Garma C. C. Chang
Die buddhistische Lehre von der Ganzheit des Seins Das holistische Weltbild der buddhistischen Philosophie
Otto Wilhelm Barth Verlag
1. Auflage 1989 Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Englischen von Ernst Schönwiese. Redaktion Adrian Leser. Titel der Originalausgabe: «The Buddhist Teaching of Totality». Copyright © 1979 by The Pennsylvania State University. Gesamtdeutsche Rechte beim Scherz Verlag, Bern, München, Wien, für den Otto Wilhelm Barth Verlag. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art sowie auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Schutzumschlag von Gerhard Noltkämper
Inhalt
Vorwort Einleitung
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Erster Teil: Der Bereich der Totalität Die Unendlichkeit des Buddhabereichs Ein Gespräch über die Totalität Nicht-Behinderung - der Schlüsselbegriff der Totalität Der Spiegelsaal des Fa-tsang Die Ursachen der Totalität Die Zehn Stufen der Erleuchtung eines Bodhisattva Die unbegreiflichen Dharmas der Buddhas Samadhi, Wunder und Dharmadhatu
29 42 48 54 58 61 82 85
Zweiter Teil: Die philosophischen Grundlagen des Hua-yen-Buddhismus Einleitung zum zweiten Teil I. Die Philosophie der Leere Shunyata - das Herz des Buddhismus Die Grundidee des Herz-Sutra Die Nicht-Selbst-Lehre und Svabhava-Shunyata Die Lehre von der Absoluten Leere Shunyata und Logik Der tiefe Sinn der Shunyata
91 92 97 111 128 145 162
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II. Die Philosophie der Totalität Gegenseitige Durchdringung und wechselseitige Identität die beiden Grundprinzipien der Hua-yen-Philosophie 167 Diskussion der wechselseitigen Identität 186 Die Philosophie der Vier Dharmadhatus 192 III. Die Nur-Geist-Lehre Der Geist und die äußere Welt Das Alaya-Bewußtsein und die Totalität
226 238
Dritter Teil: Eine Auswahl aus den Hua-yen-Schriften und die Biographien der Patriarchen Die Gelübde des Samantabhadra Ein Kommentar zum Herz-Sutra Die Meditation der Dharmadhatu Über den goldenen Löwen Die Biographien der Patriarchen
243 255 268 288 298
Epilog Anmerkungen Glossar Register
310 313 326 340
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Vorwort
Während meiner nun über ein halbes Jahrhundert währenden Verbundenheit mit dem Buddhismus habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: «Welche von allen buddhistischen Schulen - Hinayana, Mahayana und Tantra - enthält die höchsten Lehren des Buddhismus?» Meine Antwort ist heute klar und eindeutig: die Hua-yen-Schule Chinas. Die Hua-yen-Schule oder Hua-yen-tsung ist in der T'ang-Periode entstanden, ungefähr im 7. und 8. Jahrhundert, durch hervorragende Denker wie Tu-shun (557-640) und Fa-tsang (643-712). Das chinesische Wort hua-yen bedeutet «der Blumen-schmuck» oder «die Girlande», was ursprünglich der Name eines umfangreichen Mahayana-Textes war, des «Girlanden-Sutra» (Gandavyuha- oder Avatamsaka-Sutra). Die Lehren der Hua-yen-Schule basieren hauptsächlich auf diesem Text und sind von ihm inspiriert. Was sagt diese Schrift, und an wen ist ihre Botschaft gerichtet? Das Hua-yen-Sutra hat ein zentrales Anliegen: den Buddhabereich der Unendlichkeit zu zeigen. Seine Botschaft ist daher an jene gerichtet, die die ehrfurchtgebietende Unendlichkeit der Buddhaschaft erkennen, wie sie sich in Buddhas Erleuchtungserlebnis offenbart, das im ersten Kapitel kurz beschrieben wird. Es gibt, nach meinem besten Wissen, keine andere buddhistische Schrift, die höher zu stellen wäre als das Huayen-Sutra, was die Offenbarung der höchsten geistigen Eingebung und des tiefsten Geheimnisses der Buddhaschaft anlangt. Diese Meinung, glaube ich, wird von der Mehrheit der chinesischen und japanischen buddhistischen Gelehrten geteilt. Es ist daher kein Wunder, daß Huayen als die «Krone» aller buddhistischen Lehren 7
und als die Vollendung buddhistischen Erkennens und Denkens betrachtet wird. Inspiriert von der in diesem Sutra gegebenen Darstellung der alles umschließenden Totalität, haben die bahnbrechenden Hua-yen-Denker, besonders Meister Tu-shun, eine für ihre Zeit neue Methode buddhistischen Denkens entwickelt. Sie lehrten, daß die richtige Art des Denkens die Dinge in einer vielschichtigen oder ganzheitlichen Weise sieht. Nichts wird abgelehnt, weil es in der «runden» Totalität der Buddhaschaft keinen Raum für Widersprüche gibt; alle Unvereinbarkeiten kommen hier zur Harmonie. Diese ganzheitliche Denkweise wurde zuerst von Tu-shun in seinem epochemachenden Aufsatz «Über die Meditation der Dharmadhatu» eingeführt, der schließlich die Hauptquelle aller folgenden Hua-yen-Werke wurde. Hauptsächlich durch Tu-shuns große Einsicht, wie sie sich in diesem Aufsatz erweist, hat das «runde [allumfassende] Hua-yen-Denken» (Yüan-chiao-chien) erstmals Boden gefaßt. Zwei Generationen später systematisierte Fa-tsang die Lehre in seinen Schriften; er wird daher allgemein als der Begründer der Huayen-Schule betrachtet. Der Leser wird erkennen, daß Hua-yen eine Synthese aller wesentlichen Mahayana-Gedanken ist, eine Philosophie des ganzheitlichen Organismus. Die drei bedeutendsten Schöpfungen des Mahayana, nämlich die Philosophie der Totalität, die der Leere und die Nur-Geist-Doktrin, werden zu einer Einheit verschmolzen. Weit entfernt davon, ein künstliches Gebilde zu sein, ist die Hua-yen-Lehre ein «organisches Ganzes» aller wesentlichen Elemente des Mahayana-Buddhismus. Sobald man zum Hua-yen kommt, sieht man den Buddhismus in einem vollständig neuen Licht. Selbst die langweilige Nur-Geist-Lehre wird lebendig und bekommt Farbe. Das Alaya-Bewußtsein des Yogachara ist kein dummes und träges «Vorratshaus» mehr und das tyrannische kollektive Unbewußte C. G. Jungs kein unfaßbarer, archetypischer Bildprojektor. Im Hua-yen wird der «Universale Geist» einem ungeheuren Meeresspiegel verglichen, in dem die unendlichen Dramen des Universums spontan und gleichzeitig widergespiegelt werden. Die Nur-Geist-Lehre ist kein Einbahn-Projektor mehr, sondern wird zum Kaleidoskop vieldimensionaler wechselseitiger Projektionen, die einander gegenseitig durchdringen. Auch die Philosophie der Shunyata (der Leere) scheint nun etwas anderes 8
zu sein, als sie vorher war. Die allumfassende Leere der Hua-yenLiteratur offenbart viele verborgene Facetten, die in den Thesen der Madhyamika nicht unmittelbar klar wurden. Erst im Hua-yen werden die weitreichenden Folgerungen der Shunyata-Lehre, wie sie in der Prajnaparamita-Literatur niedergelegt sind, durchsichtig. Die Mehrzahl der intellektuell veranlagten Zen-Mönche kam zum Huayen, weil sie darin oftmals die geistige Führung auf ihrem verwirrenden Zen-Weg gefunden und sinnvolle Lösungen für die schwerverständlichen ZenProbleme entdeckt hatte. Viele «sinnlose» Zen-Koan werden sinnvoll, wenn man das «runde Hua-yen-Denken» richtig auf sie anwendet.
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Einleitung
Wenn der Mensch das Universum betrachtet und das Drama des Lebens sowie die Rolle, die er darin spielt, überdenkt, muß er sich fragen: «Was für eine Art von Spiel ist das eigentlich? Was ist sein Sinn und Zweck, und was bedeutet dies alles?» Die verschiedenen Religionen geben unterschiedliche Antworten auf diese Fragen, aber zwei heben sich sehr deutlich von den anderen ab: die Antwort der buddhistischen Weltbetrachtung und die der jüdischchristlichen Überlieferung. Erstere wird von manchen Theologen als nicht-historisch, letztere als historisch bezeichnet. Betrachtet man die Hauptunterschiede zwischen den beiden Interpretationen, so scheint es, daß die historischen Religionen im großen und ganzen das menschliche Drama oder die Geschichte wie folgt beschreiben: 1. Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. 2. Sie ist teleologisch, das heißt, das Universum und damit die Geschichte der Menschheit, sind auf ein Ziel, auf einen bestimmten Zweck gerichtet. 3. Geschichte ist erfüllt von Sinn, auch wenn dieser Sinn dem Menschen unverständlich sein mag. Geschichte, das menschliche Drama, ist nichts Zufälliges und hat seine Bedeutung ausschließlich in der Erfüllung eines göttlichen Willens oder Plans. Allerdings liegen das letzte Wie, Warum und Wann dieses großen Planes jenseits menschlichen Begreifens; sie sind nur Gott, dem Schöpfer, bekannt. 10
4. Menschliche Geschichte in ihrer Entfaltung gleicht einem Drama von zunehmender Intensität. Es ist verfaßt, geleitet und verantwortet - direkt oder indirekt - von Gott. Wie jedes Drama hat es einen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende, die den theologischen Vorstellungen der Genesis, dem Kommen eines Messias und eines Jüngsten Gerichts entsprechen. 5. Dieses in seiner Art einmalige menschliche Drama wird ausschließlich auf einer Bühne, genannt Erde, gespielt, die, soweit es diese einzigartige Aufführung anlangt, als der Mittelpunkt des Universums angesehen wird. Diese Überzeugungen, einst von den meisten Bekennern der westlichen Religionen akzeptiert, wurden allmählich modifiziert, und gewisse Einzelheiten wurden von den zeitgenössischen Theologen ganz fallengelassen. Aber im großen und ganzen entsprechen sie noch heute der Einstellung eines großen Teils der gläubigen Menschen im Westen, und sie haben sowohl die Geschichte wie die Geisteshaltung des Westens entscheidend beeinflußt und unauslöschliche Spuren in beiden hinterlassen. Die Hauptkritik gegenüber dieser Anschauung ist, daß sie dazu neigt, das Ich in den Mittelpunkt zu stellen sowie Intoleranz zu begünstigen. Da sie die Bedeutung der Geschichte ausschließlich im Menschen und dessen Verhältnis zu Gott sieht, handelt es sich um eine Haltung, die den Menschen und die Erde als den Mittelpunkt sieht und daher um eine eng begrenzte, abgekapselte Einstellung. Arnold Toynbee weist in seinem Buch A Historian's Approach to Religion auf die Irrtümer der Ichzentriertheit hin: «Ichzentriertheit ist eine Notwendigkeit des Lebens, aber diese Notwendigkeit ist auch eine Sünde. Ichzentriertheit ist zudem ein intellektueller Irrtum, da kein Lebewesen in Wirklichkeit der Mittelpunkt des Universums ist; und sie ist auch ein moralischer Irrtum, weil kein Lebewesen das Recht hat zu handeln, als ob es der Mittelpunkt des Universums wäre. Es hat kein Recht, seine Mitgeschöpfe, das Universum und Gott oder die Wirklichkeit so zu behandeln, als ob sie bloß existierten, um den Ansprüchen einer einzigen ichzentrierten Kreatur zu dienen.»1 Im Gegensatz zu diesem Glauben sieht die buddhistische Überlieferung, besonders das Mahayana, das Universum und das menschli11
che Drama in einer völlig anderen Weise. Die buddhistische Weltsicht ist universell und schließt alles ein; sie beruft sich nicht auf die einzigartige Bedeutung der menschlichen Geschichte als der einmaligen Aufführung eines von Gott geschriebenen Dramas. Einige Gelehrte, so zum Beispiel Paul Tillich und Arnold Toynbee, bezeichnen den Buddhismus als eine nicht-historische Religion, aber ich glaube, daß das irreführend ist. Die buddhistische Vorstellung ist nicht nichthistorisch, sondern eher trans-historisch, wie die folgenden Überlegungen zeigen werden: 1. Geschichte hat einen Anfang und ein Ende nur in einem relativen, nicht in einem absoluten Sinn. 2. Geschichte ist von Bedeutung, weil sie ein notwendiger Prozeß zur Verwirklichung der Vollkommenheit (Buddhaschaft) für alle Lebewesen ist. 3. Menschliche Geschichte hat keine einmalige Bedeutung; es gibt zahllose Geschichtsabläufe anderer Lebewesen von gleicher Bedeutung in anderen Universen. 4. Es gibt unzählige Universen; die Erde ist nur ein winziger Punkt in der ungeheuren Ausdehnung der Dharmadhatu (des unendlichen «Bereiches» des Dharma), und keinesfalls ist die Erde die einzige Bühne, auf der ein einzigartiges Drama nach dem Willen eines autoritären Gottes aufgeführt wird. 5. Geschichte, und zwar die der Menschen wie die anderer Wesen, ist kein Drama, entworfen und geschaffen von Gott; sie entsteht durch das kollektive Karma der Lebewesen. 6. Es gibt kein bestimmtes Muster oder Modell, nach dem sich alle Geschichte entwickeln muß. Ihr Verlauf wird von der Natur des kollektiven Karmas der Lebewesen in dem besonderen geschichtlichen Abschnitt bestimmt. Diese Punkte lassen sich weiter ausarbeiten. Geschichte hat einen Anfang und ein Ende, aber nur in einem relativen, nicht in einem absoluten Sinn. Man kann vom geschichtlichen Verlauf einer besonderen Begebenheit sprechen, als habe sie einen Anfang und ein Ende, aber dieser Anfang und dieses Ende sind nicht von absoluter Art. Die Geschichte der Menschen ist ein gutes Beispiel. Sie beginnt nach den 12
letzten Schätzungen vor etwa 600 000 Jahren. Aber 600 000 vor Christi Geburt, das ist nicht der wirkliche Beginn der Geschichte in einem absoluten Sinn. Vor dieser Zeit gab es andere Ereignisse und geschichtliche Begebenheiten. Ähnlich wird an irgendeinem Tag in der Zukunft die menschliche Geschichte zweifellos ein Ende haben, aber dieses Ende kann nicht als der absolute Endpunkt der menschlichen Existenz angesehen werden. Nach dem Buddhismus kann sich dann die Geschichte anderer Arten und Gattungen von Wesen entfalten; ebenso wäre es möglich, daß die «Seelen» derjenigen Angehörigen der menschlichen Rasse, die bis dahin die Buddhaschaft nicht erreicht haben, auf anderen Planeten ein neues Kapitel eines weiteren geschichtlichen Ablaufs beginnen werden. In der Welt der Erscheinungen verweben sich die ununterbrochenen Ketten von Geschehnissen ständig miteinander, sie bilden ein ungeheures «randloses Netz», das sich ohne Unterlaß fortentwickelt. Aber der Mensch, der nur eine begrenzte Aufnahmefähigkeit besitzt, vermag dieses ungeheure Verwobensein der Ereignisse nicht zu erfassen. Er zerschneidet diese «ständig weiterlaufende Kette» und bezeichnet einen Punkt darin als den Anfang und einen anderen als das Ende eines Teilgeschehnisses. Schrittweise und ohne dessen gewahr zu sein, beginnt er zu vergessen, daß die Vorstellung eines Anfangs und eines Endes erst aus Gründen der Zweckmäßigkeit geschaffen wurde und nur einen Sinn hat, wenn sie auf ein Teilereignis bezogen wird. Statt dessen geht er vom Teil aus und läßt die Vorstellung eines absoluten Anfangs, einer ersten Ursache, eines unbewegten Bewegers und dergleichen entstehen. Diese Ideen entwickelt er weiter und arbeitet sie zu theologischen und philosophischen Systemen aus, deren theologische Bedeutung er in hohem Maße überbewertet. Nach unserem besten Wissen hat es niemals einen absoluten Anfang gegeben, vor dem nichts existiert hat. Die Vorstellungen von der «ersten Ursache» oder dem «absoluten Anfang» haben keine logische oder empirische Grundlage. Der Anfang des Geschehens Y ist immer das gleichzeitige Ende des Geschehens X. Das Ende des Geschehens B ist immer der Anfang des Geschehens C. Ein Marsbewohner, der auf unseren Planeten blickt, sieht keinerlei Zeichen eines Anfanges oder eines Endes; was er sieht, ist eine beständige, immer weiterlaufende Kette von Ereignissen. Zu sagen, daß ein einzelnes Geschehen 13
einen Anfang oder ein Ende hat, mag daher durchaus sinnvoll sein, aber zu sagen, daß es einen absoluten Anfang aller Geschehnisse gibt, ist sinnlos. Für diejenigen, die gewohnt sind, an einen absoluten Anfang und ein absolutes Ende zu glauben, muß der buddhistische Ausdruck «seit anfangloser Zeit»2 eine befremdliche, wenn nicht schockierende Vorstellung sein. Doch dank dieser Vorstellung ist der Buddhismus von vielen unfruchtbaren theologischen Problemen frei geblieben. Die Bedeutung der buddhistischen Vorstellung des «Nicht-Beginnens» (oder der «Anfanglosigkeit») kann gar nicht genug betont werden. An ihr wird der Unterschied zwischen dem Buddhismus und den historischen Religionen besonders deutlich. Aufgrund dieser Vorstellung sind so entscheidende theologische Probleme wie die Frage der «Schöpfung» und deren Auswirkungen leicht zu klären. Und aus demselben Grund existieren viele auf Gott bezügliche theologische Probleme im Buddhismus einfach nicht. Da es keinen absoluten Anfang gibt, gibt es auch keinen Schöpfer und keine Schöpfung. Da es keinen allmächtigen und allwissenden Schöpfergott gibt, sind die Probleme des Bösen, des göttlichen Willens, der Erlösung und der Eschatologie entweder nicht existent oder sie «existieren» in einem vollkommen anderen Zusammenhang. Manche glauben, daß die Ablehnung der Vorstellung einer Schöpfung und ihrer ersten Ursache automatisch die Ablehnung oder Aufhebung eben der Grundlage einer Religion einschließt, aber das ist nicht notwendigerweise der Fall. Der Buddhismus zum Beispiel hat seine Grundlage nicht in einem Schöpfergott als Urgrund; seine Grundlage sind vielmehr die allüberall vorhandene Buddhanatur und deren Funktionen. Ein spirituelles Leben ist nicht notwendigerweise von der Existenz eines Gottes, eines Schöpfers und Richters, der über uns und jenseits unserer Fassungskraft steht, abhängig; die religiöse Sehnsucht des Menschen kann in der Verwirklichung der Buddhanatur, die in allen Lebewesen vorhanden ist, ihre volle Erfüllung finden. Der ursprüngliche Geist des Buddhismus spiegelt sich in dem besonderen Nachdruck, der auf das Erreichen der Befreiung gelegt wurde, sowie in der Ablehnung aller philosophischen Spekulation. Das fand seinen lebendigsten Ausdruck in dem berühmten Schweigen des Buddha, als ihm eine Reihe von philosophischen Fragen gestellt 14
wurden.3 Doch war philosophisches Interesse im Keim überall im Buddhismus vorhanden. Einige Jahrhunderte nach dem Tode Gautama Buddhas begannen viele philosophische Schulen des Buddhismus aufzublühen, aus denen schrittweise der Mahayana-Buddhismus entstand. Obwohl die Lehre des Mahayana-Buddhismus sich stark von der des Hinayana-Buddhismus unterscheidet, stimmen beide, was das Problem von «Anfang und Ende» anlangt, vollkommen überein. Ihre Ansicht zu diesem Problem läßt sich kurz in den folgenden Sätzen zusammenfassen: 1. Samsara (die Welt der Erscheinungen) hat keinen Anfang, aber ein Ende. 2. Nirvana (der «Zustand» des Erloschenseins) hat einen Anfang, aber kein Ende. 3. Die Wirklichkeit der Soheit (bhutatathata) hat weder Anfang noch Ende. Der erste Satz besagt, daß Samsara seit anfangloser Zeit vorhanden gewesen ist, und zwar ohne Unterbrechung in allen in ungeheurer Ausdehnung sich erstreckenden unendlichen Universen. Kein einziges oder einzelnes Zeitteilchen in der weitest zurückliegenden Vergangenheit kann als der absolute Anfangspunkt des Universums bezeichnet werden; daraus folgt, daß Geschichte, wie wir sie kennen, keinen Anfang haben kann. Andererseits kann ein Individuum (oder eine Gruppe) die Geschichte beenden oder über sie hinausschreiten, wenn es (oder sie) es wünscht und eine ausreichende Anstrengung in Richtung auf dieses Ziel unternimmt. Dieser Endpunkt des Samsara ist zugleich der Anfang des Nirvana, des Zustandes der Buddhaschaft, der weder abnehmen noch erlöschen kann. Nirvana hat daher einen Anfang, aber kein Ende. Die Wirklichkeit der Soheit (bhutatathata), die sowohl Samsara wie Nirvana umschließt, jedoch nicht in der geringsten Weise durch sie beeinflußt wird, geht sowohl über die Vorstellung der Reinheit wie der Befleckung hinaus. Es ist ein Zustand bar jeder kennzeichnenden Eigenschaften, jenseits aller Worte und Unterscheidungen. Er ist einfach und bleibt so durch alle Ewigkeit, gleichgültig, ob Gutes oder Böses, Unwissenheit oder Erleuchtung in Erscheinung treten. 15
Die Tatbestände dieser Lehre werden in der folgenden Zeichnung veranschaulicht:
Samsara Ende Nirvana kein Ende
Anfang Bhutatathata
kein Ende
kein Anfang
Dieses Diagramm zeigt, daß die Gezeiten für Samsara und Nirvana je einen negativen und einen positiven Aspekt haben, gemäß dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein eines Anfangs oder eines Endes; die Zeitangabe für die Bhutatathata mit einem negativen Zeichen an jedem Ende weist darauf hin, daß es hier weder Anfang noch Ende gibt. In dem Diagramm wurden zum Zweck der Anschaulichkeit Samsara und Nirvana in zwei Linien dargestellt; in Wirklichkeit gibt es nur eine sich fortsetzende Linie, wie das die folgende Illustration zeigt:
kein Anfang Samsara
Ende
Nirvana Anfang Bhutatathata kein Anfang
kein Ende
kein Ende
Die beiden positiven Markierungen kennzeichnen die Gleichzeitigkeit des Erlöschens von Samsara und des «Entstehens» von Nirvana, 16
was besagt, daß die beiden Punkte in einen zusammenfallen. Es ist darauf hingewiesen worden, daß sobald Samsara und Nirvana als ein einheitliches Ganzes gesehen werden, sie sich der Wirklichkeit der Soheit angleichen, die weder Anfang noch Ende hat. Hier ist der Punkt, wo die Erscheinungen mit dem Noumenon, das Relative mit dem Absoluten zusammenfällt. Die Hauptkritik, die seitens westlicher Denker gegenüber dieser buddhistischen Weltschau erhoben wird, ist, daß diese Art einer «zyklischen» Orientierung dem Leben allen Sinn nähme. Samsara scheint ihnen nur eine monotone, sich immer wiederholende Langeweile zu sein, die weder Sinn noch Zweck besitzt. Professor Toynbee sagt: «Diese astronomische Geschichtsbetrachtung führt zu einer radikalen Korrektur der Ichzentriertheit, die jedem Lebewesen eingeboren ist; aber sie berichtigt diese Ichzentriertheit um einen Preis, der die Geschichte jeglicher Bedeutung beraubt - und damit auch das Universum selbst. Von diesem astronomischen Standpunkt aus ist es für einen Historiker unmöglich zu glauben, daß sein eigenes Hier und Jetzt irgendeine besondere Bedeutung habe, aber es ist ebenso schwierig für ihn zu glauben, daß irgendein anderes menschliches Wesen irgendeine besondere Bedeutung gehabt hat oder haben wird.»4 Wer so urteilt, scheint vergessen zu haben, daß Sinn und Bedeutung nicht von den äußeren Umständen abhängen. Im Gegenteil, sie hängen von der eigenen Einstellung gegenüber diesen Umständen ab. Ein zyklisches, und andauerndes Samsara kann vollkommen sinnvoll und bedeutungserfüllt sein, wenn die Einstellung des Individuums gegenüber dem Leben konstruktiv und altruistisch ist. Immer wieder sich erneuerndes Leben ist also nicht notwendigerweise ein sich wiederholender Zustand von Langeweile; im Gegenteil, er bietet reiche Gelegenheit zu altruistischen Taten wie zu geistigem Fortschritt. Sinn und Zweck des Lebens erblickt der Mahayana-Buddhismus in der Aufforderung an jedermann, die Gelegenheit zum Erreichen seines höchsten Gutes zu nützen, indem er dem Zustand der Buddhaschaft näherkommt. Das Leben ist daher, trotz seiner zyklischen Wiederkehr, von größter Bedeutung. Außerdem ist Samsara in Wirklichkeit keine zyklische, sondern eine spiralförmig aufwärtsgehende 17
Bewegung; denn es ist der Grundglaube des Mahayana-Buddhismus, daß alle Lebewesen sich in fortschreitenden Stufen auf die Buddhaschaft zubewegen. Geschichte ist daher von Sinn erfüllt, da sie die Gelegenheit zur Erreichung dieses Zieles bietet. Als ich das erste Mal von diesem Vorwurf der angeblichen Sinnlosigkeit des nicht-historischen Standpunktes hörte, war ich höchst erstaunt. Wieso haben die westlichen Denker diese offenbaren Fakten übersehen? Dann erkannte ich, daß es sich bei dieser Kritik um keine philosophische, sondern um eine psychologische Wertung handelt. Man denke an die Situation eines Menschen, dem sein Arzt gesagt hat, daß er nur noch ungefähr ein Jahr zu leben hat. Die Philosophie und die Lebensanschauung des Menschen, der solches erfahren hat, können sich vollkommen ändern. Vielleicht wird er seinen Beruf aufgeben, seinen Besitz verkaufen und zu reisen beginnen, rund um die Welt, auf der Suche nach Erlebnissen und Abenteuern. Mit anderen Worten: Dieser Mensch versucht, in der ihm verbleibenden Zeit mit größter Intensität zu leben. Die Zeit ist für ihn nicht nur kostbar, sondern auch drängend; jede Sekunde gewinnt ungeheure Bedeutung. So ist es verständlich, daß seine Einstellung gegenüber seinem Leben in der Gewißheit von dessen baldigem Ende gänzlich verschieden ist von der der meisten anderen Menschen, die niemals ernsthaft an den Tod als unmittelbar bevorstehend denken. Wenn ein Mensch weiß, daß seine Tage gezählt sind, wird er trachten, seinem Leben soviel Sinn wie möglich zu geben. So gesehen ist es, glaube ich, richtig zu sagen, daß die Christen viel tatkräftiger und entschlossener sind als Buddhisten. Der psychologische Grund hierfür ist möglicherweise der Glaube, daß sie nur einmal leben, während die Buddhisten glauben, daß viele Leben auf sie warten. Für einen gläubigen Christen wird in einem einzigen Leben über seine Erlösung oder Verdammung entschieden; er muß jetzt, in diesem einen Leben, das Richtige tun, weil er keine zweite Gelegenheit dazu haben wird. Wer an die Lehren des Christentums glaubt, wird die «entsetzliche Bürde» verspüren, die darin liegt, daß er den an ihn gestellten Anforderungen in diesem einen Leben zu entsprechen hat, und er wird aufgrund dieser religiösen Überzeugung unter gewaltigem Druck und mächtiger Anspannung stehen. Ein Buddhist dagegen, der Fehlschläge und Enttäuschungen erlebt, kann sich im18
mer damit trösten, daß er sich sagt: «Nun gut. Warum sich über diese Schwierigkeiten und Mißerfolge so sehr aufregen? Ich kann es ja in meinem nächsten Leben wieder versuchen, das sicher nicht so übel und so enttäuschend sein wird wie dieses!» So ist leicht einzusehen, daß die Vorstellung des Samsara, die den Menschen nüchterner, liberaler und toleranter macht, ihn auch passiver, träger und zynischer machen kann. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, weist der Buddhismus mit Nachdruck auf die Schwierigkeit hin, auch im nächsten Leben wieder menschliche Gestalt zu erlangen, sowie auf die Verpflichtung, den Mitmenschen zu helfen. Er betont zudem den Wunsch nach raschem geistigen Fortschritt, der zur baldigen Verwirklichung der Buddhaschaft führen soll. Zusammenfassend ist zu sagen, daß dem Leben in der Geschichte der Menschheit auch in buddhistischer Sicht keineswegs die Bedeutung fehlt. Aber diese ist von allgemeinerer und längerfristiger Art, auch wenn dies für diejenigen, die mit den Philosophien der jüdisch-christlichen Überlieferung aufgewachsen sind, schwer zu erkennen und zu verstehen ist. Nach dem Mahayana-Buddhismus ist die Geschichte des Menschen nicht die einzige Geschichte. Es gibt zahllose gleich bedeutungsvolle Geschichtsabläufe anderer Lebewesen, die in einer unendlichen Zahl anderer Universen stattfinden. Die ungeheure Größe und die unendliche Mannigfaltigkeit der Universen wird wiederholt in den verschiedenen Sutras beschrieben, so zum Beispiel im Diamant-Sutra:5 «Was meinst du, Subhuti, wenn es so viele Ganges-Flüsse gäbe wie Sandkörner am Ufer des Ganges, und wenn es so viele Weltsysteme gäbe wie Sandkörner in all diesen ungezählten Flüssen - würden diese Weltsysteme als groß an Zahl bezeichnet werden?» «Gewiß, sehr groß an Zahl, o Weltverehrter!» «Höre, Subhuti! In diesen ungezählten Weltsystemen ist jede Form von Lebewesen zu finden, mit all ihren verschiedenen Geisteshaltungen und Vorstellungen, und alle von ihnen sind dem Tathagata bekannt.»
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Und im Hua-yen-Sutra6 lesen wir: «O Buddha-Söhne! Wenn ein Mensch Millionen und Billionen von Buddhas Universen7 pulverisierte und sie zu Sonnenstäubchen verwandelte, von denen jedes einzelne wiederum ein ganzes Universum darstellt, und wenn er abermals diese Universen pulverisierte und er die dabei entstandenen Sonnenstäubchen in seiner linken Hand hielte und wanderte ostwärts - und nachdem er an der gleichen ungeheuren Zahl von Universen vorübergekommen ist, ließe er ein Sonnenstäubchen fallen und setzte dann seine Wanderung nach Osten fort und jedesmal schritte er an der gleichen Zahl von Universen vorbei, ließe ein Sonnenstäubchen fallen, bis er alle, die er in seiner Hand hielt, verstreut hätte; wenn er dann nach Süden, Westen und Norden in den vier Richtungen und aufwärts und abwärts wanderte und Sonnenstäubchen fallen ließe wie zuvor, o Pao Shou, was meinst du? Der gesamte Raum in den Zehn Richtungen all dieser Universen, berührt oder unberührt von seinen Sonnenstäubchen, ist dieser Raum eines Buddhalandes nicht ungeheuer, weit und jenseits des Begreifens?» «Ja, gewiß, dieses Buddhaland ist unendlich groß und weit, voller Wunder und unbegreiflich. Und wenn es dort Menschen gibt, die, nachdem sie dieses Gleichnis vernommen haben, daran zu glauben und es zu verstehen beginnen, ist es noch kostbarer und wundervoller.» Der Buddha sagte zu Pao Shou: «Ja, ja, genau wie du gesagt hast. Ich prophezeie: Wenn es gute Männer und gute Frauen gibt, die an dieses Bild glauben, dann werden sie die höchste Erleuchtung erlangen und die unvergleichliche Weisheit der Tathagataschaft.»
In einem anderen Kapitel dieses Sutra8 lesen wir: Daraufhin wandte sich der Bodhisattva Samantabhadra an die Versammlung:9 «Dank des Segens der magischen Kraft des Tathagata sehe ich in den Zehn Richtungen jede Stelle in all den Welten und Universen, die den ungeheuren Raum erfüllen... Einige Welten sind aus reinem Licht und schweben im Raum... Andere gleichen Blumen oder Lampen, geschmückt mit Juwelen. Einige sind groß und gewaltig wie der Ozean, wirbelnd gleich einem sich drehenden Rad... 20
Einige sind schmal, andere sind klein, denn es gibt unzählige Formen und Bewegungen verschiedenster Art... Einige Welten gleichen einem glühenden Rad, einem Vulkan, ... einem Löwen oder einer Meeresmuschel... Unendlich verschieden sind ihre Formen und Gestalten... [In dem ungeheuren Bereich der Dharmadhatu] sind einige Welten rund und andere eckig, Einige Länder sind rein und ohne Makel, andere befleckt und voller Mängel, einige sind voller Freuden, andere voller Qualen, ... alles verursacht durch verschiedenartiges Karma, vielfältig wie die Ozeane... Einige Weltsysteme währen nur ein Kalpa, andere Hunderte, Tausende von Kaipas oder eine Unendlichkeit von Äonen. In einigen Weltsystemen gibt es Buddhas, in anderen keine. Einige kennen nur einen Buddha, andere viele. Unergründlich sind die unzähligen Welten in der Totalität der Universen. Viele Welten sind soeben neu entstanden, andere sind im Vergehen. Gleich Blättern im Wald sind einige kaum erst entsprossen, andere sind im Verdorren ... So wie verschiedene Saaten verschiedene Früchte bringen, so lassen die Lebewesen kraft der Macht des kollektiven Karma verschiedene Weltsysteme entstehen, die unbegreiflich sind... So wie ein Maler viele Bilder malt, so kann der Geist der Lebewesen unendlich verschiedene Weltsysteme schaffen.
Des schlechten Karma, der Leidenschaften und Begierden wegen sind viele Weltsysteme reich an Qualen und Tränen. Doch andere Welten, dank des guten Karma, sind geschmückt mit Juwelen und gesegnet mit Plätzen, an denen die Früchte der Freude genossen werden [von allen] nach ihrem Willen. In den ozeangleichen Weltsystemen aller Buddhas gibt es Myriaden von Lehren, die den Nöten und Neigungen der Menschen hilfreich angepaßt sind. Unerforschlich ist Buddhas Dharma-Leib ohne Form oder Bild aber um den Menschen zu helfen, manifestiert er sich in Myriaden von Formen. Zum Wohl der Lebewesen kann er sich zu einem kurzen oder langen Leben verkörpern, oder zu einem, das ungezählte Äonen währt. Je nach Veranlagung und Not der Menschen hilft er mit den Lehren der verschiedenen Fahrzeuge, oder er lehrt nur ein Fahrzeug in vielfachen Abwandlungen. Begabten Menschen, die den Weg beschritten haben, hilft er, daß sie ohne Anstrengung Buddhaschaft erlangen. Mit diesen unbeschreiblich segensvollen Mitteln helfen die Buddhas allen Lebewesen auf deren Weg!»
Wenn wir diese Stellen lesen, erkennen wir, daß die buddhistische Geschichtsschau äußerst flexibel und alles einschließend ist. Da sie weder Gott-zentriert noch anthropozentrisch, noch auch erdzentriert ist, sondern auf einer unendlichen Verschiedenheit von Universen und Lebewesen basiert, kann es kein endgültiges Modell geben, dem die Geschichte folgen müßte. Die buddhistische Auffassung von der Geschichte ist daher gänzlich fließend und allen Möglichkeiten offen. 22
Wenn es ein Charakteristikum gibt, durch das die buddhistische Lehre sich von vielen anderen Religionen unterscheidet, dann ist es ihre Allumfassendheit. Das gilt für die grundlegende Karma-Lehre bis hin zu den Lehren von Shunyata, Bodhichitta und der DharmadhatuDoktrin des Hua-yen-Sutra. Wenn wir die buddhistische Lehre mit den westlichen Religionen vergleichen, so fühlen wir, daß die erstere zu einer pluralistischen Methode tendiert, während die letzteren dazu neigen, ausschließend zu sein und an einem «singularistischen» Weg festzuhalten. Es gibt viele Gründe für diesen Unterschied, aber ich glaube, der Hauptgrund ist, daß die jüdisch-christliche Überlieferung ausschließlich an Gott festhält und all dem, was zu ihm gehört, während im Buddhismus dieser Faktor völlig fehlt. Die Lehre der jüdisch-christlichen Überlieferung, unbeschadet ihrer Komplexität und Mannigfaltigkeit, hat ihren Mittelpunkt in Gott und seinem Verhältnis zum Menschen. Gott und dessen allumfassender Plan machen das Leben sinnvoll und geben der Geschichte ein Ziel. Hinter der Geschichte und aller Natur gibt es ein Bewußtsein und einen Willen: Gottes allwissenden und zielbewußten Geist. Im Gegensatz zu diesem Glauben hält die buddhistische Anschauung, wie wir gesehen haben, daran fest, daß alles vom kollektiven Karma der Lebewesen abhängt. Das Karma ist der Schöpfer, der Erhalter und der Zerstörer sowohl der Geschichte wie des Universums. Karma ist eine «naturgegebene» Kraft, die im Grunde unbewußt und nicht vorhersehbar ist. Nach dem Buddhismus hängen Art und Natur jeder Geschichte nicht von Gottes Willen oder Plan, sondern von der Natur des kollektiven Karma der Lebewesen in dem besonderen geschichtlichen Zeitraum ab. Die Evidenz des kollektiven Karma fehlt auch in unserer Welt nicht. Die Geschichte und das Schicksal der amerikanischen Indianer, der Azteken, der Mayas und in einem bestimmten Ausmaß der Neger und der Juden und all der anderen, die an der Unmenschlichkeit der Menschheit gelitten haben, kann nicht als von Gott geplant oder auch nur indirekt verursacht betrachtet werden. Ihr Schicksal würde im Licht der ihm zugeschriebenen Gerechtigkeit und Güte unerklärlich sein. Auch wenn wir glauben, daß alles schließlich ein glückliches Ende finden wird, wenn das Königreich Gottes kommt, Phänomene wie Auschwitz, Stalin und Mao Tse-tung und die anderen ungezähl-
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ten, von Menschen verursachten und naturgegebenen Katastrophen in der Geschichte würden gewiß jeden fühlenden Menschen zögern lassen, diesen angeblichen Akt der Schöpfung als gütig und weise zu akzeptieren. All das ungeheure Leid, durch das der Mensch in der Geschichte gegangen ist, wird vermeintlich entweder durch die Erbsünde oder durch die Unerforschlichkeit des Ratschlusses Gottes wegerklärt, aber der inneren Stimme, die aus den Tiefen der menschlichen Würde und des reinen Gefühls aufsteigt, fällt es schwer, solchen bestürzenden Auslegungen zuzustimmen. Zu Zeiten bleibt es auch den frömmsten Gläubigen nicht erspart, sich in stiller Stunde zu fragen, wie es denn wirklich um einen vernünftigen Sinn dieses ganzen Lebens bestellt sein mag. Mit der Karma-Lehre jedoch ist das Problem des Bösen und der moralischen Gerechtigkeit vergleichsweise leichter zu erklären. Natürlich heißt das nicht, daß es da keine Schwierigkeiten gäbe. Aber die Karma-Lehre, zusammen mit dem Nichtvorhandensein eines Gottes, macht klar, warum das Problem des Bösen in der buddhistischen Überlieferung niemals so quälend wurde wie in der jüdisch-christlichen. Die schwierigste Lehre des Buddhismus ist ohne Zweifel die Karma-Lehre, deren Komplexität und Unfaßbarkeit einen um Verständnis Bemühten manchmal schier verzweifeln lassen kann. Um sie klar verständlich zu machen, wäre ein eigenes Buch nötig. Aber ein paar Worte über das Karma sind unerläßlich als Überleitung zu der folgenden Untersuchung, die sich mit der Hua-yen-Lehre der Totalität beschäftigen wird. Karma bedeutet Aktion, aber auch Kraft. Da eine Aktion immer eine bestimmte Kraft auslöst und diese Kraft dann wieder weitere Aktionen hervorruft, ist Karma wesentlich eine Lehre der komplizierten Wechselwirkungen zwischen Kräften und Aktionen, die das sich drehende Rad des Samsara antreiben. Auf der kosmologischen Ebene ist dieser Kraft-Aktion-Komplex eine erstaunliche Macht, die das Universum und das Leben antreibt; auf der ethischen Ebene ist es ein unfehlbares, unpersönliches Gesetz, das die sittliche Ordnung verwirklicht und auf natürliche Weise «Belohnungen» und «Vergeltungen» austeilt. Metaphysisch ist das Karma eine schöpferische Energie, hervorgerufen von den kollektiven Aktionen bestimmter Gruppen; es stützt die Ordnung und Funktion eines besonderen Uni24
versums, in dem diese Gruppen behaust sind. Letztlich ist Karma ein Mysterium, ein Wunder, das menschliches Begreifen übersteigt. All die großen Wunder der Welt, die biologischen und astronomischen Mysterien, sind - nach dem Verständnis des Buddhismus - nicht der allmächtigen Hand Gottes zu verdanken, sondern der Macht des Karma. In vieler Hinsicht ist Karma in der buddhistischen Überlieferung fast ein Äquivalent zu dem, was ein allgemeiner Ausdruck als «Willen Gottes» bezeichnet. Der Unterschied ist, daß der Buddhismus das letztlich Unbekannte des Lebensmysteriums von einer naturalistischen Orientiertheit aus sieht, während die jüdisch-christliche Überlieferung sich eine theistische Sicht zu eigen macht. Das Mysterium des Karma ist ebenso unerforschlich wie das Mysterium von Gottes Willen, nicht mehr und nicht weniger. Die große Unwissenheit und Begrenztheit des menschlichen Geistes tritt klar zutage, sobald er sich in irgendein tieferes Problem versenkt. Jeder muß seinen Frieden schließen mit dem letztlich Unbekannten und sich auf eine Orientierung und einen Glauben besinnen, die ihm am sinnvollsten und förderlichsten erscheinen. Nach diesem kurzen Überblick über die grundlegenden Anschauungen vom kosmischen Drama, wie sie von einer Religion gesehen werden, die jenseits des Historischen liegt, können wir nun zur Betrachtung der buddhistischen Lehre von der Ganzheit des Sein übergehen.
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ERSTER TEIL
Der Bereich der Totalität
Die Unendlichkeit des Buddhabereiches
Was sieht und hört ein Buddha?1 Wie handelt und denkt er? Was erkennt und erlebt er? Kurz, was ist es für ein Gefühl, ein Buddha zu sein? Diese Fragen sind von allen Buddhisten durch die Jahrhunderte gestellt worden, genauso wie die Juden, die Christen, die Moslems und die Hindus immer nach ihren Göttern und Propheten gefragt haben. Wenn diese Fragen überhaupt beantwortbar sind, müssen die Antworten sehr schwierig sein. Eine Frage stellen heißt einen Geisteszustand offenbaren, und eine Frage beantworten ist der Versuch, seine eigene Erfahrung mit anderen zu teilen. Eine Antwort kann ohne Sinn und Bedeutung sein, wenn sie dem gegeben wird, der an der Erfahrung, von der sie ausgeht, keinen Anteil hat. Ich will das deutlich machen. Unter sengender Sonne legte eine Karawane langsam ihren Weg durch eine tibetische Wüste zurück. Unter den Reisenden war ein Amerikaner, der von Hitze und Durst gepeinigt ausrief: «O, was würde ich jetzt für ein großes Glas Eiscreme-Soda geben!» Ein Tibeter neben ihm hörte diese Bemerkung und fragte den Amerikaner: «Was ist das, Eiscreme-Soda?» «Eiscreme-Soda ist ein erstaunlich köstliches, kaltes Getränk!» «Schmeckt es wie unser Buttertee, wenn er kalt ist?» «Nein, es schmeckt nicht so.» «Schmeckt es wie kalte Milch?» «Nein, nicht genauso - Eiscreme-Soda schmeckt ganz anders als einfache, kalte Milch; es kann sehr verschiedene Geschmacksrichtungen haben; außerdem sprudelt es.»
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«Wenn es sprudelt, schmeckt es vielleicht wie unser Gerstenbier?» «Nein, natürlich nicht!» «Woraus ist es gemacht?» «Aus Milch, Sahne, Eiern, Zucker, Geschmacksbeigaben, Eis und Sodawasser...» Der verwirrte Tibeter konnte nicht begreifen, wie solch eine groteske Mischung ein gutes Getränk sein könne. So wird also eine Mitteilung ohne den Boden einer gemeinsamen Erfahrung äußerst schwierig. Einsteins Welt ist gänzlich verschieden von der des Durchschnittsmenschen. Wenn die Unterschiede, die die Weltvorstellungen der Menschen voneinander trennen, zu groß werden, ist es nicht mehr möglich, sie zusammenzuführen. Als der Buddha versuchte, seiner Zuhörerschaft seine Erfahrung zu beschreiben, sah er diese Schwierigkeit voraus. Wie viele Sutras bezeugen,2 schwang in den Unterweisungen des Buddha oft eine gewisse Resignation ob der Tatsache mit, daß Buddhaschaft nichts ist, das in Worten beschrieben oder durch Denken verstanden werden kann. Die Grundschwierigkeit liegt in dem Umstand, daß wir nicht an der Erfahrung des Buddha teilhaben. Um das Unenthüllbare zu enthüllen und den unbeschreiblichen Bereich der Buddhaschaft zu beschreiben, beschenkt uns das HuayenSutra3 - eine der großartigsten Schriften des Mahayana-Buddhismus für diejenigen, die danach streben, trotz aller Schwierigkeiten einen Schimmer dieses großen Geheimnisses zu erhaschen - mit einem ehrfurchteinflößenden Panorama der Buddhaschaft. Das Mysterium der Buddhaschaft kann vielleicht in zwei Worten zusammengefaßt werden: Totalität und Nicht-Behinderung. Das erstere bezeichnet die allesumfassenden und allesgewahrenden Aspekte der Buddhaschaft; das letztere das totale Freisein von allem Anhaften und allen Bindungen. Ontologisch gesprochen kann dank der Totalität die Nicht-Behinderung erreicht werden, aber kausal gesprochen wird durch eine Verwirklichung der Nicht-Behinderung - also durch das vollständige Zunichtewerden aller geistigen Hindernisse und «Blockierungen» - der Bereich der Totalität erreicht. Auf den folgenden Seiten werden wir die philosophischen, erfahrungsmäßigen und instrumentalen Auswirkungen der Totalität und Nicht-Behinderung prüfen; aber zuerst wollen wir ein paar Stellen aus dem Hua-yen30
Sutra lesen, um eine Ahnung von der Dharmadhatu,4 der Unendlichkeit und Totalität der Buddhaschaft, zu bekommen. Der Buddha erwiderte dem Bodhisattva Chittaraja:5 «Du hast mich gefragt, mein guter Sohn, wie der Welt die Art und Weise von Buddhas Erfahrung begreifbar zu machen ist [das ist eine Frage nach der unbegreiflichen, unvorstellbaren, unausdrückbaren Unendlichkeit]. Höre aufmerksam zu, und ich werde es dir nun erklären: Zehn Millionen sind ein Koti; ein Koti-Koti ist ein Ayuta; ein Ayuta-Ayuta ist ein Niyuta; ein Niyuta-Niyuta ist ein Binbara [eine Zahl mit 75 Nullen]; und ein Binbara ist... [so geht es weiter in geometrischer Progression, und zwar noch weitere einhundertfünfundzwanzigmal; die letzte Zahl heißt dann] ein Unbeschreiblich-Unbeschreibliches Kreisen und Wogen ... .»6 Dann fuhr der Buddha mit den folgenden Strophen fort:7 Das Unbeschreiblich-Unbeschreibliche Kreisen und Wogen durchdringt, das nicht beschrieben werden kann. ... Es würde eine Ewigkeit währen, all die Universen der Buddhas zu zählen. In jedem Sonnenstäubchen dieser Welten gibt es unzählige Welten und Buddhas. ... Auf der Spitze jedes Haares des Körpers eines Buddha werden Reine Welten sichtbar, die nicht beschrieben werden können. ... Unbeschreiblich sind der Buddhas Wunder und Namen, unbeschreiblich ist ihre Schönheit und Herrlichkeit, unbeschreiblich sind die vielen Dharmas, die sie lehren, unbeschreiblich ist die Art, in der sie die Lebewesen zum Reifen bringen. ... Ihr [der Buddhas] unbehinderter Geist ist unbeschreiblich, ihre Verwandlungen sind unbeschreiblich, die Arten, in denen sie alle Lebewesen wahrnehmen, läutern und erziehen, sind unbeschreiblich. . . . Die Lehren, die sie verbreiten, sind unbeschreiblich. Jede dieser Lehren enthält
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unendlich viele, unbeschreibliche Varianten; jede von ihnen bringt Lebewesen auf unbeschreibliche Weise zum Reifen. Unbeschreiblich sind ihre Sprachen, Wunder, Offenbarungen und Kalpas. ... Selbst ein hervorragender Mathematiker könnte ihre Zahl nicht errechnen, aber ein Bodhisattva kann sie alle darlegen. ... Die unbeschreiblichen unendlichen Welten lassen sich alle in der Spitze eines Haares [eines Buddha] versammeln, ohne sie zusammenzudrängen oder das Haar auch nur im geringsten auszudehnen. ... In diesem Haar bleiben die Welten so, wie sie sind, ohne die Gestalt zu verändern oder sich zu verwandeln. ... O, unbenennbar sind die Arten, wie sie in das Haar gelangen. ... Unbenennbar sind die Ausmaße des Bereiches. ... Unbenennbar ist die Reinheit des Körpers eines Buddha. Unbenennbar ist die Reinheit der Erkenntnis eines Buddha. Unbenennbar ist das Erlebnis, wenn alle Zweifel verschwunden sind. Unbenennbar ist das Gefühl des Verwirklichens der Wahrheit. Unbenennbar ist der tiefe Samadhi. Unbenennbar ist die Allwissenheit! Unbenennbar ist es, den Seinsstand aller Lebewesen zu kennen, unbenennbar, ihre Karmas und Neigungen zu kennen, unbenennbar, den Geist aller Lebewesen zu kennen, unbenennbar, alle ihre Sprachen zu kennen. Unbenennbar ist das große Erbarmen der Bodhisattvas, die auf unaussprechliche Weise allen Lebewesen dienen. Unbenennbar sind ihre unzählbaren Handlungen, unbenennbar ihre unermeßlichen Gelübde, unbenennbar ihre Fähigkeiten, Kräfte und Mittel. ... Undurchschaubar sind die Gedanken der Bodhisattvas, ihre Gelübde und ihr Verständnis! 32
Unauslotbar ist ihr Wissen um alle Zeiten und Dharmas. Ihre andauernden geistigen Übungen sind unerfaßbar, genauso wie ihre plötzliche Erleuchtung. ... Unbegreiflich ist die Freiheit der Buddhas, sind ihre Wunder, ihre Offenbarungen und ihr Erbarmen für die gesamte Menschheit! Die unendlichen Weltzeitalter zu erklären ist noch möglich; die unendlichen Verdienste der Bodhisattvas zu preisen ist unmöglich.» ... Daraufhin sprach der Bodhisattva Chittaraja zu den Versammelten:8 «Hört mich an, ihr Söhne des Buddha, ein Kalpa [oder Weltzeitalter] in dieser Saha-Welt - dem Reich des Buddha Shakyamuni - entspricht einem Tag und einer Nacht in der großen Paradies-Welt des Buddha Amita; ein Kalpa im Reich des Buddha Amita entspricht einem Tag und einer Nacht in der Welt des Buddha Diamanten-Kraft, und ein Kalpa im Land des Buddha Diamanten-Kraft entspricht einem Tag und einer Nacht im... Und so geht es immer weiter, durch Millionen von unzählbaren Welten, bis die letzte Welt [dieser Reihe] erreicht ist. Dort entspricht ein Kalpa wiederum einem Tag und einer Nacht in der Welt des Buddha Göttlicher Lotos - wobei der Bodhisattva Samantabhadra und alle anderen großen Bodhisattvas, die jetzt hier versammelt sind, auch dort anwesend sind und die Himmel füllen. ... Sobald ein Bodhisattva die Zehn Arten der Weisheit errungen hat, kann er die Zehn Allumfassenden Verschmelzungen vollziehen. Worin bestehen diese? Sie bestehen darin: Alle Universen in ein Haar zu bringen und ein Haar in alle Universen; die Leiber aller Lebewesen in einen Leib zu bringen und einen Leib in die Leiber aller Lebewesen; eine unvorstellbare Zahl von Äonen in einen Augenblick zu bringen und einen Augenblick in eine unvorstellbare Zahl von Äonen; die Dharmas aller Buddhas in einen Dharma zu bringen und einen Dharma in die Dharmas aller Buddhas; eine unvorstellbare Zahl von Orten in einen Ort zu bringen und einen Ort in eine unvorstellbare Zahl von Orten; eine unvorstellbare Zahl von Organen in ein Organ zu bringen und ein Organ in eine unvorstellbare Zahl von Organen; alle Organe in ein Nicht-Organ zu bringen und ein NichtOrgan in alle Organe; ... alle Gedanken in einen Gedanken zu bringen und einen Gedanken in alle Gedanken; aus allen Stimmen und Sprachen eine Stimme und Sprache zu machen und aus einer 33
Stimme und Sprache alle Stimmen und Sprachen; aus allen drei Zeiten9 eine Zeit zu machen und aus einer Zeit alle drei Zeiten. ... Söhne des Buddha, worin besteht dieser höchste Samadhi, den ein Bodhisattva errungen hat?10 Wenn sich ein Bodhisattva in diesem Samadhi befindet, dann hat er die Zehn Formen des Nicht-Anhaftens erreicht, ... das Nicht-Anhaften an alle Länder, Richtungen, Zeitalter, Gruppen, Dharmas, Gelübde, Samadhis, Buddhas und Stufen. ... Söhne des Buddha, wie geht ein Bodhisattva in diesen Samadhi ein, und wie verläßt er ihn? Ein Bodhisattva geht in diesen Samadhi mit seinem inneren Körper ein und verläßt ihn mit seinem äußeren Körper; ... er geht in den Samadhi mit seinem menschlichen Körper ein und verläßt ihn mit einem Drachenkörper; ... er geht in ihn mit einem Deva-Körper ein und verläßt ihn mit einem Brahma-Körper; ... er geht in ihn mit einem Körper ein und verläßt ihn mit tausend, ... einer Million, einer Milliarde Körpern; ... er geht in ihn mit tausend, ... einer Million, einer Milliarde Körpern ein und verläßt ihn mit einem Körper; ... er geht in ihn mit einem befleckten Körper eines Lebewesens ein und verläßt ihn mit tausend, einer Million ... reiner Körper; er geht in ihn mit tausend, einer Million reiner Körper ein und verläßt ihn mit einem befleckten Körper; er geht in ihn durch die Augen ein und verläßt ihn durch die Ohren, durch die Nase, durch die Zunge ... durch den Geist; ... er geht in ihn durch ein Atom ein und verläßt ihn durch eine unendliche Zahl von Universen; er geht in ihn in seinem Selbst-Körper ein und verläßt ihn in einem Buddha-Körper; er geht ein in ihn in einem Augenblick und taucht daraus auf in Billionen von Zeitaltern; er geht ein in ihn in Billionen von Zeitaltern und geht hervor daraus in einem Augenblick; ... er geht ein in ihn in der Gegenwart und taucht auf daraus in der Vergangenheit; ... er geht ein in ihn in der Zukunft und verläßt ihn in der Gegenwart; ... er geht ein in ihn in der Vergangenheit und taucht auf daraus in der Zukunft. ... Der Bodhisattva, der diesen Samadhi11 erreicht hat, kann eine unendliche, unermeßliche, unbegreifliche, unzählbare, unaussprechliche, unaussprechlich unaussprechliche ... Zahl von Samadhis erkennen; von denen ein jedes eine unendlich große Vielfalt von Erfahrungen aufweist - alles was eintritt und entsteht, bleibt und sich formt, sich offenbart und handelt, sich kennzeichnet und entwickelt, sich reinigt und läutert - er sieht es alles, durchsichtig klar. ... Ein Bodhisattva, der in diesem höchsten Samadhi weilt, sieht unendlich viele Welten, erkennt unendlich viele Buddhas, erlöst unendlich viele Lebewesen, versteht unendlich viele Dharmas, vollendet unendlich viele Handlungen, läßt unendliche Male Begreifen vollkommen werden, geht in eine unendliche Zahl von Dhyanas ein, demonstriert eine unendliche Anzahl von Wundern, erringt unendliche Weisheit, verweilt in einer unendlichen Zahl von Augenblicken und Zeiten.»
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Die obigen Zitate sind offensichtlich zu kurz, zu diskursiv und unsystematisch, um die Totalität der Buddhaschaft zu beschreiben, wie sie im Hua-yen-Sutra - einem umfangreichen Schriftwerk von mehr als einer halben Million Wörtern - geschildert wird. Dennoch können uns diese Zitate eine Ahnung davon verschaffen. In Buddhas Antwort an den Bodhisattva Chittaraja wird von der Ungeheuerlichkeit des Bereichs gesprochen, der, in Zahlen übertragen, weit über die äußerste Grenze der empirischen Welt hinausgehen würde. Die Stelle gibt uns den Eindruck, daß der Verfasser hier in der Sprache der modernen Astronomie redet. Der Name, der der letzten Zahl gegeben wird - das Unbeschreiblich-Unbeschreibliche Kreisen und Wogen - ist besonders interessant und bezeichnend. Es ist offenbar kein erfundener Name, der gegeben wurde, um eine endgültige und unveränderliche Zahl zu bezeichnen, sondern ein beschreibender Terminus, bestimmt, die erlebnishafte Schau eines ungeheuren Geistes zu beschreiben. Was bedeutet der Ausdruck «Unbeschreiblich-Unbeschreibliches Kreisen und Wogen»? Warum sollte ein gefühlsbetontes Wort wie unbeschreiblich hier überhaupt benützt werden, um eine Zahl oder Quantität zu definieren? Außerordentlich große oder kleine Zahlen, die die Unendlichkeit in den zwei Extremen umschließen, können leicht verbegrifflicht und in Symbolen und Abstraktionen ausgedrückt werden, aber sie sind schwer zu erleben oder in einer intimen oder unmittelbaren Weise zu «spüren». Wir haben keine Schwierigkeit beim Erfassen der Idee Million, Billion, Trillion oder selbst der Unendlichkeit, aber es ist sehr schwierig für uns, diese größeren Zahlen in empirischer Erfahrung zu begreifen und zu erfassen. Die Welt der Symbole und Abstraktionen ist in höchst kennzeichnender Weise verschieden von der der Sinneserfahrung und Einsicht. Die erstere ist, um die buddhistische Terminologie zu gebrauchen, ein Bereich indirekten Messens und die letztere ein Bereich direkter Verwirklichung.12 Es heißt, daß im Geist eines Buddha diese beiden Bereiche nicht getrennt sind. Die YogacharaPhilosophen gehen sogar so weit zu sagen, daß der Geist eines Buddha nur einen Bereich hat, den der unmittelbaren Verwirklichung. Ein Buddha «denkt» niemals bloß, sondern er «sieht» immer. Das heißt, daß kein Denk- oder Überlegungsprozeß im Geist eines Buddha Platz greift; er ist immer im Bereich der unmittelbaren Ver35
wirklichung, einem Bereich, der ohne Denkbilder ist. Der Umstand, daß ein Denkbild-freier Buddha-Geist den Menschen seine Erfahrung mittels Denkbildern übermitteln kann, ist vielleicht ein ewiges Geheimnis, das niemals vom Verstand gelöst werden kann. Aber ist es nicht auch wahr, daß, wenn ein solches Mysterium existiert, es nicht anders als unbeschreiblich sein kann - ein Begriff, der die Unmöglichkeit ausdrückt, an etwas durch Denkbilder heranzukommen? Die Feder eines Leo Tolstoi kann ein lebendiges Panorama der Schlacht von Borodino erzeugen - aber wessen Feder kann die Schlachten von Borodino, der Normandie, von Stalingrad, Verdun, Zama, Okinawa die Tausende von Schlachten der Geschichte - alle gleichzeitig heraufbeschwören? Ist es nicht ganz verständlich, daß Buddha seine Zuflucht zum Gebrauch des apologetischen Begriffes «UnbeschreiblichUnbeschreibliches Kreisen und Wogen» nimmt, um den Druck des Zwangs zu lösen, seine unmittelbare Erfahrung des «Sehens» des ehrfurchtgebietenden Panoramas der Totalität durch so ein jämmerliches Verständigungsmittel wie die menschliche Sprache auszudrücken? Das Unbeschreiblich-Unbeschreibliche Kreisen und Wogen, das nicht beschrieben werden kann, ... es würde eine Ewigkeit währen, all die Universen der Buddhas zu zählen. In jedem Sonnenstäubchen dieser Welten gibt es unzählige Welten und Buddhas. ... In der Spitze jedes Haares des Körpers eines Buddha werden Reine Welten sichtbar, die nicht beschrieben werden können. ... Und ebenso wenig können ihre Wunder, ihre Herrlichkeiten, ihre Namen und Schönheiten beschrieben werden. Diese Worte erinnern uns an Pascals Gedanken13 und die Worte, mit denen er seine große Schau der Totalität klar ausgedrückt hat: Laß den Menschen das Ganze der Natur in all seiner Fülle und Herrlichkeit erschauen, und laß ihn seinen Blick von den niedrigen Dingen wegwenden, die ihn umgeben. Laß ihn das strahlende Licht schauen, das gleich einer
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ewigen Lampe das Universum erleuchtet; laß ihm die Erde als Punkt erscheinen gegenüber dem riesigen Kreis, den die Sonne beschreibt, und laß ihn das Wunder bestaunen, daß dieser riesige Kreis selbst nur ein winziger Punkt ist gegenüber dem, den die Sterne durch das Firmament beschreiben. Aber wenn unser Blick dort anhält, dann laß unsere Einbildungskraft weiterschweifen; es wird sich eher unsere Vorstellungskraft erschöpfen als die Kraft der Natur. Die ganze sichtbare Welt ist nur ein unbemerkbares Atom im fruchtbaren Schoß der Natur. Kein Gedanke kommt an sie heran. Wir mögen unsere Vorstellungen über alle denkbaren Räume hinaus erstrecken, wir schaffen trotzdem nur Atome gegenüber der Wirklichkeit der Dinge. Es handelt sich um eine unendlich große Sphäre, deren Mittelpunkt überall und deren Umfang nirgends ist. Es ist das größte den Sinnen faßbare Zeichen der Allmacht Gottes, daß unsere Einbildungskraft an diesem Gedanken scheitert. Laß den Menschen zu sich selbst zurückkehren und bedenken, was er im Vergleich dazu ist; laß ihn sich selbst sehen als Verlorenen in einem fernen Winkel der Natur, und von diesem kleinen Plätzchen, an dem er sich befindet, ... laß ihn die Erde, die Königreiche, die Städte und sich selbst nach dem wahren Wert erkennen. Was ist ein Mensch in der Unendlichkeit? Aber, um ihm ein anderes Wunder zu zeigen, das ebenso erstaunlich ist, laß ihn die kleinsten Dinge betrachten, die er kennt. Eine Milbe, mit ihrem winzigen Körper und ihren noch viel winzigeren Gliedmaßen mit deren Gelenken, den Adern in den Gliedmaßen, dem Blut in den Adern, der Flüssigkeit im Blut, den Tropfen in der Flüssigkeit und dem Wasserdampf in den Tropfen. Durch weiteres Zergliedern dieser Dinge laß ihn seine Vorstellungskraft erschöpfen und laß uns das Letzte, bis zu dem er vordringen kann, zum Gegenstand unserer Betrachtung nehmen. Vielleicht glaubt er, es handle sich dabei um das kleinste Ding in der Natur. Ich werde ihm darin eine neue Unendlichkeit zeigen. Ich will ihm nicht nur das sichtbare Universum, sondern alles, was er sich von der unermeßlichen Größe der Natur vorstellen kann, im Innern des Atoms zeigen. Laß ihn darin eine Unendlichkeit von Universen sehen, jedes mit seinem eigenen Firmament, seinen Planeten, seiner Erde, im gleichen Verhältnis wie in der sichtbaren Welt; jede Erde mit Tieren und den Milben, in denen er wiederum alles findet, was die erste Milbe enthielt, und in diesen anderen wieder die gleichen Dinge, und so immer weiter, ohne Ende. Laß ihn sich verlieren in den Wundern, die er im Winzigsten entdeckt, ebenso wie zuvor im ungeheuer Großen. Denn wer wird nicht erstaunt sein davor, daß unser Körper, der vor kurzem noch kaum wahrnehmbar im Universum und dieses selber kaum wahrnehmbar im Ganzen war, jetzt ein Koloß, eine Welt geworden ist, oder richtiger ein Ganzes, eine Totalität im Vergleich zu dem Nichts, das wir nicht zu erfassen vermögen? 37
Wer sich in diesem Licht erblickt, wird vor sich selbst erschaudern, und wenn er sich in der Körperlichkeit, die ihm die Natur gab, so zwischen diesen beiden Abgründen, der Unendlichkeit und dem Nichts, sieht, wird er angesichts dieser Wunder erbeben, und je mehr sein Staunen sich in Bewunderung wandelt, um so mehr wird er bereit sein, schweigend sich darein zu versenken, statt sie in Überheblichkeit zu beherrschen streben. Denn, was ist der Mensch wirklich in der Natur? Ein Nichts gegenüber dem Unendlichen, ein All gegenüber dem Nichts, eine Mitte zwischen Nichts und All. Da er unendlich weit davon entfernt ist, die äußersten Grenzen zu verstehen, und das Ende der Dinge wie deren Anfang vor ihm hoffnungslos als ein undurchdringliches Geheimnis verborgen sind, ist er gleichermaßen unfähig, das Nichts zu erkennen, aus dem er geschaffen wurde, wie das Unendliche, das ihn verschlingen wird. Was also kann er tun, als das Phänomen der Mittelstellung der Dinge wahrzunehmen, in der dauernden Verzweiflung, weder ihren Anfang noch ihr Ende zu kennen.
Was bisher über die Totalität gesagt worden ist, sei es von Pascal oder dem Hua-yen-Buddhismus, kann vielleicht wie folgt zusammengefaßt werden: So wie ein Sonnensystem seine Planeten enthält oder ein Planet seine Atome, so schließt ein «größeres» Universum immer die «kleineren» ein und ist umgekehrt selber eingeschlossen in einem Universum, das größer ist als es selber. Dieses System von höheren Bereichen, die niedrigere einschließen, wird als ein Gefüge betrachtet, das aus «Schichten» oder «Ebenen» besteht, die sich ad infinitum in beide Richtungen erstrecken. Ein Universum kann unendlich groß oder unendlich klein sein, das hängt vom Maßstab ab oder vom Standpunkt, von dem aus gemessen wird. Kurz, Totalität wird hier beschrieben als Bereiche, die Bereiche ad infinitum umschließen (chung-chung wuchin). Bis hierher besteht kein Unterschied zwischen der Hua-yen-Version der Totalität und der Pascals. Aber wenn wir weiter lesen und genauer zusehen, finden wir, daß ein großer Unterschied zwischen den beiden besteht. Wir lesen im Hua-yen-Sutra: Die unbeschreiblichen unendlichen Welten lassen sich alle in der Spitze 38
eines Haares [eines Buddha] versammeln, ohne sie zusammenzudrängen oder das Haar auch nur im geringsten auszudehnen. . . . In diesem Haar bleiben die Welten so, wie sie sind, . . . Und an anderer Stelle: Sobald ein Bodhisattva die Zehn Arten der Weisheit errungen hat, kann er die Zehn Allumfassenden Verschmelzungen vollziehen. ... Alle Universen in ein Haar zu bringen und ein Haar in alle Universen; die Leiber aller Lebewesen in einen Leib zu bringen und einen Leib in die Leiber aller Lebewesen; eine unvorstellbare Zahl von Äonen in einen Augenblick zu bringen und einen Augenblick in eine unvorstellbare Zahl von Äonen; ... alle Gedanken in einen Gedanken zu bringen und einen Gedanken in alle Gedanken; ... aus allen drei Zeiten eine Zeit zu machen und aus einer Zeit alle drei Zeiten. ... [Er geht in den Samadhi ein] in einem Augenblick und taucht daraus auf in Billionen von Zeitaltern; er geht ein in ihn in Billionen von Zeitaltern und geht hervor daraus in einem Augenblick; ... er geht ein in ihn in der Gegen-wart und taucht auf daraus in der Vergangenheit; ... er geht ein in ihn in der Vergangenheit und taucht daraus auf in der Zukunft.
Hier finden wir, daß sowohl Zeit wie Raum ihre Bedeutung und Macht verloren haben. Hier handelt es sich nicht nur darum, daß ein Bereich andere Bereiche ad infinitum umschließt, sondern um eine totale Umkehrung, eine durchgehende Befreiung von allen Behinderungen. Hier gibt es ein vollkommenes Verschmelzen und Einander-Durchdringen aller Bereiche. Alles in Einem und Eines in allem, das Ineinander-Aufgehen von Sein und Nicht-Sein, das Ineinsfallen von Leere und Existenz, das «gleichzeitige plötzliche Entstehen» und das «vollkommene gegenseitige Sich-ineinander-Auflösen».14 All diese Mysterien der Totalität bestehen in einem zugrundeliegenden Prinzip, nämlich: Alle Dinge, die in Abhängigkeit entstehen (pratityasamutpada), sind leer. Im Gegensatz zu den Lehren der verschiedenen Monismen und Monotheismen behauptet die Hua-yen-Lehre, daß die Wunder der Dharmadhatu ins Spiel kommen nicht aufgrund des Einen, sondern aufgrund der großen Leere. So, wie die Null und nicht die Eins der Ausgangspunkt aller Zahlen ist, so wird aufgrund der Leere (shunyata) die gegenseitige Durchdringung und Nicht-Be39
hinderung der Bereiche möglich. Dank der Leere kann die alles einschließende Totalität die unendlichen Möglichkeiten ohne Behinderung offenbaren. Shunyata (Leere oder Leersein) ist in der Tat das Wesen und das Mark des Buddhismus, das manchmal Nicht-Ich (wu wo) genannt wird, manchmal Nicht-Anklammern (wu chih), Nicht-Verweilen (wu chu), Nicht-Behinderung (wu ai), offene Weite (k'ung hsing), gegenseitige Durchdringung (t'out'o), oder das mit hundertundeinem anderen Namen bezeichnet wird. Betont man den «ichlosen» Aspekt dieses großen Shunyata-Mysteriums, haben wir den Hinayana-Buddhismus; betont man den leeren Aspekt dieses Mysteriums, haben wir den Madhyamaka-Buddhismus; betont man den Aspekt des Nicht-Anklammerns und Nicht-Verweilens, haben wir Zen; betont man den Aspekt der Nicht-Behinderung und des Alles-Umschließenden, haben wir Hua-yen. Faßt man das, was wir in den Zitaten aus dem Hua-yen-Sutra gelesen haben, zusammen, so findet man, daß die Totalität und Nicht-Behinderung der Buddhaschaft wie folgt ausgedrückt werden: 1. Ein Universum kann unendlich groß oder unendlich klein sein, je nach dem Maßstab oder dem Standort, von dem aus gemessen wird. 2. Die «größeren» Universen enthalten die «kleineren» wie ein Sonnensystem seine Planeten oder ein Planet seine Atome. Dieses System höherer Bereiche, die niedrigere einschließen, wird veranschaulicht in einem Gefüge, das sich ad infinitum in beiden Richtungen erstreckt zum unendlich Großen und unendlich Kleinen. Das heißt in der Sprache des Hua-yen-Sutra : die Sicht von Bereichen, die andere Bereiche umschließen. 3. Ein «kleines» Universum (etwa ein Atom) enthält nicht nur die unendlich «kleineren» Universen in sich, sondern auch die unendlich «größeren» Universen (wie das Sonnensystem), was die echte Totalität der NichtBehinderung begründet. 4. Die «Zeit» hat ihre Bedeutung als eine bloße Vorstellung für das Messen des Ereignisflusses in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verloren. Sie ist ein Element der Totalität geworden, das die totale Durchdringung und das Enthaltensein aller Ereignisse der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer ewigen Gegenwart verwirklicht.
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5. Auf der großen Bühne der unendlichen Dharmadhatu spielen sich ungezählte Dramen des Religiösen in zahllosen Raum-Zeit-Erstreckungen in aller Ewigkeit ab.
