeugend. Ich nahm einen Schluck Tee. Er war wenig aroma tisch und ziemlich lau, doch das machte mir nichts. Ich fing an zu verstehen, warum Katzen es so faszi nierend finden, mit Mäusen zu spielen. »Wir haben Ihren Tip über feine Ledersachen be folgt, Miss Bryce.« »Oh, gut. Konnten Sie finden, was Sie haben wollten?« »Ich denke, ja. Ich glaube, es ist Ihre Spezialität.« Ihre Hand, mit der sie die Tasse an die Lippen heben wollte, machte in halber Höhe halt. »Meine Spezialität? Wieso?« »Alles, was mit Leder - in unserer Sprache ›leather‹ 186
zu tun hat.« Sie war jetzt voller Sorge und in der Defensive. Dieses Mal verschüttete sie ihren Tee nicht, aber die Tasse wurde sehr hastig und mit viel zuviel Geräusch wieder auf die Untertasse gesetzt, und das dann folgende Anzünden einer Zigarette schien ungewöhn liche Umstände zu machen. »Der erwähnte Pierre«, sagte ich leichthin. »Natür lich begreife ich nun, daß Sie ihn nicht kennen. Aber es ist eine interessante Geschichte. Er ist in Dinge verstrickt, die wir beide als ziemlich düstere Angele genheiten bezeichnen würden, und die Polizei beo bachtet ihn seit geraumer Zeit. Wie die meisten seiner Art ist er gar zu selbstsicher und überheblich. Er scheint nicht wahrhaben zu wollen, daß er sich schon manche Blöße gegeben hat. Vor allem hat er den bösen Fehler gemacht, Morde zu begehen, und wie man weiß, ist es heutzutage sehr schwierig, damit davonzukommen. Durch die Einrichtung der Interpol ist die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Ländern jetzt verblüffend gut.« Ich sah meine Tischgenossin an. Die selbstsichere Maske war gefallen, ihr Gesicht zeigte eine erschreckende Blässe. Ihr Blick war starr auf den Tisch gerichtet. Die Hand mit der Zigarette zitterte. Sie begann mir ein bißchen leid zu tun - bis ich wieder an Steve dachte. »Ja«, fuhr ich fort, »die Polizei ist bereit, Pierre zu verhaften, wann immer sie es wünscht. Sie will nur noch herausfinden, wer alles zu seinen Komplicen 187
gehört. Mancher von diesen dürfte bisher nicht bedacht haben, daß Pierre wegen mehrfachen Mordes vor Gericht kommen wird, aber sie alle müssen darauf gefaßt sein, der Beihilfe zu diesen Morden angeklagt zu werden. Übrigens, benutzt man hier in Tunesien noch die Guillotine? Oder hat die neue Verwaltung eine andere Methode eingeführt?« Die Frau, die sich Audry Bryce nannte, warf ihre Zigarette zu Boden, trat darauf und sagte mit heiserer, veränderter Stimme: »Ich glaube, ich habe nun alles hingenommen, was ich hinnehmen konnte.« Dann stand sie auf und ging in das Hotel. Ich blieb zunächst noch sitzen und rauchte. Nach einigen Minuten kam ein Page auf die Terrasse hinaus, schaute eifrig umher und rief dabei: »Telefon anruf für Mr. Temple!« Als er bemerkte, daß ich eine Hand hob, kam er eilends zu meinem Tisch und wiederholte: »Sie werden am Telefon verlangt, Mr. Temple.« »Ich komme sofort. Warte einen Moment.« Ich riß eine Seite aus meinem Notizbuch und schrieb darauf: »Vielleicht wären Sie froh, auf Seiten der Polizei einen Freund zu haben. Können wir uns darüber unterhalten?« Ich faltete das Blatt zusammen, verklebte es mit einer Briefmarke, drückte es, gemeinsam mit einem kleinen tunesischen Geldschein, in die Hand des Pagen und sagte: »Bring den Zettel der Dame in der Suite drei-sieben-eins, aber laß niemanden sehen, daß 188
du ihn ihr gibst. Falls sie nicht allein ist, erfinde irgendeine Entschuldigung und warte bis später.« Der Page, so jung er war, zwinkerte mir zweideutig zu, steckte das Geld und den Zettel ein und sauste los. Der Telefonanruf war von Tony Wyse. »Lange nicht gesehen«, sagte er, nachdem er seinen Namen genannt hatte. »Tut mir leid, daß ich Sie noch nicht aufsuchen konnte. Aber ich war geschäftlich sehr stark in Anspruch genommen. Haben Sie die Sehenswürdigkeiten von Tunis schon genossen?« »Oh, wir hatten bisher eine recht ereignisreiche Zeit.« »Das freut mich. Wissen Sie, ich überlege mir, ob ich nicht Sie und Mrs. Temple für heute abend zum Dinner bitten dürfte?« »Sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. Wyse. Ich fürchte nur, meiner Frau ist etwas zugestoßen. Sie verließ das Hotel heute vormittag gegen elf Uhr und ist bis jetzt nicht zurückgekehrt.« »Was?« Am anderen Ende der Leitung entstand beklommenes Schweigen. Nach einer Sekunde hörte ich Wyse stöhnen: »Guter Gott!« Meine Mitteilung schien ihn getroffen zu haben wie ein Donnerschlag. Jedenfalls verging fast eine halbe Minute, bis ich ihn nervös fragen hörte: »Was haben Sie unternommen? Haben Sie die Polizei in Kenntnis gesetzt?« »Ja. Ich habe es der Polizei gesagt. Man hat alle Krankenhäuser abgeklappert. Kein Erfolg.« »Das ist ja schrecklich. Hören Sie, Mr. Temple, ich möchte Sie sehen. Sind Sie dort, wenn ich unverzüg 189
lich in Ihr Hotel komme?« Ich sah auf meine Uhr. Allmählich wurde es Zeit für mich, an den Aufbruch zu meiner Verabredung mit O'Halloran zu denken. »Nein. Ich muß sehr bald fortgehen. Ich habe eine unaufschiebbare Verabredung.« »Nun, wollen wir nicht auf jeden Fall heute abend zusammen essen, selbst wenn Sie allein sind?« »Ja, wenn ich irgend kann. Wo können wir uns treffen?« »Im Hotel Tunesia. Es liegt in Sidi bou Said. Mit einem Taxi sind Sie in einer Viertelstunde dort. Wollen wir sagen um acht Uhr?« »Ich werde mein Bestes tun.« »Fein. Bis dann, also.« Ich rauchte mehr Zigaretten als sonst. Beim Verlas sen der Telefonzelle zündete ich mir wieder eine an und blieb dann stehen, um die Leute zu beobachten, die im Hotelfoyer saßen oder standen oder es durch querten. Dabei überlegte ich, ob ich irgend etwas versäumt hatte zu tun, was nach Lage der Dinge hätte getan werden müssen. Nochmals beim Empfang zu fragen, ob eine Nachricht für mich gekommen sei, wäre witzlos gewesen, denn die Hotelbediensteten hatten längst bemerkt, daß ich auf der anderen Seite des Foyers neben den Telefonzellen stand. Über sechs Stunden war es jetzt her, daß ich Steve zuletzt gese hen hatte - und noch immer keine Nachricht. War irgend etwas ganz schlecht gegangen? Hatte sie bei 190
irgendeiner Gelegenheit handgreiflichen Widerstand geleistet? War sie dabei getötet worden? Plötzlich überfiel mich ein neuer Gedanke. Hatte man sie nicht entführt, um mich zu erpressen, sondern um durch sie herauszufinden, wieviel wir wußten? Hatten gewisse Leute den größten Teil dieser mehr als sechs Stunden mit dem Versuch verbracht, durch Quälereien und Folterungen von ihr Dinge zu erfah ren, die sie gar nicht wußte? Einen Moment lang sah ich rote Nebel vor meinen Augen und ballte die Fäuste. Dann fand ich mich doch wieder dabei, zum Empfangstisch zu gehen, wie einen Süchtigen, der unbedingt wieder ein kleines Quantum seines unentbehrlich gewordenen Rauschgiftes haben will. Vielleicht war während der letzten Minuten eine Nachricht gekommen. Der Page, dem ich den Zettel für Audry Bryce ge geben hatte, huschte herbei und berührte meinen Ellbogen, als ich mich erfolglos wieder vom Emp fangstisch abwandte. »Ich erwischte sie gerade noch, als sie in ein Taxi steigen wollte«, raunte er. »Niemand hat mich gese hen. Ich soll Ihnen das hier geben.« Es war mein eigener Notizzettel. Unter meine Zei len war gekritzelt: ›Um Mitternacht in Ihrer Suite. Ich werde kommen.‹ Der Page wartete hoffnungsvoll. Ich gab ihm einen kleinen Geldschein und sagte: »Hol mir ein Taxi.«
191
8
Khérédine, auf einer Landzunge vor der inneren Bucht von Tunis gelegen, erwies sich als ein kurioses Gemisch aus Badestrand, luxuriösem Wohnviertel und Schiffahrtsanlagen nebst allem Drum und Dran. Mein Fahrer wußte, wo das Hotel du Port zu finden war, und brachte mich ohne Umwege in eine ziemlich düstere Straße mit Häusern auf der einen Seite und dem düsteren Wasser auf der anderen. Hier waren Werften und Reparaturanlagen für kleinere Schiffe und viele Bootsliegeplätze. Das Hotel du Port, ein wenig einladendes älteres Haus, beherbergte in seinem Erdgeschoß eine Kneipe, in der ich Werftar beiter an der Bar und um einige Billardtische ver sammelt sah. Durch die offene Tür drang Akkorde onmusik ins Freie. Als mein Taxi davongefahren war, fühlte ich mich unangenehm allein in einem sehr fremden Teil dieser Welt. Die Sonne war untergegangen, rasch gefolgt von intensiver Dunkelheit. Der Mond ließ sich noch nicht blicken. Nach Süden zu war der Himmel durch die Lichter der Stadt Tunis erhellt. Daneben funkelten Sterne. Kleine Wellen plätscherten gegen die im Wasser liegenden Boote und die Pfeiler der zahlrei chen Stege. Ich hatte versäumt, O'Halloran zu fragen, auf wel cher Seite des Hotels Durants Haus stände, doch wäre diese Information ohnehin unnötig gewesen, da das 192
Hotel an einer Straßenecke lag. Das Nachbarhaus diente ganz offensichtlich teils Wohn-, teils geschäft lichen Zwecken. Durants Firmenaufschrift war auf die Erdgeschoßfenster gemalt. Da das Haus nach der Straße zu nur einen Eingang besaß, ging ich die paar Stufen der Vortreppe hinauf und läutete die Türklin gel, wobei ich mich neugierig fragte, ob ich endlich dieses Mal dem geheimnisumwitterten David Foster begegnen sollte - und, falls nicht, wen der pfiffige O'Halloran gedungen haben mochte, einen glaubwür digen David Foster zu spielen. Mein Klingeln wurde von einer schlampigen älte ren Frau schimpfend beantwortet, die eine Schürze um den Leib gebunden und ihre Ärmel bis an die Ellbogen aufgerollt hatte. Ihre Hände waren so naß von Seifenlauge, daß sie sich einige Haarsträhnen mit dem linken Unterarm aus dem Gesicht streichen mußte. »Das Büro ist geschlossen, Monsieur.« »Ich habe mit einem Mr. O'Halloran verabredet, ihn um sieben Uhr hier zu treffen. Ist er schon da?« »Wie war der Name?« »O'Halloran«, wiederholte ich und merkte, daß die französischen Ohren dieser Frau es eher für einen arabischen als einen irischen Namen zu halten schie nen. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Niemand mit solchem Namen ist hier.« »Aber es ist das Haus von Monsieur Durant?« 193
»Ja, es ist Monsieur Durants Haus.« »Würden Sie ihm bitte sagen, daß ich hier bin? Mein Name ist Temple. Ich nehme an, er erwartet mich.« »Tem - pel. Ja, aber er ist vor einem Weilchen fort gegangen. Ist es dringend?« »Sehr dringend sogar.« »Ich will versuchen, ihn zu finden«, entgegnete sie mit resignierendem Achselzucken. »Sie können hier warten.« Sie trocknete sich die Hände an einer Ecke ihrer Schürze, öffnete die Tür eines der Erdgeschoßräume, knipste das Licht an, machte hinter mir die Tür wieder zu und ging. Ich konnte hören, wie sie die Haustür schloß und die Stufen der Vortreppe hinablief. Durants Büro war ein Durcheinander von Papier stapeln, Aktendeckeln und Lichtpausen. Auf den Aktenschränken, den Regalen und stellenweise auch auf dem Fußboden lag dicker Staub. Alle vorhande nen Aschenbecher waren übervoll. Die starke nackte Glühbirne, die von der Mitte der Decke herabhing, warf ein erbarmungsloses Licht auf diese Gefilde fast vollendeter Unordnung. Da ich mir sagte, daß ich infolge der gardinenlosen Fenster für jedermann auf der Straße deutlich sichtbar sein müsse, solange ich stand, setzte ich mich lieber hin. Dann zündete ich mir eine meiner eigenen Zigaretten an und hoffte, sie würde den unangenehmen Duft kalten GauloiseRauches ein wenig mildern. 194
Nach zehn Minuten wuchs in mir die Überzeugung, daß ich zum Narren gehalten wurde und O'Halloran niemals die Absicht gehabt hatte, hier zu erscheinen. Sinnlos vertrödelte ich die Zeit in diesem schäbigen Büro, während in eben dieser Minute irgendeine Nachricht über Steve im Hotel Concorde eintreffen mochte. Ich war doch in Szoltan Guptes Raritäten kramladen ziemlich sicher gewesen, daß weder Gupte noch O'Halloran etwas über Steves Verbleib wußten. Weshalb also saß ich hier herum? Als ich mich erheben wollte, um fortzugehen, hörte ich Schritte über die Straße näher kommen und erkannte die Stimme der Frau mit der Schürze. In ihrer Begleitung war ein Mann. Die beiden redeten sehr lebhaft miteinander. Überfließend von Entschuldigungen kam Durant in das Büro gehastet. Er sei zum Hafenbüro gerufen worden, erklärte er, und habe nicht auf die Zeit geachtet. Er war einer jener Franzosen, auf die das Klima Nordafrikas und die dortigen Lebensgewohn heiten schlechte Auswirkungen haben. Er war feist und schlaff geworden und hatte ein unnatürlich rotes Gesicht. Vermutlich trank er zuviel. Er sah wie ein Mann von Anfang Sechzig aus, war aber tatsächlich, wie ich später erfuhr, erst Ende Vierzig. »Sie haben mich erwartet?« »Ja, ich erhielt Nachricht von Monsieur Szoltan Gupte. Ich hoffe, Sie erwähnen meine Verspätung nicht, Mr. Temple. Jemand wie Monsieur Gupte soll 195
nicht denken, ich täte nicht mein Bestes. Wenn Sie nun bitte mit mir zum Bootssteg kommen wollen, rudere ich Sie hinaus zu der Jacht.« »Die Jacht? Befinden sich O'Halloran und Szoltan Gupte dort?« Durant nötigte mich förmlich aus dem Haus. Er schien sehr beflissen, wenigstens etwas von dem Zeitverlust wieder aufzuholen. »Ich weiß nicht, ob Monsieur Szoltan Gupte dort ist, Mr. Temple. Ich stelle keine Fragen. Ich tue nur, was er mir sagt.« »Wie lange wird es dauern, zu der Jacht zu ru dern?« »Nicht lange, Mr. Temple. Vielleicht fünf Minu ten.« Da ich nun einmal hier war, wollte ich diese Sache auch zu Ende bringen. Ich sagte: »Machen Sie so schnell Sie können. Ich habe nicht viel Zeit.« Ich fand es recht seltsam, daß dieser Franzose sich gegenüber einem Altwarenhändler aus dem Araber viertel so unterwürfig zeigte. Er lotste mich in sol chem Tempo durch ein Gewirr von Schuppen und Holzstapeln, daß ich keine Gelegenheit fand, ihm Fragen zu stellen. Schließlich kamen wir auf einen schmalen Steg, an dem einige Ruderboote vertäut lagen. Durant wählte eins der kleineren davon aus und half mir beim Einsteigen. »Für gewöhnlich mache ich selbst so etwas ja nicht«, erklärte er, als er zu rudern begann. »Aber 196
meine Leute sind alle schon fort, und da es für Monsi eur Gupte ist -« »Ist er ein sehr bedeutender Mann?« warf ich ein. »Monsieur Szoltan Gupte? Wissen Sie nicht, daß er einer der reichsten Männer von Tunis ist? Es heißt, er hat mehrere Millionen.« »Betreibt er noch andere Geschäfte als seinen Anti quitätenladen?« »Darüber weiß ich nichts, Mr. Temple. Ich stelle keine Fragen. Er bezahlt mich gut, und das genügt mir.« Wir schienen schon auf dem richtigen Kurs zu sein. Jedenfalls konnte ich in einiger Entfernung die Umrisse einer offenbar verankerten großen Motor jacht wahrnehmen. »Kennen Sie einen Mr. David Foster?« »Das ist ein englischer Name, nicht wahr? Nein, ich kenne keinen Mr. Foster.« »Haben Sie heute abend schon jemanden zur Jacht hinübergerudert?« »Nein, Mr. Temple. Es ist zu früh. Für gewöhnlich kommen die Herren erst gegen zehn, elf Uhr. Manchmal auch erst um Mitternacht.« »Aber Sie kennen Mr. O'Halloran, einen Freund von Szoltan Gupte? Ein kleiner Ire mit Zahnlücken.« »Freilich kannte ich ihn, Mr. Temple. Erst vor vier Tagen habe ich ihn zur Jacht hinübergerudert. Sehr traurige Sache. Sie haben es ja in der Zeitung gelesen, nicht wahr? Diese Morde in Tunis nehmen überhand.« 197