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Ein Gespräch über die Totalität
Bevor wir die Hua-yen-Lehren von der Nicht-Behinderung und der Totalität weiter behandeln, wollen wir zuerst ein Gespräch hören, das vielleicht die Skepsis verringern kann, die angesichts der «unlogischen» und phantastischen Behauptungen des Hua-yen-Sutra im Leser entstanden sein mag. Dieser Dialog könnte in der Unterweisungshalle jedes chinesischen Klosters stattfinden, in dem Hua-yen gelehrt wird. Der Meister sagt: «So ist also der Bereich der Buddhaschaft die Totalität der Nicht-Behinderung - das allverschmelzende, einander durchdringende und gleichzeitige Entstehen unendlicher Bereiche, wie sie ein allwissender und allgegenwärtiger Geist wahrnimmt. Wenn einer bis zu diesem Bereich gelangt, befreit er sich von der Gebundenheit an Zeit und Raum, an Reinheit und Befleckung, an Nirvana und Samsara. Er kann einen Chiliokosmos in ein Sonnenstäubchen bringen, ohne daß der Chiliokosmos sich zusammenziehen oder das Sonnenstäubchen sich ausdehnen muß, weil die Bindungen der Materie und Größe nicht länger für ihn existieren. Er kann die Vergangenheit nehmen und sie in die Zukunft werfen und die Zukunft ergreifen und sie in die Vergangenheit schleudern, weil die Fesseln von Zeit und Verursachung ihre Gewalt über ihn verloren haben. Der Bereich des Hua-yen ist...» An dieser Stelle ist die Geduld eines Schülers erschöpft. Er erhebt sich und unterbricht den Meister. «Aber, Meister,... wie können wir von diesen Behauptungen überzeugt sein? Man kann sagen, daß alle diese Dinge jenseits unseres Begreifens sind, aber auch wenn dem so
ist, würden wir doch gern um die Möglichkeit der Existenz dieser Dinge wissen. Es scheint ungenügend, uns zu erzählen, was ein Buddha erlebt und wie unerforschlich diese Erfahrungen sind. Es muß einen rationalen Grund für alle diese Behauptungen geben, wie es ihn auf jedem Gebiet der buddhistischen Studien gibt. Bitte, könntet Ihr mir nicht einige Erläuterungen oder Vergleiche geben, um die Finsternis in meinem Geist zu vertreiben?» Der Meister hört mit einem Lächeln der Sympathie zu. Er erinnert sich, daß dies genau die Worte waren, die er selbst einst zu seinem Meister sprach. «So, du glaubst, es sei unmöglich, ein größeres Ding in einem kleineren unterzubringen, ohne das erstere zusammenzupressen oder das letztere aufzublähen?» «Es scheint so zu sein, Meister.» «Dann schließ einmal die Augen», befiehlt der Meister, «und stell dir im Geist eine Bettelschale vor.» Nach ein paar Sekunden fährt er fort: «Nun stell dir einen Büffel vor... nun das ganze Kloster... und jetzt den riesigen Berg, der sich vor dem Kloster erhebt.» Dann fragt er: «Hattest du irgendeine Schwierigkeit, dir einen Büffel, ein Kloster oder einen riesigen Berg vorzustellen?» «Überhaupt keine Schwierigkeit, Meister.» «Dein Kopf ist kleiner als ein Büffel und viel kleiner als das Kloster oder ein Berg, aber du kannst dir diese ohne jede Schwierigkeit vorstellen. Zeigt dir das nicht die Möglichkeit, daß ein kleineres Ding ein größeres enthalten kann, ohne sich selber zu dehnen oder das andere zusammenzudrängen? Das ist ein Beispiel für die Nicht-Behinderung von «Größen» und «Räumen». Jetzt will ich dir ein Beispiel für die Nicht-Behinderung der «Zeiten» geben: Träumte ein Mensch, daß sein Vater, der schon lange tot ist, ihn in einem Haus besucht, das er noch nicht bezogen hat - ein nicht so unwahrscheinlicher Fall -, so wäre das Zeugnis für die Möglichkeit, Ereignisse der Vergangenheit in die Zukunft zu stellen und umgekehrt. Wenn es schon im Fall von Menschen möglich ist, die Bindungen von Zeit und Raum manchmal zu durchbrechen, um wieviel verständlicher wäre das doch bei Buddhas - bei Erleuchteten, die Befreiung von jedem Zwang erlangt haben!» 43
Diese Argumente bringen den Schüler zum Schweigen, aber er ist nur halb überzeugt. Nachdem er einen ganzen Tag nachgedacht hat, erhebt er am nächsten Morgen in der Klasse neue Einwände. «Meister, nach sorgfältigem Überdenken Eurer Argumente sage ich trotzdem, daß sie nicht völlig überzeugend sind. Man kann sich im Kopf einen großen Berg vorstellen, ohne den Kopf zur Größe des Berges zu erweitern, aber man stellt nicht tatsächlich den wirklichen Berg in seinen wirklichen Kopf; versuchte man das, so würde der Kopf sicher in Stücke springen. Auch bringt der Träumer nicht in Wirklichkeit seinen toten Vater in sein zukünftiges Heim. Alles, was er in seinem Traum tut, ist, sich im gegenwärtigen Augenblick ein Ding der Vergangenheit zusammen mit einer Sache in der Zukunft vorzustellen.» Der Meister erwidert: «Ich glaube, du verfehlst den entscheidenden Punkt. Deine ursprüngliche Frage war gestern: ‹Was ist der rationale Grund für die vom Hua-yen aufgestellten Behauptungen? Und was für Beispiele oder Beweise lassen sich geben, um sie zu belegen ?› Ich gab dir einen Beweis für die Tatsache, daß es für eine größere Sache nicht unmöglich ist, in einer kleineren zu existieren; das Bild eines ungeheuren Berges kann in dem kleinen Bereich des Gehirns existieren. Ich habe nicht gesagt, daß wir in Wirklichkeit einen gewaltigen Berg in unseren Kopf unterbringen können, solange wir in diesem besonderen Bereich sind. Es ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern, daß die Hua-yen-Lehre weder die Gesetze unserer empirischen Welt noch die unserer rationalen Welt verletzt, solange wir das zur Diskussion Stehende auf den Bereich der Menschen beschränken. Aber wenn wir über etwas vom Standpunkt der Buddhaschaft aus sprechen, ändert sich die Sachlage. Das ist in dem Sutra klar ausgesprochen: Die unbeschreiblichen unendlichen Welten lassen sich alle in der Spitze eines Haares [eines Buddha] versammeln, ohne sie zusammenzudrängen oder das Haar auch nur im geringsten auszudehnen. ... In diesem Haar bleiben die Welten so, wie sie sind.
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Und an anderer Stelle: Der Buddha warf diesen Chiliokosmos nach oben und nach unten, in die westliche, östliche, südliche und nördliche Richtung ... und ließ ihn dabei Millionen, Billionen ... unendlich viele Universen durchwandern. ... Und dann warf er ihn zurück und ließ ihn dabei wieder durch dieselbe Zahl von Universen wandern bis zurück zum Ausgangspunkt. ... Die Lebewesen, die in diesem Chiliokosmos lebten, waren sich dieser großen Bewegung nicht bewußt; sie lebten in ihren jeweiligen Welten so, als ob nichts geschehen wäre.»
Der Meister fährt fort: «Wenn wir diese beiden Zitate ein wenig näher betrachten, so finden wir nichts Absonderliches darin. Sie besagen einfach erstens, daß ein Erlebnis in einer Welt stattfinden kann, ohne dabei ein Erlebnis derselben Art in einer anderen Welt zu behindern, obwohl die beiden Welten miteinander verbunden, miteinander verwoben, ja sogar ‹identisch› sind; und zweitens, daß ein Prinzip oder ein Erlebnis, das in der einen Welt als wahr anerkannt wird, es nicht unbedingt in der anderen sein muß; und durch diesen Widerspruch wird keines der beiden negiert oder ungültig gemacht. Sie koexistieren harmonisch, ohne sich gegenseitig zu beeinträchtigen. Um dies vollständig zu verstehen, solltest du sehr sorgfältig den Zehn Mysterien folgen,15 besonders dem ersten und dem dritten. Bevor ich fortfahre, möchte ich dich zuerst fragen, was du damit gemeint hast, daß wir nicht tatsächlich einen wirklichen Berg in unserem Kopf unterbringen können? Insbesondere möchte ich wissen, was du mit tatsächlich und mit wirklich gemeint hast?» «Mit tatsächlich oder wirklich meine ich ein Erlebnis, das von mir und von anderen Menschen geteilt wird. Wenn ich sage, ich trinke tatsächlich einen Becher Wasser, dann meine ich damit, daß ich und die anderen, das heißt die Zuschauer, ein Erlebnis haben, welches eine gemeinsame Grundlage für mich und für die Zuschauer bildet, eine Grundlage, auf die mit dem Satz ‹Herr Soundso hat gerade einen Becher Wasser getrunken› verwiesen wird. Der Meister: «Mit anderen Worten, was du mit tatsächlich meinst, ist etwas, das du und andere gemeinsam erlebt haben. Glaubst du denn, daß das, was du erlebt hast, und das, was die Zuschauer erlebt 45
haben, identisch ist, oder ist es nicht vielmehr verschieden? Und ferner, was meinst du mit ‹auf diese Grundlage verweisen›? Sollte es nicht eher ‹auf diese Grundlagen› heißen?» Der Schüler: «Nun, das Erlebnis, das ich hatte, und das Erlebnis, das die Zuschauer hatten, mag nicht ganz das gleiche gewesen sein, aber die gemeinsame Grundlage, auf die sich diese Erlebnisse beziehen, ist dieselbe. Daher ist es richtig zu sagen, diese gemeinsame Grundlage.» Der Meister: «Bist du dir da ganz sicher? Mir scheint, das Problem ist viel komplizierter, als du denkst. Laß uns der Einfachheit halber annehmen, daß alles, was du gesagt hast, stimmt. Dein Verständnis des ‹Wirklichen› basiert auf einer Kombination subjektiver und objektiver Annahmen. Das heißt, nicht nur du, sondern auch die Zuschauer können ein entsprechendes Erlebnis haben, womit die rein subjektive Annahme, die nach deiner Meinung nicht immer verläßlich ist, nicht ausschlaggebend ist. Ich will auch das vorläufig anerkennen. Aber der wesentliche Punkt, auf den hier unbedingt hingewiesen werden muß, ist, daß das Teilen eines Erlebnisses zur Voraussetzung hat, daß sich die Teilnehmer in derselben Welt befinden müssen. Ein Blinder kann das Erlebnis nicht teilen, das die Beobachter eines bestimmten Vorganges haben, auch wenn er körperlich genauso anwesend ist. Seine körperliche Anwesenheit verleiht ihm nicht die Fähigkeit, die Erfahrung des Sehens zu haben. Der Ausdruck «Existenz» oder «Nicht-Existenz» ist nur dann sinnvoll, wenn ein abgegrenzter Bereich vorgegeben oder impliziert ist. Dieser Schritt des ‹Sich-auf-einen-bestimmten-BereichFestlegens, um etwas sinnvoll zu machen›, stellt den wesentlichen Unterschied dar zwischen der Orientierung der gewöhnlichen Menschen und der des Hua-yen. Die gewöhnlichen Menschen beurteilen und sehen die Dinge aus einer bestimmten und daher begrenzten Perspektive, während das Hua-yen sie vom Standpunkt der Totalität sieht - was genau das Gegenteil von ‹abgegrenzt› und von Einschränkungen jeglicher Art bedeutet. Um meine Antwort auf deine Frage bezüglich der ‹Vernunftgründe› für die Behauptungen des Hua-yen abzuschließen, möchte ich sagen, daß die Richtigkeit der Aussagen des Hua-yen auf dem Wissen um die Bereiche basiert, um deren Beziehungen und Selbst-Genügsamkeit, deren Echtheit und Scheinhaftigkeit, deren
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Hindernissen und deren ‹Verminderung›, um ihre Befreiung und Bindung, ihre Existenz und Nichtexistenz und so weiter. Diese Punkte zu erhellen ist das Hauptanliegen der Philosophie des Hua-yen - eine Aufgabe, der sich die fünf Patriarchen16 und ihre Nachfolger mit großem Erfolg gewidmet haben.»
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Nicht-Behinderung Der Schlüsselbegriff der Totalität
Das Gespräch in dem vorhergegangenen Kapitel zeigt klar, daß das zentrale Thema der Hua-yen-Philosophie die Vorstellung der Bereiche ist. Totalität und Nicht-Behinderung würden sinnlos werden ohne das Konzept der Bereiche, denn der wahre Sinn der Totalität wird hier definiert als das Umschließen aller Bereiche und die Nicht-Behinderung als die unbegrenzte Möglichkeit von deren gegenseitiger Durchdringung. Aber was ist ein Bereich? Ein Bereich, allgemein verstanden, ist ein Areal oder eine Sphäre, in der gewisse Aktivitäten, Gedanken oder Einflüsse stattfinden; daher bedeutet ein Bereich immer ein Territorium mit bestimmten Grenzen. Hier ein einfaches Beispiel: Ein Glas Wasser wird von gewöhnlichen Menschen nur als eine Flüssigkeit angesehen, mit der man seinen Durst löschen kann; ein Chemiker sieht darin eine Verbindung von Wasserstoff und Sauerstoff, ein Physiker das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens atomarer «Teilchen», ein Philosoph etwas, das eine Verbindung oder eine Verursachung ausdrückt, ein Buddha die Manifestation oder die Emanation der Buddha-Natur und so weiter. Dieses einfache Beispiel liefert uns einige Argumente, die bei der Darstellung der gegenseitigen Durchdringung der Bereiche nützlich sein können. In einem so einfachen Ding wie einem Glas Wasser überschneiden sich zahllose Bereiche; sie existieren gemeinsam miteinander in einer sehr geheimnisvollen Weise. Einerseits «leben sie friedlich», jeder Bereich in seiner eigenen Sphäre, ohne aus ihren Grenzen herauszutre-
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ten; andererseits «leben sie harmonisch zusammen», das heißt, ohne die geringste Behinderung oder Beeinträchtigung anderer Bereiche zu erzeugen. Die Tatsache, daß Wasser als Mittel benützt werden kann, den Durst zu löschen, hindert es nicht, auch H2O zu sein, ein Muster atomarer Wechselwirkungen, ein Ausdruck von Verbindung und Verursachung und all das übrige. Auf einer Ebene oder in einem Bereich ist Wasser ein Mittel, mit dem man ein Feuer löschen kann; auf einer anderen Ebene ist es etwas, aus dem man brennbaren Wasserstoff gewinnen kann. So können die Einordnungen und Bewertungen derselben Sache einander diametral entgegengesetzt sein, wenn der Bezugsrahmen unterschiedlich ist oder sie von unterschiedlichen Gesichtspunkten angesehen wird. Die Tatsache, daß verschiedene Bereiche miteinander in demselben Gegenstand gemeinsam existieren, wird von den Hua-yen-Philosophen als die Wahrheit des «gleichzeitigen Entstehens» (t'ung-shih chü-ch'i) bezeichnet, und die Tatsache, daß diese verschiedenen Bereiche, während sie gleichzeitig existieren, einander nicht behindern oder beeinträchtigen, sondern einander in harmonischer Weise durchdringen, wird die Wahrheit der «gleichzeitigen Nicht-Behinderung» (t'ung-shih wu-ai). Gleichzeitiges Entstehen und gleichzeitige Nicht-Behinderung sind zwei wichtige Begriffe, die in der Hua-yen-Literatur häufig gebraucht werden; wir werden sie später ausführlicher behandeln. Hier aber erinnern sie uns zunächst an einen wichtigen Umstand - nämlich, daß der menschliche Geist im Grunde nicht durch gleichzeitiges Entstehen und Nicht-Behinderung charakterisiert ist. In dem Augenblick, in dem wir an Wasser als ein Mittel zum Löschen des Durstes denken, können wir es nicht als H2O, atomare Wechselwirkungen und so weiter denken; wir müssen nacheinander von einem Bereich zum nächsten übergehen, um das Wasser auf diese Weisen zu begreifen. Dies zeigt, daß die menschliche Weise zu denken der «Eins-nachdem-anderen»-Methode des «Wechselns der Bereiche» folgt, was das genaue Gegenteil von gleichzeitigem Entstehen ist. Hier ein Beispiel: Ein äußerst fähiger, aber überlasteter Manager hat sechs Telefone auf seinem Schreibtisch, und jedes davon ist verbunden mit einer Abteilung seiner Firma. Er kann gewöhnlich zwei Telefonate gleichzeitig erledigen, gelegentlich auch drei. Er kann so schnell und so reibungs49
los «die Bereiche wechseln», daß er beinahe den Punkt des «gleichzeitigen Tuns» erreicht, aber manchmal verliert er unweigerlich den Überblick, wenn alle sechs Telefone gleichzeitig läuten. Im Gegensatz zu dieser die Bereiche wechselnden und in einem Moment nur in einem Bereich tätigen Methode, wie sie dem Geist des Menschen eigen ist, nimmt der allwissende Geist der Buddhaschaft eine gänzlich andere Funktionsweise an. Ein Geist, der alles sieht, muß nicht und kann nicht der Methode des Bereichswechsels und des Eins-nach-dem-anderen folgen; er muß Dinge in zahllosen Bereichen sehen, eines das andere durchdringend, alle in ungeheurem Maßstab gleichzeitig entstehend. Wenn wir für einen Augenblick aus unserer mechanischen und automatischen Art zu handeln heraustreten und die Dinge, die uns umgeben, überblicken - was für ein ungeheures und ehrfurchtgebietendes Mysterium werden wir entdecken! Sehen Sie sich an, was Sie gerade vor Augen haben: ein Glas Wasser, einen Tisch, einen Bleistift, eine Blumenvase oder den tanzenden Rauchfaden, der von einem brennenden Räucherstäbchen aufsteigt - in jedem Gegenstand in einem kleinen Zimmer sind unzählige Bereiche vor Ihren Augen existent, und doch können Sie sie nicht sehen! Aber dies ist nur das Bild eines Zimmers; wieviel größer wird erst das alle Bereiche umfassende Bild des ganzen Hauses, des Häuserblocks, der Stadt, des Landes, der Erde, des Sonnensystems, des Kosmos und der ganzen Dharmadhatu sein! Was für ein ungeheures Panorama muß ein allwissender Geist sehen! Aber dieses Panorama des gleichzeitigen Entstehens der Totalität zu sehen, ist nicht möglich ohne Realisierung der gleichzeitigen Nicht-Behinderung. Ersteres betrifft die «äußere Erscheinung» oder die Offenbarung der Totalität, letzteres die «innere Beziehung» oder die «Zusammensetzung» der verschiedenen Bereiche, gesehen vom Standpunkt der Totalität. Ontologisch gesprochen ist gleichzeitige NichtBehinderung noch wichtiger als gleichzeitiges Entstehen, denn durch die Verwirklichung der Nicht-Behinderung wird das Offenbar-werden der Totalität erst möglich. Nicht-Behinderung ist daher das Herzstück der Hua-yen-Philosophie. Aber was ist Behinderung? Gemeinhin versteht man unter Behinderung etwas, das irgendeiner Sache oder einer Tätigkeit im Wege 50
steht oder sie blockiert. Behinderung, wie sie jedoch im Hua-yen verstanden wird, hat einen weitergehenden Sinn; sie bezieht sich auf die «Grenzmauern», die zwischen den verschiedenen Bereichen bestehen. Um dies zu erklären, müssen wir zu unserem Beispiel vom Glas Wasser zurückkehren; in ihm finden wir viele unterschiedliche Bereiche vereinigt. Obwohl diese verschiedenen Bereiche gleichzeitig existieren und einander in höchst harmonischer Weise durchdringen, stehen zwischen ihnen bestimmte «Grenzmauern». Diese Grenzmauern mögen «greifbar» oder «unfaßbar» sein, «konkret» oder « abstrakt», «undurchdringlich» oder «durchbrechbar», «starr» oder «nachgiebig», aber sie haben alle eine bestimmte einschränkende oder begrenzende Funktion. Diesen Punkt klarzumachen kann uns das folgende Bild helfen: Ein Mensch ohne wissenschaftliche Schulung kann tausend Gläser Wasser trinken oder hundertmal in das Meer eintauchen, aber das wird ihn nicht dazu bringen, die chemische oder physikalische Zusammensetzung des Wassers zu verstehen. Er bleibt durch die Begrenzungen eines bestimmten Bereiches beschränkt und ist unfähig, sie zu durchbrechen. Um die chemische Zusammensetzung zu verstehen, muß er durch die Grenzmauern hindurchbrechen, die ihn bisher im Bereich der Unwissenheit gefangen hielten. Was er benötigt, ist nicht die Wiederholung von Experimenten, die zu dem führen, was er bereits weiß, sondern eine neue Methode und eine neue Orientierung, die ihn dazu bringen, die Grenzmauern zu durchbrechen. Diesen Ausdruck «durchbrechen» haben wir schon so oft gehört, daß wir dazu neigen, seine Wichtigkeit und Konsequenzen zu vergessen. Durchzubrechen bedeutet nicht nur, die «Grenzmauern» niederzureißen, die zwischen dem alten und dem neuen Bereich stehen, sondern auch die Erweiterung und Integration der beiden. Ein revolutionärer Durchbruch erfordert immer große Geduld, Anstrengung und Einsicht - ein klares Zeichen für die unnachgiebige und einschränkende Funktion der Grenzmauern. Diese «Mauern» sollten natürlich nicht als etwas Konkretes in der äußeren Welt behandelt werden. Sie sind nur Abstraktionen, die auf die begrenzenden und einschränkenden Funktionen eines Bereichs hinweisen. Benützt man die Huayen-Ausdrucksweise, dann sind sie «Blockaden», die der Totalität im Wege stehen. Eine vollständige Beseitigung dieser «blockierenden
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Mauern» befähigt uns, den Bereich der Nicht-Behinderung zu erreichen, der das Ziel und das Herzstück des Hua-yen ist. Hier kann man fragen: Da die Behinderungen oder «Grenzmauern» so zahllos sind wie die unendlichen Bereiche selbst, wie kann es dann jemandem möglich sein, sie alle zu zerstören? Die Antwort ist: Auch wenn die Behinderungen zahllos sind, leiten sich doch alle von der einen grundlegenden Blockade her, nämlich der Idee des Seins. Ist diese Grundlage einmal zerschlagen, so werden damit auch alle darauf errichteten Konstruktionen zerstört. Die Idee des Seins, diese Urwurzel, aus der alle anderen Ideen entspringen, ist daher die Quelle aller Hindernisse. Diese eingewurzelte, hartnäckige und alles durchdringende Idee des Seins ist die Urbehinderung, die der Totalität und unserer Befreiung im Wege steht. Statt das Sein zu glorifizieren und zu vergöttlichen, wie es viele Philosophen und Theologen sowohl westlicher wie östlicher Überlieferungen getan haben, betont der Buddhismus die unbefriedigenden und trügerischen Aspekte des Seins und die Wichtigkeit seiner Zerstörung. Ein Zen-Ausspruch hat diesen Punkt sehr klar gemacht: «Alle Dinge sind auf das Eine rückführbar; aber worauf ist dieses Eine rückführbar?» Der größte Durchbruch, der jemals vom Menschen erreicht werden kann, ist die Pulverisierung der Blockade, die die Vorstellung vom «Sein» oder vom «Einen» darstellt. Diese Blockade aber ist, psychologisch gesprochen, nichts anderes als eine tiefeingewurzelte Tendenz, Dinge festzuhalten, eine Form des Anklammerns, die sich in einer Art von eigenmächtigem Selbstbehauptungswillen manifestiert. Totalität ist unerreichbar ohne vollständige Vernichtung dieses grundlegenden Anklammerns; und Nicht-Behinderung kann nicht verwirklicht werden ohne ein Begreifen der Wahrheit des «NichtSeins», das heißt von Shunyata (Leere) - dem Herzstück und Wesen des Buddhismus. Nicht-Behinderung, wie das Hua-yen sie lehrt, fußt daher auf der Doktrin von der Leere, denn nur die Leere, selbst ohne Grenze oder Behinderung, kann alle Behinderungen «auflösen». Wir werden das Prinzip der Leere und der Nicht-Behinderung später noch in allen Einzelheiten behandeln. Ich will aber zunächst eine berühmte Geschichte anführen, die davon handelt, auf welch überzeugende Weise Meister Fa-tsang (643-712) der Kaiserin Wu
oder Wu Tse-t'ien aus der Tang-Dynastie, 17 die von 684-704 regierte, den Bereich der Totalität veranschaulichte.
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Der Spiegelsaal des Fa-Tsang
In der glorreichen Tagen der Tang-Zeit, als das chinesische Volk sich in allen Schichten des Wohlstandes und des Fortschritts erfreute und die kulturellen wie geistigen Inspirationen sich in einer Atmosphäre des Uberflusses und Erfolgs mehrten, fand die Kaiserin Wu Tse-t'ien ein besonderes Interesse an der Förderung des Buddhismus. Sie war so beeindruckt von der faszinierenden Lehre dieser fremden Religion, daß sie einige Jahre lang (ehe sie Kaiserin wurde) das Leben einer Nonne in einem Kloster führte. Später zog sie sich aus dem Kloster zurück und wurde Kaiser Kao-tsungs Konkubine. Als Kao-tsung starb, bemächtigte sie sich des Throns und wurde die erste - und auch die letzte - Kaiserin in der chinesischen Geschichte. Sie regierte zwanzig Jahre lang mit großem Erfolg. Sie wurde gehaßt und geliebt, geschmäht und bewundert, sowohl von den Zeitgenossen wie von der Nachkommenschaft. Der Geschichtsschreibung gilt sie bis heute als widerspruchsvolle Gestalt, aber niemand kann die Tatsache leugnen, daß diese außergewöhnliche Frau den größten Staatsmännern Chinas an die Seite zu stellen ist. Die Kaiserin Wu Tse-t'ien war nicht nur eine große Beschützerin des Buddhismus, sondern, meiner Meinung nach, eine höchst bemerkenswerte buddhistische Gelehrte. Ihr berühmtes «Gebet vor Öff nung der Heiligen Schrift»18 ist so ausgezeichnet, daß es von allen Buddhisten in China durch die Jahrhunderte rezitiert wurde. Ihr tiefes Interesse am Hua-yen veranlaßte sie, einen Abgesandten nach Yütien (Chinesisch-Turkestan) um einen vollständigeren Text des Huayen-Sutra19 zu senden. Unter ihrer Patenschaft wurde die achtzigbän54
dige Fassung dieses Sutra dank der gemeinsamen Anstrengungen chinesischer und ausländischer Mönchsgelehrter unter der Leitung des berühmten Sanskritgelehrten Shikshananda übersetzt. Es wird erzählt, daß während der Arbeit an der Übersetzung die Kaiserin oft selbst zum Kloster ging, um den Mönchen Essen zu bringen. Im zehnten Monat des Jahres 699 war die Übersetzung beendet, und die Kaiserin selbst schrieb zu Ehren dieser monumentalen Leistung eine ausgezeichnete Vorrede für das Buch. Zu dieser Zeit berief sie Meister Fa-tsang in die Hauptstadt, damit er dort Hua-yen im Lichte dieser neuen Übersetzung lehre. Als er über das Kapitel «Die Lotosschatz-Welt» zu predigen begann, bebte die Erde eine ganze Stunde als günstiges Zeichen für den Anlaß. Die Kaiserin Wu war hocherfreut. An diesem selben Tag berief sie Fa-tsang in den königlichen Palast und befragte ihn über die Hua-yen-Lehren von den Zehn Mysterien, von Indras Netz, vom Meeresspiegel-Samadhi, vom Prinzip der Sechs Formen und so fort. Mit bewunderungswürdiger Gelehrsamkeit und Einsicht beantwortete Fa-tsang alle ihre Fragen - aber diese Lehren sind zu tief, um sofort verstanden zu werden, selbst von einem so glänzenden Geist, wie es der von Wu Tse-t'ien war. Fürs erste war sie in Verlegenheit. Überrascht und fasziniert von Fa-tsangs Worten, fragte sie ihn wieder und wieder. Fa-tsang suchte nach einem Bild zur Veranschaulichung des Gesagten und erblickte einen goldenen Löwen, der in einer Ecke des Saales stand. Er ging zu dem Löwen hinüber und hielt dann seine berühmte Rede Über den goldenen Löwen, in der er die Wesenszüge der Hua-yen-Philosophie veranschaulichte, indem er den Löwen als Gleichnis benützte und so die Kaiserin zu einem schnellen Verstehen der Lehre brachte. Eines Tages stellte die Kaiserin Fa-tsang die folgende Frage: «Ehrwürdiger Meister, ich verstehe, daß der Mensch seine Erkenntnis auf zwei Wegen erwirbt: einmal durch Erfahrung, der direkte Weg, und das andremal durch Schlußfolgerung, die indirekte Methode. Ich verstehe auch, daß die ersten fünf Bewußtseinsarten und das Alaya nur die direkte Methode benützen, während der Geist, das sechste Bewußtsein, beide benützen kann. Deshalb sind die Erkenntnisse des bewußten Geistes nicht immer vertrauenswürdig. Die Zuverlässigkeit und Überlegenheit der unmittelbaren Erfahrung über die indirekte 55
Schlußfolgerung wird in vielen Schriften gelehrt. Ihr habt mir die Hua-yen-Lehre mit großer Klarheit und großem Scharfsinn erklärt; manchmal vermag ich die ungeheure Dharmadhatu mit meinem geistigen Auge beinahe zu sehen und hier und dort ein Zipfelchen der großen Totalität zu erahnen. Aber ich erkenne, daß all dies nur eine indirekte Annahme oder Hypothese ist. Man kann die Totalität nicht unmittelbar verstehen, ehe man die Erleuchtung erlangt hat. Ich frage mich, ob ihr, dank eures Genies, eine Darstellung zu geben vermögt, die mir das Mysterium der Dharmadhatu offenbart - einschließlich solcher Wunder wie des ‹Alles in Einem und Eines in allem:, wie des gleichzeitigen Entstehens aller Bereiche, der gegenseitigen Durchdringung und des wechselseitigen Enthaltensein aller Dharmas sowie der NichtBehinderung von Raum und Zeit und dergleichen?» Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, sagte Fa-tsang: «Ich will es versuchen, Euer Majestät. Die Demonstration soll sehr bald stattfinden.» Einige Tage später kam Fa-tsang zur Kaiserin und sagte: «Euer Majestät, ich bin bereit. Bitte kommt mit mir an den Ort, wo die Demonstration stattfinden wird.» Er führte die Kaiserin in einen Raum, der mit Spiegeln ausgelegt war. An der Decke und auf dem Fußboden, an allen vier Wänden und auch in den vier Ecken des Raums waren, riesige Spiegel befestigt - alle einander gegenüber. Fatsang stellte eine Buddhastatue in das Zentrum des Raums und daneben eine brennende Fackel. «O, wie phantastisch, wie wundervoll!» rief die Kaiserin, als sie dieses ehrfurchtgebietende Panorama erblickte. Dann wandte sich Fa-tsang ihr mit den Worten zu: «Euer Majestät, dies ist eine anschauliche Darstellung der Totalität in der Dharmadhatu. In jedem Spiegel hier in diesem Raum werdet ihr die Widerspiegelungen all der anderen Spiegel mit der Buddhafigur darin finden. Und in jeder Widerspiegelung jedes Spiegels werdet ihr all die Widerspiegelungen aller anderen Spiegel mit der Buddhafigur darin finden, ohne daß irgendetwas ausfiele oder an falscher Stelle stünde. Das Prinzip der gegenseitigen Durchdringung oder des wechselseitigen Enthaltenseins wird durch diese anschauliche Darstellung klar gezeigt. Hier sehen wir ein Beispiel des ‹Eines in allem und alles im Einem: - das Mysterium des Bereichs, der Bereiche ad infinitum umschließt, wird offenbar. Das Prinzip des gleichzeitigen Entste56
hens unterschiedlicher Bereiche ist hier so offensichtlich, daß keine Erklärung notwendig ist. Diese unendlichen Widerspiegelungen unterschiedlicher Bereiche entstehen gleichzeitig ohne die geringste An-strengung - ganz natürlich in vollkommen harmonischer Weise. Auch das Prinzip der Nicht-Behinderung des Raumes kann auf diese Art veranschaulicht werden. (Als er dies sagte, nahm er eine Kristallkugel aus seinem Ärmel und legte sie auf seine Handfläche.) Euer Majestät, wir sehen alle Spiegel und ihre Widerspiegelungen in dieser kleinen Kristallkugel. Hier haben wir ein Beispiel des Kleinen, das das Große enthält, wie auch des Großen, das das Kleine enthält, eine Veranschaulichung der Nicht-Behinderung von Größe und Raum. Die Nicht-Behinderung der Zeiten, also Vergangenheit, die in die Zukunft eingeht, und Zukunft, die in die Vergangenheit eingeht, kann durch diese Darstellung nicht gezeigt werden, vor allem weil etwas Statisches die dynamische Eigenschaft der Zeitelemente vermissen läßt. Eine Darstellung der Nicht-Behinderung der Zeiten und von Zeit und Raum ist mit gewöhnlichen Mitteln schwer zu bewerkstelligen. Man muß eine andere Ebene erreicht haben, um für eine solche ‹Darstellung: aufgeschlossen zu sein. Möge diese Demonstration jedoch ihren Zweck zu Eurer Zufriedenheit erfüllt haben.»
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Die Ursachen der Totalität
An diesem Punkt ließen sich einige Fragen stellen: Was sind die Ursachen dieser alles verschmelzenden Dharmadhatu? Wer vermag um sie zu wissen? Wie und warum ist dieses Reich der Totalität verwirklichbar? Ch'eng-kuan (738-839), der berühmte Hua-yen-Meister, führt als Antwort zehn Gründe an. In seinem berühmten Werk Ein Prolog zum Hua-yen heißt es: Frage: Was sind die Ursachen, die es allen Dharmas [Dingen] erlauben, in solcher Weise durch und durch zu verschmelzen? Antwort: Der Gründe sind zahlreiche; es ist schwierig, sie alle zu diskutieren, aber zehn von ihnen sollen hier kurz angeführt werden: 1. Weil [alle Dinge (dharmas)] bloße Manifestationen des Geistes sind. 2. Weil nichts eine endgültige Natur hat. 3. Weil [alle Dinge] Ursache füreinander sind, ... das heißt, sie entstehen aufgrund des Prinzips des abhängigen Entstehens (pratitya-samutpada). 4. Weil die Dharma-Natur selbst ein vollständiges Verschmolzensein und zudem frei ist. 5. Weil [alle Dinge] wie Phantome und Träume sind. 6. Weil [alle Dinge] gleich Spiegelungen und Bildern sind. 7. Weil die unendlichen Samen [der Tugend] gesät wurden. 8. Weil der Buddha alle Verwirklichungen ausgeschöpft hat. 9. Weil die Macht des tiefen Samadhi sie so sein läßt. 10. Weil die wunderbare Macht und die unergründliche Befreiung des Buddha sie so sein lassen. Jeder dieser Gründe befähigt die Dharmas, ohne Behinderung durch und durch miteinander zu verschmelzen. 58
Von diesen zehn Gründen sind die ersten sechs Beschreibungen der Natur der Dharmas, und dank dieser Gründe ist die Kraft und die Herrlichkeit der Buddhaschaft möglich. Der siebente Grund betont die geistige Übung, durch die die Buddhaschaft herbeigeführt wird; der achte betont ihr Verdienst und der neunte und zehnte ihre Funktion und Rolle.20 Es ist klar, daß die ersten sechs Argumente philosophischer Natur sind und angeführt werden, um das Warum der Dharmadhatu zu erklären. Die verbleibenden vier sind religiöser Natur und gelten dem Wie und Wer. Diese zehn Gründe aber in ihrer ursprünglichen Folge abzuhandeln, wäre nicht sehr zweckmäßig. Darum wollen wir die Ordnung umkehren und die letzten vier Gründe zuerst behandeln. Frage: Was läßt den Buddha diese unergründliche, allesverschmelzende Totalität wahrnehmen? Die Gründe sieben, acht, neun und zehn sagen, er nimmt sie wahr, weil: 7. der Buddha die unendlichen Samen [der Tugend] gesät hat; 8. der Buddha alle Verwirklichungen ausgeschöpft hat; 9. die Macht des tiefen Samadhi es so sein läßt; 10. die Allmacht des Buddha so wunderbar frei ist. Wenn der Bereich der Totalität letztlich nur durch unmittelbare Erfahrung verwirklicht werden kann, aber nicht durch den klügelnden Verstand, wie das Hua-yen betont, dann besteht offensichtlich die Notwendigkeit, Schritte zu tun, um die Begrenzungen oder Behinderungen aufzulösen, die die Sicht der Dharmadhatu blockieren. Unter den vielen Hindernissen, die der Schau der Dharmadhatu im Weg stehen, ist das grundlegende Hindernis das Festhalten am Ich (wo chih), also die hartnäckige Tendenz, sich an ein kleines, abgegrenztes Selbst und dessen Interessen zu klammern. Sein Wesen ist das Ausschließen, seine Funktion das Trennen. Das Ergebnis des Festhaltens am Ich ist das Entstehen von Konflikten, von Leiden und von Lastern. Da das Festhalten am Ich von Natur aus ausschließend und nicht einschließend ist, zurückweisend und nicht umfangend, Gegensätze schaffend und nicht aussöhnend, ist es der alles einschließende und alles umfangenden Harmonie der Dharmadhatu diametral entgegengesetzt. Es ist daher leicht zu erkennen, daß Festhalten am Ich die Verwirklichung der Dharmadhatu eher behindert als zu ihr verhilft. 59
Was also kann zur Verwirklichung der Dharmadhatu führen? Die Dharmadhatu ist das Ganze, das Grenzenlose, das Liebende und Gute. Auf dieser Basis erhält der siebente Grund seine Bedeutung. Warum? Weil Tugend und Gut-Sein, in welcher Form auch immer, stets irgendein Aufgeben des «kleinen Ich» sowie eine Verstärkung der Harmonie und Einheit einschließen. Sie sind zuinnerst der Natur der Dharmadhatu verwandt. So wird im Hua-yen-Sutra gesagt, daß der Buddha in seinen früheren Leben, als er noch als Bodhisattva nach Erleuchtung strebte, die Samen der Tugend säte: Ein großes mitleidendes Herz, das sich sehnt, alle zu beschützen; ein großes liebendes Herz, das sich sehnt, allen Gutes zu tun; ein verstehendes Herz, das Zuneigung und Duldsamkeit weckt; ein freies Herz, das sich sehnt, Hindernisse von andern fernzuhalten; ein Herz, das das All erfüllt; ein Herz, unendlich und gewaltig wie der Raum; ein reines Herz, das der Weisheit gehorcht und dem Verdienst aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dank der Pflege dieses guten Willens und solcher guten Taten werden die Hindernisse auf dem Weg zur Dharmadhatu beiseite geräumt und die Totalität wird sichtbar. Denn Tugend und Wohlwollen verneinen nicht nur das Sich-Anklammern an ein Ich, sondern verstärken das Interesse an andern, was im Sprachgebrauch des Hua-yen die Samen des gegenseitigen Ineinander-Eingehens (hu-ju) und der wechselseitigen Identität (hu-chi) der Dharmadhatu genannt wird.
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Die Zehn Stufen der Erleuchtung eines Bodhisattva
Wir wenden uns dem achten der obengenannten Gründe zu: Weil der Buddha alle Verwirklichungen ausgeschöpft hat. Das Wort «Verwirklichung» (cheng) bezeichnet die unmittelbare Erfahrung des Sehens der Wirklichkeit; es ist praktisch austauschbar mit dem häufig gebrauchten buddhistischen Begriff «Erleuchtung» (chüeh). Obwohl Verwirklichung eine allgemein gültige, in ihrem Wesen bei allen Menschen gleiche Erfahrung ist, ist sie doch nach dem Grad ihrer Tiefe sehr verschieden. Diese Verschiedenheit zeigt sich jeweils in dem weiten Bereich zwischen einem «am Anfang der Erleuchtung stehenden Bodhisattva» und einem «vollkommen erleuchteten Buddha». Man dann daher nicht sagen, daß Erleuchtung allgemein identisch ist, denn sie kann sehr verschieden sein: von einem ersten Aufblitzen der «Soheit» (tathata) bis zur vollständigen Entfaltung der Dharmadhatu. «Klavierspielen» kann sowohl ein musikalischer Anfänger wie ein Konzertpianist, aber zwischen den beiden ist ein gewaltiger Unterschied. Die erste Erleuchtung tritt oft plötzlich ein, aber um diese anfängliche Verwirklichung zu vertiefen und zur Vollendung zu bringen, bedarf es einer langen Zeit der «Pflege» und Übung. Die Wirklichkeit gleicht einem grundlosen Brunnen oder einem grenzenlosen Himmel - je weiter man in sie eindringt, desto tiefer und grenzenloser wird sie. Das Streben nach Erleuchtung kennt kein Ende; je weiter man vorwärtsschreitet, desto länger wird die Straße, und das Ende scheint niemals in Sicht zu kommen. Andererseits aber wird, wenn die Anfangsverwirklichung erlangt ist, alles Weitere viel leichter sein.
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Obwohl große Unterschiede zwischen den anfänglichen und den fortgeschrittenen Stufen bestehen, bleibt das Wesen der Verwirklichung immer dasselbe. In diesem Sinn kann die buddhistische Erleuchtung als einheitlich, aber auch als unterschiedlich angesehen werden. Auf den Anfangsstufen der Erleuchtung hat ein Bodhisattva oft eine hohe Meinung von seiner eigenen mystischen Erfahrung. Er ist überzeugt, daß selbst ein vollkommener Buddha keine tiefere Einsicht haben kann als er. Das ist der Grund, warum die großen ZenMeister oft die Verwirklichung des Schülers herunterspielen, wie wir in vielen Zen-Köan sehen. Deshalb sagt Te-shan: «Wenn du meine Frage nicht beantworten kannst, werde ich dir dreißig Schläge geben; wenn du sie beantworten kannst, werde ich dir ebenfalls dreißig Schläge geben.» Um die Erleuchtung-Suchenden aus Unwissenheit und Stolz aufzuwecken und um die Grenzenlosigkeit der Dharmadhatu zu zeigen, beschäftigt sich das Hua-yen-Sutra ausführlich mit den berühmten Zehn Stufen des Weges. Deren Studium läßt rasch die unendliche Weite der buddhistischen Erleuchtung erkennen, die, nach meiner Meinung, vieles in den Schatten stellt, was wir von berühmten Mystikern des Ostens wie des Westens gehört haben. Da ein eingehendes Studium dieser fortschreitenden Stufen den Rahmen dieses Buches sprengen würde, werden wir einfach einige wesentliche Stellen aus dem Hua-yen-Sutra zitieren, die sich mit den berühmten Zehn Stufen der Erleuchtung befassen:21 Alle die Buddhas aus den Zehn Himmelsrichtungen berührten mit ihren Händen das Haupt des Bodhisattva «Diamantschatz», worauf dieser aus dem Samadhi erwachte und die folgenden Worte an die Versammelten richtete: «O ihr Söhne Buddhas, die guten Gelübde aller Bodhisattvas können weder verfälscht noch befleckt, noch in ihrer Tiefe ergründet werden. Sie sind so unendlich wie das Universum, so endgültig wie die Leere, und sie erfüllen die Universen, um alle Lebewesen zu beschützen... [Durch diese großen Gelübde ist ein Bodhisattva in der Lage] in das Reich der Weisheit aller Buddhas einzugehen... Was ist nun die Weisheitswelt des Bodhisattva und was sind ihre Stufen? ... Es gibt insgesamt zehn aufeinanderfolgende Stufen, die von den Erleuchteten in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gelehrt wurden: 1. Die Stufe der Großen Freude;
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2. die Stufe der Makellosen Reinheit; 3. die Stufe der Erleuchtung; 4. die Stufe der Glühenden Weisheit; 5. die Stufe der Unbesiegbaren Stärke; 6. die Stufe der Unmittelbaren Gegenwärtigkeit; 7. die Stufe des Weit-Reichens; 8. die Stufe der Unerschütterlichen Standfestigkeit; 9. die Stufe der Verdienstvollen Weisheit; 10. die Stufe des Sammeins der Wolken des Dharma.» Er fuhr fort: «Ich sehe keinen einzigen Buddha im ganzen Universum, der nicht diese Zehn Stufen lehrte. Warum? Weil dies der Weg ist, auf dem alle Bodhisattvas der endgültigen und vollkommenen Erleuchtung entgegenschreiten.» Der Bodhisattva «Diamantschatz» hielt plötzlich inne und schwieg [als zögerte er, diese schwierige und bedeutungsschwere Angelegenheit näher zu erläutern]. Alle Bodhisattvas waren darüber sehr verwundert. Sie dachten: «Warum führt er die Namen der Stufen an, ohne sie zu erklären?» Worauf der Bodhisattva «Mond der Befreiung», der um die Gedanken der Versammelten wußte, den Bodhisattva «Diamantschatz» fragte: «Warum, obwohl du weise und verdienstvoll bist, nennst du zwar diese Stufen, aber erklärst sie nicht? Warum, obwohl du stark und mutig bist, führst du sie an ohne Erklärung? Wir alle sehnen uns danach, von den Wundern dieser Stufen zu hören. Bitte, erkläre sie uns, die wir, eine unerschrockene Versammlung, uns danach sehnen, die Wahrheit zu hören!» Um den Wunsch der versammelten Bodhisattvas zu erfüllen, begann «Diamantschatz», der große und immer beherzte Weise, als Antwort zu singen: «Höchste Buddhaschaft gründet sich auf Taten und die Verwirklichung der Stufen eines Bodhisattva. Sie sind schwer zu erklären, denn sie sind einzigartig und unübertrefflich; schwierig zu begreifen, denn sie sind tief und unfaßbar. Sie lassen das Reich des Buddha entstehen. 63
Die Menschen sind verwirrt und fassungslos, wenn sie von diesen Wundern hören. Nur jene, deren Geist demanten ist, die den Stand der Ichlosigkeit verwirklicht haben und an die Allwissenheit des Buddha glauben, vermögen seine Lehre zu empfangen. Wie ein Gemälde in der Luft oder wie der Wind im Raum ist die Weisheit des Buddha, nicht zu begreifen, solange noch Unterschiede gemacht werden. Dieser Buddha-Bereich ist tief und unergründlich und schwer zu begreifen für die Welt. Solches denkend, bezähme ich meine Zunge und verharre in Schweigen.» [Schließlich, nach wiederholten Bitten vieler Bodhisattvas] verbeugte er sich in alle zehn Himmelsrichtungen und fuhr in seiner Rede fort, um den Glauben der Versammelten zu stärken: «Schwer zu verstehen, tiefgründig und reich an Wundern ist der Weg der Tathagatas! Sie kennen kein Entstehen und kein Vergehen für immer geläutert, für immer von Frieden erfüllt... Es ist ein Bereich, in den zu gelangen nur den Weisen und Geläuterten möglich ist... Ohne Zweiheit und Begrenzung, ist er jenseits aller Worte und Hinweise. Die Stufen eines Bodhisattva, seine Liebe, sein Erbarmen und seine Gelübde sind schwer zu beschreiben und schwer zu verstehen. ... Dem Verstand und dem Denken sind sie unerreichbar, nur Weisheit vermag sie zu gewahren. Die Spur eines Vogels im Himmel ist schwer aufzufinden und nachzuziehen; schwer ist es, zu beschreiben, was mit den Zehn Stufen gemeint ist. Es ist ein Bereich, der erlebt werden, aber niemals [in Worten] zum Ausdruck gebracht werden kann.
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Über einen Tropfen Meerwasser kann man sich verständigen, doch die Deutungen dieser Wahrheit sind unendlich sie können in Äonen nicht erschöpft werden.» Der Bodhisattva «Diamantschatz» fuhr fort:22 «Wenn ein Mensch eine tiefe Wurzel verdienstvollen Handelns pflegt, wenn er unzählige Tugenden übt und alle günstigen Bedingungen für den Weg in sich vereint, ... wenn er mit Glauben, Erbarmen und Großmut des Geistes darangeht, die Weisheit eines Buddha zu erlangen, dann kann in ihm der Erleuchtungsgedanke (bodhichitta) entstehen. Er erweckt in sich diesen Bodhi-Geist [oder Erleuchtungsgedanken], auf daß er die allumfassende Weisheit suchen, die Zehn Kräfte eines Tathagata erringen, die große Furchtlosigkeit sich sichern ... und nach der Erlösung aller Lebewesen streben kann. ... Darum wird dieser BodhiGeist erweckt. O ihr Söhne des Buddha, dieser Geist ist tief, aufrichtig und gerade; großes Erbarmen beherrscht ihn, große Weisheit nährt ihn, große Geschicktheit schützt ihn. Er ist so gewaltig wie die Macht des Buddha, die die Weisheit der Nicht-Behinderung verwirklicht, die Einsicht in die Natur enthält und alle Lehren der Tathagatas umfaßt. Dieser Geist [selbst] ist die große Weisheit, die es dem Bodhisattva ermöglicht, alle Lebewesen zu lehren und ihnen zu helfen. Er ist unendlich wie das Universum, endgültig wie die Leere und ewig wie die kein Ende kennende Zukunft O ihr Söhne des Buddha, in dem Augenblick in dem dieser Geist in einem Bodhisattva erwacht, überschreitet er den Stand eines gewöhnlichen Menschen, ... er wird in die Familie der Buddhas geboren. Er geht weit über alles in dieser Welt hinaus und dennoch tritt er in diese Welt ein. ... Sicher und unbezweifelbar wird er die vollkommene Erleuchtung der Buddhaschaft erringen. Wenn ein Bodhisattva diese Stufe erreicht hat, dann sagt man, er hat die Stufe der Großen Freude erreicht. ... [Aus seinem Herzen] strömt großes Glück, großer Glaube, Reinheit und Beseligung, große Einfachheit und Toleranz. Er vermeidet Auseinandersetzungen und Streit, bereitet anderen keine Unannehmlichkeiten und will niemandem Böses. Seine Freude ist grenzenlos, wenn er der Bodhisattvas gedenkt, ... ihrer selbstlosen Taten, ihrer Überlegenheit und unbezwingbaren Stärke. ... Er denkt oft: «Mein Herz ist so voller Freude, daß dies alle irdische Vorstellungskraft übersteigt! [Warum ist das so?] Es ist so, weil ich den Bereich der großen Gleichseins betreten habe, den alle Buddhas kennen, weil ich weit über den Stand der gewöhnlichen Menschen hinausgegangen bin, weil ich der Weisheit und den Tathagatas nahe bin, weil ich die wunderbaren Erlebnisse und Erfahrungen der Buddhas teile, und weil ich alle Lebewesen schützen und befreien kann.» Wenn ein Bodhisattva diese Stufe der Großen Freude 65
erreicht hat, ist er für immer frei von aller Furcht. Er hat keine Angst vor dem Ungesichert-Sein, keine Angst, seinen Ruf zu verlieren, und keine Angst vor dem Tod. ... Warum? Weil alles Klammern an ein Ich von ihm abgefallen ist, seit er nicht einmal mehr an seinem Körper hängt, geschweige denn an anderen Dingen. ... O ihr Söhne des Buddha, mit großem Erbarmen und einem machtvollen Geist wird dieser Bodhisattva noch mehr edle Taten ausführen als zuvor. Gewachsen sind sein Glaube, die Reinheit seiner Gedanken, sein Verständnis, ... seine Einfachheit und Toleranz, seine Liebe und sein Erbarmen. ... Und dann wird er diese Zehn Großen Gelübde auf sich nehmen: 1. Ich will allen Buddhas in den unendlichen Universen unerschöpfliche Opfergaben und Dienste darbringen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 2. Ich will alle Lehren und Sutras, die jemals von den Buddhas übermittelt wurden, lernen, behalten, beschützen und befolgen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 3. Ich will alle Buddhas inständig bitten, in die Welt der Menschen «herabzusteigen», ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 4. Ich will alle Lebewesen mit Hilfe der unendlich großen, tiefgreifenden und weitreichenden Dharmas und Paramitas der Bodhisattvas lehren, führen und sich entfalten lassen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 5. Ich will alle Universen schauen und in sie eintreten, in die großen, kleinen, flachen, runden, die aufrecht stehenden und die auf dem Kopf stehenden; Bereiche, die andere Bereiche umschließen und sich in alle Zehn Richtungen erstrecken, wie das Netz Indras Ich will sie alle sehen und kennenlernen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 6. Ich will alle Welten der Buddhas in eine Welt und eine Welt in alle Welten der Buddhas bringen, mit unermeßlichem Licht und unermeßlicher Herrlichkeit und ohne den geringsten Fehler oder Makel, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 7. Ich will die Weisheit und die gewaltigen Kräfte der Buddhas erreichen, um Wunder zu wirken für die Erfüllung der Wünsche und Bedürfnisse der Lebewesen, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 8. Ich will Seite an Seite stehen mit anderen Bodhisattvas, um dem gemeinsamen Ziel [allen Lebewesen zu helfen] immer näher zu kommen. Im Ein-
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klang mit ihnen und mit voller Hingabe will ich lernen und arbeiten, ohne Neid und ohne Groll Mit einem tiefen Verständnis der Lehren, Kräfte und Arten der Weisheit eines Buddha will ich Wunder wirken, alle Welten durchwandern und in vielerlei Gestalt allen Zusammenkünften der Buddhas beiwohnen. ... Mit dieser großen, unergründlichen Einsicht erfüllt ein Bodhisattva seine Gelübde und geht er an seine Arbeit, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... 9. Ich will allen Lebewesen helfen, indem ich ihnen je nach ihren Anlagen und Bedürfnissen die geeigneten Lehren übermittle, indem ich sie von Wünschen und Schmerzen erlöse, indem ich sie wahrnehmen lasse, daß alle Dinge nur trügerische Erscheinungen sind, indem ich sie verwirklichen lasse, daß alle Dinge den Stempel des Nirvana tragen, indem ich ihnen die Weisheiten und großen Wunder zeige, ... unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die endlose Zukunft ... O ihr Söhne des Buddha, wenn ein Bodhisattva die Stufen der Großen Freude erreicht hat, dann legt er Nachdruck auf die Zehn Gelübde, die wieder Tausende, Millionen, Milliarden und unendlich viele andere Gelübde auslösen. ... Mit großem Eifer bemüht er sich, sie mit Hilfe der Zehn Unerschöpflichen Dharmas zu erfüllen: 1) Unerschöpflich sind die Lebewesen. 2) Unerschöpflich sind die Welten. 3) Unerschöpflich ist der Raum. 4) Unerschöpflich ist die Dharma-Natur (dharmata). 5) Unerschöpflich ist das Nirvana. 6) Unerschöpflich sind die Buddhas, die in den Welten erscheinen. 7) Unerschöpflich ist die Weisheit eines Buddha. 8) Unerschöpflich sind die Spiele des Geistes. 9) Unerschöpflich sind die Entstehungsformen der Weisheit. 10) Unerschöpflich sind die Samen, aus denen die Wege der Welt, des Dharma und der Weisheit entspringen. Und mit fester Entschlossenheit wird dieser Bodhisattva ein letztes Gelübde ablegen: 10. Wenn die Lebewesen nicht unerschöpflich sind, so werden es auch meine Gelübde nicht sein; wenn die Welten, der Raum, die Dharma-Natur, Nirvana, die Weisheit eines Buddha, ... nicht unerschöpflich sind, so werden es auch meine Gelübde nicht sein; da sie aber unerschöpflich
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sind, so sind auch meine Gelübde unerschöpflich ... (unermeßlich wie das Universum, endgültig wie die Leere, ewig wie die unendliche Zukunft) ...
Aus den obigen Zitaten läßt sich erkennen, daß Erleuchtung nicht nur durch die Entfaltung von «Einsicht» entsteht, sondern auch aufgrund von Tugenden und gutem Willen; sie besteht nicht nur in der sogenannten «mystischen Erfahrung», sondern auch in der Erfüllung eines feierlichen Gelübdes und der Erringung eines machtvollen Geistes. Mit anderen Worten: Die Erleuchtung ist die Verwirklichung sowohl der Wahrheit wie der Liebe, ein Verschmelzen von Erbarmen und Leere. Die erste Stufe, die Stufe der Großen Freude, ist der entscheidende Beginn im Werdegang eines Bodhisattva, der, nachdem er das angeborene SichKlammern an ein Ich und an die Begierden dank der Verwirklichung der ungeborenen Leere überwunden hat, danach strebt, seine Einsicht in Shunyata zu vertiefen und seine verdienstvollen und altruistischen Taten auf dem Pfad zur Erleuchtung zu vermehren, bis zu dem Tag, an dem er die Buddhaschaft errungen hat. In den kommenden Äonen von Kalpas wird er alle Taten der Bodhisattvas üben und ihre Gelübde erfüllen, indem er Schritt für Schritt die Zehn Stufen zurücklegt und die vollkommene Erleuchtung eines Buddha erreicht. Es können hier nicht vollständige Textpassagen aus dem Hua-yenSutra zitiert werden, die die einzelnen Stufen beschreiben. Es wird daher im folgenden nur eine kurze Zusammenfassung dieser Stufen wiedergegeben:23
Erste Stufe: Große Freude Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, erkennt, so heißt es, zum erstenmal die heilige Natur (shen-hsin) dank seiner lauteren Weisheit der Nicht-Unterscheidung. Da er die Dualität von Subjekt und Objekt gänzlich hinter sich gelassen hat, ist er in der Lage, in großem Maße sich und anderen auf verschiedene Weise zu nützen. Ein Bodhisattva dieser Stufe ist zu allen Zeiten von großer Freude erfüllt; er ist ungewöhnlich großzügig und freut sich über nichts mehr, als wenn er um Beistand gebeten wird. Er ist daher fähig, die Forderung der ersten Paramita zu erfüllen - die Vollkommenheit der Nächstenliebe. 68
Zweite Stufe: Makellose Reinheit Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, wird fähig, der Selbstdisziplin eines Bodhisattva vollkommen gerecht zu werden. Er ist gefeit gegen jegliche Verletzung der Gebote. Er ist im Grunde seines Wesens frei von Haß, Bosheit, Groll und Ungeduld; er ist immer liebenswürdig, gütig, verzeihend und wohlwollend. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die zweite - die Vollkommenheit der Selbstdisziplin.
Dritte Stufe: Erleuchtung Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, meistert, so heißt es, viele Samadhis; er kann viele Wunder wirken und himmlisches Sehvermögen erlangen, durch das er klaren Einblick in die Karmas und Inkarnationen vieler Lebewesen erhält. Er entwickelt eine überragende In-telligenz und ein großartiges Gedächtnis, das ihn befähigt, sich aller Dinge zu erinnern, die er jemals erlebt hat, einschließlich der Geschehnisse in weit zurückliegenden Leben. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die dritte - die Vollkommenheit der Duldsamkeit.
Vierte Stufe: Glühende (Intensive) Weisheit Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, ist fähig, das Sich-Anklammern an den Körper, an das «Ich» und «Mein» zu überwinden. Eine glühende Weisheit ersteht in ihm, die alle Begierden und Leidenschaften verbrennt. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die vierte - die Vollkommenheit des Fleißes.
Fünfte Stufe: Unbezwingbare Stärke (Großer Triumph) Der Mensch, der diese Stufe erreicht hat, kann die gewaltigste Aufgabe bewältigen, die jemals einem Bodhisattva gestellt wurde - er 69
überwindet die «Kluft zwischen Einsicht und Begriff». Dabei vereinigt er den weltlichen Intellekt der Unterscheidungen mit der transzendenten Weisheit der Nicht-Unterscheidung und läßt beide gleichzeitig und ohne Behinderung entstehen. Das bedeutet, daß er die Kluft überbrücken kann, die bis jetzt zwischen den beiden Ufern der Dualität, «diesem hier» und «jenem dort» bestanden hat. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere die fünfte - die Vollkommenheit des Dhyana.
Sechste Stufe: Unmittelbare Gegenwärtigkeit Wenn ein Bodhisattva, der die vorherige Stufe erreicht hat, in tiefer Versenkung erkennt, daß alle Dinge ohne Substanz sind, daß sie im Grunde makellos und jenseits aller zufälligen Benennungen sind und Phantomen, Träumen, Spiegelungen gleichen, ... dann verwirklicht er die große Gleichheit und erreicht die sechste Stufe. Dann wird die Prajna-Wahrheit, die auch «Unbehinderndes Weisheitslicht» genannt wird, unverhüllt vor seinen Augen aufscheinen. Er übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die sechste - die Vollkommenheit der Weisheit.
Siebente Stufe: Weit-Reichen Im Hua-yen-Sutra24 heißt es: Wenn ein Bodhisattva die siebente Stufe erreicht hat, kann er die unendlichen Bereiche der Lebewesen betreten; er kann in unendliche Buddhaländer und Buddhaweisheiten eintreten, sowie in unendlich viele Formen von Dharmas, Kalpas, Glaubensvorstellungen der Lebewesen, Verständnisse, Wünsche und Temperamente; er kann unbegrenzt viele Worte und Sprachen der Buddhas verstehen... Er kann die unendlich große und tiefe Weisheit der Buddhas erfassen und ihre vielfältigen Methoden, allen Lebewesen zur Reifung zu verhelfen. ... Und dann denkt dieser Bodhisattva: «Die unendlichen Welten der Tathagatas 70
sind nicht zu verstehen [mit Hilfe des Denkens], auch in Tausenden und Millionen von Kalpas nicht. Ich will daher auf den Geist, der nicht unterscheidet und der sich nicht mühen muß, vertrauen, um die volle Wahrheit zu erkennen.» Mit tiefer Einsicht überdenkt, beachtet und übt dieser Bodhisattva die Weisheit hilfreicher Lehrweise (fang pien hui) sowie den unübertrefflichen Dharma in fester Entschlossenheit. Bei allem, was er tut - ob er geht, steht, sitzt oder liegt ist sein Geist immer in die Große Ordnung (dharma) versunken, und auch nicht für einen kurzen Augenblick, nicht einmal während er schläft oder träumt, kann sein Geist durch Unwissenheit oder Hindernisse verdunkelt werden. . . . Daraufhin fragte der Bodhisattva «Mond der Befreiung» den Bodhisattva «Diamantschatz»: «Ist diese siebente Stufe die einzige Stufe, auf der ein Bodhisattva alle die verdienstvollen Taten vollbringen kann, die zur Buddhaschaft führen?» - «Diamantschatz» antwortete: «Ein Bodhisattva kann sie auf jeder der zehn Stufen vollbringen, aber die siebente Stufe ist die wesentlichste. Warum? Weil die Bodhisattvas auf dieser Stufe alle spirituellen Vorbereitungen abgeschlossen haben und daher den Bereich der Weisheit und des freien Handelns betreten können. O du Sohn des Buddha, ein Bodhisattva der ersten Stufe erfüllt die Erleuchteten Tätigkeiten (bodhyangas), indem er gelobt, alle Lehren der Buddhas zu üben; ein Bodhisattva der zweiten Stufe erfüllt die Erleuchteten Tätigkeiten, indem er den Geist von Befleckungen reinigt; ein Bodhisattva der dritten Stufe, indem er die Gelübde verstärkt und die Erleuchtung vertieft; einer der vierten Stufe, indem er den Weg betritt; einer der fünften Stufe, indem er der Welt zu Diensten ist; einer der sechsten Stufe, indem er die tiefste Prajnaparamita durchdringt, und einer der siebenten Stufe, indem er alle Dharmas der Buddhas verwirklicht. . . . Die Bodhisattvas der ersten Stufe, der zweiten Stufe und so weiter bis zur siebenten Stufe können die Leidenschaften und Begierden in ihren Tätigkeiten jedoch noch nicht vollkommen überwinden. . . . Erst wenn der Bodhisattva der siebenten Stufe die achte betritt, kann er alle Leidenschaften und Begierden überwinden. . . . Ein Bodhisattva, der die sechste und siebente Stufe erreicht hat, kann jederzeit in das Dhyana des Verlöschens (samjnavedayita-nirodha) eingehen, aber aufgrund seiner Gelübde des Erbarmens [allen Lebewesen zu helfen] wird er niemals in das Dhyana des Erlöschens eintreten. . . . Die Bodhisattvas der siebenten Stufe haben den Schatz der Buddhaschaft erreicht; sie erscheinen immer im Bereich der Dämonen, obwohl sie die Wege der Dämonen für immer überwunden haben; sie scheinen den Wegen der Dämonen zu folgen, doch wenn auch ihre Taten denen der Heretiker zu gleichen scheinen, so weichen sie dennoch niemals vom Dharma 71
ab. ... Obwohl sie in weltliche Aktivitäten verstrickt scheinen, üben sie die Aktivitäten derer, die die Welt überwunden haben. ... Der Bodhisattva dieser siebenten Stufe übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die siebente - die Vollkommenheit des [methodischen] Erfindungsreichtums.»
Achte Stufe: Unerschütterliche Standfestigkeit25 Der Bodhisattva «Diamantschatz» fuhr fort: Wenn ein Bodhisattva der siebenten Stufe sowohl den Dharma der Weisheit wie auch den Dharma der Geschicklichkeit in der Methode entsprechend geübt hat, wenn er spirituelle Vorsorge getroffen hat, wenn er mit den großen Gelübden ausgerüstet ist und mit der Macht der Tathagatas gesegnet wurde, ... dann wird er, dank seines großen Erbarmens und seiner Güte, nicht ein einziges Lebewesen im Stich lassen. ... Den Bereich der unendlichen Weisheit betretend, sieht er, daß alle Dinge im Grunde an ungeboren und unerzeugt sind, ohne Form, Substanz oder Erlöschen. ... Er sieht, daß alle Dinge Soheit sind, gleich in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er erkennt, daß er sich im Reich der nicht-unterscheidenden Weisheit befindet, das vom Verstand und seinen Tätigkeiten nicht erfaßt werden kann. Dadurch kann er sich von allen Gedanken und Unterscheidungen lösen. Ohne jedes Anhaften erreicht er die Wesensnatur aller Dinge: die Leere. ... Diese Stufe nennt man das Erringen der «vollkommenen Verwirklichung der ungeborenen Wirklichkeit» (anutpattikadharma-kshanti), und er ist auf der achten Stufe, der Stufe der Unerschütterlichen Standfestigkeit angelangt, dem inneren Zufluchtsort der Bodhisattvas, der schwer zu beschreiben und zu verstehen ist und alle Unterscheidungen, Formen, Gedanken und alles Anhaften übersteigt. Sie liegt jenseits aller Überlegungen, Begrenzungen und Behinderungen und übertrifft die Sphäre der großen Weisen. ... So wie ein Mönch, mit den wunderbaren Kräften und der Freiheit des Geistes ausgerüstet, nach und nach in den Samadhi des Erlöschens eingehen kann, wobei er alle unsteten Gedanken, Erinnerungen und Unterscheidungen zum Anhalten bringt, so löst sich der Bodhisattva der achten Stufe von allen Mühen und erreicht einen Zustand der Mühelosigkeit, worin es zum Erlöschen alles mentalen, verbalen und körperlichen Bemühens kommt. ... Er gleicht einem Mann, der träumt, er sei in einen großen Fluß gefallen, und der sich mit allen Kräften bemüht, das andere Flußufer zu erreichen, bis er plötz72
lich aus dem Traum erwacht und dadurch all seinen Anstrengungen ein Ende setzt. Genauso bemüht sich ein Bodhisattva, wenn er sieht, wie alle Lebewesen im Strom der Vier Leiden26 zu ertrinken drohen, seine ganze Kraft einzusetzen, um sie mit Entschlossenheit Mut und Stärke zu retten. Schließlich erreicht er die Stufe der Unerschütterlichen Standfestigkeit, in der alles Bemühen von selbst aufhört. Er ist für immer von allen Aktivitäten, Formen, allen Dualitäten und allen Unternehmungen des absichtsvollen Denkens befreit. In seinem Geist existiert keine Unterscheidung mehr zwischen Bodhisattva und Buddha, Erleuchtung oder Nirvana, ganz zu schweigen von Gedanken an weltliche Dinge. Aufgrund der ursprünglichen Gelübde jedoch, o ihr Söhne des Buddha, die der Bodhisattva selbst [in seinen früheren Leben] abgelegt hat, werden alle Buddhas aus dem Universum vor ihm erscheinen, um ihm die Weisheit der Tathagataschaft zu vermitteln. ... Und alle diese Buddhas werden dann verkünden: «Wohlan, wohlan, Sohn aus guter Familie! Das ist die volle Verwirklichung, die im Einklang steht mit allen Lehren der Buddhas. Aber, Sohn aus guter Familie, es fehlen dir noch die Zehn Kräfte, die Vierfache Furchtlosigkeit und die Achtzehn Besonderen Eigenschaften der Tathagatas;27 du mußt dich noch weiter bemühen, sie zu erringen. Du hast Gelassenheit und Freiheit für dich erreicht, aber es gibt noch immer unwissende Geschöpfe, die nicht so weit sind und von Wünschen und Unterscheidungen versklavt sind. Jetzt ist die Zeit für dich gekommen, dein Erbarmen für sie zu zeigen. O Sohn aus guter Familie, du solltest dich jetzt deiner ursprünglichen Gelübde erinnern und dir noch einmal die Aufgabe stellen, allen Lebewesen zu helfen und sie dazu zu bringen, die unbeschreibliche Weisheit der Buddhaschaft zu verwirklichen. O Sohn aus guter Familie, was du jetzt erkannt hast, ist die Dharma-Natur (dharmata), die ewig so ist, unabhängig vom Erscheinen oder Verschwinden der Buddhas. Aber nicht aufgrund dieser Verwirklichung werden die Tathagatas also genannt, denn auch alle Shravakas und Pratyeka-Buddhas besitzen diese Erkenntnis. ... Noch einmal, Sohn des Buddha: Du solltest jetzt zu dem unermeßlichen Buddhakörper jenseits alles irdischen Maßes, zu seiner Weisheit, seinem Reich, seinem Strahlenkranz der Erleuchtung, seiner Tüchtigkeit aufschauen und danach streben, alle diese Eigenschaften [ohne Ausnahme] zu erringen. Du hast bis jetzt erst ein Dharma-Licht erreicht - das Licht, das die wahre Natur aller Dinge ohne Unterscheidungen schaut. Aber die unzähligen Dharma-Lichter, die die Tathagatas besitzen, und deren Funktionen und Verwandlungen sind unbegreiflich und unauslotbar, selbst im Laufe von Millionen und Milliarden von Äonen... Diesen großen Dharma sollst du zu 73
verwirklichen trachten. O bedenke, Sohn des Buddha, bedenke, wie zahllos die Lebewesen sind, wie grenzenlos die Universen, wie unendlich verschieden die Dinge sind! ... Du solltest klar diese unendlichen Verschiedenheiten in unendlichen Bereichen unendlicher Universen erkennen, ohne die geringste Anstrengung oder den geringsten Irrtum.» Auf solche Weise verstärken alle Buddhas in dem Bodhisattva der achten Stufe den Wunsch nach der unendlichen Weisheit der Unterscheidung.28 O Sohn des Buddha, ohne diesen Ansporn [durch die Gesamtheit der Buddhas] würde dieser Bodhisattva in das Parinirvana eingehen und seinem altruistischen Wirken damit ein Ende machen. Da er aber derart von allen Buddhas ermahnt wird, kann er, in einem kurzen Augenblick, Weisheiten erringen und Werke vollbringen, die unvergleichlich größer sind als zuvor. ... Warum ist dies so? Weil er, bevor er diese Stufe erreicht hatte, nur einen Körper besaß, mit dem er als Bodhisattva tätig sein konnte. Jetzt aber, nach seiner Ankunft auf dieser Stufe, stehen ihm unendlich viele Körper, Stimmen, Einsichten und wunderbare Kräfte zur Verfügung,... und er kann unbegrenzt lehren und den Weg zeigen, ... denn er hat jetzt den Dharma der Unerschütterlichkeit errungen Bildlich gesprochen gleicht er einem Mann in einem Boot, der große Mühe aufwenden mußte, es voranzutreiben, bis er das Meer erreicht hat; aber dort angekommen, kann er ohne Anstrengung mit dem Boot über viel größere Entfernungen segeln. Genauso verhält es sich, wenn ein Bodhisattva den Pfad des Mahayana betritt und die Tätigkeiten eines Bodhisattva ausführt. Er kann jetzt, dank der Weisheit der «Mühelosigkeit», in den Bereich der Allwissenheit auf viel wirkungsvollere Weise eintreten als jemals zuvor. O ihr Söhne des Buddha, kraft des mühelosen Gewahrseins, das die große Weisheit der Geschicklichkeit in der Methode hervorbringt, kann der Bodhisattva dieser achten Stufe die Sphäre der Allwissenheit der Buddhaschaft verwirklichen. Er sieht klar, wann und wie eine Welt entsteht und zerstört wird, welches Karma sie entstehen läßt und welches sie zerstört. Sein Wissen um diese Dinge ist kristallklar, ohne den geringsten Irrtum. Er kennt auch die Elemente der Erde, des Feuers, des Wassers ... und der Atome (Sonnenstäubchen) - ihre kleinen, großen, zahllosen und unterschiedlichen Formen... in jeder Welt des Universums. Er kennt die verschiedenen, die unendlich vielfältigen Formen der Atome. ... Er kennt genau die Gesamtsumme aller Atome der Welten und der Körper aller Lebewesen. Er kennt die genaue Zahl der Atome, aus denen die kleinen und die großen Körper bestehen, oder der Körper eines Hungrigen Geistes, eines Asura, eines Menschen oder eines Deva. ... O Sohn des Buddha, diese Stufe des Bodhisattva nennt man die Stufe der 74
Standfestigkeit. Warum? Weil diesen Stand nichts mehr verderben kann; man nennt sie die Unauslöschliche, weil ihre Weisheit niemals mehr schwindet; man nennt sie die Unzugängliche, weil nichts in der Welt sie ergründen kann; man nennt sie die Stufe des Unschuldigen Kindes, weil sie so weit von allen Verwirrungen entfernt ist; man nennt sie die Stufe der Geburt, weil sie spontan und frei ist. Es ist die Stufe der Vollendung, weil keine Anstrengung mehr nötig ist, ... der Umwandlung, weil sie alle Wünsche zu erfüllen vermag, ... der Mühelosigkeit, weil alles bereits vollbracht ist. So, o Söhne des Buddha, betritt dieser Bodhisattva den Bereich der Buddhaschaft und bringt die Verdienste der Erleuchteten zum Leuchten. ... Er verfügt über wunderbare Kräfte, strahlt helles Licht aus, tritt in die Totalität der Nicht-Behinderung ein, besitzt alle großen Verdienste und kennt die feinsten Unterschiede zwischen allen Welten. Spontan und frei erkennt er alle Dinge der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft; er besiegt alle Dämonen und alle Laster und dringt tief in die Sphäre der Tathagataschaft ein. Da es für ihn kein Zurückfallen mehr gibt, kann er die Aktivitäten der Bodhisattvas in den unendlichen Welten ausüben. ... Mit der Macht des Samadhi sieht er unendlich viele Buddhas in unendlich vielen Welten; er dient ihnen, verehrt sie und bringt ihnen Opfergaben dar durch Tausende, Millionen, Milliarden von Kalpas Dieser Bodhisattva erreicht den Schatz der tiefsten Lehren des Buddha. ... Wenn man ihn über die Unterschiede zwischen den verschiedenen Welten befragt, kann er sie alle ohne die geringste Schwierigkeit beschreiben. . O Sohn des Buddha, das war eine sehr kurze Beschreibung der Stufe der Standfestigkeit; es würde Äonen von Kalpas erfordern, sie genauer zu beschreiben, aber selbst in diesem gewaltigen Zeitraum könnte man es nicht erschöpfend tun. ... Dieser Bodhisattva übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die achte - die Vollkommenheit der Gelübde.
Neunte Stufe: Verdienstvolle Weisheit Wir lesen im Sutra: Derjenige, der diese Stufe erreicht hat, erkennt klar und unfehlbar alle guten, schlechten und neutralen Handlungen,... die reinen und die unreinen, die weltlichen und die transzendenten Handlungen und die der Shravakas, der Bodhisattvas und der Tathagatas. ... Mit unendlich großer Weisheit erkennt 75
dieser Bodhisattva die geistigen Schwierigkeiten der Lebewesen, die Schwierigkeiten mit den Leidenschaften und Begierden sowie dem Karma; die Schwierigkeiten mit den Organen, den Vorstellungen, den Charakteren und Neigungen, der Trägheit, der Wiedergeburt, der Fortdauer von Denkgewohnheiten und dem genauen Unterscheiden zwischen den drei Gruppen.29 Dieser Bodhisattva erkennt unfehlbar die unzähligen Formen und Funktionen des Geistes aller Lebewesen, ... die Formen des ungleichen Entstehens, der raschen Umwandlung, des Erlöschens, der Gestaltlosigkeit und der Nichtexistenz der Unendlichkeit, der Reinheit, des Beflecktseins und des Nicht-Beflecktseins, des Bindens und Nicht-Bindens und der magischen Hervorbringung. ... Dieser Bodhisattva kennt mit kristallener Klarheit alle diese verschiedenen Formen und Funktionen, die sich auf Tausende, Millionen und Billionen und bis ins Unendliche belaufen. ... Dieser Bodhisattva kennt auch ganz genau die zahllosen Arten der Wünsche der Lebewesen - die zahllosen Arten tief eingewurzelter Begierden, die im Verlauf langer Kalpas entstanden sind, die unendlich vielen Weisen, in denen die Leidenschaften entstehen, die Weisen wie die Lebewesen sich von der Geburt bis zum Tod an die Leidenschaften klammern, die zahllosen Arten, wie sie ihre Unwissenheit zeigen und wie die Leidenschaften in bewußten und unbewußten Seinszuständen entstehen. Dieser Bodhisattva erkennt mit kristallener Klarheit die zahllosen Formen und Manifestationen des Karma, die guten, schlechten und neutralen Formen, die symbolischen und die nicht symbolischen Formen und auch die Begleiterscheinungen, die sich gleichzeitig mit dem Bewußtsein erheben. Er weiß um das Geheimnis des augenblicklichen Erlöschens des Karma und darum, wie es dennoch unausweichlich seine Wirkungen hat. Er kennt sowohl das Karma, das Folgen hat, als auch jenes, das keine Folgen hat,... das Karma, das unendlich viele Formen enthält, das Karma, das einen gewöhnlichen Menschen von einem Heiligen unterscheidet, jenes, das in diesem Leben oder in einem folgenden Leben zur Reife gelangt, das auf die verschiedenen Pfade führt. ... Wenn ein Bodhisattva diesem Wissen zu folgen vermag, dann erreicht er die Stufe der Verdienstvollen Weisheit. Er ist jetzt fähig, die Lebewesen zu erkennen. Er kann sie jetzt lehren, führen und ihnen den Weg zur Befreiung weisen.30 O Söhne des Buddha, ein Bodhisattva, der die Stufe der Verdienstvollen Weisheit erreicht hat, kann ein großer Lehrer des Dharma sein; er kann alle Funktionen eines Lehrers erfüllen und den Dharma-Schatz der Tathagatas schützen und erhalten, ohne Fehler zu begehen. Mit unendlicher, einfallsreicher Weisheit kann er die Vier unbehinderten Beredsamkeiten einsetzen ... und zu allen Zeiten den Vier unbehinderten Weisheiten folgen. ... Welche 76
sind das? Die unbehinderte Weisheit des Dharma, der Bedeutung, der Worte und der Beredsamkeit. Kraft der unbehinderten Weisheit des Dharma kennt er die SelbstForm aller Dinge; kraft der unbehinderten Weisheit der Worte kann er lehren, ohne Fehler zu begehen; und kraft der unbehinderten Weisheit der Beredsamkeit kann er lehren ohne Unterlaß. Kraft der unbehinderten Weisheit des Dharma weiß er, daß alle Dinge ohne Selbst sind; kraft der unbehinderten Weisheit der Bedeutung kennt er das Entstehen und Vergehen aller Dinge; kraft der unbehinderten Weisheit der Worte kennt er das trügerische Wesen aller Worte und tut sie dennoch nicht ab; kraft der unbehinderten Weisheit der Beredsamkeit verwendet er die trügerischen Worte, um eine unendliche Wahrheit zu verkünden. Kraft der unbehinderten Weisheit des Dharma kennt er die Unterschiede und Unterscheidungen zwischen allen Dingen zum gegenwärtigen Augenblick; kraft der unbehinderten Weisheit der Bedeutung kennt er die Unterschiede und Unterscheidungen zwischen allen Dingen in der Vergangenheit und in der Zukunft; kraft der unbehinderten Weisheit der Worte ist er fähig, ohne Fehler zu begehen, in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu lehren; und kraft der unbehinderten Weisheit der Beredsamkeit kann er die unendlichen Dharmas aller Zeiten mit großer Klarheit verbreiten. Kraft dieser Weisheiten ... macht er sich die Worte und Sprachen der Lebewesen zueigen, um im Einklang mit ihren Interessen und Bestrebungen die Lehre zu verkünden. ... O Sohn des Buddha, wenn alle Lebewesen in den unendlichen Universen vor diesem Bodhisattva erschienen, und jedes von ihnen stellte eine andere Frage in einer unendlichen Zahl von verschiedenen Sprachen, so würde er sie im Bruchteil einer Sekunde alle verstanden haben und richtige Antworten mit allen Erklärungen geben können und somit alle Fragesteller vollkommen zufriedenstellen. ... Dieser Bodhisattva übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die neunte Paramita - die Vollkommenheit der Kräfte.
Zehnte Stufe: Sammeln der Dharma-Wolke Daraufhin sprach der Bodhisattva «Diamantschatz» zum Bodhisattva «Mond der Befreiung»: «Von der ersten bis zur neunten Stufe übt und vollendet ein Bodhisattva alle verdienstvollen Aktivitäten kraft seiner unendlichen Weisheiten. ... Er entwickelt große Verdienste, Tugenden und Einsichten und übt altruistische Taten; er kennt die Unterschiede zwischen allen Welten; er betritt den
Tathagataschaft ein... und es heißt von ihm, er hätte die Stufe der Anwartschaft auf die Buddhaschaft erreicht. ... Er hat jetzt den Samadhi des Eingehens in die Unterschiede der Dharmahatu erreicht, ... den Samadhi des Meeresspiegels ... der unendlichen Leere ... des Wissens um die Gedanken aller Lebewesen ... um die Anwesenheit aller Buddhas. ... Dann, auf einem riesigen Lotosthron sitzend, der die Größe von Milliarden von Universen hat, gehen von seinen Füßen unendlich viele Lichtstrahlen aus, die alle Höllen in den Zehn Himmelsrichtungen erleuchten und alles Leiden in ihnen zum Erlöschen bringen. ... Von seinen Knien ... seinem Nabel ... seinen Achselhöhlen gehen unendliche Lichtstrahlen aus, um das Leid und den Kummer im Reich der Tiere ... der Asuras ... der Menschen ... und der Himmel zum Erlöschen zu bringen. Von seinem Gesicht gehen unendliche Lichtstrahlen aus, um alle Bodhisattvas - von der ersten bis zur neunten Stufe - zu segnen; von seinem Kopf gehen unendliche Lichtstrahlen aus, um alle Dharma-Versammlungen in den unendlichen Universen zu erleuchten. ... Daraufhin werden alle Buddhas und Bodhisattvas gewahr, daß in dieser einen Welt ein bestimmter Bodhisattva, nachdem er eine unendliche Zahl von verdienstvollen Handlungen vollbrachte, die Stufe der Anwartschaft auf die Buddhaschaft erreicht hat. Unendlich viele Bodhisattvas, einschließlich jener der neunten Stufe, kommen, ihm zu dienen, ihn zu verehren und seinen Rat zu befolgen; und indem sie dies tun, werden sie in Tausenden und Millionen von Samadhis eintreten... und unbegrenzte, makellose Wunder vollbringen. ... O Sohn des Buddha, ein Bodhisattva, der diese Stufe des Sammelns der DharmaWolke erreicht hat, kennt jeden Wandel in den Wünschen der Lebewesen und in ihren Ansichten und den Wandel in der großen Dharmadhatu. ... Er tritt in das Geheimnis der Tathagataschaft ein, ... das Geheimnis des Körpers, der Worte und des Geistes, des Besänftigens der Lebewesen und des Zeigens der verschiedenen Wege. ... Dieser Bodhisattva erreicht die unergründliche und unbehinderte Befreiung, die reine Innenschau und die alles erleuchtende Befreiung, die Buddha-Schatz-Befreiungen ... und die Befreiungen des Letzten und Endgültigen Bereichs. ... Die Bodhisattvas, einschließlich jener der neunten Stufe, kennen die Taten, Wunder und Herrlichkeiten dieses Bodhisattva nicht ... und auch nicht seine Weisheiten; diese Wunder können euch im Verlauf von Äonen von Kalpas nicht erschöpfend beschrieben werden. ... Der Bodhisattva dieser Stufe kennt wahrhaftig und genau das Eintreten in die lautere Weisheit aller Buddha-Tathagatas wie die edle Weisheit der spirituellen Übungen, die lautere Weisheit im Augenblick des Todes,31 die subtile Weisheit der Wiedergeburt, der Priesterschaft, der Verrichtung von Wun78
dern, ... des Ingangsetzens des Dharma-Rades, des Parinirvana, des Bestandes der Lehre. ... Er kennt genau und wahrhaftig die Weisheit aller Buddhas. Der Bodhisattva dieser Stufe tritt auch in das Geheimnis der Tathagatas ein wie das Geheimnis des Körpers, der Worte und des Geistes, ... das Geheimnis, den Bodhisattvas zu prophezeien, ... das Geheimnis, Lebewesen einander zu verbinden, unterschiedliche Fahrzeuge der Lehre bereitzustellen, um die großen Verschiedenheiten in den Fähigkeiten der Lebewesen zu erfassen. ... Er kennt auch die Weisheit aller Buddhas, in alle Kalpas einzutreten, wie über ein Kalpa in unzählige Kalpas einzutreten, über unendliche Kaipas in ein Kalpa einzutreten; ... in einem Augenblick treten sie in die Kalpas ein,... mit Kalpas in der Vergangenheit und Zukunft treten sie in die Gegenwart ein, und mit Kalpas der Gegenwart treten sie in die Vergangenheit und die Zukunft ein, ... mit langen Kalpas treten sie in die kurzen und mit kurzen in die langen Kalpas ein. Er kennt alle diese Fakten so, wie sie wirklich sind. ... Ein Bodhisattva dieser Stufe erreicht die unergründliche Befreiung durch reine Beobachtung, die volle Erleuchtung, das Erkennen der Drei Zeiten, ... das Ausschöpfen aller Bereiche und Erfahrungen. ... O Söhne des Buddha, dieser Bodhisattva hat die große Weisheit [des Tathagata] vollkommen verwirklicht ... und alles, das die Buddhas besitzen, wie die unendlich große Dharma-Erleuchtung, die große Dharma-Spiegelung, den großen Dharma-Regen. Im Bruchteil einer Sekunde kann dieser Bodhisattva sie alle mit Leichtigkeit entgegennehmen und festhalten. Er gleicht dem großen Ozean, der allein den großen Regen aufnehmen kann, der von Sagara, dem Naga-König des Meeres, geschickt wird; kein anderes Gewässer hat die Fähigkeit, ihn zu empfangen und zu halten. Die großen Geheimnisse des Tathagata, seine große DharmaErleuchtung, Dharma-Spiegelung und der Dharma-Regen, können nur von einem Bodhisattva der zehnten Stufe empfangen und gehalten werden. Alle die Lebewesen, alle die Lernenden, die Pratyeka-Buddhas und selbst die Bodhisattvas aller neun Stufen können sie nicht empfangen und halten. ... Kraft der riesigen, unbegrenzten Fähigkeit, mit der dieser Bodhisattva ausgestattet ist, kann er die Dharma-Erleuchtung und Dharma-Spiegelung eines Buddha, von zwei, drei, unendlich vielen Buddhas empfangen und halten. Er vermag sie alle sich in einem einzigen Augenblick auswirken zu lassen. Darum heißt diese Stufe die Stufe des Sammelns der Dharma-Wolke. ... O Sohn des Buddha, ein Bodhisattva dieser Stufe ist mit der erleuchtenden und alles durchdringenden Weisheit ausgestattet. Er kann alle Arten von Wundern vollbringen. Wenn er will, dann kann er aus einer kleinen Welt eine große Welt machen, aus einer unreinen Welt eine reine und aus einer reinen Welt eine unreine. Er kann die [verschiedenen Weltsysteme] in eine unregel79
mäßige ... verkehrte oder richtige Ordnung bringen. Er kann ein ganzes Weltsystem in einem Sonnenstäubchen unterbringen, ohne die Berge und Flüsse darin irgendwie zu verändern; es verändert weder das Stäubchen seine Größe, noch wird das Weltsystem kleiner. ... Mit einem einzigen Atemzug kann dieser Bodhisattva das unendliche Universum in die Zehn Richtungen bewegen, ohne daß die darin befindlichen Lebewesen es merken oder erschrecken. Er kann Wirbelstürme, Überschwemmungen und Feuer in den Zehn Himmelsrichtungen verursachen; oder er läßt im Einklang mit den Wünschen und Sehnsüchten der Lebewesen herrliche Körper-Formen offenbar werden. Die anderen Bodhisattvas, einschließlich der Bodhisattvas der neunten Stufe, können die Taten, Weisheiten, Herrlichkeiten und Wunder dieses Bodhisattva nicht erfassen, noch können diese Wunder in Äonen von Kalpas erschöpfend beschrieben werden. ... Dieser Bodhisattva übt alle zehn Paramitas, insbesondere jedoch die zehnte - die Vollkommenheit der Weisheit.
Zum Abschluß unserer Beschreibung der Zehn Stufen wollen wir noch eine weitere Stelle aus demselben Sutra zitieren:32 Alle zehn Stufen der Bodhisattvas haben ihre Wurzeln im großen Meer der höchsten Weisheit der Tathagataschaft; auf dieser Ebene unterscheiden sie sich auch voneinander. O Sohn des Buddha, der große Ozean wird so genannt wegen seiner zehn besonderen Eigenschaften. Wie lauten sie? Sie lauten: 1. Schritt für Schritt wird er tiefer. 2. Er weist tote Körper ab. 3. Alle Flüsse und Gewässer verlieren ihre Namen und ihre Identität, wenn sie sich in diesen Ozean ergießen. 4. Er schmeckt an jeder Stelle gleich. 5. Es sind unendliche Schätze in ihm verborgen. 6. Es ist schwierig, seinen Grund zu erreichen. 7. Er ist unermeßlich und ohne Grenzen. 8. Er ist die Behausung der Giganten. 9. Seine Gezeiten und Strömungen erfolgen immer zum richtigen Zeitpunkt. 10. Er kann alle Regen aufnehmen, ohne die geringsten Zeichen von Überschwemmung zu zeigen. Genauso verhält es sich mit den Taten der Bodhisattvas. Wegen ihrer zehn unübertrefflichen besonderen Eigenschaften heißen sie die Taten der Bodhisattvas:
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1. Auf der ersten Stufe, der Stufe der Freude, beginnen sich die großen Gelübde der Bodhisattvas auszuwirken und werden Schritt für Schritt mächtiger. 2. Auf der zweiten Stufe, der Stufe der Makellosen Reinheit, weist der Bodhisattva den toten Körper aller Übeltaten von sich. 3. Auf der dritten Stufe, der Stufe der Erleuchtung, wirft der Bodhisattva alles ab, was ihn an die Worte und Buchstaben dieser Welt bindet. 4. Auf der vierten Stufe, der Stufe der Glühenden Weisheit, entsprechen die Verdienste des Bodhisattva jenen der Buddhas. 5. Auf der fünften Stufe, der Stufe der Unbesiegbaren Stärke, erringt der Bodhisattva unendliche magische Kraft und die Fähigkeit, alle Vorhaben in der Welt erfolgreich auszuführen; darum wird er wie ein Juwel geschätzt. 6. Auf der sechsten Stufe, der Stufe der Unmittelbaren Gegenwärtigkeit, erkennt der Bodhisattva die bedingte Entstehung und erreicht das tiefe Verständnis der Wirklichkeit. 7. Auf der siebenten Stufe, der Stufe des Weit-Reichens, wächst die Weisheit des Bodhisattva ins Unendliche und befähigt ihn, große Betrachtungen anzustellen. 8. Auf der achten Stufe, der Stufe der Unerschütterlichen Standfestigkeit, ist der Bodhisattva in der Lage, unendlich viele Offenbarungen zu machen. 9. Auf der neunten Stufe, der Stufe der Verdienstvollen Weisheit, erreicht der Bodhisattva die tiefe Befreiung. Er lebt in der Welt, ohne jemals ausschließlich in ihrem Geist zu handeln. 10. Auf der zehnten Stufe, der Stufe des Sammelns der Dharma-Wolke, kann der Bodhisattva den großen Dharma-Regen aller Tathagatas aufnehmen und halten, ohne je übersättigt zu sein.
Die vollständige Beschreibung der Zehn Stufen, wie sie im Hua-yenSutra zu finden ist, umfaßt mehr als 35 000 Worte. Der kurze Überblick, der hier gegeben wurde, kann natürlich nicht das ganze Bild der Zehn Stufen wiedergeben, so wie sie dort dargestellt sind. Die Auswahl der zu übersetzenden Stellen war überaus schwierig; Auslassungen und Mängel sind daher unvermeidlich. Aber der Leser mag aufgrund dieser kurzen Zusammenfassung wenigstens einen Schimmer von den ungeheuren Ausmaßen der spirituellen Tätigkeiten eines Bodhisattva bekommen haben sowie von der unerschöpflichen Tiefe seiner Erleuchtungs-Einsicht.
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Die unbegreiflichen Dharmas der Buddhas
Wenn nun die Bodhisattvas diese gewaltigen spirituellen Eigenschaften besitzen, wie sie in den Zehn Stufen beschrieben werden, wie verhält es sich dann mit ihren Vorbildern, den Buddha-Tathagatas? Es heißt, es sei das Ziel des gesamten Hua-yen-Sutra, das Reich der Buddhaschaft zu enthüllen, und die ausführliche Beschreibung der Verdienste der Bodhisattvas diene dazu, den noch erhabeneren und unbegreiflicheren Seinsstand der Tathagatas ahnen zu lassen. Das Hua-yen-Sutra enthält ein ganzes Kapitel unter dem Titel: «Die unbegreiflichen Dharmas der Buddhas».33 Zu diesem Zeitpunkt fragten sich viele der in der Großen Versamlung anwesenden Bodhishattvas: «In welcher Art und Weise sind die Reiche der Buddhas unbegreiflich? In welcher Art und Weise sind die ursprünglichen Gelübde und Enthüllungen der Buddhas unbegreiflich? In welcher Art und Weise sind Körper, Stimme und Geist des Buddha, seine Freiheit, Befreiung und Nicht-Behinderung unbegreiflich?» Als Antwort darauf sprach der Bodhisattva «Blauer Lotosschatz» [vom Segen des Buddha geleitet] zu der Versammlung: «Alle Buddhas besitzen zehn Dharmas, die die unendlichen und unbegrenzten Universen erfüllen: Sie haben alle einen Körper der reinen Form, der alle Lebensbereiche [im Samsara] durchdringen kann, ohne befleckt zu werden. Sie besitzen alle unbehindertes Sehvermögen, das alle Dinge im Universum wahrnimmt, als seien sie durchsichtig, unbehindertes Gehör, das alle Stimmen und Töne hören und verstehen kann, ein unbehindertes Riechorgan, das bis ans andere Ufer der Freiheit reicht, eine Zunge, die angenehme Stimmen und Töne erzeugt, welche die ganze Dharmadhatu erfüllen, einen Körper, der 82
vor allen Lebewesen in Übereinstimmung mit deren Sehvermögen sichtbar wird, unendliche Bewußtseinsstände, die für immer im vollkommen-gleichen und unbehinderten Körper der Wahrheit (dharmakaya) behaust sind. . . . Alle die Buddhas bewohnen unendlich reine Welten voll unvorstellbarer Herrlichkeit und Schönheit, die das Reich des Buddha nach den Wünschen der Lebewesen offenbaren, ohne daß es zum Anhaften kommt. Alle die Buddhas, im Besitz unendlicher Bodhisattva-Paramitas und vollkommener Erleuchtung, bewegen sich auf allen Gebieten mit völliger Freiheit. . . . O Söhne des Buddha! Die von aller Welt verehrten Buddhas haben die Gabe, auf allen zehn Wegen niemals die rechte Zeit zu versäumen: Sie versäumen nie den rechten Zeitpunkt für die vollkommene Erleuchtung. Sie versäumen nie den rechten Zeitpunkt, den Lebewesen zur Reife zu verhelfen, oder die rechte Zeit, Vorhersagen für Bodhisattvas zu machen. Niemals versäumen sie den rechten Zeitpunkt, um die Körper der Buddhas gemäß dem Verständnis der Lebewesen zu offenbaren. Die Tathagatas würden auch niemals den rechten Zeitpunkt für wohltätige Handlungen versäumen oder Orte zu betreten, um treue Anhänger zu unterstützen oder die Bösen zu besänftigen oder unbegreifliche Wunder zu vollbringen. . . . O Söhne des Buddha! Die von aller Welt verehrten Buddhas mit ihren zehn unergründlichen und unvergleichlichen Fähigkeiten: Wiewohl sie mit gekreuzten Beinen sitzen, können sie sich überall im Universum manifestieren; mit einem einzigen Satz können sie die Bedeutung der unerschöpflichen Lehren der Buddhas erläutern; indem sie einen Lichtstrahl aussenden, können sie den ganzen Kosmos erleuchten; mit einem Körper können sie alle Körper offenbaren; an einer Stelle können sie alle Weltsysteme darstellen; mit einem einzigen Blick der Einsicht können sie alle Dharmas ohne Behinderung erkennen. In einem Augenblick können sie die unerforschliche Heiligkeit enthüllen, alle Welten in den Zehn Himmelsrichtungen durchwandern und den Geist aller Lebewesen und aller Buddhas in den Drei Zeiten erfahren. Zu allen Zeiten bleiben sie in ihrem Wesen eins mit dem Wesen aller Tathagatas in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. O Söhne des Buddha, ... alle Buddhas wissen, daß alle Dinge im Grunde nicht zwei sind, und dennoch vermögen sie die Weisheit der Unterscheidung hervorzubringen. . . . Alle Buddhas wissen, daß alle Dinge kein Selbst und keine Existenz besitzen, und dennoch vermögen sie die Weisheit hervorzubringen, die den Lebewesen den rechten Weg weist; alle Buddhas wissen, daß alle Dinge ursprünglich keine Eigenschaften aufweisen, und dennoch vermögen sie die Kenntnis aller Formen zu erzeugen. . . . O Söhne des Buddha, alle Tathagatas sind von dem großen, keine Unterschiede kennenden Erbarmen erfüllt; niemals werden sie auch nur ein einzi83
ges Lebewesen im Stich lassen. Sie haben alle die vollkommenen Dhyanas erreicht; sie achten alle Lebewesen und sorgen sich um sie. Tief verwurzelt im Altruismus, werden sie stets die Lebewesen lehren und ihnen zur Reife verhelfen. ... O Söhne des Buddha, die von aller Welt verehrten Buddhas sind im Besitz der zehn höchsten Lehren: Getreu, standhaft und unbeirrbar sind ihre großen Gelübde. Sie üben, was sie sagen, und was sie sagen, wird von ihnen niemals zurückgenommen oder widerrufen. ... Um einem einzigen Lebewesen zur Reife zu verhelfen, durchwandern die Buddhas zahllose Universen. Auf diese Weise dienen sie allen Lebewesen ohne Unterlaß. Von großem und allumfassendem Erbarmen erfüllt, behandeln sie alle Menschen gleich, ob sie nun eine gläubige oder ungläubige Gesinnung haben. ... Zu den Dharma-Aktivitäten aller Buddhas gehört, daß sie mit den Augen zu riechen vermögen,34 mit der Nase zu schmecken, mit der Zunge zu tasten, mit dem Körper zu denken; ihr Geist vermag dabeizusein bei allen Erfahrungen auf allen Gebieten in allen unendlichen Universen. ... Alle Tathagatas weilen im Dharma-Reich, aber nicht in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, denn im Wesen der Soheit gibt es weder Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Trotzdem können sie die unermeßlichen Lehren der Buddhas in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft erläutern und den Zuhörer befähigen, die Sphäre der Erleuchteten zu erspüren. ... Schweigend und allein führen sie die unbegreiflichen Dharma-Tätigkeiten aus.»
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Samadhi, Wunder und die Dharmadhatu
Wir wollen nun kurz die letzten zwei der zehn Gründe behandeln, die es allen Dingen erlauben, mit der großen Dharmadhatu zu verschmelzen. 9. Weil die Macht des tiefen Samadhi sie so sein läßt. 10. Weil die wunderbare Macht und die unergründliche Befreiung des Buddha sie so sein lassen. Wir lesen oft in den Sutras, daß der Buddha in einen bestimmten Samadhi eingeht und dann manche Wunder wirkt; das weist auf eine Verbindung zwischen Samadhis und Wundern hin. Hier ist ein wichtiger Punkt anzumerken: Der Mahayana-Buddhismus, besonders das Hua-yen, versteht den Samadhi völlig anders als das Hinayana und die Yoga-Systeme des Hinduismus. Auch wenn es hier unterschiedliche Auffassungen und Nuancen gibt, ist Samadhi im Yoga-System doch hauptsächlich ein Zustand der Einswerdung und «Enstase», ein Zustand der Einheit oder der Vereinigung von Subjekt und Objekt mit allen seinen physischen, mentalen und spirituellen Begleiterscheinungen. Im Huayen ist der Samadhi etwas unendlich Fließendes, Schöpferisches und Dynamisches. Das zeigt das 61. Kapitel des Hua-yen-Sutra:35
Daraufhin ließ der Herr der Welt, um viele Bodhisattvas zu befähigen in den ehrfurchteinflößenden, gewaltigen Samadhi der Tathagataschaft einzugehen und darin zu verweilen, von seinen Augenbrauen ein gewaltiges Licht ausgehen, genannt die «Erleuchtung der Dharmadhatu in den drei Zeiten», ... und auf diese Weise erleuchtete er die unendlichen Buddhaländer in den unendlichen Universen und offenbarte diese großartige Szene allen Wartenden in der 85
Versammlung, Sie sahen in jedem Buddhaland in den unendlichen Universen mächtige Bodhisattvas zu Buddhas werden. ... Mit wunderbarer Stimme, die durch die gesamte Dharmadhatu erklingt, predigen diese Buddhas die unendlichen Lehren. ... Einige erscheinen im Himmelspalast, andere im Palast der Asuras, ... wieder andere in den Dörfern, Städten und Zentren der Menschenwelt. Sie erscheinen in den verschiedenen Rassen mit ihren unterschiedlichen Namen, Gestalten und Gebräuchen. ... Sie gehen ein in alle Arten des Samadhi, vollführen alle Arten von Wundern und sprechen in allen Zungen, ... denn sie bezeugen nun die große wunderbare Macht des tiefen Samadhi der Tathagataschaft, ... und aufgrund ihrer langeingewurzelten Verdienste gehen sie alle ein in den unerschöpflichen, tiefen Samadhi der Tathägataschaft ... und gewinnen große, geheimnisvolle Kräfte. ... Sie erreichen ungezählte Einsichten, folgen zahllosen Wegen ... erwerben unzählbare Arten der Weisheit, versöhnen ungezählte Lebewesen und erleben ungezählte Samadhis. ... Was sind das für Samadhis? Es sind der Samadhi der Herrlichkeit der Dharmadhatu, der Samadhi der Erleuchtung des Bereichs der Nicht-Behinderung aller Zeiten, ... des allumfassenden, nicht-unterscheidenden Weisheitslichtes, ... der Samadhi des Eingehens in die Allmacht des Tathagata, ... der Manifestation körperlicher Formen in allen Welten, ... des Schatzes des Erbarmens, ... der Schau der Bereiche aller Lebewesen, ... der Meisterung zahlloser Sprachen und Klänge, ... der anschaulichen Darstellung aller Ruhmestaten der Tathagatas.
Urteilt man nach den Namen dieser Samadhis, so sieht man, daß sie von ganz anderer Natur sind als die der Yoga- oder Hinayana-Systeme. Samadhi bedeutet hier weder eine «Enstase» noch die Einheit von Subjekt und Objekt noch das Verlöschen aller Skandhas, noch auch die Verwirklichung des Universalen Brahman oder der Gottheit. Es ist allerdings auch nicht ganz klar, was das Wort Samadhi, wie es hier gebraucht wird, bedeutet. Ist es ein überweltlicher Bewußtseinszustand, in dem alle dynamischen Aktivitäten ohne Behinderung stattfinden können? Oder ist es einfach ein phantasievoller Name, der einen unerschütterlichen Geisteszustand bezeichnet, in dem alle Aktivitäten ausgeführt werden? Wir wissen es nicht. Unter den zehn Gründen sind die letzten zwei diejenigen, von denen wir am wenigsten wissen können. Wir erhalten nicht viele Informationen darüber, aber soviel wird doch klar: Die allesverschmelzende Totalität ist verwirklichbar, und zwar nicht durch den Verstand oder 86
diskursives Denken, sondern durch unmittelbare Einsicht kraft des Samadhi. Der 10. Grund, «Weil die wunderbare Macht und die unergründliche Befreiung des Buddha sie so sein lassen», erklärt sich selbst, so daß kein großer Kommentar nötig ist. Wenn man ein Wunder als ein Ereignis versteht, das nach menschlicher Kenntnis die Naturgesetze übersteigt, könnte man die Wunder der Dharmadhatu auch als Buddhas «Wundertaten» betrachten. Allerdings sind diese doch ungeheuer verschieden von den Wundern, wie sie gewöhnlich verstanden werden, etwa wenn ein Mann über das Wasser geht, ein Blinder sehend wird, ein Leprakranker durch eine bloße Berührung geheilt wird - in der religiösen Literatur finden wir zahlreiche Beispiele dafür. Wenn man diese Wunder vergleicht mit den Wundern der Dharmadhatu, erscheinen sie unermeßlich bedeutungslos. Sie sind grundlegend verschieden nach Ausmaß, Form und Wesen. Die Frage ist natürlich, ob diese Wunder der Dharmadhatu wirklich existieren. Sind sie nicht irgendwelche Einbildungen oder Phantasien? Diese Frage müssen wir dem ewigen Kampf zwischen Glauben und Zweifel überlassen, der jedes Individuum in seinem eigenen Bereich der Erfahrung und Überzeugung gefangenhält. Die zweite Hälfte des Satzes, «die unergründliche Befreiung des Buddha läßt sie so sein», ist besonders wichtig. Weil der Buddha nicht mehr raumgebunden ist, kann er das Große ins Kleine und das Kleine ins Große bringen. Weil er nicht mehr zeitgebunden ist, kann er die Vergangenheit in die Zukunft werfen und die Zukunft in die Vergangenheit. Da er sich selbst von dem «kleinen Ego» befreit hat, manifestiert er seine Identität mit allen Wesen und ihren tiefsten Wünschen; weil er alles Anhaften und alle «Svabhava-Barrieren» zerstört hat, bringt er die Dharmadhatu der Nicht-Behinderung ins Spiel. Kurz: Das Wunder der Dharmadhatu ist zur Gänze das Ergebnis der Befreiung von der Abhängigkeit von Zeit, Raum, Ich, Begierden und Anhaften.
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ZWEITER TEIL
Die philosophischen Grundlagen des Hua-yen-Buddhismus
Einleitung zum zweiten Teil Die vorhergegangenen Seiten enthielten Zitate aus dem Hua-yen-Sutra und einige kurze Kommentare dazu, um dem Leser ein allgemeines Bild vom Bereich der Totalität zu geben. Um aber eine bessere und vollständigere Vorstellung davon zu bekommen, müßte man den ganzen Text des Sutra lesen. Leider ist das für die meisten Leser dieses Buches zur Zeit nicht möglich, da der umfangreiche Text des Hua-yen-Sutra noch in keine europäische Sprache übersetzt worden ist. Um dem, soweit es die Umstände erlauben, abzuhelfen, wurde eines der wichtigsten Kapitel des Sutra, «Die großen Gelübde des Samantabhadra» (Taisho 293, S. 844-846) übertragen. Nach meiner Meinung stellt dieses Kapitel das spirituelle Herzstück des Hua-yen-Buddhismus dar; die Übersetzung findet sich auf den Seiten 243-254. Wir wollen unsere Aufmerksamkeit jetzt den philosophischen Argumenten zuwenden, mit denen die Hua-yen-Meister ihre Lehre von der alles verschmelzenden Totalität stützen. Der Leser wird bemerken, daß die ersten sechs der zehn Ursachen der Dharmadhatu, wie sie von Fa-tsang und Ch'eng-kuan angeführt wurden, die drei philosophischen Hauptlehren des Mahayana-Buddhismus repräsentieren: die Philosophie der Leere, der Totalität und die Nur-Geist-Doktrin. Wir werden diese deshalb nicht als drei getrennte Lehrvorstellungen, sondern als integrale Bestandteile eines organischen Ganzen behandeln, das die philosophische Grundlage dieser Schule bildet. 91
I. Die Philosophie der Leere Shunyata - Das Herz des Buddhismus
Wenn es eine Lehre gibt, die den Buddhismus vor allen Weltreligionen auszeichnet, so würde ich sagen: Es ist das Prinzip der Shunyata (der Leere oder Leerheit). Wenn ich eine Doktrin zu nennen hätte, die vor allen andern das Wesen und Herz des Buddhismus am besten repräsentiert, würde ich ebenfalls das Shunyata-Prinzip nennen. Wenn mich weiterhin jemand fragte, welche buddhistische Lehre am schwierigsten zu erklären und zu verstehen ist und zugleich am meisten mißverstanden und falsch ausgelegt wurde, so würde ich abermals sagen: das Shunyata-Prinzip. Die Wichtigkeit der Shunyata für jedes Gebiet des Mahayana-Buddhismus kann gar nicht stark genug betont werden, und für die Lehre von der Totalität, wie sie die Huayen-Schule ausgebildet hat, ist das Shunyata-Prinzip ganz besonders kennzeichnend. Am Beginn unserer Diskussion über die Shunyata-Philosophie wollen wir zunächst einen Blick auf die Etymologie des Wortes werfen. Das Wort Shunyata ist zusammengesetzt aus dem Stamm shunya, «leer», und dem angehängten Mittelwort ta, das im Deutschen mit «heit» wiedergegeben wird. Shunyata ist daher als «Leerheit» zu übersetzen. Es wird angenommen, daß shunya ursprünglich von der Wurzel svi «anschwellen, aufblähen» herstammt und shunya somit auch die Vorstellung des «Aufgeschwollenen» einschließt.1 So wie das Sprichwort sagt: «Ein aufgeblasener Kopf ist ein leerer Kopf», so ist etwas, das von außen geschwollen oder aufgeblasen aussieht, innen hohl oder leer. Shunyata weist daher darauf hin, daß die Dinge, obwohl sie in der phänomenalen Welt, der Welt der 92
Erscheinungen, nach außen real und wirklich zu sein scheinen, in Wahrheit jedoch leer sind. Sie sind nicht wirklich, sondern scheinen nur wirklich zu sein. Shunyata als spiritueller Begriff bezeichnet die völlige Befreiung vom ewig Sich-Wandelnden, von Unbeständigkeit, vom Sich-Mühen und Verlangen. Als philosophischer Begriff bezeichnet Shunyata das Nichtvorhandensein jeder Art von Selbst oder Selbstheit. Alle Dinge sind leer, insofern als ihnen jegliche zugrundeliegende Substantialität oder ein Selbst-Sein (svabhava) fehlt. Shunya bedeutet auch «Null» im Sanskrit; deshalb kann man die Shunyata-Lehre auch als eine Philosophie der Null bezeichnen. Die Null selbst enthält nichts, aber man kann nicht sagen, daß sie absolut oder in einem nihilistischen Sinn leer sei. Als mathematisches Zeichen hat die Null eine Vielfalt von Funktionen, ohne die es praktisch unmöglich wäre, Geschäfte durchzuführen oder wissenschaftlich zu arbeiten. Sollte jemand Sie fragen: «Bezeichnet die Null ein Nichts?», so würde es schwerfallen, eine richtige Antwort zu geben. Null ist sowohl nichts wie auch die Möglichkeit zu allem. Null ist bestimmt kein «Nichts» im nihilistischen Sinn, sondern eher etwas Dynamisches und von wesentlicher Bedeutung für alle Manifestationen. In gleicher Weise bedeutet Shunyata kein bloßes Nichts, sondern «von Leben vibrierende» Leere; sie hat sowohl negative wie positive Züge. Will man die Philosophie der Leere studieren, muß man sich zuerst über die mit einem solchen Unterfangen zusammenhängenden Schwierigkeiten im klaren sein. Wer niemals in seinem Leben eine existentielle Erfahrung der Leere - und wäre es für einen einzigen Augenblick - gehabt hat, für den gleicht der Versuch, Shunyata zu verstehen, dem Bemühen, einen unbekannten Gegenstand in einem unvertrauten Raum in pechschwarzer Finsternis ohne alle Hilfsmittel zu finden. Er gleicht dem Blinden in der indischen Fabel, der versucht herauszubekommen, was Farben sind. Um dem Blinden die «Bedeutung» von Weiß zu erklären, kann man Schnee, Papier oder das Fell eines Albino-Kaninchens benützen, aber alles, was er aus diesen Beispielen erfahren wird, ist die kalte Feuchtigkeit des Schnees, die raschelnde Flächigkeit des Papiers und die flaumige Weichheit des Felles. Vom ersten Augenblick der Geburt bis zum Moment des Sterbens sind wir gänzlich umschlossen vom Bereich des Seins (bhava). 93
Wir denken, handeln, leben und träumen in Begriffen dieses Seins. Das Nicht-Sein ist uns nicht nur unbekannt, sondern es erscheint uns auch abstoßend und furchteinflößend. Wir können in diesem Zustand auch nicht über die Leere nachdenken, geschweige denn sie erfahren, erleben. Zum Beispiel: Ein Synonym für «Leerheit» ist «Nichts» (englisch: nothingness). Aber man beachte, wie dieses englische Wort entstanden ist: no-thing-ness. Es besteht aus drei Teilen: aus no, thing und ness. Im Mittelpunkt steht der Begriff thing, «Ding»: Nur über den Begriff «Ding» können wir den Begriff nothing, «kein Ding = Nichts», denken. Nur über das Sein können wir das Nicht-Sein erfassen. Wir haben also keine Möglichkeit, die Leere unmittelbar zu verstehen. Da wir so hilflos im Netz des Seienden gefangen sind, bleiben unsere Versuche, die Leere zu erfassen, so enttäuschend und fruchtlos. Wissen wir denn überhaupt, wovon wir hier reden? Können wir eine Definition der Leere geben? Die Antwort kann - bedauerlicherweise - nur lauten: nein. Definieren heißt, die Grenzen und Begrenzungen einer Sache bezeichnen. Aber wie könnte man die Leere definieren, da sie doch weder Grenze noch Begrenzung hat und überhaupt nicht «etwas» ist? Wenn Leere nicht definiert werden kann, dann kann sie vielleicht beschrieben werden? Ja, das wäre vielleicht möglich, aber es heißt, daß alle Erleuchteten keine Möglichkeit sahen, ihr Erlebnis der Leere anderen Menschen zu vermitteln. Es scheint keine einfache Methode zu geben, Leere in positiver und direkter Weise anderen nachvollziehbar zu machen, denn keine unserer Erfahrungen entspricht ihr. Es ist oft bemerkt worden, daß wir eine ganze Menge darüber sagen können, was Leere oder Leerheit nicht ist, aber sehr wenig darüber, was sie ist. Es gibt zwei Hauptgruppen der Charakterisierung dessen, was Leere nicht ist: 1. Leere ist nicht Abwesenheit von etwas, und 2. Leere ist nicht Vernichtung. Wenn wir sagen «Dieses Haus ist leer», dann meinen wir: Zur Zeit wohnt niemand in diesem Haus. Oder wenn wir sagen «Dieses Regal ist leer», dann meinen wir, daß gerade jetzt keine Bücher in seinen Fächern stehen. In beiden Fällen meinen wir nicht, daß das Haus oder 94
das Bücherbrett selbst leer oder nicht-existent ist. Diese Art von Leere nennen wir die Leere der Abwesenheit. Es ist eine Pseudo- oder indirekte Leere, die besagt, daß etwas von etwas anderem leer ist. Gewisse Mahayana-Denker haben ihr einen entsprechenden Namen gegeben; sie bezeichnen sie als die Lehre von der «Leere vom Anderen» (tibet.: gshan ston pa). Ein typisches Beispiel für diese Doktrin ist Shankaras Advaita-Vedanta. Er behauptet, daß die vielfältigen Erscheinungen in der Welt leer sind; sie sind Upadhi oder Trugbilder, die aufgrund der menschlichen Unwissenheit dem Brahman übergelagert werden. Im Gegensatz dazu ist das Brahman, das Substrat aller Manifestationen, nicht leer, sondern wahrhaft und ewig existent. Was also leer ist, ist nicht das Substrat Brahman, sondern dessen «Schatten» in Gestalt dieser trügerischen Welt. Deshalb ist diese Sicht ein Beispiel der «Leere infolge Abwesenheit» - etwas ist von etwas anderem abwesend, das nicht in dem Sinne leer ist, daß es selbst nicht existiert, sondern daß etwas von ihm Verschiedenes nicht vorhanden ist. Bis zu einem gewissen Ausmaß werden auch die Abhidharma- und die Yogachara-Schule des Buddhismus als Vertreter der Leere durch Abwesenheit angesehen. Wir werden das später ausführlicher behandeln. Die zweite Art, die Leere mißzuverstehen, ist, sie als Vernichtung (oder Nichtswerdung) zu betrachten. Wenn wir sagen «Dieses Stadtviertel ist leer», dann meinen wir: Dieses Stadtviertel, das früher viele Häuser umfaßte, ist jetzt von Häusern leer. Früher war das Stadtviertel nicht leer; es war voller Häuser, aber nun ist es leer - es gibt keine Häuser mehr. Diese Art von Leere bedeutet, daß etwas für eine bestimmte Zeit existierte und dann von der Szene verschwunden ist. Das heißt: Etwas Existentes wird nicht-existent, was ein Fortschreiten «vom Sein zum Nicht-Sein» bedeutet. Die gewöhnliche Vorstellung vom Tod ist ein typisches Beispiel der Leere durch Vernichtung: Leben existierte eine Zeitlang, dann wurde es durch äußere oder natürliche Ursachen vernichtet und in nichts verwandelt. Dinge aus der Vergangenheit hören auf, in der Gegenwart zu existieren. Sie sind verschwunden oder wurden vernichtet; sie sind aus der Existenz in die Nicht-Existenz übergegangen. Diese für den gewöhnlichen Menschenverstand einzig begreifliche Leere wird hier Leere durch Vernichtung genannt. Aber die buddhistische Shunyata bedeutet keine Vernichtung. 95
Allgemein gesprochen gibt es drei Arten, eine Sache zu beschreiben. Die erste Art ist die Paraphrasierung; zum Beispiel bedeutet USA «United States of America». Hier wurde keine neue Information oder Erklärung hinzugefügt. Die zweite ist die Darstellung einer Sache, indem man verschiedene Vorstellungen miteinander in Beziehung bringt und so eine gedankliche Reflexion über den Gegenstand erzeugt. Zum Beispiel: Was ist ein Mensch? Ein Mensch ist ein vernunftbegabtes Tier, das lachen und weinen kann. Hier wird der Mensch durch eine Folge von Begriffen beschrieben wie «vernunftbegabt», «Tier», «lachen» und «weinen», die zusammen eine Vorstellung hervorrufen, die auf die in Frage stehende Realität hinweist. Die dritte ist die Darstellung durch unmittelbares «Zeigen» oder Demonstrieren. Ein ausländischer Schüler fragt den Englischlehrer: «Was ist ein Tisch?» Anstatt zu sagen, daß ein Tisch ein Möbelstück ist, bei dem ein flaches Brett auf Beinen befestigt ist, schlägt der Lehrer mit der Faust auf den vor ihm stehenden Tisch und sagt laut: «Dies ist ein Tisch.» Hier handelt es sich um ein direktes Zeigen. Keinerlei Erklärung oder Denkvorgang ist hier nötig. Die beste und tatsächlich einzig wirklich gültige Methode, die Leere darzustellen, ist die dritte Art. Es ist die Methode, die besonders vom Zen-Buddhismus angewendet wird. Im folgenden ein Beispiel dafür: Ein Mönch namens Hung-Chou besuchte Meister Ma-tsu und fragte: «Was ist der Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen?» - eine Weise, nach Shunyata zu fragen. Ma-tsu sagte: «Verbeuge dich zuerst vor mir.» Als der Mönch sich niederwarf, gab Matsu ihm einen kräftigen Fußtritt. Der Mönch kam augenblicklich zu einer Erleuchtungserfahrung. Er stand auf, schlug die Hände zusammen und rief lachend aus: «O wie wundervoll das ist, wie herrlich! Hunderte und Tausende von Samadhis und unendliche Wunder der Wahrheit werden nun leicht auf der Spitze eines einzelnen Haares verwirklicht!» Darauf huldigte er Ma-tsu in tiefer Ehrfurcht. Danach erzählte er den Leuten: «Seit ich von Ma-tsu den Fußtritt erhielt, war ich immer nur heiter und fröhlich!» Hier in unserer Darstellung des Shunyata-Prinzips werden wir uns freilich mehr auf die zweite als auf die dritte Darstellungsart stützen müssen. Man sollte sich aber der Grenzen dieser mit Begriffen operierenden Methode ständig bewußt sein.
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Die Grundidee des Herz-Sutra
Bisher haben wir nur gesagt, was Shunyata nicht ist, und von den Schwierigkeiten gesprochen, über Shunyata zu reden. Wir werden jetzt die Shunyata-Lehre direkt untersuchen, indem wir einen kurzen, aber repräsentativen Text der Shunyata-Literatur studieren, nämlich das Herz-Sutra der transzendenten Weisheit. Die Wichtigkeit dieses außerordentlich bedeutsamen buddhistischen Klassikers und sein tiefgreifender Einfluß auf das buddhistische Denken können gar nicht genug betont werden. Dieses Sutra umfaßt in der chinesischen Übersetzung nur 262 Wörter und findet auf einer einzigen Buchseite Platz. Die Essenz der ganzen Mahayana-Lehre ist in ihm enthalten. Der Text ist ebenso knapp wie prägnant, und der Leser sollte mit höchster Aufmerksamkeit dessen tiefen und höchst bedeutsamen Sinn studieren. Um diesen Text leichter verständlich zu machen, wollen wir ihn zuerst in einfacher Sprache paraphrasieren, um seinen allgemeinen Inhalt zu erfassen: Als der große Bodhisattva Avalokiteshvara, die Verkörperung des Erbarmens und der Weisheit aller Buddhas, tief in die Meditation der transzendenten Weisheit versunken war, gewahrte er, daß alle Dinge der phänomenalen Welt, einschließlich der Materie und des Geistes und alles dessen, was zu ihnen gehört, leer sind. Aufgrund dieser Erkenntnis war er fähig, alle Leiden und Übel zu besiegen, sowohl für sich selbst wie für alle anderen Lebewesen im Universum. Er sagte zu Shariputra, dem klügsten Schüler des Gautama Buddha: «O Shariputra, alle Dinge sind nichts anderes als die Leere, und die 97
Leere ist nichts anderes als die Dinge. Niemals sollte man die Dinge und die Leere als getrennte Wesenheiten ansehen. Tatsächlich: Alle Dinge sind eben die Leere, und die Leere ist eben alle Dinge. Es gibt keinen Unterschied, welcher Art auch immer, zwischen ihnen. Das gilt genauso für den Geist und alle seine Funktionen, einschließlich der Funktionen der Empfindung, der Wahrnehmung, der Vorstellung und des Bewußtseins selbst.» Um diesen Grundsatz weiter auszuführen, sagte Avalokiteshvara zu Shariputra: «O Shariputra, wie kann man die Merkmale dieser Leere beschreiben? Die Merkmale der Leere aller Dinge sind: Nicht-Entstehen, NichtVergehen, Nicht-Befleckung und Nicht-Makellosigkeit, Nicht-Zunehmen, Nicht-Abnehmen. Darum finden wir in der Leere weder Form noch Empfindung noch Wahrnehmung noch Vorstellung, noch Bewußtsein, weder die sechs Sinnesorgane noch die sechs Objekte, noch die sechs Sinne. In der Leere gibt es keine Blindheit, die Ursache der Wiedergeburt, noch deren Konsequenzen Krankheit, Alter und Tod; weder ein Ende der Blindheit noch ein Ende des Alters und des Todes. Es gibt keine Wahrheit vom Leiden als Lebenstatsache, keine Wahrheit über das Begehren als Ursache der Leiden, kein Nirvana als Aufhören der Leiden und keinen Weg, der zum Aufhören der Leiden führt. Es gibt in ihr keine Weisheit von der Buddhaschaft und nicht das geringste, was zu erlangen wäre. Weil es nichts zu erlangen gibt, hat ein Bodhisattva, der sich auf die Vollkommenheit der Weisheit stützt, keine Behinderung in seinem Geist. Da es keine Behinderungen gibt, hat er keine Furcht, und er bewegt sich weit jenseits aller Verwirrungen und Einbildungen und erreicht schließlich das endgültige Nirvana.» Und jetzt der Text selbst:
Prajnaparamita-Hridaya-Sutra (Herz-Sutra) Als der Bodhisattva Avalokiteshvara in die tiefe Prajnaparamita versunken war, gewahrte er deutlich, daß die Fünf Skandhas alle leer sind, und überwand so jegliches Leiden. «O Shariputra, Form ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden von Form. In der Tat: Form ist Leere, Leere ist
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Form. Das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und Bewußtsein. O Shariputra, die Kennzeichen der Leere aller Phänomene [dharmas] sind Nicht-Entstehen und Nicht-Vergehen, Nicht-Befleckung und NichtMakellosigkeit, Nicht-Zunehmen und Nicht-Abnehmen. Deshalb gibt es in der Leere keine Form, keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Vorstellung und kein Bewußtsein. In der Leere gibt es kein Auge, kein Ohr, keine Nase, keine Zunge, keinen Körper und keinen Geist; es gibt keine Farbe, keinen Klang, keinen Geruch, keinen Geschmack, keine Berührung und keine GeistObjekte; es gibt kein Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und keine Bewußtseinstätigkeit. In der Leere gibt es keine Unwissenheit und keine Überwindung der Unwissenheit, keine Aktivität und kein Auslöschen der Aktivität, kein Bewußtsein und kein Auslöschen des Bewußtseins; es gibt nicht «Name-und-Form» [geistige und körperliche Elemente der Persönlichkeit] und kein Auslöschen von «Name-und-Form», keine Sinnesorgane und kein Auslöschen von Sinnesorganen, keinen Kontakt [mit Sinnes-Objekten] und kein Auslöschen des Kontaktes, keine Sinneswahrnehmung und kein Auslöschen der Sinneswahrnehmung; es gibt kein Verlangen und kein Auslöschen des Verlangens, kein Anhaften und kein Auslöschen des Anhaftens; es gibt kein Sein und kein Auslöschen des Seins, keine Geburt und kein Auslöschen der Geburt, kein Alter und keinen Tod und kein Auslöschen von Alter und Tod. In der Leere gibt es kein Leiden, keine Entstehung des Leidens, keine Aufhebung des Leidens und keinen Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt. In der Leere gibt es keine Weisheit und nichts, das zu erlangen wäre. Da es nichts zu erlangen gibt, ist der Geist des Bodhisattva, der in der Prajnaparamita verweilt, ohne Behinderung; da er ohne Behinderung ist, ist er ohne Furcht. Über jeglichen Irrtum und alle Täuschung hinausgehend, erreicht er [schließlich] das endgültige Nirvana. Alle Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweilen in der Prajnaparamita; deshalb verwirklichen sie das Höchste Vollkommene Erwachen. Deshalb wisse, daß die Prajnaparamita das Große Mantra ist, das 99
Mantra der Großen Weisheit, das Höchste Mantra, das Unvergleichliche Mantra, das wahrlich vor allen Leiden beschützt. So ist es, dies ist nicht die Unwahrheit. Deshalb verkünde ich das Prajnaparamita-Mantra, verkünde ich das Mantra, das lautet: «GATE GATE PARAGATE PARASAMGATE BODHI SVAHA!»
Der Prolog Als der Bodhisattva Avalokiteshvara in die tiefe Prajnaparamita versunken war, gewahrte er deutlich, daß die Fünf Skandhas alle leer sind, und überwand so alles Leiden. TEXT:
Das wichtigste Wort in diesem Absatz ist «gewahrte». Als Avalokiteshara in die tiefe Meditation der Prajnaparamita (die Vollkommenheit der Weisheit) versunken war, wurde er gewahr, daß alle fünf Skandhas leer sind. Das bedeutet, daß die Prajnaparamita nicht durch Denken oder die Ratio erkannt werden kann, sondern nur durch unmittelbare Einsicht, eine unmittelbare Erfahrung, die grundlegend verschieden ist von allen Formen philosophischen Denkens oder Überlegens. Der Ursprung der Prajnaparamita-Lehre ist also eine intuitive Erfahrung jenseits der Worte und Symbole. Um den Menschen diese Erfahrung zu vermitteln, hat Avalokiteshvara jedoch keine andere Wahl, als Worte und Begriffe zu verwenden. Das Dilemma ist, daß, welche Aussage er auch immer macht, er sie gleichzeitig verwerfen muß. So heißt es, daß die Vielzahl der gegensätzlichen Aussagen, die in der Prajnaparamita-Literatur zu finden sind, eher die Begrenzungen und die Unangemessenheit des menschlichen Denkens widerspiegeln, als daß sie ein Anzeichen für die Absurdität der Prajna-Wahrheit wären. Die Gründe hierfür sollen später erörtert werden. Der Buddhismus behauptet, daß Worte nicht das einzige Mittel sind, durch das Mitteilung möglich ist. Sie sind in der Tat ein sehr dürftiges Mittel, wo es um die Vermittlung der Prajna-Einsicht geht. Im Vimalakirti-Sutra steht die Geschichte von neun Millionen Bodhisattvas eines anderen Universums, die, während sie Vimalakirti KOMMENTAR:
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einen Besuch machen, gefragt werden, wie ihr Buddha den Dharma in ihrem eigenen Land lehrt. Der Führer der Besucher sagt: «In unserm Land lehrt der Tathagata niemals mit Worten oder Buchstaben. Er benützt verschiedene Düfte, um allen Menschen und Göttern Eingang in das Wissen zu gewähren. Jeder Bodhisattva sitzt unter einem duftenden Baum, und wenn er den feinen Duft riecht, erreicht er unmittelbar den Samadhi der Tugendfülle, und wer immer diesen Samadhi erreicht, wird automatisch alle Verdienste eines Bodhisattva erlangen.»2 Die Besucher waren höchst überrascht, daß Worte und Reden so wichtig für die Lehre des Dharma sein können, wie sie es auf diesem Planeten sind. Noch vor wenigen Jahrzehnten hätte man diese Darstellung der Beziehung von Gerüchen zu Denkvorgängen als reine Phantasie angesehen. Heute wissen wir, daß solche Dinge nicht unmöglich sind, daß zum Beispiel ein Mensch unter Drogeneinfluß Musik mit den Augen hören und Dinge über seinen Tastsinn sehen kann und so fort (Synästhesie). Der Punkt, der hier betont werden soll, ist, daß Gedanken und Vorstellungen ungeeignet zum Begreifen der Shunyata sind. Die so hochgeschätzte Fähigkeit zum Umgang mit Symbolen und Abstraktionen, die den Homo sapiens zum Herrscher über seine Mitgeschöpfe macht, wird hier, was die Prajna-Wahrheit anlangt, zu einem unwirksamen Werkzeug abgewertet. Shunyata kann durch Sehen, Hören und auch Riechen erfaßt werden, aber niemals durch Denken, und zwar weil Sehen, Hören und Riechen die Natur des unmittelbaren Kontakts oder des direkten Gewahrens (pratyakshapramana) haben, während das Denken ein Prozeß ist, der sich indirekter Symbole bedient (anumanapramana) und deshalb oft unseren eindringlichsten Intuitionen widerspricht und diese, die eine Art von direkter Wahrnehmung sind, in die Irre führt.3 Der nächste wichtige Satz im Prolog ist «und überwand so alle Leiden». Die Verwirklichung der Lehre ist daher nicht nur ein Erwachen zur Wirklichkeit des wahrhaft Seienden, sondern ein befreiender Schritt, der den Menschen von all seinen Frustrationen und seinem Ungenügen erlöst. Hier zeigt sich die grundlegende Geisteshaltung des Buddhismus, der erklärt, daß die Erlösung keine Gnade ist, die dem Menschen von Gott geschenkt wird, sondern ein natürliches Ergebnis dank der Übung in der Schau der Prajna-Wahrheit. Obwohl 1 01
Avalokiteshvara von den Mahayana-Buddhisten in jedem praktischen Sinn als ein Gott (oder in manchen Ausprägungen als eine Göttin) und Erlöser betrachtet wird, weist das Sutra darauf hin, daß selbst er Shunyata als die Wurzel seiner göttlichen Überlegenheit haben muß. Er ist ein Erlöser, nicht weil er als solcher geboren oder dazu bestimmt ist, sondern weil er sich tief in die Prajnaparamita versenkt hat und deren volle Wahrheit verwirklicht hat.
Veranschaulichung der Wahren Leere Shariputra, Form 4 ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden von Form. In der Tat: Form ist Leere, Leere ist Form; das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und Bewußtsein.» TEXT: « O
Das ist der Schlüssel zum ganzen Sutra. Der Satz: «Form ist Leere, Leere ist Form» ist beinahe ein Sprichwort geworden und wurde in der Welt des Buddhismus immer wieder diskutiert und erörtert; er bedeutet dasselbe, wie wenn man sagte, daß Sein NichtSein ist und Nicht-Sein Sein. Um den Sinn dieses Satzes zu verstehen, muß man zuerst die vorhergegangene Sentenz betrachten: «Form ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden vor Form.» Diese Feststellung weist eindeutig darauf hin, daß Leere nichts außerhalb der Form ist, noch ist sie in irgendeiner Weise getrennt oder verschieden von Form. Form und Leere sollten nicht als zwei verschiedene Wesenheiten behandelt werden. Unter keinen Umständen sollten wir daher die Leere der Abwesenheit als die Wahre Shunyata akzeptieren. Der Satz weist ferner darauf hin, daß Shunyata nicht die Leere der Vernichtung ist, denn wenn Leere nicht verschieden von Materie ist, wie könnte sie ein Zustand des Nichts oder des Erloschen-Seins sein. Die Feststellung gibt zu verstehen, daß man nicht versuchen soll, die Leere außerhalb der Form zu suchen, weil die beiden in Wahrheit nicht verschieden voneinander sind. Die buddhistische Leere ist daher nicht statisch und tot; sie ist dynamisch und durch und durch von Leben erfüllt. Manche Kommentatoren sind der Meinung, daß sich der Satz auf KOMMENTAR:
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die Maya-Doktrin bezieht, wonach die Dinge in der Welt nicht wirklich existieren, sondern nur scheinbar, wie Träume und Visionen. Auch die Advaita-Vedanta-Lehre spricht von Maya, aber einer Maya, die von einem ewig Seienden, dem absoluten Brahman, getragen wird. Maya und das Absolute sind daher im Vedanta zwei verschiedene Dinge, auch wenn manche Anhänger des Vedanta es anders darzustellen versuchen.5 Das Herz-Sutra jedoch betont, daß Form und Leere oder Maya und das Absolute keinesfalls verschieden sind. Das ist der grundlegende Unterschied zwischen der buddhistischen Maya und der des Advaita-Vedanta. Die erstere stellt fest, daß sich Maya und die wahre Wirklichkeit in keiner Weise unterscheiden und daß erleuchtet ist, wer das erkennt. Form ist Leere und Leere ist Form; Samsara und Nirvana sind nicht zwei verschiedene Wesenheiten, sondern ein organisches Ganzes. Der AdvaitaVedanta behauptet, die Welt der Erscheinungen sei Maya, ein Produkt der Unwissenheit; sie ist letztlich unwirklich und «falsch». Sie ist für immer von dem wirklich Seienden, dem Brahman, getrennt, das allein wirklich und ewig ist. Maya muß vollkommen vernichtet werden, ehe man Moksha, die Befreiung, erreichen kann. Im Gegensatz dazu vertritt der Buddhismus den Standpunkt, daß Maya weder zerstört noch verworfen werden darf, weil die Verwirklichung der Identität von Maya und Shunyata zu Befreiung und Erleuchtung führt. Um die Folgerungen der Aussage, daß Form nicht verschieden von Leere ist, noch klarer zu machen, geht das Sutra noch einen Schritt weiter und stellt fest: Form ist Leere, und Leere ist Form, ein Satz, der die gesamte Shunyata-Lehre, aufs knappste zusammengefaßt, enthält. Der entscheidende Teil dieser Aussage ist wahrscheinlich die zweite Hälfte: Leere ist Form. Diskussionen der Shunyata-Lehre beschäftigen sich meist mit dem Warum und Wie der ersten Hälfte: Form ist Leere; nur selten wird der tiefere Aspekt der zweiten Hälfte - Leere ist Form - näher untersucht. Es ist durchaus möglich, wenn auch sehr schwierig, gedanklich zu dem Schluß zu kommen, daß Form Leere ist. Aber gedanklich zu erfassen, daß Leere Form ist, bleibt wohl ein Ding der Unmöglichkeit. Wir finden einfach keinen Weg, um vom Nicht-Sein aus zum Sein zu gelangen. Wir stecken hilflos fest, entweder beim Seienden oder beim Sein! Wir wollen uns also zuerst der leichteren Aufgabe zuwenden und herauszufinden versuchen, warum
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Form Leere ist; wir wollen uns also dem Nicht-Sein vom Sein her annähern.
Das rational Faßbare an dem Satz «Form ist Leere» Es gibt drei Hauptargumente für die Feststellung «Form ist Leere». Erstens: Wenn wir die in jedem Augenblick erfolgenden und andauernden Veränderungen aller Dinge in der Welt der Erscheinungen beobachten, können wir schließen, daß alles Seiende (d.h. Formen oder rupa) leer ist. Zweitens: Wenn wir die Tatsache bedenken, daß alle Dinge nach dem Prinzip des abhängigen Entstehens (pratitya-samutpada) entstehen und daher keinerlei Selbstheit oder Eigen-Sein (svabhava) besitzen, können wir schließen, daß alle Dinge leer sind. Ein Parallelargument dazu kann auf eine etwas andere Art formuliert werden. Wenn wir die Tatsache bedenken, daß die Dinge keine endgültige Natur besitzen, sondern sich zu unterschiedlichen Formen und Eigenschaften wandeln, sobald der Bezugsrahmen oder die bedingenden Faktoren geändert werden, können wir schließen, daß die Formen leer sind. Drittens: Da die äußere Welt die Gesamtsumme aus dem kollektiven Karma und den Projektionen des eigenen Geistes ist und dem Wandel sowie dem Erlöschen unterliegt, können wir schließen, daß alle Dinge leer sind. Kommentare zum ersten Argument Weil die Dinge sich ständig verändern, sind sie alle leer. Dieses Grundprinzip des Buddhismus wird sowohl vom Hinayana wie auch vom Mahayana und allen ihren Unterschulen anerkannt. Wir sind ständig Zeuge der unbestreitbaren Tatsache, daß sich die Dinge in der Welt der Erscheinungen fortwährend verändern. Die Beobachtung dieser Veränderung wird uns zu der Erkenntnis bringen, daß die Dinge sich nicht nur ständig, sondern in jedem Augenblick verändern; sie sind in keiner Weise dauerhaft, sondern an den Augenblick gebunden. Mit dieser Grundthese vom «augenblicksge104
bundenen Sein» glauben die Buddhisten gleichzeitig sowohl den Gott der Theisten, als auch die ewige Materie (prakriti) der hinduistischen Samkhya-Philosophie sowie alle anderen philosophischen Lehren, die in irgendeiner Form an einem permanenten und unveränderlichen Seienden festhalten, widerlegen zu können.6 Da sich die Dinge von Augenblick zu Augenblick verändern, gibt es kein kontinuierliches und beständiges Substrat, wie etwa das Brahman der Upanischaden, das ihnen zugrunde liegt. Die Dinge existieren daher jeweils nur für den kürzesten Augenblick (kshana). Sie haben keine Realität außerhalb dieser getrennten, augenblickshaften Daseins«stückchen». Der kontinuierliche Fluß, den wir in der Welt der Erscheinungen erleben, ist nichts als eine Abfolge augenblickshafter Ereignisse. Eine noch eingehendere Untersuchung zeigt, daß selbst solch ein kürzester Augenblick (kshana) in noch kleinere Einheiten zerlegt werden kann - ad infinitum. Daher gilt: Die Dinge besitzen keinerlei Dauer; sie verschwinden, sobald sie erscheinen. Die fortdauernde Existenz der Dinge ist eine Illusion, genauso wie im Kino die Abfolge vieler Einzelbilder die Illusion eines kontinuierlichen Ablaufes vermittelt. Der Mensch sieht die auffallenden Veränderungen wie etwa den Übergang von Tag in Nacht, oder wie aus dem Samen der Halm sprießt, aber nur selten bemerkt er die kleinsten, augenblickshaften Veränderungen der Dinge. Nur die Physiker widmen sich Beobachtungen dieser Art. Der buddhistische Philosoph Shantirakshita formulierte kurz und bündig: «Das augenblicksgebundene Ding ist gleichzeitig seine eigene Vernichtung.»7 Das will sagen, daß jedes Ding in dem Augenblick zunichte wird, in dem es erscheint; es überlebt den nächsten Augenblick nicht. Da die Dinge keinerlei Dauer haben, sondern vergehen, sobald sie erscheinen, kann man von ihnen auch nicht sagen, daß sie wirklich existieren. Wie aber könnte etwas, das existiert, keine Dauer haben? Was keine Dauer hat, kann in keiner Weise existieren. Das ist die rationale Begründung für die Behauptung, daß Dinge, die sich von Augenblick zu Augenblick verändern, leer oder nicht-existierend sind. Das gleiche Prinzip wird in etwas abgeänderter Form im DiamantSutra behandelt. Um die Leerheit der Dinge zu zeigen, sagt der Buddha: «O Subhuti, der Geist der Vergangenheit ist nicht zu fassen;
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der Geist der Gegenwart und der Geist der Zukunft sind ebenfalls nicht zu fassen.» Daraus ist zu schließen, daß alles, was sich in der Zeit befindet, leer ist. Die Dinge der Vergangenheit sind für immer vorüber, sie sind nicht länger faßbar und existieren nicht mehr. Die Dinge der Gegenwart verweilen nicht; sie sind ohne Dauer, und wir können sie daher weder fassen noch uns auf sie berufen. Die Dinge der Zukunft sind noch nicht eingetreten, sie sind weder faßbar noch in diesem Augenblick existent. Daher ist alles, was sich innerhalb der Zeit befindet, als nicht wirklich existent anzusehen, es ist nur von scheinbarer Existenz und in Wirklichkeit leer. Ein anderes Argument zur Verifizierung von Shunyata aufgrund der Vergänglichkeit findet sich im Vimalakirti-Sutra.8 Katyayana wandte sich an den Buddha und sagte: „Weltverehrter, ich bin nicht würdig, Vimalaklrti zu besuchen und mich nach seiner Krankheit zu erkundigen. Warum nicht? Ich erinnere mich, daß einst der Buddha das Wesen des Dharma dargelegt hatte und ich danach seine Lehre erläuterte, die Bedeutung der Vergänglichkeit, des Sinnes des Leidens, der Leerheit, des Nicht-Selbst und des friedlichen Erlöschens, als Vimalaklrti zu mir trat und sagte: «O Katyayana, verwende nicht entstehende und vergehende Geistesvorgänge, um die Lehre von der Wirklichkeit zu erklären. Katyayana, die Dinge (Dharmas) entstehen nicht und sie vergehen nicht. Das ist der Sinn der Vergänglichkeit.»