Nach kaum fünf Minuten waren wir dicht bei der Jacht. Sie hatte keine Lichter gesetzt; nichts ließ erkennen, daß jemand an Bord wäre. Durant rief hinüber, um unser Kommen anzukündigen. Niemand antwortete. »Ich denke, wir sind zu früh daran«, sagte er. »Noch ist niemand da. Besser, wir kehren um.« »Da hängt ein Fallreep aus. Rudern Sie heran, und ich werde einen Blick an Bord tun.« »Oh, ich gehe nie an Bord«, versicherte Durant hastig. »Sollen Sie auch nicht. Aber da wir nun einmal hier sind, möchte ich mich überzeugen, ob Szoltan Gupte auf mich wartet. Halten Sie das nicht für richtig?« Durant zuckte zweifelnd die Achseln, manövrierte aber, wenn auch mit dem Ausdruck eines Mannes, der keine Verantwortung für das trägt, was zu tun er genötigt wird, sein Boot an das Fallreep der Jacht und half mir sogar beim Hinübersteigen. Es war ein ziemlich großes Motorboot, ungefähr fünfzehn Meter lang. Obwohl für das offene Meer gebaut, war es durch entsprechende Veränderungen zu einem luxuriösen Hausboot umgestaltet worden. Fast die ganze Deckslänge war mit Kajütaufbauten verse hen, die nur Platz für einen schmalen Rundgang ließen. Ich fand eine unverschlossene Kajüte. Mit Hilfe meiner kleinen Taschenlampe entdeckte ich die Lichtschalter und knipste sie alle an. Der größte Teil 198
der Deckskajüte wurde von einer Art Clubraum eingenommen. Am entfernten Ende war eine Bar; an den Wänden standen Sofas, vor jedem der Sofas ein niedriger Tisch und an jedem der Tische zwei oder drei Polstersessel. Dazwischen blieb noch Platz für eine kleine Tanzfläche. Die Beleuchtung war ge dämpft. Einige Sekunden, nachdem ich sie angeknipst hatte, begann ein Plattenspieler einen Tango zu spielen. Eine eigene Treppe verband diesen Raum mit dem Unterdeck. Ich knipste auch hier das Licht an, ging die Treppe hinab und gelangte in einen Korridor mit Kabinen an den Seiten. Ich inspizierte die Kabinen eine nach der anderen. Jede von ihnen enthielt eine bequeme Schlafcouch, ein flaches, eingebautes Kleiderspind, einen Ankleidetisch mit Spiegel und ein Waschbecken mit fließendem Wasser. Nur die Kabine am rückwärtigen Ende des Korridors zeigte Spuren von ständiger Benutzung. Sie war doppelt so groß wie die anderen und als Wohn-Schlafzimmer eingerichtet. Einige charakteristische Dinge ließen erkennen, daß sie von einem Mann benutzt wurde, der daran ge wöhnt war, weiblichen Besuch zu empfangen. Zigarettenrauch hing noch ziemlich frisch in der Luft. Und ein schwacher Parfümduft ließ mich an jemanden denken, dem ich erst vor kurzem begegnet war. Ein gradlehniger Stuhl stand in der Mitte des Rau mes. Auf dem Teppich ringsum lagen einige Zigaret 199
tenstummel. Eine der kleinen Armlehnen des Stuhles war abgebrochen. Auf dem Tisch lag ein Stück kräftiger Schnur, das an den Enden zusammengekno tet, aber eine Handbreit davon entfernt mit einem Messer durchschnitten worden war. Der Hausmantel eines Mannes lag unordentlich hingeworfen auf der Schlafcouch. Die dazugehörende seidene Kordel fand ich in einiger Entfernung auf dem Boden. Ich bückte mich danach, rollte sie auf und steckte sie mir in die Hosentasche. Hinweise auf die Identität des Kabinenbenutzers waren bei meiner begreiflicherweise flüchtigen Suche nicht zu entdecken. Aber zwischen den Platten eines kleinen Klapptisches fand ich einen genauen Stadt plan von Tunis. Darauf hatte jemand einen roten Kreis um unser Hotel Concorde gemalt; von diesem Kreis ausgehende rote Linien zeigten die beiden Wege, die Steve und ich bei unserem Schaufensterbummel und bei unserer Droschkenfahrt genommen hatten. Mein Weg zu dem Optiker und zur Filiale von Lloyds Bank war jedoch ebensowenig eingezeichnet wie der Kurs meiner Taxe zum ›Haus künstlerischer Raritäten‹. Dafür war aber dieses Haus selbst von einem roten Kreis umgeben, ebenso eine Straßenecke an der Avenue de Rome und verschiedene andere Punkte, die mir nichts besagten. Ich faltete den Plan und steckte ihn zu mir. Die brutale Szene, die vor kurzem in dieser Kabine abgerollt war, hatte ihren fatalen Eindruck so klar in 200
der Atmosphäre hinterlassen, wie ein Bild sich auf einem Filmnegativ abzeichnet. Ich hatte das Gefühl, als beginne die Zeit knapp zu werden. Hinter mir die Lichter ausknipsend, kehrte ich an Deck und in Durants Boot zurück. Durant schien froh, von der Jacht fortzukommen, und ruderte aus Leibeskräften los. »Wie spät war es, als Sie von Szoltan Gupte Ihre Anweisungen bekamen?« fragte ich ihn. »Gegen zwei Uhr heute nachmittag.« »Halten Sie es nicht für merkwürdig, daß er diese Anweisungen gab, aber selbst nicht zur Stelle war?« »Weiß nicht«, antwortete Durant etwas atemlos vom hastigen Rudern. »Weiß nur, daß er mir sagte, ich hätte heute abend um sieben einen Mr. Temple zur Jacht zu rudern.« Eins der Ruder stieß an einen im Wasser treibenden Gegenstand, und Durant geriet aus dem Takt. Er schwenkte das betreffende Ruder hoch, um von dem Gegenstand wegzukommen. Da das Boot im eigenen Schwung vorwärtsglitt, wollte er gleich weiterrudern. »Warten Sie einen Moment«, sagte ich. »Konnten Sie sehen, was da im Wasser war?« »Nein.« »Ich glaube, es war eine Leiche. Eine Frauenlei che.« Die Zeit schien dahinzuschleichen, während Durant sein Boot wendete. Ich hatte nur einen flüchtigen Blick auf das treibende Etwas erhascht, bezweifelte 201
aber nicht, daß es ein menschlicher Körper gewesen war. »Dort schwimmt es!« rief Durant und manövrierte das Boot auf die Stelle zu. Eine dunkle Masse, etwa wie eine kleine Welle, die einige ineinander verflochtene Seetangpflanzen mit sich führt, erhob sich ganz wenig über die Oberfläche des Wassers und sank wieder zurück. Ich lehnte mich weit über die Bootswand und glaubte einen Kopf mit hinterdreintreibendem langem Haar zu erkennen. »Vorsicht, oder wir werden kentern!« rief Durant. »Sitzen Sie lieber still, bis wir näher heran sind.« Wahrscheinlich hatte er schon manchmal treibende Wasserleichen gefunden und ahnte nicht, worum es ging. Er brachte sein Boot sehr geschickt näher heran, zog plötzlich die Ruder ein und langte über Bord. »Hab' sie gepackt. Wer weiß, wie lange die schon schwimmt. Sie haben eine Taschenlampe, nicht wahr?« Durant gab sich große Mühe, den Kopf der Leiche über Wasser zu heben. Mir wurde verwünscht flau im Magen, als das Licht der Taschenlampe aufflammte. Das Boot legte sich stark nach einer Seite. Dann keuchte Durant: »Kann es nicht schaffen!« Er ließ los, und die Leiche sank zurück ins Wasser. Für den Bruchteil einer Sekunde geriet ihr Gesicht in den Lichtstrahl meiner Taschenlampe. Ich erkannte die verzerrten Züge von Audry Bryce.
202
Der Abstecher nach Khérédine war weniger zeit raubend verlaufen, als ich geschätzt hatte. Zehn Minuten nach acht betrat ich wieder das Hotel Con corde. Obwohl es unvermeidlich war, daß ich mich bei meiner Verabredung mit Tony Wyse sehr verspä ten würde, mußte ich im Hotel Nachfrage halten, ehe ich irgend etwas anderes unternahm - das verstand sich von selbst. Während Durant mich zu seinem Landungssteg zurückruderte, hatte ich mich von meinem Schock über die Leiche im Wasser erholt und ihn nicht merken lassen, daß ich die Tote kannte. Er hatte es übernommen, die Polizei zu benachrichtigen, und mir versprochen, nichts von meiner Anwesenheit zu erwähnen. Ich war dann von Khérédine mit einem Vorortzug in die Stadt gefahren, was nicht länger dauerte als eine Taxifahrt. »Mrs. Temple ist noch nicht wiedergekommen«, sagte mir der Mann am Empfang, noch ehe ich meine Frage stellen konnte. »Sie ist wirklich schon sehr lange fort, Mr. Temple. Haben Sie daran gedacht, die Polizei zu verständigen?« »Ja, das ist längst geschehen. Die Polizei tut alles, was sie kann. Hören Sie, ich bin zum Essen im Hotel Tunesia in Sidi bou Said verabredet. Versprechen Sie mir, mich dort anzurufen, sobald eine Nachricht kommt?« »Ja, das werde ich gerne tun, Mr. Temple.« Dieser Hotelbedienstete war wesentlich teilnahms 203
voller als sein Kollege und zeigte in Ausdruck und Verhalten echte Besorgnis. Ich hatte bemerkt, daß eine Telefonistin in dem Büro hinter dem Anmeldetisch ein Gespräch ange nommen und dabei mehrfach zu mir hingesehen hatte. Jetzt kam sie nach vorn gelaufen und meldete: »Je mand im Polizeipräsidium möchte mit Mr. Temple sprechen.« »Legen Sie das Gespräch auf Kabine eins«, sagte der Empfangschef. »Bitte, Mr. Temple, nehmen Sie die erste Kabine von links.« Auf dem kurzen Weg zum Telefon beseelten mich wilde Hoffnungen und quälende Befürchtungen. Noch ehe die Kabinentür hinter mir richtig zu war, hatte ich den Hörer am Ohr und meldete mich: »Hier Paul Temple.« »Mr. Temple, Sie werden aus dem Polizeipräsidium verlangt. Einen Moment, bitte.« Ich wartete ungeduldig, die Finger meiner freien Hand trommelten nervös gegen die Kabinenwand. »Hallo, Temple. Sind Sie da?« Ein Irrtum über diese Stimme, die schon unzähli gemal zu mir gesprochen hatte, war unmöglich. »Sir Graham Forbes! Gott sei Dank, daß Sie ge kommen sind.« »Vor einer kleinen halben Stunde. Ich bin im Poli zeipräsidium bei Renouk. Temple, es tat mir sehr leid, die Nachricht über Steve zu hören.« »Recht unerfreulich, nicht wahr?« 204
»Ja. Aber die hiesige Polizei tut, was sie kann. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Steve finden wird.« »Ich hoffe, Sie haben recht, Sir Graham. Aber ich muß gestehen, daß ich furchtbare Sorgen habe. Ist es möglich, daß Sie gleich herkommen?« »Leider nicht. Ich muß hier einige dringende Ange legenheiten erledigen. Aber etwas später am Abend möchte ich Sie sehen. Werden Sie da sein, wenn ich gegen elf Uhr komme?« »Ja, ich werde hier sein. Und übrigens, Sir Graham -« »Ja?« »Was führt Sie ausgerechnet jetzt nach Tunis?« Ich hörte ihn leise lachen. Dann äußerte er: »Wol len wir einfach sagen, ich bin wegen einer ganz besonderen Brille hier?« Ehe ich noch etwas fragen konnte, legte er auf. Es war bezeichnend für meine Sinneswandlung, daß ich kein Verlangen spürte, den auf der Jacht gefundenen Stadtplan sogleich an Renouk zu übermit teln. Ich bat an der Rezeption um ein etwas größeres Kuvert, tat den Stadtplan hinein, klebte das Kuvert zu und bat den freundlichen Hotelbediensteten, es in seiner Geldschublade so aufzubewahren, daß ich es jederzeit zurückbekommen könnte. Dann verließ ich das Hotel und nahm draußen ein Taxi nach Sidi bou Said. Während mich das Taxi in schneller Fahrt nord wärts brachte, überlegte ich, daß Tony Wyse sozusa gen der letzte Pfeil in meinem Köcher wäre. Aus 205
irgendeinem obskuren Grund hatten Szoltan Gupte und O'Halloran sich gescheut, das mit mir vereinbarte Zusammentreffen einzuhalten. Ich hatte das Gefühl, daß ich, wenn ich jetzt hinkäme, das ›Haus künstleri scher Raritäten‹ verschlossen und mit heruntergelas senen Rolläden vorfinden würde. Vielleicht hatte Renouk gefolgert, daß Steves Verschwinden eine Folge seines Zusammentreffens mit uns wäre; viel leicht hatte die dann einsetzende Aktivität der Polizei das Paar Gupte und O'Halloran bewogen, einstweilen innezuhalten. Ich wünschte, ich hätte aus meinem Gespräch mit Audry Bryce schnellere Folgerungen gezogen. Ihre Ankündigung, um Mitternacht zu mir ins Hotelzimmer zu kommen, mochte ein Köder für eine Falle gewesen sein. Aber ich nahm eher an, daß ich sie wirklich in Schrecken versetzt und daß sie sich impulsiv entschlossen hatte, meinen Rat zu befolgen und auf die richtige Seite hinüberzuwechseln. Jemand hatte gespürt, daß sie zusammenklappen würde, und hatte dafür gesorgt, daß sie nichts mehr ausplaudern konnte. Das Hotel Tunesia lag auf einem Hochplateau, das ziemlich weit ins Meer hinausragte. Gleich hinter den Gebäuden senkte sich der Grund steil zum schmalen Strand hinab. Von der vorgebauten Terrasse konnten die Gäste einen herrlichen Ausblick bis nach Karthago auf der einen Seite und bis nach Tunis auf der anderen Seite genießen. Ein eleganter Flur führte am Speisesaaleingang 206
vorbei zu der von sanftem Flutlicht erhellten Terrasse, auf der ich eine Anzahl Gäste mit ihren Aperitifs sitzen sah. Mitten in diesem Flur sprach ein blonder, breitschultriger Mann mit dem äußerst ehrerbietigen Oberkellner. »Haben Sie einen Zweipersonentisch für mich?« hörte ich ihn fragen. »Ich werde heute abend mit einem amerikanischen Freund speisen. Wissen Sie zufällig, ob ein Mr. Vandenberg bereits eingetroffen ist?« »Aber ja, Monsieur!« Der Oberkellner gestikulierte mit seiner Speisekarte zur Terrasse. »Mr. Vandenberg ist bereits eingetroffen. Er erwartet Sie auf der Terras se.« »Gut. Ich werde zu ihm gehen, sobald ich dem Weinkellner meine Bestellung gegeben habe.« Ich wartete, bis Schultz durch den Eingang zum Speisesaal entschwunden war. Er hatte nichts von meiner Anwesenheit im Flur bemerkt. »Mr. Anthony Wyse ist gewiß schon da?« fragte ich den Oberkellner. »Habe ich die Ehre mit Mr. Temple?« »Ja.« »Mr. Wyse trug mir auf, Ihnen zu sagen, daß er in der Terrassenbar ist, Mr. Temple. Am linken Ende der Terrasse, Sir.« Im Augenblick, als ich auf die Terrasse hinaustrat, beschloß ich, später einmal mit Steve wieder nach Tunis zu kommen, eigens, um einige Zeit im Hotel 207
Tunesia zu wohnen und die Abende auf dieser Terras se zu verbringen. Es war eine fast vollendete Anlage. Die Terrasse schien in samtene Dunkelheit gehüllt, eine kleine Oase von liebenswürdigstem Luxus der kultivierten französischen Art. Bezaubernd. Aber momentan konnte ich mich dieser Schönheit nicht widmen; ich war zu sehr von der grimmigen Wirk lichkeit in Anspruch genommen. Auf meinem Weg über die Terrasse bemerkte ich einen Mann, der allein an einem Tischchen saß. Seine Augen, die auf die Tür gerichtet waren, als ich hinauskam, hatten sich eigentümlich schnell abge wendet. Ich sah seine auffallend tief angesetzten Ohren und seinen nicht weniger auffallend betonten Hinterkopf. Seine Maskierung war gut, doch diese beiden charakteristischen Einzelheiten verrieten ihn. Er hatte jetzt ziemlich langes, strähniges graues Haar und die blasse Gesichtsfarbe eines amerikanischen Geschäftsmannes, der an Magengeschwüren leidet. Auf der Nase saß ihm eine Brille mit moderner schmaler Fassung. Ein hellgrauer, breitrandiger Hut lag, wo Herrenhüte in Amerika unfeinerweise oftmals liegen, nämlich auf dem Tisch. Sein Anzug war ganz offensichtlich amerikanischer Herkunft. Ich blieb stehen und legte eine Hand auf die Lehne seines Sesselchens. »Guten Abend, Colonel Rostand. Wie nett, Sie wiederzusehen!« Der alte Gentleman drehte mir sein trauriges, sor 208