Der letzte Satz ist gleichbedeutend mit der Aussage: Der Sinn der Vergänglichkeit ist weder Entstehen noch Vergehen. Das steht im schärfsten Gegensatz dazu, wie das Wort Vergänglichkeit allgemein verstanden wird: als Faktum der Veränderung - als Übergang vom Entstehen zum Vergehen und umgekehrt. Was bedeutet also dieser Satz, und wie läßt er sich rechtfertigen? Das rational Faßbare an dieser Aussage läßt sich in den folgenden sechs Punkten zusammenfassen. •
1. Vergänglichkeit bedeutet Veränderung, die als augenblickshaftes Nicht-Verweilen oder Nicht-Dauern definiert werden kann. 2. Wir haben keinen Anlaß, einen bestimmten Moment als dauernd und alle anderen als nicht-dauernd anzusehen. Wäre ein bestimmter Augenblick als unvergänglich anzusehen, dann müßten es auch 106
alle anderen Augenblicke sein. Wäre dies der Fall, dann würden die Dinge unvergänglich sein, und es gäbe keinerlei Wandel. Wandel und Veränderung müssen daher kontinuierlich sein und in jedem Augenblick stattfinden. 3. Die Vorstellung des Seins oder der Existenz ist nicht trennbar von der Vorstellung des Dauerns. Alles was existiert, muß irgendeine Art von Dauer oder «bleibender Substanz» haben. Nicht-Dauern ist gleichbedeutend mit Nicht-Existieren. Daraus folgt: Sind die Dinge augenblickshaft, müssen sie leer sein. 4. Was in der sich wandelnden Welt tatsächlich geschieht, ist, daß genau der Augenblick des sogenannten Dauerns gleichzeitig auch der Augenblick des Nicht-Dauerns ist. Nur dadurch wird das Vergehen möglich, und nur durch das Vergehen wird das folgende Entstehen ermöglicht. 5. Dieses Dauern des Nicht-Dauerns ist die Wirklichkeit der Vergänglichkeit, die identisch ist mit der Gleichzeitigkeit von Erscheinen und Vergehen. 6. Unsere ursprüngliche Aussage ist jetzt verständlich geworden: Der Sinn der Vergänglichkeit ist weder Entstehen (Verlöschen) noch Vergehen (Erscheinen). Das heißt, daß die Gleichzeitigkeit von Nicht-Entstehen (Verschwinden) und Nicht-Vergehen (Erscheinen) der wahre Sinn der Vergänglichkeit ist. Der berühmte Übersetzer-Philosoph Kumarajiva (344-413 n.Chr.) hat dieselbe Beobachtung gemacht und sie wie folgt formuliert.9 Wenn jemand die Lehre von der Leere vermitteln will, beginnt er meist mit einer Diskussion der Vergänglichkeit. Daher ist das Begreifen der Vergänglichkeit ein Schritt auf dem Weg zum Begreifen der Leere. Zu Beginn wird das Problem der Vergänglichkeit untersucht, und dies führt schließlich zu der Schlußfolgerung auf die totale Leere (pi-chin k'ung). Die Wesenszüge beider [d. h. von Vergänglichkeit und Leere] sind eigentlich die gleichen; der Unterschied besteht nur im Grad der Tiefe. Warum ist dies so? Die sogenannte «Vergänglichkeit» bedeutet, daß etwas von Augenblick zu Augenblick keinen Bestand hat. . . Was hier negiert wird, ist die Dauer über einen längeren Zeitraum; aber das Dauern selbst wird nicht vollkommen negiert. Es handelt sich nur um eine «unvollkommene» Unbeständigkeit. ... Die [vollkommene oder] wahre Unbeständigkeit 107
bedeutet, daß das Dauern selbst das Nicht-Dauern ist. Die Existenz wird nun als etwas verstanden, das dauert; wenn es also kein Dauern gibt, dann gibt es auch keine Existenz. Nicht-Existenz ist ein Synonym für totale Leere, und das ist wiederum die subtile und wunderbare Lehre von der Unbeständigkeit.
Dieser buddhistischen Lehre von der Unbeständigkeit und der Leerheit genau entgegengesetzt sind die verschiedenen Arten von «Ewigkeitslehren» und des «Realismus» (shasbvata-vada oder shatkaya-drishti). Die Philosophie von Parmenides ist dafür ein gutes Beispiel. Parmenides war davon überzeugt, daß wir, um überhaupt denken zu können, etwas voraussetzen müssen das ist. Das, was nicht (oder leer) ist, kann auch nicht gedacht werden; wie könnte es dann jemals Teil der Wirklichkeit sein? Nicht-Sein ist daher unmöglich. Die Folgerung daraus ist die Unmöglichkeit von Veränderung, da Veränderung sowohl Sein als auch Nicht-Sein impliziert; wenn sich zum Beispiel A in B verwandelt, hört es auf zu existieren. Aber wie vermag jemand einen solchen Widerspruch zu denken? Eine Eigenschaft kann sich nicht in eine andere Eigenschaft verwandeln; zu behaupten, daß sie es kann, hieße zu behaupten, daß etwas gleichzeitig sein und nicht-sein kann. Außerdem: Wenn das Sein geworden ist, muß es entweder aus dem Sein oder aus dem Nicht-Sein entstanden sein. Daß etwas aus dem Nicht-Sein entsteht, ist unmöglich. Wie kann aus dem Nichts ein Etwas entstehen? Wenn es aus dem Sein entstanden ist, dann ist es aus sich selbst entstanden, was bedeutete, daß es mit sich selbst identisch ist und daher schon immer bestanden hat. Wenn dies der Fall ist, dann handelt es sich nicht mehr um ein Werden. Parmenides war gezwungen zu folgern, daß aus Sein nur Sein entstehen kann, daß nichts etwas anderes werden kann, daß alles, was ist, schon immer war und immer sein wird und daß alles bleibt, was es ist. Es kann daher nur ein ewiges, ungeteiltes und unveränderliches Sein geben.10 Der Gegensatz zwischen der Philosophie des Ewigen Seins, wie sie von Parmenides postuliert wurde, und der buddhistischen Lehre von Unbeständigkeit und Shunyata ist so eindeutig, daß ein Vergleich die beiden Lehren, sowohl die radikale «Ewigkeitslehre» des Parmenides wie die radikale «Augenblickslehre» des Buddhismus, in ihrer Besonderheit klar hervortreten läßt. 108
Kommentare zum zweiten Argument Da alle Dinge nach dem Prinzip des abhängigen Entstehens in Erscheinung treten (pratitya-samutpada), besitzen sie keinerlei Selbstheit oder Eigen-Sein (svabhava) und sind daher leer. Dies ist vielleicht das wichtigste und verständlichste Argument der Shunyata-Lehre, das von dem großen Philosophen Nagarjuna vorgebracht wird, und ohne Zweifel der Kernsatz von dessen Philosophie des Mittleren Weges (madhyamaka). Dieses Argument besteht aus zwei Hauptpunkten. 1. Da alle Dinge aus einer Kombination von verschiedenen Ursachen und Faktoren resultieren, stellen sie in erster Linie einen strukturellen Komplex dar und haben keine an sich bestehende Wesenheit. Sie besitzen kein unabhängiges Eigen-Sein, sondern verdanken ihre Existenz anderen Dingen. 2. Bei genauerer Untersuchung erkennen wir, daß nichts in dieser Welt eine definitive Natur aufweist; die Dinge sind so oder anders nur im Verhältnis zu diesem oder jenem oder in Bezug auf gewisse Umstände. Wenn der Bezugsrahmen verändert wird, ändern sich auch die in Frage stehenden Dinge - oder sie können sogar gänzlich verschwinden. Nichts besitzt daher ein aus sich selbst existierendes Eigen-Sein oder eine Selbstheit. Dieses Fehlen der Bestimmtheit der Dinge weist darauf hin, daß ihre Existenz nur relativ ist - und nicht absolut. Shunyata wird auch als das «Leersein von Selbstheit» (svabhavashunyata oder nihsvabhava) verstanden. Aber was ist diese Selbstheit? Wie können wir sie definieren? Die verschiedenen Möglichkeiten der Definition von Selbstheit (svabhava) haben große Kontroversen und Schismen unter den Mahayana-Schulen verursacht. 11 Um die Sache zu vereinfachen, werden wir hier keine genaue Definition von «Selbstheit» versuchen, sondern uns auf eine allgemeine Beschreibung beschränken, wie sie von den meisten Schulen stillschweigend akzeptiert wird. Selbstheit (svabhava) bezeichnet eine sich selbst genügende und an sich bestehende Wesenheit (Entität); der Begriff weckt die Vorstellung
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von Eigenschaften wie Unabhängigkeit, Bestimmtheit und Unteilbarkeit. Gibt es in der Welt, wie wir sie kennen, etwas, das aus sich selbst existiert und nicht aus sonstigen Ursachen entstanden ist? Gibt es etwas, das sich selbst genügt, ohne sich auf andere Dinge stützen zu müssen, etwas, das wirklich unabhängig, an sich bestehend und unteilbar ist? Der Buddhismus gibt auf alle diese Fragen eine verneinende Antwort. Das Verneinen der Selbstheit ist zugleich eine Ablehnung all dieser «an ein Sein gebundenen» falschen Vorstellungen.
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Die Nicht-Selbst-Lehre und Svabhava-Shunyata
Das Leersein von Selbstheit (svabhava-shunyata) in der PrajnaparamitaLehre ist eine Fortentwicklung der Nicht-Selbst-Lehre (anatman) des frühen Buddhismus, einer Lehre, die auf den Buddha selbst zurückgeht. Um Klarheit zu schaffen, wollen wir daher zuerst die Wesenszüge der Nicht-Selbst-Lehre betrachten. Die buddhistische Lehre vom Nicht-Selbst ist ein umstrittenes Thema, sowohl innerhalb wie außerhalb des Buddhismus, seit dem Tag, an dem der Buddha sie vorgetragen hat. Sie hat vielleicht mehr Verwirrung, Verbitterung und Spaltung verursacht als irgend etwas anderes in der buddhistischen Geschichte. Soweit ich sehen kann, läßt sich dieses Problem sehr einfach lösen. Philosophen, innerhalb wie außerhalb des Buddhismus, haben sich über Anatman hauptsächlich deshalb so erbittert gestritten, weil sie Anatman als philosophischen Begriff oder philosophische Lehre behandelt haben. Tatsächlich aber ist Anatman oder Nicht-Selbst nur eine Meditationshilfe, eine praktische Anleitung, die bei der Yoga-Kontemplation zum Zweck der Befreiung angewendet wird, wie die Meditationstechnik der Vier Arten der Bewußtheit (smriti-upasthana12, Pali: sati-patthana) klar zeigt. Kein Wunder, daß die meisten, die sich über Anatman in die Haare gerieten, den entscheidenden Punkt weit verfehlten! Buddha war niemals ein Philosoph; sein einziges Trachten war, den Weg zur Befreiung zu zeigen - zur Befreiung von dem tief eingewurzelten Festhalten an einer trügerischen Selbst-Vorstellung, das der Ursprung aller Leidenschaften und Begierden und der daraus sich ergebenden Leiden 111
und Enttäuschungen ist. Philosophische Spekulationen wies der Buddha ausnahmslos zurück, da er sie als nutzlos, töricht und unheilvoll betrachtete. Eine Philosophie des Nicht-Selbst ist in den Lehren des Buddha nirgends zu finden; was wir finden, ist ein wichtiges therapeutisches Mittel, nämlich die Anleitung, wie man dieser tiefsitzenden Gewohnheit, sich an ein Selbst oder «Ich» zu klammern, Herr werden kann. Auf der Ebene des gesunden Menschenverstandes hat Buddha niemals die Vorstellung eines Ich abgelehnt, denn auch er selbst gebrauchte stets das Pronomen der ersten Person, «Ich», noch leugnete er den Fortbestand einer Kette sich wandelnder Ichs, die sich von den unendlich vielen vergangenen Leben zu künftigen Wiedergeburten erstreckt, womit er die Lehre vom Karma und der Wichtigkeit geistiger Bemühungen beibehielt. Das geht aus den Jataka-Erzählungen und anderer Quellen klar hervor. Wenn dem aber so ist, was war dann dieses «Selbst», das der Buddha verneinte und zu vernichten versuchte? Für die gläubigen Nachfolger des Buddha war das überhaupt kein Problem, denn sobald sie Erleuchtung erlangten, wußten sie genau, was mit Anatman gemeint ist. Ein großes Problem wurde es aber für die philosophisch veranlagten Buddhisten. Sie hatten zu entscheiden, welches «Selbst» die Anatman-Lehre zu zerstören sucht, und welches «Selbst» für bestimmte Zwecke zu bewahren war. Nach langen Jahren der Überlegung kam die folgende recht überzeugende Definition des Selbst zustande: Das, was beständig, unwandelbar, einbeitlich und autonom ist, ist das sogenannte Selbst (Hsüan-Chuangs Interpretation im 1. Kapitel des Ch'eng Wei Shih Lun).13 Was wir allgemein mit dem Wort Selbst meinen, ist in erster Linie eine fortdauernde und unwandelbare Identität. Hier ein Beispiel: Ein Bewerber namens Meier soll drei aufeinanderfolgende Prüfungen bestehen, um sich eine Stellung in einer Firma zu sichern. Er kommt am ersten Tag bei der ersten Prüfung durch und geht am zweiten Tag wieder zu der Firma. Der Prüfer sieht ihn und fragt: «Sind Sie Herr Meier?» «Ja», erwidert er. Der Prüfer führt ihn zum zweiten Test. In diesem Augenblick gibt es ein schweigendes Einverständnis zwischen dem Bewerber und dem Prüfer; beide betrachteten den Prüfling als dieselbe Person, die am Vortag da war. Er bleibt Herr Meier; er ist kein anderer und seine Identität hat sich nicht geändert. Dieses unver112
änderliche und beständige Element ist der erste und wichtigste Bestandteil des vorgeblichen Ich. Eine kurze Überlegung wird schnell zeigen, daß dieser Glaube falsch ist. In vierundzwanzig Stunden hat sich sehr viel verändert: Meiers Haar, seine Augenbrauen, Fingernägel usw. sind alle etwas länger, als sie am Vortag waren; er ist einen Tag älter, seine geistige Kapazität und physische Kondition sind beide in einem gewissen Ausmaß verändert, obwohl die Veränderungen vom praktischen Gesichtspunkt aus sehr gering und nicht bedeutungsvoll sind. Nichtsdestoweniger kann zum Beispiel vom Gesichtspunkt eines Krankheitskeimes in seinem Körperinnern ein ungeheurer Wandel vor sich gegangen sein. Ein neunzehnjähriger ungestümer junger Mann ermordet fünf Menschen und entflieht ins Ausland. Vierzig Jahre später kehrt er nach Hause zurück. In der Zwischenzeit hat er ein Bein verloren, einen Arm und ein Auge. Er ist kahl geworden und seine Haut hat aufgrund einer Krankheit, die er sich im Ausland zugezogen hatte, die Farbe der Albinos bekommen. Seine geistige Haltung und seine ganze Persönlichkeit haben sich ebenfalls gewandelt. Er ist ein sehr verläßlicher, weiser und gütiger Mensch geworden. Wenn wir den rücksichtslosen neunzehnjährigen Mörder und diesen mitleiderregenden alten Krüppel nebeneinander stellen könnten, würde niemand sagen, daß die beiden dieselbe Person sind. Aber aufgrund des Gesetzes wird er festgenommen und nach einer langen schwierigen Untersuchung als der Mörder identifiziert und zum Tode verurteilt, ohne Rücksicht auf die weitgehenden physischen und geistigen Veränderungen, die in einem Zeitraum von vierzig Jahren eingetreten sind. Die Justiz ist nicht an der Auffindung eines unveränderlichen Selbst im streng ontologischen Sinn interessiert; ihr primäres Interesse gilt der Gesetzes-treue in pragmatischem und sozialem Sinn. Der Buddhismus würde diese Sache jedoch nicht in solch oberflächlicher Weise vom Gemeinverstand behandeln lassen. Für den Buddhismus bleibt die Frage nach der Auffindung eines unveränderlichen Selbst ungelöst, weil wir kein einziges Element finden können, das strenggenommen als unverändert angesehen werden kann. Selbst die Fingerabdrücke dieses Mannes haben sich verändert; die Fingerabdrücke eines Neugeborenen sind viel kleiner als diejenigen des späteren Erwachsenen, obwohl das grundlegende Muster scheinbar IJ3
dasselbe bleibt. Daher, so argumentiert der Buddhismus, existiert das Selbst in Wahrheit nicht; das sogenannte Ich, das vorgeblich unveränderliche und gleichbleibende Element in uns, ist nur eine Täuschung, eine Projektion unseres verwirrten Geistes. Manche Leser werden hier einen Einwand erheben und sagen, daß es schon stimmen mag, daß es kein unveränderliches Selbst gibt, aber wie ist es mit einem sich wandelnden Selbst? Es könnte scheinen, daß die Vorstellung eines sich verändernden Ich, wie es der Gemeinverstand annimmt, alle hier gemeinten Probleme lösen würde. Aber ein sich veränderndes Selbst ist ein Widerspruch in sich, denn wir haben kein stichhaltiges Argument, diese Veränderung auf einen bestimmten Zeitraum zu beschränken, also zu sagen, daß es für eine Zeitlang unverändert bleibt und sich dann verändert. Das würde bedeuten, daß wir zwei Arten von Selbst haben, ein wandelbares und eines, das sich nicht verändert. Nebenbei, Wandel bedeutet, daß etwas Neues entsteht an Stelle von etwas Altem, das verschwindet. Die dem Begriff Wandel innewohnende Bedeutung ist der Verlust der Identität, was mit der Vorstellung eines Selbst unvereinbar ist. Im praktischen Leben ignorieren wir den sich wandelnden Teil, betonen aber den sich nicht wandelnden Teil der Kette sich verändernder Ichs, um die Vor-stellung eines unveränderlichen und einheitlichen Selbst aufrechtzuerhalten. In Wirklichkeit aber ändern sich diese aufeinanderfolgenden Ichs in jedem Augenblick, und keinerlei feste Selbstheit ist in dieser Folge auffindbar. Das zweite Element unserer Definition des Selbst ist die Vorstellung eines Selbst als einer unteilbaren Einheit. Mit andern Worten, das Selbst muß einheitlich sein: eine einzelne, reine und unvermischte Einheit. Wenn es mehrere Selbste gäbe, ginge der Sinn des Selbst verloren. Man kann einfach nicht mehrere Selbste haben. Man denke an einen Menschen, der irrtümlich als Mörder angeklagt wurde und für das Verbrechen zum Tod verurteilt worden ist. Nehmen wir an, daß es ihm gelingt, zu entfliehen und er nun überall im Land nach dem wahren Mörder sucht. Als ein flüchtiger Sträfling muß er häufig seinen Namen und seine Beschäftigung wechseln, und die Polizei ist ihm ständig auf den Fersen. Obwohl er Hunderte von Namen annimmt, bleiben sein wahres Selbst und seine Identität immer gleich. Er kann einfach nicht mehrere Selbste haben! Er mag seinen Namen 114
ändern, seine Beschäftigung, sein Aussehen, seine Umgangsformen und seine Persönlichkeit, aber all dies wird nichts an der Tatsache ändern, daß er immer noch der Mensch ist, der er war. Er weiß das und jeder andere auch, denn trotz aller oberflächlichen Änderungen bleibt ein einzelner, reiner und unvermischter Grundbestandteil unverändert bestehen. Das Selbst muß daher etwas sein, für das die Einzahl und nicht die Mehrzahl gilt. Der Buddhismus erkennt an, daß dies für den Gemeinverstand vollkommen richtig ist, und erhebt keinen Einwand dagegen. Auf einer höheren Ebene, wenn wir tiefer in die Idee eines Selbst eindringen, finden wir jedoch, daß das Selbst des Gemeinverstandes eine Täuschung ist, ein Sich-Klammern an eine irrige Vorstellung, die die Quelle aller Schwierigkeiten und Leiden ist. Sieht man das Selbst als eine einheitliche Wesenheit an, dann heißt dies entweder, daß es eine unteilbare und elementare Monade ist, die keinerlei Einzelbestandteile enthält, oder es bedeutet ein integrales Ganzes, das einzelne Bestandteile umschließt. Im Fall von Gedächtnisverlust oder Persönlichkeitsspaltung bleibt der Psychopath nicht länger im Besitz seines «wahren» Selbst als eines integralen Ganzen. Er unterliegt einem Prozeß der «Auflösung». Gewöhnlich glaubt man, daß auch im Fall von Schizophrenie das wahre integrale Selbst noch vorhanden bleibt und lediglich zeitweilig erloschen ist. Sobald die Geistesstörung geheilt ist, gewinnt der Patient sein eigentliches Selbst wieder zurück. Der Buddhismus vertritt die Meinung, daß das Selbst entweder eine elementare Monade oder ein integrales Ganzes sein müßte. Das Problem der Veränderung von Augenblick zu Augenblick sowie der Bedingtheit und Abhängigkeit von Struktur und Umwelt bleibt jeoch bestehen, so daß von einem unveränderlichen und einheitlichen Selbst keine Rede sein kann. Um den trügerischen Glauben an eine fortdauernde Wesenheit zu zerstören, analysiert der Buddhismus sorgfältig die Elemente, die das sogenannte Selbst bilden. Er zerlegt das Selbst in die fünf Aggregate, die zwölf Sphären und 94 Dharmas.14 Diese detaillierte Analyse, die einen gewissen Teil der buddhistischen Literatur (z.B. den Abhidharma) so außerordentlich langweilig und uninspirierend macht, hat nur einen Zweck, nämlich das «integrale Ganze» des Selbst, an dem wir so hängen, auseinanderzunehmen und aufzulösen. Man könnte dies mit der Zertrümmerung des früher als unteilbare Einheiten ange115
sehenen Atoms vergleichen - heute eine Routinetätigkeit. Wir wissen, daß eine ungeheure Energie erforderlich ist, um die Partikel im Atom zusammenzuhalten, und daß ohne diese gewaltige kein Atom bestehen könnte. Analog dazu ist es auch beim Selbst; es ist nicht unteilbar oder monadisch, sondern ein integraler Komplex verschiedener Elemente. Um dieses Selbst oder Ich aufrechtzuerhalten und zu bewahren, ist eine enorme Bindekraft oder Kraft des Anhaftens erforderlich. Wird diese Bindekraft der Ich-Verhaftung freigesetzt, so wird damit die in ihr gebunden gewesene riesige potentielle Energie frei, und das führt zu dem, was der Buddhismus Erleuchtung und Befreiung nennt. Das dritte wesentliche Element in unserer Definition des Selbst ist, daß es autonom sein soll, was die Vorstellung von Willensfreiheit und Unabhängigkeit einschließt. Es leuchtet von selbst ein, daß der Begriff des Selbst die Eigenschaft der Autonomie einschließen muß; wenn sich zum Beispiel jemand gegenüber seinem Freund unfreundlich benommen hat, als er betrunken war, könnte er sich bei seinem Freund entschuldigen und sagen: «Es tut mir wirklich leid, aber ich war nicht ich selbst an diesem Tag.» Wenn jemand etwas unter dem Einfluß eines Schocks oder einer geistigen Störung getan hat, wird man ihn nachsichtiger behandeln als normalerweise, da er nicht wirklich er selbst gewesen ist, das heißt, er war seiner Selbstbestimmtheit beraubt und ist daher auch frei von moralischer oder juristischer Verantwortlichkeit. Betrachten wir zum Beispiel eine Einberufungsszene, bei der ein schneidiger Feldwebel zu den Rekruten spricht. Alle frischgebackenen Soldaten mußten ihre Zivilkleider ausziehen, sich die Haare kurz schneiden lassen und ihre neuen Uniformen anziehen. Nachdem all dies geschehen ist, führt man sie auf einen großen Platz, und der gottgleiche Feldwebel sagt mit einer von Stolz und Selbstsicherheit erfüllten Stimme zu den angetretenen Rekruten: «Jetzt gehört ihr alle mir!» Jeder, der einmal eine Uniform getragen hat, wird die Autonomie des Atman außerordentlich zu schätzen wissen. Genaugenommen kann man einen Soldaten nicht als jemanden bezeichnen, der ein «Selbst» besitzt, da er nicht länger autonom ist. Bedeutet die Verneinung der Existenz eines Selbst durch den Buddhismus, daß er auch den existentiellen, autonomen Entscheidungs116
träger verneint, den wir allgemein als Selbst oder Willen bezeichnen? Diese Frage muß, wie andere Fragen auch, von zwei verschiedenen Standpunkten aus betrachtet werden. Auf der Ebene des allgemeinen Menschenverstandes hat der Buddhismus nichts gegen die existentielle Überzeugung von einem Selbst, die natürlich auch die Vorstellung eines autonomen Entscheidungsträgers einschließt. Vom Gesichtspunkt der Höheren Wahrheit (paramartha-satya) und der Befreiung aus wird der Atman jedoch verneint. Wenn wir jetzt einen Schritt weiter gehen und fragen: «Wenn der Buddhismus vom Gesichtspunkt der Höheren Wahrheit aus die Vorstellung eines dauerhaften und einheitlichen Selbst verneint, bedeutet das auch, daß er das Vorhandensein des autonomen Entscheidungsträgers verneint?» - dann scheint die Antwort bejahend zu sein. Aber nach meiner genauen Kenntnis des Buddhismus haben weder Hinayana noch das Mahayana jemals eine wirklich klare und zufriedenstellende Antwort auf diese Frage gegeben. Das Problem eines autonomen Selbst ist identisch mit dem Problem des freien Willens und enthält natürlich auch das Problem von Verursachung und Determinismus. In der abendländischen philosophischen Tradition ist das Problem des freien Willens ein widersprüchliches und oft behandeltes Thema, Die Philosophen haben sich über dieses Problem den Kopf zerbrochen, und es scheint, daß es auch heute noch keine wirklich schlüssige, überzeugende Meinung gibt. Überraschend ist, daß so hochkarätige buddhistische Philosophen wie Nagarjuna, Vasubandhu, Chandraklrti und Fa-tsang diesem wichtigen Problem keine Beachtung geschenkt haben. Es scheint, daß sie einfach das Urteil des allgemeinen Menschenverstandes übernommen haben und überzeugt waren, daß wir, vom konventionellen Gesichtspunkt (samvriti-satya) aus, tatsächlich einen freien Willen haben. Es haben anscheinend keine langwierigen Diskussionen über das Problem des Determinismus und des freien Willens stattgefunden. Der Grund dafür mag sein, daß die buddhistischen Philosophen von anderen Interessen und Problemen in Anspruch genommen waren. Denn, wie einmal ein weiser Taoist sagte: «Man schafft sich sein eigenes Problem, indem man sich in etwas vergräbt, das man ignorieren könnte.» Ich habe nicht vor, mich hier ausführlich mit dem schwierigen Problem des freien Willens zu beschäftigen. Es ist jedoch sicher, daß
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der Buddhismus das Vorhandensein des freien Willens bejaht, da wir alle ihn ja dank direkter und unmittelbarer Erfahrung bezeugen können. Vollkommen freier Wille ist jedoch eine äußerste Seltenheit. In der großen Mehrzahl der Fälle sind unsere Handlungen und Entscheidungen vorherbestimmt. Der freie Wille ist nur ein kleiner Lichtfunke in der Dunkelheit des Schicksals, und dennoch ist dieser winzige Funken mit seinem rebellischen «Nein» gegen alles, was sich ihm in den Weg stellt, Anfang und Ursprung all dessen, was schließ-lich unser Leben und unsere Welt umwälzen wird. Nach diesem kurzen Überblick über die Nicht-Selbst-Lehre des Buddhismus können wir jetzt wieder zu unserer Diskussion der Leere von Selbst-Sein oder Selbstheit zurückkehren. Selbst-Sein (svabhava) bedeutet, wie bereits erwähnt, eine sich selbst genügende, an sich bestehende Wesenheit, mit den Eigenschaften der Unabhängigkeit, der Bestimmtheit und Unteilbarkeit. Das Element Autonomie ausgenommen, ist diese Definition fast identisch mit unserer Definition des Atman. Der Unterschied zwischen dem Leersein von Selbst-Sein (svabhavashunyata) des Mahayana und dem Nicht-Selbst (anatman) des Hinayana besteht darin, daß ersteres einen größeren Bereich umfaßt - alle Dinge sind ohne Selbst-Sein -, während letzteres sich auf das Leersein einer Person von einem Ich oder Selbst-Sein beschränkt. Der zentrale Gedanke der Shunyata-Philosophie ist, daß alle Dinge dem Prinzip des abhängigen Entstehens unterworfen sind und daher kein Selbst-Sein besitzen. Nehmen wir die Ehe als Beispiel: Es bedarf zweier Menschen, damit sie zustande kommen kann; es handelt sich dabei also um etwas «in Abhängigkeit Entstandenes». Der Begriff des «abhängigen Entstehens» bedeutet, daß alles in der Welt ein relatives Gebilde ist und operationalen Charakter hat. Es gibt keinerlei unabhängige und nicht auf etwas anderes rückführbare Entitäten. Das sogenannte einzelne Objekt, wie etwa ein Haus, ein Mensch, ein Kieselstein, ein Molekül oder selbst ein Atom, ist nur eine zu einem bestimmten Zweck vorgenommene Abgrenzung. In Wirklichkeit ist jedes dieser Dinge ein operationales Gefüge, eine Struktur von Beziehungen, entstanden durch die Koordinierung und gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Faktoren. Die Dinge existieren nicht; nur Ereignisse existieren, augenblickhaft und, unter relativen Bedingun118
gen. Eine unteilbare und an sich bestehende Wesenheit oder «Selbstheit» gibt es einfach nicht. Im Laufe unseres Lebens machen wir ständig die Erfahrung, daß ein Ding oder ein Ereignis nur dann Existenz erlangen kann, wenn alle erforderlichen Bedingungen oder Faktoren vollzählig vorhanden sind. Der Ausfall eines einzigen Faktors reicht aus, um das Zustandekommen zu verhindern. Das Fehlen einer Schraube oder eines Stifts genügt, daß eine Uhr nicht geht; das Fehlen der körperlichen Eignung, der richtigen Ausbildung, des Kampfgeistes oder der geistigen Ausgeglichenheit - jeder dieser Umstände kann verhindern, daß jemand ein Spitzenathlet wird. Das erklärt auch einen anderen Aspekt des Prinzips des abhängigen Entstehens, der besagt: A ist nicht deshalb A, weil A ein Eigen-Sein oder ein Selbst-Sein besitzt, sondern weil B, C, D, E usw. es dazu machen. Die Deutschen fielen in den dreißiger Jahren in die Hände Hitlers und wurden in seine selbstzerstörerischen Unternehmungen verwickelt, nicht weil er ein außerordentliches Talent oder besondere Intelligenz besaß, sondern aufgrund vieler verschiedener Faktoren. Die wirtschaftliche Krise im Nachkriegsdeutschland, die Ungerechtigkeit des Friedensvertrags von Versailles, die Enttäuschung und Verzweiflung der deutschen Bevölkerung und viele andere Umstände trugen zum Aufstieg Hitlers bei. Dieses Prinzip - A ist A, nicht weil A eine Selbstheit hat, sondern weil eine Kombination verschiedener Faktoren es verursacht -, ist auf alles in der Welt der Erscheinungen anwendbar. Der Begriff Selbst-Sein (svabhava) bezeichnet eine an sich bestehende Entität, aber in Wirklichkeit gibt es keine Entitäten, sondern nur Strukturen und Geschehnisse. Dieses Prinzip scheint heute auch von den Naturwissenschaften und den Sozialwissenschaften bestätigt zu werden. Hier einige einfache Beispiele: Die Kampfkraft eines Heeres beruht nicht unbedingt auf den Einheiten, aus denen es besteht (oder dem zur Verfügung stehenden Material). Ganz wesentlich ist der Einsatz verschiedener Elemente wie Mobilität, zeitliche Abstimmung, Koordination und so weiter. Die wahre Stärke eines Heeres besteht also aus strukturellen Gegebenheiten und nicht nur aus materiellen Einheiten. Eine schöne Nase, ein schöner Mund und ein Paar attraktive Augen können, wenn sie falsch plaziert oder «schlecht 119
strukturiert» sind, ein Gesicht sehr häßlich machen. Ohne entsprechende Struktur reichen die Elemente allein nicht aus, um signifikante Folgen zu haben. Die sieben Musiknoten sind die Grundbestandteile aller Melodien; was die Melodien jedoch voneinander unterscheidet, sind nicht diese sieben Noten, sondern ihre Anordnung oder Struktur. Die beste Art zu zeigen, daß alle Dinge ohne Selbstheit sind, ist der Nachweis, daß sie keine endgültig abgrenzbare Wesensnatur oder Bestimmtheit haben. Nichts kann wirklich existent sein, wenn es unbestimmt oder unabgegrenzt ist. Unbestimmtheit macht nicht nur die Identität unmöglich, sondern vernichtet auch die Idee des Seins. Wenn wir zeigen können, daß alle Dinge unbestimmt oder unabgegrenzt sind, haben wir den Beweis erbracht, daß sie nicht sind. In der buddhistischen Terminologie ist das eben die Svabhava-Shunyata, also Leerheit von Selbst-Sein oder Selbstheit. Um die Unbestimmtheit aller Dinge zu erkennen, genügt eine kurze Untersuchung. Ein Objekt, das von verschiedenen Standpunkten aus beobachtet wird, zeigt auch verschiedene Gestalt und Form. Ein Mensch kann gleichzeitig von seinen Feinden gehaßt, von seinem Ehepartner geliebt, von seinen Kindern respektiert und von Tieren und Vögeln nicht beachtet werden. Eine Beethoven-Symphonie kann als großes musikalisches Werk gepriesen oder von unmusikalischen Menschen als sinnloser und nervenaufreibender Lärm abgetan werden. Auch in der Atomphysik sind wir Zeuge des Phänomens der Unbestimmtheit geworden - Materie kann hier sowohl ein Teilchen als auch eine Welle sein, oder, präziser ausgedrückt: Die Teilchennatur und die Wellennatur der Materie können nicht beide gleichzeitig exakt bestimmt werden. Eine Kiste wiegt neun Pfund nur, wenn sie auf der Erdoberfläche gewogen wird; sie ist schwerelos, wenn man sie an Bord eines die Erde umkreisenden Satelliten wiegt. Alle diese Beispiele weisen auf eine Tatsache hin: Nichts hat eine genau bestimmbare Natur. Alles ist unbestimmt; die Dinge sind so oder anders nur im Verhältnis zu dem oder jenem und innerhalb eines bestimmten Bezugsrahmens. Ihre Bestimmbarkeit setzt gewisse Bedingungen und willkürlich festgesetzte Grenzen voraus. Diese Tatsache der Unbestimmtheit wird auch Relativität genannt - X ist X nur im Verhältnis zu Y und unter gewissen Bedingungen. 120
Ein wichtiger Punkt, den wir uns ins Gedächtnis rufen müssen, ist, daß wir hier, wenn wir von dem Nicht-Vorhandensein einer bestimmten Natur sprechen, vom Gesichtspunkt einer höheren Wahrheit ausgehen. Wir argumentieren nicht dagegen, daß Henry Ford ganz bestimmt ein reicher Mann war, daß Wasser ganz bestimmt H2O ist, und daß die Sonne ganz bestimmt jeden Morgen im Osten aufgeht. Das sind alles praktische Wahrheiten von einem konventionellen Gesichtspunkt aus. Wenn wir aber die Bezugsrahmen ändern, ergeben sich ganz andere Schlußfolgerungen; dann muß Henry Ford nicht unbedingt als reicher Mann gesehen werden und die Sonne muß nicht unbedingt jeden Morgen im Osten aufgehen. Weil die Dinge sich ändern oder sich sogar widersprechen können, sobald man sie von verschiedenen Ebenen aus betrachtet, wie dies zum Beispiel in der Quantenmechanik bei der Teilchen- und Wellennatur der Materie der Fall ist, kommen wir vom Standpunkt der höheren Wahrheit zu der Schlußfolgerung, daß alle Dinge unbestimmt, unabgegrenzt und leer von Selbst-Sein oder Selbstheit sind. An dieser Stelle mag sich der Leser mit Recht fragen, was wir mit «höherer Wahrheit» meinen und was sich hinter dieser sogenannten höheren Wahrheit verbirgt. Mit höherer Wahrheit meinen wir eine Erkenntnis, die nicht an einen besonderen Bereich oder Bezugsrahmen gebunden ist, sondern die über alle Bezugssysteme und Standpunkte hinausgeht: eine organische und Shunyata-gemäße Betrachtungsweise, frei von allen Fesseln der Besonderheit und Einseitigkeit. Dieses organische Verfahren ist kennzeichnend für die ganzheitliche Methode der Hua-yen-Philosophie. Wir werden uns im nächsten Abschnitt näher damit befassen, aber wir wollen hier schon einmal festhalten, daß dieser ganzheitliche Ansatz seine Basis in der Svabhava-Shunyata hat, denn gäbe es irgendein Svabhava, wäre keinerlei holistische Sichtweise möglich. Ein weiterer Aspekt des Leerseins von Selbstheit wird sichtbar, wenn wir versuchen, den umgekehrten Weg zu gehen, und folgende Frage formulieren: «Was würde geschehen, wenn die Dinge tatsächlich eine Selbstheit besäßen?» Die Antwort lautet, daß in diesem Fall jede Art von Veränderung unmöglich würde. Svabhava steht in diametralem Gegensatz zu Unbeständigkeit und Veränderung; es würde keinerlei Entstehen geben, jede Fortentwick121
lung wäre unmöglich, und alle Anstrengungen wären vergeblich. Die Annahme einer Selbstheit oder eines Selbst-Seins ist gleichbedeutend mit der Verneinung einer phänomenalen Wirklichkeit, die alle Arten von Veränderungen kennt: Fortentwicklung und Rückschritt, Entstehen und Vergehen, Auf und Ab. Aus dieser Überlegung entstand auch der berühmte Ausspruch Nagarjunas: «Aufgrund der Leere können alle Dinge und Ereignisse entstehen. Ohne Leere kann nichts entstehen.»15 Das klingt seltsam: «Weil alle Dinge in ihrem Eigen-Sein leer sind, können sie existieren. Würden sie ein Eigen-Sein besitzen, so könnte keines von ihnen existieren.» Im ersten Augenblick klingt das völlig absurd, aber eine nähere Betrachtung wird uns bald von der Wahrheit und Bedeutung dieses Ausspruchs überzeugen. Parmenides konnte Nicht-Sein nicht akzeptieren; daher konnte er auch Veränderung nicht akzeptieren. Das Umgekehrte gilt im Fall der Anatman-(Nicht-Selbst-)Lehre. Viele Menschen glauben, daß eine Ablehnung des Atman, des fortdauernden Selbst oder der Seele, die Grundlehre des Buddhismus zerstören würde. Denn wenn es keine fortdauernde Seele gäbe, wie könnte dann die Wirkungsweise von Karma begründet werden? Was hätte es für einen Sinn, spirituelle Anstrengungen zu unternehmen, wenn es kein Selbst gäbe, das die Früchte erntet? Im Grunde steht die Nicht-Selbst-Lehre in keinem größeren Widerspruch zu den Tatsachen als die Lehre von einem Ewigen Selbst (atman). Ein Selbst, das als fortdauernde Entität mit einer einheitlichen unveränderlichen Natur anzusehen wäre, würde zu jeder Art von Veränderung unfähig sein; es würde automatisch jedes Karma, jeden Fortschritt und jede Veränderung unmöglich machen. Genau wegen dieser großen Schwierigkeit hat sich der Buddha geweigert, ein ewiges Selbst anzuerkennen, und die Nicht-Selbst-Lehre entwickelt. Erst aufgrund der Wahrheit vom Nicht-Selbst werden Karma, Veränderung und spirituelle Vollendung möglich. Es verhält sich damit wie mit dem Denkbild Null, das wir früher behandelt haben. Weil die Null nichts enthält, kann sie alles bedeuten. Wenn wir zum Beispiel sagen, das Bankguthaben eines Menschen sei sechsstellig, dann legen wir uns in Bezug auf die Höhe seines Bankkontos nicht fest. Eine sechsstellige Zahl, die man mit sechs Nullen darstellen könnte, ist sehr flexibel und außergewöhnlich «nicht-sva-
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bhava», so daß sie jederzeit durch eine genaue Zahl ersetzt werden kann - wie zum Beispiel 863 245. Weil die Null das Nicht-Sein bedeutet, hat sie große Möglichkeiten. Sie kann in Verbindung mit jeder Zahl ihre Funktion haben. In gleicher Weise sind alle Dinge, weil sie leer von Selbstheit sind, dynamisch und voller Möglichkeiten. Die Leere des Buddhismus zerstört und vernichtet die Dinge also nicht ganz im Gegenteil, sie läßt sie erst entstehen. Das einzige, das zerstört wird, sind das Anhaften und Sich-Festklammern des Menschen.
Das Svabhava-Denken des Menschen Um Svabhava und seine Folgen wirklich zu verstehen, ist es zweckmäßig, die Svabhava-Denkweise zu studieren, die für den menschlichen Geist charakteristisch ist. Das Typische an der Svabhava-Denk-weise ist, daß sie eine Handlung oder ein Geschehen als feste Einheit oder Substanz betrachtet. Wenn wir uns zum Beispiel fragen: «Was geschieht mit meiner Faust, wenn ich die Finger strecke?» - dann müßte uns sofort bewußt werden, daß die «substantive Faust kein Ding, sondern eine Handlung, ein Geschehen ist. Unsere Svabhava-Denkweise hat uns dazu gebracht, die Faust als ein unabhängiges und einheitliches Ding zu sehen, während sie in Wirklichkeit eine strukturierte Handlung ist, etwas das von den in gegenseitiger Abhängigkeit stehenden Fingern, der Handfläche, der Anspannung der Muskeln usw. gemeinsam hervorgerufen wird. Die Svabhava-Denkweise besteht darin, die Dinge als unabhängig, einheitlich, statisch und fest zu sehen, während die «Nicht-Svabhava»Denkweise sie als voneinander abhängig, strukturiert, dynamisch und fließend ansieht. Erstere ist unfrei, anklammernd und eindeutig eingeschränkt; letztere ist frei und voll unendlicher Möglichkeiten. Tabelle 1 verdeutlicht diese gegensätzlichen Merkmale: Die Svabhava-Denkweise unabhängig einheitlich Entität/Substanz statisch
Die Nihsvabhava-Denkweise interdependent strukturiert Geschehnisse und Handlungen dynamisch 123
fest unfrei eindeutig eingeschränkt Festklammern und Anhaften Sein Dasheit
fließend frei unendliche Möglichkeiten Loslassen und Nicht-Anhaften Nicht-Sein Washeit
Tabelle 1: Die beiden Arten des Denkens
Eine Parallele zur Nihsvabhava-Denkweise findet sich in Korzybskis allgemeiner Semantik. Seine «nicht-aristotelische» Methode ist, glaube ich, der Asvabhava- oder Nihsvabhava-Lehre sehr nahe verwandt. Hayakawa, einer seiner Schüler hat - um zu vermeiden, was Korzybski die «verinnerlichte» aristotelische Denkweise nennt - die folgenden Maßnahmen vorgeschlagen.16 Die erste ist die Verwendung von Kennziffern. Aufgrund unserer gewohnheitsmäßigen Svabhava-Denkweise kommt es dazu, daß gewisse Namen automatisch bestimmte und festgefahrene Meinungen über den erwähnten Gegenstand wachrufen - z. B. «Hippies», «Juden», «Kommunisten», «Automatisierung» und so weiter. Um diese festen und vorgefaßten Meinungen zu vermeiden, die diese Begriffe in uns wecken, sollten wir sie kennzeichnen: Hippie 1, Hippie 2, Hippie 3; Kommunist 1, und Kommunist 2. Das sollte uns daran erinnern, daß nicht alle Hippies und alle Kommunisten gleich sind. Ihre Ähnlichkeiten, die dazu führen, daß man sie als eine Gruppe klassifiziert, sollten nicht von ihren individuellen Verschiedenheiten ablenken. Die zweite Maßnahme ist die Verwendung von Jahreszahlen. Alles ändert sich ständig; da sich jedoch die Ideen und Vorstellungen der Menschen nicht im gleichen Tempo ändern, müssen Begriffe und Namen nicht immer genau die Wirklichkeit benennen, um die es geht. Wir sollten daher die Begriffe auch datieren: Mao Tse-tung 1936, Mao Tse-tung 1958, Mao Tse-tung 1968; USA 1868, USA 1968; Jahreseinkommen vor dem 15. April -, Jahreseinkommen nach dem 15. April und so weiter. Eine andere Maßnahme ist die Verwendung von Bindestrichen. Da
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die Svabhava-Denkweise dazu verleitet, nicht voneinander zu trennende, sondern voneinander abhängige Geschehnisse in getrennte Einheiten aufzuspalten, sollten wir Bindestriche verwenden: Zeit-Raum, psychosomatisch, Bio-Chemie, Geo-Physik, Sozial-Ökonomie, Ying-Yang, Erbarmen-Weisheit (karuna-prajna), Noumenon-Phänomenon, und so weiter. Indem wir zwei oder mehrere verschiedene Begriffe mittels Bindestrichen verbinden, können wir sofort die strukturellen Elemente der Wirklichkeit in organischer und ganzheitlicher Weise erkennen und verfallen nicht in jene falsche Darstellung, die dem SvabhavaDenken eigen ist. Es gibt noch andere von Korzybski vorgeschlagene Regeln, aber die drei erwähnten sollten ausreichen, um das Entscheidende klarzumachen. Die Svabhava-Denkweise durchdringt alles. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, sie zu vermeiden, ehe wir nicht die Prajna-Einsicht der Erleuchtung errungen haben, weil alle Begriffe, in denen wir denken, im Grunde Svabhava-gebunden sind. Wir meinen, ein Begriff - insbesondere ein guter Begriff - dürfe keinesfalls zweideutig oder verschwommen sein; er sollte klar und eindeutig sein, wie es in der exakten Sprache der Wissenschaft und des Rechtswesens der Fall ist. Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Das Wort Zweirad bezeichnet ein Fahrzeug mit zwei - und nicht drei oder vier - Rädern; es ist klar und bestimmt. Aus demselben Grund ist es aber auch fest, ausschließend und Svabhava-gebunden. Im ersten Augenblick, wenn das Wort Zweirad in unserem Kopf auftaucht, vermittelt es nur ein festes Bild des Gegenstandes. Es vermittelt uns nichts über seine Nicht-Svabhava-Natur! Wenn jemand exzentrisch genug ist, kann er im zweiten, dritten und einem darauffolgenden Augenblick erläuternde Anmerkungen als Ergänzung hinzufügen: «Vorsicht! Zweirad bedeutet nicht etwas Einheitliches oder Festes, es ist ein strukturelles Denkbild, das sich von Augenblick zu Augenblick ändert.» Es braucht wohl nicht erst betont zu werden, daß alle diese erläuternden Anmerkungen selbst ebenfalls Svabhava-gebunden sind. Um den ihnen innewohnenden Svabhava-Gehalt zu verringern, sind weitere Erläuterungen notwendig. Und das läßt sich ad infinitum fortsetzen. Das mag überflüssig oder lächerlich klingen, aber es zeigt, daß die Svabhava-Art des Anhaftens in all unseren Gedanken steckt. In den ersten Monaten nach meiner Ankunft in den Vereinigten 125
Staaten erlebte ich, wie die Svabhava-Denkweise funktioniert. Wenn ich mir etwas für eine kleine Mahlzeit zu essen und zu trinken kaufen wollte, ging ich immer einen ziemlich langen Weg von meiner Wohnung zum nächsten Lebensmittelgeschäft. Es kam mir der Gedanke, daß ich diese Dinge auch in einem nahegelegenen Drugstore kaufen könnte. Als das Wort «Drugstore» zum ersten Mal in meinem Kopf aufgetaucht war, verband ich damit einen Ort, wo man Drogen kaufen kann, und erst viel später konnte ich diese einschränkende Svabhava-Meinung berichtigen, als ich erkannte, daß in den Vereinigten Staaten ein Drugstore fast gleichbedeutend mit einem Supermarkt ist. Es zeigt sich also die Svabhava-Tendenz am ausgeprägtesten im allerersten Augenblick, wenn der Begriff zum ersten Mal auftaucht. In den nachfolgenden Augenblicken wird er fließender und beweglicher und entwickelt sich in Richtung zum Organischen und Operationalen. Kommentar zum dritten Argument für «Form ist Leere» Da die äußere Welt die Summe aus dem kollektiven Karma und der Projektion unseres eigenen Geistes ist und der Veränderung und dem Vergehen unterliegt, können wir schlußfolgern, daß alle Dinge leer sind. Dieses Argument wird hauptsächlich von der Yogachara-Schule verwendet, um die Leere der äußeren Welt nachzuweisen, die als bloße Projektion des menschlichen Bewußtseins betrachtet wird. 17 Wenn wir nach Colorado fahren, können wir die Rocky Mountains sehen, aber wir sehen sie nicht an allen anderen Orten. Das beweist für den gewöhnlichen Verstand die wahre Existenz der Rocky Mountains in der äußeren Welt. Aber Yogachara, der buddhistische Idealismus, behauptet, daß diese Berge, die in der äußeren Welt zu existieren scheinen, aus höherer Sicht eine Täuschung sind, hervorgerufen durch die Projektion des Alaya-Bewußtseins der Menschen mit ihrem gemeinsamen Karma. Die Tatsache, daß ein jeder Mensch die Existenz eines bestimmten Dings in einem bestimmten Raum sieht, bedeutet nicht, daß dieses Ding wirklich existiert; es bedeutet nur, daß Menschen dasselbe gemeinsame Karma besitzen, um dasselbe Bild an dieselbe Stelle zu projizieren. Wenn ein Mensch Wasser sieht, es spürt und schmeckt, dann unter 126
scheidet sich seine Erfahrung ganz wesentlich von der eines Fisches. Für den Menschen ist Wasser etwas Greifbares und eindeutig Vorhandenes; der Fisch jedoch, der im Wasser lebt, wird dessen Vorhandensein vielleicht überhaupt nicht spüren, so wie die Menschen das Vorhandensein unbewegter Luft nicht spüren. Die buddhistische Überlieferung behauptet, daß, wenn ein Deva oder Gott das Wasser in einem See sieht, es ihm nicht als Wasser erscheint, sondern als Nektar; erblickt ein Hungriger Geist dasselbe Wasser, verwandelt es sich in Eiter und Blut, und wenn ein Bewohner der Hölle es sieht, wird es zu Gift oder Feuer. Auch das ist ein Beweis für die Tatsache, daß Wasser keine Selbstheit besitzt. Bedingt durch die unterschiedlichen gemeinsamen Karmas, erscheint es den verschiedenen Lebewesen auf unterschiedliche Weise. Gäbe es eine substantive wahre Wesenheit namens «Wasser», dann wäre diese Vielfalt und Unbestimmtheit nicht möglich. Gerade die Tatsache, daß Wasser an und für sich als solches nicht existiert, macht das Phänomen des Nicht-Svabhava möglich.
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Die Lehre von der Absoluten Leere
In der Diskussion des Satzes «Form ist Leere» haben wir die wesentlichen Aspekte von Svabhava-Shunyata, dem Leersein von Selbstheit, näher betrachtet. Um den tieferen Aspekt der Shunyata-Lehre zu erforschen, wollen wir uns jetzt mit der Totalen oder Absoluten Leere (chinesisch: pi-chin k'ung, Sanskrit: atyanta-shunyata, tibetisch: mthah las hdas pahi ston pa nyid) beschäftigen, die das hervorstechende Merkmal und das Wesen der Prajnaparamita-Lehre ist. Die Absolute Leere ist eine vollständige Verneinung von allem, einschließlich ihrer selbst, denn Shunyata selbst muß ebenfalls verneint werden, wenn es sich um eine echte Leere handeln soll. Deshalb heißt unter den Zwanzig Arten von Leere18 eine das «Leersein von Leere» (shunyata-shunyata). Wenn wir von Leere sprächen und sie in irgendeiner Weise als existent betrachteten, dann würden wir gleichzeitig unserem eigenen Standpunkt widersprechen und alles, was wir sagten, ad absurdum führen. Absolute Leere bezeichnet eine Sphäre endgültiger Transzendenz - etwas, das über alle Dharmas und Vorstellungen (paramita) hinausgeht. Das meinen die Zen-Buddhisten mit dem Ausspruch: «Du sollst alle Dinge leer machen, aber der Leere niemals Substanzhaftigkeit zugestehen. ... Kommst du an einen Ort, wo sich Buddhas aufhalten, dann eile schnell weiter; kommst du an einen Ort, wo es keinen Buddha gibt, verweile auch nicht einen Augenblick!» Totale Leere (pi-chin k'ung) ist gleichbedeutend mit Absoluter Leere, aber das Wort absolut deutet hier auf nichts Positives, keine Gewißheit, Autorität, unanzweifelbare Endgültigkeit oder ähnliches hin, wie dies normalerweise der Fall ist. Absolut bedeutet hier «frei von», 128
wie es sich vonder ursprünglichen Bedeutung des lateinischen Wortes absolvere, «freisetzen, befreien» herleitet. So bedeutet zum Beispiel absoluter Alkohol einen Alkohol, der frei ist von allen Beimischun-gen. Mit Absoluter Leere ist also eine Leere gemeint, die frei von allen Formen der Existenz ist und diese übersteigt. Die Betonung liegt hier ganz eindeutig auf dem transzendenten Aspekt. Das Wesen der Absoluten Shunyata ist im dritten Absatz des HerzSutra beschrieben: O Shariputra, die Kennzeichen der Leere aller Phänomene [dharmas] sind: NichtEntstehen und Nicht-Vergehen, Nicht-Befleckung und Nicht-Makellosigkeit, Nicht-Zunehmen und Nicht-Abnehmen.
Die Menschen leben in einer Welt, in der die Phänomene des Entstehens und Vergehens, der Reinheit und der Unreinheit, des Zunehmens und des Abnehmens offenkundig sind. Um dem entgegenzuwirken und die andere Seite der Wirklichkeit - die leere Seite - zu veranschaulichen, weist das Herz-Sutra darauf hin, daß das «Kennzeichen» der Leere aller Dharmas ist, daß sie nicht entsteht, nicht verlischt, nicht rein, nicht unrein ist, nicht zunimmt und nicht abnimmt. Alle abhängigen Dinge (samskrita) weisen die Merkmale des Entstehens und Verlöschens auf, aber Shunyata transzendiert beide; weder entsteht sie, noch erlischt sie. Die buddhistische Tradition vertritt die Auffassung, daß die Menschen und Samsara unrein, Nirvana und die Buddhas rein sind, Shunyata aber, als das Absolute, Reinheit wie Unreinheit überschreitet. Wenn jemand den Zustand fortgeschrittener Bodhisattvaschaft erreicht hat, nehmen seine Verdienste und seine Weisheit in unbegrenztem Maße zu, seine Leidenschaften und Begierden und sein schlechtes Karma nehmen im gleichen Ausmaße ab, aber Shunyata, als das Absolute, geht über beides hinaus; sie nimmt weder zu, wenn jemand Erleuchtung erlangt, noch nimmt sie ab, wenn jemand sich im Schlamm des Samsara suhlt.
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Absolute Shunyata und die Lehre vom Sein Manche buddhistischen Denker glauben, daß die sechs Negationen in drei Paaren - also Nicht-Entstehen und Nicht-Vergehen, Nicht-Befleckung und Nicht-Makellosigkeit, Nicht-Zunehmen und Nicht-Abnehmen - die ewige Natur der Shunyata bezeichnen; sie bleibt stets so, ist stets ohne Entstehen oder Vergehen, Zunehmen oder Abnehmen. Sie weisen auch darauf hin, daß Shunyata alles durch dringend ist; sie ist immer überall vorhanden. Vor allem aber verweisen diese Verneinungen darauf, daß Shunyata die Gleichheit oder Identität aller Dharmas bedeutet. In der Shunyata ist daher alles gleich und undifferenziert. Vom buddhistischen Standpunkt aus sahen manche Kritiker bei diesen Denkern die gefährliche Neigung, auf die eine oder andere Weise in die «häretische» Anschauung des Äternalismus (shashvatavada) oder des Realismus (satkaya-drishti) zu verfallen. Typische Beispiele für diese Neigung finden sich in den Upanischaden und in der Theorie des Thomas von Aquin Üiber das Wesen und das Sein. Auf den ersten Blick scheinen die Lehren der Upanischaden und die des MahayanaBuddhismus einander sehr ähnlich zu sein. Wenn man sie jedoch genauer vergleicht, ergeben sich einige unverkennbare Unterschiede. Die Unterschiede zwischen verschiedenen mystischen Traditionen aufzuzeigen, ist äußerst schwierig; die Ähnlichkeiten scheinen die Unterschiede immer bei weitem zu übertreffen. Ein vorurteilsloser und genauer Vergleich zwischen den Schulen erfordert authentische mystische Erfahrungen in beiden Traditionen sowie ausgiebige Studien ihrer schriftlichen Quellen. Eine Kompetenz solchen Ausmaßes ist äußerst selten, sofern es sie überhaupt gibt. Auf den folgenden Seiten will ich meine persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen zu diesem Problem darlegen; sie sollten jedoch nicht als endgültige Bewertungen dieses Gegenstandes betrachtet werden. Das besondere Kennzeichen der Absoluten Leere liegt in ihrem selbstverneinenden oder alles-transzendierenden Aspekt. Auch die Leere selbst ist leer und ohne Selbstheit. Das wird als die Leere der Leere (shunyata-shunyata) bezeichnet. Im Gegensatz dazu berufen sich die Upanischaden auf einen göttlichen oder universellen Grund
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aller Dinge, der als das Letztgültige, die reine Existenz, das Sein alles Seienden und ähnlich bezeichnet wird. Die Verfasser der Upanischa-den fragten: «Worin hat diese Welt ihren Ursprung? .. .Was war das Herz und was der Baum, aus dem die Erde und der Himmel geschnitzt wurden?» Die Antwort, die sie gaben, lautete: «Die Welt hat ihren Ursprung im Brahman. Brahman ist der Baum, aus dem Himmel und Erde geschnitzt wurden.» Brahman gleicht dem Element Gold, aus dem die goldene Schale, der goldene Ring und die goldene Kette gefertigt werden. Obwohl die Schale, der Ring und die Kette verschiedene Formen haben, bleiben sie doch unveränderlich Gold. In der Chandogya-Upanisbad steht: «Genauso, mein Lieber, kennt man durch einen Klumpen Gold alles, was aus Gold gemacht ist. Die Verschiedenheit ist nur ein Name, der aus der Sprache entsteht; die Wahrheit ist, daß da nur Gold ist.» (Chandogya-Upanisbad, 6.1.5) In diesem Sinne ist Brahman das Substrat aller Dinge; es ist ihr einheitlicher Ursprung und der «kosmische Tesafilm», der sie zusammenhält. Im Brahman sind alle Dinge verwurzelt, und in ihm finden sie ihre Einheit. Was aber ist dieses eine Element oder Substrat, das allen Dingen gemeinsam ist und darin sie ihre Einheit haben? Die Antwort ist, daß alle Dinge, ungeachtet ihrer unterschiedlichen Formen und Eigenheiten, ohne Ausnahme am Sein (sat) als ihrer gemeinsamen Wurzel teilhaben. Die Brihadaranyaka-Upanisbad (2.5.15) sagt: «So, wie alle Speichen eines Rades von der Nabe und vom Radkranz zusammengehalten werden, genauso werden von diesem Brahman alle Wesen, alle Götter, alle Welten, alle atmenden Kreaturen zusammengehalten.» - «Alle diese Kreaturen ... haben ihren Ursprung im Sein. Sie haben das Sein als ihre Bleibe, das Sein als ihre Stütze.» (Chandogya-Upanisbad, 6.8.6) In deutlichem Gegensatz zur buddhistischen Betonung der Leere oder des Nicht-Seins heben die Uganischaden die primäre Bedeutung des Seins hervor: «Am Anfang war nur das Sein, das Eine ohne ein Zweites. Manche sagen:
Wie aber könnte es das? ... Wie könnte Sein aus Nicht-Sein entstehen? Im Gegenteil, am Anfang war nur das Sein, das Eine ohne ein Zweites.» (Chandogya-Upanisbad, 6.8.6). Die Betonung des Seins
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als Grundsubstanz kommt hier sehr klar zum Ausdruck. Bei einem Vergleich mit der buddhistischen Doktrin von der Absoluten Leere (shunyata-shunyata), tritt die Schärfe des Gegensatzes eindeutig zutage. Unter den verschiedenen Formen des Äternalismus (shashvata-vada) ist die prägnanteste, glaube ich, die These des Thomas von Aquin über den Akt des Existierens oder den Akt des Seins (ipsum esse). Der einfachste Einstieg in diese Lehre ist, glaube ich, wenn man zuerst den Unterschied zwischen Washeit und Dasheit oder Essenz und Existenz darlegt. Washeit oder Essenz bezeichnet die Attribute, Formen, die Natur oder Quiddität eines Dinges; wogegen Dasheit oder Existenz die Aktualität, die «Istheit», die unmittelbare Gegenwärtigkeit oder den Akt des Existierens eines Dinges bezeichnet. In einem Satz wie: «Eiscreme ist kalt und süß», bezeichnen die Wörter kalt und süß die Washeit oder Essenz von Eiscreme, jedoch nicht die Eiscreme per se oder ihre reine Existenz. Man muß hier zwei verschiedene Möglichkeiten, das Zeitwort sein zu gebrauchen, voneinander unterscheiden. In einem Satz wie «Hans ist ein Mann» oder «Hans ist klein», spielt das Wort ist nur die Rolle eines Bindeglieds. Es besagt einfach, daß es die Essenz (oder Washeit) von Hans ausmacht, ein Mann zu sein, oder daß das Akzidens «klein» zu der Substanz «Hans» gehört. Das Bindeglied ist weist immer auf das Prädikat hin und niemals auf das Subjekt. In einem Satz jedoch wie «Hans ist» oder «Gott ist» bezieht sich das Zeitwort nur auf das Subjekt: Es wird keinerlei Attribut oder Washeit des Subjekts erwähnt. Es drückt nur die eine Tatsache aus, daß Hans existiert. Es wird hier nichts als die Tatsächlichkeit des Subjekts ausgesagt. Nach Etienne Gilson handelt es sich um einen Satz von stärkstmöglicher existenzieller Aussagekraft, da er einzig auf den Akt des Existierens des Subjekts hinweist. Wenn ich die Sache richtig verstehe, ist die Dasheit eines Dinges eben seine «Istheit» oder «Daseinshaftigkeit». Tische und Bäume sind verschieden in ihren Formen und Attributen, aber sie haben alle etwas gemeinsam: Sie haben alle teil am Akt des Existierens, der «Istheit», der «Daseinshaftigkeit». In der «Istheit» haben daher alle Dinge ihre Wurzeln und ihre Einheit. In seiner Abhandlung Über Sein und Wesen spricht Thomas von 132
Aquin sehr viel über Essenz (Wesen), aber nur sehr wenig über Existenz. Ich finde es höchst bemerkenswert, daß alle sechs Kapitel seines Buches, mit Ausnahme des ersten, sich mit der Essenz und nicht mit der Existenz beschäftigen. Nicht einmal das Wort «Existenz» kommt in ihnen vor. Warum? War es nicht gerade die Existenz im Gegensatz zum Wesen, die der Autor als den primären Gegenstand behandeln wollte? Könnte es sein, daß er entdecken mußte, daß sich über Existenz im Grunde nicht viel aussagen läßt? Hatte er erkannt, daß er, um über Existenz sprechen zu können, sich schließlich doch des Mediums Essenz bedienen mußte? Tatsache ist, daß im selben Augenblick, in dem man etwas über Dasheit sagt, es sich sofort in eine Form von Washeit verwandelt. Die Dasheit kann intuitiv erfaßt werden, sie läßt sich aber nur sehr schwer mit Worten beschreiben. Auf den ersten Blick scheint die Dasheit etwas Mysteriöses und Unvorstellbares zu sein, denn wie können wir uns etwas vorstellen, ohne - explizit oder implizit - Washeit ins Spiel zu bringen? In Wirklichkeit ist Dasheit oder der Akt des Existierens sehr einfach und konkret; es ist überhaupt nichts Mysteriöses oder Unfaßbares damit verbunden. «Woran wir zuallererst denken, wenn wir ist sagen, ist der Akt des Existierens selbst, das heißt jene absolute Tatsächlichkeit, die die wirkliche Existenz ist», bemerkte Etienne Gilson.19 Jacques Maritain schrieb: Die ursprüngliche Intuition des Seins ist die Intuition der Zuverlässigkeit und Unerbittlichkeit der Existenz ... Ein Denkvorgang ohne Worte, der nicht zur Sprache gebracht werden kann, ohne seine Vitalität zu verlieren ... 20 Hier hängt alles von der natürlichen Intuition des Seins ab - von der Intuition jenes Aktes des Existierens, der der Akt jedes Aktes ist, und die Perfektion jeder Perfektion, in dem alle erkennbaren Strukturen der Wirklichkeit ihre Tatsächlichkeit haben und der jedes Lebewesen sowie alle Kommunikation der Lebewesen miteinander mit Aktivität überflutet.21
Weiterer Erklärungen dieser Philosophen zu zitieren, würde die Sache nur komplizieren und diese Diskussion noch verwirrender machen. Das folgende Beispiel soll genügen. Als ein Ureinwohner Australiens nach New York kam, wurde er mit einer Fülle neuer Ein133
drücke konfrontiert, denen er nie zuvor ausgesetzt war. In seinem Erinnerungsvermögen gab es kein Vokabular, mit dem er die kaleidoskopischen Phänomene hätte benennen können. Man zeigte ihm eine Boeing 747, einen IBM-Computer und ein Atomkraftwerk. Er verstand nicht, worum es sich dabei handelte, und wußte nicht, wie er diese Monstren benennen sollte, aber als er diesen Objekten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, konnte er ihre konkrete Existenz sehen und fühlen. Er konnte die Begriffe «Atomzertrümmerer» oder «IBM» nicht benutzen. Es gab kein einziges Wort, das in dem Augenblick des unmittelbaren Wahrnehmens in seinem Geist hätte auftauchen können. Trotzdem hatte er ein intuitives Gefühl des Erfassens einer gewissen Aktualität der Objekte - ein Verstehen ihrer «Seinshaftigkeit». Als man ihm den IBM-Computer zeigte, starrte er ihn mit offenem Mund an und gab ein lautes «Ah!» von sich. Als man ihm als nächstes die Boeing 747 zeigte, starrte er sie ebenfalls an und stieß ein «Ah!» aus. Was drückt dieses Ah aus? Es vermittelt die einfache Tatsache des Erfahrens einer bestimmten Aktualität oder konkreten Existenz. Diese ganz unmittelbare und lebendige Erfahrung ist vermutlich das, was Thomas von Aquin den «Akt des Existierens» nennt. Das intuitive Fühlen der Seinshaftigkeit erfordert keine Worte oder Symbole, um es zu stützen oder auszudrücken. Es ereignet sich jenseits der Washeit und aller benennbaren Attribute. Dieses bloße Fühlen von «Seinshaftigkeit» ist vor der Zweiteilung in Subjekt und Objekt. Wir haben verschiedene Begriffe und Ausdrücke verwendet, um ein und dieselbe Idee zu veranschaulichen. Um die Sache noch weiter zu vereinfachen, will ich den Leser auf die folgende Formel verweisen: Dasheit = Seinshaftigkeit = «Istheit» = reine Existenz = die Tatsächlichkeit eines Dings = die «Daseinshaftigkeit» = der Akt des Existierens = der göttliche Grund = das universelle Substrat = Brahman = Sein alles Seienden.
Die buddhistische Einstellung zu diesem intuitiven Erfassen des Seins oder der Dasheit ist der von den Upanischaden oder von Thomas von Aquin vertretenen Auffassung diametral entgegengesetzt. Anstatt diese «Seinshaftigkeit» zu glorifizieren und ihre Bedeutung bis auf die theologische oder soteriologische Ebene aufzuwerten, glaubt der Bud134
dhismus, daß dieses intuitive Erfassen des Seins oder der Tatsächlichkeit ein Ausdruck des im Menschen tief verwurzelten Anhaftens oder Festhaltens ist. Und dieses wiederum ist die eigentliche Wurzel allen Leidens und aller Täuschungen im Samsara. Befreiung oder Erleuchtung ist das Ergebnis einer totalen Vernichtung dieses tief verwurzelten, angeborenen «Festhaltens an der Seinshaftigkeit». Darum spielt die Vollkommene Leere, die Negation alles Seienden, im buddhistischen Denken und in der buddhistischen Praxis so eine wichtige Rolle. Der in den Upanischaden angesprochene transzendierende Aspekt des Brahman kann leicht mit dem der Prajnaparamita-Lehre verwechselt werden. Die Vollkommene Leere des Buddhismus sowie die «Seinshaftigkeit» (sat) der Upanischaden sind dem Denken unerreichbar und unaussprechlich. Beide transzendieren alle Symbole, Gedanken und antithetischen Beziehungen, aber das heißt nicht, daß sie dasselbe sind. Die Upanischaden bejahen den letzten Urgrund, das Große Eine, während der Buddhismus die Vollkommene Leere ohne Festhalten an irgendeinem Selbst-Sein oder Svabhava betont. Die negative Aussage in bezug auf das Nirguna-Brahman (Brahman ohne Attribute) scheint nur darauf hinzuweisen, daß Brahman «nicht dies und nicht das» ist (neti, neti). Sie bedeutet jedoch nicht, daß Brahman selbst leer von Eigen-Sein oder Selbstheit ist. Im Gegensatz dazu betont der Buddhismus mit Shunyata sowohl den Es-ist-nicht- als auch den Da-ist-nichts-Aspekt; das heißt einerseits, daß die Absolute Shunyata nicht dies und nicht das ist, und andererseits, daß sie auch keine Selbstheit hat. Sie ist selbst vollkommen leer; da gibt es kein Jota von irgendeinem Selbst oder Sein. Mit dem Brahman der Upanischaden verhält es sich jedoch ganz anders. Obwohl auch Brahman unvorstellbar, formlos und jenseits aller Attribute ist, besitzt es ein substanzhaftes eigenes Sein oder Selbstheit. Das berühmte neti, neti in den Upanischaden (Brihadaran-yaka-Upanishad, 3.9.26) verweist nur auf den Es-ist-nicht-Aspekt des Atman; er schließt nicht den Aspekt der Vollkommenen Leere ein. «Das Selbst ist nicht dies und nicht das. Es ist unfaßbar, denn es ist nicht gefaßt. Es ist unzerstörbar, denn es ist nicht zerstört. Es ist unverhaftet, denn es läßt sich nicht daran haften. Es ist ungebunden; es leidet nicht.»22 Nirgends in den Schriften der Veden kommt eine Vorstellung zum Ausdruck, die sich mit der Vollkommenen Leere des Buddhismus 35
vergleichen ließe. Es ist daher verständlich, daß viele buddhistische Denker das Reine Sein des Atman nur als eine subtile Form des angeborenen Sich-Anklammerns an das fundamentale Bewußtsein (das AlayaBewußtsein) betrachten, das die eigentliche Ursache des Samsara ist; ein Festhalten daran verhindere die wahre Befreiung, so heißt es. Eine solche Anschuldigung ist jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn die Unterschiede, um die es dabei geht, genau und in allen Einzelheiten dargelegt werden. Es soll daher eine Stelle aus dem Ashtasahasrika-Prajnaparamita-Sutra23 zitiert werden, die eine Darstellung der absoluten Leere gibt, welche wir der Lehre der Upanischaden vom Ewigen Sein gegenüberstellen können: Subhuti sagte: «O Kausika, ein Bodhisattva, der dem glorreichen Fahrzeug nachstrebt, sollte in der Prajnaparamita bei der Lehre von der Leere verweilen. Er soll nicht bei Form, Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung oder Bewußtsein verweilen; er sollte nicht bei der Form verweilen, sei diese vergänglich oder ewig. ... Er sollte nicht bei der Frucht der Arhatschaft verweilen, ... nicht einmal in den Dharmas des Buddha. Auf diese Weise sollte er unendlich vielen Lebewesen dienen und sie befreien.» Daraufhin dachte Shariputra: «Wo soll dann ein Bodhisattva verweilen?» Subhuti, der seinen Gedanken kannte, sagte zu ihm: «Was denkst du, Shariputra? Wo verweilt der Tathagatha?» Shariputra sagte: «Der Tathagata verweilt nirgendwo. Dieser nicht-verweilende Geist selbst ist der Tathagata. Der Tathagata verweilt weder in abhängigen noch in unabhängigen Dingen. Der Tathagata, der in allen Dharmas wohnt, ist weder verweilend noch nicht-verweilend. Geradeso sollte auch ein Bodhisattva [seinen Geist] auf diese Weise verweilen lassen.» In diesem Augenblick dachten viele Götter in der Versammlung: «Selbst die Sprachen und Schriftzeichen der Yaksha-Dämonen sind verständlich, aber was Subhuti gerade gesagt hat, ist unverständlich.» Subhuti, der ihre Gedanken kannte, sprach zu den Göttern: «Für das alles gibt es keine Worte, keine Darstellung und kein Hören.» Die Götter dachten: «Was Subhuti vorhatte, war, uns die Lehre leichter verständlich zu machen; aber was er erreicht hat, ist, daß die Lehre noch schwerer zu deuten, noch tiefer und dunkler geworden ist.» Ihre Gedanken lesend, sagte Subhuti zu den Göttern: «Wenn jemand versucht, das Stadium des In-den-Strom-Eintretenden, des Einmal-Wiederkehrenden, des NiemalsWiederkehrenden oder des Arhats zu erringen,24 ... so sollte er von dieser tiefen Einsicht nicht abweichen. ...» 136
Die Götter dachten: »Wer kann verstehen und dem zustimmen, was Subhuti gerade gesagt hat?» Subhuti kannte ihre Gedanken und sagte: «Ich sage, Lebewesen sind wie Träume und magische Täuschungen. In-den-Strom-Eintretende ... und Arhats sind ebenfalls wie Träume und magische Täuschungen.» Die Götter sagten: «Subhuti, willst du damit sagen, daß auch die Dharmas des Buddha wie Träume und magische Täuschungen sind?» Subhuti sagte: «Ja, ich sage, die Dharmas des Buddha sind wie Träume und magische Täuschungen. Ich sage, auch das Nirvana ist wie ein Traum und eine magische Täuschung.» Die Götter sagten: «O Subhuti, willst du damit wirklich sagen, daß selbst das Nirvana wie ein Traum und eine magische Täuschung ist?» Subhuti sagte: «O ihr Götter, selbst wenn es etwas gäbe, das noch über dem Nirvana stünde, ich würde dennoch sagen, daß es ein Traum und eine magische Täuschung ist. O ihr Götter, es gibt nicht den geringsten Unterschied zwischen dem Nirvana und den Träumen und magischen Täuschungen.»