genzerfurchtes Gesicht zu und beäugte mich mit milder Mißbilligung. Das machte er wirklich sehr gut. »Ich fürchte, Sie irren sich, junger Mann. Mein Name ist Vandenberg, Henry O. Vandenberg.« Der Akzent war amerikanisch, und der Tonfall dem von Audry Bryces ungesehenem nächtlichem Besu cher recht ähnlich. Mich amüsierte, daß er bei gewis sen Buchstaben noch immer ein wenig lispelte; ein kräftiger Biß auf die eigene Zunge, hervorgerufen von einem Ellbogenstoß unter das Kinn, verheilt eben doch nicht so schnell. »Tut mir leid, Sir«, entschuldigte ich mich. »Es war ein dummer Irrtum, sicher nur dadurch entstanden, daß ich etwas habe, was ich diesem Colonel Rostand sehr gerne zurückgeben möchte.« »Oh?« Hinter den Brillengläsern leuchtete einiges Interes se auf. »Ja, ich bin sicher, daß er sehr bekümmert sein wird, wenn er merkt, daß er es vergessen hat.« »Freilich, das wäre schlimm. Was haben Sie denn gefunden?« Rostand hatte seine Neugier nicht zügeln können. Ich griff in die Tasche und brachte die zusammenge rollte seidene Hausmantelkordel zum Vorschein. »Mit dieser Kordel wurde heute abend auf einer vor Khérédine liegenden Jacht eine Frau namens Audry Bryce erdrosselt und nachher ins Meer geworfen.« Vielleicht hätte ich nichts sagen und ihm die Kordel 209
nur zeigen sollen. Er schien ein wenig in sich zusam menzusinken, als ich die Kordel herausholte, aber meine kurze Erläuterung gab ihm Zeit, sich zu sam meln. Er schob sein Sesselchen zurück und stand auf. »Junger Mann«, sagte er verstimmt, »ich weiß nicht, wer Sie sind. Aber wenn Sie diese Art von Scherzen lieben, haben Sie sich diesmal den verkehr ten Mann ausgesucht.« Er wandte mir den Rücken und strebte dem Aus gang zu. Obwohl er sich etwas gebeugt hielt, konnte er seine beträchtliche Lange nicht verbergen. Ich stand noch mit der Kordel in der Hand und sah ihn durch die Tür zum Flur entschwinden, als Schultz aus der Tür kam, die vom Speisesaal direkt auf die Terrasse führte. Er bemerkte mich sofort, kniff die Augen zusammen und lächelte. »Guten Abend, Mr. Temple.« Er sprach auch jetzt wieder mit leicht ironischem Unterton. »Sie sind ohne Ihre charmante Frau?« »Nur heute abend«, entgegnete ich kurz. »Es über rascht mich, daß Sie nicht im ›Trou du Diable‹ sind.« »Ich bin hier zum Dinner eingeladen, Mr. Temple. So etwas kommt manchmal auch bei uns Clubbesit zern vor, wissen Sie.« »Von dem reichen Amerikaner Mr. Vandenberg?« »So ist es. Woher wissen Sie das?« »Sollten wir ihn nicht bei seinem richtigen Namen nennen? Colonel Rostand?« Schultz zeigte einen übertrieben bestürzten Aus 210
druck und spreizte beschwörend die Hände. »Immer dieses Gerede von Colonel Rostand, Mr. Temple! Ich glaube, Sie haben so etwas wie einen kleinen Rostand-Komplex. Ich versichere Ihnen, Mr. Vandenberg ist hier sehr gut bekannt.« »Das freut mich für Sie, Mr. Schultz. Colonel Ros tand wird nämlich auch hier von der Polizei gesucht.« »Übrigens, da wir von der Polizei sprechen« Schultz offerierte mir aus seinem goldenen Etui eine Zigarette und zündete sich, nachdem ich abgelehnt hatte, selbst eine an -, »ja, da wir gerade von der Polizei sprechen. Inspektor Flambeau erzählte mir eine höchst merkwürdige Geschichte: daß Sie gebeten worden sind, einem gewissen David Foster eine Brille zu überbringen, und daß Monsieur Constantin Ihnen zehntausend Pfund für diese Brille geboten hat. Ist das wahr?« »Ja, das ist wahr.« »Haben Sie denn eine Idee«, fragte Schultz kopf schüttelnd, »warum eine Brille einen so unangemes sen hohen Wert besitzen und das Interesse so vieler Leute erwecken kann?« »Ja, ich habe eine Idee. Und da so viele Leute in teressiert sind, Mr. Schultz, frage ich mich, ob Sie vielleicht auch dazu gehören?« Schultz schüttelte abermals den Kopf und lächelte still belustigt. »Warum sollte ich interessiert sein, Mr. Temple? Über meine Sehkraft ist nicht zu klagen. Aber wenn 211
Sie mich jetzt entschuldigen möchten - ich möchte meinen Gastgeber finden.« Nachdem Schultz im Speisesaal verschwunden war, setzte ich meinen Weg zur Bar fort, wo ich Wyse damit beschäftigt fand, so trübselig in die Bläschen seines Champagnercocktails zu starren, als habe er aller Hoffnung entsagt, mich hier noch erscheinen zu sehen. Seine Miene erhellte sich, als er mich erblickte, aber es schien ihn zu beunruhigen, daß ich allein war. »Noch keine Nachricht von Ihrer Frau? Oh, das ist schrecklich, schrecklich.« Er war so ehrlich bekümmert, daß es mir das Herz erwärmte. »Wie kann jemand wünschen, Mrs. Temple etwas anzutun?« In diesem Moment entschloß ich mich, es darauf ankommen zu lassen und Tony Wyse ins Vertrauen zu ziehen. Mit der Art Schattenboxen, wie ich es bei Rostand und Schultz versucht hatte, kam ich nirgendwohin. »Suchen wir uns einen Tisch, wo wir sprechen können«, schlug ich vor. »Ich werde Ihnen alles erzählen.« »Ich habe einen Tisch im Speisesaal bestellt. Wir können sofort hineingehen, wenn es Ihnen recht ist.« Ich hatte eigentlich keinen Appetit, aber Wyse nö tigte mich, ein ausgewählt gutes Dinner zu verzehren, was sich am Ende als recht nützlich erwies, denn ich sollte noch jede einzelne Kalorie brauchen, ehe jene lange Nacht vorüber war. Während wir aßen, erzählte ich ihm fast die ganze 212
Geschichte: Wie wir Judy Wincott in Paris getroffen hatten; mein Versprechen, die Brille zu überbringen; die Serie von Morden, die sich an unsere Fersen geheftet hatte - in Paris, Nizza, Algier und hier in Tunis. Er hörte sehr aufmerksam zu, unterbrach mich nur selten mit einer kurzen Frage und erschien mir jetzt weit weniger als der oberflächliche Playboy wie bisher. »Eine ganz ungewöhnliche Geschichte«, sagte er, als ich geendet hatte. »Sie scheinen tatsächlich in eine sogenannte dicke Sache hineingeraten zu sein. Aber wie, um alles auf der Welt, kann eine Brille genug Wert haben, um fünf Morde zu rechtfertigen?« »Ich wäre ziemlich erleichtert, wenn ich Ihnen das verraten könnte.« »Es scheint sich hier um mehrere Banden zu han deln. Ich meine, Rostand und Schultz müssen Hand in Hand mit Leyland und der nun erdrosselten Audry Bryce gearbeitet haben. Constantin könnte ein Einzel gänger gewesen sein - falls er nicht mit Szoltan Gupte und O'Halloran zusammenhing. Das Wichtigste für Sie ist, zu wissen, welche Gruppe Steve gekidnappt hat - oh, Entschuldigung, ich meine Mrs. Temple.« »Sie haben eine Person ausgelassen.« »Ach, wen denn?« »Simone Lalange. Sie hat eine Art, ab und zu auf zutauchen, die nicht rein zufällig sein kann. Wo würden Sie sie einordnen?« »Simone?« Wyse blickte sehr jungenhaft und be 213
kümmert drein. »Sie glauben doch nicht ernstlich, daß Simone in alles das verwickelt ist?« »Ich vergaß, Ihnen zu erzählen, daß Steve, unmit telbar bevor wir Judy Wincott ermordet in dem Wandschrank fanden, vor der Zimmertür ein leeres Zündholzbriefchen mit den aufgedruckten Initialen S. L. vom Korridorboden aufgelesen hat. Genau solche Zündholzbriefchen führt Simone Lalange bei sich.« »Ach, das hat nichts zu bedeuten«, rief Wyse er leichtert aus. »Sie selbst erzählte mir, daß sie dieses Zimmer abgelehnt hat, weil es keinen Baderaum besitzt. Wahrscheinlich hat sie das leere Briefchen verloren oder achtlos fortgeworfen, als man ihr das Zimmer zeigte.« »Dennoch«, beharrte ich, »dürfte an Mademoiselle Lalange mehr sein, als man auf den ersten Blick sieht.« »Mr. Temple«, widersprach Wyse, »ich glaube, hier sind Sie auf dem Holzweg.« Er drückte seine Zigarette etwas zu schwungvoll in den Aschenbecher. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen helfen. Gibt es nichts mehr, was Sie mir noch nicht erzählt haben? Furcht bar schade, daß Sie diese Brille nicht bei sich haben. Ich würde viel darum geben, wenn ich sie sehen könnte.« »Würden Sie das? Was halten Sie von einem Lunch mit meiner Frau und mir, morgen im Hotel Concorde? Dann werde ich sie Ihnen zeigen. Wir könnten auch Simone Lalange einladen.« 214
»Eine gute Idee«, begann Wyse begeistert. Dann zögerte er. »Aber Sie sagten, mit Ihrer Frau. Ange nommen, Mrs. Temple...« »Angenommen, ich habe sie bis dahin nicht gefun den? In diesem Fall würde ich Ihnen die Brille nicht zeigen können. Wenn die Entführer bis morgen früh keinen Vorschlag gemacht haben, werde ich die Brille in hunderttausend winzige Stückchen zerschlagen. Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich jetzt zurück ins Hotel.« »Ich habe ein Auto draußen«, sagte Wyse und winkte dem Kellner. »Ich fahre Sie in die Stadt.« Wahrscheinlich hätte ich Wyses Auto unter all den Wagen auf dem Hotelparkplatz auch dann herausge funden, wenn ich allein auf die Suche gegangen wäre. Es war ein kleiner englischer MG-Zweisitzer von erschreckend grellgrüner Farbe. Wyse entfernte mit geschickten Fingern die Lein wandplane, die die beiden engen Sitze schützte. »Etwas frische Luft wird Sie doch nicht stören? Ich kann natürlich auch das Verdeck hochklappen, wenn Sie es möchten.« »Mir ist frische Luft schon recht«, entgegnete ich und zwängte meine Beine nicht ganz mühelos in den dafür vorgesehenen schmalen Raum. Kiesbröckchen wurden in hohem Bogen durch die Luft gewirbelt, als wir im Schnellstart vom Parkplatz hinaus auf die Straße jagten, und die Reifen der 215
Hinterräder jaulten, sobald wir auf der Betonfahrbahn waren. Wyse malträtierte sein Auto rücksichtslos; bei jedem Gangschalten war die Beschleunigung so rapide, daß ich mich heftig gegen die Lehne meines Sitzes gedrückt fühlte. Das Motorengeräusch und das Sausen des Fahrtwindes machten eine Unterhaltung unmöglich. Ich langte mit einer Hand nach dem etwas beruhigend wirkenden Haltegriff neben der Armatu rentafel und versuchte, die Schönheit der vorüberra senden Landschaft im Scheinwerferlicht zu erkennen, soweit sich das machen ließ. Wir jagten die Hügelstraße von Sidi bou Said in wahrem Höllentempo hinab. Die weißen Luxusvillen reicher arabischer Kaufleute blieben hinter uns zurück wie Spukgebilde. Wyse schien außerordentlich beflissen, mir die Kurvensicherheit seines kleinen Autos zu zeigen. Er steuerte jede Kurve an, ohne das Tempo zu mindern, schnitt sie verwegen wie ein Rennfahrer und geriet dann häufig genug für ein Weilchen auf die Gegen fahrbahn. Wäre uns in einer dieser Kurven ein anderer Wagen begegnet, dann hätte es unvermeidlich zwei Autowracks sowie Tote und Schwerverletzte gegeben. Ich packte den Haltegriff fester und versuchte, mich in orientalischem Fatalismus zu üben. Das gelang nicht sehr gut, aber glücklicherweise begegnete uns an den kritischen Stellen kein anderer Wagen. Wieder einmal drehte Wyse bravourös das Lenkrad, wieder einmal hatte ich das Gefühl, mein linker 216
Ellbogen werde sogleich die Seitenwand des Autos durchbrechen. Da begann das Wagenheck nach außen zu schleudern. Wyse riß das Lenkrad entgegengesetzt herum, um das Schleudern aufzufangen. Aber seine Maßnahme blieb ohne Einfluß auf das Verhalten des Autos. Ich sah ihn wie verrückt am Lenkrad arbeiten, das plötzlich keinen Widerstand mehr zu haben schien. Das Auto wirbelte wild und wurde dabei durch seinen eigenen Schwung gegen den flachen Straßen graben und die dahinter aufsteigende Böschung getragen. Mit dem Heck voraus überwand es den Straßengraben und prallte gegen die grasbewachsene Böschung. Der Aufprall war so stark, daß wir fast aus den Sitzen geworfen wurden. Da die Vorderräder noch auf der Straße waren, als das Heck jenseits des Grabens einen halben Meter tiefer gegen die Bö schung geriet, hob der Schwung das Vorderteil des Autos, so daß ich plötzlich die Motorhaube fast senkrecht über mir in die Luft ragen sah und mich instinktiv in meinem Sitz zusammenduckte. Einen Moment lang stand das Auto auf seinem Heck, dann kippte es langsam um, wobei es sich halb um seine Längsachse drehte, und blieb mit den Rädern nach oben liegen. Der Graben bewahrte uns davor, unter dem Auto zerquetscht zu werden, denn es lag nun mit der Motorhaube auf der Straße und mit dem Heck auf der jenseitigen Grabenböschung, so daß wir uns unter den flachen Türen hindurch ins Freie zwängen konnten. 217
Während ich dies noch tat, hörte ich Benzin aus dem leckgewordenen Tank tropfen und hatte das unange nehme Gefühl, daß das Autowrack jeden Moment explodieren könnte. Als ich mich draußen aufrichtete, sah ich Wyse auf der anderen Seite dasselbe tun. »Puh! Das war nahe daran!« rief er aus und starrte zurück zu den korkenzieherartig gewundenen Reifen spuren auf der Straße. »Ich bin nicht zu schnell gefahren, wissen Sie«, fügte er hinzu. »Ich hätte das Schleudern leicht auffangen können, aber das Lenkrad ging plötzlich leer!« Die Tatsache, daß er sich selbst und mich um ein Haar zu Tode gefahren hätte, schien ihm weniger wichtig als der Nachweis, nicht für das Unglück verantwortlich zu sein. Ich nehme an, der Mitfahrer, der nichts tun kann, als hilflos zuzusehen, hat bei solchen Gelegenheiten immer die schlechteste Zeit. Ich ging weit genug von dem verunglückten Auto fort, um mir in Sicherheit eine Zigarette anzünden zu können. Wyse war noch einmal halb unter das Auto gekrochen und hatte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach geholt. Ich sah ihn damit die Vorder achse des Wagens untersuchen. Nach einigen Minuten kam er zu mir, sehr nachdenklich dreinblickend, und sagte: »Jemand scheint uns nicht ganz freundlich gesonnen zu sein. Das war ein Stück wohlüberlegter Sabotage.« »Wie meinen Sie das?« »Der Lenkschenkel war aus seiner Lagerung gelöst 218
und wurde nur von einem Stück Draht gehalten, das bei etwas stärkerem Druck reißen mußte.« Wir hatten das Glück, von einem leer aus Sidi bou Said zurückkehrenden Taxi nach Tunis gebracht zu werden. Wyse setzte mich beim Hotel Concorde ab, ehe er sich zu einer Werkstatt fahren ließ, die für das Abschleppen seines Autos sorgen sollte. »Vergessen Sie nicht«, rief er mir durch das Fenster des startenden Taxis zu, »wir sind für morgen zum Lunch verabredet! Sie haben Ihr Versprechen doch nicht vergessen?« »Ich halte meine Versprechen immer«, rief ich ihm nach.
219
9
Sir Graham Forbes hatte noch keine fünf Minuten gewartet, als ich ihn im Schreibzimmer des Hotels fand, seine Brille auf der Nase und einen maschinen geschriebenen Bericht auf den Knien. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie warten ließ, Sir Graham. Ich hatte auf dem Heimweg einen kleinen Unfall.« »Ich freue mich, Sie zu sehen, Temple.« Sir Gra ham kam mir mit ausgestreckter rechter Hand entge gen. Einen Moment lang waren wir beide betreten. Wir hatten uns schon an vielen gewohnten und ungewohn ten Orten getroffen, aber fast immer war noch eine andere Person dabeigewesen, deren Fehlen uns jetzt schmerzlich bewußt wurde - Steve. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte ich. »Ich habe einen guten Freund jetzt sehr nötig.« »Ich verstehe. Wo können wir ungestört sprechen?« »Unsere Suite wäre am besten geeignet, denke ich.« Das Hotelfoyer war fast verlassen, als wir zum Lift gingen. Als äußerst respektables Hotel kam das ›Concorde« jeden Abend zeitig zur Ruhe. »Übrigens versprach ich dem Empfangschef, Ihnen eine Nachricht zu übermitteln«, sagte Sir Graham im Lift zu mir. »Seit zehn Uhr hat jede Viertelstunde ein Mann angerufen und nach Ihnen gefragt. Ein gewisser Leyland.« 220
»Leyland? Was will er?« »Das hat er anscheinend nicht verraten. Fragte wohl nur immer, ob Mr. Temple noch nicht zurück wäre.« »Weiß man, von wo er telefonierte?« »Das glaube ich nicht. Der Mann wollte nicht viel sagen.« »Nun, wenn er wieder anruft, kommt das Gespräch ja in meine Suite.« Als wir den Etagenkorridor entlanggingen, sah ich, daß die Tür zu Audry Bryces Suite offenstand und das Zimmermädchen das Bett neu bezog. Ich blieb an der Tür stehen und fragte das Zimmermädchen, wann die Suite freigeworden wäre. »Kurz nach der Abendessenszeit, Monsieur. Ma dame Bryce bleibt bei Freunden. Der Chauffeur kam, um ihr Gepäck zu holen.« »Sehr gründlich«, murmelte ich, als ich mich wie der zu Forbes gesellte und meinen Schlüssel ins Türschloß schob. »Was denn?« »Das erkläre ich Ihnen später, Sir Graham.« Ich schloß die Tür hinter uns und verriegelte sie. Dann zog ich die Jalousie der Balkontür hoch, um etwas frische Abendluft einzulassen. Forbes nahm in einem der Sessel Platz, während ich zum Telefon ging, um den Empfang anzurufen. »Falls jetzt Gespräche für mich kommen, lassen Sie sie bitte in meine Suite durchstellen. Erinnern Sie sich an das Briefkuvert, das ich Ihnen zur Aufbewahrung 221
gab? Würden Sie es mir bitte von einem Pagen heraufbringen lassen?« Ich wandte mich wieder Sir Graham zu, der seinen Tabaksbeutel herausgeholt hatte und mit dem Stopfen einer Pfeife beschäftigt war. »Nun, Sir Graham, wie lautet die Lösung dieses Rätsels? Ist es nicht wahr, daß Ihr Arzt Ihnen voll kommene Ruhe verordnet hatte?« »Ich fürchte, das war ein Märchen, Temple. Ich wollte nicht viel über das sprechen, was ich tat. Die Wahrheit ist, daß ich in Zusammenarbeit mit der Interpol während der letzten Zeit in Paris gewesen bin.« »Sie sagten mir am Telefon, Sie seien wegen einer Brille hierhergekommen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, dies ein wenig näher zu erläutern?« Forbes paffte ein paar Sekunden lang an seiner Pfeife; das Zündholzflämmchen über dem Pfeifenkopf tanzte auf und nieder. »Ich wollte mir eigentlich einiges von Ihnen erläu tern lassen, Temple. Habe ich recht, wenn ich sage, daß Ihnen in Paris eine Brille übergeben wurde, durch die Sie in eine Reihe von Unannehmlichkeiten gerieten?« »Unannehmlichkeiten? Das verdient einen Preis für Untertreibung, Sir Graham. Etliche Leute wurden ermordet, zum Teil fast direkt vor unseren Nasen, man versuchte, Steve und mich mit einem Motorboot zu überrennen, ich bin mit Erschießen bedroht worden 222
und entging heute abend bei einem Autounglück wie durch ein Wunder dem Tod, während meine Frau seit heute vormittag verschwunden ist. Und das nennen Sie Unannehmlichkeiten?« Forbes hatte inzwischen aus seiner Pfeife so gewaltige Rauchwolken emporge schickt, daß die Zimmerdecke über ihm nur noch undeutlich zu sehen war. »Würden Sie so nett sein, mir zu verraten«, fuhr ich fort, »was Sie über alles dies schon wissen?« »Die Interpol ist eine großartige Organisation«, erklärte er. »Wir haben Ihre Abenteuer verfolgt, seit Sie in Nizza von Monsieur Mirabel befragt wurden. Ein kluger Mann, dieser Mirabel, sehr -« Er unterbrach sich, da an der Tür geklopft wurde. Ich ging hin, machte sie auf und gab dem Pagen, der mir das Kuvert mit dem Stadtplan überreichte, ein Trinkgeld. Sir Graham hob wißbegierig die Augen brauen, aber als er sah, daß ich darauf wartete, mehr zu hören, räusperte er sich und fuhr fort: »Ihre un glücklichen Erlebnisse hängen, wie sich ergab, mit einem Fall zusammen, an dem ich bei der Interpol mitarbeite. Sie haben natürlich von den MelroseJuwelen gehört?« »Wer hätte das nicht? Eine der wertvollsten priva ten Sammlungen. Sie wurde Ende vorigen Jahres aus dem Schloß des Herzogs von Melrose gestohlen. Die Neuigkeit machte damals Sensation. Hatten nicht die Räuber einen Tunnel von einem nahen Bauernhaus unter der Schloßmauer hindurch direkt bis zu der im 223
Keller gelegenen Familienschatzkammer getrieben?« »Ja. Ein sehr waghalsiges und raffiniert geplantes Unternehmen. Der Raub wurde erst vier Tage später entdeckt. Der Wert der Beute lag nahe bei einer halben Million Pfund.« »Und das ist der Fall, an dem Sie zusammen mit der Interpol arbeiten?« »Ja. Die Tat wurde von einer Bande ausgeführt, aber der leitende Kopf war ein Mann namens Leather.« »Leather?« »Adrian Leather. Ein internationaler Verbrecher. Sie kennen den Namen?« »Ja, ich kenne ihn. Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie unterbrach.« »Nun, sie schafften die Beute aus Großbritannien fort, und wir wissen noch nicht, wie. Aber wir wissen, daß sie damit bis nach Tunesien kamen, ehe ihnen die Verfolger zu nahe rückten. Leather versteckte die Juwelen und machte sorgfältige Aufzeichnungen über das Versteck. Die Mitglieder der Bande waren über eingekommen, die Beute aufzuteilen und zu warten, bis ein wenig Gras über die Sache gewachsen wäre, ehe sie anfangen würden, die einzelnen Stücke zu verkaufen. Aber was nützen die schönsten Absichten, wenn etwas dazwischenkommt? Vor drei Monaten wurde Leather auf einer Pariser Straße von einem Auto überfahren und erlitt schwere innere Verletzun gen, denen er drei Tage später in einem Pariser 224
Krankenhaus erlag. Während dieser Zeit wich eine ihm offenbar sehr zugetane Frau nicht von seinem Bett -« »Mrs. Audry Leather«, warf ich ein. »Nein«, entgegnete Forbes. »Das stimmt nicht. Es war ein Mädchen namens Diana Simmonds.« »Diana Simmonds! Das ist ja das Mädchen, das ermordet in der Abfalltonne des Pariser Hauses gefunden wurde, in dem wir wohnten!« »Richtig. Und nun das Interessanteste -« Forbes hielt inne, weil das Telefon klingelte. Ich ging hin und nahm den Hörer auf. »Temple.« »Hier spricht der Empfangschef, Mr. Temple. Ein Mr. Leyland ist hier und möchte Sie sprechen.« »Was? Er ist hier im Hotel?« »Ja, Mr. Temple.« »Sagen Sie ihm bitte, er möchte heraufkommen.« »Sehr wohl, Mr. Temple.« Während der knappen Minute, die Leyland unge fähr brauchen mochte, um mit dem Lift in die dritte Etage zu kommen, informierte ich Sir Graham in kurzen Zügen, wie dieser Mann in die Sache paßte. Ich wollte eben die Zimmertür aufschließen, als ich von draußen das vertraute Geräusch der sich öffnen den Lifttüren vernahm. Fast unmittelbar danach erkannten wir beide, Sir Graham und ich, einen Ton, den niemand vergißt, der ihn einmal gehört hat - das trockene Husten einer Pistole mit Schalldämpfer. Es 225
dauerte vielleicht eine Sekunde, bis wir den Zusam menhang begriffen, und weitere zwei oder drei Sekunden, bis ich die Tür aufgeschlossen und geöff net hatte. Nahe dem Lift lag Sam Leyland gekrümmt am Boden, mit einer Hand nach seinem Rücken tastend. Die Lifttüren schlossen sich mit leisem Fauchen; ich konnte nicht mehr sehen, wer in der Kabine war. »Telefonieren Sie zum Foyer«, rief ich zu Sir Gra ham zurück. »Wer mit dem Lift hinabkommt, muß festgehalten werden!« Ich eilte zu Sam Leyland, ließ mich neben ihm auf ein Knie nieder und sah zu meinem Erstaunen, daß er versuchen wollte aufzustehen. »Vorsichtig!« mahnte ich ihn. »Keine unnötige Bewegung!« »Kümmern Sie sich nicht um mich«, keuchte er. »Schnappen Sie diesen Bastard.« Ich eilte zurück zum Zimmer und prallte in der Tür mit Sir Graham zusammen. »Hab' beim Empfang Bescheid gesagt«, berichtete er. »Sie werden jeden festhalten, der aus dem Lift kommt.« Über seine Schulter hinweg sah ich den Telefonhö rer noch neben dem Apparat auf dem Tisch liegen. »Helfen Sie mir, ihn hereinzuholen und auf mein Bett zu legen.« Gemeinsam trugen wir Leyland in das Zimmer und legten ihn auf mein Bett. Während Forbes ans Telefon 226
zurückkehrte, streifte ich Leyland die Jacke ab und riß ihm das Hemd am Rücken auf. Der Einschuß befand sich unmittelbar unterhalb seiner linken Rippenpartie. Die Kugel hatte wahrscheinlich seine linke Niere getroffen. »Die Schweine müssen es besser machen, wenn sie Sam Leyland stoppen wollen«, knurrte mein Patient. »Der Feigling hat mich in den Rücken geschossen!« »Sahen Sie, wer es war?« »Nein. Aber bestimmt einer von Rostands Schur ken. Oh, ich möchte mal drei Minuten allein mit Rostand im Boxring stehen. Au, verdammt -« Er hatte versucht, sich herumzudrehen, es aber schnell wieder unterbrochen. Sir Graham legte den Telefonhörer auf. »Der Lift ist nicht bis zum Parterre hinabgefahren«, sagte er. »Unser Mann muß in der zweiten oder in der ersten Etage ausgestiegen und über die Feuertreppe oder durch den Hinterausgang entkommen sein. Das Hotel telefoniert nach einem Rettungswagen und mit der Polizei. Wie geht's dem Patienten?« »Nicht so schlecht«, keuchte Leyland. »Bin viel leicht auf die Bretter gegangen, aber noch nicht k. o. Komische Sache, wissen Sie - es schmerzt gar nicht sehr. Ein bißchen so, als habe mir ein ziemlich matter Gaul einen Hufschlag in den Rücken versetzt. Aber merkwürdig kalt ist mir.« »Das kommt von dem Schock. Wenn er abklingt, werden Sie die Kugel spüren.« 227
»Mr. Temple -« »Ja?« »Ich kam hierher, um Ihnen was zu sagen. Das paßt denen nicht, aber deswegen sag' ich's verdammt doch. Wenn Sie Ihre Frau wiedersehen wollen, geben Sie Rostand die Brille.« »Haben Sie Steve gesehen? Wissen Sie, wo sie ist?« In meiner Erregung packte ich ihn fester beim Arm, als ich es beabsichtigte. Er machte einen lahmen Versuch, meine Hand abzuschütteln, und sagte, als ich wieder losließ: »Nee, mein Freund, ich weiß nicht, wo sie sie jetzt versteckt halten. Aber ich weiß, daß sie lebt und daß man ihr kein Haar gekrümmt hat. Was mehr ist, als sich von der armen Audry Bruce sagen läßt. Diese Sache hat mich abspringen lassen. Mord liegt nicht auf meiner geschäftlichen Linie.« »Welches ist Ihre geschäftliche Linie, Leyland?« »Na, wissen Sie, ich hab ja schon allerlei gemacht. Aber dieses Angebot von Rostand war das beste, das ich jemals hatte. Eine Brille klemmen - viertausend Pfund!« »Wissen Sie, warum Rostand die Brille unbedingt haben will?« »Nee, mein Freund. Ich bin nicht dafür, zu viele Fragen zu stellen. Sagen Sie mal, würde es mir schaden, wenn ich eine Zigarette rauche?« Mit meiner Hilfe drehte er sich vorsichtig auf den 228
Rücken. Ich zündete eine Zigarette für ihn an und steckte sie ihm zwischen die Lippen. »Hat Ihnen Ihre Motorbootfahrt in der Bucht von Nizza Spaß gemacht?« fragte ich in beiläufigem Ton. »Das kam dicht an Mord heran, nicht wahr?« »Rostand hatte diese Idee, nicht ich«, antwortete Leyland kleinlaut. »Er dachte, Sie hätten die Brille an die Polizei abgeliefert und sollten dafür einen Denk zettel bekommen.« »Demnach war Rostand auch in Nizza? Erzählen Sie mir, Sam - was geschah wirklich in der Villa Negra? Warum wurde Thompson zusammengeschla gen und erschossen?« Leyland zog heftig an seiner Zigarette. Ich sah, daß die Wunde ihn zu schmerzen begann. Sein Gesicht nahm eine häßliche graue Farbe an, und seine Stimme kam immer stockender. Ich hoffte, der Rettungswagen würde bald eintreffen. »Will nicht direkt sagen, daß er verdient hatte, was er kriegte. Aber er war zu geldgierig. Einhundert Pfund, um sich als David Foster auszugeben! Nach dem er Sie im Hotel Aletti angerufen hatte, wollte er den Preis steigern. Rostand sah es anders.« Forbes hatte vom Balkon auf die Straße hinabgese hen. Aus der Art, wie er jetzt ins Zimmer zurückkehr te, erkannte ich, daß der Rettungswagen eingetroffen war. »Noch etwas, Sam. Habe ich recht mit der Vermu tung, daß Rostand und Schultz zusammenarbeiten?« 229
»Jetzt ja. Vor dem Abend, an dem Sie in der Villa Negra waren, kannten sie sich zwar, arbeiteten aber nicht zusammen, sondern waren, wie man im Ge schäftsleben sagt, eher Konkurrenten. Dann taten sie sich zusammen.« »Sahen Sie je etwas von Constantin oder O'Halloran oder einem gewissen Szoltan Gupte?« Sam Leyland runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern. Plötzlich ächzte er mit schmerzverzerr tem Gesicht: »Bei Gott, mir ist, als habe ich ein glühendes Messer im Rücken! - Nein, ich sah nie einen von ihnen. Nach der Art, wie Rostand über sie sprach, gehören sie zu einer anderen Bande.« Vom Etagenkorridor erklangen Stimmen und auch einiges Geklapper, als würde ein sperriger Gegenstand aus dem Lift geholt. Sam Leyland legte mir eine Hand auf den Arm. »Werden Sie bei der Polizei ein gutes Wort für Sam Leyland einlegen? Ich habe getan, was ich konnte, um Ihnen zu helfen.« Im nächsten Moment stürmte Renouk mit seinem Gefolge herein. Die Männer vom Rettungswagen transportierten Leyland ziemlich bald von dannen. Aber Renouk konnten wir erst loswerden, nachdem wir ausführlich unsere Wahrnehmungen bei dem Überfall auf Leyland berichtet hatten. Von den Informationen, die Leyland mir gegeben hatte, teilte ich ihm das mit, was ihm nützlich sein konnte. Mit einer gewissen Erleichterung sahen Sir Graham 230