Die Lehre von der Vollkommenen Leere kommt hier klar zum Ausdruck, Es dürfte schwerfallen, Aussagen dieser Art in der vedischen Literatur oder in anderen religiösen Schriften zu finden.
Absolute Shunyata und Absolute Transzendenz Da der Mensch in einer Welt lebt, die voller Gegensätzlichkeiten ist, sieht er Licht und Dunkel, Wahrheit und Falschheit, Freude und Schmerz, Abstraktes und Konkretes, Positives und Negatives, Richtiges und Falsches. Die Absolute Shunyata geht jedoch über alle diese polarisierenden Dualitäten hinaus, gerade so wie sie das «auf nichts mehr rückführbare» Substrat des Seins transzendiert. Im VimalakirtiSutra wird dies das Nicht-Zwei-Dharma-Tor oder das Dharma-Tor der Nicht-Dualität genannt. Wir wollen einige Passagen aus diesem Sutra lesen, die die Diskussion dieses Themas vor einer großen Versammlung von Bodhisattvas behandelt.25 Vimalakirti sagte zu den versammelten Bodhisattvas: «Wie kann ein Bodhisattva in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität eintreten? Ich bitte euch, ein jeder möge auf seine eigene Weise darlegen, wie es ihm möglich war. ...» 137
Der Bodhisattva «Krone der Tugend» sagte: «Unreinheit und Reinheit sind zwei. Wenn du das wahre Wesen der Unreinheit siehst, dann wirst du erkennen, daß Reinheit keine Form hat, und stehst damit in Einklang mit dem Prinzip des Erlöschens. Das ist das Eintreten in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität. ...» Der Bodhisattva «Auge der Weisheit» sagte: «Form und Formlosigkeit sind zwei. Wer erkennt, daß Form Formlosigkeit ist und sich dennoch nicht an die Formlosigkeit klammert, der dringt in den Zustand der Gleichheit ein, und man sagt von ihm, daß er in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität eingetreten ist. ...» Der Bodhisattva Pushya sagte: «Gut und Böse sind zwei. Wenn man weder Gut noch Böse hervorruft, sondern bis an die Grenzen der Nicht-Form vordringt und so die vollständige Erkenntnis erlangt, dann tritt man in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität ein. ...» Der Bodhisattva «Reine Uberzeugung» sagte: «Die abhängigen und die nichtabhängigen Dharmas sind zwei. Wer sich von allen Berechnungen lösen kann, dessen Geist wird wie der leere Raum; von reiner Weisheit erfüllt, begegnen ihm keinerlei Hindernisse mehr. Das ist das Eintreten in das Dharma-Tor der NichtDualität. ...» Der Bodhisattva Narayana sagte: «Weltlichkeit und Überweltlichkeit sind zwei. Das wahre Wesen des Weltlichen ist leer, was das gleiche ist wie das Über-Weltliche. Darin gibt es kein Eingehen und kein Herauskommen, kein Überfließen und kein Versickern. Das ist das Eintreten in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität. ...» Der Bodhisattva «Reicher Geist» sagte: «Samsara und Nirvana sind zwei. Wenn jemand das Wesen von Samsara erkennt, dann gibt es kein Samsara mehr, keine Gebundenheit, keine Befreiung, keinen Brand und kein Verlöschen. Wer dies versteht, tritt in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität ein. ...» Der Bodhisattva «Blitz Gottes» sagte: «Einsicht und Unwissenheit sind zwei. Das wahre Wesen der Unwissenheit ist die Einsicht selbst. Einsicht kann nicht gefaßt werden; sie liegt jenseits aller Berechnungen. Darin ohne Dualität ihr gleich zu sein, heißt in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität eintreten. ...» Der Bodhisattva «Beglückende Schau» sagte: «Form und Leere der Form sind zwei. Doch Form selbst ist leer, und zwar nicht erst, wenn sie aufhört zu sein, sondern auf Grund ihrer wahren Natur. In gleicher Weise sind auch Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und Bewußtsein leer. ... Wer dies erkennt, tritt in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität ein. ...» Der Bodhisattva «Juwelensiegel in der Hand» sagte: «Das Nirvana lieben und die Welt verabscheuen sind zwei. Wenn jemand weder Nirvana noch die 138
Welt liebt, dann gibt es keine Dualität. Warum ist das so? Wenn es Unfreiheit gibt, dann gibt es auch Befreiung. Wenn es aber von Anfang an so etwas wie Unfreiheit nicht gibt, wer würde dann jemals nach Befreiung suchen? Wer erkennt, daß es weder Unfreiheit noch Befreiung gibt, der hat auch keine Vorlieben oder Abneigungen. Das ist das Eintreten in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität. ...» Der Bodhisattva «Wahrheitliebender» sagte: «Wirklichkeit und Unwirklichkeit sind zwei. Wer wahrhaft sieht, sieht nicht das Wirkliche und schon gar nicht das Unwirkliche. Warum? Weil es sich dabei nicht um etwas handelt, das mit den körperlichen Augen gesehen werden kann. Nur das Weisheitsauge kann es sehen, und dennoch gibt es für das Weisheitsauge nichts, das gesehen oder nicht gesehen wird. Das ist das Eintreten in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität. ...» So sprach ein jeder der anwesenden Bodhisattvas; dann fragten sie alle gemeinsam Manjushri: «Sag uns, bitte, was ist das Eintreten des Bodhisattva in das DharmaTor der Nicht-Dualität?» Manjushri antwortete: «Meine Meinung ist: Keine Worte haben, keine Sprache, keine Hinweise und kein Denken, sich lösen von allen Fragen und Antworten das ist das Eintreten in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität.» Daraufhin sagte Manjushri zu Vimalakirti: «Wir alle haben gesprochen, jeder für sich selbst. Nun, edler Herr, mußt du uns sagen, was das Eintreten des Bodhisattva in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität ist.» Daraufhin schwieg Vimalakirti und blieb stumm, ohne ein Wort zu sagen. -Da pries ihn Manjushri in tiefem Ernst: «Wie groß, wie wunderbar! Weder Worte noch Zeichen zu haben, das ist wahrhaft das Eintreten in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität!» Nach dieser Predigt über das Eintreten in das Dharma-Tor der Nicht-Dualität traten fünftausend in der Versammlung anwesende Bodhisattvas in das DharmaTor der Nicht-Dualität ein und erreichten den Seinsstand der nicht erschaffenen Dharma-Reife.26
Absolute Leere im Herz-Sutra Im Herz-Sutra heißt es: «Darum gibt es in der Leere keine Form, keine Empfindung, keine Wahrnehmung, keine Vorstellung und kein Bewußtsein. (Es gibt) kein Auge, kein Ohr, keine Nase ... keine Unwissenheit und keine Überwindung der Unwissenheit ... kein Alter und keinen Tod ... kein Leiden, keine Entstehung des Leidens, 139
keine Aufhebung des Leidens und keinen Weg, der zur Aufhebung des Leidens führt. In der Leere gibt es keine Weisheit und nichts, das zu erlangen wäre.» In diesem Teil werden alle wichtigen und fundamentalen Grundlehren des Buddhismus zurückgewiesen: die Fünf Skandhas, die Achtzehn Dhatus, die Vier Edlen Wahrheiten, sowie Nirvana und der Edle Achtfache Pfad; alle werden abgetan. Ist dies also das, was die lang gesuchte transzendente Weisheit wirklich erkannt hat? Der Text gibt weitere Auskunft: «Es gibt keine Weisheit und nichts, das zu erlangen wäre.» Es werden also zuletzt sogar Erleuchtung und Buddhaschaft beiseite gewischt. Ist diese Absolute Leere also einfach ein Synonym für Nihilismus? Die Antwort ist ein ganz entschiedenes Nein! Der Nihilismus in allen seinen verschiedenen Formen behauptet die Nicht-Existenz irgendeines Dinges oder Prinzipes; aber diese Behauptung selbst gilt dem Nihilismus als wahr und muß angenommen werden. Mit anderen Worten, er negiert nicht seine eigenen Behauptungen, wie das bei der Absoluten Shunyata der Fall ist. Shunyata-Shunyata ist kein Nihilismus; es ist absoluter Transzendentalismus. Das Absolute ist weder Existenz noch Nicht-Sein, es ist einfach für das Denken unfaßbar und mit Worten nicht zu beschreiben. Darüber sprechen hieße ein sinnloses Spiel mit Worten zu treiben. Wenn jemand diese Stufe erreicht hat, gibt es einfach nichts mehr, das sich sagen ließe. Darum schwieg Vimalaklrti, als er gebeten wurde, das Absolute (das Dharma-Tor der Nicht-Zweiheit) zu beschreiben. Das ist der Grund für das Schweigen des Buddha und für seine Antwort auf Upasivas Frage nach dem Nirvana: Wer den Frieden gefunden hat, steht jenseits irdischen Begreifens; Denn dort [im Nirvana] kann nichts mehr mit Worten benannt werden. Wenn alle Dharmas zunichte geworden sind, Sind es auch alle sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Hier könnte der Einwand erhoben werden, die Absolute Shunyata sei sinnlos, da sie nicht einmal ihren eigenen Standpunkt behauptet. Wenn man überhaupt etwas Sinnvolles sagen wolle, müsse man das,
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was man zu sagen versucht, bejahen; sonst sei es besser, den Mund zu halten! Die überraschende Antwort der Buddhisten darauf ist, daß man, um etwas Sinnvolles zu sagen, durchaus nicht das Gesagte bejahen muß. Was hier über die Leere gesagt wird, soll schließlich keine philosophische Behauptung aufstellen, sondern die Angesprochenen an das jenseitige Ufer bringen und sie mit dem Absoluten konfrontieren. Shunyata ist keine philosophische Doktrin; wenn überhaupt, so ist es ein therapeutisches Hilfsmittel, eine Methode, den Menschen zu helfen, von dem angeborenen Sich-Anklammern loszukommen. Nagarjuna, der bedeutendste Vertreter der Shunyata-Lehre hat diesen Standpunkt klar zum Ausdruck gebracht. Er sagt: «Da ich überhaupt nichts akzeptiere, bin ich frei von allen Fehlern.» So wie bei einem Mann, der mit einem Steinwurf zwei Vögel tötet, so dient Nagarjunas kompromißlose Zurückweisung aller philosophischen Positionen einem doppelten Zweck. Einerseits macht er sich immun dagegen, in philosophische Fehlspekulationen zu verfallen, andererseits gelingt es ihm, die Sinnlosigkeit und Torheit aller philosophischen Spekulation zu entlarven, indem er die philosophischen Positionen seiner Gegner ad absurdum führt. Er demonstriert die Notwendigkeit, den philosophischen Dschungel dank der unmittelbaren Verwirklichung der Vollkommenen Leere zu transzendieren. In seiner epochemachenden Abhandlung Madhyamaka-Karika (13.7) sagt Nagarjuna: Wenn es ein Ding gibt, das nicht leer ist, dann muß es auch ein Ding geben, das leer ist. Da nichts nicht-leer ist, wie kann es da ein leeres Ding geben? Der Siegreiche [der Buddha] verkündet die Leere, um alle Standpunkte zu widerlegen; den, der behauptet, daß es eine Leere gibt, werden alle Buddhas als unheilbar erklären. Shunyata sollte daher nicht für etwas gehalten werden, das irgendwie irgendwo existiert. Man muß über seine intellektuellen Gewohnheiten hinausgehen, um sie erfahren zu können. Wenn jemand sich nicht an die Leere klammert, kann er auch nicht beschuldigt werden, ein Nihi-
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list zu sein. Diese Tatsache wird durch ein berühmtes Koan des ZenMeisters Chao-chou veranschaulicht: Ein Mönch fragte Chao-chou: «Wenn ein Mann mit nichts zu Euch kommt, was würdet Ihr ihm sagen?» Chao-chou schaute ihn an und sagte: «Wirf es fort!» Der Mönch sagte: «Da es überhaupt nichts festzuhalten gibt, was sollte ich da fortwerfen?» Chao-chou sagte: «Wenn das so ist, dann trage es weiter mit dir herum!» Der Mönch erlangte auf der Stelle Erleuchtung. Zu Beginn hatte der Mönch bereits eine oberflächliche Erkenntnis der Leere, aber er klammerte sich daran und vermochte nicht, sich so weit davon zu befreien, daß er frei beweglich im Fluß der Ereignisse schwimmen konnte. Er war noch immer von dem Gedanken verwirrt, was wohl als nächstes zu tun sei. Chao-chou, ein tief erleuchteter Meister, hatte dies sofort erkannt; so sagte er zu ihm: «Wirf es fort!» - nämlich deine angebliche Leere. Der Mönch aber, der noch tief in die tote Leere verstrickt war, verteidigte sich mit den Worten: «Da es überhaupt nichts festzuhalten gibt, was sollte ich da fortwerfen?» Darauf gab Chao-chou zur Antwort: «Wenn das so ist, dann trage es weiter mit dir herum!» Durch diese völlig unerwartete Bemerkung erwachte der Mönch aus seiner toten Leere und erlangte die wahre Erleuchtung. Der ausschlaggebende Punkt in diesem Dialog ist die letzte Bemerkung, denn nach der Befreiung vom Sich-Klammern an die tote Leere kann man an allen Aktivitäten der Welt teilnehmen, ohne dabei die Shunyata-Einsicht zu verlieren. Form ist Leere, und Leere ist Form, und zwischen den beiden besteht nicht der geringste Unterschied. Die Vollkommene Leere sollte daher nicht als nihilistisch oder als tote Leere betrachtet werden; sie ist die dynamische Svabhava-Shunyata mit ihren Aspekten der Ruhe und der Transzendenz. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß es zwei Hauptgründe gibt, warum die Absolute Shunyata nicht mit Nihilismus gleichzusetzen ist: erstens, wie wir gerade gesehen haben, wegen ihres sich-selbst-negierenden oder sich-selbst-transzendierenden Aspekts; zweitens, weil sie eine unentbehrliche Rolle als «Stütze» aller Dharmas [Phänomene] spielt. Dank der Shunyata können alle Dinge existieren; ohne Shunyata könnte nichts existieren. Shunyata ist daher äußerst dynamisch und positiv; mit den Worten des Herz-Sutra heißt das: «Leere
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ist Form.» Es sollte außerdem beachtet werden, daß sich Absolute Shunyata nicht von Svabhava-Shunyata unterscheidet; die sprachliche Unterscheidung zweier Shunyatas dient hier einzig und allein dem Zweck, verschiedene Aspekte desselben zu beschreiben; Shunyata repräsentiert die Totalität einer einzigen Wahrheit.
Die zehn Gleichnisse der Leere Wenn die Absolute oder Vollkommene Leere keine nihilistische Leere ist, sondern absolute Transzendenz, die weder im Sein noch im Nichtsein behaust ist, warum sollte dann das Wort «leer» (shunya) überhaupt gebraucht werden? Die chinesischen buddhistischen Denker haben zehn Gründe hierfür zusammengefaßt.27 1. Leere schließt Nicht-Behinderung ein, ... gleich dem Raum oder der offenen Weite, sie existiert in vielen Dingen, behindert aber nichts und steht nichts im Wege. 2. Leere schließt Allgegenwärtigkeit ein, ... gleich der offenen Weite, sie ist überall; sie umschließt alles, wo auch immer. 3. Leere schließt Gleichheit ein, ... gleich der offenen Weite ist ihr alles gleich; sie macht nirgends einen Unterschied. 4. Leere schließt ungeheure Weite ein, ... gleich der offenen Weite ist sie ungeheuer weit und unendlich. 5. Leere schließt Form- und Gestaltlosigkeit ein, ... gleich der offenen Weite ist sie ohne Form oder Kennzeichen. 6. Leere schließt Reinheit ein, ... gleich der offenen Weite ist sie stets rein und ohne Befleckung. 7. Leere schließt Bewegungslosigkeit ein, ... gleich der offenen Weite ist sie immer in Ruhe und übersteigt die Prozesse von Entstehen und Vergehen. 8. Leere schließt die positive Verneinung ein, ... sie verneint alles, was Grenzen oder ein Ende hat. 9. Leere schließt die Verneinung der Verneinung ein, ... sie verneint alle Selbstheit und zerstört das Anklammern an die Leere (indem sie auf die vollkommene Transzendenz verweist, die frei von allem Festhalten ist). 143
10. Leere schließt Unerreichbarkeit und Unfaßbarkeit ein, ... gleich dem Raum oder der offenen Weite, sie ist nicht erreichbar oder faßbar. Obwohl diese zehn Gleichnisse in poetischer Sprache nicht alle Aspekte der Vollkommenen Leere beschreiben können, veranschaulichen sie gewiß die wichtigsten Eigenschaften der Shunyata. Das Wort Leere mag die Bedeutung der absoluten Transzendenz nicht genau vermitteln, aber es kommt der Idee näher als jedes andere Wort, das zur Verfügung steht.
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Shunyata und Logik
Die Prajnaparamita-Literatur ist voll von paradoxen Aussagen. Auf den ersten Blick erscheinen sie unlogisch und aller Vernunft zu widersprechen. Im Herz-Sutra wird zum Beispiel alles verneint, einschließlich des Weges, des Nirvana und der Erleuchtung, aber am Schluß scheint dieser Standpunkt wieder ins Gegenteil gekehrt, denn es wird gesagt, daß alle Buddhas die Erleuchtung erlangt haben, indem sie in der Prajnaparamita verweilen. Im Diamant-Sutra kommt das paradoxe Wesen der Prajna-Wahrheit noch deutlicher zum Ausdruck. «Die sogenannten guten Dharmas sind keine guten Dharmas. ... Der Buddha sagt, daß der Geist kein Geist ist; daher ist er Geist.» Wenn wir das Zeichen G benützen, um mit ihm das Subjekt dieser Aussage (Geist) zu bezeichnen, dann ließe sich der Satz in der Sprache der Logik in folgender Formel ausdrücken: G = ~ G, . . G was völlig unlogisch zu sein scheint, da es in direktem Gegensatz zum Grundsatz der Identität in der aristotelischen Logik steht. Tatsächlich ist diese Behauptung vollkommen logisch, und zwar aus einem sehr einfachen Grund, den wir später darlegen werden.28 Es sei hier darauf hingewiesen, daß der Begriff des Leerseins von Leere (shunyata-shunyata) gegen eine Grundvoraussetzung der Logik verstößt. Nehmen wir zum Beispiel das Zeichen S für Sein und ~ S für Nicht-Sein oder Shunyata. Shunyata-Shunyata kann dann als ~ S ~ S, oder S = ~ S, oder X X29 dargestellt werden, was in 145
direktem Gegensatz zum Grundsatz der Identität in der Logik steht. Wenn bei der Überprüfung der Richtigkeit eines Arguments das Ergebnis im Widerspruch zu der Grundform P = P steht - was sich auch als PV ~ P ist richtig (Grundgesetz vom ausgeschlossenen Dritten) oder P • ~ P ist falsch (Grundgesetz vom Widerspruch) ausdrücken läßt dann muß das Argument als unrichtig oder als logisch falsch betrachtet werden. Nun erhebt sich die Frage: Wie kann man dieses Grundgesetz der Identität, die archetypische Formel, auf der alles logische Denken aufgebaut ist, verifizieren? Viele Logiker scheinen zu glauben, daß das unnötig ist. Sie meinen, das sei eine Frage, mit sich sich allenfalls die Philosophen befassen müssen, aber keineswegs die Logiker. Die Aufgabe eines Logikers sei es zu sehen, wie die logischen Prinzipien oder Formen bei Schlußfolgerungen funktionieren. Er müsse sich nicht mit der Verifizierbarkeit der Grundvoraussetzungen logischer Prinzipien wie PV ~ P oder A = A abgeben. In seinem Buch Symbolic Logic stellt Irving Copi folgendes fest: In einer idealen Wissenschaft sollten alle Aussagen bewiesen sein, indem man sie von anderen ableitet, und alle Begriffe sollten definiert werden. Aber dieses «ideal» würde nur «unmöglich zu verwirklichen» bedeuten. Begriffe können nur mittels anderer Begriffe definiert werden, deren Bedeutung vorausgesetzt wird, und müssen im vorhinein verstanden worden sein, wenn die Bedeutung der zu definierenden Begriffe erklärt werden soll. (S. 168) Jedes deduzierende System muß, um der Gefahr zu entgehen, sich im Kreis zu bewegen oder in einen circulus vitiosus zu geraten, gewisse Axiome oder Postulate enthalten, die innerhalb des Systems angenommen, jedoch nicht bewiesen werden. ... Sie werden innerhalb des eigentlichen Systems selbst nicht bewiesen. ... Jedes Argument, das dazu dient, die Wahrheit der Axiome zu untermauern, liegt außerhalb des Systems oder ist extra-systematisch. (S. 172)
Heute behaupten die Logiker nicht mehr, daß Axiome in deduzierenden Systemen selbst-evident, also an sich wahr sind, wie dies in der Überlieferung der euklidischen Geometrie der Fall war. «Es wird nicht behauptet, daß die Axiome irgendeines Systems selbst-evident, also an sich wahr sind. Jede Aussage eines deduzierenden Systems ist ein Axiom dieses Systems, wenn sie vorausgesetzt, aber nicht inner146
halb dieses Systems bewiesen wird.» (S. 172) Demgemäß handelt es sich bei der Grundprämisse der Logik, die durch A = A dargestellt wird, um eine Präsumption und um keine bewiesene Wahrheit. Man wird einwenden, daß der Grundsatz der Identität jederzeit empirisch verifiziert werden kann. Niemand, der bei Verstand ist, würde bezweifeln, daß ein Mensch ein Mensch und ein Hund ein Hund ist. Im übrigen ist das Funktionieren des Computers die beste Verifikation des logischen Denkens, dessen «Urprämisse» der Grundsatz der Identität und dessen Folgerungen ist. Diesem Argument möchte ich nur hinzufügen, daß der Glaube an die aufgrund empirischer Evidenz unwiderlegbare und universale Wahrheit des Grundsatzes der Identität durch das Phänomen der Unbestimmtheit und Relativität widerlegt wird, wie wir bereits früher in der Diskussion über Svabhava-Shunyata festgestellt haben. Außerdem würde dieses auf empirischer Evidenz beruhende Argument von den Logikern sicher nicht anerkannt werden, da es von dem Glauben abweicht, daß das logische Denken zur Gänze deduktiv und analytisch und die empirische Nachprüfbarkeit völlig irrelevant ist. Wenn wir nun über die Grenzen der Logik hinausgehen und dieses Problem von verschiedenen Standpunkten betrachten und fragen: «Was bedeutet
die Antwort klar und einfach: Es kann nicht bewiesen werden. Wenn wir zum Beispiel beweisen oder widerlegen wollen, daß A, B oder C Groschen sind, dann müssen wir nur einfach versuchen, A, B oder C mit der Definition des Groschens - metallische Münze von bestimmter Größe, bestimmtem Gewicht, bestimmter Dicke, bestimmter Zeichnung - in Einklang zu bringen. Wenn sie dieser Beschreibung entsprechen, dann handelt es sich um Groschen. Die Beweisführung ist daher ein Übereinstimmungstest, um herauszufinden, ob dieses eine in jenes andere paßt. Ein Verfahren des Herausfindens, ob dieses in jenes paßt (ob A in B paßt), läßt sich nicht anwenden, wenn es darum geht herauszufinden, ob dieses in dieses paßt (ob A in A paßt). Ersterer Fall enthält einen Gegensatz von mindestens zwei Einheiten (A und B); letzterer enthält nur eine Einheit (A). Die Beweisführung mittels Übereinstimmungstest, der mindestens zwei verschiedene Einheiten erfordert, damit die Idee der Übereinstimmung überhaupt erst sinnvoll wird, läßt sich für den Fall A = A (oder den Grundsatz der Identität) nicht anwenden, da er nur eine einzige Einheit enthält. Wenn jemand behauptet, daß «A ist A» auch durch den Übereinstimmungstest bewiesen werden kann, indem man die Übereinstimmung von A mit seiner eigenen Definition aufzeigt, dann geschieht meiner Meinung nach aus zwei Gründen etwas vollkommen Bedeutungsloses. Erstens wird jedesmal, wenn dieser «Überprüfungstest» stattfindet, das Ergebnis ein positives sein; der Test ist daher unnötig und unbrauchbar. Eines der wesentlichen Elemente jeder Beweisführung muß das Vorhandensein eines Zweifels oder einer Unsicherheit sein; im Falle «A ist A» gibt es jedoch keinen Zweifel oder irgendeine Unsicherheit. Und zweitens handelt es sich bei diesem sogenannten «Überprüfungs»Test um ein künstliches Verfahren, das vollkommen bedeutungslos ist - um eine erneute Bestätigung und nicht um eine Beweisführung. Da sich der Grundsatz der Identität nicht innerhalb eines Systems beweisen läßt, das seine eigenen Inhalte als Kriterium der Beweisführung heranzieht, müssen wir uns außerhalb des Grundsatzes der Identität oder darüber hinaus begeben, um den Grundsatz der Identität zu beweisen oder zu widerlegen. Der Grundsatz der Identität bleibt solange unbeweisbar, solange wir uns innerhalb seiner Grenzen bewegen, denn dann wird er uns immer als existentielle «Wirklich-
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keit» erscheinen, die für ihren Bestand keines weiteren Beweises bedarf. Die Tatsache, daß «A ist A» eine Intuition oder existentielle Wirklichkeit darstellt, sollte nun aber nicht die Existenz anderer Formen von Intuitionen ausschließen - wie etwa «A ist nicht A, daher A», die existentielle Wirklichkeit des Prajnaparamita. Diese beiden verschiedenen Intuitionen gehören in Wirklichkeit zu zwei verschiedenen Bereichen, ohne einander gegenseitig zu behindern. Wenn wir darauf bestünden, daß sie einander widersprechen und daß wir die eine wählen und die andere ausschließen müssen, welche würden wir dann wählen? Welche ist als wichtiger oder «wahrer» zu betrachten? Der Mahayana-Buddhismus vertritt ganz eindeutig die Auffassung, daß Shunyata «wahrer» und wichtiger ist. Warum? Weil es weitere und tiefere Dimensionen hat. Wir wissen, daß die Prinzipien der höheren Wahrheit jene der niedrigeren immer umschließen oder übersteigen, aber nicht umgekehrt. Mit Hilfe der Algebra lassen sich schwierige Probleme der Arithmetik leicht lösen; in umgekehrter Richtung gilt das jedoch nicht. Wenn es um höhere Moralprinzipien geht, werden die niedrigeren zurückgestellt, falls es notwendig ist. Das spricht für die Tatsache, daß die Prinzipien der höheren Bereiche immer umfassender und daher auch von größerer Tiefe und wichtiger sind. Der Grundsatz der Identität ist vollkommen wahr im Bereich der weltlichen Wahrheit (samvriti-satya), aber er ist unzureichend und wird zum Irrtum, wenn er im Bereich der höheren Dimensionen angewendet wird. Der Satz von der Erhaltung der Energie oder der Gleichheitssatz sind vollkommen wahr im Bereich der klassischen Physik, aber sie stimmen nicht mehr, wenn sie im Bereich der Elementarteilchen-Physik angewendet werden. In gleicher Weise ist «A ist nicht A, daher A» in der Prajnaparamita ein umfassenderer Standpunkt als «A ist A, weil es als es selbst existiert» aus dem Bereich des verstandesmäßigen Denkens. Die Prajnaparamita sagt: A ist A, nicht weil es als solches existiert, sondern weil es keine Selbstheit besitzt oder Nicht-A ist. Die Prajnaparamita bestätigt die Identität von A geradeso wie der Verstand, wenn es um Dinge auf der weltlichen Ebene geht; zusätzlich betont sie aber auch die nicht-Svabhava-hafte und trügerische Natur von A. Gestützt auf diese Überlegung, glauben 149
die Anhänger des Mahayana, daß die Shunyata-Lehre umfassender ist und einer höheren Dimension angehört. Ein anderer Unterschied zwischen der Absoluten Shunyata und dem logischen Denken verdient in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt zu werden. In der Logik gilt nach dem Grundsatz des ausgeschlossenen Dritten, daß jede Aussage entweder wahr oder falsch ist. Der Grundsatz vom Widerspruch unterstreicht, daß nichts gleichzeitig wahr und falsch sein kann. Zwei Verneinungen ergeben immer eine Bejahung: ~ (~X) = X. Aber Shunyata-Shunyata, die Verneinung der Verneinung des Seins, ergibt nicht eine notwendige Bejahung des Seins. Im System der Prajnaparamita werden zwei Verneinungen nicht automatisch zu einer Bejahung, wie es der Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten vorschreibt. Im gleichen Sinn wird auch der Grundsatz vom Widerpruch (keine Aussage kann gleichzeitig richtig und falsch sein) überholt. Etwas kann in der Tat gleichzeitig richtig und falsch sein, zumindest im Bereich verschiedener Dimensionen. So gilt zum Beispiel der Satz von der Erhaltung der Energie in der klassischen Physik, aber nicht in der Atomphysik. Das diesbezügliche Argument der Logiker lautet, daß, falls alle in einer Aussage verwendeten Begriffe in einem bestimmten Bereich genau definiert und ihre Bedeutungen vollständig erfaßt wären, die Grundsätze von der Identität, vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten wahr sein müßten. Der Satz «USA ist USA» stimmt nicht, wenn im ersten Fall USA 1880, im letzten USA 1968 gemeint ist, aber eine Aussage wie: «USA 1880 ist USA 1880» ist vollkommen wahr und einwandfrei.31 Die Prajnaparamita antwortet, daß USA 1880 - oder jede andere Einheit in der phänomenalen Welt - nicht genau bestimmt werden kann, da sie relativ und ohne eine Selbstheit sind. «A ist A» ist vollkommen sinnlos, wenn es nicht gelingt, A in strengster und universaler Weise zu definieren. Und das ist genau die Situation, in der wir sind: nichts in unserer Welt läßt sich genau und präzise bestimmen. Daher kann sowohl«A ist weiß» (Wa) als auch «A ist nicht weiß» (~ Wa) gleichzeitig richtig und falsch sein (die Aufhebung des Grundsatzes vom ausgeschlossenen Dritten), nicht nur weil A in verschiedenen Bereichen zu verschiedenen Dingen werden und so seinen wahren Wert verändern kann, wie wir bereits früher gese-
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hen haben, sondern weil «A nicht A ist», da es kein Eigensein oder eine Selbst-Identität im strengsten universalen Sinn hat. Es besitzt eine Identität nur im konventionellen und eingeschränkten Sinn. Die Prajnaparamita erhebt keinen Einwand und argumentiert nicht gegen den gewöhnlichen Glauben, daß ein Hund ein Hund oder daß Kalkstein schwerer als Wasser ist, solange diese Aussagen auf den konventionellen und pragmatischen Bereich beschränkt bleiben. Nur wenn wir diese konventionelle Aussage auf den universalen Bereich der absoluten Wahrheit ausdehnen, beginnt die Prajnaparamita zu widersprechen. «A ist A» ist vollkommen real im Bereich der konventionellen Wahrheit (samvriti-satya), aber unreal vom Standpunkt der ganzheitlichen Letzten Höchsten Wahrheit (paramartha-satya) aus. Die paradoxen Aussagen in der Prajnaparamita-Literatur können daher leicht erklärt werden, indem man die unterschiedlichen Wahrheitswerte den verschiedenen Dimensionen im Zwei-WahrheitenSystem der Lehre vom Mittleren Weg (madhyamaka) zuordnet, was in der Folge näher erläutert werden soll.
Das System der Zwei Wahrheiten Nagarjuna sagt in seiner Madhyamaka-Karika:32 Aufgrund [des Systems] der Zwei Wahrheiten haben die Buddhas den Menschen den Dharma gepredigt. Weltliche Wahrheit ist die eine, und die Höchste Wahrheit die andere. Wer diese beiden Wahrheiten nicht kennt, kann niemals die tiefe Bedeutung der Lehren des Buddha verstehen.
Alle Religionen stehen dem gleichen Problem gegenüber: Wie kann man den Menschen in Beziehung setzen zu Gott und wie das Endliche mit dem Unendlichen in Einklang bringen? Die ewige Spannung zwischen dem Weltlichen und dem Transzendenten ist auch in den buddhistischen Lehren leicht zu entdecken. Dieses Problem zu lösen, sind viele Theorien entwickelt worden; das System der Zwei Wahr151
heiten ist ein typisches Beispiel. Um der Menschen und ihrer Konventionen willen werden Existenz und Wirksamkeit aller Dinge und Geschehnisse in der phänomenalen Welt bejaht. Das ist die weltliche oder konventionelle Wahrheit (samvriti-satya). Die trügerische und leere Natur aller Wesen und die Realität der absoluten Transzendenz zu erfassen, dient die Wahrheit einer höheren Ebene (paramarthasatya). Mit diesem System der Zwei Wahrheiten können die Probleme von Sein und Nicht-Sein, Menschen und Buddha, Endlichem und Unendlichem leicht gelöst werden. Wenn der Buddha sagt, daß Menschen und Götter existieren, daß Karma und Samsara existieren, daß die Vier Edlen Wahrheiten und die Drei Körper (trikaya) des Buddha existieren, daß ein Fluß ein Fluß ist und ein Baum ein Baum, dann spricht er vom Standpunkt des Samvriti-Satya. Wenn er sagt, daß Himmel und Erde nicht existieren, daß Samsara und Nirvana nicht existieren, daß Buddhaschaft und Erleuchtung nicht existieren, spricht er vom Standpunkt des ParamarthaSatya. Die paradoxe Behauptung des Diamant-Sutra - «Des Menschen Geist [G] ist nicht des Menschen Geist G], daher wird er des Menschen Geist genannt [G = ~ G . • . G]» - läßt sich jetzt leicht erklären. Das erste G ist die Bejahung des menschlichen Geistes im Sinne der weltlichen Wahrheit; seine Verneinung, ~ G, ist die Verneinung des menschlichen Geistes auf der Ebene der Höchsten Wahrheit. Das dritte G repräsentiert Maya, das Wesen des menschlichen Geistes, in dem das Verschmolzensein oder die Identität des Weltlichen und des Transzendenten zum Ausdruck kommt. Hier wird der wesentliche Punkt sichtbar, daß die Zwei Wahrheiten niemals als zwei voneinander getrennte Entitäten in zwei gesonderten und getrennten Kategorien behandelt werden sollten. Vom Standpunkt der «runden Lehre» des Hua-yen-Buddhismus sind sie vollkommen identisch und nicht-dual. Jede Spur einer Zweiheit wäre ein Zeichen für Festhalten am Svabhava. Das Konzept der Zwei Wahrheiten ist selbst nur gültig, wenn wir, fest auf dieser Seite stehend, versuchen, die andere Seite und ihr paradoxes Verhältnis zu dieser Seite zu beschreiben. Es ist nur ein Mittel, um die irreführende Spannung zwischen dem Weltlichen und dem Transzendenten für Menschen zu erklären, die tief in die eine Seite verstrickt sind. Der Zweck des Systems der Zwei Wahrheiten ist, über dieses Sy152
stem hinauszugelangen, um das nicht-unterschiedene Wesen der Zwei Wahrheiten zu sehen. Wenn alle Relativitäten überstiegen sind, verschwinden alle Paare und Dualismen. Ein wunderbarer Zustand großer Freiheit (ta-tse tsai) wird offenbar, in dem alle Polaritäten in ein riesiges Ganzes verschmelzen. In diesem Zustand der nicht-dualen Totalität wird die Bedeutung von «Leere ist Form, Form ist Leere» aus dem Herz-Sutra vollkommen verwirklicht. Dieser nicht-unterscheidende Aspekt des Weltlichen und des Transzendenten sollte vielleicht zum Zweck des besseren Verständnisses einen eigenen Namen bekommen - etwa Nicht-duale Shunyata zum Unterschied vom Absoluter Shunyata.33 Wir wollen aber zur Diskussion des Systems der Zwei Wahrheiten zurückkehren. Dieses System versucht nicht nur, das Problem von Sein und Nicht-Sein zu lösen, indem es ein jedes dem Bereich zuordnet, zu dem es rechtmäßig gehört, wodurch die scheinbare Unlogik der paradoxen Aussagen aufgelöst wird, sondern es fungiert auch als Hinweis auf das transzendente Absolute. Dies wird von Chi-tsang in seiner Lehre von den Zwei Wahrheiten auf den Drei Ebenen veranschaulicht.34
Die Zwei Wahrheiten auf Drei Ebenen Auf der ersten Ebene bejaht die weltliche Wahrheit die Realität aller Dinge in der phänomenalen Welt. Ein kleines Problem besteht hier jedoch, wenn man die Frage aufwirft, ob die Sonne wirklich nicht mehr als eine unermüdlich durch den Himmel ziehende Scheibe ist oder ob die Erde flach ist, da sie so wahrgenommen wird. Gebildete Leute würden diese naiven Ansichten sofort zurückweisen, trotz der Tatsache, daß sie empirisch wahr ist. So haben also sogar in unserer empirischen Welt die Wahrheiten viele verschiedene Ebenen. Wahrheiten der niederen Ebenen werden ohne Zögern verworfen, wenn die höheren hinzutreten. Das führt dazu, daß die Höchste Wahrheit der ersten Ebene die Existenz alles gemäß der weltlichen Wahrheit Seienden verneint. Die zweite Ebene behauptet, daß der Glaube an Sein wie an NichtSein weltliche Wahrheit ist, während die Verneinung beider der 153
Höchsten Wahrheit entspricht. Das heißt, daß beide, die weltliche wie die Höchste Wahrheit der ersten Ebene, von einem höheren Standpunkt aus betrachtet, nur dem Bereich der weltlichen Wahrheit der zweiten Ebene zugerechnet werden können.
Weltliche Wahrheit 1. Bejahung des Seins:
Höchste Wahrheit 1. Verneinung des Seins:
2. Bejahung des Seins wie des Nicht-Seins:
2. Verneinung des Seins wie des Nicht-Seins:
3. Bejahung des Seins wie des Nicht-Seins und Verneinung des Seins wie des Nicht-Seins:
3. Weder Bejahung noch Verneinung des Seins wie des NichtSeins:
Tabelle 2:
Vereinfachte Darstellung von Chi-tsangs Zwei Wahrheiten auf Drei Ebenen
Denn die Bejahung von Sein oder Nicht-Sein ist immer noch eine Form des Sich-Klammerns an «Extreme». Die Shunyata des Mittleren Weges geht über alle Extreme hinaus: Samsara und Nirvana, Endlichkeit und Unendlichkeit, Reinheit und Unreinheit, Existenz und Nicht-Existenz - sie alle können als Extreme betrachtet werden, insofern als sie alle durch Svabhava-Denken entstanden sind. Die Höchste Wahrheit liegt über ihnen, und diese Transzendenz wird hier auf der zweiten Ebene durch die Verneinung sowohl des Seins wie des NichtSeins ausgedrückt. In gleichem Sinn werden die weltliche und die Höchste Wahrheit der zweiten Ebene gemeinsam zur weltlichen Wahrheit der dritten Ebene, und die Verneinung beider zusammen ist die Höchste Wahrheit. Durch diese dialektischen Überlegungen werden wir Schritt für Schritt immer näher an die absolute Transzendenz 154
herangeführt. Der weiteren Verdeutlichung dient Tabelle 3, eine Darstellung in Symbolen, die als Ergänzung zu obenstehender Tabelle der Zwei Wahrheiten auf den Drei Ebenen gedacht ist.
Weltliche Wahrheit
Tabelle 3:
Höchste Wahrheit
Dialektisches Fortschreiten zur absoluten Transzendenz
Die Pfeile deuten den dialektischen Prozeß an, in dessen Verlauf durch fortschreitendes Aufgeben des Seins, Nicht-Seins und aller Dualitäten die absolute Transzendenz erreicht wird. Dieser Verlauf verdeutlicht die Tatsache, daß die Absolute Leere im wesentlichen ein Nicht-Verweilen ist. Zwei Hauptargumente sind als Kritik dieses dialektischen Prozesses vorgebracht worden. Erstens: Warum sollte dieser dialektische Prozeß auf drei Ebenen beschränkt sein. Genauso gut könnte man diese dialektische Progression auf eine vierte, fünfte - auf unendlich viele Ebenen ausdehnen. Chi-tsang scheint keine ausreichende Begründung dafür gegeben zu haben, warum sich diese Dialektik auf nur drei Ebenen beschränkt. Eine weitere Kritik war von dem Ehrwürdigen Yin-shun vorgebracht worden, einem berühmten Madhyamaka-Gelehrten des zeitgenössischen China, der darauf verwies, daß, trotz der komplizierten Sprache und der verschachtelten Sätze der zweiten und dritten Ebene - wie «Weder Bejahung des Seins oder des Nicht-Seins noch Verneinung des Seins oder des NichtSeins» und so weiter -, die Grundidee immer noch die Vorstellung von Sein oder Nicht-Sein und der bejahende oder verneinende Standpunkt ist. Wenn wir die Tabelle genauer betrachten, werden wir die folgen155
den Tatsachen entdecken: Alle weltlichen Wahrheiten der drei Ebenen sind positive Aussagen oder Feststellungen, und alle Höchsten Wahrheiten sind negative Aussagen oder Negationen - gleichgültig ob sie in einfacher oder komplizierter Form ausgedrückt werden. Ein Blick auf die Tabelle läßt sofort erkennen, daß die rechte Spalte auf allen drei Ebenen das Zeichen der Negation trägt, während in der linken Spalte alles positiv gekennzeichnet erscheint. Die Wahrheit ist, daß die einfachen Wörter «Sein» (yu) und «Nicht-Sein» (wu) eine weit größere Tiefe und Bedeutung haben als die Verbindung von Sein und NichtSein, die in den zusammengesetzten Sätzen zum Ausdruck kommt.35
Die Nicht-Verweilende Natur von Shunyata Trotz all dieser Einwände erfüllt Chi-tsangs System der Zwei Wahrheiten auf Drei Ebenen eine wichtige Funktion: Es weist auf die nichtverweilende Natur von Shunyata hin. In den verschiedenen buddhistischen Traditionen wird die nicht-verweilende Natur von Shunyata auf unterschiedliche Weise veranschaulicht. Chi-tsang ging den Weg des Gelehrten, das heißt den Weg der Dialektik und der philosophischen Beweisführung. Im Gegensatz dazu steht die direkte Methode des ZenBuddhismus. Ein Mann bat einen Zen-Meister, ihm die «Erste Wahrheit» - das heißt hier die «Höchste Wahrheit» - zu erklären. Der ZenMeister schwieg eine Weile und sagte dann: «Wenn ich dir die Erste Wahrheit sagte, würde sie zur Zweiten Wahrheit!» Das zeigt die tiefe Weisheit und Genialität, mit der die Zen-Meister die nicht-verweilende Natur der Letzten Wahrheit zum Ausdruck brachten. Der Mönch Shao, ein hervorragender Schüler des Kumarajiva beschrieb das nicht-verweilende Wesen des Tao36 in folgender Weise: Alle Dinge haben ihre Gefährten. Nur das Tao steht allein. Es gibt nichts, das außerhalb des Tao wäre; in ihm besteht keinerlei Dualität. Ohne Außen oder Innen enthält es
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das Ur-Eine und umschließt die acht Bereiche und die zehntausend Dinge. ... Es ist nicht eins noch vieles, nicht dunkel noch hell, nicht entstehend noch vergehend, nicht leer noch existent, nicht oben noch unten, nicht Formwerdung noch Auflösung, nicht Bewegung noch Ruhe, nicht Gehen noch Kommen, nicht tief noch seicht, nicht weise noch unwissend, nicht gegensätzlich noch harmonisch, ... nicht neu noch alt, nicht gut noch schlecht, ... nicht allein noch ein Paar. ... Aber warum ist das so? Weil, wenn du sagst, es habe eine Innenseite: Es umschließt das gesamte Universum. Wenn du sagst, es habe eine Außenseite: Es beherbergt und stützt alle Dinge. Wenn du sagst, es sei klein: Es bedeckt Nähe und Ferne. Wenn du sagst, es sei groß: Es ist im Atom. Nenn es eins: Es birgt alle Eigenschaften. Nenn es viele: Sein Leib ist die Leere. Nenn es licht: Es ist verborgen und dunkel. Nenn es dunkel: Es ist strahlend hell. Sag, es entsteht: Es hat weder Körper noch Form. Sag, es wird verlöschen: Es leuchtet in aller Ewigkeit. Nenn es leer: Es hat tausende von Funktionen. Sag, es existiert: Es ist stumm und ohne Gestalt. ... Nenn es steil: Es ist eben ohne Form. Nenn es niedrig: Nichts gleicht ihm an Erhabenheit. Sag, es läßt entstehen: Es macht alle Sterne zunichte. Sag, es zerstört: Die Dinge bestehen seit urdenklichen Zeiten. Sag, es bewegt sich: Es verharrt in unbewegter Ruhe. Sag, es steht still: Es ist mit allen Dingen in Bewegung.
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Sag, es kehrt wieder: Es geht, ohne Abschied zu nehmen. Sag, es ist gegangen: Wenn die Zeit kommt, kehrt es wieder. Nenn es tief: Es mischt sich unter alle Wesen. Nenn es seicht: Die Tiefe seiner Wurzel entzieht sich unserem Blick. Nenn es arm: Es besitzt tausend Schätze und Verdienste. Nenn es reich: Im unermeßlichen Letzten ist nichts, das existierte. ... Sag, es ist allein: Es begleitet die Myriaden von Dingen, Sag, es ist ein Paar: Es ist leer und allein. ... Daher kann das Tao nicht durch einen Namen ausgedrückt und die Wahrheit nicht durch eine Doktrin veranschaulicht werden. Dies sei nur in aller Kürze gesagt, denn wie wäre es möglich, die Tiefen des Tao auszuloten?
Weitere Diskussion der Wahren Leere Dank der obigen Hinweise auf die verschiedenen Aspekte der Shunyata-Lehre können wir jetzt auf die Wahre Leere zurückkommen, die im zweiten Absatz des Herz-Sutra gemeint ist: «O Shariputra, Form ist nicht verschieden von Leere, und Leere ist nicht verschieden von Form. Form ist Leere, Leere ist Form.» Wie ist dieser Satz zu verstehen, daß Form Leere und Leere Form ist? Heißt das, daß Form und Leere nur teilweise identisch sind? Wenn dem so wäre, dann würde es einen Teil der Form geben, der sich von der Leere unterscheidet und umgekehrt. Wenn dies der Fall wäre, dann würde die sogenannte Wahre Leere nichts als eine teilweise oder nominelle Leere sein. Offensichtlich will aber der Text nicht besagen, daß Form und Leere nur teilweise identisch sind, denn es wird im vorhergehenden Satz ganz eindeutig festgestellt, daß Form sich nicht von Leere und Leere sich nicht von Form unterscheidet. Die Prajnaparamita läßt nicht zu, daß irgendein Seiendes - oder auch nur ein Teil davon - von Shunyata ausgeschlossen wäre. Teilweise Leere ist also ganz sicher nicht der gesuchte Sinn. Wenn aber Form vollkommen identisch mit Leere ist und umgekehrt, dann würde das zu den seltsamsten Ergebnissen führen, wie etwa, daß ein 158
Bleistift ein Huhn ist oder eine Schreibmaschine ein Augapfel und daß, wenn Frau Harrison aus Unionville im Staate New York Whiskey trinkt, John Clifford aus Lafayette im Staate Indiana betrunken wird, ohne einen Tropfen Alkohol angerührt zu haben. Warum sollte das so sein? Hier bedarf es näherer Erklärungen. Das Folgende wird sofort als unlogisch erkannt werden: A ist Chinese, B ist Chinese; daraus folgt: A ist B. Der Fehler bei dieser Argumentation liegt darin, daß, obwohl A und B dieselbe chinesische Nationalität besitzen, sie ansonsten nichts gemeinsam haben. Mit anderen Worten, sie sind teilweise identisch, aber nicht vollkommen identisch. Das läßt sich auch mit Hilfe des folgenden Diagramms zeigen, in dem wohl A und B ein Stück X (die chinesische Nationalität) gemeinsam haben, sonst aber getrennt und unabhängig bleiben.
Dieses Diagramm zeigt, daß A und B nur teilweise identisch sind und nicht vollständig oder vollkommen identisch, wie dies im nächsten Diagramm der Fall ist.
Wenn nun «A ist Leere und B ist Leere» bedeutet, daß A oder B vollkommen identisch mit Leere ist und es keinerlei Unterschiede zwischen ihnen gibt, dann würde die natürliche Schlußfolgerung sein: A ist B und B ist A. Alles ist mit allem anderen identisch - alles in einem und eines in allem; alles ist eines und eines ist alles. Das ist genau das, was die Mystiker über ihre Schau der Wirklichkeit ausgesagt haben. Der Zen-Meister Fu Ta-shih sagte: «Eine Kuh hat Gras in 159
Chin-chou gefressen, aber das Pferd in I-chou wurde satt.» Klingt das nicht völlig phantastisch, wenn nicht überhaupt vollkommen absurd? Hier rühren wir tatsächlich an das Kernproblem des Prajnaparamita. Trotz aller Schwierigkeiten ist es durchaus möglich zu verstehen, warum Formen Leere sind. Es läßt sich erklären und kann bis zu einem gewissen Grad verstanden werden. Aber beim Versuch, den Satz «Leere ist Form» zu erklären oder zu verstehen, geraten wir sofort in dichten Nebel. Der Ausgangspunkt - Leere - ist selbst nicht faßbar. Es ist bekannt, daß nur wenige buddhistische Lehrer nicht in Schwierigkeiten geraten sind bei dem Versuch, ihren Zuhörern «Leere ist Form» zu erklären. Der einfache Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, zu sagen, daß, wenn Form Leere ist, auch Leere Form sein muß. Damit könnten wir uns zufrieden geben. Wenn uns dieses Argument nicht genügt und wir eine positivere Erklärung von «Leere ist Form» verlangen, werden wir uns so phantastischen Behauptungen gegenübersehen wie: Ein Bleistift ist ein Mann; ich trinke Bier, aber du wirst betrunken; wenn ein Mensch auf einer Brücke geht, dann fließt die Brücke und nicht das Wasser - und dergleichen mehr. Tatsächlich besteht die ganze Aufgabe der Hua-yen-Lehre darin, die Bedeutung von «Leere ist Form» auf positive Weise zu erklären. Der Hua-yen-Bereich der Totalität, der im ersten Kapitel besprochen wurde, ist nichts anderes als eine existentielle Beschreibung des Prinzips des Identisch-Seins von Form und Leere. Die zahllosen phantastischen Aussagen des Hua-yen - wie etwa «Wirf die Vergangenheit in die Zukunft, bring die Zukunft in die Vergangenheit; bring das ganze Universum in einem Atom unter» und so weiter - sind nur natürliche Schlußfolgerungen aus der Grunddoktrin: «Form ist Leere, Leere ist Form». Wir sehen uns dabei mindestens drei Arten von Problemen gegenüber: dem logischen, dem empirischen und dem spirituellen. Erstens: Wie lautet die logische Rechtfertigung dieser widersprüchlichen Aussagen, falls es eine gibt? Zweitens: Wie ist es möglich, diese behaupteten phantastischen Erfahrungen zu machen? Wie sind sie zu rechtfertigen? Drittens: Die oben erwähnten Folgerungen scheinen die Ordnung der Welt zu verletzen; wie können die Prinzipien der Totalität eine Ordnung begründen, insbesondere die spirituelle Ordnung, die das Hauptanliegen des Buddhismus ist? Gewisse Aspekte dieser Fra-
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gen sind bereits beantwortet worden, und einige andere werden uns im nächsten Abschnitt beschäftigen, wenn wir die Hua-yen-Philosophie der Totalität behandeln werden.
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Der tiefe Sinn der Shunyata
Im letzten Teil des Herz-Sutra heißt es: «Da es nichts zu erlangen gibt, ist der Geist des Bodhisattva, der in der Prajnaparamita verweilt, ohne Behinderung; da er ohne Behinderung ist, ist er ohne Furcht. Über jeglichen Irrtum und alle Täuschung hinausgehend, erreicht er schließlich das endgültige Nirvana.» Damit soll gesagt werden: Wenn ein Mahayana-Praktizierender, ein Bodhisattva, im Begreifen der Absoluten Leere verweilen kann, dann werden alle Behinderungen in seinem Geist wie etwa Gier, Haß, Leidenschaften und vor allem das angeborene Sich-Anklammern an die Selbstheit in nichts zerfallen. Mit der Verwirklichung der Leere zerstört er die Wurzel des Ich; mit der Beseitigung des Ich vernichtet er gleichzeitig alle Ängste und Verwirrungen und erreicht die Befreiung im Nirvana. Wir erkennen hier, daß Shunyata niemals nur als eine philosophische Idee behandelt werden darf, denn sie hat eine gewaltige religiöse Tragweite und Bedeutung. Da es im Buddhismus keinen allmächtigen Gott gibt, wird die Erlösung (im Buddhismus richtiger: die Befreiung) nur dank der eigenen Bemühungen um die Verwirklichung der Leere erreicht. Shunyata ist daher nicht nur eine ontologische Realität, sondern in einem bestimmten Sinn auch ein «soteriologisches» (der «Erlösung», der Befreiung dienendes) Instrument. Darum wird die Prajnaparamita auch «die Mutter aller Buddhas» genannt, versinnbildlicht im tantrischen Buddhismus in der Gestalt der Mutter Tara.
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Jenseits des Denkens und aller Worte: Die Vollkommenheit der Weisheit Entsteht nicht und endet nicht, darin dem leeren Raum gleich. Nur wer die unmittelbare Einsicht kennt, der vermag sie zu erblicken. Der Mutter aller Buddhas in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erweise ich tiefste Verehrung. Die andere entscheidende Wirkung der Shunyata ist die restlose Verneinung von Svabhava und des vom Svabhava bestimmten Denkens. Das wird zu einer entscheidenden Hilfe nicht nur für die philosophischen Überlegungen, sondern auch für das geistige Wachstum des Menschen. Ein von Shunyata durchdrungener Geist ist zugleich erfüllt von grenzenloser Weite, lebendiger Antriebskraft und tiefem Erbarmen, weil die Verfinsterungen durch das Ich und die Selbstheit beseitigt worden sind und das Licht der Dharmadhatu in dem alles umschließenden Buddha-Geist unbehindert aufzuleuchten vermag. Die Shunyata-Doktrin der Prajnaparamita wird vom Mahayana als die wichtigste Lehre des Buddhismus gespriesen. Ein Bodhisattva ohne Prajnaparamita gleicht einem Fisch ohne Wasser. Er mag, um die unermeßlichen Gelübde und Werke eines Bodhisattva zu erfüllen, alle geistigen Anstrengungen unternehmen - wohltätig sein, Geduld üben, die Regeln erfüllen, meditieren und so weiter -, aber all diese guten Tätigkeiten, so verdienstvoll sie sein mögen, können ihn nicht zur Befreiung noch auf die transzendente Ebene der Unendlichkeit bringen. Ohne Shunyata bleibt sein Gut-Sein auf die engen Grenzen der Endlichkeit beschränkt. Die sechs grundlegenden geistigen Übungen eines Bodhisattva oder die Sechs Paramita - die Vollkommenheit der Gebefreudigkeit, die Vollkommenheit der Sittlichkeit, der Geduld, der Schaffenskraft, der Meditation und der intuitiven Weisheit - alle hängen von der Shunyata-Praxis ab. Ohne Shunyata oder PrajnaSicht mag man Almosen geben oder die disziplinären Regeln einhalten, aber das kann nicht als die Vollkommenheit der Gebefreudigkeit oder die Vollkommenheit der Sittlichkeit angesehen werden. Die Mahayana-Doktrin des Sutra der Sechs Paramita37 sagt: 163
O Maitreya, das ist nur das reine Einhalten der Gesetze, und das kann nicht als Paramita betrachtet werden, weil der Übende die Regeln nur nach ihrer Erscheinungsform erfüllt. Er kann nicht die höchste Unendlichkeit erreichen. Warum nicht? Weil einer, der die Gesetze der Zucht nur rein äußerlich erfüllt, auch nur die weltlichen Früchte im Samsara empfangen kann. Mit der Zeit werden sie alle sich erschöpft haben. Aber wenn man die Regeln nicht nur nach außen, sondern um aller Lebewesen willen erfüllt und damit die Leere als Urprinzip zugrundeliegt, ohne daß die Erscheinungsform von
Der tiefe Sinn von Shunyata wird auch aus einer anderen Perspektive deutlich, nämlich aus der des vom Buddhismus erstrebten Zieles. Das Endziel jeder Religion ist die Vereinigung der Gegensätze: Das Sterbliche wird unsterblich; das Geschaffene vereinigt sich mit dem Schöpfer; das Endliche und Vergängliche wird eins mit dem Unendlichen und Immerwährenden; der Irregegangene kehrt schließlich in seine himmlische Heimat zurück. In den geschichtlich orientierten Religionen wird diese Einswerdung hauptsächlich dank der Gnade Gottes erreicht, aber da diese im Buddhismus als unglaubwürdig oder sekundär angesehen wird, ist eine Alternative nötig. Das ist die wichtige Rolle, die Shunyata spielt. Aufgrund von Shunyata wird die Verschmelzung oder Aufhebung aller Dualitäten möglich. Das haben wir schon bei der Behandlung des Nicht-Zwei-Lehrprinzips (oder des Dharma-Tores der Nicht-Zweiheit) im Vimalakirti-Sutra gesehen. Ohne Shunyata wäre die Einswerdung von Samsara und Nirvana, das Verschmelzen des Endlichen mit der Unendlichkeit sowie die gegenseitige Durchdringung und das wechselseitige Enthaltensein aller Dinge auf allen Ebenen nicht möglich. Es gibt keine andere Möglichkeit, in den Bereich der Unendlichkeit einzutreten, außer durch das Tor der Leere. In der umfangreichen Prajnaparamita-Literatur wird immer wieder betont, daß ohne die Verwirklichung der Leere das grenzenlose Erbarmen und die altruistischen Taten eines Bodhisattva nicht möglich sind. Die einzigartige Eigenschaft eines zu voller Reife gelangten Bodhisattva liegt darin, daß bei ihm die Schau der Leere und die Spontaneität des Erbarmens vollkommen eins sind. Der Weg zur Buddhaschaft besteht darin, daß alle guten Taten mit einem 164
von wahrer Leere erfüllten Geist, frei von jeder Art des Anhaftens, getan werden. Zum Abschluß soll noch ein weiterer Punkt unterstrichen werden. Der verwirrendste und der zugleich dem Verständnis am heftigsten Widerstand leistende Zug der Prajnaparamita ist deren paradoxer oder «illogischer» Aspekt. Um dieses Problem zu lösen oder wenigstens zu vereinfachen, müssen wir uns stets vor Augen halten, daß der Shunyata-Begriff nicht Shunyata selbst ist. Der Shunyata-Begriff ist eine Abstraktion, projiziert und geschaffen vom Geist des Menschen, während Shunyata selbst eine unmittelbare Erfahrung ist, die der Mensch in der Erleuchtung macht. Das heißt, daß die nur gedachte Shunyata gänzlich verschieden von der existenziellen Shunyata ist. Wir können einen Shunyata-Begriff schaffen und konstruieren, aber wir können Shunyata selbst niemals durch Begriffe erfahren und Verstandesmanipulationen begreifen. Natürlich kann der Begriff shunya (leer) im Gegensatz zum Begriff bhava (sein) gesetzt werden, aber Shunyata selbst ist dem Seienden nicht entgegengesetzt. Wenn Shunyata ein Etwas wäre, dann könnte sie im Gegensatz zu etwas anderem stehen, aber da Shunyata keineswegs ein Etwas ist, wie könnte sie zu etwas im Gegensatz oder Widerspruch stehen? «Form ist Leere, Leere ist Form» - das ist eine Beschreibung einer existentiellen Wirklichkeit, kein Theoretisieren über einen abstrakten philosophischen Begriff. Wenn der Bodhisattva Avalokiteshvara sagt: «Form ist Leere», hat er nicht die Absicht, seiner Zuhörerschaft eine Denkvorstellung oder einen Begriff zu vermitteln; er versucht lediglich, eine schwer zu beschreibende unmittelbare Erfahrung mitzuteilen. Die das Ich verneinende und «fließende» Natur von Shunyata ist schon nach ihrem innersten Wesen gegen jede begriffliche Formulierung, die rein Svabhava-gebunden wäre. Da alle Begriffe von Natur aus Svabhava-gebunden sind, bleibt jeder Shunyata-Begriff hinter dem, was er ausdrücken will, weit zurück, weshalb jeder Versuch, einen ShunyataBegriff zu bilden, seinen Zweck verfehlt. Aus diesen Grund müssen die erleuchteten Weisen schließlich in Schweigen versinken. Die nächste Frage ist: Wie können wir verhindern, daß Shunyata als ein Begriff oder ein «Etwas» betrachtet wird? Die Antwort ist, daß
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diese Schwierigkeit unvermeidbar ist und nur durch unmittelbare Verwirklichung überwunden werden kann. Zu bedenken bleibt, daß, obwohl Shunyata selbst nichts Begriffliches ist, eine gedankliche ShunyataVorstellung dennoch als Hinweis auf ein Ziel zu dienen vermag, das sonst unerreichbar bliebe. Aber der Zeigestab wird über flüssig, wenn das Ziel erkannt wurde. Wenn man das andere Ufer erreicht hat, wird das Fährboot zurückgelassen.
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II. Die Philosophie der Totalität Gegenseitige Durchdringung und wechselseitige Identität die beiden Grundprinzipien der Hua-yen-Philosophie
Mit der vorausgegangenen Erklärung der Philosophie der Leere als Stütze können wir nun zur Diskussion der Philosophie der Totalität schreiten, wie sie von den vier Hua-yen-Meistern Tu-shun, Chihyen, Fa-tsang und Ch'eng-kuan dargelegt wurde. Das Wesentliche der Hua-yen-Philosophie kann in zwei Formulierungen zusammen-gefaßt werden: gegenseitige Durchdringung (oder gegenseitiges Ineinander-Eingehen) und wechselseitige Identität. Wechselseitige Identität ist fast ein Äquivalent zu dem Diktum des Herz-Sutra, daß Form Leere ist und Leere Form, während die gegenseitige Durchdringung dem Prinzip des abhängigen Entstehens der Shunyata-Lehre entspricht, die feststellt, daß kein Ding ob konkret oder abstrakt, irdisch oder transzendent - eine unabhängige oder isolierte Existenz hat, sondern daß alle Dinge in ihrer Existenz und ihren Funktionen von einander abhängen. Immerhin scheint das Huayen-Prinzip der gegenseitigen Durchdringung einen Schritt weiter zu gehen; es macht die Vorstellung des abhängigen Entstehens deutlicher durch die drei anschaulichen Ausdrücke: gleichzeitiges MiteinanderEntstehen, gleichzeitiges Ineinander-Eingehen und gleichzeitiges Ineinander-Enthaltensein, wie sie in dem folgenden Diagramm gezeigt werden: gegenseitige gleichzeitiges Miteinander-Entstehen Durchdringung = gleichzeitiges Ineinander-Eingehen gleichzeitiges Ineinander-Enthaltensein.
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Um diese drei Vorstellungen zu erklären, wollen wir auf unser Beispiel vom Glas Wasser zurückkommen, das man als eine Flüssigkeit zum Löschen des Durstes, als die chemische Verbindung H2O, als Aggregat von Molekülen, als vergängliche Partikeln im subatomaren Bereich, als eine Erscheinung der Kausalität betrachten kann oder als den Ausdruck des Zwei in Einem von Form und Leere der ShunyataDoktrin. Während wir auf das Glas Wasser schauen, sehen wir, daß all diese unterschiedlichen «Entitäten» verschiedener Bereiche gleichzeitig vorhanden sind. Die Flüssigkeit, das H2O, die Aggregate von Molekülen, die vergänglichen Partikeln und so weiter. Alle sind gleichzeitig in einer harmonischen Weise vorhanden, ohne einander zu behindern. Sie entstehen nicht getrennt oder unzusammenhängend; sie entstehen gemeinsam zur gleichen Zeit. Das ist das sogenannte Prinzip des gleichzeitigen Miteinander-Entstehens. Da die Menschen dazu neigen, die Dinge von einem bestimmten Einzelgesichtspunkt aus zu sehen und damit parteiisch und willkürlich Einzelzüge herauszuheben, laufen sie Gefahr, die Ganzheit der Wirklichkeit zu vergessen. Die Betrachtung dieses Prinzips kann daher einerseits der Einseitigkeit und der Eingeschränktheit des Standpunkts entgegenwirken und andererseits den Blick der Menschen für die Totalität der Wirklichkeit schärfen. Die unterschiedlichen «Entitäten» der verschiedenen Bereiche entstehen nicht nur gleichzeitig miteinander, sondern sie durchdringen und enthalten einander ohne irgendeine Behinderung. Das H2O, die Moleküle und die Partikeln sind nicht in verschiedenen Gläsern, sondern gleichzeitig, gehen ineinander ein und enthalten einander in harmonischer Weise in demselben Wasserglas. Wir können das mit den Lichtstrahlen vieler Lampen vergleichen, deren Licht sich überschneidet und ohne Behinderung durchdringt. Die «totalistische» Wirklichkeit wird damit im Bild der gleichzeitigen gegenseitigen Durchdringung der Dinge in verschiedenen Bereichen der phänomenalen Welt veranschaulicht. Hier geht es um keine transzendente Wirklichkeit. Bis zu diesem Punkt entspricht die Hua-yen-Philosophie fast genau der OrganismusPhilosophie von Alfred North Whitehead. Hua-yen betont ebenso wie Whitehead die Aspekte der wechselseitigen Durchdringung und des gegensei-
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tigen Enthaltenseins der Existenz, um eine organische und totalistische Wirklichkeitssicht zu erschließen. Parallel zu dem Wasserglas-Beispiel unterscheidet Whitehead sechs in der Natur vorkommende Typen von Phänomenen. Der erste Typus ist die menschliche Existenz einschließlich Leib und Geist; der zweite umschließt alle Arten tierischen Lebens, die Insekten, die Wirbeltiere und andere Gattungen, alle Verschiedenheiten animalischen Lebens außer dem menschlichen; der dritte Typus umfaßt alles pflanzliche Leben; der vierte besteht aus den einzelnen lebendigen Zellen; der fünfte aus allen unorganischen Aggregaten großen Maßstabs; der sechste Typus setzt sich zusammen aus den Vorgängen unendlich kleinen Maßstabs, wie sie die genaue Analyse der modernen Physik1 enthüllt. Alle diese Funktionsebenen der Natur beeinflussen einander, brauchen einander, führen zueinander hin; jeder Wandel oder jede Veränderung irgendeines Typs der Existenz wirkt auf die andern Typen ein. Whitehead erklärt:
Die Liste ist bewußt sehr allgemein gehalten, ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch. Haarscharfe wissenschaftliche Klassifikationen sind für die Methode der Wissenschaft wesentlich, aber sie sind gefährlich für die Philosophie, weil eine solche Klassifikation die Wahrheit verdeckt, daß die verschiedenen Formen von Existenz in der Natur allmählich ineinander übergehen.2
Mit anderen Worten: Was die Wissenschaft zu tun versucht, ist, das Untrennbare, das organische Ganze, nach eigner Wahl für einen besonderen und begrenzten Zweck künstlich zu trennen. Für die Philosophie ist diese Methode nicht bloß gefährlich, sondern zu Zeiten irreführend, denn sie betont einen einzelnen Aspekt auf Kosten eines anderen, der verborgen bleibt. Die organische Totalität wird dadurch verhüllt. Whitehead fährt fort:
Es gibt das animalische Leben mit seiner zentralen Ausrichtung einer Sozietät von Zellen. Es gibt das pflanzliche Leben mit seiner organisierten Republik von Zellen. Es gibt das Zellenleben mit seiner organisierten Republik von Molekülen. Es gibt eine großräumige, unorganische Sozietät von Molekülen mit ihrer passiven Hinnahme von Notwendigkeiten, die sich aus räumlichen
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Verhältnissen herleiten; es gibt die infra-molekulare Aktivität, die jede Spur der Passivität von unorganischer Natur großen Maßstabs verloren hat.
Diese verschiedenen Gattungen (oder Bereiche) sind voneinander abhängig, stützen einander; sie können nicht getrennt verstanden werden - sie sind ein organisches Ganzes. Daher gibt es einen dualen Aspekt für das Verhältnis zwischen einem Anlaß zu Erfahrungen als dem einen Relatum und der erfahrenen Welt als dem andern Relatum. Die Welt ist einerseits eingeschlossen im Anlaß, und der Anlaß ist andererseits eingeschlossen in der Welt. Zum Beispiel bin ich in einem Zimmer, und das Zimmer ist eine Einzelheit in meiner gegenwärtigen Erfahrung, aber meine gegenwärtige Erfahrung ist, was ich jetzt bin.3
Was Whitehead zu sagen versuchte, ist genau das, was Hua-yen das gleichzeitige gegenseitige Enthaltensein nennt. Nichts in diesem Universum ist ein isoliertes Geschehen. Die Existenz des Geschehens A hängt von den Geschehnissen B, C und D und umgekehrt ab. Sie hängen nicht nur voneinander ab, sondern sie stützen und «enthalten» einander in dem Sinn, daß es ein gegenseitiges Einwohnen bei allen Dingen gibt. Jedes ist zugleich ein Bild und auch ein Widerspiegelndes aller anderen Dinge. Wir haben die Welt in Begriffen des allgemeinen Funktionierens der Welt auszulegen. Wie das Grundwesen unserer Erfahrung zeigt, ist dieses Zusammensein der Dinge bereits ein Aspekt der gegenseitigen Immanenz. Im einen oder andern Sinn bedeutet diese Gemeinsamkeit der Ereignisse, daß jedes Geschehen ein Faktor in der Natur jedes anderen Geschehens ist. ... Die ganze vorhergegangene Welt wirkt zusammen, um eine neue Gelegenheit zu schaffen. ... Die einzige vernünftige Doktrin der Verursachung gründet sich auf die Lehre von der Immanenz. ... Wir sind in der Welt, und die Welt ist in uns. ... Der Körper ist unser, und wir sind eine Aktivität in unserem Körper. ... Diese Tatsache der Beobachtung, schwer faßbar, aber zwingend, ist die Grundlage der Vernetzung der Welt und der Übermittlung ihrer Ordnungstypen.5
Was Whitehead hier betont, ist in der Hua-yen-Terminologie genau der Aspekt des gleichzeitigen Ineinander-Enthaltenseins. Der Unter-
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schied ist, daß Stil und Methode, mit denen die Hua-yen-Philosophie sich ausdrückt, eher poetisch als philosophisch sind.