Forbes und ich schließlich die Tür hinter dem letzten Polizeibeamten zugehen. »Die Dinge beginnen in Bewegung zu kommen«, sagte Forbes. »Ich denke, Renouk wird bald sein Netz auswerfen.« »Doch unserem Hauptanliegen sind wir noch nicht näher gekommen, Sir Graham.« »Steve? Nein, da haben Sie recht. Aber die Gegen seite muß bald einen Schachzug tun, das ist unver meidlich. Und welcher Zug das auch sein mag unsere Pläne stehen fest. Was Sie zu entscheiden haben, Temple, ist die Frage, ob Sie diesen Leuten die Brille gegen eine sichere Rückkehr Ihrer Frau überlas sen wollen.« »Das zu tun, bin ich nicht in der Lage, Sir Graham. Nicht vor zehn Uhr morgen vormittag. Die Brille liegt bei der hiesigen Filiale von Lloyds Bank in der Stahlkammer.« Sir Graham Forbes erlaubte sich die seltene Ge fühlsäußerung, einen leisen Pfiff ertönen zu lassen. »Das gibt den Dingen ein ganz anderes Aussehen. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?« »Das ist eine lange Geschichte«, warnte ich ihn. »Trotzdem möchte ich sie hören.« Ich gab also eine vollständige Schilderung alles dessen, was sich seit meiner ersten Begegnung mit Judy Wincott im Café Fouquet in Paris zugetragen hatte. Sir Graham hörte aufmerksam zu, ohne ein einziges Mal zu unterbrechen, und machte sich 231
gelegentlich Notizen. Als ich geendet hatte, ging er mit mir die Liste der notierten Fragen durch, um die Einzelheiten zu klären, über die er im Zweifel war. Schließlich sagte er: »Nun ist alles klar, denke ich. Und ich stimme mit Ihrer Vermutung überein, wel ches unter den gegebenen Umständen Rostands nächster Schachzug sein wird. Nun, ich habe meine eigenen Ideen, Temple. Aber in Anbetracht der Tatsache, daß Steve das Pfand ist, denke ich, es liegt an Ihnen, vorzuschlagen, was getan werden soll.« »Gut«, erwiderte ich und breitete den Stadtplan von Tunis aus, den ich an Bord der Jacht gefunden hatte. »Hören Sie, was ich vorschlage. Meine Ansicht ist, daß die roten Kreise auf dem Stadtplan die verschie denen Gebäude bezeichnen, an denen die Bande interessiert ist. Zum Beispiel sind dieses Hotel und das ›Haus künstlerischer Raritäten‹ rot umkreist. Die Kreuze zeigen an, wo gewisse Dinge passieren sollten oder passierten. Ich glaube, das Kreuz in der Avenue de Rome markiert zum Beispiel die Stelle, an der Steve entführt wurde.« »Ich schließe mich Ihrer Meinung an. Wäre es nicht ratsam, die Polizei zu bitten, sich unverzüglich mit allen diesen Gebäuden zu befassen?« »Mit Steve in einem dieser Gebäude?« Forbes gab durch eine Kopfbewegung zu verstehen, daß er meinen Einwand anerkannte. »Nein«, fuhr ich fort. »Mein dringlichstes Verlan gen ist, dorthin zu gehen, wo Steve sich befindet, und 232
bei ihr zu sein, wenn der Ballon hochgeht. - Was würden Sie tun, Sir Graham, wenn Sie an Rostands Stelle wären?« Er räusperte sich zweimal und rieb sein Kinn. Dann befühlte er die linke Seitentasche seines Jacketts, und ich wußte, daß ich gleich wieder sein ganzes Zeremo niell mit der Pfeife erleben würde. »Nun«, sagte er nach kurzem Überlegen, »da ich an Rostands Stelle - Ihnen im Hotel Tunesia begegnet bin und weiß, daß die Polizei binnen kurzem ganz Tunis auf den Kopf stellen dürfte, würde ich befinden, daß unverzüglich etwas zu geschehen hat. Da ich Ihre Nerven hinreichend strapaziert habe, würde ich wissen, daß Sie sehr zappelig sind. Ich würde bis in die frühen Morgenstunden warten, wenn die Moral eines Mannes am tiefsten steht, und Sie dann unter Druck setzen.« »Und wie würden Sie das tun? Telefonisch?« »Ja. Aber ich würde wissen, daß jeder an Sie ge langende Anruf von der Polizei zurückverfolgt werden kann. Ich würde Sie also aus einer abgelege nen Telefonzelle anrufen und Ihnen sagen, daß, wenn Sie Ihre Frau lebendig wiedersehen wollen, Sie sich lieber schleunigst mit der Brille an einem von mir benannten Punkt einzufinden hätten.« »Das ist es, was ich auch denke. Und wenn dieser Anruf kommt, werde ich zweifellos sehr schnell handeln müssen. Ihnen wird es überlassen bleiben, den Gegenangriff zu organisieren. Wenn Sie den 233
Anruf zurückverfolgt haben, können Sie auf dem Stadtplan die Lage der Telefonzelle feststellen und entscheiden, bei welchem der markierten Häuser Sie Ihr Glück versuchen wollen. Aber ich verlasse mich darauf, daß Sie Renouk von der Veranstaltung eines Artillerieduells abhalten werden -« »Sie gehen ein großes Risiko ein«, unterbrach For bes nachdenklich. »Noch etwas. Dürfte unser Freund Rostand nicht ziemlich rauh werden, wenn er findet, daß Sie mit leeren Händen gekommen sind?« Ich antwortete nicht, sondern sah Sir Graham fra gend an. »Was gucken Sie so?« »Sir Graham -« »Ja?« »Wäre es Ihnen sehr unangenehm, sich für einige Zeit von Ihrer Brille zu trennen?« Er schaute mich noch sehr verwundert an, als das Telefon klingelte. Wir beide sahen schnell zu dem Apparat. Dann ging ich hin, um das Gespräch anzu nehmen. Ich hatte im Lauf des Tages so viele Anrufe bekommen, daß ich mir einzureden versuchte, dieser hier sei nicht der entscheidende. Aber als ich den Hörer aufnahm, war er wie ein lebendiges Etwas in meiner Hand. »Temple.« »Hören Sie, Temple. Sie wollen Ihre Frau wieder sehen - lebendig?« »Ja.« 234
»Dann hören Sie aufmerksam zu, und befolgen Sie meine Instruktionen schnell und genau.« Die Stimme klang gedämpft und so tief, als spreche der Anrufer durch ein Taschentuch und mit absichtlich veränderter Tonlage. »Sie werden die ganze Zeit beobachtet. Falls Sie versuchen, uns zu täuschen oder irgendwie Kontakt mit der Polizei aufzunehmen, wird Ihre Frau im Sterben liegen, wenn Sie zu ihr kommen. Haben Sie mich verstanden?« »Ja. Weiter.« »Haben Sie die Brille bei sich?« »Ja.« »Ich hoffe, Sie sagen die Wahrheit. Innerhalb zehn Sekunden nach Ende dieses Gesprächs werden Sie Ihr Hotelzimmer und innerhalb weiterer dreißig Sekunden das Hotel selbst verlassen. Gegenüber dem Hotel auf der anderen Straßenseite wartet ein Taxi. Da steigen Sie ein. Verstanden?« »Ja.« »Demnach haben Sie vierzig Sekunden von jetzt an.« Es klickte in der Leitung, und die Verbindung war beendet. Ich beobachtete den Sekundenzeiger meiner Uhr. »Die Stimme habe ich nicht erkannt«, sagte ich schnell zu Sir Graham. »Ich muß mich sehr beeilen. Leihen Sie mir bitte Ihre Brille?« Etwas traurig dreinblickend, gab Forbes sie mir. Mit ihrem starken Rahmen und den breiten Seitenste 235
gen sah sie der anderen Brille verblüffend ähnlich. Ich steckte sie hinter das Taschentuch in meiner äußeren Brusttasche. »Alles übrige liegt bei Ihnen«, sagte ich zu Sir Graham. »Viel Glück.« »Viel Glück für Sie, Temple«, erwiderte er, seine linke Hand auf meiner Schulter. Zwölf Sekunden nach Ende des Anrufes eilte ich in den Etagenkorridor hinaus. Dies bedeutete, daß ich auf meinem Weg zum Hotelausgang zwei Sekunden aufzuholen hatte. Daß mein unbekannter Anrufer meinte, was er gesagt hatte, war nicht zu bezweifeln. Rostand war gründlich genug, um die kürzestmögli che Zeit erprobt zu haben, in der man von der dritten Etage zum Hotelausgang gelangen konnte. Da der Lift im Erdgeschoß stand, mußte ich die Treppe benutzen. Ich sprang immer vier Stufen auf einmal hinab. Ich hatte noch acht Sekunden Zeit, als ich das Erd geschoß erreichte. Das Foyer war jetzt verlassen, aber da das ›Concorde‹ einen Vierundzwanzig-StundenService bot, weilte ein Hotelbediensteter hinter dem Empfangstisch. Er staunte nicht schlecht, als er mich durch das Foyer spurten sah. Vor der gläsernen Drehtür mußte ich mein Tempo mäßigen. Da hörte ich ihn rufen: »Mr. Temple! Oh, Mr. Temple!« Ich ließ es unbeachtet. Einen Moment lang blieb ich unter dem Baldachin stehen, der vom Hotelausgang bis zur Bordschwelle 236
reichte. Ich hatte genau vierzig Sekunden gebraucht. Die Straße war keineswegs völlig verlassen; in den Cafés brannte noch Licht, und auf den Gehsteigen tummelten sich verhältnismäßig viele Leute. Tunis war um diese nächtliche Stunde längst nicht so tot wie zum Beispiel London. An dem Taxiplatz unfern des Hotels warteten vier oder fünf Taxis. Und auf der anderen Straßenseite sah ich das angekündigte Taxi stehen. Das Gesicht des Fahrers war mir zugewendet. Als ich mich seinem Taxi näherte, griff er mit einer Hand nach hinten und öffnete die rückwärtige Tür. Kein Wort wurde gewechselt, als ich einstieg und die Tür hinter mir schloß. Der Motor des Taxis lief bereits. Der Fahrer brauchte nur noch in den ersten Gang zu schalten und abzufahren. Es überraschte mich, daß ich sehen durfte, wohin die Fahrt ging. Das Taxi brachte mich in nördlicher Richtung durch ein Gewirr kleiner Straßen, deren letzte in einen breiten Boulevard mit Mittelpromenade mündete. Nachdem wir diesen Boulevard, auf dem gar kein Verkehr mehr herrschte, ein Stück entlanggefahren waren, lenkte der Fahrer das Taxi an die Bordschwelle und stoppte. »Hier steigen Sie aus«, sagte er zu mir. »Gehen Sie in der Fahrtrichtung weiter. Halten Sie sich nahe der Bordschwelle. Sie dürfen weder stehenbleiben noch mit jemandem sprechen.« »Wieviel schulde ich Ihnen?« fragte ich beim Aus steigen. Er ging auf diesen Scherz nicht ein, sondern 237
knurrte ein Schimpfwort und fuhr los, um in der nächsten Querstraße zu verschwinden. Ich begann den anscheinend endlosen Boulevard entlangzugehen. Als ich ungefähr zehn Minuten gegangen war, bemerkte ich, daß ein Baum, den ich passieren wollte, von den Lichtern eines hinter mir näher kommenden Autos getroffen wurde. Dann sah ich auch, wie mein eigener Schatten immer dunkler wurde. Schließlich überholte mich, dicht neben der Bordschwelle und ziemlich langsam fahrend, ein großer amerikanischer Straßenkreuzer und stoppte ein paar Schritte vor mir. Die Tür zu den Fondsitzen ging auf, und eine Stimme sagte: »Steigen Sie ein.« Da der Straßenkreuzer ziemlich niedrig war, mußte ich zum Einsteigen Kopf und Schultern beugen und bekam im nächsten Moment einen weiten, rauhen Sack darübergestülpt. Zwei kräftige Hände zogen mich vorwärts und abwärts, zwei andere kräftige Hände drückten mich auf den Wagenboden. Ich hörte die Tür zufallen. »Versuchen Sie keinen Widerstand«, warnte eine gefährlich klingende Stimme. -»Bleiben Sie da, wo Sie jetzt sind.« Ich machte es mir so bequem wie möglich, befolgte die erhaltenen Anweisungen und spürte, wie der Wagen immer schneller fuhr. Es war gut, daß ich nicht versucht hatte, mich von Polizisten verfolgen zu lassen. Durch Rostands geschickte Entführungsme thoden wäre jeder Verfolger entdeckt worden. Meiner 238
Schätzung nach waren seit dem Anruf etwa zwanzig Minuten vergangen. Ich fragte mich, wieviel Glück Forbes mit der Feststellung haben mochte, woher der Anruf gekommen war. Mit dem Sack über dem Kopf fiel es mir schwer, zu schätzen, wie lange die Fahrt dauerte. Nach den vielen Kurven, die wir eine Zeitlang fuhren, war zu vermu ten, daß der Fahrer alles tat, um sich gegen etwaige Verfolgung zu schützen. Dann gab es einen so langen Abschnitt schneller Geradeausfahrt, daß ich fürchtete, wir wären auf irgendeiner Landstraße schon längst über die Grenzen des Stadtbezirkes von Tunis und damit des Stadtplanes hinaus, den ich Sir Graham Forbes gegeben hatte. Schließlich verminderte der Wagen sein Tempo und rollte über eine gewundene Straße mit Kopfstein pflaster. Nachdem er noch ein paar scharfe Wendun gen gemacht hatte, stoppte er. Ich hörte jemanden aussteigen, ein paar Schritte gehen und gegen ein hölzernes Tor klopfen, das gleich darauf entriegelt und geöffnet wurde. Der Wagen fuhr noch einmal zwanzig oder fünfundzwanzig Meter, dann kam er zu einem endgültigen Halt. Meine zwei Bewacher auf den Fondsitzen öffneten die Tür, und ich wurde buchstäblich hinausgereicht. Widerstand zu versuchen hätte keinen Sinn gehabt, denn die beiden neuen Händepaare waren nicht weniger kräftig als die, die mich in den Wagen gezerrt und zu Boden gedrückt hatten. Noch mit dem Sack über dem Kopf, wurde 239
ich, an beiden Armen gehalten, über eine kurze Treppe und durch einen Korridor in ein Zimmer geführt. Dort zog man mir den Sack vom Kopf. »Setzen Sie sich, Mr. Temple.« Die Stimme war gefährlich höflich; ich erkannte sie sofort als Rostands Stimme. Sehen konnte ich im ersten Moment so gut wie nichts, da meine Augen sich erst wieder an die Helligkeit gewöhnen mußten. Dann erkannte ich, daß ich in einem kleinen, halb als bequemes Büro, halb als Wohnraum eingerichteten Zimmer war. Hinter dem Schreibtisch saß Schultz. Diesmal war keine falsche Freundlichkeit in seinem Gesicht. Im Gegenteil, sein Ausdruck zeigte unver hohlene Feindseligkeit. Rostand befand sich an einem vorhanglosen Fenster, das direkt auf das Meer hinaus zusehen schien. Er saß in einer Haltung auf dem Fensterbrett, die mich vermuten ließ, daß er angetrun ken war. Er wirkte hochgemut und sehr zuversicht lich. Der dritte Mann, der in diesem Zimmer wartete, war so klein und unbedeutend, daß ich ihn zuerst gar nicht bemerkte. Er hockte auf einem Stuhl in einer Ecke wie ein verschrumpelter alter Mäuserich und beobachtete die Szene aus großen, sorgenvollen Augen. »Ich hoffe, Sie verlebten einen angenehmen Tag, Mr. Temple, und waren nicht allzu besorgt um Ihre Frau?« 240
»Ja, ich verlebte einen sehr interessanten Tag«, erwiderte ich. Wenn Rostand in der Stimmung war zu hänseln, dann sollte es mir recht sein. »Mr. Szoltan Gupte und Mr. O'Halloran erwiesen sich als äußerst gastfreundlich.« »O'Halloran?« rief Rostand aus. »Aber er ist doch gestern abend ermordet worden!« »Dann sollten Sie tatsächlich mal seinem Geist begegnen. Der ist so lebendig, daß selbst Mr. Szoltan Gupte darauf hereinfiel. Sogar Whisky konnte er trinken, dieser Geist, und Zigaretten rauchen.« Rostand sah schnell zu Schultz und dann wieder zu mir. »Temple, Sie lügen! Die Polizei sucht O'Hallorans Mörder.« »Tut mir leid, daß Sie mir nicht glauben. Ich könnte Ihnen sonst einige andere nützliche Sachen erzählen.« »Welche denn?« »Zum Beispiel, daß Sie einen großen Fehler ge macht haben, indem Sie Audry Bryce umbrachten. Das hat den guten Sam Leyland veranlaßt, zum Zeugen der Anklage zu werden.« Schultz schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Hören Sie mit diesem albernen Geschwätz auf, Pierre.« Er sah zu mir. Seine blauen Augen wirkten un barmherzig. »Ich hoffe, Sie waren nicht so töricht, irgendwelche Tricks zu versuchen. Haben Sie die Brille mitge bracht?« 241
»Ja.« »Dann geben Sie sie her.« »Nicht, ehe ich meine Frau sehe.« Schultz lachte höhnisch. »Sie armer Narr. Begreifen Sie nicht, daß Sie in unserer Gewalt sind? Wenn Sie die Brille bei sich haben, können wir sie Ihnen einfach wegnehmen.« Da die zwei Gorillas, die mich hereingeführt hatten, dicht hinter mir standen, leuchtete mir das ohne weiteres ein. Ich zog die Brille aus meiner Brusttasche und gab sie Schultz. Schultz und Rostand, der eigens deswegen zu Schultz hinüberging, betrachteten sie sorgfältig. »Ich hoffe zu Ihrem Heil, daß dies die richtige Bril le ist«, sagte Schultz zu mir. Dann wandte er sich an den kleinen Mann, der ängstlich auf seinem Stuhl in der Ecke hockte. »Kommen Sie, Armand, Sie können jetzt an die Arbeit gehen.« Armand bückte sich, um den schwarzen hölzernen Kasten aufzuheben, der zwischen seinen Füßen stand. Schultz nickte meinen Bewachern zu. »Gut. Ihr könnt ihn zu seiner Frau führen.« Wieder wurde ich bei den Armen gepackt, durch dieselbe Tür geschoben und zum entfernten Ende desselben Korridors geführt, durch den ich hereinge kommen war. Ich hatte den Eindruck, daß dieser ziemlich lange Korridor in seinem rückwärtigen Teil schon durch eine Art Souterrain führte; das Haus, in dem ich mich befand, stand offenbar an einen Hügel 242
gelehnt. Am Ende des Korridors war eine Tür, die sich auf eine abwärtsführende Treppe öffnete. Diese brachte uns vor eine schwere Plankentür mit altertümlich massivem Schloß. Einer meiner Bewacher drehte den Schlüssel und öffnete die Tür; der zweite beförderte mich mit einem kräftigen Stoß in den Rücken hin durch. Ich hörte, wie hinter mir die Tür mit erhebli chem Krach wieder zugemacht und der Schlüssel herumgedreht wurde. Der Raum war so finster, daß ich nicht wagte weiterzugehen, ehe meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann hörte ich eine vertraute Stimme. »Paul! Haben sie dir etwas getan?« Ich machte zwei Schritte vorwärts und begann zu fallen, als ich unverhofft zwei weitere Stufen hinab stolperte. Glücklicherweise war Steve mir entgegen gelaufen und fing mich auf. Wir hielten uns ein paar Sekunden lang fest um armt. Dann sagte ich: »Nein, mir ist nichts geschehen. Aber viel wichtiger - haben sie dir etwas getan?« »Nein, nichts - abgesehen davon, daß sie mich zwangen, mit einem stinkenden alten Sack über dem Kopf auf dem Fußboden eines Autos zu liegen. Mein Hauptproblem war die Langeweile. Ich sitze seit ungefähr Mittag hier, ohne das geringste zu tun.« »Wo haben sie dich aufgegriffen? Irgendwo in der Avenue de Rome, nicht wahr?« 243
»Ja. Ich fiel auf einen sehr alten Trick herein. Ein Auto stoppte neben mir, der darin sitzende Mann sprang heraus und sagte, du hättest einen Unfall gehabt, und ich solle schnellstens in das Hotel zu rückkommen.« »Oh, Steve, ich dachte, dafür wärst du viel zu er fahren?« »Das dachte ich auch«, bestätigte sie leise lachend. »Aber als es wirklich passierte... Paul, was tust du hier? Haben sie dich auch entführt?« Meine Augen begannen sich an die Finsternis zu gewöhnen. Hoch oben in einer der Wände war ein schmales Fenster, durch das einige Sterne glitzerten. Die zwei Gorillas schienen das Licht über der Treppe draußen nicht ausgeknipst zu haben; jedenfalls schimmerte durch einen Spalt unter der Tür Helligkeit herein. »Nein, eigentlich bin ich einer Einladung gefolgt.« »Du willst sagen, du bist freiwillig in diese Schlan gengrube hereinspaziert? Natürlich bin ich froh, daß du jetzt bei mir bist, Paul. Aber du hast dir doch nicht die Brille von ihnen abnehmen lassen? Ich glaube, die Brille ist das einzige, was sie davon abhält, uns zu töten.« »Die Brille ist an einem sicheren Ort, von wo sie sie nie bekommen werden. Ich habe Schultz eine andere Brille gegeben. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie herausfinden, daß ich sie gefoppt habe. Danach dürften wir einiges sehr Unangenehmes 244
erleben, Steve.« Steve legte ihren Kopf an meine Brust und flüster te: »Ich werde alles leichter ertragen, da du jetzt bei mir bist.« »Ahnst du, in was für einem Verlies wir uns hier befinden? Gibt es in diesem Raum keine Beleuch tung?« »Doch, eine oder zwei Glühlampen an der Decke. Aber der Schalter ist draußen neben der Tür. Verrät dir nicht der Geruch, was für ein Raum dies sein könnte?« Ich schnüffelte in die Dunkelheit. In der Luft hing ein Geruch, der irgendwie an eine Weinkneipe erinnerte. Trotz der Finsternis glaubte ich die Umrisse zweier großer Weinfässer zu erkennen. Ich ging hin, um mich zu überzeugen. An der Wand neben den Weinfässern waren Metallregale mit Reihen über Reihen liegenden Weinflaschen. »Es ist ein Keller«, sagte Steve. »Trotzdem kann man durch die Fenster die Sterne sehen.« »Ich nehme an, das Haus über uns ist auf einem Hügel errichtet. Der Hügel dürfte direkt ins Meer abfallen. In dem Zimmer, wo ich mit Schultz und Rostand sprach, konnte ich deutlich das Plätschern der Wellen hören.« »Hier kann man es auch hören«, bestätigte Steve. »Das Fenster dort drüben wird uns zur Flucht nicht nützen. Es ist von außen mit einem starken Gitter gesichert. Aber unter ihm steht eine Bank, falls du 245
dich hinsetzen möchtest.« Wir gingen Hand in Hand zu der Bank und setzten uns. »Schade, daß wir nicht ein paar Gläser haben«, sagte ich. »Dann könnten wir wenigstens unser Wiedersehen feiern - soweit hier von ›Sehen‹ zu sprechen ist.« »Irgendwo ist hier ein Glas. Ich sah es, als noch Tageslicht war. Ich denke, ich kann es finden.« Steve begann auf Regalen herumzutasten, die ich kaum wahrzunehmen vermochte. Ich verwünschte es, daß ich meine Taschenlampe nicht mehr hatte. Vorhin, sobald ich in das Auto gezerrt worden war und mit dem Sack über dem Kopf am Boden hockte, hatten die offenbar sehr erfahrenen Hände der Entfüh rer meine Taschen abgetastet und herausgenommen, was des Herausnehmens wert war - ein kleiner beruflicher Nebenerwerb, wie es schien. Außer der Taschenlampe hatten auch meine Brieftasche, mein goldenes Zigarettenetui und mein ebenfalls goldenes Feuerzeug den Besitzer gewechselt. »Hier habe ich das Glas«, sagte Steve. »Es ist ein ziemlich großes.« »Fein. Wir werden es gemeinsam benutzen. Weißt du zufällig, wo sie den Champagner verwahren?« »Nein. Ich fürchte, dafür habe ich mich nicht inter essiert, solange ich hier allein war. Aber irgendwo muß Champagner sein.« »Himmel, Steve, jetzt fällt mir etwas ein! Warum 246
habe ich nicht früher daran gedacht? Wir müssen unter dem ›Trou du Diable‹ sein, dem Lokal von Schultz in Sidi bou Said! Es wäre in der richtigen Entfernung, und das Plätschern der Meereswellen paßt dazu.« Ich hatte mittlerweile den Weg zu den Flaschenre galen gefunden und begann, die Flaschen abzutasten. Ich äußerte mit gespielter Heiterkeit: »Da haben wir sie! Endlich mal wieder Glück!« Ich löste den Pfropfendraht von der gefundenen Flasche Champagner und öffnete sie. Es konnte uns nicht schaden, wenn unsere Gemüter ein wenig ermuntert wurden. Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, Sir Graham Forbes von dem ›Trou du Diable‹ zu erzählen. Die Chance, daß er uns auf gut Glück hier finden würde, war äußerst gering. Ich sah auf dem Leuchtzifferblatt meiner Arm banduhr, daß es eben zwei war, etwa fünfzig Minuten nach dem Eintreffen des Telefonanrufs. Ich nahm jetzt als sicher an, daß der Anruf aus der nächsten Nach barschaft des Hotels Concorde gekommen war und daß Sir Graham, hierdurch irregeführt, zur Zeit vielleicht schon die zweite oder dritte vergebliche Razzia gegen längst verlassene Schlupflöcher der Banditen unternahm. »Ich habe seit heute früh eine Menge herausgefun den«, sagte ich zu Steve. »Tatsächlich war es ein äußerst ereignisreicher Tag.« Ich erzählte ihr von den vielen Dingen, die mich 247
seit dem Vormittag beschäftigt gehalten hatten. Sie lebte merklich auf, als sie von Sir Graham Forbes' Eintreffen in Tunis erfuhr, und lauschte aufmerksam, als ich von dem Raub der Melrose-Juwelen berichtete. »Natürlich habe ich davon gelesen«, sagte sie. »Hat Sir Graham dir erklärt, welche Bedeutung die Brille bei dieser Sache hat?« »Ich fürchte, das war die eine Lücke in der sonst sehr vollständigen Schilderung, die er mir gab. Glücklicherweise konnte ich sie für ihn ausfüllen.« »Paul! Du meinst, du hast die Antwort längst ge wußt? Wie unfair von dir, sie mir zu verschweigen!« »Ich habe sie nicht längst gewußt, aber ich begann sie zu ahnen, als wir beide letzte Nacht über die Sache sprachen. Ich habe mir die Richtigkeit meiner Ahnung heute, oder richtiger gesagt gestern vormittag, bestäti gen lassen, als ich so unklug war, ohne dich aus dem Hotel fortzugehen.« Ich kehrte zur Bank zurück und fuhr fort: »Als die Bande beschloß, die Beute zu verstecken, war es Adrian Leather, ihr Chef und geistiger Führer, der diese schwierige Aufgabe verwirklichte. Er brachte den Schatz zu irgendeiner Stelle in der Wüste und vergrub ihn. Dann machte er eine genaue trigonome trische Berechnung des Ortes und verwandelte die erhaltenen Zahlen sehr sinnvoll in ein Brillenrezept, das bekanntlich ebenfalls aus Zahlen besteht. Nach dem die Brille mit den entsprechenden Gläsern angefertigt war, konnte er alle sonstigen Unterlagen 248
über das Versteck der Juwelen vernichten.« »Eine großartige Idee!« flüsterte Steve erregt. »Es scheint ausgeschlossen, daß ein Uneingeweihter dieses Geheimnis enträtseln könnte. Wie, um alles auf der Welt, bist du bloß darauf gekommen?« »Durch ein bißchen Glück, genaugenommen. Ich hatte den Schimmer einer Ahnung. Und dann geriet ich bei dem Versuch, ein neues Etui für die Brille zu kaufen, zufällig an einen ziemlich schwerhörigen alten Optiker. Als er mir statt des Etuis den Rat gab, meine Augen untersuchen zu lassen und mir anschlie ßend ein Brillenrezept überreichte, kam mir plötzlich Klarheit.« »Ich finde, wegen seiner Genialität hätte er eigent lich verdient, mit der Sache davonzukommen - dieser Adrian Leather, meine ich.« »Leather war ein bemerkenswerter Mann. Er hielt durch seine Überlegenheit die Bande zusammen. Nach seinem Tod wollte jeder von ihnen jedem anderen an die Kehle. Jeder dachte nur noch an sich.« »Wie viele waren sie denn? Rostand, Schultz, Ley land?« »Nein, Leyland gehörte nicht zu der ursprünglichen Bande. Er kannte nur Rostand und weiß nichts von dessen Beziehungen zu den anderen. Die Führungs schicht der Bande bestand aus Leather, Rostand, Schultz, Szoltan Gupte - er war der Hehler, der die Juwelen verkaufen konnte - und einer fünften Per son.« 249
»Einer Person, die wir noch nicht getroffen ha ben?« »Tatsächlich haben wir sie schon getroffen, aber ich glaube kaum, daß du darauf kämst, wer sie zur Zeit ist.« »Weiß ich ihren Namen?« »Gut genug - David Foster.« »Ah! Demnach existiert David Foster also doch?« »Auf eine Art, ja.« Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der alte Mann oben im Büro das Ergebnis seiner Untersu chung offenbaren würde. Vermutlich würden Rostand und Schultz dann recht bald erkennen, daß die Zahlen des Rezeptes für Sir Grahams Brillengläser keinen geographischen Sinn ergaben. »Wie geriet Judy Wincott in diese Sache?« fragte Steve. »Du kennst die alte Weisheit: ›Cherchez la femme.‹ In diesem Fall sollte es heißen: ›Cherchez les femmes.‹ Tatsächlich liefern die Frauen sozusagen den Schlüssel zu der Sache. Und -« Ich hielt inne. Auf der Treppe draußen erklangen Schritte, ein Schatten fiel über den Streifen Helligkeit unter der Tür. »Kopf hoch, Steve«, sagte ich. »Jetzt geht's los.« Der Schlüssel knarrte im Schloß, und die Tür wur de aufgestoßen. Die beiden Gorillas, die mich hier hergebracht hatten, kamen herein. Auf der Treppe stand Schultz. 250