Das Bild vom Meeresspiegel-Samadhi Im ersten Teil dieses Buches, «Der Bereich der Totalität», wurden Ch'eng-kuans zehn Gründe für die Ursachen der unendlichen Dharmadhatu der Nicht-Gegensätzlichkeit aufgeführt. Der sechste Grund, «Weil alle Dharmas gleich Spiegelungen oder Bildern sind», hilft uns, das gleichzeitige Miteinander-Entstehen und das gleichzeitige Ineinander-Enthaltensein zu verstehen. Unter Verwendung des Bildes von Spiegelungen in einem Spiegel wird die Dharmadhatu der Nicht-Behinderung mittels dreier Argumente verdeutlicht. 1. Da alle Dinge Bilder sind, sind sie keine realen Wesenheiten. Ihre Existenz ist nicht selbst-erhaltend, sondern hängt von anderen Dingen ab: Das ist die Wahrheit der Maya-Shunyata (der TäuschungsLeerheit). 2. Die unzähligen Bilder, die von einem Spiegel rückgespiegelt werden, entstehen alle plötzlich und zur gleichen Zeit: Das ist das gleichzeitige Entstehen (t'ung-shih tun-ch'i) der unzähligen Dinge. 3. Jedes einzelne Ding im Universum ist gleichzeitig ein Spiegel und ein Spiegelbild: Das ist die Nicht-Behinderung des gleichzeitigen Ineinander-Enthaltenseins (t'ung-shih hu-she). Das erste Argument ist klar und wurde bereits im vorangegangenen Abschnitt über Shunyata behandelt; wir brauchen daher hier nicht näher darauf einzugehen. Die beiden anderen Argumente lassen sich vielleicht am besten mit Hilfe einer interessanten Metapher veranschaulichen, die als «Meeresspiegel-Samadhi» (hai-chin san-mei oder hai-yin san-mei) bekannt ist - ein berühmtes und oft verwendetes Bild im Hua-yen. In der totalistischen Sicht des Hua-yen ist jedes einzelne Ding im Universum gleichzeitig ein «Spiegel» und ein «Bild». Ein Spiegel, weil es alle Dinge reflektiert, und ein Bild, weil es gleichzeitig von allen 171
anderen Dingen widergespiegelt wird. Das heißt, daß etwas, soweit es als Einzelding - zumindest in irgendeiner Hinsicht - zu allen anderen Dingen in Beziehung steht, sie alle reflektiert; und soweit die Existenz eines bestimmten Dinges von anderen Dingen abhängt, ist es auch ein Bild oder eine Reflexion dieser anderen Dinge. Zusätzlich zu dieser metaphorischen Art der Spiegelung zwischen Subjekten und Objekten gibt es noch die mystische Gewißheit, daß der Wahre Geist, das transformierte Alaya-Bewußtsein, klar, still und erhellend, einem großen Spiegel gleicht, der alle Dinge spontan widerzuspiegeln oder wahrzunehmen vermag. Das Wort «Reflexion», wie es im ersteren Fall verwendet wird, ist vor allem ein bildlicher Ausdruck, der eine bestimmte abstrakte Vorstellung bezeichnet. Im letzteren Fall ist es eine anschauliche Beschreibung einer bestimmten mystischen Erfahrung. Obwohl beide Möglichkeiten, das Wort zu gebrauchen, hier Gültigkeit haben, scheint die letztere die wichtigere und daher auch dominierende Art der Verwendung zu sein. Was ist nun mit diesem seltsamen Begriff «Meeresspiegel-Samadhi» gemeint? Etwa folgendes: Wenn der gesamte Ozean in seiner riesigen Ausdehnung und Mächtigkeit ein Spiegel wäre, dann würde er leicht all die mannigfachen Phänomene des ungeheuren Firmaments widerspiegeln können. Dieser Spiegel, der größte, der in der Welt der Menschen vorstellbar ist, würde nicht nur die zahlreichen Wolkenformationen, Regen und Stürme vieler Kontinente reflektieren, sondern auch die unzähligen Sterne, Galaxien und die sich darin ereignenden Aktivitäten der Lebewesen - einschließlich solch wunderbarer Szenen wie die des Reiches der Götter und des Reiches der Teufel. Nicht nur die herrlichen Kleider und auserlesenen Schmuckstücke, die die Engel tragen, sondern auch die gehässigen Blicke und Grimassen der Teufelsfratzen würden alle gleichzeitig von diesem großen «Meeresspiegel» reflektiert werden, ohne daß auch nur die kleinste Einzelheit fehlte. Fa-tsang gibt dazu folgenden Kommentar: Der sogenannte Meeresspiegel ist [eine Metapher, die] den eingeborenen Buddha-Geist symbolisiert. Sobald die [vielfältigen] Trugbilder im Inneren erloschen sind, wird der Geist ruhig, klar [und unaufgewühlt], und die unendlichen Spiegelungen aller Phänomene werden gleichzeitig erscheinen. Man kann all das auch mit den aufgewühlten Meereswellen vergleichen,
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wenn der Sturm die Meeresoberfläche peitscht, und mit ihrer Beruhigung, wenn er aufhört und eine ruhige, klare Oberfläche zurückbleibt, auf der alle Spiegelungen klar zu erkennen sind.
Dieser strahlende, dem Meeresspiegel gleichende Buddha-Geist ist in seinem Wesen weder verschieden noch getrennt vom Geist des Menschen; beide spiegeln einander auf höchst wunderbare Weise wider. Um dieses Mysterium des gleichzeitigen Ineinander-Enthaltenseins und Widerspiegeins zu erklären, bedient sich Ch'eng-kuan in seinem Prolog zum Hua-yen einer Parabel, die wir hier paraphrasieren wollen: Ein Meister legt seinem Schüler in einem Raum, in dem ein Spiegel hängt, den Dharma dar. Der Spiegel, der Meister und der Schüler symbolisieren den Wahren Geist, den Buddha und den Menschen. Der Spiegel reflektiert das Bild zweier einander gegenübersitzender Menschen; der eine spricht, und der andere hört zu. Wollen wir die Beziehung der beiden zueinander beschreiben, können wir sagen: Der Meister im Spiegel des Schülers legt dem Schüler im Spiegel des Meisters den Dharma dar. Oder man kann sagen: Der Schüler im Spiegel des Meisters lauscht dem Dharma, dargelegt vom Meister im Spiegel des Schülers. Wenn der Buddha dem Menschen den Dharma darlegt, dann handelt es sich nicht um eine zweiseitige Beziehung - einer redet, und der andere hört zu -, sondern um eine Beziehung auf vier Wegen: Der Buddha, der im Geist des Menschen ist, legt dem Menschen, der im Geist des Buddha ist, den Dharma dar, und der Mensch, der im Geist des Buddha ist, lauscht der Darlegung des Buddha, der im Geist des Menschen ist. In dieser Parabel wird der Aspekt des Ineinander-Enthaltenseins klar zum Ausdruck gebracht. Mehr über diese Lehre vom Wahren Geist im Lichte des Hua-yen folgt im nächsten Abschnitt.
Enthüllen und Verbergen als gegenseitige Behinderung Die Totalität bleibt dem Menschen gewöhnlich verborgen, weil er dazu neigt, eine Sache jeweils von einem einzelnen besonderen Ge173
sichts- oder Bezugspunkt aus zu sehen. Seine ihm innewohnende Svabhava-Art des Denkens ist schuld, daß es nicht anders ist. Das sieht man schon an der Art, wie wir denken und reden. Wenn wir sagen: «Wasser ist etwas zum Trinken», schließen wir automatisch die vielfältigen Aspekte des Wassers (wie H2O, Aggregat von Molekülen usw.) aus, oder wir «verbergen» sie. Wenn wir etwas behaupten, enthüllen wir üblicherweise einen Aspekt, verbergen jedoch die anderen. Aber die Wirklichkeit ist ein totalistisches Ganzes: die Nicht-Svabhava-Version des gleichzeitigen Entstehens und Einander-Enthaltens unendlicher Bereiche. Der Bereich der Buddhaschaft, wie das Hua-yen sie versteht, ist in seinem Wesen eine vollständige und totale Offenbarung von allem. Er verbirgt nichts. Das ist für die Hua-yen-Philosophen ein äußerst schwieriges Problem. Da die Grundform des Denkens Svabhava- und Bereich-gebunden ist, ist es schwer für den Menschen, die vielfältigen Positionen sowie deren Vernetztheit und gegenseitige Bedingtheit zu denken und auszudrücken. Im Vokabular des Hua-yen wird das die Behinderung von Verbergen und Enthüllen genannt. Das Hua-yen betont die Koexistenz oder Gleichzeitigkeit des Verborgenen und des Enthüllten, was auch die Nicht-Behinderung von Verbergen und Enthüllen genannt wird. Ch'eng-kuan erläutert das in einem Kommentar zum «Prinzip des gleichzeitigen Bestehens von Verbergen und Enthüllen im Geheimen» in seiner Schrift Prolog zum Hua-yen: Am achten Tag eines Monats ist der Mond zur Hälfte hell und zur Hälfte dunkel; die Sichtbarkeit des hellen Teils [des Enthüllten] verneint nicht, sondern bestätigt die Existenz des verborgenen Teils. In gleicher Weise schließt irgendeine Manifestation immer die Existenz des nicht-manifestierten oder verborgenen Teils derselben Sache ein. In dem Augenblick, in dem der helle Teil des Mondes enthüllt wird, wird auch der dunkle Teil «im Geheimen» bestätigt. Das ist die sogenannte gleichzeitige Bestätigung von Verborgenem und Enthülltem im Geheimen. ... Um ein anderes Gleichnis zu gebrauchen: Der Mond, so wie ihn Menschen auf der Erde sehen, ist nicht größer als ein großer Ball, aber ein Mondbewohner [angenommen es gäbe einen] würde ihn als eine riesige Welt sehen. Ob der Mond als Ball oder als Welt wahrgenommen wird, vergrößert oder verkleinert den Umfang des Mondes selbst nicht. Wenn der große Aspekt gesehen wird, wird nur der Groß-Aspekt enthüllt und der Klein-Aspekt bleibt verborgen - und umge174
kehrt. ... Hier ist anzumerken: Unendlich viele Formen eines gegebenen Objektes werden sichtbar, wenn der Bezugsrahmen nicht ein spezifischer Standort oder eine bestimmte Dimension, sondern die Totalität ist.
Ch'eng-kuans Darstellung dieses Prinzips ist klar, aber um es noch deutlicher zu machen, wollen wir ein Beispiel von anderer Ebene heranziehen. Viele Europäer und Amerikaner betrachten Winston Churchill als einen großen Mann, einen Helden, der zu bewundern und zu beneiden ist; für viele Russen, Deutsche, Asiaten und Afrikaner mag er das Gegenteil sein. Für seine intimen Freunde und Verwandten war Churchill wieder eine gänzlich andere Person, die der allgemeinen Öffentlichkeit unbekannt war. Für seinen Arzt war Churchill nicht mehr als ein gewöhnlicher Homo sapiens mit gewissen Störungen in bestimmten Organen. Er war unendlich klein, gemessen am Sonnensystem oder der Milchstraße, aber er erscheint ungeheuer groß, wenn er mit einem Atom oder einem Molekül verglichen wird. Im Sinne des Hua-yen sagt das nur, daß, wenn der eine Aspekt von Churchill enthüllt wird, die anderen Aspekte verhüllt werden oder verborgen bleiben und doch die Enthüllung dieses Aspekts keineswegs jene anderen vernichtet. Im Gegenteil: Im selben Moment, in dem dieser eine enthüllt wird, bestehen im Geheimen auch all die vielen anderen gleichzeitig ohne die geringste Behinderung oder Gegensätzlichkeit. Es ist ein großer Jammer, daß der menschliche Geist nur auf einer Ebene aktiv sein kann und so der Möglichkeit beraubt ist, die unendlich vielen Aspekte eines gegebenen Dinges auf einmal zu sehen. Auch vom pragmatischen Gesichtspunkt aus ist das Haften an einem besonderen Aspekt oder Standpunkt unheilvoll. Wenn Militärs ihre Strategie nur aufgrund von Angaben planen, die evident sind, aber versäumen, die unbekannten Umstände in Rechnung zu ziehen, werden sie eine Katastrophe heraufbeschwören. Wurde nicht die Mehrzahl der Fälle militärischer Niederlagen dadurch verursacht, daß die verborgen gebliebenen Verhältnisse auf Seiten des Feindes falsch eingeschätzt wurden? Ein gutes Beispiel für das hier behandelte Faktum gibt die bekannte buddhistische Fabel von den fünf Blinden, von denen jeder eine andere Stelle eines Elefanten betasten, so daß jeder dann eine andere Beschreibung davon gibt, was ein Elefant sei - Widersprüche, die schließlich zu einem lächerlichen Streit führen. 175
Dieses Faktum ist auch der Grund, warum wir keine verläßlichen Beobachter unserer selbst zu sein vermögen. Gebunden durch unsere angeborenen Svabhava-Begrenzungen, werden wir der Totalität kaum gewahr, wenn wir uns nicht ausdrücklich bemühen, sie zu erfassen. Die Frage: «Was ist ein Mensch?» ist zum Beispiel unmöglich ohne Angabe eines bestimmten Bezugssystems zu beantworten. Der Befragte ist berechtigt, dem Fragenden die Gegenfrage zu stellen: «Was meinen Sie? Aufweichen besonderen Bereich bezieht sich Ihre Frage?» Einzugrenzen und zu spezifizieren ist daher eine ständige Notwendigkeit für die menschliche Sprache und die menschlichen Verständigungsmöglichkeiten. Aber ein Objekt von irgendeinem besonderen Bezugssystem aus zu definieren heißt, einen Teil aus der Totalität seines Seins herauszugreifen. Das, was herausgegriffen oder betont wird, nennt Hua-yen das Enthüllte (hsien) oder den Gastgeber (chu), und das, was ignoriert wird, heißt das Verborgene (yin) oder der Gast (pin). Der Mensch sieht das Enthüllte und klammert sich daran, aber er ist gewöhnlich blind für das Verborgene. Totales Offenbarwerden aller Aspekte irgendeines gegebenen Seins ist offensichtlich für den Menschen unerreichbar - es gehört in den Bereich jenseits der menschlichen Fassungskraft.
Die «Runde Sicht» und die «Runde Lehre» Das sogenannte gleichzeitige Miteinander-Entstehen, das gegenseitige Einander-Durchdringen und das Ineinander-Enthaltensein sind nur Beschreibungen der Unendlichkeit in einer totalistischen Sicht. Um diese Begriffe klarer zu machen und die daraus sich ergebende Kette von Folgen zu erkennen, gilt es, zuerst den Kern der Hua-yenPhilosophie zu erfassen, der, nach meiner Meinung, am besten in Tushuns Befriedung und Kontemplation in der Praxis der Fünf Lehren (Wuchiao Chih-kuan) wiedergegeben wird.5 Um zu zeigen, daß diese Lehre jenseits des rationalen Verstehens liegt und weitab von allen Ausdeutungen in Worten, werden zwei Wege eingeschlagen: 1. Die vordergründigen Ansichten des Menschen werden beseitigt; 2. der Dharma wird dargelegt. Hier zuerst Die Beseitigung der vordergründigen Ansichten des Menschen: 176
Frage: Existieren die in Abhängigkeit entstandenen Phänomene (dharmas) oder existieren sie nicht? Antwort: Nein, sie existieren nicht. Sie sind an sich leer. Weil alle Dinge im Abhängigen Entstehen keinerlei Selbstheit haben, sind sie alle leer. Frage: Dann sind sie also [tatsächlich] leer? Antwort: Nein, sie sind existent, weil Dinge im Abhängigen Entstehen seit anfangloser Zeit existent gewesen sind. Sonst könnte diese Frage sich nicht erheben. Frage: Dann sind sie sowohl existent wie auch leer? Antwort: Nein, weil die Leere und die Existenz vollständig in eins verschmolzen sind. In dem Bereich, in dem die Leere und die Existenz verschmelzen, werden alle Dharmas des Abhängigen Entstehens nicht mehr unterscheidbar, und es gibt nicht die geringste Spur irgendeiner Art von Dualität. Diese Wahrheit kann durch das Bild vom Gold und den goldenen Ornamenten, die daraus gemacht wurden, veranschaulicht werden. Frage: Dann sind sie also weder leer noch existent? Antwort: Nein, weil beide [die Leere und die Existenz] zusammen existieren, ohne daß eines das andere behindert. Deshalb können [im Licht] des Aspekts gegenseitigen Verschmolzenseins der Leere und der Existenz die Dharmas des Abhängigen Entstehens sich gleichzeitig behaupten. Frage: Sind sie in diesem Fall in der letzten Analyse endgültig leer? Antwort: Nein, weil [im Licht] des Aspekts des Miteinander-Verschmolzenseins der Leere und der Existenz die Bedeutung der Existenz als solcher verloren geht. Die Dinge sind leer und nicht existent, sobald sie im Licht der Leere, die die Existenz verneint, gesehen werden; sie sind existent und nicht leer, gesehen im Licht der Existenz, die die Leere verneint. [Gesehen im Licht der wechselseitigen Behauptung, sind sie existent.]»
Wir bemerken, daß ohne Rücksicht darauf, wie der Fragende seinen Standpunkt ändert, der Antwortende (der den Hua-yen-Standpunkt repräsentiert) unverändert mit «Nein!» antwortet. Nicht weil der Antwortende die Absicht hat, dem Fragenden alle Hoffnung zu nehmen, sondern die einzige Absicht ist, die oberflächlichen Anschauungen der Menschen zu eliminieren. An welcher Sicht auch immer der Fragende festhalten mag, diese wird als falsch oder einseitig zurückgewiesen, weil sie einen Aspekt enthüllt, aber den anderen verbirgt. Wenn wir den nächsten Absatz lesen, die Darlegungen des Dharma, sehen wir, daß der Antwortende die völlig umgekehrte Haltung einnimmt. Dieselben Fragen, die er zuerst verneint hat, bejaht er jetzt 177
ohne das geringste Bedenken! Er verwandelt jedes «Nein!» in ein «Ja!». Hier der zweite Aspekt, Die Darlegung des Dharma: Frage: Existieren die Dinge des abhängigen Entstehens? Antwort: Ja, weil sie als illusionäre Existenzen vorhanden sind. Frage: Sind sie also leer? Antwort: Ja. Da sie keinerlei Selbstheit haben, sind sie leer. Frage: Sind sie nicht nur leer, sondern auch existent? Antwort: Ja, weil sie gegenseitig ihre Existenz nicht behindern. Frage: Sind sie weder leer noch existent? Antwort: Ja, weil sie beide im Licht der gegenseitigen Verneinung annulliert werden. Kurz: Wegen des abhängigen Entstehens existieren die Dinge; wegen des abhängigen Entstehens existieren die Dinge nicht; wegen des abhängigen Entstehens existieren die Dinge nicht nur, sondern sie existieren auch nicht; und wegen des abhängigen Entstehens existieren die Dinge weder wirklich, noch existieren sie nicht. Aus dem gleichen Grund ist eins eins, und eins ist nicht eins; eins ist sowohl eins als auch nicht eins, und eins ist weder eins noch nicht eins; viele sind viele und nicht viele, sind sowohl viele als auch nicht viele, und sind weder viele noch nicht viele. ... Gemäß derselben Überlegung sind viele viele und eins ist eins; sie sind beide viele, aber auch beide eins; und beide sind weder eins noch viele. ... Kurz: Alle diese Argumentationsweisen sind möglich aufgrund der Nicht-Behinderung und des vollkommenen Ineinander-Fließens der positiven und der negativen Betrachtungsweise. Dies ist möglich, weil die Natur des abhängigen Entstehens vollkommen frei von allen Bedingungen ist.
Daraus ist klar zu erkennen, daß die Hua-yen-Weise, die Dinge zu sehen, sich von den üblichen Betrachtungsweisen ganz wesentlich unterscheidet. Dieselben Fragen werden mit «ja» und mit «nein», mit «sowohl - als auch» und mit «weder - noch» beantwortet. Das scheint aller Vernunft zu widersprechen, aber das Wesen und der Geist der Hua-yen-Lehre liegen gerade hier. Wir bemerken, daß der Antwortende jedesmal seine Blickrichtung wechselt, sobald der Fragende versucht, ihn festzunageln. Er ändert den Bezugsrahmen jedesmal, wenn ihm dieselbe Frage oder eine Frage derselben Kategorie gestellt wird. Mit anderen Worten, wenn eine Frage gestellt wird, die zu Kategorie A gehört, dann wird die Antwort mit Bezug auf Katego-
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rie B gegeben. Ist das richtig und vernünftig? Die Antwort ist: Wenn der Gefragte an einen bestimmten Bereich gebunden ist, wird seine Antwort falsch und sinnlos sein; wenn er jedoch nicht in solcher Weise gebunden ist, wird seine widersprüchliche Antwort nicht unkorrekt und falsch sein. Er vertritt die totalistische oder die «runde» Sicht, der nicht der geringste Svabhava-Beigeschmack anhaftet, denn Begriffe wie richtig und falsch sind nur dann sinnvoll, wenn ein bestimmter Standpunkt eines Bereichs mitgedacht und festgehalten wird, wie wir vorhin gesehen haben. Wenn man diese «immerrichtige» Weise, die Dinge zu sehen, zu schätzen weiß, die von den chinesischen Buddhisten auch die «Runde Sicht» oder «Runde Betrachtungsweise» (yüan-chiao chien) genannt wird, wird das Prinzip des Ineinander-Eingehens und der wechselseitigen Identität sofort selbstverständlich. Ineinander-Eingehen ist nur ein Ausdruck, der die Vernetzung der Dinge bezeichnet, wie sie im Licht der «Runden Totalität» erkannt wird, und wechselseitige Identität bezeichnet ihre Nicht-Unterschiedenheit und ihr Ineinander-Fließen. Einige ZenGeschichten können helfen, diesen Punkt anschaulich zu machen, denn Zen wie Hua-yen versuchen, dieselbe Sache auf unterschiedliche Weise auszudrücken. Ein Zen-Meister sagte: «Wenn du einen Stock hast, werde ich ihn dir geben; wenn du keinen Stock hast, werde ich ihn dir wegnehmen.» Der Mönch Fa-ch'ang besuchte Ma-tsu und fragte ihn: «Was ist Buddha?» Ma-tsu antwortete: «Dein Geist ist Buddha.» In diesem Augenblick erlangte Fa-ch'ang Erleuchtung. Dann zog er sich für viele Jahre in entlegene Berge zurück. Um ihn zu prüfen, sandte Matsu einen Mönch zu ihm. Der Mönch fragte Fa-ch'ang: «Was habt Ihr von Ma-tsu gelernt, das Euch veranlaßte, so viele Jahre in dieser Zurückgezogenheit zu verbringen?» Fa-ch'ang sagte: «Er erzählte mir, daß der Geist selbst Buddha ist.» Darauf sagte der Mönch: «Aber Ma-tsu hat jetzt seine Lehre geändert, er sagt jetzt: Weder Geist noch Buddha!» Fa-ch'ang antwortete: «Dieser alte Bursche versucht immer, die Leute zu verwirren. Mag er sagen: Weder Geist noch Buddha. Ich bleibe bei meinem:
Entscheidend ist, daß jeder, der den Bereich der Nicht-Gegensätzlichkeit oder Totalität erreicht hat, gar nichts Unrichtiges mehr sagen kann, gleichgültig was er sagt, denn er ist nicht mehr Svabhava-gebunden, sondern befindet sich in einer Dimension der «runden Lehre» (yüan-chiao). Es gibt noch eine andere, auch im Westen bekannte Zen-Geschichte, die nach meiner Meinung die «runde Sicht» des Hua-yen genau zum Ausdruck bringt. Zwei Mönche, A und B, stritten über ein Lehrproblem; jeder beharrte auf seiner eigenen Meinung und wies die des anderen als falsch zurück. Mönch A sagte: «Ich gehe zu unserem Meister; er soll Schiedsrichter sein.» So trat er in das Zimmer des Meisters, der gerade in Gesellschaft seines Aufwärters war. «Verehrter Meister!» rief Mönch A. «Ich hatte eben einen Streit mit B. Meine Interpretation dieser und jener Stelle in einem Sutra ist die folgende: ... Aber B hat dafür eine andere Interpretation und behauptet, daß ich irre. Sagt mir, bitte, wer recht und wer unrecht hat?» Der Meister sagte: «Du hast recht!» Als Mönch B das hörte, eilte auch er zum Meister. «Meister! Wie könnt ihr sagen, daß A recht hat? Nach dem maßgeblichen Kommentar von Soundso müßte meine Interpretation richtig sein und die seine falsch.» Der Meister sagte: «Ja, du hast recht!» Der Aufwärter, der hinter dem Meister stand, und alles mitangehört hatte, konnte sich nicht länger beherrschen. Er trat einen Schritt vor und flüsterte dem Meister zu: «Verehrter Meister, Ihr könnt entweder sagen A hat recht oder B hat recht, aber wie könnt ihr sagen, daß beide recht haben?» Der Meister drehte sich um, sah ihn lächelnd an, und sagte: «Ja, du hast ebenfalls recht!»6 Es ist klar, daß der Zen-Meister den drei Mönchen auch mit «Nein!» hätte antworten können, ohne dabei seine eigenen Prinzipien zu verletzen. Er sprach von der Ebene der Nicht-Gegensätzlichkeit aus.
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Die «Runde Sicht» und ihre logische Stimmigkeit Wie wäre die «Runde Sicht» des Hua-yen zu charakterisieren? Als phantastisch, außergewöhnlich, montrös, unlogisch oder einfach als reiner Unsinn? Welchen Eindruck auch immer diese kurze Einführung in das Hua-yen-Denken hinterlassen mag, zwei Fragen müssen beantwortet werden, ehe man in dieser befremdlichen Philosophie irgendeinen Sinn erkennen kann. Erstens: Wie kann jemand diese monströse Art des Denkens, die alle Gesetze der Logik schamlos verletzt, rechtfertigen? Und zweitens: Wie kann vom Hua-yen auf solche Weise überhaupt eine Ordnung - sozialer, moralischer, geistiger oder irgendeiner anderen Art - begründet werden? Das erste Problem: Die «Runde Lehre» des Hua-yen ist eine Verletzung aller Gesetze der Logik. Diese Frage wurde schon in einem früheren Kapitel besprochen, aber um sie noch entschiedener zu beantworten, sei jetzt festgehalten, daß alle Hua-yen- und Shunyata-Argumente vollkommen logisch sind. Hier ein typisches Beispiel für diese Form des Argumentierens aus der Prajnaparamita-Literatur. Im Diamant-Sutra lesen wir: «Die sogenannte Welt ist keine Welt; daher wird sie Welt genannt.» Diese Art zu argumentieren, kann wie folgt in Symbole übersetzt und veranschaulicht werden: 1. A ist X 2. A ist nicht X 3. . • . Eins ist viele; oder der Sohn einer unfruchtbaren Frau ist amphibisch (oder irgendeine bizarre Feststellung, die man sich ausdenken kann). In Zeichensprache lauten die obigen Feststellungen wie folgt: 1.P 2. ~ P/Q Die logische Richtigkeit dieser Argumentationsweise läßt sich leicht folgendermaßen begründen:
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3. P v Q (1 Addition) 4. Q (2, 3 disjunktiver Syllogismus) Kein Logiker kann die logische Richtigkeit solcher Schlußfolgerun-gen der elementaren Logik bestreiten. In diesem Dilemma fragt daher der Logiker Irving Copi: «Was ist hier falsch? Wie können solche schwachen und einander sogar widersprechende Prämissen eine Beweisführung, in der sie auftauchen, richtig erscheinen lassen? Es muß zuerst einmal festgehalten werden, daß eine Beweisführung, wenn sie wegen der Unvereinbarkeit ihrer Prämissen logisch richtig ist, kein echter Beweis sein kann. Wenn sie einander widersprechen, dann können die Prämissen unmöglich alle wahr sein.»7 Diese Schlußfolgerung Irving Copis ist nicht die Schlußfolgerung eines Logikers, sondern die eines Metaphysikers. Seine vorschnelle Behauptung, daß «eine Beweisführung, wenn sie wegen der Unvereinbarkeit ihrer Prämissen logisch richtig ist, kein echter Beweis sein kann», ist willkürlich und voreingenommen. Er führt auch keine Kriterien an, an denen ein «echter Beweis» zu erkennen ist. Und wiederum: «Wenn sie einander widersprechen, dann können die Prämissen unmöglich alle wahr sein.» Diese Behauptung weist ganz eindeutig auf den starren Svabhava-bedingten Glauben hin, daß Widersprüchlichkeit notwendigerweise ein Zeichen von Unrichtigkeit ist und daß das Gesetz der Identität und des Nicht-Widerspruchs allein als das sine qua non aller Wahrheiten gelten darf. Diese engstirnige Betrachtungsweise wurde bereits in unserer Diskussion der Shunyata-Lehre untersucht und widerlegt. Im «RechenSpiel» des Nachweises der Richtigkeit eines bestimmten Argumentes wird der Logiker immer dann erleichtert und entzückt sein, wenn plötzlich die negative Form einer Prämisse in seinen Berechnungen aufscheint. Jetzt weiß er, daß das Spiel vorüber und das Problem gelöst ist. Ist es nicht eine Ironie, daß auf der Suche nach logischer Gültigkeit die verhaßte Widersprüchlichkeit zum treuen Verbündeten werden kann? Was immer die philosophischen Implikationen einer solchen Ironie sein mögen, so steht doch unwiderlegbar fest, daß die paradoxen Argumente in den Hua-yen- und Prajnaparamita-Schriften alle hundertprozentig logisch gültig sind. Eine Tatsache muß hier noch betont werden: Wenn eine Aussage und ihre Negation
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gleichzeitig begründet werden können, muß jede Schlußfolgerung, die daraus zu ziehen ist, logische Gültigkeit haben. Die immer-richtige «Runde Sicht» des Hua-yen ist die natürliche Schlußfolgerung aus der wechselseitigen Identität von Sein und Nicht-Sein. Diese «Runde Sicht» ist die unausweichliche Vollendung der Dialektik der Mystik. Die entscheidende Frage ist daher nicht, ob diese Aussagen logisch gültig sind, sondern ob sie empirisch wahr sein können und ob Unvereinbarkeit auf einer Ebene zu Vereinbarkeit und Harmonie auf einer anderen Ebene werden kann. Die Antwort darauf ist ein eindeutiges Ja, wie sich im Laufe unserer früheren Diskussionen gezeigt hat. Das zweite Problem: Wenn durch die sogenannte «Runde Lehre» des Hua-yen eine Behauptung gleichzeitig bejaht und verneint werden kann, wie läßt sich da überhaupt irgendeine Ordnung begründen? Die Antwort lautet: Eine Ordnung ist nur innerhalb eines bestimmten Bereichs gültig und wirksam, hat jedoch jenseits dessen keine Gültigkeit. Die Ordnungen niedriger Bereiche werden zurückgewiesen, wenn sie nicht mehr hinreichen, und es werden dann die Ordnungen höherer Bereiche aufgesucht. Das zeigt sich besonders klar in der Physik, in der Sozialwissenschaft, der Ethik, aber auch anderswo. Was hier nachdrücklich betont werden muß, ist die Tatsache, daß weder die Prajnaparamita noch das Hua-yen die Absicht haben, irgendeine Ordnung in irgendeinem Bereich zu zerstören. In Wirklichkeit stützen beide alle Ordnungen, die ihre Gültigkeit auf den entsprechenden Ebenen in einer sich gegenseitig durchdringenden und nicht-behindernden Weise haben. Die unantastbare Wahrheit des Gesetzes von der Identität auf der konventionellen Ebene ist in allen buddhistischen Schulen fest verankert. Ein erleuchteter Meister der Hua-yen-Dharmadhatu würde, wenn er aufgefordert wäre, einen Computer für Menschen zu konstruieren, das Zwei-Werte-System der Logik als Grundlage nehmen wie jeder andere Computer-Konstrukteur auch. Wenn ein bestimmter Bereich angeführt und eingegrenzt wird, sind in diesem keine gegensätzlichen oder widersprüchlichen Prinzipien gestattet. Wasser ist bestimmt etwas zum Trinken und nicht zum Verbrennen, soweit es den gewöhnlichen Alltagsverstand angeht. Natürlich kann man dem Wasser Wasserstoff entziehen
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und ihn verbrennen, aber das gehört nicht zu dem in Frage kommenden spezifischen Bereich, und es sind daher hier keine doppelsinnigen oder widersprüchlichen Behauptungen gestattet. Das Hua-yen verwirft niemals Logik oder Ordnung; es transzendiert sie nur mit seiner Dharmadhatu, die alles umschließt. Andererseits sollte man nie vergessen, daß das Hua-yen auf einer Betrachtungsweise beruht, die auf Totalität gerichtet ist. Es betrachtet die Dinge nicht von einer bestimmten Ebene aus, sondern von allen Ebenen. Es enthält alle und schafft allen feste Geltung. Das wird durch die zwei soeben behandelten Prinzipien möglich gemacht, nämlich durch die NichtBehinderung der gegenseitigen Durchdringung und die wechselseitige Identität. Befreiung von der Bindung der Ordnung eines bestimmten Bereichs bedeutet nicht die Zerstörung oder Aufhebung dieser Ordnung, sondern ihre Verlagerung und Erweiterung. Die höheren Ordnungen scheinen oft im Widerspruch mit den niedrigeren zu stehen, aber das scheint nur so aufgrund der Svabhava-Betrachtungsweise der Menschen. Totalität ist die große Harmonie der Koexistenz aller Bereiche. In der Totalität wird nichts verneint und nichts zum Hindernis; hier wird die Widersprüchlichkeit zur Nicht-Behinderung. Wir leben heute in einem Zeitalter, in dem das Absolute vor dem Relativen kapituliert hat. Unser Vorstellungsvermögen, unsere An-passungsfähigkeit und - bis zu einem gewissen Ausmaß - unsere Toleranz sind ungleich größer als die unserer Vorfahren. Die Menschen haben sich tatsächlich von vielen sinnlosen Zwängen und Bindungen befreit, die einst ihre Ahnen versklavt haben. Aber diese neue Freiheit und Perspektive haben auch einen Svabhava-Relativismus geschaffen, der Verwirrung und Verzweiflung mit sich bringt. Ein Svabhava-gebundener Relativismus ist geradezu prädestiniert, alle möglichen selbstzerstörerischen Situationen herbeizuführen. Mit relativistischen Argumenten kann der Mensch zum Beispiel leicht Entschuldigungen für sich und seine Untaten finden. In einem solchen Fall ist der wahre Grund für sein Fehlverhalten nicht die Relativität der moralischen Werte, die er ins Feld führt, sondern seine Bevorzugung einer bestimmten Verhaltensweise. Da er Svabhava-gebunden ist, ist er kein wahrer Anhänger des Relativismus. Die dem Menschen eingeborene Parteilichkeit und Bevorzugung einer bestimmten Denk-
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weise (svabhava-graha) verdammt ihn unweigerlich dazu, antirelativistisch zu sein. Sein Relativismus ist im besten Fall fragmentarisch, aber nicht totalistisch ausgerichtet. Der Hua-yen-Relativismus, falls dieser Ausdruck überhaupt anwendbar ist, ist ein durchgehend totalistischer Relativismus. Das heißt, weil er totalistisch und Shunyata-gemäß ist, transzendiert er alle Bindungen aller Besonderheiten wie auch alle Relativierungen. Die Vollkommene Leere von Shunyata, symbolisiert im donnernden Schweigen des Buddha und von Vimalakirti, weist auf den absoluten, transzendenten Aspekt der Wirklichkeit hin; die Hua-yen-Dharmadhatu dagegen deutet auf den positiven und allumfassenden Aspekt der Wirklichkeit hin. Buddhismus ist weder Relativismus noch Absolutismus; er kann keines oder beides sein, je nach der pädagogischen Notwendigkeit einer bestimmten Situation. Es ist ein weitverbreiteter Glaube, daß der Tathagata frei sei von allen festgelegten Betrachtungsweisen.8 Diese Unbestimmtheit, die viele Menschen abstößt, manche anderen aber besonders anzieht, ist das hervorragende Merkmal des Mahayana-Buddhismus.
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Diskussion der wechselseitigen Identität
Wie schon erwähnt, wird die Nicht-Behinderung in der Dharmadhatu durch die Prinzipien der gegenseitigen Durchdringung und der wechselseitigen Identität möglich gemacht. Wir können die gegenseitige Durchdringung annähernd veranschaulichen als das gemeinsame und gleichzeitige Entstehen vielfältiger Geschehnisse auf verschiedenen Ebenen in einem gegebenen Objekt, oder wir können sie uns als Lichtstrahlen verschiedener Lampen vorstellen, die einander überschneiden und gleichzeitig durchdringen. Aber keinerlei noch so bemühtes Sich-Herantasten, kein annäherndes Bild kann uns einem vollständigen Begreifen der wechselseitigen Identität näherbringen. Die Unmöglichkeit, auch nur ein fiktives Bild der wechselseitigen Identität zu zeichnen, genügt, um die unübersteigbare Schwierigkeit dieses ganzen Problems zu zeigen. Der Hauptgrund für diese Schwierigkeit ist, daß die große Mehrheit der Menschen niemals unmittelbar eine solche Erfahrung gehabt hat. Der Mensch lebt in einer Welt der Unterschiedenheiten, nicht der wechselseitigen Identität. Sein Geist ist vorherrschend - wenn nicht ganz - auf unterschiedene Objekte und deren Verhältnisse untereinander gerichtet. Es gibt daher für ihn keinen Weg, auch nur über wechselseitige Identität nachzudenken, ein Prinzip, von dem er keine unmittelbare Erfahrung hat. Unmittelbare Erfahrungen und Wahrnehmungen sind die elementaren Voraussetzungen für das Entstehen von Symbolen und Begriffen. Wörter in einer strukturellen Anordnung miteinander zu verbinden ist das, was wir Denken nennen. Aber die Ebene der wechselseitigen Identität liegt jenseits aller Svabhava-Symbole; das Denken 186
selbst ist daher unfähig, sie zu begreifen. Das besondere Vermögen, Symbole zu manipulieren, das für den Menschen charakteristisch ist und seinen Geist von dem der Tiere unterscheidet, ist einfach ungeeignet, sich mit dem Problem der Nicht-Unterschiedenheit und wechselseitigen Identität auseinanderzusetzen - einem Bereich, der nur zugänglich ist, wenn man alle Denkbilder überschreitet. Wechselseitige Identität bedeutet einfach, daß alle unterschiedenen Dinge eins sind; um ihr nahe zu kommen, ist es daher notwendig, bis zu einer Tiefenschicht zu gelangen, die allen Dingen gemeinsam ist, damit die scheinbaren Unterschiede schwinden und die wahre, universale Identität offenbar wird. Diese gemeinsame Tiefenschicht wird im Buddhismus als Buddha-Geist, Soheit, Leere oder als der Universale Urgrund (li) bezeichnet. Durch das Aufgehen der getrennten Materie (shih) im nicht-unterschiedenen Urgrund (li) kann die Wahrheit der wechselseitigen Identität offenbar werden. Diese Rückführung der Phänomene in das Noumenon wird in der Hua-yen-Terminologie als die Nicht-Behinderung von Li (Prinzip) und Shih (Geschehnisse) bezeichnet und wurde am besten von Tu-shun in seiner Schrift Befriedung und Kontemplation in der Praxis der Fünf Lehren9 dargestellt:
DAS VOLLSTÄNDIGE VERSCHMOLZEN-SEIN (NICHT-BEHINDERUNG) VON LI UND SHIH
Des vollständigen Verschmolzen-Seins von Li und Shih zu einer Einheit wird man gewahr durch die Verbindung zweier Prinzipien - und zwar die Vereinigung von Geist als Soheit und von Geist als Sich-Wandelndes. Das erste ist Li und das zweite Shih. Das heißt, daß beide, die Sichtweise der Existenz und die der Nicht-Existenz, auf vollkommen harmonische Weise miteinander verschmelzen. Obwohl [je nach dem Standpunkt] jedes der beiden sowohl verborgen bleiben als auch offenbar werden kann, gibt es nicht die geringste Behinderung zwischen den beiden. Die [Wahrheit der] Nicht-Dualität besagt, daß alle Dharmas des abhängigen Entstehens in Wahrheit leer oder dem Schein nach existent sind. Da die Leere das Nicht-Leere ist, wird sie wieder existent. Da die Leere und das Existierende nicht zwei sind, verschmelzen sie vollständig zu einer Einheit. Wenn die Vorstellung der Dualität erlischt, gibt es keinen Gegensatz mehr zwischen der Leere und der Existenz. - Warum? Weil das Wahre und das Illusionäre einander spiegeln, durchdringen und jedes das andere in sich enthält. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß die Leere 187
eine Leere ist, die dem Existierenden nicht entgegensteht, denn die Leere selbst ist das Ewig Existierende; und das Existierende ist etwas, das der Leere nicht entgegensteht, denn das Existierende selbst ist die Ewige Leere. Das Existierende ist das Nicht-Existierende oder ein Existieren frei vom Extrem des Existierens. Die Leere ist die Nicht-Leere, [oder das, was] frei ist vom Extrem der Leere. Da die Leere und das Existierende vollständig ineinander verschmolzen sind, werden sie nicht-dual; daher besteht nicht die geringste Behinderung zwischen ihnen. Da beide einander annullieren, sind sie frei von den zwei Extremen. Daher sagt das Sutra: Wenn jemand tief in das Prinzip des abhängigen Entstehens eindringt, dann werden alle irrigen Ansichten zunichte, und er wird nicht länger durch die gewohnheitsmäßigen Gedanken von Sein oder Nicht-Sein gebunden. Aufgrund abhängigen Entstehens werden und vergehen alle Dharmas. Wenn einer diese Wahrheit versteht, Wird er bald die Buddhaschaft erreichen. Mit dem unergründlichen Urgrund des Buddha-Geistes geht immer das Ich-Bewußtsein einher, und dieser Zwiespalt verurteilt die Menschen dazu, durch den Kreislauf des Samsara zu wandern. Aber der Weise löst sich von dieser Dualität. Das Unreine und doch Nicht-Unreine das ist am schwersten zu verstehen; Das Nicht-Unreine und doch Unreine auch das ist schwer zu verstehen. Aus diesem Grund lehrt der Buddhismus eine kombinierte Übung der Befriedung und der Kontemplation (shamatha und vipasbyana) und das Einander-NahrungGeben von Erbarmen und Weisheit. . . . Das sogenannte Einander-Nahrung-Geben von Erbarmen und Weisheit bedeutet, daß das Existierende, obwohl es genau dasselbe ist wie die Leere, nicht aufhört, auch das Existierende zu sein. Daher kann das Erbarmen der Weisheit Nahrung geben, ohne dabei in der Leere zu verweilen. In gleicher Weise kann die Leere, obwohl sie genau dasselbe wie das Existierende ist, nicht aufhören, die Leere zu sein. Daher kann die Weisheit dem Erbarmen Nahrung geben, ohne dabei im Existierenden zu verweilen. Da [von einem anderen Standpunkt aus betrach-
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tet] das große Erbarmen nicht in der Leere verweilt, muß es dem Existierenden folgen und alle Wesen umschließen; und da die große Weisheit weder am Existierenden haftet noch es umschließt, verweilt sie immer in der Leere - aber ohne aufzuhören. Das sogenannte Aufhören ist das Aufhören des Nicht-Aufhörens, oder das Aufhören-und-doch-nicht-Aufhören [und das sogenannte Sein ist das Sein des Nicht-Seins, oder das Sein-und-doch-nicht-Sein]. Da das Sein das NichtSein ist, existieren die zahllosen Phänomene nicht, obwohl sie erscheinen; da das Aufhören das Nicht-Aufhören ist, bleibt die Leere an sich bestehen und wird nicht annulliert. Da das Wesen der Leere an sich bestehen bleibt und nicht annulliert wird, sind Samsara und Nirvana nicht eins; und da die zahllosen Phänomene nicht existieren, sind Samsara und Nirvana nicht verschieden. Warum? Weil das vollkommene Ineinander-Verschmolzen-Sein der Leere und des Existierenden eins ist und doch nicht eins. - Das kann auch durch vier verschiedene Prinzipien zum Ausdruck gebracht werden. 1. Weil das Existierende genau dasselbe ist wie die Leere, verweilt [der Buddha] nicht im Samsara. 2. Weil die Leere genau dasselbe ist wie das Existierende, verweilt [der Buddha] nicht im Nirvana. 3. Weil [wegen der Nicht-Selbstheit] die Leere und das Existierende in eins verschmolzen sind und doch zwei bleiben, verweilt [der Buddha] nicht nur im Samsara, sondern auch im Nirvana. 4. Weil die Leere und das Existierende einander negieren und daher beide annulliert werden, verweilt [der Buddha] weder im Samsara noch im Nirvana. [Alle diese vier Prinzipien werden aufgrund der Wahrheit der Svabhava-Shunyata möglich.] Wenn man die Wellen des Wassers als Metapher benützt: Die wogenden Formen [des Wassers] sind die Wellen, und die einheitliche Nässe ist das Wasser. Es gibt keine Welle, die vom Wasser unterschieden wäre - die Welle selbst ist das Offenbarwerden des Wassers; es gibt kein Wasser, das von den Wellen unterschieden wäre - es ist das Wasser selbst, das Wellen wirft. Die Tatsache, daß Wasser und Wellen eins sind, behindert in keiner Weise ihr Verschieden-Sein [die Tatsache ihres Verschieden-Seins behindert in keiner Weise ihr Eins-Sein]. Ohne den Unterschied zu behindern, ist das Verweilen in den Wellen gleichzeitig auch das Verweilen im Wasser. Warum? Weil Wasser und Wellen verschieden sind und doch nicht verschieden. Das Sutra sagt:
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Die Lebewesen sind selbst die Manifestationen des Nirvana; sie bedürfen keiner weiteren Auslöschung. Nirvana ist die Wesensnatur der Lebewesen; es bedarf keines weiteren Wachsens. Die Tathägatas sehen kein Samsara; sie sehen auch kein Nirvana; zwischen Nirvana und Samsara gibt es keinerlei Unterschied. Im Bereich des Unbedingten (asamskrita) erscheint das Bedingte (samskrita); doch das Wesen des Unbedingten ist in keiner Weise behindert; das gleiche gilt auch für den Bereich des Bedingten. ...
Aus Fa-tsangs Kommentar können wir klar erkennen, daß das Prinzip der wechselseitigen Identität im wesentlichen ein Zustand des NichtUnterscheidens und Alles-Umfassens ist, verwirklicht durch das Verschmelzen aller gegensätzlichen Entitäten wie Sein und Nicht-Sein, Samsara und Nirvana, der bedingten und der unbedingten Dharmas und so weiter. Diese Ebene des totalen Verschmelzens aller gegensätzlichen Entitäten tritt aufgrund der Beseitigung aller «Behinderungen» in Erscheinung, der Beseitigung jener Svabhava-Schranken, die der Dharmadhatu dadurch im Weg stehen, daß sie jede vorhandene Einheit als festgelegt und so und nicht anders gegeben betrachten. So ist zum Beispiel eins immer nur eins und nicht viele. Sein ist bestimmt nicht Nicht-Sein; Phänomenon ist niemals Noumenon; die Vergangenheit ist niemals die Gegenwart oder die Zukunft und so weiter. Kurz, die Behinderung ergibt sich aus der Svabhava-Bestimmtheit und Unbeweglichkeit, wie sie der Mensch sich trügerischerweise einbildet. Die Nicht-Behinderung andererseits ist die Beseitigung dieser SvabhavaBarrieren. In seiner Schrift Die Grundgedanken des Hua-yen-Sutra (Hua-yen chin-chih kuei)10 behandelt Fatsang das Prinzip der NichtBehinderung anhand von zehn Punkten. 1. Die 2. Die 3. Die 4. Die 5. Die 190
Nicht-Behinderung von Wesen und Form. Nicht-Behinderung von Größe und Kleinheit. Nicht-Behinderung des Einen und der Vielen. Nicht-Behinderung der gegenseitigen Durchdringung. Nicht-Behinderung der wechselseitigen Identität.
6. Die Nicht-Behinderung des Verborgenen und des Enthüllten. 7. Die Nicht-Behinderung der subtilen Dinge. 8. Die Nicht-Behinderung von Indras Netz. 9. Die Nicht-Behinderung der Zehn Zeiten. 10. Die Nicht-Behinderung von Gastgeber und Gast. In geringfügiger Abänderung werden diese zehn Nicht-Behinderungen in anderen Hua-yen-Schriften auch die Zehn Mysterien genannt. 1. Das Mysterium der gleichzeitigen Vollkommenheit bei gegenseitiger Entsprechung. 2. Das Mysterium der Nicht-Behinderung von Größe und Kleinheit. 3. Das Mysterium der gegenseitigen Verträglichkeit des Einen und der Vielen in den Verschiedenheiten. 4. Das Mysterium der wechselseitigen Identität aller Dharmas in Freiheit. 5. Das Mysterium der Behauptung von Verbergen und Enthüllen im Geheimen. 6. Das Mysterium des wechselseitigen Enthalten-Seins der subtilen Dinge. 7. Das Mysterium des Bereichs von Indras Netz. 8. Das Mysterium der Veranschaulichung der Wahrheit durch Phänomene. 9. Das Mysterium der verschiedenen Erscheinungsformen der Zehn Zeiten. 10. Das Mysterium des vollkommen erleuchtenden Gastgebers und der Gäste. Diese zehn Mysterien oder Nicht-Behinderungen sind Synonyme für das sogenannte Shih-shih wu-ai fa-chieh, die Dharmadhatu der NichtBehinderung von Geschehnissen unter Geschehnissen. Um das Wesen des Shih-shih wu-ai, der Krone der Hua-yen-Philosophie, zu erklären, ist es angebracht, zuerst die sogenannten vier Dharmadhatus zu behandeln, wie sie der erste Patriarch der Hua-yen-Schule, Meister Tushun, dargestellt hat. 191
Die Philosophie der vier Dharmadhatus
Die vier Dharmadhatus, die Tu-shun in seinem denkwürdigen Aufsatz Über die Meditation der Dharmadhatu dargestellt hat, sind: 1. Die Dharmadhatu des Shih, der Bereich der Phänomene oder der Geschehnisse. 2. Die Dharmadhatu des Li, der Bereich der Noumena oder Prinzipien. 3. Die Dharmadhatu der Nicht-Behinderung von Li und Shih, der Bereich des Prinzips und der Bereich der Geschehnisse in totaler Freiheit und Verschmolzenheit. 4. Die Dharmadhatu der Nicht-Behinderung von Shih und Shih, der Bereich von Geschehnissen und Geschehnissen in totaler Freiheit und Verschmolzenheit. Li und Shih sind zwei wichtige Begriffe im Vokabular des Huayen, aber bevor wir ihre Bedeutung genauer definieren, wird es uns helfen, wenn wir zuerst ein Faktum erwähnen, das für die chinesische Art zu denken kennzeichnend ist. Im Chinesischen wird ein Eisenbahnzug ein «Feuerwagen» (huo chê) genannt, ein Fahrrad ein «Fußtretwagen» (chiao ta ch'ê), ein Automobil ein «Gaswagen» (ch'i ch'e), ein Last-auto ein «Güterwagen» (huo ch'ê), ein Schlitten ein «Schneewagen» (hsüeh ch'ê) und so fort. Aus diesem Beispiel kann man klar erkennen, daß die chinesische Art zu denken zuerst eine universale Idee verbildlicht, im vorliegenden Fall das Wort ch'ê oder Wagen, und dann ein Eigenschaftswort benützt, um das spezifische Objekt aus 192
der Familiengruppe auszuwählen, für die die universale Idee steht. In der englischen Sprache (und auch der deutschen; Anm. d. Übers.) hat beinahe jedes Objekt seinen spezifischen Namen für seine Identifizierung. Keine unmittelbare Verwandtschaft läßt sich von Wörtern wie Eisenbahn, Fahrrad, Lastauto, Schlitten und Automobil ableiten. Jedes dieser Wörter hat einen unabhängigen und festen Charakter, der ein besonderes Ding in einer unmißverständlichen Weise bezeichnet. Obwohl wir die Wörter Wagen und Fahrzeug haben, um die ganze Familie der mit Rädern ausgestatteten Beförderungsmittel zu bezeichnen, werden diese Begriffe in der Regel nicht mit einem zweiten Wort verbunden, um den besonderen Typ zu identifizieren, wie es im Chinesischen geschieht. Jedes Ding hat gewöhnlich einen spezifischen, genau richtigen und ausschließlichen Namen. Das Wort Fahrzeug steht für eine abstrakte und universale Vorstellung und kann kaum benutzt werden, um ein besonderes und konkretes Ding oder Geschehen zu benennen. Es wäre lächerlich zu sagen «Fuß-Fahrzeug», «Schnee-Fahrzeug» oder «Gas-Fahrzeug», aber für den Chi-nesen erscheint es gleichermaßen lächerlich, so viele untereinander beziehungslose Namen zu erfinden, um Dinge derselben Familie zu benennen. Diese Namen sind nicht nur schwer zu merken, sondern auch ungeeignet, auf die Zugehörigkeit zu «einer großen harmonischen Familie» hinzuweisen. Das chinesische Denken neigt dazu, eher synthetisch als analytisch zu sein - und ist daher besonders für das philosophische Denken höchst geeignet. Wenn es das Hauptanliegen der Philosophie ist, eine immer universalere Wahrheit zu suchen, dann wird die Verwendung von «synthetisierenden» Begriffen in philosophischen Denkabläufen unvermeidlich sein. Da das Hua-yen eine Philosophie ist, die sich mit dem Problem der Ganzheit befaßt, kann nichts hilfreicher sein als der Gebrauch aller Art von «synthetisierenden» Begriffen. Je weiter und umfassender die Bedeutungen eines Wortes sind, um so nützlicher mag dieses Wort für das Hua-yen sein. Hier ist ein Begriff ganz nutzlos, wenn er nicht anpassungsfähig und umfassend ist. Die zwei chinesischen Begriffe Li und Shih sind von Hua-yen-Philosophen gewählt worden, weil sie diese Eigenschaften besitzen. Betrachtet man die vielfältigen Bedeutungen von Li und Shih, dann wird die Richtigkeit der obigen Feststellungen sofort klar. Li kann in 93
unterschiedlichen Zusammenhängen bedeuten: «Prinzip», «universale Wahrheit», «Vernunft», «das Abstrakte», «Gesetz», «Noumenon», «Urteil», «Erkenntnis». Shih kann bedeuten: «Ding», «Geschehen», «das Besondere», «das Konkrete», «Phänomenon», «Materie». Mit Li und Shih, in solchem Sinn verstanden, können die vier Dharmadhatus in der folgenden Weise erklärt werden.
Die Dharmadhatu des Shih (der Geschehnisse) oder der «Kosmos der Erscheinungen» Das ist der Bereich der Phänomene, in dem alle Dinge als getrennte und unterschiedene Objekte oder Geschehnisse gesehen werden. Ein Fluß fließt, ein Baum wächst, Vögel fliegen und Fische schwimmen, das Feuer ist heiß und das Eis ist kalt - all die vielfältigen Phänomene, die uns in der empirischen Welt begegnen, gehören zu diesem Bereich. Dinge und Geschehnisse werden hier als getrennte und unabhängige Dinge angesehen.
Die Dharmadhatu des Li (des Prinzips) oder der «Kosmos des Wesens» Das ist der Bereich, in dem nur die abstrakten Prinzipien, die den Phänomenen zugrunde liegen, und die immanente Realität (tathata), die alle Dharmas stützt, gesehen werden. Es ist der Bereich jenseits der Sinneswahrnehmungen, ein Bereich faßbar nur dem Intellekt und der Intuition. Alle die Prinzipien und Gesetze, die die Geschehnisse in der phänomenalen Welt diktieren, gehören zu dieser Kategorie. Wenn zum Beispiel jemand vom Pferd geworfen wird, wird er auf eine bestimmte Stelle fallen. Diese bestimmte Stelle ist gänzlich vorhersagbar, wenn alle beteiligten Faktoren in Betracht gezogen werden, und man kann daher sagen, daß sie diktiert ist von einer Kombination verschiedener physischer Gesetze wie Schwerkraft, Trägheit und so weiter. Auch die vier Jahreszeiten sowie Tag und Nacht sind keine zufälligen Geschehnisse; sie sind, wie sie sind und nicht anders, weil sie diktiert und beherrscht sind von einer Kombination verschiedener 194
Lis oder Gesetze. Li ist daher der unsichtbare Leiter aller Geschehnisse. Von all den verschiedenen Lis scheint es den Hua-yen-Philosophen in erster Linie um das grundlegende zu gehen, nämlich um Tathata (die «Soheit» oder «Dasheit»), das entweder als der universale Eine Geist (ihsin) oder als Leere (k'ung) interpretiert wird. Es gibt keine Hinweise darauf, daß die Hua-yen-Philosophen jemals Kriterien zur Unterscheidung der verschiedenen Arten von Lis und der Beziehungen unter ihnen vorgeschlagen haben. Die Lis zum Beispiel, die die Bewegung physischer Objekte diktieren, wurden nicht klar vom grundlegenden Li der Tathata unterschieden. Die Beziehungen zwischen Li und Shih wurden sehr gut herausgearbeitet, aber diejenigen zwischen den Lis in den verschiedenen Kategorien wurden niemals klar definiert. Kurz: Li wird hier als das alles einschließende und vielseitige Prinzip verstanden, das aller Existenz zugrunde liegt, doch in seinen Inhalten unbestimmbar ist. Die Dharmadhatu des Shih und die Dharmadhatu des Li dürfen nicht als zwei getrennte Bereiche angesehen werden. Sie sind untrennbar und voneinander abhängig und bilden ein geeintes Ganzes. Sie werden hier nur zum Zweck der Veranschaulichung als zwei getrennte Bereiche betrachtet. In seinem Aufsatz «Über den Goldenen Löwen» benutzt Fa-tsang den goldenen Löwen als ein Gleichnis zur Erklärung der Dharmadhatu des Li und der des Shih. Das Metall, das Gold, kann als Sinnbild des nicht unterschiedenen Noumenon Li aufgefaßt werden und das Kunstgebilde, der Löwe, als die sich unterscheidende Erscheinung oder Shih. Durch dieses Gleichnis werden auch die Abhängigkeit und die wechselseitige Identität von Li und Shih verdeutlicht. Die mannigfaltigen Beziehungen zwischen Li und Shih sind allerdings viel komplexer als dieses einfache Bild zeigt. Wir wollen uns nun der Betrachtung der dritten Dharmadhatu zuwenden: der Nicht-Behinderung von Li und Shih, die der Schlüssel zur Hua-yen-Philosophie ist.
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Die Dharmadhatu der Nicht-Behinderung von Li und Shih oder der «Kosmos der Durchdringung von Erscheinung und Wesen» Im Bereich der Nicht-Behinderung von Li und Shih (li-shih wu-ai) werden Li und Shih als untrennbare Einheit gesehen. Ein konkretes Ereignis (shih) wird hier als ein Ausdruck eines bestimmten abstrakten Prinzips (li) gesehen und das Prinzip (li) als Zeugnis des sich manifestierenden Ereignisses (shih). Ohne das eine wäre das andere ohne Sinn; erst in diesem Bereich bekommen Li und Shih in ihrer Einheit eine wirkliche Bedeutung. Nehmen wir an, ich sah in der Großen Depression von 1929 einen Mann aus den obersten Stockwerk eines Hauses in New York springen. Dieses Ergeignis kann bloß als den Sturz eines physischen Gegenstandes ansehen, der aufgrund der Schwerkraft einer bestimmten Flugbahn folgt; ansehen, oder man kann ihn sehen als eine Auswirkung des verheerenden wirtschaftlichen Fehlschlags jener Zeit. Ob ich es nun als ein Ereignis betrachte, das aus physischen oder ökonomischen Prinzipien herzuleiten ist, es zeigt sich klar, daß ein Geschehnis (shih) immer ein Ausdruck eines zugrundeliegenden Prinzips (li) ist und umgekehrt. Li und Shih sind nicht nur untrennbar und durchdringen einander gegenseitig, sondern sie sind auch vollständig identisch und nicht-dual (advaya). Das ist die sogenannte Nicht-Behinderung von Li und Shih, parallel zu dem Diktum «Form (shih) ist Leere (li), Leere ist Form» in der Shunyata-Lehre. Tu-shun, der Begründer der Hua-yen-Schule, hinterließ eine ins einzelne gehende Darstellung der Nicht-Behinderung von Li und Shih in seinem Essay Meditation der Dharmadhatu.11 Zehn Gesetze werden hier dargelegt, um sowohl die Verschmolzenheit wie das Getrenntsein von Li und Shih zu verdeutlichen, ihre Koexistenz und ihr Auslöschen, ihre Zusammenarbeit und ihren Konflikt [wie sie sich in dem Urgesetz der Nicht-Behinderung von Li und Shih zeigen]: 1. Das Gesetz, daß Li Shih umschließen [muß]. 2. Das Gesetz, daß Shih Li umschließen [muß]. 3. Die Entstehung von Shih muß sich auf Li stützen.
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4. Durch Shih wird das Li veranschaulicht. 5. Durch Li wird das Shih annulliert. 6. Shih kann das Li verbergen. 7. Das wahre Li ist Shih selbst. 8. Dinge und Geschehnisse [shih-fa] selbst sind Li. 9. Das wahre Li ist nicht Shih. 10. Dinge und Geschehnisse [shih-fa] sind nicht Li. Die Meditation betrachtet: 1. Das Gesetz, daß Li Shih umschließen [muß]. Li, das Prinzip, das sich überall hin erstreckt, kennt keine Beschränkungen oder Grenzen, aber Shih, die Objekte, die [von Li] umschlossen werden, kennen Beschränkungen oder Grenzen. In jedem Shih breitet das Li sich überall hin aus, ohne etwas auszulassen und ohne daß etwas fehlt. Warum? Weil die Wahrheit des Li unteilbar ist. Daher nimmt jedes - auch das allerkleinste -Atom die unendliche Wahrheit des Li in sich auf und umschließt sie in vollkommener Weise. KOMMENTAR: Dieses Prinzip ist völlig eindeutig und bedarf keiner
weiteren Erklärungen. Das Gesetz der Schwerkraft zum Beispiel erstreckt sich überall hin. Es wirkt zu allen Zeiten und an allen Orten der Erde. In diesem Sinne ist Li als unteilbar und ohne Grenzen und Beschränkungen zu betrachten. Im Gegensatz dazu hat Shih, das besondere Einzelding oder Geschehnis, Grenzen und Beschränkungen. Weil Li unteilbar ist, muß das gesamte Li und nicht nur ein Teil davon Shih umschließen. Denn wir können uns nicht vorstellen, wie ein Teil des Gesetzes der Schwerkraft wirksam sein könnte. Ein anderer Punkt, der hier erwähnt werden sollte, ist, daß die chinesische Sprache bei Hauptwörtern keine Einzahl und Mehrzahl unterscheidet. Die Unterscheidung von Einzahl und Mehrzahl erfolgt durch Anhängen von Eigenschaftswörtern, die das Hauptwort modifizieren. Daher können die in dieser Abhandlung verwendeten Wörter li und shih sowohl die Einzahl als auch die Mehrzahl ausdrücken. Wir können deshalb niemals ganz sicher sein, ob in einem bestimmten Zusammenhang Li oder «Lis» gemeint ist oder was die genaue philosophische Bedeutung ist. Es ist jedoch anzunehmen, daß das in den Hua-yen-Schriften verwendete Wort li normalerweise die Totalität aller Lis bedeutet - in physikalischer wie ethischer, ontologischer und spiritueller Hinsicht. 197
Die Meditation betrachtet: 2. Das Gesetz, daß Shih Li umschließen [muß]. Shih, die Materie, die umschließt, hat Grenzen und Beschränkungen, und Li, die Wahrheit, die [von den Dingen] umschlossen wird, hat keine Grenzen und Beschränkungen. Doch dieses begrenzte Shih ist vollständig identisch, nicht teilweise identisch, mit Li. Warum? Weil das Shih keine Substanz besitzt - es ist eben Li selbst. Daher kann ein Atom, ohne die geringste Beeinträchtigung seiner selbst, das ganze Universum umschließen. Wenn das für ein Atom gilt, dann sollte es auch für alle anderen Dharmas gelten. Versenke dich in diesen Gedanken und meditiere ihn.
Der entscheidende Satz in dieser Beweisführung ist: «Doch dieses begrenzte Shih ist vollständig identisch, nicht teilweise identisch, mit Li.» Dieser Punkt wurde bereits in dem Abschnitt über die Shunyata-Lehre besprochen, nämlich daß Leere (li) und Form (shih) vollständig identisch - und nicht teilweise identisch - miteinander sind. Ein Atom kann daher ohne eine Beeinträchtigung seiner selbst das ganze Weltall umschließen. Hier sehen wir, daß aus der Rückführung von Shih auf Li schon auf die vierte Dharmadhatu, die Dharmadhatu der Nicht-Behinderung von Shih und Shih (ein Atom umschließt das Universum), gefolgert werden kann.
KOMMENTAR:
Die Meditation betrachtet: Dieses alles umschließende Grundgesetz ist jenseits [des Begreifens durch den] gewöhnlichen Verstand und schwierig zu verstehen. Es kann mit keiner Metapher dieser Welt [wirklich] beschrieben werden. [Aber angesichts der Notwendigkeit, die Sache anschaulich zu machen, sei das folgende Bild benützt.] Der ganze Ozean ist in einer Welle [verkörpert], dennoch schrumpft der Ozean nicht ein. Eine kleine Welle enthält den großen Ozean, dennoch dehnt sich die Welle nicht aus. Obwohl sich der Ozean gleichzeitig auf alle Wellen ausdehnt, teilt er sich dadurch doch nicht auf; und obwohl alle Wellen gleichzeitig den großen Ozean enthalten, sind sie nicht eins. Wenn der große Ozean eine Welle umschließt, hindert ihn nichts daran, alle anderen Wellen mit seinem ganzen Körper zu umfassen. Wenn eine Welle den großen Ozean enthält, dann enthalten alle anderen Wellen auch den Ozean in seiner Gänze. Es gibt keinerlei Gegensatz zwischen ihnen. Meditiere hierüber!
Ch'eng-kuan gab hierzu folgenden Kommentar:
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Ozean wird hier als Sinnbild für das Li gebraucht und Wellen für das Shih. ... Wie kann der große Ozean in einer Welle [enthalten] sein? Er kann es, weil der Ozean unteilbar ist. Wie kann das eine große Li in einem Shih [enthalten] sein? Es kann es, weil Li nicht geteilt werden kann. Eine Welle kann dann den ganzen Ozean umschließen, weil sie mit dem Ozean identisch ist. Ein Atom kann alle Lis umfassen, weil es eben Li selbst ist. KOMMENTAR: Der
dritte Satz dieses Textes lautet: «Der ganze Ozean ist in einer Welle [enthalten], dennoch schrumpft der Ozean nicht ein.» Man kann annehmen, daß eine entsprechend intelligente Person fähig sein müßte, den Inhalt des Ozeans aufgrund der in einer Welle enthaltenen Information zu folgern. In diesem Fall müßte der Ozean nicht auf die Größe einer Welle schrumpfen, um in jener Welle «enthalten» zu sein. Das ist ganz verständlich; aber im nächsten Satz heißt es: «Eine kleine Welle enthält den großen Ozean, dennoch dehnt sich die Welle nicht aus.» Vom empirischen Gesichtspunkt des Menschen aus kann eine kleine Welle sicherlich nicht den ganzen Ozean enthalten, ohne sich selbst dabei auszudehnen. Diese Unmöglichkeit ergibt sich nach dem Hua-yen aus der Tatsache, daß der Mensch in seinem Denken auf einen bestimmten Bereich beschränkt ist, und solange er diesen nicht überschreiten kann, muß er dem Diktat der einschränkenden ZeitRaum-Ordnung einer solchen Dimension gehorchen. Aber die totalistische Dharmadhatu ist durch keine bestimmte Zeit-Raum-Ordnung in irgendeinem Bereich eingeschränkt oder begrenzt. Wenn andererseits eine Welle sich in einem Maße ausdehnen müßte, daß sie größer als der Ozean ist, damit sie diesen enthalten kann, dann müßte es sich um eine Svabhava-Welle und einen Svabhava-Ozean handeln, was im Huayen-Bereich der Nicht-Behinderung auszuschließen ist, da ausdrücklich erklärt wird, daß das ganze Universum in einem Atom enthalten ist, ohne daß dieses kleine Atom seine Größe ändern müßte. Die Meditation betrachtet: Obwohl sich der Ozean gleichzeitig auf alle Wellen erstreckt, verändert er sich nicht, und obwohl alle Wellen gleichzeitig den großen Ozean enthalten, sind sie nicht eins. Wenn der große Ozean eine einzelne Welle umschließt, hindert ihn nichts, alle anderen Wellen innerhalb seines ganzen körperlichen
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Umfanges zu umschließen. Wenn eine einzelne Welle den großen Ozean enthält, dann enthalten alle anderen Wellen auch den Ozean in seiner Gänze. Es gibt keinerlei Behinderung zwischen ihnen. Meditiere hierüber!
Dieser Absatz ist besser zu verstehen, wenn man ihn schweigend meditiert und nicht versucht, ihn mit Worten zu erklären. KOMMENTAR:
[An dieser Stelle] könnte der [folgende] Einwand erhoben werden: «Wenn das Li ein Atom mit seinem ganzen Körper umschließt, warum ist es dann nicht klein? Wenn sich das Li nicht auf dieselbe Größe wie das Atom verkleinert, wie kann dann gesagt werden, daß sein ganzer Körper das Atom umschließt? Außerdem, wenn ein Atom das Wesen von Li enthält, warum ist es nicht groß? Wenn das Atom nicht dem Li gleicht und dadurch groß und weiträumig wird, wie kann es das Wesen von Li umschließen? Der Gedanke ist unlogisch und widerspricht sich selbst.»
Die einfache Antwort auf diese Einwände ist, daß alle diese Probleme durch das Svabhava-Denken entstehen und die Huayen-Totalität völlig frei davon ist. Aber Tu-shun hat mit großer Geduld und Gewissenhaftigkeit von verschiedenen Gesichtspunkten aus geantwortet, um das Nicht-Svabhava-Denken zu veranschaulichen. KOMMENTAR:
Die Meditation betrachtet: ANTWORT: Wenn man Li und Shih einander gegenüberstellt, dann sind sie weder identisch noch verschieden; so kann [jedes das andere] vollkommen umschließen, ohne daß dabei ihre jeweilige Stellung und Ordnung beeinträchtigt wird. Wird Shih von der Position des Li aus betrachtet, werden vier Prinzipien erkennbar. a. Da die Realität von Li nicht verschieden ist von Shih, wohnt seine Totalität jedem Shih inne. b. Da die Realität von Li und die von Shih nicht identisch sind, erstreckt sich das Li-Prinzip immer bis in die Unendlichkeit. c. Da die Nicht-Identität eben die Nicht-Verschiedenheit ist, ist das keine Grenzen kennende Li vollständig in einem Atom enthalten. d. Da die Nicht-Verschiedenheit eben die Nicht-Identität ist, ist das Li des einen Atoms ohne Grenzen und ungeteilt. 200
Es gibt kein besseres Beispiel für die Nicht-SvabhavaDenkweise als die obigen Feststellungen. Das erste Prinzip: «Da die Realität von Li nicht verschieden ist von Shih, wohnt seine Totalität jedem Shih inne», ist eine Betonung der Synthese oder Einswerdung (ho). Im Gegensatz dazu liegt die Betonung beim zweiten Prinzip auf Trennung oder Teilung. Das zeigt, daß die totalistische Methode nicht gleichmacherisch synthetisch ist in ihrem Bemühen, alle Unterscheidung in das nicht-unterschiedene Ganze rückzuführen. Teilung und Unterscheidung werden beide von der Totalität umschlossen. Nur wenn man von jeder Svabhava-Bindung frei ist (chi wu tzu hsin) - gleichgültig ob es sich um Einswerdung oder Trennung handelt - kann man die Huayen-Totalität erreichen. Wenn man die Madhyamaka-Terminologie verwendet, dann weist das erste Prinzip auf die Transzendentale oder Höchste Wahrheit (paramartha-satya) und das zweite auf die konventionelle Wahrheit (samvriti-satya) hin. Die Aussagen des dritten und vierten Prinzips scheinen schwer verständlich zu sein. Wie können wir einen Satz erklären wie diesen: «Da die Nicht-Identität eben die Nicht-Verschiedenheit ist, ist das keine Grenzen kennende Li vollständig in einem Atom enthalten»? Die Antwort auf diese Frage ist, daß die sogenannte «Nicht-Identität» hier die unterschiedlichen Objekte oder Shih bezeichnet und die NichtVerschiedenheit Li oder Tathata. Diese Aussage ist daher nichts anderes als eine Neuformulierung der Tatsache, daß die unterschiedlichen Dinge der konventionellen Welt genau dasselbe sind wie die nichtunterschiedliche Leere. Nicht-identisch-Sein läßt sich leicht als ~ (A = A) symbolisieren und Nicht-Verschiedenheit als ~ [~ (A = A)]. Die sogenannte «Nicht-Identität ist gleich Nicht-Verschiedenheit» entspricht der symbolischen Darstellung ~ (A = A) ~ [~ (A = A)] oder einfach P = ~ P, was die wohlbekannte Grundlehre aller Mystik ist. KOMMENTAR:
Eine andere Frage, die sich erhebt, lautet: Wenn das unbegrenzte Li ein Atom umschließt, ist dann die Realität des Li [gleichzeitig] in anderen Atomen zu finden? Wenn das der Fall ist, dann bedeutet das, daß Li außerhalb des Atoms existiert, und Li daher nicht gänzlich [damit befaßt ist], ein Atom zu umschließen. Wenn andererseits 201
die Realität von Li nicht außerhalb des Atoms zu finden ist, dann kann man nicht sagen, daß Li alle Dinge [shih] umfaßt. Daher widerspricht dieses Argument sich selbst. ANTWORT: Weil das Wesen von Li allgegenwärtig, harmonisch und verschmelzend12 ist und weil die zahllosen Dinge [shih] einander [gegenseitig] nicht behindern, existiert die [Wahrheit der Totalität] sowohl innerhalb wie auch außerhalb [von Li und Shih] ohne Behinderung oder Einschränkung. [Zur näheren Erläuterung] sind vier Gründe [sowohl vom Standpunkt innerhalb wie auch außerhalb von Li und Shih] zu betrachten.