»Nach oben mit ihnen!« kommandierte er. »Beeilt euch!« »Los, los, Mann«, knurrte mich der größere der Gorillas an. »Ein fauler Trick, und die Frau kriegt's in den Magen.« Mit dem unsympathischen Druck einer Pistolen mündung gegen mein Rückgrat stieg ich langsam die Treppe hinauf. Schultz war in das Büro zurückge kehrt. Er und Rostand standen hinter dem Schreib tisch, als wir ins Zimmer geschubst wurden. Ihre Gesichter zeigten, daß die Wahrheit herausgekommen war. Forbes' Brille lag auf der weißen Löschpapierun terlage des Schreibtisches. Der ängstliche alte Mäu semann war verschwunden. Rostands Miene zeigte denselben entnervenden Ausdruck wie an dem Abend in der Villa Negra. Schultz war vor Wut fahlbleich geworden. »Haltet seine Arme!« zischte Rostand den Bewa chern zu und stürmte mir entgegen. Wehrlos mußte ich seine Faustschläge hinnehmen. Obwohl ich bei jedem Schlag meinen Kopf in den Nacken warf, spürte ich bald, daß mir Blut übers Gesicht lief und schmeckte es auch im Mund. Als er sah, daß seine eigenen Handknöchel zu bluten begonnen hatten, hörte er plötzlich auf, mich zu schlagen. »Ist auch genug, Pierre«, hörte ich Schultz sagen. »Wir haben keine Zeit mehr für Spiele.« Er hatte Steve gepackt und ihr den rechten Arm auf den Rücken gedreht, als sie mir zu Hilfe kommen und 251
sich auf Rostand stürzen wollte. Er hielt sie mühelos mit einer Hand. Sie gab keinen Laut von sich, war aber ganz bleich geworden. »Mr. Temple«, sagte Schultz mit gefährlicher Höf lichkeit. »Wir haben eine Menge Zeit verschwendet. Ich bitte Sie, uns die Wahrheit nicht länger vorzuent halten. Wo diese Brille ist, erfahren wir schließlich doch.« Er drückte Steves freie Hand mit dem Handrücken nach unten flach auf den Schreibtisch. »Pierre«, fragte er, »deine Pistole hast du doch bei dir?« Rostand zog eine Beretta hervor und blickte, auf sein Stichwort wartend, begierig zu Schultz. »Mr. Temple«, wandte sich Schultz wieder an mich, »Sie wissen wohl, daß Schüsse durch die Hand zu den schmerzhaftesten Verletzungen gehören? Ich zähle jetzt bis fünf, und dann drückt Pierre den Abzug. Eins - zwei -« Natürlich wußte ich, daß Schüsse durch die Hand besonders schmerzhaft sind. Ich spürte, wie mir am ganzen Leibe der Schweiß ausbrach. Die Pranken, die mich hielten, hatten ihre Griffe verstärkt. »- drei - vier -« »Halt, ich will reden«, sagte ich. »Die Brille ist in der Stahlkammer von Lloyds Bank in Tunis.« »Wie können wir wissen, daß Sie die Wahrheit sagen?« »Die Depotquittung ist in meiner Brieftasche. Aber 252
einer Ihrer Gorillas hat mir die Brieftasche fortge nommen.« Rostands Pistole war aus geringer Entfernung noch auf Steves Hand gerichtet. Schultz zeigte keine Überraschung, daß mir die Brieftasche gestohlen worden war. Er blickte nur auf und fixierte meine beiden Bewacher. Einer von ihnen überreichte ihm daraufhin unverzüglich und mit fast demütiger Bewegung die Brieftasche. Schultz hatte Steves auf den Schreibtisch gedrückte Hand losgelassen, um die Brieftasche entgegenzunehmen und zu durchforschen. Das Geld war weg, aber die kleine Depotquittung von Lloyds Bank steckte noch im Fahrkartenfach. »Laßt ihn los«, kommandierte Schultz, »aber bleibt dicht hinter ihm.« Für mich fügte er hinzu: »Gehen Sie an den Schreibtisch, und schreiben Sie auf die Quittung: ›Bitte händigen Sie dem Überbringer den auf dieser Quittung bezeichneten Gegenstand aus.‹ Dann setzen Sie Ihre Unterschrift darunter.« Ich tat, wie er gesagt hatte. Ich zweifelte kaum daran, daß ich Steves und mein eigenes Todesurteil ausschrieb, aber ich hätte es niemals über mich gebracht, mit anzusehen, wie Steve durch die Hand geschossen wurde. Ich schob die Quittung zu Schultz hinüber. Er und Rostand studierten sie. »Wird das funktionieren?« fragte Schultz seinen Partner. »Sicher«, bestätigte Rostand. »Man kennt mich bei Lloyds. Es wird keine Schwierigkeiten geben. Aller 253
dings müssen wir bis zehn Uhr vormittags warten, das ist alles.« »Inzwischen können wir auf die Jacht gehen. Ich finde, wir sind sowieso schon lange genug hier. Je früher wir aufbrechen, um so besser.« Sie sprachen miteinander, als ob Steve und ich nicht mehr existierten. Rostand sagte: »Vergewissere dich, daß du hier nichts Wichtiges zurückläßt.« »Das habe ich schon getan«, erwiderte Schultz, wobei er nochmals schnell ringsum schaute. Seit er Steve losgelassen hatte, wurden wir beide durch die Gorillas bewacht, deren Pistolen ständig auf unsere Magenpartien gerichtet blieben. »Gehen wir also«, schlug Rostand vor. An der Tür blieb Schultz stehen und drehte sich zu mir um. »Es war mir eine Freude, Ihnen persönlich zu be gegnen, Mr. Temple. Habe ich Ihnen gesagt, daß ich einige Ihrer Bücher kenne? Sie alle haben ein HappyEnd. Ich bedauere sehr, daß ich Ihnen so etwas bei der gegenwärtigen Sache kaum versprechen kann.« Sein Ton wurde ganz anders, als er sich auf franzö sisch an die beiden Bewacher wandte. »Ich lasse euch hier, damit ihr über sie verfügt. Ihr wißt, was ihr zu tun habt.« Die Gorillas nickten; hinter Schultz und Rostand fiel die Tür zu. »Ich denke, er meint, wir sollen Sie ins Meer 254
schmeißen«, brummte der größere der Bewacher seinem Gefährten zu, als draußen die Schritte ver klangen. »Na, eigentlich können die beiden auf ihren eigenen Füßen zur Luke laufen, statt daß wir sie tragen müßten.« Er wandte sich an mich. »Kommen Sie, Mann. Wenn ihr hübsch folgsam seid, können wir es nett und schnell für euch machen.« Ich wußte, daß Steve mich ansah, aber ich wagte nicht, ihrem Blick zu begegnen. Ich schämte mich zu sehr über mich selbst, weil ich einfach nicht wagte, wider jede bessere Einsicht irgendeinen Versuch zu unserer Befreiung zu machen. Mir fiel nichts ein, was ich noch hätte tun können. Halb unbewußt hörte ich das Zufallen der Haustür und dachte daran, daß Schultz und Rostand nun in das Auto steigen würden. Dann, plötzlich, kam ein neues Geräusch - das scharfe Bellen eines Revolvers, gefolgt von dem kurzen, bösartigen Feuerstoß einer Maschinenpistole. Unsere Bewacher wandten ihre Nasen der Tür zu wie Vorstehhunde. An meinem eigenen Bewacher vorbei sprang ich den Mann an, der Steve bewachte. Als ich mit ihm zu Boden stürzte, dröhnte in nächster Nähe ein Schuß. Verzweiflung und Wut gaben mir übermenschliche Stärke. Ich riß den Kopf meines Gegners am Haar zurück und schlug ihn hart auf den Boden. Sein Körper wurde schlaff. Emporspringend sah ich Steve mit beiden Händen die Hand mit der Pistole des anderen Bewachers in die 255
Höhe drängen. Er war seltsamerweise auf ein Knie gesunken und leistete ihr nur matten Widerstand. Gemeinsam entwanden wir ihm die Pistole. Unmittel bar danach kippte er völlig um und griff nach seinem rechten Fuß. Aus dem aufgerissenen Schuh floß Blut. »Was ist geschehen?« »Er schoß sich vor Schreck selbst in den Fuß, als du an ihm vorübersaustest.« Draußen im Korridor erklang eine Anzahl Schüsse, gefolgt von dem Geräusch rennender Füße. Ich hörte Schultz' näherkommende Stimme schreien. »Ali! Toto! Die Fenster auf! Wir müssen die Klippe hinab!« Draußen dröhnten zwei weitere Schüsse, ein Mann schrie vor Schmerz. Schultz stieß die Tür auf und kam herein, den verwundeten Rostand mit sich schleppend. In furchtbarer Hast schloß und verriegelte er die Tür, während Rostand zu Boden sank. Als Schultz sich umdrehte, blickte er in die Mündungen der beiden Pistolen, die ich, in jeder Hand eine, auf ihn gerichtet hielt. »Lassen Sie Ihre Pistole fallen«, sagte ich und feu erte einen Schuß in den hölzernen Türrahmen neben seinem rechten Ohr, nur um ihm zu zeigen, daß ich auch mit der linken Hand zielsicher schießen konnte. Er ließ seine Pistole fallen. »Jetzt schließen und riegeln Sie die Tür wieder auf.« Schultz tat, wie ihm geheißen. Aus einem Augen winkel sah ich, wie Steve sich bückte und seine 256
Pistole aufhob. »Nun kommen Sie und stellen sich mit dem Gesicht zur Wand unter das hübsche Bild von Venedig.« Mit der Würde eines Mannes, der weiß, wie man auch vor einem überlegenen Gegner seine Haltung bewahrt, baute sich Schultz mit halb erhobenen Händen und dem Gesicht zur Wand unter dem recht beziehungsreichen Bild der weltberühmten Seufzer brücke auf. Rostand, dessen rechte Schulter böse von einem Schuß getroffen war, lag bewußtlos am Boden, wo ihm die beiden Gorillas Gesellschaft leisteten, der eine ebenfalls bewußtlos, der andere ausschließlich mit seinem verletzten Fuß beschäftigt. So fanden Sir Graham Forbes und Kommissar Re nouk uns versammelt, als sie die Tür aufstießen.
257
10
»Ich weiß noch immer nicht, wie Sie darauf kamen, daß wir im ›Trou du Diable‹ waren, Sir Graham. Sie müssen sehr schnell und scharfsinnig überlegt haben.« Wir drei - Steve, Sir Graham und ich - saßen in unserer Hotelsuite, jeder vor einer Tasse heißer Schokolade. Es war nach vier Uhr morgens geworden, ehe wir ins ›Concorde‹ zurückkehrten. Wir hatten gesehen, wie Schultz von einigen nicht allzu freundli chen Polizisten gefesselt und fortgebracht wurde, wie man den noch immer bewußtlosen Rostand auf eine Bahre packte und zum Rettungswagen hinaustrug; er starb übrigens vor Erreichen des Hospitals. Ali und Toto, die beiden gedungenen Bewacher, befanden sich im Gefängnislazarett, der eine wegen des durch schossenen Fußes, der andere mit einer schweren Gehirnerschütterung. »Ich kann nicht viel Ruhm dafür beanspruchen, Sie gefunden zu haben, Temple. Tatsache ist, daß ich völlig ratlos war. Die Zurückverfolgung jenes Tele fonanrufs ergab, daß er aus einer der Kabinen im Foyer dieses Hotels gekommen war. Ich stand prak tisch noch immer am Punkt Null.« Steve und ich lauschten Sir Graham mit dem woh ligen Interesse von Kindern, die sicher sein dürfen, daß die Geschichte gut enden wird. »Was taten Sie dann?« fragte Steve gespannt. »Nun, ich selbst hatte nichts mehr, worauf ich mich 258
stützen konnte, und, wissen Sie, ich wollte doch so gerne meine Brille wiederhaben.« Forbes lachte gemütlich. »Es lag also nahe, daß ich Renouk ver ständigte und dann sofort zu ihm ins Polizeipräsidium fuhr. Wir kamen schnell überein, daß wir nur die Wahl hätten, sämtliche auf dem Stadtplan markierten Häuser auszuheben, und wollten gerade die entspre chenden Befehle erteilen, als ein anonymer Telefon anruf kam.« »Ein anonymer Telefonanruf?« Steve und ich lachten. Wir hatten es wie aus einem Munde wiederholt. »Ja. Ein Unbekannter erkundigte sich bei Renouk, ob nicht die Polizei am Verbleib von Mr. und Mrs. Temple interessiert wäre, nannte dann prompt das ›Trou du Diable‹ in Sidi bou Said, vergewisserte sich, daß Renouk richtig verstanden hatte, und legte auf. Den Rest kennen Sie.« »Sprach er Englisch?« »Ja«, nickte Forbes. »Aber trotz Renouks Hinweis auf eine Belohnung beantwortete er die Frage nach seinem Namen nicht.« »Ich denke, damit kann ich Ihnen aufwarten, Sir Graham.« »Wirklich, Temple? Wie heißt er denn?« »David Foster. Genau wie Sie bangte er um seine Brille.« »Paul, ich finde, du machst es schrecklich geheim nisvoll«, protestierte Steve. »Dieser Fall ist doch jetzt 259
vorüber. Kannst du denn nicht sagen, wer David Foster ist?« »Oh, weißt du, der Fall ist noch nicht vorüber. Erst zwei von den führenden Leuten der Bande sind ausgeschaltet. Drei befinden sich noch auf freiem Fuß. Sie sind nicht weniger als Schultz und Rostand darauf versessen, die Brille an sich zu bringen. Und vergiß nicht den ungeklärten Mord an einer Bekannten von uns, der nach Sühne heischt.« »Du meinst Judy Wincott? Paul, wie paßt sie in diese Sache?« Ich sagte: »Ich glaube, ich habe dir vorhin erklärt, daß das Motto dieses Falles ›Cherchez les femmes‹ heißen sollte und daß die beteiligten Frauen sozusagen den Schlüssel zu der ganzen Sache liefern. Bitte, berichtigen Sie mich, Sir Graham, falls ich mich irre.« Forbes nickte schläfrig; er war offenbar sehr zufrie den damit, daß ich das Erzählen besorgte. »Noch ehe Adrian Leather starb«, fuhr ich fort, »hatte seine Frau ihn um Rostands willen verlassen was ihr jedoch nichts half, als Rostand sie nicht mehr brauchen konnte. Adrian Leathers neue Gefährtin war eine von zwei etwas fragwürdigen jungen Damen, die sorglos und voll Wonne in einem Kreis von Gentle menverbrechern lebten, denen sie hingebungsvoll und ihren Mitteln gemäß bei der Durchführung zwielichti ger Pläne halfen. Sie hieß Diana Simmonds, und ihre Freundin hieß Judy Wincott. Als Leather im Sterben lag, vertraute er Diana Simmonds sein Geheimnis an 260
und übergab ihr die Brille. Zuerst wollte Diana nicht recht glauben, daß die Brille wirklich solchen großen Wert besäße. Doch durch verschiedene beunruhigende Geschehnisse erkannte sie, daß es Leute gab, die vor nichts zurückschrecken würden, um die Brille zu bekommen. Sie wurde schließlich ängstlich und vertraute sich ihrer Freundin Judy Wincott an.« »Das alles geschah in Paris um die Zeit, als wir dort waren?« »Ja. Teils zu dieser Zeit, teils etwas früher. - Nun aber war Judy, was Diana nicht wußte, die heimliche Geliebte des zweitmächtigsten Mannes der Bande eines gewissen Edmund Webb. Dieser Webb arg wöhnte sofort nach Leathers Tod, daß Leather die Brille seiner neuen Freundin Diana Simmonds gegeben hätte. Da er die Brille unbedingt haben, aber selbst im dunkeln bleiben wollte, versprach er Judy Wincott fünftausend Pfund, wenn sie Diana Sim monds die Brille abschwätzen oder wegnehmen und nach Tunis schicken würde, wo er die Sendung unter dem Namen David Foster entgegenzunehmen gedach te.« »Demnach wäre es seine Idee gewesen, uns als Lieferboten zu benutzen?« »Vielleicht. Andererseits war Judy Wincott ein sehr gewitztes Mädchen. Vielleicht kam sie selbst auf den genialen Einfall.« Steve hielt es nicht mehr in ihrem Sessel aus. Sie stand auf und setzte sich zu mir auf das Sofa, wobei 261
sie eifrig fragte: »Was geschah an dem Abend, als Judy Wincott uns die Brille überbrachte?« Ich wandte mich an Forbes: »Das müßten Sie bes ser wissen als ich, Sir Graham. Können Sie es uns erzählen?« »Nun, es handelt sich größtenteils um Vermutun gen. Wir glauben, daß die Simmonds der Wincott heimlich zu Ihrer Wohnung folgte. Während sie unten wartete, wurde sie von jemandem überrascht und getötet, der sie im Besitz der Brille wähnte.« »Und Judy Wincott selbst? Wie kam sie nach Niz za? Weshalb wurde sie ermordet?« »Das ist noch ungeklärt«, erwiderte Forbes. »Mira bel arbeitet daran und dürfte das Rätsel bald lösen. Eine Zeitlang standen Sie selbst im Verdacht, Judy Wincott ermordet zu haben, Temple. Wußten Sie das?« »Ich merkte es wohl, und es war ein sehr unbehag liches Gefühl. Übrigens nehme ich jetzt an, daß jene liebenswürdige Charakterisierung nicht von Chefin spektor Vosper, sondern von Ihnen selbst stammte, Sir Graham - daß ich zwar die merkwürdige Begabung besäße, irgendwie in jede nur denkbare Art Unheil verwickelt zu werden, bisher aber noch nie solches Unheil verursacht hätte?« Forbes lachte leise und stand auf. »Ja, ich glaube, irgend so etwas habe ich zu Mira bel gesagt. Aber wissen Sie - mir scheint, es wird bald Tag. Und ich meine, Sie beide könnten etwas Schlaf 262
brauchen.« »Das meine ich auch.« Steve und ich begleiteten Forbes zur Tür. »Sir Graham«, begann ich verlegen. »Es ist eine ziemlich unbeholfene Art, dies zu sagen, aber - Danke für alles, was Sie für uns getan haben.« »Danken Sie nicht mir«, entgegnete Forbes heiter. »Danken Sie dem anonymen Anrufer. Und nun - gute Nacht, Temple. Gute Nacht, Steve.« Als die Tür sich schloß, stand Steve auf den Zehen wie eine Ballettänzerin und streckte beide Arme in die Höhe. »Ich habe noch gar keine Lust, zu Bett zu gehen«, verkündete sie. »Ich würde lieber tanzen oder irgend so etwas.« »Das kommt vom Champagner. Er ist dir zu Kopf gestiegen. Aber ich fürchte, wir müssen jetzt ans Schlafengehen denken. Weißt du - wir haben eine Verabredung zum Lunch.« »Oh, davon hast du mir noch gar nichts gesagt! Mit wem?« »Mit Tony Wyse und Simone Lalange.« »Fein! Das wird nett! Sie sind die beiden einzigen unserer Reisebekanntschaften, die uns nicht wegen dieser verwünschten Brille behelligt haben.« »Ja, so sieht es aus. Und wie Sir Graham bemerkte - wir sollten Mr. Wyse sehr dankbar sein.« »Oh, sagte Sir Graham das? Es muß mir entgangen sein. Warum verdient Wyse unseren Dank so sehr?« 263
»Weil er der anonyme Anrufer war.« Unsere kleine Lunchgesellschaft wurde sehr unter haltend. Wyse war in ausgezeichneter Stimmung und beglückwünschte Steve mehr als einmal, dieser schrecklichen Gefahr entronnen zu sein. Sie war erfahren genug, um den anonymen Anruf nicht zu erwähnen. Wir drei saßen bei Cocktails in der Bar, bis Simone Lalange erschien. Wie die meisten attraktiven Frauen verließ sie sich darauf, daß ihr die Verspätung verziehen werden würde, und so war es auch. Wyse bestand auf noch einer Runde Drinks. Er war offenbar bis über beide Ohren verliebt in die reizvolle Franzö sin und ließ es geschehen, daß sie ihn in charmant überlegener Art förmlich zum Narren machte. »Allmählich sollten wir doch in den Speisesaal gehen«, sagte ich nach einiger Zeit. »Oder wir riskie ren, daß alle guten Dinge aufgegessen sind.« Als wir die ersten drei Gänge verzehrt hatten, war der Speisesaal fast leer. Während der Kellner sich entfernte, um unsere Desserts zu holen, erinnerte mich Wyse an mein Versprechen, ihm die berühmte Brille zu zeigen. »Ach ja. Das hätte ich fast vergessen.« Einmal mehr zog ich die Brille aus meiner Brustta sche. Simone Lalange saß links von mir; ihre sehr elegante große Handtasche hielt sie merkwürdiger weise auf dem Schoß. Ihr gab ich die Brille zuerst. »Sie werden es kaum glauben, Mademoiselle La 264
lange, aber für diese Brille sind mir zehntausend Pfund geboten worden.« »Zehntausend Pfund?« rief sie aus. »Oh, Mr. Tem ple, ich glaube, Sie treiben Spaß mit mir!« »Nein, es ist wirklich wahr.« »Dann muß es eine magische Brille sein, und wenn man hindurchschaut, ist alles schön und wunderbar. Darf ich versuchen, wie Tony Wyse dann aussieht?« Sie setzte die Brille auf und blickte mit gespielter Ernsthaftigkeit zu Wyse, der ihr gegenübersaß. Nach wenigen Sekunden verdrehte sie die Augen und tat, als erschaudere sie. »Oh, es ist, als ob man unter Wasser taucht! Und Tony Wyses Anblick wird dadurch nicht vorteilhafter. Tut mir leid, Mr. Temple, aber ich glaube nicht, daß ich Ihnen zehntausend Pfund dafür bieten kann.« Wyse lachte, und Simone gab die Brille zu Steve hinüber. »Wollen Sie sie ausprobieren, Mrs. Temple?« Sie blinzelte mir anscheinend verworfen zu und machte dies so echt, daß Wyse vor Eifersucht zu erbleichen begann. »Wenn ich Paul ansehe, pflege ich ohnehin immer eine rosarote Brille aufzuhaben«, lachte Steve. »Möchten Sie einen Versuch machen, Mr. Wyse?« Sie hielt Wyse die Brille hin. Er lächelte sehnsüch tig zu Simone hinüber, als er nach der Brille griff, und achtete nicht sehr darauf, was er tat. Kein Wunder, daß ihm die Brille aus den Fingern rutschte und zu 265
Boden fiel. »Oh, wie ungeschickt von mir!« rief er, bückte sich und verschwand für einen Moment hinter dem Tisch. »Nichts passiert«, verkündete er, als er mit der Brille wieder auftauchte. »Gottlob hat sie keinen Schaden genommen.« Er betrachtete sie genau, schaute probeweise hindurch und erklärte dann: »Leider muß ich gestehen, daß ich etwas enttäuscht bin. Ich persönlich würde Ihnen raten, mit fünf Pfund zufrieden zu sein, Mr. Temple, falls Sie noch ein Angebot erhalten.« Lächelnd nahm ich die Brille zurück und steckte sie wieder in meine Brusttasche. Wyse hatte während des Essens recht munter ge trunken; als der Kaffee vor uns stand, wirkte er ziemlich aufgedreht. »Nehmen Sie Zucker, Mr. Wyse?« fragte ihn Steve. »Ja, bitte. Und ich wäre entzückt, wenn Sie aufhö ren könnten, mich mit Mr. Wyse anzureden.« »Oh, wie soll ich Sie sonst anreden?« »Vielleicht«, schlug ich vor, »versuchst du es mal mit David Foster?« Wyse ließ seine Hände sehr rasch auf die Tischkan te sinken und wurde ganz still. Fast eine halbe Minute verging, ehe er mich fragte: »Was, um alles auf der Welt, meinen Sie damit?« Ohne auf die Frage einzugehen, erkundigte ich mich: »Oder würden Sie es vorziehen, als Mr. Webb angesprochen zu werden?« 266
Wyse bewegte sich nicht, aber seine Gesichtszüge nahmen eine merkwürdige Härte an. Er sah plötzlich ganz anders aus als der freundliche junge Mann, den wir bisher kannten. »Habe ich recht, Mr. Temple, wenn ich vermute, daß dies eine Art Scherz sein soll?« »Nein. Es ist so wenig ein Scherz, wie zum Bei spiel Ihre Idee, die Brille durch uns von Paris nach Tunis bringen zu lassen. Oder hat Judy Wincott es Ihnen vorgeschlagen? Eine kluge Vorsichtsmaßnah me! Die tunesischen Zollbeamten schienen auf Sie gewartet zu haben, wie ich bemerkte. Sie überprüften Sie sehr gründlich, nicht wahr? Vielleicht hatten sie bereits eine Beschreibung von Edmund Webb.« »Mr. Temple, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.« Wyse hatte die Gewalt über seine Gesichtszüge zurückerlangt und stellte die gewohnte unbekümmert liebenswürdige Miene zur Schau. Vergessen hatte er allerdings seine Hände, die sich auf dem weißen Tischtuch in rascher Folge abwechselnd streckten und zu Fäusten ballten. Simone Lalanges Augen waren vor Verblüffung weit geöffnet; sie starrte bald diesen, bald jenen von uns völlig fassungslos an und machte auch dies sehr echt. »Ich denke, Sie wissen recht gut, wovon ich spre che. Wirkliche Vorwürfe gegen Sie hätte ich nicht, abgesehen von einer Sache. Steve und ich sind Ihnen dankbar für den Anruf bei Renouk heute nacht, obwohl wir natürlich wissen, daß Sie in erster Linie 267
von der Sorge getrieben waren, die Brille nicht in die Hände von Rostand oder Schultz fallen zu lassen. Ernstlich ist wohl kaum zu bestreiten, daß ein Mann wie Constantin zu sterben verdiente und für irgendei ne seiner zahlreichen Schurkereien früher oder später sowieso einen gewaltsamen Tod gefunden hätte. Und daß Sie den Unmenschen Sandro nicht noch viel härter schlugen, kann ich nur bedauern.« Wyse ignorierte mich und wandte sich höflich an Steve: »Verliert sich Ihr Gatte häufiger in solche Phantastereien?« »Was ich Ihnen aber nicht vergeben kann«, fuhr ich fort, »ist der Mord an Judy Wincott, Ihrer Geliebten. Warum haben Sie das getan, Webb? Entdeckte Judy den wahren Wert der Brille?« Jetzt stand Wyse mit solcher Vehemenz auf, daß die Beine seines Stuhles über das Parkett scharrten. »Ich habe unseren gemeinsamen Lunch bis jetzt als sehr nett empfunden«, bemerkte er würdevoll. »Aber ich denke, der Spaß beginnt nun einseitig zu werden. Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen -« »Einen Moment noch! Sie sagten, Sie wären ent täuscht von der Brille. Aber ich habe gesehen, daß Sie die Gelegenheit nutzten, die Brille unter dem Tisch gegen eine andere auszutauschen. Sie werden eine noch größere Enttäuschung erleben, wenn Sie heim kommen. Sie haben eine ganz gewöhnliche Brille erwischt. Die richtige Brille befindet sich in der Obhut von Kommissar Renouk und -« 268
Wyses Gesicht verzerrte sich. »Seien Sie verdammt, Temple!« schrie er und riß mit beiden Händen an der Tischkante. Der Tisch mit all seinen Gläsern und Tassen kippte klirrend und krachend um. Einen Sekundenbruchteil vorher hatte Simone Lalange fast melodisch aufge schrien und war sehr gewandt zur Seite gesprungen. Über den umgefallenen Tisch hinweg starrte Wyse zu Steve und mir. Er hatte eine Pistole aus der Tasche gezogen. »Wenn jemals einer es herausgefordert hat«, fauch te er, »dann Sie, Temple!« Ich sah, wie sich sein Zeigefinger um den Abzug krümmte. Im selben Moment machte das Dröhnen eines schweren Revolvers unsere Ohren taub. Die Pistole hüpfte aus Wyses Hand und fiel drei Meter weiter zu Boden. »Keine Bewegung!« sagte Simone Lalange scharf. Völlig verdutzt richtete Wyse seinen Blick auf sie. Sie stand jetzt in sicherer Entfernung von ihm nahe der Wand, die Füße einen halben Schritt weit ausein ander fest auf den Boden gesetzt. Ihre zarte rechte Hand, ruhig wie die Hand einer bronzenen Denkmals figur, hielt einen respekteinflößenden Revolver, aus dessen Mündung ein Rauchwölkchen in die Höhe stieg. Es war ein äußerst widerspruchsvoller Anblick diese elegante, hübsche junge Frau mit lackierten Fingernägeln, langen künstlichen Wimpern, dezentem Make-up, untadeliger Frisur, und die tödliche Waffe, 269
die sie mit so selbstverständlicher Sicherheit im Anschlag hielt. »Was -? Wer -? Wieso -?« Wyse konnte nur noch stammeln. Er schüttelte den Kopf wie ein Mann, der zu träumen glaubt. Ich sagte zu ihm: »Sie haben die Ehre mit Made moiselle Carriere von der französischen Kriminalpoli zei, die Ihnen seit Nizza auf der Spur ist. Nehmen Sie es nicht zu tragisch. Auch mich hat Mademoiselle Carriere lange genug gefoppt.« Wyse zog die nutzlose Brille aus der Tasche und warf sie in mattem Schwung zwischen die Scherben des Lunchgeschirrs. »Oh«, stöhnte er. »Seit dem Zwischenfall im ›El Passaro‹ hätte ich es wissen können. Nicht wahr, Mademoiselle, Sie haben diese bemerkenswerte Taschenspielerei vollbracht? Die Brille aus Temples Brusttasche in die Handtasche seiner Frau zu manipu lieren, meine ich?« Mademoiselle Carriere lächelte betörend und ent gegnete ganz unschuldig: »Ich glaube, ich erinnere mich an etwas dieser Art.« »Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem ich aufgebe«, äußerte Wyse erschüttert. »Ich habe begriffen...« Drei Tage später saßen Steve und ich in einem Flugzeug nach Mailand, wo wir in eine Kursmaschine nach London umsteigen wollten. Uns gegenüber saß ein Gentleman fortgeschrittenen Alters, in Aussehen 270
und Haltung der vollendete Typ eines pensionierten britischen Armeeoffiziers. Er hatte uns während des ganzen Fluges sorgfältig, wenn auch unaufdringlich gemustert und ganz gewiß aufmerksam zugehört, als wir davon sprachen, was wir nach unserer Ankunft in London tun würden. Als das Flugzeug vor der Landung in Mailand all mählich an Höhe verlor, beugte er sich über das Klapptischchen und sagte höflich zu Steve: »Ich hoffe, Sie entschuldigen, daß ich mir die Freiheit nehme, Sie anzusprechen, aber ich konnte beim besten Willen nicht überhören, was Sie und Ihr Gatte sagten. Sie fliegen direkt nach London weiter, nicht wahr?« »Ja, das tun wir.« Der alte Gentleman griff in seine Reisetasche und holte ein flaches viereckiges Päckchen heraus. »Darf ich Sie bitten, mir einen kleinen Gefallen zu tun? Ich habe unvorhergesehen einige Tage in Mai land zu verbringen und bin sehr besorgt darum, daß meine kleine Enkelin dieses Päckchen zum Geburts tag erhält. Der Geburtstag ist schon morgen. Und ich glaube nicht, daß es die Post noch schafft.« Steve sah zu mir, aber ich hob den Blick nicht von dem Buch, in das ich anscheinend vertieft war. Dann hörte ich sie mit fester Stimme sagen: »Oh, ich glaube nicht, daß ich es tun kann. Mein Mann und ich nehmen es peinlich genau mit den Zollvorschriften.« »Aber es ist nur ein Kinderbuch!« rief der alte Herr. »Ich werde es auswickeln und Ihnen zeigen.« 271
Er band die Schnur auf, entfernte das Papier und hielt ein Buch zu Steve hinüber. »Sehen Sie selbst - ›Alice im Wunderland‹. Nie mand könnte behaupten, es wäre Schmuggelware.« »Ich bedauere sehr«, antwortete Steve entschieden. »Ich kann es nicht tun. Wir kennen ein Ehepaar, das in ernste Schwierigkeiten geriet, weil es auch so ein kleines Päckchen gefälligkeitshalber durch den Zoll brachte.« Das Naserümpfen des alten Herrn zeigte deutlich, was er von uns dachte. »Nun«, murmelte er, als er das Buch wieder ein wickelte, »manche der jüngeren Leute dieser Epoche scheinen nicht bereit, einen Finger zu rühren, um anderen zu helfen. Zu meiner Zeit war das anders, ganz anders...«
272