Der Kern des Arguments in diesem Absatz ist, daß Li und Shih, da sie vollkommen in ein einsgewordenes Ganzes verschmolzen sind, beide sowohl innerhalb als auch außerhalb sind; es gibt daher keinerlei Unstimmigkeit. Der Zusatz: «Weil die unzähligen Dinge [shih] einander [gegenseitig] nicht behindern, existiert die [Wahrheit der Totalität] sowohl innerhalb als auch außerhalb von Li und Shih ohne Behinderung oder Einschränkung», ist der Beweis der vierten Dharmadhatu des Shih-shih wu-ai, der Nicht-Behinderung von Shih durch Shih. Wir erkennen hier, daß es schwierig ist, die NichtBehinderung von Li und Shih sowie von Shih und Shih als getrennte Themen zu behandeln; sie sind ganz eng miteinander verbunden. Eine eingehende Behandlung des einen schließt nowendiger-weise auch die des anderen ein. KOMMENTAR:
Die Meditation betrachtet: Vom Standpunkt des Li: a. Obwohl Li alle Dinge mit seinem ganzen Körper umschließt, behindert das in keiner Weise die Existenz dieses ganzen Körpers in einem Atom. Daher bedeutet außen sein auch innen sein. b. Obwohl der ganze Körper [des Li] in einem Atom existiert, behindert das in keiner Weise die Existenz dieses ganzen Körpers in anderen Dingen. Daher bedeutet innen sein auch außen sein. c. Das Wesen der Nicht-Dualität ist allgegenwärtig; daher ist es außen und auch innen. d. Das Wesen der Nicht-Dualität ist «jenseits von allem»; daher ist es weder außen noch innen. Die ersten drei Gründe veranschaulichen die Nicht-Verschiedenheit des Li von jedem Shih, der letzte dient dazu, die Nicht-Identität von Li mit Shih zu
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veranschaulichen. Gerade weil Li weder identisch mit noch verschieden von Shih ist, sind außen und innen ohne Behinderung zu erkennen.
Es ist oft bemerkt worden, daß die buddhistische Denkweise im allgemeinen nicht dem Schema «entweder - oder» folgt; ihr gewöhnliches Schema ist weit eher «sowohl - als auch». Diese alleseinschließende Denkweise muß, wenn sie folgerichtig zu Ende gedacht wird, unweigerlich zu der schwer faßbaren «Runden-Lehre» des Huayen führen. Der Text des letzten Abschnittes weist eindeutig in diese Richtung. Das alles-einschließende und nie ganz faßbare Li ist überall und nirgendwo; daher ist es sowohl innerhalb wie außerhalb eines Dings. Es ist sowohl identisch wie auch verschieden von Shih, nicht aus Gründen der Relativität, sondern weil das Prinzip der NichtBehinderung und der alles-verschmelzenden Totalität notwendigerweise zu einem solchen Ergebnis führt. Das Prinzip der Nicht-Behinderung, auf das sich der Text bezieht, läßt sich auch auf andere Weise erklären. Wenn wir von der ganzen Bevölkerung einer Stadt, eines Landes oder eines Staates sprechen, dann ist diese sogenannte «Ganzheit» in Wirklichkeit nur etwas Relatives. Vom Gesichtspunkt höherer Begriffsebenen, sagen wir etwa der Nation oder der Welt, sind diese «Ganzheiten» nur ein Teil oder Fragment. Diese «Ganzheiten» sind also relativ und bereichsgebunden - das heißt, sie sind auf einen eingegrenzten Bereich beschränkt. Im Gegensatz dazu ist das totalistische Ganze oder Li (ch'uan-li) des Hua-yen nicht im mindesten bereichsgebunden. Wie könnte also diese Art von Li auf die Grenzen irgendeines Bereichs beschränkt sein? Der Gedanke «innen sein heißt außen sein» ist nur eine weitere Betonung des nicht-gegensätzlichen Wesens von Li. KOMMENTAR:
Die Meditation betrachtet: Vom Standpunkt des Shih: a. Wenn ein Ding [shih] Li mit seinem ganzen Körper einschließt, dann hindert es alle anderen Dinge nicht daran, Li ebenfalls in seiner Ganzheit zu enthalten. b. Wenn alle Dinge Li umschließen, dann hindern sie kein Atom daran, [Li] vollständig zu umschließen. Daher heißt außen existieren innen existieren.
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c. Da alle Dinge [Li] gleichzeitig in jeder Weise umschließen, sind alle Dinge vollständig innerhalb von [Li] und zur gleichen Zeit ohne Behinderung außerhalb von [Li]. d. Da alle unterschiedenen Dinge einander gegenseitig nicht behindern, ist jedes, gegen das andere gesetzt, weder drinnen noch draußen. Meditiere hierüber!
Im Prinzip c. bedeutet «innerhalb von» Li, daß jedes individuelle Shih das universale Li umschließt; und «außerhalb von» Li bedeutet, daß dieses Paar Shih/Li nicht genau jenes Paar Shih/Li ist. Die Aussage von Prinzip d., «weder drinnen noch draußen», scheint eine Neuformulierung des Zwei-Wahrheiten-Systems zu sein: Im Bereich der konventionellen Wahrheit kann man von Einheit A nicht sagen, daß sie in der Einheit B enthalten ist; anderenfalls würden die Ordnungen in der phänomenalen Welt gestört oder behindert. Andererseits ist aber im Bereich der Letzten Wahrheit die Einheit A nicht außerhalb von B, und zwar dank ihrer wechselseitigen Identität in Li. KOMMENTAR:
Die Meditation betrachtet: 3. Die Entstehung von Shih muß sich auf Li stützen. Das bedeutet, daß Shih kein anderes Wesen besitzt [als Li]; dank Li kann Shih entstehen, denn alle Kausalzusammenhänge sind ohne jedes Selbst-Wesen [nihsvabhava]. Aufgrund dieser Nicht-Selbstheit kommen alle Dinge ins Sein. Die Wellen treiben das Wasser und bringen es in Bewegung, und aufgrund des Kontrastes von Wasser und Wellen entsteht Bewegung. In gleicher Weise ist die Buddha-Natur [tathagata-garbha] der Grund dafür, daß die Dharmas ins Sein treten können. Meditiere hierüber! 4. Durch Shih wird das Li veranschaulicht. Wenn Shih Li erfaßt, dann wird Shih leer, und Li wird substanzhaft; und weil Shih leer wird, tritt das Li, das dem ganzen Shih «innewohnt», lebendig in Erscheinung [das heißt, Li wird enthüllt, und Shih ist verdeckt]; das ist, als würde die Form der Wette annulliert, und der Körper des Wassers träte nackt in Erscheinung. 5. Durch Li wird das Shih annulliert. Wenn Shih Li erfaßt und Li dadurch sich zeigt, wird die Form von Shih annulliert, und das einzige, was klar und deutlich in Erscheinung tritt, ist das einzige und wahre Li. Jenseits des wahren Li kann keine Spur von Shih
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gefunden werden. Wenn das Wasser die Wellen annulliert, bleibt keine einzige Welle zurück. [Hier geht es, mit anderen Worten, darum:] Das Wasser belassen, um die Wellen zu erschöpfen. 6. Shih kann das Li verbergen. Das wahre Li folgt den kausalen Geschehnissen und erzeugt sie. Da jedoch diese kausalen Geschehnisse gegen Li sind [soweit es die konventionelle Welt betrifft], ergibt es sich, daß nur die Geschehnisse in Erscheinung treten, nicht aber Li [da die gewöhnlichen Menschen in ihrer Alltagserfahrung nur das greifbare Shih, nicht aber das abstrakte Li sehen]. Ähnlich ist es, wenn Wasser zu Wellen wird: Der Aspekt der Bewegung erscheint, während der Aspekt der Ruhe überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Im Sutra heißt es: «Der Dharmakaya, der in den fünf Lokas [im Samsara] kreist und wandert, wird ein Lebewesen genannt.» Immer wenn ein Lebewesen erscheint, [folgt] der Dharmakaya, obwohl er sich nicht [notwendigerweise] manifestiert. 7. Das wahre Li ist Shih selbst. Ein wahres Li sollte nicht außerhalb von Shih sein. Aus zwei Gründen. Erstens wegen des Prinzips von Dharmanairatmya [der Leere-der-Dharmas-vonSelbstheit]. Zweitens, da Shih sich auf Li gründen muß, ist [Shih] selbst hohl, ohne Substanz. Daher kann Li nur, wenn es mit Shih durch und durch identisch ist, als wahres Li betrachtet werden. [Um wieder das Gleichnis vom Wasser und den Wellen heranzuziehen:] Da das Wasser selbst die Wellen ist, gibt es keine von der Nässe getrennten Bewegungen. Das ist der Grund, warum wir sagen, das Wasser selbst ist die Wellen. Meditiere hierüber. 8. Dinge und Geschehnisse selbst sind Li. Alle Dinge und Geschehnisse (shih-fa) des abhängigen Entstehens sind leer von Selbstheit und daher durch und durch identisch mit der Realität [Li]. Ein Lebewesen ist daher an sich Soheit, ohne durch ein Erlöschen hindurchzugehen. Gleichermaßen: Wenn die Wellen sich bewegen, dann sind sie gleichzeitig mit dem Wasser vollkommen identisch, und es gibt nicht den geringsten Unterschied zwischen ihnen. 9. Das wahre Li ist nicht Shih. Das Li, das identisch mit Shih ist, ist nicht das Shih an sich, weil das wahre Li verschieden vom Illusorischen und das Wirkliche verschieden vom Unwirklichen ist; das, wovon etwas abhängt, ist verschieden von dem, was abhängt. Das Wasser, das identisch mit den Wellen ist, ist nicht die Wellen an sich, denn Bewegung und Nässe sind verschieden. 205
10. Dinge und Geschehnisse sind nicht Li. Das Shih - das im totalen Li verkörpert ist - ist nicht immer Li als solches, weil seine Form und seine Natur verschieden sind und weil das, was abhängt, nicht das ist, wovon es abhängt. Obwohl der ganze Körper [von Shih] im Li ist, können Dinge und Geschehnisse in aller Lebendigkeit in Erscheinung treten. Die Wellen - als das, was vollkommen im Wasser verkörpert ist - sind nicht immer das Wasser, denn die Bedeutung der Bewegung ist verschieden von der der Nässe. Alle obigen zehn Prinzipien haben Gütigkeit aufgrund des Abhängigen Entstehens. Sieht man Shih vom Standpunkt des Li aus, so findet man Formwerdung (chen) und Annullierung (huai), Einswerdung (ho) und Trennung (li). Sieht man Li vom Standpunkt des Shih aus, so findet man sowohl Offenbar-werden als auch Verhüllung, sowohl Eines als auch Viele. [In der großen Totalität daher:] Widerspruch und Übereinstimmung werden harmonisiert, ohne Einschränkung und ohne Behinderung, und alles entsteht gleichzeitig in allem. Man sollte dies ernsthaft meditieren, damit die Schau klar in Erscheinung treten kann. Man nennt dies die «Meditation der Harmonie und der Nicht-Behinderung von Li und Shih».
Dieser Absatz erinnert uns daran, daß das in Tu-shuns Abhandlung diskutierte Prinzip der Nicht-Behinderung von Li und Shih in erster Linie für einen spirituellen Zweck beschrieben wurde, nämlich um die Schau der Dharmadhatu in unserem Geist klar erscheinen zu lassen. Es handelt sich hier schließlich nicht um eine philosophische Untersuchung, sondern um eine Anweisung zur spirituellen Meditation. Der Schluß stellt fest, daß in der großen Totalität sogar alle Gegensätze und Übereinstimmungen harmonisch ausgeglichen sind. Absolute Harmonie im Sinne einer totalistischen Ausrichtung ist das Kennzeichen der Hua-yen-Dharmadhatu. KOMMENTAR:
Die Dharmadhatu der Nicht-Behinderung von Shih und Shih oder der «Kosmos der sich gegenseitig in innigster Verbindung durchdringenden und zusammenhängenden einzelnen Dinge» Bei der dritten Dharmadhatu, der Dharmadhatu von Li und Shih, haben wir gesehen, daß der Bereich der Nicht-Behinderung erreicht 206
wird, indem alles Shih zurückgeführt wird in Li, und zwar nicht nur als ein nicht-unterschiedenes Ganzes, sondern auch als eine totalistische Harmonie aller Gegensätze, die zugleich dynamisch und ohne jede Einschränkung ist. Zum Verständnis des Prinzips der Nicht-Behinderung ist dieser Denkprozeß der Rückführung unterschiedlicher Phänomene (Shih) in das Noumenon (Li) vielleicht notwendig, aber der Bereich der Nicht-Behinderung selbst bedarf - wenn er eine Tatsache ist - keiner solchen verstandesmäßigen Überlegungen für seine Existenz. Er ist einfach so. Das heißt, es bedarf keinerlei Rückführung von Shih in Li, um die Nicht-Behinderung von Shih und Shih (shih-shih wu-ai) zu begründen, die die höchste und einzige Dharmadhatu darstellt, die in Wahrheit existiert. Die anderen drei Dharmadhatus - die Dharmadhatu des Shih, die des Li und die der Nicht-Behinderung von Li und Shih - sind nur erklärende Hilfen auf dem Weg zur vierten Dharmadhatu, der des Shih-shih wuai. Sie besitzen keine unabhängige Existenz. Die einzige Dharmadhatu, die wirklich existiert, ist Shih-shih wu-ai, und auf seiner Ebene geht jedes einzelne individuelle Shih in jedes andere Shih ein und verschmilzt mit ihm in vollkommener Freiheit ohne die Hilfe von Li. Diese NichtBehinderung von Shih und Shih wird von Fa-tsang und Chih-yen in den sogenannten Zehn Nicht-Behinderungen oder den Zehn Mysterien näher erläutert. Zum leichteren Verständnis des Shih-shih wu-ai seien zunächst Ch'eng-kuans Erklärungen der Bedeutung der Nicht-Behinderung aus seiner Abhandlung Ein Prolog zum Hua-yen13 zitiert.
Die Nicht-Behinderung der Totalität in vollkommener Freiheit (yüan-t'ung wuai) besagt, daß der wahre Leib des Buddha Li und auch Shih ist; er ist einer und auch viele; er ist der Bewohner und auch die Welt, die bewohnt wird. Er ist der Mensch, der lehrt, und auch der Dharma, der gelehrt wird. Er ist identisch mit diesem und auch mit jenem; gleichermaßen mit lebenden und nicht-lebenden Wesen. Er ist ebenso tief wie ungeheuer weit. Er ist die Ursache wie auch die Wirkung ... Das heißt, daß der wahre Leib des Buddha Vairochana die ungeheure Dharmadhatu selbst ist. Nichts ist verschieden von ihm. Keine göttliche Offenbarung ist notwendig, um seine gleichzeitige Identität mit allen Wesen zu bestätigen, da sich nichts außerhalb der Umschlossenheit vom Dharmadhatu-Leib befindet. ...
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«Er ist einer und auch viele» kann auf zwei Arten interpretiert werden: entweder als der eine Wirklichkeitskörper (dharmakaya), der vollkommen identisch ist mit den zahllosen Verwandlungsleibern (nirmanakaya), oder als das Offenbarwerden eines leiblichen Buddha an einem Ort, was notwendigerweise das Offenbarwerden anderer leiblicher Buddhas an anderen Orten einschließt, da der eine identisch ist mit den vielen anderen Leibern. ... Da er alles umschließt und sich wie der Raum in alle Richtungen erstreckt, nennen wir ihn ungeheuer weit, und weil er über alle Formen und Gestalten und sogar über die Leere hinausgeht, nennen wir ihn tief. ... «Er ist die Ursache wie auch die Wirkung» heißt, daß es [im Licht des Shih-shih wu-ai] keine Ursache gibt, die als wahrhaft verschieden von der Wirkung betrachtet werden kann - und umgekehrt.
Es ist klar, daß diese vollkommen freie Nicht-Behinderung der Totalität oder des Shih-shih wu-ai einfach eine Ausweitung des Grundprinzips der wechselseitigen Identität ist. In einer bis ins einzelne gehenden Formulierung wird das in den sogenannten Zehn Nicht-Behinderungen herausgearbeitet (siehe dazu auch Seite 191 f.). 1. Die 2. Die 3. Die 4. Die 5. Die
Nicht-Behinderung von Wesen und Form. Nicht-Behinderung von Größe und Kleinheit. Nicht-Behinderung des Einen und der Vielen. Nicht-Behinderung der gegenseitigen Durchdringung. Nicht-Behinderung der wechselseitigen Identität.
6. Die Nicht-Behinderung des Verborgenen und des Enthüllten. 7. Die Nicht-Behinderung der subtilen Dinge. 8. Die Nicht-Behinderung von Indras Netz. 9. Die Nicht-Behinderung der Zehn Zeiten. 10. Die Nicht-Behinderung von Gastgeber und Gast.
In geringfügiger Abänderung werden diese Zehn Nicht-Behinderungen die Zehn Mysterien genannt. 1. Das Mysterium der gleichzeitigen Vollkommenheit bei gegenseitiger Entsprechung. 2. Das Mysterium der Nicht-Behinderung von Größe und Kleinheit. 3. Das Mysterium der gegenseitigen Verträglichkeit des Einen und der Vielen in den Verschiedenheiten. 4. Das Mysterium der wechselseitigen Identität aller Dharmas in Freiheit.
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5. Das Mysterium der Behauptung von Verbergen und Enthüllen im Geheimen. 6.Das Mysterium des wechselseitigen Enthalten-Seins der subtilen Dinge. 7.Das Mysterium des Bereichs von Indras Netz. 8.Das Mysterium der Veranschaulichung der Wahrheit durch Phänomene. 9.Das Mysterium der verschiedenen Erscheinungsformen der Zehn Zeiten. 10. Das Mysterium des vollkommen erleuchtenden Gastgebers und der Gäste.14
Ohne auf Einzelheiten einzugehen, kann man sofort erkennen, daß die Zehn Nicht-Behinderungen und die Zehn Mysterien synonyme - wenn nicht sogar identische - Konzepte sind. Die Erläuterung einer Folge genügt daher für beide Fassungen. Wir wollen die zweite wählen, weil sie populärer und besser bekannt ist. Es muß hier darauf hingewiesen werden, daß die sogenannten Zehn Mysterien praktisch auf fünf oder sechs Prinzipien zurückgeführt werden können. Es gibt keinen zwingenden Grund, gerade zehn daraus zu machen, es sei denn die große Vorliebe der Hua-yen-Philosophen für diese «Glück verheißende und vollkommene Zahl», die in keiner ihrer Schriften fehlen durfte. Diese etwas zwanghafte Methode, die ihren Ursprung im Hua-yen-Sutra selbst hat, führt zu einem künstlichen Stil, der den lebendigen Geist dieser Schriften manchmal so weit zurückgedrängt hat, daß sie langweilig wirken. Die Zehn Mysterien könnten bequem auf fünf oder sechs reduziert werden, ohne daß dadurch ihre Bedeutung geschmälert würde. Sie sollen nun in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit kommentiert werden. Erläuterung der Zehn Mysterien Das Mysterium der gleichzeitigen Vollkommenheit hei Entsprechung. In Fa-tsangs Aufsatz Über den Goldenen Löwen lesen wir: «Das Gold und der Löwe behaupten sich gleichzeitig. Sie sind beide vollkommen und vollständig [in allen Aspekten]. Dies nennt man das Prinzip der gleichzeitigen Vollkommenheit bei gegenseitiger Entsprechung.» Dies ist das Hauptprinzip unter den Zehn Mysterien; die anderen ERSTENS:
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neun dienen nur zur Erläuterung dieses Grundprinzips. Es kann entweder als Darstellung des Prinzips der Nicht-Behinderung von Li und Shih oder als die Nicht-Behinderung von Shih und Shih interpretiert werden. Im ersten Fall wird das Gold als Li oder Noumenon und der Löwe als Shih oder das Phänomenon betrachtet; die beiden sind wechselseitig voneinander durchdrungen und miteinander identisch. Da jedoch alle diese Zehn Mysterien Erläuterungen des Shih-shih wuai sind, wäre eine noch bessere Interpretation die folgende: In der unendlichen Dharmadhatu enthält jedes Ding (Shih) gleichzeitig stets alle anderen Shih und das Li in vollkommener Vollständigkeit, ohne daß irgend etwas fehlt und ohne die geringste Ausnahme. Ein Objekt sehen heißt daher alle Objekte sehen und umgekehrt. Also: Ein kleinstes einzelnes Teilchen im winzigen Kosmos eines Atoms enthält tatsächlich die unendlichen Objekte und Prinzipien in den unendlichen Universen der Zukunft und der entferntesten Vergangenheit (sowohl der weltlichen als auch der transzendentalen Kategorien) in vollkommener Vollständigkeit und ohne etwas auszulassen. Das schließt nicht nur die Nicht-Behinderung von Raum und Zeit ein, sondern, was noch bedeutsamer ist, auch die gleichzeitige Existenz aller Ursachen und Wirkungen. Auf der Ebene des Shih-shih wu-ai müssen alle Ursachen und Wirkungen, ungeachtet der Art und des Bereichs, gleichzeitig ohne Behinderung oder Auslassung bestehen.15 Ist das als eine Art von absolutem Determinismus zu betrachten? Vom Blickpunkt des Menschen aus scheint dies der Fall zu sein. Wie können Wirkungen in der Zukunft in die Vergangenheit zurückgeführt werden, ohne daß sie determiniert wären? Hier begegnen wir wieder der vertrauten Svabhava-Denkweise: Determiniertheit geht allen Dingen und Geschehnissen voraus. Die Nicht-Behinderung der Zeit ist tatsächlich noch schwerer vorstellbar als die Nicht-Behinderung des Raumes. Fa-tsang gibt folgenden Kommentar zu diesem ersten Prinzip. Das Mysterium der gleichzeitigen Vollkommenheit bedeutet, daß alle die oben erwähnten zehn Prinzipien16 sich gleichzeitig und in gegenseitiger Entsprechung behaupten und damit ein [totalistisches] Entstehen in Abhängigkeit begründen, das den Unterschied von Vergangenheit oder Zukunft, Anfang oder Ende nicht kennt. Auf dieser Ebene entsteht alles in vollkommener Folgerichtigkeit und Freiheit. Dieses totalistische abhängige Entstehen läßt 210
alle Dinge und Prinzipien sich gegenseitig durchdringen, ohne daß ihre Ordnung in irgendeinem bestimmten Bereich gestört würde. Kraft des Meeresspiegel-Samadhi tritt jetzt alles und jedes [in der Dharmadhatu] gleichzeitig ins Blickfeld gleich Spiegelungen in einem Spiegel. ZWEITENS:
Das Mysterium der wunderbaren Projektion von «Geist
allein». Die einfachste und leichteste Art, die Dharmadhatu des Shih-shih wu-ai zu begründen, ist durch dieses Prinzip, denn alle Zehn Mysterien können ihre Rechtfertigung durch dieses eine Prinzip finden. Yungming, der große Zen-Meister aus der Zeit der Sung-Dynastie, verfaßte ein hundert Bände zählendes Meisterwerk Über den Zen-Spiegel (Tsungchin lu), in dem er praktisch nichts anderes als die «Nur-Geist-Lehre» betonte. In seinem Kommentar zu den Zehn Mysterien im Lichte der Nur-Geist-Lehre macht Yung-ming die folgende Feststellung.17 Alle die Zehn Mysterien gründen in diesem einen Prinzip der wunderbaren Projektion des Geistes. Die Zehn Mysterien gehen in keiner Weise über die NurGeist-Lehre hinaus. So entspricht zum Beispiel der «Geist der Gleichheit» dem Element des Einen; wogegen der «Geist der Verschiedenheit» dem Element des Vielen entspricht. Insofern als dieser Eine Geist jeder einzelne Geist ist, wird das Prinzip der Identität und der gegenseitigen Entsprechung erkannt. Insofern als jeder einzelne Geist in diesen Einen Geist eingeht, wird das Prinzip der gegenseitigen Durchdringung erkannt. Wenn der Eine Geist jeden einzelnen Geist in sich aufnimmt, ist das ein Verbergen, und wenn jeder einzelne Geist den Einen Geist stützt, ist das ein Enthüllen. Nicht gegen den Geist der Verschiedenheit verstoßen und dennoch den Geist der Gleichheit sichtbar machen, das ist die Bedeutung des Einen in den Vielen; nicht gegen den Geist der Gleichheit verstoßen und dennoch den Geist der Verschiedenheit sichtbar machen, das ist die Bedeutung der Vielen in dem Einen. Der subtile Geist behindert weder den gewaltigen und mächtigen Geist noch der gewaltige den subtilen; das ist die Bedeutung der Behauptung des Unterschiedes zwischen dem Einen und den Vielen. Der Eine Geist ist rein, und der Geist der Verschiedenheit ist vermischt; da dieser wahre Eine Geist aber auch eben derselbe Geist der Verschiedenheit ist, ist das Reine das Vermischte und umgekehrt. Das ist die Bedeutung des Prinzips der reinen und der gemischten Eigenschaften. Der Eine Geist kann alle einzelnen Geister in sich vereinen und sie zu dem Einen Geist zurückfüh211
ren; das ist die Bedeutung von Indras Netz. Die Außenwelt ist eine Projektion des Geistes, und aus dieser projizierten Welt kann man auch den Wahren Geist erkennen. Dies ist das Prinzip des Verwendens der phänomenalen Dinge, um die Wahrheit zu erhellen. Die schnellen und die langsamen, die langen und die kurzen Kalpas entstehen alle durch die Anhäufung von Gedanken und werden von diesem Einen Geist projiziert. Das ist die Bedeutung der Zehn Zeiten. Unbegreifliche Dharmas können kraft der Wahrheit dieses Einen Geistes gelehrt werden. Die Menschen werden so schließlich zum Bereich des Absoluten hingeführt, der jenseits aller Worte und Gedanken liegt.
Feng Yu-lan benutzt zur Erklärung der Zehn Mysterien in seinem Kommentar zum Traktat vom Goldenen Löwen ebenfalls diesen einfachen Weg, indem er sich ganz auf die Nur-Geist-Lehre stützt. Das Mysterium der gegenseitigen Verträglichkeit des Einen und der Vielen in den Verschiedenheiten. Ta-tsang kommentiert das in seiner Abhandlung Über den Goldenen Löwen.18 DRITTENS:
Das Gold und der Löwe sind in ihrer jeweiligen Behauptung miteinander vereinbar. Es gibt keine Gegensätzlichkeit zwischen dem Einen und den Vielen. Innerhalb dieser [totalen und harmonischen Verschmolzenheit] behält jedoch Li und jedes Shih seine eigene individuelle Stellung und Existenz und bleibt das Eine oder das Viele, ohne daß Unordnung oder Verwirrung entstünde.
Das absolute Li ist eines, aber der phänomenalen Shih sind viele, und doch ist jedes Shih eine Manifestation des Li. Daher ist das Eine die Vielen, und die Vielen sind das Eine. Obwohl das Eine und die Vielen wechselseitig vereinbar sind oder gar identisch, bedeutet dies weder das Zunichtewerden des «Einen» noch der «Vielen». Im Gegenteil, aufgrund des Leerseins von Selbstheit können sowohl das Eine wie auch die Vielen sich ohne Behinderung behaupten. Dies ist die Bedeutung der gegenseitigen Verträglichkeit des Einen und der Vielen in den Verschiedenheiten. Chih-yen stellt in seinem Buch Die Zehn Mysterien der Lehre vom Einen Fahrzeug des Hua-yen19 fest:
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Wenn man [die Zahlen eins bis zehn] als Metapher zur Veranschaulichung der Lehre benützt und [wiederholt] von eins bis zehn und dann wieder zurück von zehn bis eins zählt, [dann wird man bald erkennen, daß] die Zehn schon in der Eins ist und die Eins auch schon in der Zehn. Gerade weil die Eins die Zehn enthält, ist das Wort «Eins» bedeutungsvoll. Wenn es keine «Zehn» gäbe, dann würde es auch keine «Eins» geben. [Das heißt, wenn es nur ein einziges «Eines» im ganzen Universum gäbe, dann würde dieses sogenannte «Eine» bedeutungslos sein. Der wahre Sinn dieses «Einen» hängt daher von den Vielen ab.] Aufgrund ihres leeren Wesens können die Kausalitäten entstehen. ... [Andererseits], wenn Eins in seiner Selbstheit allein existierte, dann wäre die Entstehung von Zehn [oder der Vielen] unmöglich. Wenn es keine Zehn [oder die Vielen] gäbe, dann wäre auch die Entstehung des Einen unmöglich.
Und in derselben Abhandlung lesen wir:20 FRAGE: Wenn Eins schon die Zehn selbst ist, warum besteht dann überhaupt noch eine Notwendigkeit für die Existenz von Zehn? Und wenn sie besteht, würde dann nicht das Ganze selbst sinnlos? ANTWORT: Wenn wir sagen «Eins ist identisch mit Zehn», dann ist dieses «Eine» nicht dasselbe wie das «Eine», an das die Menschen gewöhnlich dabei denken, sondern ein «Eines» des abhängigen Entstehens (yüan-chen i). Das Sutra sagt: Das Eine ist nicht das Eine [wie die Menschen es sehen]; es wird nur gelehrt, um die Vorstellung von Zahlen zu zerstören. Mit ihrer oberflächlichen Intelligenz halten die Menschen alle Dinge fest. ... Ihr anhaftender, unwissender Geist hält «Eins als Eins für gesichert».
Diese Strophe macht jedoch nicht klar, was dieses «Eine des abhängigen Entstehens» ist; nichtsdestoweniger wird jedoch ausdrücklich festgestellt, daß das irrige «Eine» der Menschen auf beharrlichem und unnachgiebigem Festhalten basiert, das sich als eine tief eingewurzelte Neigung manifestiert, «Eins als ganz sicher Eins» zu betrachten. Fa-tsang gibt dazu folgenden Kommentar:21
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Das sogenannte «Eine» ist nicht das Eine-mit-Selbstheit (svabhava); [es ist das Eine des] abhängigen Entstehens; wenn wir daher sagen, Eins enthält Zehn [oder Eins ist identisch mit Zehn], dann meinen wir damit das «Eine» des abhängigen Entstehens. Wenn es nämlich das «Eine» mit Selbstheit wäre, dann würde es ein «Eines» der Selbst-Genügsamkeit und Sonderung sein, das alle anderen Möglichkeiten und Alternativen ausschließt; ein solches Svabhava-Eines, falls es überhaupt existiert, würde sicher der Wahrheit des bedingten Entstehens widersprechen. Außerdem würde ein Svabhava-Eines notwendigerweise die ursprüngliche Bedeutung und Funktion des Wortes «Eins» aufheben und zunichte machen. Es ist daher nicht das wahre «Eine», sondern ein willkürliches [trügerisches] «Eines». Das «Eine», das wirklich Bedeutung hat, ist das «Eine» des bedingten Entstehens, jenes Eine, das umschlossen wird und identisch ist mit den Vielen. Kurz: Dem bedingt entstandenen Ganzen den Aspekt der Einzigkeit oder Multiplizität zu entnehmen ist, was wir das Eine oder das Viele des bedingten Entstehens nennen. FRAGE: Wenn alles leer und ohne Selbst-Sein oder Selbstheit ist, wie ist dann dieses sogenannte «Eine» oder «Viele» überhaupt möglich? ANTWORT: Im Gegenteil: Gerade weil alle Dinge leer von Selbst-Sein sind, kann der Kausalzusammenhang zwischen dem Einen und den Vielen hergestellt werden. [Oder, um die Frage anders zu beantworten, es ist gerade dank] der dynamischen Kraft des bedingten Entstehens, die sich stets gemäß der Dharmadhatu manifestiert, daß [die Dinge entstehen und dennoch gleichzeitig leer sein können]. Daher verstärken Eins und Viele einander immer, ohne daß es dabei zu einer Störung oder Schädigung des einen oder des anderen käme.22 Das Vimalakirti-Sutra sagt: Aufgrund des Nicht-Dauerns können alle Dharmas entstehen. Auch die Madhyamaka-Karika sagt: Dank der Wahrheit der Leere können alle Dharmas entstehen.
Das Mysterium der verschiedenen Erscheinungsformen der Zehn Zeiten. Fa-tsang gibt dazu in seiner Abhandlung Über den Goldenen Löwen23 den folgenden Kommentar. VIERTENS:
Der Löwe ist ein Dharma, entstanden aufgrund von Ursachen und Bedingungen. Er entsteht und vergeht in jedem Augenblick (kshana). Jeder dieser Augenblicke läßt sich in die Drei Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und
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Zukunft, teilen; und jede dieser Zeiten kann abermals in drei weitere Zeitabschnitte von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterteilt werden. Auf diese Weise existieren neun Zeiten, die zusammen ein vollständiges Dharma-Tor [zur Wahrheit] bilden. Obwohl [von einem gewissen Standpunkt aus] diese neun Zeiträume voneinander getrennt sind und ihre eigenen Erscheinungsformen behalten, sind sie [in Wirklichkeit] alle in dem einen großen Augenblick harmonisch und gleichzeitig ohne Behinderung verschmolzen. Das ist das Mysterium der verschiedenen Erscheinungsformen der Zehn Zeiten.
In seinem Hua-yen i-hai pei-men stellt Fa-tsang folgendes fest:24 Was das harmonische Verschmelzen eines Augenblicks mit den kosmischen Weltaltern betrifft, ... da der einzelne Augenblick keine eigene Substanz besitzt, wird er mit den großen Weltaltern austauschbar. Da die großen Äonen keine Substanz besitzen, umfassen auch sie den einzelnen Augenblick. Da beide, sowohl der einzelne Augenblick als auch die großen Zeitalter, keine Substanz besitzen, verschmelzen all die Kennzeichen der Länge und der Kürze [in einer großen Harmonie], und all die Universen, die fernen und die nahen, all die Buddhas und Lebewesen und alle Dinge und Geschehnisse in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft treten gleichzeitig in Erscheinung. Warum ist das so? Weil alle Dinge und Geschehnisse Projektionen des Einen Geistes sind. [Da die Zeit von den Geschehnissen untrennbar ist]: Wenn ein Augenblick nicht-gegensätzlich wird, werden alle Dharmas [automatisch] harmonisch verschmelzen. Das ist der Grund, warum alle Dinge und Geschehnisse in den Drei Zeiten in einem Augenblick erscheinen, wie im Sutra geschrieben steht: Ein Augenblick ist gleich Hunderttausenden von Äonen, und Hunderttausende von Äonen sind gleich einem Augenblick.
Sowohl Fa-tsang in seiner Abhandlung Die Grundidee des Hua-yenSutra als auch Yung-Ming in seinem Aufsatz Über den Zen-Spiegel verwenden die Lotosblüte als Bild zur Verdeutlichung des Prinzips der Zehn Mysterien. Dieses Bild stammt ursprünglich aus dem Kapitel über die Zehn Dhyanas des Hua-yen-Sutra. «O Sohn des Buddha, dieser Bodhisattva besitzt eine Lotosblüte; ihre ungeheure Größe erstreckt sich bis an die Grenzen der Zehn Himmelsrichtungen. ... Wenn sie erblickt wird, erweisen alle Lebewesen ihr tiefste Ehrfurcht, indem sie ihr huldigen und sich vor ihr verneigen.» In seinem Prolog zum Huayen25 gibt Ch'eng-kuan dazu folgenden Kommentar: 215
Da diese Blüte allgegenwärtig ist, umschließt sie auch alle Zeiten: die Drei Zeiten und deren dreifache Unterteilung sowie wenn sie alle in einem Au-genblick zusammenfließen, was die Gesamtheit der Zehn Zeiten ausmacht. Zeit ist keine Entität an sich; [diese Vorstellung] von Zeit entsteht erst durch die Beobachtung eines Objekts, [in diesem Fall] der Blüte. Da die Blüte nicht-behindernd wird, wird auch die Zeit nicht-behindernd. Das Sutra sagt: Die unendlichen Kalpas der Vergangenheit können alle in die Gegenwart und in die Zukunft gestellt werden; und die unendlichen Kalpas der Zukunft können in die Vergangenheit [und auch in die Gegenwart] gestellt werden. ... In der Vergangenheit ist die Zukunft und in der Zukunft die Gegenwart. ... Die unendlichen Kalpas sind nur ein Augenblick, und dieser Augenblick ist die unendlichen Kalpas. ... Wer dies erkennt, der weiß: Die unzähligen Kaipas sind nur ein einziger Augenblick, und dieser Augenblick ist kein Augenblick: So erkennt man die Wirklichkeit des Universums.
Hier sehen wir, daß die Lehre von der Nicht-Behinderung der Zehn Zeiten wieder auf zwei Prinzipien beruht: dem gegenseitigen Ineinander-Eingehen und der wechselseitigen Identität. Aufgrund des gegenseitigen Ineinander-Eingehens kann die Vergangenheit in die Gegenwart und die Zukunft eingehen und umgekehrt. Aufgrund der wechselseitigen Identität können die Drei Zeiten in dem einen Augenblick der «ewigen Gegenwart» «enthalten» sein oder «aufgelöst» werden, der in Wirklichkeit ein Augenblick ohne Augenblick ist oder ein Augenblick totaler Freiheit von allen Fesseln und Begrenzungen.
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Das Mysterium der Behauptung von Verbergen und Enthüllen im Geheimen. Fa-tsang kommentiert dies in seinem Traktat Über den Goldenen Löwen: FÜNFTENS:
Wenn wir auf den Löwen [als Löwen] schauen, gibt es nur den Löwen und kein Gold. Der Löwe ist enthüllt, aber das Gold ist verborgen. Wenn wir auf das Gold schauen, dann ist da nur Gold, aber kein Löwe; also, das Gold ist enthüllt, aber der Löwe ist verborgen. Wenn wir auf beide gleichzeitig schauen, dann sind sie sowohl enthüllt wie auch verborgen. Sind sie verborgen, so sind sie geheim; sind sie enthüllt, so sind sie evident. Das nennt man die Behauptung von Verbergen und Enthüllen im Geheimen.
Wegen der philosophischen Bedeutung dieses Punktes sei noch einmal auf das Mond-Gleichnis von Ch'eng-kuan in seinem Prolog zum Huayen (s.S. 142f.) hingewiesen.26 Normalerweise wird entweder «dieser» oder «jener» Aspekt einer organischen Gesamtheit betont, weil das dem gewöhnlichen Denken des Menschen entspricht. Nach dem Prolog zum Hua-yen sollten vier Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen «diesem» und «jenem» in Betracht gezogen werden. Erstens: Wenn wir «dieses» betonen oder wenn «dieses» «jenes» umschließt, dann ist «dieses» enthüllt und «jenes» bleibt verborgen. Zweitens: Wenn «jenes» betont wird oder wenn «jenes» «dieses» umschließt, dann ist «jenes» enthüllt und «dieses» bleibt verborgen. Drittens: Die Tatsache, daß - in dem Augenblick, in dem «dieses» «jenes» umschließt - der Prozeß, durch den «jenes» «dieses» umschließt, nicht behindert wird, ist ein Beweis für die Wahrheit der Gleichzeitigkeit von Enthüllen und Verbergen. Viertens: Im gleichen Augenblick, in dem «dieses» «jenes» umschließt, was der Enthüllung von «diesem» entspricht, umschließt auch «jenes» «dieses»; daher kann das erste nicht als [die absolute] Enthüllung betrachtet werden. Wir sprechen daher aus dieser Sicht davon, daß die Enthüllung verschwunden ist. [Demselben Gedankengang folgend gilt auch,] wenn «jenes» von «diesem» umschlossen wird, was dem Verbergen von «jenem» entspricht, dann umschließt «jenes» auch gleichzeitig «dieses», das nicht verborgen ist; daher ist auch das Verborgene verschwunden. Wir sprechen also davon, daß es sich weder um Enthüllen noch um Verbergen handelt.27
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Diese Stelle ist ein besonders typisches Beispiel für die totalistische Denkweise des Hua-yen. Ihre Bedeutung für das Verständnis der Huayen-Philosophie kann nicht genug betont werden. Wenn die Nicht-Behinderung von Enthüllen und Verbergen auf die Urprinzipien Li und Shih angewendet wird, so sind damit zehn Betrachtungsweisen gegeben. Fa-tsang kommentiert das in seiner Schrift Das Erwecken des Erleuchtungsgedankens in der Hua-yen-Lehre folgendermaßen:28 Zehn Gesichtspunkte sind festzuhalten: 1. Wenn das abstrakte Prinzip [Li] als Stütze eines Geschehnisses [Shih] angesehen wird, dann ist das Prinzip verborgen [weil das Geschehnis enthüllt ist]. 2. Wenn ein Geschehnis als identisch mit dem abstrakten Prinzip betrachtet wird, dann ist das Prinzip enthüllt [weil das Geschehnis verborgen ist]. 3. Weil das Prinzip und das Geschehnis untrennbar sind, bestehen beide, das Verborgene wie das Enthüllte, gleichzeitig. 4. Wenn das Prinzip und das Geschehnis als einander gegenseitig negierend betrachtet werden, dann kann sich weder das Enthüllte noch das Verborgene manifestieren. 5. In dem Maße, in dem das Prinzip das Geschehnis «stützt», ohne sich selbst zu verlieren, ist das Verborgene selbst das Enthüllte. 6. In dem Maße, in dem das Geschehnis erschöpft wird, ohne andere Geschehnisse dadurch zunichte zu machen, ist das Enthüllte das Verborgene. 7. In dem Maße, in dem die beiden vorhergehenden Prinzipien niemals voneinander getrennt sind, sind das Enthüllte und das Verborgene identisch. 8. In dem Maße, in dem sich das Prinzip und das Geschehnis gegenseitig negieren, werden sie beide zunichte, und weder das Enthüllte noch das Verborgene ist möglich. 9. In dem Maße, in dem die vorhergegangenen acht Prinzipien alle an demselben Li [Wahrheit] teilhaben, ohne einander zu behindern, sind sie alle gleichzeitig enthüllt. 10. In dem Maße, in dem diese Prinzipien einander gegenseitig negieren, sind alle Behauptungen zunichte; daher ist das Eins-Sein dieser Prinzipien ein und dasselbe wie das Nicht-Eins-Sein. SECHSTENS:
Kleinheit.
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Das Mysterium der Nicht-Behinderung von Größe und
Dieses Prinzip wählte Fa-tsang, um Chih-yens ursprünglich zweites Prinzip der reinen und gemischten Eigenschaften zu ersetzen. Um dieses Prinzip zu erläutern, gebraucht Ch'eng-kuan wieder das Bild von der Lotosblüte:29 Das Sutra sagt: «Dieser Bodhisattva besitzt eine Lotosblüte; ihre ungeheure Größe erstreckt sich bis an die Grenzen der Zehn Himmelsrichtungen. ... Wenn sie erblickt wird, erweisen alle Lebewesen ihr tiefste Ehrfurcht, indem sie ihr huldigen und sich vor ihr verneigen.» Diese Lotosblüte erstreckt sich bis an den äußersten Rand aller Dharmadhatus, und doch tut sie dadurch ihrer eigenen Stellung keinen Abbruch. Weil ein Teil ein Nicht-Teil ist und ein Nicht-Teil ein Teil, können sowohl Größe wie Kleinheit frei sein, ohne Gegensätzlichkeit oder Behinderung. In Hinsicht auf dieses Bild lassen sich vier Überlegungen anstellen: 1. Es symbolisiert die einzigartige Unendlichkeit: Die Lotosblüte erstreckt sich bis an die Grenzen aller Zehn Himmelsrichtungen. 2. Es symbolisiert Begrenzung und Verschiedenheiten: Es gibt Lebewesen, die, wenn sie die Blüte von «außen» sehen, ihr ehrfürchtig huldigen. 3. Es schließt ein, daß Unendlichkeit dasselbe ist wie Begrenztheit: Das unendliche Li ist genau dasselbe wie das begrenzte Shih. 4. Es schließt die Annullierung von Unendlichkeit sowie Begrenztheit ein: Vom Standpunkt der Shunyata aus existiert keines von beiden wirklich.
In derselben Abhandlung stellt Ch'eng-kuan noch weiter fest: Die sogenannte «Kleinheit» ist das, was - da es in sich keinen Raum hat - kein Innen besitzt; die sogenannte
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Das Große muß das Kleine enthalten, um groß genannt zu werden, und das Kleine muß das Große enthalten, um klein genannt zu werden. Da sie keine Selbstheit besitzen, können das Große und das Kleine einander gegenseitig enthalten. Da sie keine isolierte Existenz besitzen, können auch das Weite und das Enge einander gegenseitig enthalten. Daher wissen wir, daß das sogenannte «Große» das Große des Kleinen ist und das sogenannte «Kleine» das Kleine des Großen. Das Kleine verfügt über kein bestimmtes Wesen, da es sich sogar so weit ausdehnt, daß es die Zehn Himmelsrichtungen bedeckt, und das Große verfügt über keine bestimmte Gestalt, da alle Zeitalter in einem Augenblick lebendig enthüllt werden. Da das sehr Kleine das sehr Große ist, ist der Berg Sumeru in einem Senfkorn enthalten; und da das sehr Große das sehr Kleine ist, ist der Ozean in einem Haar enthalten. Wenn ihre Selbstheit nicht annulliert wäre, wie könnten sie ohne Behinderung ineinander eintreten und wieder herauskommen? Andererseits, da sie alle ihre ursprüngliche Form behalten, können sie sich ohne Behinderung ausdehnen und wieder einfalten.
Das Mysterium des Bereichs von Indras Netz. Dies ist eigentlich eine Wiederholung des Prinzips der Nicht-Behinderung von Größe und Kleinheit. Im Hua-yen-Sutra heißt es, daß hoch oben im Himmel, auf dem Dach des Palastes des Gottes Indra, unzählige Ornamente in Form von kleinen kristallenen Kugeln hängen. Sie sind nach verschiedenen Mustern verwoben und bilden ein großes komplexes Netzwerk. Aufgrund der Reflexion des Lichtes spiegelt eine jede dieser Kugeln nicht nur den gesamten Kosmos - einschließlich der Kontinente und Ozeane der Welt der Menschen - wider, sondern gleichzeitig auch alle anderen Kugeln einschließlich aller in den anderen Kugeln gespiegelten Bilder, ohne irgend etwas auszulassen. Das ist eine Parallele zur Darstellung der gegenseitigen Durchdringung von «Bereich-in-Bereich» im Bild der Spiegelreflexionen, das Fa-tsang der Kaiserin Wu gab.30 Ch'eng-kuan gibt dazu in seinem Prolog zum Huayen den folgenden Kommentar: SIEBTENS:
Da ein Sonnenstäubchen [identisch mit und eine] Ausprägung der letzten Wirklichkeit ist, kann es alle Dinge enthalten. ... Da alle Universen, die in einem Sonnenstäubchen enthalten sind, ebenfalls Ausprägungen der Wirklichkeit sind, enthalten auch sie alle anderen Universen. Das läßt sich unendlich fortsetzen, und so gibt es Bereiche, die andere Bereiche umschließen ad
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infinitum. Diese Wahrheit kann sowohl die Demonstration der Spiegel-zu-Spiegel-Spiegelungen als auch das Bild von den Kristallkugeln in Indras Netz veranschaulichen. ... Die unzähligen Bilder, die sich in einer Kugel spiegeln, sind den unendlichen Universen zu vergleichen, die in einem Sonnenstäubchen enthalten sind. Das ist aber nur der erste Bereich. Wenn jede Kugel [samt deren Spiegelungen] in allen anderen Kugeln erblickt wird und umgekehrt, dann ist das Ineinander von Bereichen in Bereichen ad infinitum in Sicht gekommen.31
In seiner Abhandlung Über den Goldenen Löwen erklärt Fa-tsang dazu: In jedem Auge, jedem Ohr, jedem Gelenk und jedem Haar des Löwen gibt es einen goldenen Löwen. Alle Löwen in all den Haaren gehen gleichzeitig in ein einziges Haar ein, und doch gibt es in jedem Haar [der Löwen] wieder eine unendliche Zahl von Löwen. Umgekehrt bringt jedes Haar diese unendliche Zahl von Löwen zurück in das [ursprüngliche] einzelne Haar. In dieser Weise gibt es eine ohne Ende weitergehende Folge von Bereichen, die Bereiche umschließen gleich den Edelsteinen in Indras Netz. Das wird das Mysterium des Bereichs von Indras Netz genannt.32
Das Mysterium der Nicht-Behinderung der subtilen Dinge. Das ist eine Neuformulierung des Prinzips, daß unermeßliche Universen in einem Atom oder einem Sonnenstäubchen existieren und daß in einem jeden Sonnenstäubchen dieser Universen wieder unermeßliche Universen existieren. So ergibt sich die Sicht auf Bereiche, die ad infinitum andere Bereiche umschließen. Der Begriff «die subtilen Dinge» ist nach Ch'eng-kuan auf die unendliche Kleinheit und «Subtilität» dieser Sphäre zurückzuführen, die sich weit über die Grenzen des menschlichen Begreifens hinaus erstreckt. In dem Aufsatz Über den Goldenen Löwen lesen wir: ACHTENS:
Das Gold und der Löwe können als das Enthüllte oder das Verborgene, als das Eine oder die Vielen, das Reine oder das Vermischte, das Starke oder das Schwache gesehen werden. Das Eine ist das Andere, der Gastgeber und der Gast tauschen ihr strahlendes Licht aus. Li und Shih zeigen sich in gleicher Weise. Sie sind miteinander vereinbar; keiner behindert im geringsten die Gestaltung des anderen. Das gilt auch im Bereich des Winzigen und des
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Subtilen und wird das Mysterium der Nicht-Behinderung der subtilen Dinge genannt.33
Das Mysterium der wechselseitigen Identität aller Dharmas (Dinge) in Freiheit. Das ist eine Neuformulierung des Grundprinzips der beiderseitigen Identität. In der Abhandlung Über den Goldenen Löwen liest man dazu: NEUNTENS:
All die verschiedenen Organe des Löwen bis zu jeder Haaresspitze hin umfassen den Löwen insoweit, als sie alle Gold sind. Jedes einzelne von ihnen durchdringt dabei in seiner Umschließung vollständig die Augen des Löwen. Die Augen sind die Ohren, die Ohren sind die Nase, die Nase ist die Zunge, und die Zunge ist der Körper. In dieser Weise bestehen sie alle in vollkommener Freiheit und ohne jede Behinderung oder Gegensätzlichkeit.34
Das Mysterium des vollkommen erleuchtenden Gastgehers und der Gäste. Dieses Prinzip betont die Tatsache, daß nichts nur durch sich selbst ins Sein kommen kann. Gemäß dem Prinzip des abhängigen Entstehens treten die Dinge aufgrund einer Reihe von Faktoren in Erscheinung. Ein Hauptsubjekt verdankt seine Existenz den zusammentreffenden Faktoren und umgekehrt. Bei einem bestimmten Geschehnis in einem bestimmten Bereich und mit einer bestimmten Orientierung ist jedoch nicht mehr als ein Subjekt erlaubt, wenn nicht die phänomenale Ordnung verletzt oder null und nichtig werden soll. Hier ist die Orientierung nicht synthetisch, sie ist analytisch; sie folgt nicht der üblichen Methode des «sowohl - als auch», sondern der Methode des «entweder - oder». Ch'eng-kuan gibt dazu in seinem Prolog zum Hua-yen den folgenden Kommentar:35 ZEHNTENS:
Das Sutra sagt: «Als der Bodhisattva Fa Hui die Lehren von den Zehn Stufen erörterte, behaupteten unzählige Bodhisattvas anderer Universen, die alle zu der Versammlung gekommen waren, daß in ihren eigenen Universen ihre Bodhisattvas diese selbe Lehre predigten; Sinn, Prinzip und selbst die Formulierungen seien nicht verschieden.» [Obwohl damit das universelle Vorhandensein und die universelle Gültigkeit
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der Dharma-Aktivitäten impliziert wird, ist hier besonders wichtig, daß] Fa Hui, wenn er in diesem Universum als Souverän oder Gastgeber betrachtet wird [oder als Haupt-Subjekt], er nicht gleichzeitig auch als Gäste [oder untergeordnete Faktoren] behandelt werden kann. Wenn alle anderen Bodhisattvas aus den Zehn Himmelsrichtungen als Gäste betrachtet werden, dann können sie nicht gleichzeitig auch als der Gastgeber betrachtet werden. Dieser Gastgeber kann nicht gleichzeitig jenen Gastgeber von Angesicht zu Angesicht sehen. [Was die Beziehungen von Gastgeber und Gästen zwischen den Universen betrifft:] Wenn ein bestimmter Gastgeber in einem anderen Universum designiert ist, dann sollte der Gastgeber hier nur als Gast betrachtet werden. Daher sagen wir, daß weder Gastgeber und Gastgeber noch Gäste und Gäste einander von Angesicht zu Angesicht sehen.
Die Folgerung aus der obigen Feststellung ist, daß die allesverschmelzende Totalität in keiner Weise die Ordnung irgendeines individuellen Bereichs verletzt oder behindert oder gewaltsam in irgendeine umfassendere Ordnung eingreift, wenn zwei oder mehrere verschiedene Universen als eine geschlossene Einheit behandelt werden. Dieses Prinzip wurde von Fa-tsang aufgestellt und war in Chihyens ursprünglicher Liste nicht enthalten. Die harmonische Verschmelzung der Sechs Formen Eine Diskussion der Hua-yen-Philosophie der Nicht-Behinderung würde unvollständig sein, wenn nicht auch das Prinzip des «harmonischen Verschmelzens der Sechs Formen» (lu-hsiang yüan-jung) zur Sprache käme. Lu-hsiang yüan-jung scheint nur eine andere Art zu sein, die Grundprinzipien des Ineinander-Eingehens und der wechselseitigen Identität zu erklären, indem die gegenseitige Abhängigkeit dreier Gegensatzpaare betrachtet wird, nämlich: Ganzheit und Verschiedenheit (tsunghsiang und pieh-hsiang), Universalität und Besonderheit (t'ung-hsiang und i-hsiang) sowie Formwerdung und Auflösung (chen-hsiang und huai-hsiang) - die sogenannten sechs Formen. Fa-tsang erklärt dazu in seinem Aufsatz Über den Goldenen Löwen:36 Der Löwe [als ein integriertes Gebilde] repräsentiert die Ganzheit (tsung-hsiang), während die fünf Organe, insoferne sie [vom Ganzen] verschieden
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sind, [die Teile oder] die Verschiedenheit (pieh-bsiang) repräsentieren. Insofern als der Löwe als ein Ganzes und die unterschiedlichen Organe nach dem Prinzip des bedingten Entstehens ins Sein gebracht wurden, haben sie teil an der Eigenschaft der Universalität. Zur gleichen Zeit jedoch überschneiden einander die Augen und Ohren [in ihren Funktionen] nicht, sondern behalten ihre unterschiedlichen Besonderheiten. Insofern als die Verbindung dieser verschiedenen Organe den Löwen ausmacht, kommt es zur Formwerdung, und insofern als jedes dieser Organe seine eigene besondere Stellung einnimmt, kommt es zu einem Auseinandergehen.
Fa-tsang arbeitet das in seinem Buch Die Lehren des Einen Fahrzeugs Hua-yen weiter aus.37 Frage: Was ist die sogenannte Ganzheit (tsung-hsiang)? Antwort: Ein Haus etwa ist ein gutes Beispiel für [Ganzheit]. Frage: [Dieses sogenannte] Haus ist nur eine Verbindung von Balken [Dach, Wänden und so weiter]. Was unter diesen Bestandteilen wird «Haus» genannt? Antwort: Die Balken [und so weiter] selbst sind das Haus an sich. Warum? Weil all die Balken [das Dach, die Wände] selbst das Haus bilden. Gäbe es die Balken [und so weiter] nicht, dann gäbe es auch kein Haus. Sobald die Vorstellung Balken entsteht, entsteht gleichzeitig auch die Vorstellung Haus. Frage: Wenn die Balken allein das Haus entstehen lassen können, ohne die [Mithilfe] von Ziegeln [Wänden, Fußböden und so weiter], nimmst du dann nicht an, daß ein Haus aus Balken allein gebaut werden kann? Antwort: [Nein, das nicht], denn gäbe es keine Ziegel, [Wände oder Fußböden], dann würde auch schon der Name Balken seine Bedeutung verlieren. Die Vorstellung «Balken» ist abhängig von den Ziegeln und Wänden. [Die ganze Sache sollte auf eine totalistische und organische Weise gesehen werden.] Zu sagen also, die Balken allein können das Haus bilden, ergibt hier einfach keinen Sinn. ... Andererseits bedeutet die sogenannte Verschiedenheit (pieh-bsiang), daß die Bestandteile, die Balken und so weiter, von der Ganzheit verschieden sind. Wenn es nämlich keine verschiedenartigen Unterscheidungsmerkmale zwischen diesen Bestandteilen gäbe, dann würde auch die Ganzheit selbst nicht möglich sein. Keine Verschiedenheit heißt auch keine Ganzheit. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß aufgrund der Existenz der Verschiedenheiten die Ganzheit entsteht; gäbe es keine Verschiedenheiten, wäre das Entstehen der Ganzheit unmöglich. Demselben Gedankengang folgend, entsteht auch die Verschiedenheit aufgrund der Ganzheit.
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Frage: Wenn die Ganzheit die Verschiedenheit selbst ist [d.h. gemäß dem Prinzip der wechselseitigen Identität], dann wäre das Entstehen der Ganzheit unmöglich [da die Behauptung der wechselseitigen Identität die getrennte Existenz von Verschiedenheit und Ganzheit annulliert]. Antwort: Im Gegenteil, gerade weil die Ganzheit die Verschiedenheit selbst ist, kann die Ganzheit entstehen [und nicht umgekehrt]. Insofern Balken [und andere Teile] das Haus selbst sind, wird es die Ganzheit genannt; [und insofern das Haus] die Balken selbst ist, wird es Verschiedenheit genannt. Wenn die Balken nicht das Haus selbst sind, dann können sie auch nicht als das [totalistisch wahre] Haus betrachtet werden. Die wechselseitige Identität von Ganzheit und Verschiedenheit wird durch diese Betrachtung sichtbar gemacht. Frage: Aber wenn das Prinzip der wechselseitigen Identität wahr ist, wie läßt sich dann die Existenz von Verschiedenheit überhaupt behaupten? Antwort: Im Gegenteil, gerade weil [die Ganzheit und die Verschiedenheit] miteinander identisch sind, können die Verschiedenheiten entstehen [und nicht umgekehrt]. Denn wenn die zwei nicht identisch wären, dann müßte die Ganzheit außerhalb der Verschiedenheiten existieren und umgekehrt; daher die Unmöglichkeit der Ganzheit der Verschiedenheiten. ...
Was hier besonders betont wird, ist die Tatsache, daß jeder Teil eines Gegensatzpaares - sei es Verschiedenheit oder Ganzheit, Formwerdung oder Auflösung, unterschiedene Besonderheiten oder nichtunterschiedene Universalität - nicht isoliert betrachtet werden kann, als ob er eine unabhängige Existenz (svabhava) hätte. Wenn es keine Verschiedenheiten, Besonderheiten und keine Auflösung gäbe, dann gäbe es auch keine Ganzheit, Universalität und Formwerdung. Jeder Teil der Antithese ist in Bedeutung und Existenz vom anderen Teil abhängig. Sie sollten von einem organischen und totalistischen Gesichtspunkt aus betrachtet werden, wie er im Hua-yen-Konzept der gegenseitigen Durchdringung und wechselseitigen Identität dargestellt ist. Ein paralleles Konzept ist die wechselseitige Identität von Form und Leere im Herz-Sutra. Daher ist Lu-hsiang yüan-jung nur eine Erweiterung der gleichen Betrachtungen, wie sie in der Prajnaparamita-Literatur angestellt werden.
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III. Die Nur-Geist-Lehre Der Geist und die äußere Welt
Ch'eng-kuan hat in seinem Buch Ein Prolog zum Hua-yen zehn Gründe für die allesverschmelzende Dharmadhatu angegeben. Der erste lautet:1 «Weil alle Dinge nur Manifestationen des Geistes sind, können alle Dharmas im Bereich der Totalität verschmelzen.» Er gibt dazu den folgenden Kommentar: «Das heißt, daß alle Dinge vom Wahren Geist projiziert werden. So wie sich das Wasser im großen Ozean mit seiner ganzen Körperlichkeit als Wellen manifestiert, so sind all die kleinen und großen Formen der Dinge durch den Geist gestaltet; das ist möglich, weil alle Dharmas mit dem Einen Geist identisch sind. Wenn daher der Geist in den Bereich der Nicht-Behinderung eingeht, so tun dies auch alle Dharmas.»
Diesen ersten Grund benützt die Nur-Geist-Lehre, um das Prinzip der Dharmadhatu zu erklären, und viele Gelehrte vertreten die Auffassung, daß es sich hier um das Hauptargument der Hua-yen-Philosophie handelt. Oberflächlich gesehen scheint es, als ob die Nur-Geist-Lehre in der Hua-yen-Literatur immer wieder besonders betont würde, was den Eindruck entstehen läßt, die gesamte Hua-yen-Lehre beruhe auf einer Philosophie des Idealismus. Dies ist aber in Wirklichkeit nicht der Fall. Ich persönlich glaube, daß die drei philosophischen Hauptströmungen des Mahayana-Buddhismus - die Philosophie der Leere, der Totalität und die Nur-Geist-Lehre - gleich wichtig im Aufbau der Hua-yen-Lehre sind. Unter den dreien scheint vielmehr eher die Shunyata-Philosophie die hervorragende Rolle zu 226
spielen, denn es ist durchaus vorstellbar, daß die Hua-yen-Totalität ohne Mithilfe der Nur-Geist-Lehre bestehen kann, jedoch nicht ohne die Stütze der Shunyata-Lehre. Das zeigt sich auch in dem Essay Über die Dharmadhatu-Meditation, der die wichtigste philosophische Arbeit der Hua-yen-Schule ist. Am Anfang dieses Aufsatzes versucht der Verfasser, Meister Tushun, ein solides Fundament für die allumfassende Totalität zu legen, indem er zuerst das Prinzip der Wahren Leere darstellt. Im Verlauf des gesamten Aufsatzes wird die Nur-Geist-Lehre nicht ein einziges Mal erwähnt. Wir wissen also, daß sich die Hua-yen-Totalität durch das ShunyataPrinzip allein darstellen läßt, ohne daß man auf die Nur-GeistPrinzipien zurückgreifen müßte. Damit soll jedoch in keiner Weise angedeutet werden, daß die Nur-Geist-Lehre unwichtig wäre. Daß die objektive Welt nur eine Projektion des Geistes ist, daß außerhalb des Universalen Geistes überhaupt nichts wahrhaft existiert, daß die Wirklichkeit in unserem eigenen Geist zu entdecken ist, daß aller Wert und aller Sinn, wie immer man es betrachten mag, im Geist selbst bestehen, daß Befreiung und Erleuchtung durch die Transformation des eigenen Geistes möglich sind, diese Überzeugung wird von den Anhängern vieler Glaubensbekenntnisse geteilt und natürlich auch von den Anhängern des Mahayana, denn diese Prinzipien werden in vielen Mahayana-Schriften immer wieder hervorgehoben. Ich möchte dafür einige Beispiele geben. Wir lesen zum Beispiel im Lankavatara-Sutra:1 [Der Geist] ist das Maß [aller Dinge]; er ist der Sitz des Selbst-Wesens und hat nichts zu tun mit Verursachung und der Welt; er ist vollkommen in seinem Wesen, und er ist absolut rein. Er ist tatsächlich das Maß, sage ich euch. Der Geist geht über alle philosophischen Anschauungen hinaus; er ist frei von Unterscheidungen; er ist weder erreichbar, noch ist er jemals geboren worden; ich sage euch, es gibt nichts als den Geist. Die Soheit, die Leere, Nirvana, Dharmadhatu, die Vielzahl der Willens-Leiber sie alle sind nichts als Geist, sage ich euch. Was außen zu sein scheint, existiert in Wirklichkeit nicht; es ist tatsächlich nur der Geist, der als Vielfältigkeit erblickt wird; Körper, Eigentum und Wohnstätte - sie alle, sage ich euch, sind nichts als der Geist. Das, was etwas ergreifen kann, und das, was ergriffen wird - all das, sage ich euch, ist nichts als der Geist.
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Alle Subjekt/Objekt-Paare sind Manifestationen des Geistes, ohne ein Ich oder zu einem Ich gehörend; das Brahman und die Götter - sie alle, sage ich euch, sind nichts als der Geist. Kurz: Es gibt überhaupt nichts, das getrennt vom Geist existiert!3
Im Hua-yen-Sutra heißt es:4 Daraufhin verneigte sich der Bodhisattva Chüeh Lin, gesegnet von der Gnade Buddhas, nach den Zehn Himmelsrichtungen und sprach: «Gleich wie ein Maler [in seinen Gemälden] die verschiedenen Farben mischt und verbindet, so entstehen durch die täuschenden Projektionen des Geistes die verschiedenen Formen aller Phänomene. Doch die Vier Elemente zeigen keine solchen Unterscheidungsmerkmale. Es sind weder in den [vier] Elementen Farben zu finden noch die [vier] Elemente in den Farben. Die Gemälde sind nicht im Geist zu finden, noch gibt es einen Geist in den Gemälden. Doch ohne den Geist können keine Gemälde entstehen. Der Geist wohnt ewig im Nichts, er ist jenseits aller Gedanken und Maße! Und dennoch manifestieren sich durch ihn alle Formen und Farben, ohne daß eines vom anderen weiß. Ohne seinen Selbst-Geist zu kennen, kann ein Maler dennoch Bilder durch Ihn malen. Denn dies ist das Wesen aller Dharmas. ... Der Geist gleicht einem tüchtigen Maler; er schafft die Bilder aller Welten, läßt alles, einschließlich der Fünf Skandhas, entstehen!
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Der Buddha unterscheidet sich nicht vom Geist, noch unterscheiden sich die Lebewesen von den Buddhas. Beide, Geist und Buddhas, sind ihrem Wesen nach unendlich! Wer den Geist als den Schöpfer aller Welten erkennt, erblickt den Buddha und sein wahres Wesen. Der Geist wohnt nicht im Körper noch der Körper im Geist. Doch alle Taten des Buddha geschehen mit Leichtigkeit und Freiheit. Wenn du alle Buddhas in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennen willst, dann mußt du nur das Wesen des Universums betrachten: Dein eigener Geist schafft das Ganze und läßt alle Dinge entstehen! Alle Bereiche der Lebewesen liegen innerhalb der Drei Zeiten; alle Lebewesen dieser Zeiten stützen sich auf die Fünf Skandhas, die aufgrund des Karma entstanden sind. Alles Karma wurzelt in unserem Geist, der, gleich allen Welten und Universen, nur ein Phantom oder ein magisches Spiel ist!»5
In Ashvaghoshas Erweckung des Glaubens lesen wir:6 Der Urgrund ist der Geist der Lebewesen. Dieser Geist schließt in sich alle Seinszustände der Wesen sowohl in der Welt der Erscheinungen als auch in der transzendenten Welt ein. Aufgrund dieses Geistes kann die [gesamte] Bedeutung des Mahayana erhellt werden. Warum? Weil dieser Geist - als die [ewige] Soheit - nichts anderes ist als das Wesen des Mahayana selbst und weil er - als das Entstehen und Vergehen der Phänomene - tatsächlich das Wesen, die Form und die Funktionen des Mahayana demonstrieren kann. ... Das Ur-Sein dieses Einen Geistes hat zwei Aspekte. Der eine ist der Aspekt des Geistes als Soheit, und der andere ist der Geist als das Entstehen und Vergehen der Erscheinungen. Jeder der beiden Aspekte umfaßt alle Seinszustände der Lebewesen. Warum? Weil sie untrennbar oder [einander gegenseitig umschließend] sind.7 ... 229
Dieser Geist hat fünf verschiedene Namen.8 Der erste lautet «Karma-Geist». Das bedeutet, daß der Geist durch die Macht der Unwissenheit in Bewegung gesetzt wird, ohne dessen gewahr zu sein. Der zweite lautet «der sich entwickelnde Geist». Das bedeutet, daß man [nur] gestützt auf einen Geist, der ständig in Bewegung ist, die Objekte [in der phänomenalen Welt] wahrnehmen kann. Der dritte lautet «reflektierender Geist». Das heißt, daß gleich einem blanken Spiegel, der augenblicklich alle stofflichen Bilder reflektieren kann, auch der Geist alle Objekte der phänomenalen Welt sofort widerspiegelt, wenn sie den fünf Sinnesorganen erscheinen. Dieser «reflektierende Geist» entsteht jederzeit spontan, wenn ihm [irgendein Dharma] begegnet. Der vierte lautet «unterscheidender Geist». Das bedeutet, daß er den Unterschied zwischen reinen und unreinen Dharmas feststellen kann. Der fünfte lautet «kontinuierlicher Geist», denn er ist ständig mit [allen Arten von] Gedanken assoziiert, ohne daß dieser Vorgang unterbrochen würde. Er konserviert und stützt [einerseits] alle die guten und schlechten Karmas, die sich in den unendlichen vielen Leben der Vergangenheit angesammelt haben, ohne eines davon zu verlieren; andererseits kann er auch die gegenwärtigen und künftigen Karmas zum Reifen bringen und ihre jeweiligen Früchte - die unerfreulichen wie die erfreulichen - in Erscheinung treten lassen, ohne irgendeinen Fehler zu machen. Er aktiviert auch die Erinnerung an Dinge aus der Vergangenheit und Gegenwart und regt die Phantasie an, sich Dinge vorzustellen, die sich erst in der Zukunft ereignen werden. Daher sind alle [Dinge] in den Drei Welten unwirklich und trügerisch; sie sind nur Projektionen des Geistes. Getrennt vom Geist gibt es keine Objekte der Sechs Bewußtseinsarten. Was bedeutet das? Es bedeutet, daß - da alle Dharmas vom Geist und seinen irreführenden Gedanken projiziert werden - alle Unterscheidun-gen in Wirklichkeit nur Aktivitäten des eigenen unterscheidenden Geistes sind. Aber der [gewöhnliche, individuelle Verstandes-]Geist kann den [Universalen oder Kosmischen] Geist nicht erkennen. Man sollte daher wissen, daß alle Objekte und Erfahrungen dieser Welt nur durch den unwissenden und trügerischen Geist der Menschen aufrechterhalten werden. Gleich den Bildern, die in einem Spiegel erscheinen, entbehren auch alle Dinge in Wirklichkeit jeder wahren Substantialität; sie sind unwahr, illusionär und Nur-Geist, da alle Dinge nur durch den Geist in Erscheinung treten; wenn der Geist [seine Funktion] einstellt, hören auch alle Dinge auf zu existieren.
Diese Zitate mögen eine allgemeine Vorstellung von der Nur-GeistLehre geben, wie sie in den Mahayana-Schriften auftaucht. Im Laufe der Jahrhunderte sind viele Versuche unternommen worden, diese
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Lehre zu verifizieren, sowohl von Denkern der Mahayana-Schule als auch von Yogachara-Gelehrten, die sich die schwierige Aufgabe gestellt haben zu beweisen, daß die objektive Welt, «die so konkret und so real zu sein scheint», nur eine Projektion, eine Spiegelung, ein Schatten, ein Was-auch-Immer dieses immateriellen, nicht stofflichen Geistes ist. Diese Denker haben rund um ihre Lehre ein äußerst kompliziertes System eines radikalen Idealismus aufgebaut, um unsere Einbildungskraft und unsere scharfsinnige Urteilsfähigkeit herauszufordern. Philosophisch betrachtet mag man den Yogachara für wichtiger halten als den Madhyamaka oder - je nach persönlicher Einschätzung und Neigung - für nicht so wichtig. In Hinblick auf die buddhistische Lehre jedoch scheint Yogachara besser geeignet zu sein, die wesentlichen Gedanken des Mahayana zu vermitteln, und zwar aufgrund seiner besonders in der Fa-hsiang-Schule entwickelten differenzierten Terminologie. Seine altmodische, übersystematisierte Methode mag heute unzeitgemäß erscheinen, hat jedoch ein äußerst nützliches Werkzeug zur Erläuterung der kaleidoskopischen Mahayana-Lehre geliefert. So entwickelte diese Schule eine höchst komplizierte Idealismus-Philosophie, um die Nur-Geist-Lehre zu «verifizieren». Da es aber bekannterweise den meisten philosophischen Systemen an Überzeugungs- und Beweiskraft fehlt, hat es wenig Sinn, die Yogachara-Philosophie hier ausführlicher zu diskutieren. Eine ausreichende Darstellung dieses sehr komplexen und technisch schwierigen Systems würde den Rahmen dieses Buches sprengen und auch keine wichtige Funktion innerhalb der vorliegenden Thematik erfüllen. Als ein viel einfacherer Weg, an dieses Problem heranzugehen, erscheint mir der Versuch zu verstehen, warum der Buddhismus die Idee der Nur-Geist-Lehre für sich in Anspruch nimmt und aus welchen Vernunftgründen seine Anhänger diese Idee akzeptieren und sie interpretieren. Trotz der riesigen Zahl von Schriften mit ihrer Fülle von philosophischen Systemen und Ideen ist der Buddhismus vor allem eine Religion. Eine Religion beginnt immer mit irgendeiner persönlichen Erfahrung, und das gilt auch für den Buddhismus und seine verschiedenen Schulen. Im Gegensatz zu jenen philosophischen Systemen, die nur aus wirklichkeitsfremden Spekulationen entstanden sind, ist fast jede Hauptlehre in den verschiedenen buddhistischen 231
Schulen aus der unmittelbaren Erfahrung des Gründers oder der Gründer dieser betreffenden Schule entstanden. Nagarjuna und Asanga in Indien, Gampopa und Longchenpa in Tibet, Tu-shun und Hui-yüan in China sind nur einige Beispiele solcher einflußreichen und wichtigen Gründerpersönlichkeiten. Sie waren allesamt große Yogis, die tiefgehende Einsicht erlangt hatten, ehe sie darangingen, ihre Entdeckungen zu verbreiten. Nach der Überlieferung wird selbst von der pedantischen und schwer verständlichen Abhidharma-Sammlung behauptet, daß es sich dabei um eine Sammlung von Arbeiten handelt, die von vielen Arhat-Gelehrten im Licht ihrer inneren Erfahrungen verfaßt wurden.9 Die Billigung der Nur-Geist-Lehre durch die meisten buddhistischen Weisen beruhte daher primär auf einer Überzeugung, die sich auf ihre eigene persönliche Erfahrung stützte. Diese wiederholt gemachte Erfahrung war zu eindrücklich und zu überzeugend, als daß man sie hätte negieren oder wegerklären können. Es ist verständlich, daß diejenigen, die diese Erfahrung gemacht haben, ein starkes Bedürfnis verspüren, sie anderen Menschen zu vermitteln. Aber die Schwierigkeit ist, daß diejenigen, die diese Erfahrung nicht gehabt haben, nur dann etwas mit der Beschreibung anfangen können, wenn sie in verständlicher Sprache erfolgt und in Begriffen, die ihrer Denkweise entspricht. Wenn die Beschreibungen unzulänglich blieben oder die Behauptungen die Zuhörer nicht überzeugten, dann hatten die Gelehrten-Mönche keine andere Wahl, als sich dem Philosophieren zuzuwenden. Die Nur-GeistLehre sollte daher nicht als bloßes System der spekulativen Philosophie betrachtet werden, sondern als Darstellung und Argumentation, deren Zweck es ist, eine religiöse Erfahrung und Einsicht zu erhellen und von der Vernunft her zu erklären. Berichte aus der meditativen Praxis, die die Wahrheit der Nur-Geist-Lehre evident machen, sind in der buddhistischen Literatur sehr zahlreich. Hier einige Beispiele aus Zen-Quellen. In der Autobiographie des Meisters Han Shan lesen wir:10 Nach einiger Zeit ging Miao-feng [mein Freund] nach Yeh-tai, während ich allein zurückblieb. Ich sammelte meinen Geist auf einen einzigen Gedanken und sprach zu niemandem. Wenn jemand an die Tür kam, sah ich ihn nur an, sagte aber nichts. Wann immer ich auf die Leute blickte, erschienen sie mir
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wie Baumstämme. Mein Geist kam in einen Zustand, in dem ich kein einziges Wort verstehen konnte. Zu Beginn dieser Meditation, als ich das Heulen der Stürme hörte und das Krachen des Eises, wenn es gegen die Felsen schlug, war ich sehr beunruhigt. Der Tumult schien so groß wie der von Tausenden von Soldaten und Pferden in einer Schlacht. [Später] fragte ich Miao-feng danach. Er sagte: «Alle Gefühle und Empfindungen steigen aus dem eigenen Geist auf; sie kommen nicht von außen. Hast du gehört, was die Mönche in den alten Zeiten sagten? <Wer seinem Geist nicht erlaubt, sich zu regen, wenn er das Rauschen fließenden Wassers hört, dreißig Jahre lang, der wird zur Erkenntnis dessen gelangen, was Avalokiteshvara an Wunderbarem begriffen hat.» Ich ging jeden Tag zu einer einsamen Holzbrücke, ließ mich dort nieder und meditierte. Zuerst hörte ich den Strom sehr laut rauschen, aber mit der Zeit hörte ich ihn nur, wenn ich wollte. Wenn ich es meinem Geist erlaubte, konnte ich das Rauschen hören, aber wenn ich meinen Geist stillhielt, hörte ich nichts. Eines Tages, als ich auf der Brücke saß, fühlte ich plötzlich, daß ich keinen Körper hatte. Er war verschwunden, zusammen mit dem Rauschen um mich. Seither wurde ich nie mehr von irgendeinem Geräusch aufgestört. Meine tägliche Nahrung waren Haferschleim, Kräuter und Reis. Als ich das erste Mal auf den Berg gekommen war, hatte mir irgend jemand drei Packen Reis gegeben, die mehr als sechs Monate reichten. Eines Tages, nachdem ich meinen Haferbrei gegessen hatte, unternahm ich eine Wanderung. Plötzlich stand ich still, erfüllt von der Einsicht, daß ich weder Körper noch Geist habe. Alles, was ich zu sehen vermochte, war ein einziges großes erleuchtendes Ganzes, allgegenwärtig, vollkommen, leuchtend und heiter. Es war wie ein alles umschließender Spiegel, von dem die Berge und Flüsse der Erde wie Spiegelbilder projiziert wurden. Als ich aus diesem Erlebnis erwachte, fühlte ich mich so «licht und durchscheinend», wie wenn mein Körper und Geist überhaupt nicht existierten. Ich dichtete die folgende Strophe: Blitzartig stand der heftig bewegte Geist still; Innen wie Außen erstrahlen in leuchtender Klarheit. Nach der großen Umstülpung ist die große Leere durchgebrochen. Oh, wie unbehindert kommen und gehen die unzähligen Formen der Dinge! Von da an wurde die innere wie die äußere Erfahrung leuchtend klar. Geräusche, Stimmen, Erscheinungen, Szenen, Formen und Gegenstände waren keine Hindernisse mehr. Alle meine früheren Zweifel lösten sich in nichts 233
auf. Als ich an meinen Herd zurückkehrte, war der Kessel mit Staub bedeckt. Viele Tage waren während meines Erlebnisses vergangen, ohne daß ich dessen gewahr geworden wäre.
Hier noch der Bericht eines anderen Zen-Mönches aus der Autobiographie von Meister Hsüeh-yen:11 [Der leitende Mönch, Hsiu, sagte zu mir:] «Du mußt aufrecht auf deinem Platz sitzen, halte dein Rückgrat gerade und laß Körper und Geist ganz eins werden mit dem Huatou, 12 und schenke der Schläfrigkeit und den wilden Gedanken keine Aufmerksamkeit.» Gemäß diesen Anweisungen ging ich vor, und ohne es zu wissen, vergaß ich Körper und Geist - selbst deren Existenz. Drei Tage und drei Nächte war mein Geist so licht und leuchtend, daß ich niemals auch nur für einen einzigen Augenblick die Augen schloß. Am Nachmittag des dritten Tages schritt ich durch die drei Tore des Klosters, wie wenn ich sitzen würde. Abermals kam ich an Hsiu vorbei. «Was machst du hier?» fragte er. «Ich arbeite am Tao», antwortete ich. Darauf sagte er: «Was ist das, was du das Tao nennst?» Unfähig, ihm zu antworten, wurde ich immer verwirrter und verwirrter. In der Absicht, weiter zu meditieren, kehrte ich in den Meditationsraum zurück. Aber zufällig begegnete ich Hsiu wieder. Er sagte: «Öffne deine Augen und sieh, was es ist!» Nach dieser Ermahnung war ich noch begieriger, in die Meditationshalle zurückzukehren. Als ich gerade dabei war, mich niederzusetzen, brach vor mir etwas plötzlich in sich zusammen, wie wenn der Boden weggesunken wäre. Ich wünschte zu sagen, was ich fühlte, aber ich konnte es nicht ausdrücken. Nichts auf der Welt kann als Gleichnis dienen, es zu beschreiben. Unmittelbar danach ging ich zu Hsiu. Sobald er mich sah, sagte er: «Meine Glückwünsche!» Er hielt mich an der Hand und führte mich aus dem Kloster hinaus. Wir gingen den Flußdeich entlang, der mit Weidenbäumen bepflanzt war. Ich blickte empor zum Himmel und nieder auf die Erde. [Ich fühlte,] daß alle Phänomene und Manifestationen, die Dinge, die ich mit meinen Augen sah und mit meinen Ohren hörte, die Dinge, die mir Widerwillen einflößten - einschließlich der leidenschaftlichen Begierden und der Verblendungen alle aus meinem eignen strahlenden, wahrhaften und von allen Wundern erfüllten Geist hervorströmten. Während der nächsten vierzehn Tage erschienen keinerlei bewegende Phänomene in meinem Geist.
Einige weitere Zitate, die zwar keine Erfahrungen aus erster Hand wiedergeben, die aber die Nur-Geist-Doktrin näher erläutern, sollen 234
folgen. So heißt es in Asangas Grundriß der Mahayana-Lehre (Mahayana-samparigraha-Shastra):13 Durch welchen Vergleich kann das Prinzip [der Nur-Geist-Lehre] am besten veranschaulicht werden? Durch einen Vergleich mit dem Traum und dem Träumer. Alle Traumgeschehnisse geschehen nicht wirklich; sie sind nur [Manifestationen des] Geistes. Obwohl verschiedene Formen, Geräusche, Gerüche, Berührungen, Häuser, Wälder, Berge ... in die Träume hineinprojiziert werden, haben sie doch keine Wirklichkeit. Dank dieses Vergleichs kann man verstehen, daß alle Dinge zu allen Zeiten und an allen Orten nur der Geist sind. ... Frage: Wenn jemand aus einem Traum erwacht, weiß er sofort, daß alles, was er in seinem Traum gesehen hat, nur eine Projektion seines Geistes war. Wenn es wahr ist, daß alle Dinge zu allen Zeiten und an allen Orten nur Manifestationen des Geistes sind, warum erkennt man dann nicht auch diese Wahrheit sogleich, wenn wir erwachen? Antwort: Sobald [man Erleuchtung erlangt oder wenn] die wahre Weisheit erwacht, kommt man auch zu dieser Erkenntnis. Davor entspricht die Situation vollkommen jener, in der das Träumen nicht erkannt wird, weil man noch träumt. Solange jemand aus dem Traum des Samsara noch nicht erwacht ist, wird ihm die Wahrheit der Nur-Geist-Lehre nicht zur vollen Wirklichkeit werden.
Im Sutra von der Erhellung des tief verborgenen Sinnes lesen wir:14 Der Bodhisattva Maitreya fragte den Weltverehrten: «Sind die Bilder, die im Zustand des Samadhi gesehen werden, verschieden vom Geist oder nicht verschieden?» Der Buddha antwortete: «Sie sind nicht verschieden vom Geist. Warum? Diese Bilder sind einerseits vom Geist wahrgenommene Dinge und andererseits Manifestationen des Geistes. Daher kommen sie alle vom Geist.» «In diesem Fall, o Herr, wenn die Bilder nicht vom Geist verschieden sind, kann dann der Geist den Geist selbst verstehen?» «Maitreya, es gibt keinen einzigen Dharma, der irgendeinen anderen Dharma verstehen kann. Wenn jedoch der Geist auf solche Art in Erscheinung tritt, dann manifestieren sich auch die Bilder auf entsprechende Art und Weise. Wenn zum Beispiel etwas als Objekt des Sehens verwendet wird, dann wird dieses Objekt gesehen und nichts anderes, aber manche Leute behaupten [irrigerweise], das, was sie sehen, sei nur das Bild dieses Objektes - und nicht 235
das Objekt selbst. Wenn der Geist in Erscheinung tritt, dann treten auch die Bilder, die vom Geist verschieden und getrennt zu sein scheinen, in Erscheinung. ... Wenn man im Samadhi [beim Beobachten der Unreinheiten] Abschürfungen, Eiterherde, Geschwüre, Skelette und ähnliches sieht, ... dann sieht man in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist und nichts anders. Aus diesem Grund sollte ein Bodhisattva wissen, daß in allen Bewußtseinszuständen, [was immer man sieht und wahrnimmt] kein objekthaftes
Es scheint so, als würde jeder, der eine echte Anstrengung unternommen hat, für längere Zeit «seinen Geist nach innen zu richten», schließlich zum Idealisten der einen oder anderen Art. Je weiter und tiefer er in den bodenlosen Geist in seinem Innern vordringt, ein um so radikalerer Idealist wird er werden. Es heißt, daß die Verwirklichung der NurGeist-Wahrheit sich langsam, stufenweise vollzieht. Auf der ersten Stufe der Verwirklichung durchschaut der erleuchtete Yogi die Tatsache, daß das gesamte Universum schon immer eine Spiegelung seines eigenen Geistes war - die bis jetzt nur falsch wahrgenommen wurde. Die objekthafte äußere Welt wird jetzt unreal wie eine Fata Morgana und ist nicht länger konkret, wie sei es bisher zu sein schien. Auf der nächsten Stufe erlangt der Yogi eine teilweise Meisterung seines Geistes, und er wird fähig, alle «wahrgenommenen Objekte» willentlich auszulöschen, zu erschaffen oder zu verwandeln. Falls er es wünscht, kann er auch in einen Zustand der Nicht-Unterscheidung 236
eingehen und damit all die verschiedenen Dinge in der Welt der Objekte vollkommen auslöschen. Wer diesen Zustand erreicht, wird zwangsläufig ein radikaler Idealist, denn er ist jetzt selbst Zeuge, wie die Nur-Geist-Lehre wirklich funktioniert. Die objekthafte Welt und ihre Gesetze erscheinen ihm jetzt ebenso mutwillig und unreal wie die selbsterschaffenen Visionen eines umherstreifenden Geistes. Wenn jemand schließlich die letzte Stufe erreicht hat, so behauptet die buddhistische Überlieferung, dann ist er sogar fähig, sowohl seinen eigenen Körper als auch die ihn umgebende Welt der Objekte in jeder gewünschten Weise zu verwandeln. In den buddhistischen Schriften findet sich eine große Zahl von Berichten, in denen die Demonstration solcher wunderbarer Kräfte beschrieben wird; man mag sie in das Reich der reinen Phantasie verweisen, sollte aber bedenken, daß diese unsere «schöne neue Welt», in der wir heute leben, nicht sehr geeignet ist, Menschen mit solchen Fähigkeiten hervorzubringen.
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Das Alaya-Bewußtsein und die Totalität
Einige Aspekte der Nur-Geist-Lehre sollen näher erklärt werden. Das Wort Geist, wie es sowohl im Hua-yen als auch im Yogachara verwendet wird, hat eine sehr weitgefaßte Bedeutung, die gleichzeitig psychologisch und metaphysisch, ethisch und religiös ist. Dieser «Geist» umfaßt die gesamte Psyche des Menschen, einschließlich des Bewußten wie auch des Unbewußten. Um die Sache zu vereinfachen, werden wir die höchst komplizierte Analyse und die «Kartographie» der Acht Bewußtseinsarten15, wie sie im Yogachara-System dargestellt werden, außer Betracht lassen und uns nur mit einigen wesentlichen Punkten des wichtigsten Aspekts der Nur-Geist-Lehre beschäftigen. Ich meine hier das Konzept des Alaya- (oder Speicher-)Bewußtseins, das auch das «Karmastützende-Bewußtsein», das «Fundamentale» oder «Ur-Bewußtsein», das «Bewußtsein Aller Samen» und ähnlich genannt wird. Die Hauptmerkmale und Funktionen dieses Alaya-Bewußtsein, wie sie vom YogacharaSystem dargestellt werden, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Es funktioniert blind und autonom, ohne Selbst-Bewußtsein oder Selbst-Kontrolle.16 Es ist daher eine Art von Unbewußtem, das unter normalen Umständen jenseits der Kontrolle durch den Alltagsgeist ist. 2. Es ist ein großes Sammelbecken, das alle mentalen Eindrücke und Lernvorgänge festhält und bewahrt, einschließlich jener Instinkte, die in den früheren Leben im Samsara erworben wurden. 3. Es ist die Stütze der anderen sieben Bewußtseinsarten und der Bewahrer der karmischen Kräfte. Die potentielle Macht des Alaya
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ist unvorstellbar groß, und die Ausdehnung seiner Einflußsphäre ist unermeßlich weit. 4. Die physische Welt, wie wir sie sehen, wird vom Alaya-Bewußtsein des Menschen projiziert und aufrechterhalten; sie läßt sich mit Spiegelbildern vergleichen, die keinerlei Selbstheit besitzen. Obwohl die Aktivität des Alaya, das nie aussetzende Projizieren und Aufrechterhalten der physischen Welt, schon seit Äonen vom kollektiven Bewußtsein der Menschen aufgrund ihres gemeinsamen Karma in Gang gehalten wird, findet dieser Prozeß unfreiwillig und «unbewußt» statt; er ist jenseits des eigenen Zugriffs und Gewahrseins. 5. Unter normalen Umständen kann der bewußte Geist das Alaya zwar beeinflussen, aber nicht unmittelbar nach seinem Willen kontrollieren; die vollständige Kontrolle des gesamten Alaya wird Befreiung genannt, und der erfolgreiche Versuch, den gesamten Inhalt des Unbewußten bewußt zu machen, nennt man Erleuchtung. Nun kann man verstehen, daß die Nur-Geist-Lehre eine Form von radikalem Idealismus ist, ähnlich dem Idealismus von George Berkeley. Aber der Yogachara scheint noch weiter als Berkeley zu gehen, indem er behauptet, daß die physische Welt, die eine Projektion des Alaya ist, tatsächlich transformiert werden kann, wenn das Alaya transformiert wird. Der allgegenwärtige Geist oder Gott, der die «objektive Welt» von Berkeley umfaßt und stützt, erinnert deutlich an das Alaya der Yogachara-Schule. Der Unterschied zwischen beiden liegt vielleicht in der Zugänglichkeit, Modifizierbarkeit sowie den Mitteln, den Universalen Geist zu verwirklichen. Der entscheidende Grundzug der Hua-yen-Philosophie ist ihre echt totalistische Methode. In den Prajnaparamita- und Madhyamaka-Schriften sind wir der Grundlehre der Shunyata begegnet, aber nur im Hua-yen finden wir die totalistische Shunyata in vollem Umfang und in einem vollkommen neuen Rahmen. Ohne die Einsicht der Hua-yen-Meister wäre es schwierig, sich die Wunder der Shih-shih-wu-ai-Dharmadhatu vorzustellen, die nichts anderes ist als das kosmische Drama, das durch die totalistische Leere enthüllt wird. Im Hua-yen sehen wir nicht nur die Wahrheit der Leere aus einer neuen Perspektive, sondern auch jede andere buddhistische
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Doktrin, einschließlich Karma, Bodhichitta und Nur-Geist. Alle diese Lehren erscheinen nun in einem völlig neuen Licht. So stellt zum Beispiel im Yogachara-System die Nur-Geist-Lehre lediglich fest, daß die stoffliche Welt eine Projektion des eigenen Geistes ist; sie ist jedoch niemals bis zu dem Punkt der wechselseitigen Projektion des gegenseitigen Enthalten-Seins vorgedrungen, wie sie vom Huayen dargestellt wird. Die Nur-Geist-Lehre des Hua-yen kommt am besten in Ch'eng-kuans Parabel aus dem Prolog zum Hua-yen zum Ausdruck, die wir bereits im Zusammenhang mit dem Meeresspiegel-Samadhi angeführt haben (siehe Seite 171 ff.);17 der Leser sollte sie hier zum Zweck des besseren Verständnisses noch einmal durchlesen. Erst in diesem Licht dieser Parabel kann die wechselseitige Projektion und das beiderseitige Enthaltensein der Nur-Geist-Lehre des Huayen klar und unmißdeutbar verstanden werden.
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DRITTER TEIL ________________________________________________
Eine Auswahl aus den Hua-Yen-Schriften und die Biographien der Patriarchen
Die Gelübde des Samantabhadra
Einführung Es wäre äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, aus dem umfangreichen Hua-yen-Sutra ein Kapitel auszuwählen, das auch nur einigermaßen ausreichend sowohl den tief religiösen Geist wie den ungeheuren Blick für die Unendlichkeit, die in diesem Werk Gestalt geworden sind, widerspiegeln könnte. Wenn aber eine solche Auswahl getroffen werden müßte, dann würde ich ohne Zögern das Kapitel «Die Gelübde des Samantabhadra» wählen. Nach der MahayanaÜberlieferung gibt es drei große Bodhisattvas: Avalokiteshvara, Manjushri und Samantabhadra, die das Erbarmen, die Weisheit und die Gelübde der Buddhas verkörpern. Die Gelöbnisse des Samantabhadra sind Zeugnis der erbarmungsvollen Hingabe eines vollkommenen Bodhisattva, dessen einziges Trachten darin besteht, die Schmerzen und Nöte aller Lebewesen zu lindern und ihnen zur Verwirklichung der Buddhaschaft und damit zu wahrer Glückseligkeit zu verhelfen.
Weiterhin, o Edelgesinnter, was ist gemeint mit: allen Buddhas auf jede Weise Opfer darzubringen? Es bedeutet, daß man, wenn man solche Opfer darbringt, denken sollte: «In den winzigsten Sonnenstäubchen all der Welten, in den Drei Zeiten und in den Zehn Richtungen, überall im ganzen Dharma-Bereich und im Bereich des Raumes wohnen Buddhas, an Zahl gleich der Zahl der winzigsten Sonnenstäubchen, die in allen Universen zu finden sind, alle und jeder umgeben von 243
einer riesigen Versammlung von Bodhisattvas. Kraft der Gelübde des Samantabhadra und des tiefen Glaubens und Verstehens sehe ich sie, als stünden sie mir von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ihnen allen biete ich Opfergaben herrlicher und wunderbarer Art dar, ganze Wolken von Gaben, himmlische Musik, kostbare Gewebe, heilige Gewänder und mannigfaltige Wohlgerüche, duftende Salben und wohlriechendes Räucherwerk, so daß die Gaben zusammen die Höhe des Berges Sumeru erreichen. Ich biete sie dar mit leuchtenden Lichtern aller Art, Lampen, mit Öl gespeist und süßen Duft verbreitend; der Docht jeder Lampe wird so groß sein wie der Berg Sumeru und das Öl eine Ausdehnung haben wie die großen Ozeane. Allen Buddhas biete ich demütig diese Opfergaben an. O Edelgesinnter, die Krone all dieser Gaben ist die Gabe des Dharma, aber was bedeutet das? Es bedeutet die Befolgung aller Unterweisungen des Buddha, das Geschenk, allen Menschen Gutes zu tun, das Geschenk, alle Lebewesen helfend zu unterstützen, das Geschenk, die Leiden anderer auf sich zu nehmen, das Geschenk, den Ursprung der Verdienste mit aller Kraft zu fördern, das Geschenk, sich nie von der Pflicht eines Bodhisattva abzuwenden, und das Geschenk, sich niemals vom Erleuchtungsgedanken zu trennen. Ich will niemals die Übung dieser ungeheuren, gewaltigen und höchsten Opfergabe aufgeben, sondern sie fortführen ohne Unterlaß. Meine Anstrengung wird erst enden, wenn der Bereich der Lebewesen, und der Bereich des Raumes endet, oder wenn die Karmas, Sorgen und Leidenschaften der Wesen enden. Aber da diese ohne Ende sind, werden es auch meine Opfergaben sein in jedem einzelnen der aufeinanderfolgenden Gedanken, in Werken des Leibes, der Rede und des Geistes, ohne Unterbrechung und ohne zu ermüden.»
Wir sehen hier nicht nur die Liebe und das Streben eines Bodhisattva, sondern, was wichtiger ist, wir erleben deren durch nichts begrenztes Ausmaß. Vielleicht ist es dieser spirituelle Weitblick mit seiner ungeheuren Offenheit für das Grenzenlose, der das Mahayana so einzigartig und für den modernen Geist so anziehend macht. Wer dieses Kapitel gelesen hat, der kann gewiß sein, darin ein geistiges Ziel und damit eine spirituelle Ausrichtung der tiefsten und inspirierendsten Art gefunden zu haben, denn dank der Gelübde des Samantabhadra hat er einen Blick in das dramatische Geschehen des Universums getan, wie es sich auf der Bühne der Dharmadhatu entfaltet und abspielt.
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Über das Eintreten in den unbegreiflichen Bereich der Befreiung dank der Taten und Gelübde des Bodhisattva Samantabhadra.1 Nachdem er die leuchtenden Verdienste und Tugenden des Tathagata gepriesen hatte, sprach der Bodhisattva Samantabhadra zu Kumara Sudhana und einer großen Versammlung von Bodhisattvas die folgenden Worte: «O ihr Edelgesinnten, die unendlichen Verdienste und Tugenden der Tathagatas lassen sich nicht in Worte fassen. Wenn all die Buddhas in den Zehn Richtungen sie in einer gemeinsamen Anstrengung während unendlicher Äonen von Kalpas gleich der Zahl der Sonnenstäubchen in den unfaßbaren und unberechenbaren Buddhabereichen aufzählen wollten2, sie würden sie niemals alle nennen können. Wen danach verlangt, diese hohe Stufe der Verdienste zu erreichen, der sollte die großen Zehnfachen Paramitas üben. Wie lauten diese Paramitas? Sie lauten: 1. Alle Buddhas ehren und ihnen huldigen. 2. Alle Buddhas und deren Tugenden preisen. 3. Allen Buddhas auf jede mögliche Art und Weise Opfergaben darbringen. 4. Die eigenen üblen Taten und Versäumnisse bekennen und bereuen. 5. Sich freuen, wenn andere Verdienste erwerben. 6. Den Buddha bitten, das
Der Bodhisattva Samantabhadra antwortete Sudhana: «O Edelgesinnter, um allen Buddhas zu huldigen, sollte man denken:
wird erst enden, wenn der Bereich des Raumes endet, wenn die Sphären der Wesen enden und wenn die Karmas, die Sorgen und die Leidenschaften der Wesen enden. Aber da die Bereiche des Raumes und die Sorgen der Wesen ohne Ende sind, so wird auch mein Lobpreisen ohne Ende sein, in jedem einzelnen der aufeinanderfolgenden Gedanken und in den Taten des Leibes sowie der Rede und des Geistes, ohne Unterbrechung und ohne zu ermüden.› Weiterhin, o Edelgesinnter, was ist gemeint mit: Allen Buddhas auf jede Weise Opfer darzubringen? Es bedeutet, daß man, wenn man solche Opfer darbringt, denken sollte:
im Vergleich zu einem einzigen Gedanken des Dharma sind sie kein Hundertstel, kein Tausendstel, kein Hunderttausendstel des letzten, nein, nicht ein Millionstel, ein Billionstel, ein Trillionstel eines Teiles von unfaßbarer und unberechenbarer Winzigkeit. Warum? Weil die Lehre allen Tathagatas am teuersten ist und alle Buddhas hervorbringt. Wenn ein Bodhisattva die Gabe des Dharma übt, vollendet er die reinsten Opfergaben und dient allen Tathagatas. Man sollte danken:
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Weiterhin, o Edelgesinnter, wie soll man den Buddha bitten, das Dharma-Rad der Lehre in Bewegung zu halten? Um dies zu tun, sollte man denken:
Weiterhin, o Edelgesinnter, wie soll man ein immer eifriger Gefolgsmann der Lehre des Buddha sein? Um dies zu tun, sollte man denken:
folgenden Gedanken, in körperlichen, gesprochenen und geistigen Taten, ohne Unterbrechung und unermüdlich.› Weiterhin, o Edelgesinnter, wie soll man den Lebewesen dienen und ihnen helfen? Um dies zu tun, sollte man denken:
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tungsgedankens wird die große Buddhaschaft errungen. Es ist wie mit einem großen Baum, der mitten in der Wüste steht; wenn seine Wurzeln genügend Wasser finden, dann wird er sein volles Blätterkleid entfalten, blühen und zahlreiche Früchte tragen. So ist es auch mit dem großen Bodhi-Baum: ... Die Lebewesen sind seine Wurzeln, und all die Bodhisattvas und Tathagatas sind seine Blätter und Früchte. Wenn ein Bodhisattva den Baum mit dem Wasser des Erbarmens vor dem Verdorren bewahrt, dann wird der Baum die Früchte der Weisheit der Tathagatas tragen. Warum ist dies so? Wenn ein Bodhisattva den Menschen voll Erbarmen hilft, dann wird er mit Sicherheit die Höchste Erleuchtung erringen. Die Erleuchtung ist an Lebewesen gebunden - ohne sie kann kein Bodhisattva die Höchste Buddhaschaft erlangen. O Edelgesinnter, wenn du allen Lebewesen auf gleiche Weise, ohne Unterschied, zu helfen vermagst, dann hast du das volle und vollkommene Erbarmen verwirklicht; wenn du auf solche Weise den Lebewesen dienst, bringst du damit allen Tathagatas Gaben des Glücks und der Zufriedenheit dar. In solchem Geist sollte sich ein Bodhisattva um alle Lebewesen mühen und sie gleichsam mit seinen Armen umschlossen halten. Dieses sein erbarmungsvolles Umschlossenhalten endet nicht, bevor nicht die Welt des Raums endet, die Welt der Lebewesen endet, die Karmas, Sorgen und Leidenschaften enden, in jedem einzelnen des aufeinanderfolgenden Gedanken, in körperlichen, gesprochenen und geistigen Taten, ohne Unterbrechung und unermüdlich.› Weiterhin, o Edelgesinnter, wie soll man seine Verdienste allen Lebewesen zugute kommen lassen? Um dies zu tun, sollte man denken:
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weithin offen! Ich bin bereit, die Lasten und Leiden aller Lebewesen auf mich zu nehmen, damit sie nicht den leidvollen Erfahrungen der Vergeltung ausgesetzt sind. Auf diese Weise will ich meine Verdienste allen Lebewesen zuwenden und sie auf sie übertragen, bis die Welt des Raumes endet, bis die Welt der Lebewesen endet und die Karmas, Sorgen und Leidenschaften der Lebewesen enden, in jedem einzelnen der aufeinanderfolgenden Gedanken, in körperlichen, gesprochenen und geistigen Taten, ohne Unterbrechung und ohne zu ermüden.» O Edelgesinnter, dies ist die genaue und vollständige Darstellung der Zehn Großen Gelübde und Taten aller Bodhisattvas und Mahasattvas. Wer diese großen Gelübde befolgt, wird fähig sein, alle Lebewesen zur Reife zu bringen und in die Höchste Erleuchtung der Tathägataschaft einzugehen.»
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Ein Kommentar zum Herz-Sutra
Einführung In China wird die Hua-yen-Schule des Buddhismus auch Hsien-shoutsung (die Schule des Hsien-shou) genannt. Hsien-shou ist ein anderer Name von Meister Fa-tsang, der allgemein als der bedeutendste Meister dieser Schule betrachtet wird. Fa-tsang hat mit seinen Schriften das Fundament des Hua-yen-Buddhismus geschaffen. Zwei seiner berühmten Aufsätze wurden für diese Studie ausgewählt. Der erste ist sein Kommentar zum Herz-Sutra und der zweite seine Schrift Über den goldenen Löwen. Unter den sehr unterschiedlichen Exegesen und Kommentaren zum Herz-Sutra ragt Fa-tsangs Arbeit nicht nur durch ihre Klarheit und ihre bis zum Letzten vordringende tiefe Einsicht hervor, sondern auch dadurch, daß sie die Prajnaparamita im Licht der totalistischen Perspektive darstellt. Mit diesem Werk hat Fa-tsang eine Brücke zwischen der Prajnaparamita-Literatur und dem Hua-yen geschlagen. Die Kenntnis dieser Exegese erleichtert wesentlich die Lektüre anderer wichtiger Hua-yen-Schriften, wie etwa der Aufsätze Über die Meditation der Dharmadhatu und Über den goldenen Löwen.
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Meister Fa-tsangs Kommentar zum Herz - Sutra8 (Auszüge)
Prolog Zur Erläuterung des Prajnaparamita-Hridaya-Sutra werden fünf Punkte behandelt: I. Die Motive, die zur Entstehung des Sutra geführt haben. II. Die Kategorie der Sutra-Sammlungen, der das Sutra zuzuzählen ist. III. Die Lehrsätze und der Zweck des Sutra. IV. Der Titel des Sutra. V. Die Erklärung des Textes.
I. Die Motive, die zur Entstehung des Sutra geführt haben Dieses Sutra wurde aus einer ganzen Anzahl von Gründen dargelegt: 1. um häretische Ansichten zurückzuweisen; 2. um die Anhänger des Hinayana zum Mahayana zu bekehren; 3. um Bodhisattva-Novizen vor einem Mißverstehen der Wahrheit der Shunyata zu bewahren; 4. um ein richtiges Verständnis der Lehre von den Zwei Wahrheiten und der Lehre des Mittleren Weges zu vermitteln; 5. um die überlegenen Verdienste der Buddhaschaft zu erhellen und so den wahren Glauben unter den Menschen zu fördern; 6. um die Menschen anzuregen, den Erleuchtungsgedanken zu erwecken; 256
7. um die Menschen zu ermutigen, die weitreichenden und unerschöpflichen Taten der Bodhisattvas zu üben; 8. um alle Hindernisse zu beseitigen; 9. um zur Frucht des Erleuchtungs-Nirvana zu verhelfen; 10. um diese Botschaft der Nachwelt zu deren Vorteil zu überliefern.
II. Die Kategorie des Sutra In Hinsicht auf den Tripitaka [«Dreierkorb», d. h. die drei Abteilungen des buddhistischen Kanons, also Sutras, Shastras und Vinayas] gehört dieses Sutra zur Abteilung der Sutras. In Hinsicht auf die «Zwei Körbe» [den Korb der Schüler und den Korb der Bodhisattvas] gehört dieses Sutra zum Korb der Bodhisattvas. In Hinsicht auf die Unterscheidung von Nützlichen Hilfsmitteln und Wahrer Lehre gehört dieses Sutra zur Wahren Lehre. Kommentar: Es ist kennzeichnend, daß Fa-tsang das Herz-Sutra, ein Werk der Prajnaparamita-Literatur, als der Höchsten oder Wahren Lehre (liao-i) zugehörig betrachtet, nicht der förderlichen Lehre (pu-liao-i). Dies weist darauf hin, daß er nicht primär zu den Nur-Geist- oder Yogachara-orientierten Philosophen gehört, die im allgemeinen die Nur-Geist-Lehre für die einzige höchste oder wahre Lehre halten. Aus diesem und anderen Hinweisen - z. B. der vorherrschenden Rolle, die die Meditation über die Wahre Leere im Fa-chieh-kuan (Über die Meditation der Dharmadhatu) spielt - können wir klar ersehen, daß der Hua-yen-Buddhismus nicht zur Gänze auf der Nur-Geist-Lehre beruht, wie allgemein angenommen wird. Im Gegenteil: Die Doktrin von der Leere spielt eine ganz wichtige Rolle in der Ausformung der Hua-Yen-Philosophie.
III. Die Lehrsätze und der Zweck des Sutra [Was bedeutet hier Lehrsätze und was Zweck?] Was mit Worten ausgedrückt wird, sind die Lehrsätze; was angestrebt wird, ist der Zweck. Im allgemeinen läßt sich sagen, die Lehrsätze dieses Sutra enthielten die Hauptlehren der Drei Prajnäpäramitäs; nämlich: 1. die Prajnaparamita der Wirklichkeit [Soheit]: das Wesen der Wirklichkeit, die betrachtet [meditiert] wird [das Objekt]; 257
2. die Prajnaparamita des Betrachtens: die wunderbare intuitive Weisheit [das Subjekt]; 3. die Prajnaparamita der Worte: die Auslegung der ersten beiden Prajnäpäramitäs durch Symbole. Kommentar: Mit der Einteilung in diese drei Prajnaparamitas wird die gesamte Bedeutung der Prajnaparamita durchsichtig. Beim Studium der Prajnaparamita muß man sich zuerst darüber im klaren sein, daß alles in den PrajnaparamitaSutras Gesagte nicht mehr ist als die Prajnaparamita der Worte (wen tzu po jo). Seine Funktion ist, zweierlei zu zeigen und auszulegen: die Wirklichkeit oder Soheit des Betrachteten und die intuitive Weisheit oder das, was diese Soheit meditierend betrachtet. Das erste wird hier Prajnaparamita der Wirklichkeit (shih hsiang po jo) genannt und das andere Prajnaparamita der Betrachtung (kuan chao po jo). Die Gesamtheit der Prajnaparamita-Literatur behandelt nicht mehr als diese beiden Themen. Mit diesen drei Hauptbegriffen kann man die verschiedenen Mißverständnisse vermeiden, zu denen es beim Studium der PrajnaparamitaLehre kommen kann.
IV. Der Titel des Sutra Das Wort Prajnaparamita bedeutet [die «transzendente Weisheit» oder] «die das andere Ufer erreichende Weisheit», und das Wort Hridaya bedeutet «das Herz», «der Kern» oder «die Essenz». Das Prajnaparamita-hridaya-Sutra ist daher ein Sutra, das die Essenz der Prajna-Wahrheit darlegt. Das Wort Prajnaparamita kann auch auf andere Weise interpretiert werden: Prajna, die Weisheit, deutet auf das, was die Wirklichkeit ist; Paramita, das «Erreichen des anderen Ufers», bedeutet Annäherung an die oder Erreichen der Wirklichkeit. Das eine ist der Kern, die Essenz oder die Substanz (ti) und das andere die Funktion (yung). [Das Obige ist eine freie Übersetzung.]
V. Die Erklärung des Textes Text: Als der Bodhisattva Avalokiteshvara in die tiefe Prajnaparamita versunken war... Exegese: Die tiefe Prajnaparamita verweist auf den Unterschied zwi-
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sehen der Prajna-Wahrheit, wie sie vom Mahayana, und der PrajnäWahrheit, wie sie vom Hlnayana verwirklicht wird. Die erstere schließt die Leere aller Dharmas ein, während die letztere die Leere auf das Selbst [pudgala] beschränkt. Text: . . . gewahrte er deutlich, daß die Fünf Skandhas alle leer sind und überwand so jegliches Leiden. Exegese: Dank der Verwirklichung der Leere sind alle Leiden überwunden, und Samsara endet. Text: O Shariputra, Form ist nicht verschieden von Leere, Leere ist nicht verschieden von Form. In der Tat: Form ist Leere, Leere ist Form. Und das gleiche gilt für Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und Bewußtsein. Exegese: Um den Sinn dieser Stelle herauszuarbeiten, sind fünf Schritte zu tun; man muß: 1. die Zweifel der Außenseiter [das sind nicht dem hier dargelegten Glauben Angehörige] zerstreuen; 2. die Essenz der Lehre erläutern; 3. auf das hinweisen, was aufgegeben werden muß; 4. das festhalten, was zu erreichen ist; 5. die machtvolle Überlegenheit [der Prajnaparamita] preisen. 1. Die Zweifel der Außenseiter zerstreuen Dies kann wiederum in vier Hauptpunkte unterteilt werden: A) die Zweifel der Hinayana-Anhänger beseitigen; B) die Zweifel der Mahayana-Anhänger beseitigen; C) die korrekte Auffassung des Textes erläutern; D) den Text im Licht der Meditation und Kontemplation auslegen. A) Die Zweifel der Hinayana-Anhänger beseitigen Shariputra war ein Außenseiter, und so war diese Stelle an ihn gerichtet. Das Wort Shariputra bedeutet wörtlich: «Der Sohn des Adlers». Shari bedeutet «Adler» - ein Spitzname von Shariputras Mutter, deren Intelligenz so scharf war wie die Augen des Adlers. Auch Shariputra war dafür bekannt, daß er [unter den Hinayana-Schülern] die 259
höchste Intelligenz besaß. Das war der Grund dafür, daß er als Adressat gewählt wurde. Der Zweifel, der in seinem Geist zurückblieb, war [wahrscheinlich] der folgende: Frage: Nach unserer Hinayana-Lehre würden diejenigen, die das «Nirvana mit Rückständen» erreicht haben, nur die Existenz der Skandhas erkennen, aber nicht die eines Selbst oder individuellen Ich. Die sollte man auch die Leere des Dharmas nennen können. Wenn dem so ist: Was ist der Unterschied [zwischen der Mahayana-Leere und der des Hinayana]? Antwort: Eure Doktrin von der Leere der Skandhas sagt, daß kein Selbst in den Skandhas existiert, aber sie sagt nicht, daß die Skandhas an sich ebenfalls leer sind; daher sind die Skandhas verschieden von der Leere. Aber dies [die Prajnaparamita-Leere] erklärt, daß alle Skandhas in ihrer Eigennatur leer sind. Die beiden [Arten der Leere] sind daher ganz verschieden, und das ist der Grund, warum dieses Sutra den Umstand betont, daß Form nicht verschieden ist von Leere.9 Frage: Nach unserer Hinayana-Lehre haben diejenigen, die das «Nirvana ohne Rückstände» erreicht haben, allen physischen Formen und Verstandestätigkeiten ein Ende gesetzt. Für sie gibt es keine Formen [und keine Empfindungen usw.]. Was für ein Unterschied besteht dann? Antwort: Eure Doktrin sagt, daß die Leere etwas ist, das nach dem Erlöschen der Formen entsteht, und sagt nicht, daß die Formen selber leer sind. Aber hier [erklärt die Prajnaparamita], daß Form an sich Leere ist, und das ist etwas ganz anderes als die Leere als Ergebnis des Erlöschens der Formen.
Die Zweifel, die sich gewöhnlich bei den Hinayana-Anhängern erheben, sind von diesen beiden Arten, nämlich: ein Mißverständnis der Leere als die Leerheit der Abwesenheit oder als Leere durch Erlöschen. B) Die Zweifel der Mahayana-Anhänger beseitigen Diese Darstellung kann auch die Zweifel einiger Bodhisattvas beseitigen. Nach dem Uttaratantra-Shastra gibt es drei mögliche Arten von Zweifel im Geist eines Bodhisattva, der die Leere nicht richtig begriffen hat: 1) Er betrachtet Leere als verschieden von Form [rupa] und glaubt, daß Leere außerhalb der Form existiert. Um dieses Mißverständnis zu berichtigen, weist das Sutra darauf hin, daß Form nicht verschieden von Leere ist.
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2) Er betrachtet Leere als das, was Formen verneint oder zerstört und versteht die Leere als Zunichtewerden. Um dieses Mißverständnis zu berichtigen, weist das Sutra darauf hin, daß Form an sich Leere ist und daß Leere nichts ist, das erst nach dem Erlöschen der Form erscheint. 3) Er betrachtet Leere als ein «Ding» und sieht sie in irgendeiner Weise als etwas Existierendes [yu] an. Um diesen Zweifel zu beseitigen, weist das Sutra darauf hin, daß Leere an sich Form ist, und schließt damit aus, daß man sich Leere als eine [existierende Leere] vorstellt. Wenn diese drei Zweifel beseitigt sind, wird die wahre Leere offenbar werden. C) Die korrekte Auffassung des Textes erläutern Wenn Form und Leere einander gegenübergestellt werden, dann werden drei Prinzipien evident: 1) das Prinzip des Gegensatzes [Diesem Prinzip gibt der Text den Ausdruck:] «Deshalb gibt es in der Leere keine Form, [keine Empfindung usw.]...» Das ist die Erkenntnis, daß Leere die Form verneint. Dieses Prinzip besagt deshalb auch, daß es in der Form keine Leere gibt. Aus dem gleichen Grund würde Form die Leere verneinen. So würde sich, wenn beide gleichzeitig existierten, eine gegenseitige Verneinung und Zerstörung ergeben. Kommentar: Die dem Menschen angeborene und alles durchdringende Svabhava-Denkweise veranlaßt ihn dazu, Sein und Nicht-Sein, Form und Leere und alle gegensätzlichen Entitäten als einander ausschließend und verneinend zu betrachten. Solange er auf dieser Svabhava-Seite des Zaunes steht, kann er nicht wirklich nicht-dualistisch denken. Daher ist er unfähig, mit der mystischen Einsicht «Form ist Leere, Leere ist Form» übereinzustimmen. Wenn er sich also mit der Frage der Nicht-Dualität befaßt, kommt es immer zu einer Reflexion des dualistischen Konflikts. Obwohl die Hua-yen-Totalität ein Bereich vollständiger Verschmelzung und Harmonie ist (yüan-t'ung wu-ai), wird ein widersprüchliches Bild unvermeidlich, sobald sie von der Svabhava-Seite aus angesehen wird. Andererseits existieren alle Svabhava-Wesen einfach nicht, wenn sie von der anderen oder transzendenten Seite angeschaut werden. Wird diese Wahrheit der Nicht-Existenz in unserer Sprache ausge-
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drückt, dann wird sie «Verneinung» genannt oder das Prinzip des Gegensatzes. Als Avalokiteshvara in die tiefe Prajnaparamita versunken war, sah er, daß alle Fünf Skandhas leer sind; nur nach dieser tiefen Erfahrung der völligen Verneinung der Wesen war er fähig, die Lehre zu verkünden, daß «Form Leere ist und Leere Form». Von einem ontologischen Gesichtspunkt aus ist eine Verneinung der Form vielleicht gar nicht notwendig, da Form ja im Grunde die Leere selbst ist. Von der Erfahrung und vom soteriologischen Gesichtspunkt her ist eine völlige Verneinung alles Seienden notwendig, damit diese Schranke überschritten werden kann. Daher hier das sogenannte Prinzip des Gegensatzes.
2) das Prinzip des Nicht-Gegensatzes oder der Nicht-Behinderung Dieses Prinzip besagt, daß Formen, weil sie Täuschung und unsubstantiell sind, kein Gegensatz zur oder Hindernis für die Leere sein können. In gleicher Weise kann die Leere, wenn sie wahr und echt ist, kein Gegensatz zu den oder Hindernis für die täuschenden Formen sein. Wenn [eine Leere] jedoch den Formen entgegengesetzt ist, kann sie nichts anderes sein als eine Leere der Vernichtung [oder Behinderung]. Aus dem gleichen Grund kann eine Form, die ein Gegensatz zur oder Hindernis für die Leere ist, nichts anderes sein als eine substanzhafte [Svabhava-]Form und keine täuschende Form. 3) das Prinzip der Zusammenarbeit Es besagt, daß Formen, wenn sie nicht vollständig leer sind [oder wenn sie ein Jota von Eigen-Sein besitzen], niemals als täuschende Formen betrachtet werden können. Gerade weil Formen an sich leer sind, ist die Existenz von Formen möglich. Das Maha-Prajnaparamita-Sutra sagt: Wenn nicht alle Dharmas leer wären, Würde es keinen Weg und keine Früchte geben. Die Madhyamaka-Karika [Chung-lun] sagt: Dank der Wahrheit der Shunyata Können alle Dharmas ins Sein treten. Die Wahre Leere sollte in dieser Weise verstanden werden. [Aufgrund der vorhergehenden Überlegungen] können wir nun vier Bedeutungen oder Sichtweisen der Wahren Leere ableiten: 262
(1) Die Sichtweise, die dies [Leere] verneint und das [Form] bejaht.10 Dies ist bezeugt in der Feststellung «Leere ist Form», was das Erscheinen der Formen, aber das Verbergen der Leere betont. (2) Die Sichtweise, die das [Form] verneint und dies [Leere] bejaht. Dies ist bezeugt in der Feststellung «Form ist Leere», was das Aufhören der Formen und das Erscheinen der Leere betont. (3) Der Gesichtspunkt der Koexistenz von Leere und Form. Die Wahre Leere ist die Nicht-Dualität von Erscheinendem und Verborgenem. Wenn wir sagen, daß Formen nicht verschieden sind von Leere, sagen wir damit, daß sie trügerisch sind. In diesem Sinn existieren Formen. Wenn wir sagen, daß Leere nicht verschieden ist von Formen, veranschaulichen wir die Wahre Leere. Hier wird Leere offenbart. Da Leere und Form einander nicht behindern, können sie gleichzeitig existieren. (4) Der Gesichtspunkt der gegenseitigen Vernichtung von Leere und Form. Dies besagt, daß - da Formen und Leere vollkommen identisch sind - [die Identität] sowohl der Leere wie der Form zunichte geworden ist, ein Seinsstand, der über alle Dichotomien hinausgeht. Der obigen Überlegung folgend, können wir vier Beobachtungen vom Gesichtspunkt der Formen aus machen, nämlich: (1) Erscheinen der Form und Verhüllung der Leere; (2) Erscheinen der Leere und Verhüllung der Form; (3) Veranschaulichung der Koexistenz von Leere und Form; (4) Veranschaulichung der gegenseitigen Vernichtung von Leere und Form. So können die täuschenden Formen existieren oder nicht-existieren ohne die geringste Behinderung, und die Wahre Leere kann erscheinen oder verborgen sein in äußerster Freiheit. Wenn beide [Form und Leere] in eins verschmelzen, wird das Charakteristikum dieses [wunderbaren] Zustandes erkannt: rundum und durch und durch ineinander aufzugehen, ohne hei einem zu verweilen. Kommentar: Dieser Abschnitt ist der Angelpunkt des Aufsatzes. Fa-tsangs totalistische Interpretation des Schlüsselsatzes des Herz-Sutra («Form ist
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Leere, Leere ist Form») wird in aller Klarheit dargestellt. Er kommt zu dem Schluß, daß, wenn man Form und Leere einander gegenüberstellt, drei Grundtatbestände offenbar werden: 1. der Grundsatz des Gegensatzes; 2. der Grundsatz des Nicht-Gegensatzes; 3. der Grundsatz der Zusammenarbeit. Vom totalistischen Standpunkt aus kann keiner dieser drei Grundtatbestände ausgeschlossen werden, weil jeder eine unentbehrliche Rolle in der Ausprägung der Totalität spielt, die in der Hua-yen-Terminologie als «die Dharmadhatu der NichtBehinderung» beschrieben wird, als die «Sphäre des harmonischen Verschmelzens», als der «Bereich der nirgends verweilenden Freiheit» usw. Dank dieser totalistischen Methode kann der Sinn der Wahren Leere von mindestens vier Bezugssystemen aus gedeutet werden: (1) Verneinung der Leere und Bejahung der Form; (2) Verneinung der Form und Bejahung der Leere; (3) Koexistenz von Leere und Form; (4) gegenseitige Vernichtung von Leere und Form. Das ist eine genaue Entsprechung zu dem Prinzip der Nicht-Behinderung von Verhüllung und Offenbarwerden in den Zehn Mysterien. Im Licht dieses Prinzips sind alle philosophischen Kontroversen nichts als in Blindheit geführte Streitgespräche, in denen «dies (die Leere) verborgen und das (die Form) enthüllt wird».
D) Den Text im Licht der Meditation und Kontemplation [shamathavipashyana] auslegen Dies kann in drei Hauptpunkten abgehandelt werden: 1) Wird die Form als Leere wahrgenommen, so entsteht die Übung der Meditation [shamatha oder dhyana]; wird die Leere als Form wahrgenommen, so entsteht die Übung der Kontemplation [vipashyana] Wenn man im Bruchteil einer Sekunde [plötzlich die Nichtverschiedenheit von Leere und Form wahrnimmt], ist das die Übung der Gleichzeitigkeit von Meditation und Kontemplation [shamatha-vipashyana], und nur dies kann als die endgültige [höchste] Übung angesehen werden. 2) Wenn einer sieht, daß Form Leere ist, dann erlangt er die Große Weisheit, und er bleibt nicht mehr im Samsara. Wenn er die Leere als Form sieht, erreicht er das Große Erbarmen und will nicht mehr im Nirvana bleiben. Weil Form und Leere, Weisheit und Erbarmen un-
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unterscheidbar geworden sind, ist er fähig, auf nicht-anhaftende Weise zu wirken. 3) Der große Meister Chih-i schlägt vor, im eigenen Geist die sogenannten Drei Überlegungen anzustellen, die auf dem Ying-lao-Sutra basieren. Es sind: (1) Die täuschenden Formen [maya] auf Leere zurückführen heißt: Form ist Leere. (2) Die Leere auf die täuschenden Formen zurückführen heißt: Leere ist Form. (3) Die Gleichheit von Maya und Leere erkennen heißt: Form und Leere sind nicht verschieden. Jetzt zum zweiten der auf Seite 259 angesprochenen fünf Schritte: 2. Die Essenz der Lehre erläutern Text: Shariputra, die Kennzeichen der Leere aller Dharmas sind: Nicht-Entstehen und Nicht-Vergehen, Nicht-Befleckung und NichtMakellosigkeit, Nicht-Zunehmen und Nicht-Abnehmen. Exegese: In der Wendung «Die Kennzeichen der Leere aller Dharmas» bedeutet «alle Dharmas» die verschiedenen Skandhas; und Kennzeichen [lakshana] meint die Eigenschaften oder Charakteristika. Nach der Abhandlung über die Unterscheidung der Mitte und der Extreme ist die Natur der Leere wesentlich nicht-dual; das bedeutet die NichtExistenz von Subjekt und Objekt [freie und verkürzende Übersetzung]. Text: Nicht-Entstehen und Nicht-Vergehen, Nicht-Befleckung und Nicht-Makellosigkeit, Nicht-Zunehmen und Nicht-Abnehmen. Exegese: Diese Stelle enthält drei Paare und sechs Verneinungen. Drei verschiedene Erklärungen werden im folgenden gegeben. 1) Eine Erklärung im Licht der Stufen auf dem Pfad «Nicht-Entstehen und Nicht-Vergehen» - das bezieht sich darauf, daß ein gewöhnliches Wesen vor der Stufe der Erleuchtung [oder der ersten bhumi] durch den Prozeß von Geburt und Tod gehen und immer wieder ins Samsara zurückkehren muß. Das ist die Stufe von «Geburt und Tod» oder die Stufe des «Entstehens und Vergehens». 265
Die Wahre Leere aber ist weit von all dem; daher heißt es von ihr: «Nicht-Entstehen und Nicht-Vergehen». «Nicht-Befleckung und Nicht-Makellosigkeit» - das weist darauf hin, daß die verschiedenen Stufen auf dem Bodhisattva-Pfad sowohl durch Reinheit wie durch Befleckung gekennzeichnet sind, weil diese Bodhisattvas einen bestimmten Grad von Erleuchtung erreicht haben, aber noch nicht alle Unwissenheit [avidya] und Hindernisse vollständig ausgeräumt haben.11 Das ist die Stufe von «Reinheit und Beflekkung». Wahre Leere ist weit von all dem; daher wird von ihr gesagt: «Nicht-Befleckung und Nicht-Makellosigkeit». «Nicht-Zunehmen und Nicht-Abnehmen» - Wenn die Endphase des Pfades durchschritten und die Buddhaschaft erreicht ist, sind Unwissenheit und alle Hindernisse des Samsara nunmehr beseitigt. Das heißt: «Abnehmen». Dank der geistigen Zucht sind die unendlichen Verdienste nunmehr erlangt. Das heißt: «Zunehmen». Aber Wahre Leere ist weit von all dem; daher heißt es von ihr: «Nicht-Zunehmen und Nicht-Abnehmen». Im Shastra von der Buddha-Natur werden die Namen von drei Arten der Buddha-Natur genannt: (1) Vor der Anfangs-Erleuchtung auf dem Übungsweg wird [die Buddha-Natur] die Buddha-Natur an sich genannt [oder die Immanente Buddha-Natur]. (2) [Während der verschiedenen Stufen der Erleuchtung auf dem Weg wird sie] die Enthüllte Buddha-Natur [genannt]. (3) Nachdem der Weg zurückgelegt wurde, wird sie die Buddha-Natur der Vollkommenen Frucht genannt. Tatsächlich gibt es nur eine Buddha-Natur, aber gemäß den Stufen des Pfades wird sie hier dreifach unterteilt. Es sollte jedoch im Geist festgehalten werden, daß die Wahre Leere [an sich] keine Teilungen welcher Art auch immer - kennt, sondern daß sie nur um des Verständnisses willen entsprechend den Stufen des Pfades unterteilt wird. 2) Eine Erklärung im Licht des Dharma [d.h. des absoluten oder transzendenten Aspektes der Leere] Obwohl diese Wahre Leere identisch ist mit den Formen usw., werden die Formen durch Entstehen in Abhängigkeit hervorgebracht, aber die Wahre Leere wird niemals hervorgebracht. [Das bedeutet, 266
daß sie niemals ins Sein tritt.] In gleicher Weise werden Formen durch abhängiges Entstehen vernichtet, aber die Wahre Leere wird niemals vernichtet. Im Samsara wird sie nicht befleckt noch wird sie rein, wenn alle Hindernisse beseitigt sind; sie nimmt weder zu noch ab, ob in den oder außerhalb der Leidenschaften. Denn all diese Aspekte: Entstehen, Vergehen, Abnehmen oder Zunehmen usw. sind Kennzeichen bedingter Dinge [samskrita-dharmas]. Nur durch deren Verneinung werden die «Kennzeichen» [lakshana] der Wahren Leere offenbar. Das ist es, was mit «Kennzeichen der Leere» im Sutra gemeint ist.
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Die Meditation der Dharmadhatu
Einführung Das originellste und wichtigste Werk der Literatur zur Hua-yen-Philosophie ist ohne Zweifel Tu-shuns Fa-chien-kuan (Über die Meditation der Dharmadhatu). In diesem Aufsatz werden die Grundgedanken und die methodischen Charakteristika der Hua-yen-Philosophie in klarer Anschaulichkeit vorgeführt. Die vier berühmten Meister, die Tu-shun nachfolgten - Chih-yen, Fa-tsang, Ch'eng-kuan und Tsungmi -, waren alle von diesem Essay inspiriert und folgten in ihren eigenen Werken den darin niedergelegten Prinzipien und Argumenten. In Hinsicht auf die Philosophie ist dieses Traktat zweifellos das wichtigste Werk des Hua-yen-Buddhismus. Das Hauptthema ist die Entwicklung einer Philosophie der alles umschließenden Totalität (shi-shi wu-ai) in drei Schritten: 1. Die Meditation der Wahren Leere. 2. Die Meditation der Nicht-Behinderung von Li und Shih. 3. Die Meditation der alles umschließenden Totalität. Aus der Darstellung dieser drei Meditationen wird klar ersichtlich, daß die Grundlage der Hua-yen-Philosophie eher die Philosophie der Leere ist als die der Nur-Geist-Doktrin, wie allgemein angenommen wird. Die Leser dieses Textes werden sich fragen, warum dessen Autor, statt klar und einfach zu sprechen, eine solch abstruse Form gewählt hat, um seine Ideen auszudrücken. In der Meditation der Wahren Leere wird der Satz «Form ist nicht leer, weil sie leer ist» dreimal wiederholt, wenn auch jede Wiederholung mit einer anderen Idee 268
zusammenhängt. Der Grund dieser Unbestimmtheit mag sein, daß dieses Werk nicht als eigenständige philosophische Abhandlung verfaßt wurde, sondern als eine Anweisung zur Meditation. Es ist daher dem knappen Stil und der lakonischen Ausdrucksweise des Herz-Sutra nachgebildet in der Überzeugung, daß nur auf diese Weise die Bedeutungsfülle, die in einem so prägnanten Satz wie «Form ist Leere, Leere ist Form» enthalten ist, voll und ganz erkannt werden kann. Tu-shuns Argumente wären einfacher und sein Werk wäre lesbarer, wenn er nicht von der «glückbringenden» Bedeutung der Zahl Zehn geradezu besessen gewesen wäre. Sein Glaube an die Bedeutsamkeit dieser Zahl führte ihn dazu, nach einer erzwungenen Methodik jede Untersuchung in zehn Punkte einzuteilen. Diese Künstlichkeit ist in der Tat höchst unglücklich und vielleicht der einzige Schönheitsfehler in dieser denkwürdigen Schrift. Die Wiederholung derselben oder ähnlicher Argumente erklärt sich daraus, daß es sich hier um eine Anweisung zur Meditation handelt, deren primäre Funktion die Hinführung zu richtiger Kontemplation ist. Von diesem Gesichtspunkt aus sind die Wiederholungen und parallelen Betrachtungen nicht nur hilfreich, sondern sogar notwendig. Da die Meditation der Nicht-Behinderung von Li und Shih schon im zweiten Teil des Hauptabschnitts über die Philosophie der Totalität erklärt worden ist, wird hier keinerlei weiterer Kommentar dazu gegeben. Die Kommentare sind überhaupt auf ein Minimum beschränkt, um den Stil und den Charakter des Textes selbst zu bewahren. Wenn der Leser mag, kann er den zweiten Abschnitt überspringen und die nächste Meditation lesen: die Meditation der alles umschließenden Totalität.
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Über die Meditation der Dharmadhatu12 von Meister Tu-shun
Die Übung, die große Dharmadhatu im ungeheuren Buddhabereich zu schauen, enthält drei Meditationsteile: die Meditation der Wahren Leere, die Meditation der Nicht-Behinderung von Li [Noumenon] und Shih [Phänomenon] und die Meditation der allumfassenden Totalität.
I. Meditation der Wahren Leere Vier Betrachtungen sind anzustellen: A. die Rückführung von Form in Leere; B. die Identifizierung von Leere mit Form; C. die Nicht-Behinderung von Form und Leere; D. das absolute Sich-Loslösen und Nicht-Haften. A. Die Rückführung von Form in Leere Die Meditation betrachtet:13 Um die erste Beobachtung, die der Rückführung von Form [Materie] in die Leere zu erklären, werden vier Argumente angeführt: 1. Form ist nicht leer, weil sie leer ist. Was bedeutet das?14 Zu sagen «Form ist nicht leer» will sagen, daß Form keine Leere der Vernichtung, sondern eine Wahre Leere ist. 2. Form ist nicht leer, weil sie leer ist. Was bedeutet das? Insoweit als weder Gelb noch Grün genau dem Prinzip der Leere entsprechen, 270
ist Form nicht leer. Da jedoch [vom Standpunkt der transzendenten Wahrheit aus] das Gelb oder das Grün keine Substanz haben, sind sie nichts als Leere; deshalb sagen wir, sie sind Leere. [Andererseits ist] die Leere des Gelb und des Grün verschieden vom Gelb und Grün selbst; deshalb sagen wir, sie sind nicht genau die Leere. 3. Form ist nicht leer, weil sie leer ist. Was bedeutet das? Insofern es keine Form gibt, die in der [Absoluten] Leere aufgefunden werden kann, sagen wir, daß sie nicht leer ist. [Vom Standpunkt der] Rückführung der Form in Leere sagen wir [jedoch], daß sie leer ist. Wenn Form rückgeführt wird in die Leere, wird keinerlei Form in der Leere existieren; [unter dieser Voraussetzung] hat es einfach keinen Sinn, von der Identität oder dem Unterschied von Form und Leere zu sprechen. Weil Form leer ist [wenn sie in die Leere rückgeführt wird], ist Form nicht leer [weil keine gegenseitige Identität in diesem Fall möglich ist]. Kommentar: Cheng-kuan kommentiert die obigen Argumente:15 Da es keine Form in der [Absoluten] Leere gibt, kann Form nicht die Leere selbst sein, doch getrennt von der Form gibt es keine andere Wahrheit; daher kann die Leere nicht getrennt von der Form sein. Wahre Leere ist daher weder identisch mit Form noch verschieden von ihr. ... Aber es gibt Menschen, die an der Vorstellung festhalten, daß die Leere außerhalb der Form existiert und im Wesen verschieden von ihr ist. ... Deshalb wird hier darauf hingewiesen und gefragt: Da es keine Spur von Form, welcher Art auch immer, in der [Wahren] Leere gibt, wie kann es eine Leere geben, die gegenüber der Form existiert? Wenn außerdem Form rückgeführt wird [in die Leere], ist keine Substanz zu sehen; daher sagen wir, sie ist leer. Wie wäre es dann möglich, sich eine Leere vorzustellen, die außerhalb der Form existiert [und mit ihr ein Gegensatzpaar bildet]? Darum sagen die Weisen der alten Zeiten: Wenn die Form verschwunden ist, Bleibt keine Leere zurück. Leere hat weder Grenze Noch Bleibe.
4. Form ist leer. Warum? Weil alle Formen auf keinen Fall verschieden sein sollten von Wahrer Leere. Da alle Formen ohne Substanz [oder Selbstheit]
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sind, sind sie alle leer. Wenn Form [rupa] leer ist, so sind es alle Dharmas. Kontempliere dies! B. Die Identifizierung von Leere mit Form Vier Hauptpunkte erklären diese Beobachtung: 1. Leere ist nicht Form, weil Leere Form ist. Was bedeutet das? Die Leere der Vernichtung ist nicht Form; daher sagen wir, Leere ist nicht Form. Nichtsdestoweniger sollte die Wahre Leere auf keinen Fall verschieden sein von Form; daher sagen wir, Leere ist Form. Weil die Wahre Leere identisch ist mit Form, kann die Leere der Vernichtung nicht identisch sein mit Form. 2. Leere ist nicht Form, weil Leere Form ist. Was bedeutet das? Da [von einem bestimmten Standpunkt aus] das Prinzip der Leere als solches nicht das Grün oder das Gelb selbst ist, sagen wir: Leere ist nicht Form. Die Wahre Leere des Nicht-Grün und Nicht-Gelb sollte jedoch auf keinen Fall verschieden sein von Grün und Gelb; daher sagen wir: Leere ist Form. Kurz, wir behaupten entweder, daß Leere Form ist oder nicht Form ist - je nachdem, was nicht verschieden von oder nicht identisch mit dem Grün und dem Gelb ist. 3. Leere ist nicht Form, weil Leere Form ist. Was bedeutet das? Leere ist nicht das, was wirkt [neng-i], sondern das, worauf gewirkt wird [so-i]. In diesem Sinne sagen wir, daß Leere nicht Form ist. [Von dem Standpunkt gesehen, daß] Leere [als der Grund, auf dem] Form handelt, fungieren muß [und so Form und Leere immer koexistent und wechselseitig identisch sind], sagen wir: Leere ist Form. Mit anderen Worten: Leere ist nicht Form, weil sie das Objekt [so-i] ist, und Leere ist Form, ebenfalls weil sie das Objekt [so-i] ist, sobald wir sie nämlich als Funktion sehen. Darum sagen wir: Weil Leere nicht Form ist, ist Leere Form. Kommentar: Insofern die Leere leer von allen Eigenschaften ist, kann man nicht sagen, daß sie identisch ist mit Form oder Materie. Die Leere kann nicht von selber handeln; nichtsdestoweniger kann sie als der Urgrund dienen, auf den jede Form oder Materie einwirkt. In diesem passiven Sinn kann die Leere lediglich als ein neutraler Grund angesehen werden, auf den gewirkt wird
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[so-i], aber nicht als das Subjekt oder der Wirkende [neng-i]. Darum kann die Leere [als so-i] nicht als Form [die neng-i ist] betrachtet werden. Andererseits, da die Leere als der Grund, auf den alle Formen wirken, fungieren muß, ist sie nicht nur untrennbar von den Formen, sondern, wegen des Grundsatzes des abhängigen Entstehens, identisch mit allen Formen. Dieser Schluß ist abgeleitet von der Beweisführung der grundlegenden Shunyata-Lehre: Form/Leere = abhängiges Entstehen = Maya = Wahre Leere.
4. Leere ist Form. Warum? Weil Wahre Leere auf keinen Fall verschieden sein sollte von Form und diese Wahrheit der Selbstlosigkeit der Dharmas nicht vernichtend ist - daher sagen wir, daß Leere Form ist. Wenn dies für Form/Leere gilt, so gilt es auch für alle Dharmas. C. Die Nicht-Behinderung von Form und Leere Der ganze Leib der Form ist nicht verschieden von Leere - er ist tatsächlich die die Form aufhebende Leere. Ohne die Form als solche zu vernichten, erscheint die Leere. Die Leere an sich ist nicht verschieden von Form - sie ist tatsächlich die die Leere aufhebende Form. Obwohl Form und Leere völlig identisch sind, ist die Leere - aufgrund dieser Tatsache - nicht verborgen, sondern erscheint. Daher sieht ein Bodhisattva Leere, wenn er Form sieht, und Form, wenn er Leere sieht. Dies ist das Dharma-Einssein, das ohne die leichteste Behinderung oder Gegensätzlichkeit ist. Kommentar: Tsung-mi kommentiert diesen Abschnitt:16 Obwohl der Terminus Form/Leere hier gebraucht wird, war die ursprüngliche Absicht des Verfassers, die Rückführung der Formen in die Leere [zu betonen]. Da alle Formen ohne die geringste Substanz sind, ist sowohl ihre Erscheinung wie ihr Name illusionär. Bei der Übung dieser Meditation soll man die Aufmerksamkeit in diese Richtung lenken. Das wird in den ersten beiden Sätzen deutlich, in denen es um die Form geht: «... er ist tatsächlich die die Form aufhebende Leere. Ohne die Form als solche zu vernichten, erscheint die Leere.» Aber im nächsten Satz, in dem es um die Leere geht, findet sich keine Parallele, die besagt, daß die Form erscheint. Statt dessen wird gesagt: «Obwohl Form und Leere völlig identisch sind, ist - aufgrund dieser Tatsache - die Leere nicht verborgen, sondern erscheint». Der 273
Blickpunkt dieser Meditation ist daher die Wahre Leere. Sie könnte nicht als «Meditation der Wahren Leere und der illusionären Formen» bezeichnet werden.
D. Das absolute Sich-Loslösen und Nicht-Haften Von der Wahren Leere kann man bei [rechter] Betrachtung nicht sagen, daß sie identisch mit oder verschieden von Form ist. Noch kann man sagen, daß sie identisch mit oder verschieden von der Leere ist. Nichts kann hier akzeptiert werden, noch ist dieses Nicht-Akzeptieren zu akzeptieren; auch diese Behauptung selbst wird nicht akzeptiert. Diese absolute Verneinung und dieses Nicht-Haften ist jenseits von Worten und Verstehen, es ist ein «Bereich der Erfahrung und Verwirklichung». Denn wenn irgendwelche Ideen oder Gedanken aufstiegen, würden sie die Dharma-Natur verletzen und so in die Irre gehen. Kommentar: Das ist eine sehr gute Beschreibung der Absoluten Leere [pi-chin-k'ung]. Wir meinen, eine typische Stelle in einem Zen-Text zu lesen. Überblickt man diese vier Betrachtungen, so bemerkt man, daß die ersten beiden - zusammen mit ihren acht Beweisen - dazu bestimmt sind, irrige Ideen zu zerstreuen und das richtige Verständnis hervorzurufen. Die dritte Betrachtung (nämlich die der Nicht-Behinderung von Form und Leere) ist dazu bestimmt, eben diesem Verstehen ein Ende zu machen, damit man in die eigentliche Praxis eintreten kann; die vierte soll zur Verwirklichung durch die Übung verhelfen. Der Gedankengang hinter dieser Abfolge ist: Wenn nicht zuerst ein Verständnis entstanden ist, wird es keinen Weg geben, dem die Praxis folgen kann. Wenn man andererseits nicht weiß, daß diese praktische Übung das Verstehen übersteigt, kann man kein echtes Begreifen erreichen. Wenn man sich an das Vorstellbare klammert und es nicht fahren läßt, kann man niemals zur richtigen Praxis gelangen. Kurz: Die Praxis kann nur beginnen mit Verständnis, und Verstehen wird enden, sobald die Praxis wirklich beginnt. Tsung-mi kommentiert das wie folgt:17 Bei der Übung dieser vier Betrachtungen sollen vier Fehler vermieden werden. Die erste Betrachtung, die Rückführung aller Formen in die Leere, kann uns vom Fehler des Hinzufügens befreien. [Das heißt: Wenn alle Formen in die Leere rückgeführt wurden, gibt es keine Möglichkeit zu irgendeinem unnötigen oder überflüssigen Hinzufügen zur selbstgenügenden Wirklichkeit.] Die zweite Betrachtung, die Identifizierung der Leere mit der Form, kann uns sowohl vom Fehler des Hinzufügens wie dem der Reduzierung befreien. [Das 274
heißt: Wenn Form und Leere als eins gesehen werden, ist die Einheit von MäyäShunyata verwirklicht, die über die Extreme von Sein und Nicht-Sein hinausgeht, aber beide einschließt.] Die dritte Betrachtung, die Nicht-Behinderung von Form und Leere, betont die Verneinung sowohl des Seins wie des Nicht-Seins und kann uns so vom Fehler des bloßen Spielens mit Worten befreien. Bei der vierten Betrachtung, der absoluten Auflösung und dem absoluten NichtHaften, wird auch die Vorstellung von der Einheit von Form und Leere verneint, was [uns] vom Fehler jeglicher Gegensätzlichkeit befreit. Wenn diese vier Fehler vermieden sind, werden die hundert Fehler und Irrtümer [automatisch] verschwinden. Das ist in der Tat die Quintessenz der acht Sammlungen der Prajnaparamita-Literatur und das Endziel aller Lehren des Großen Fahrzeugs.
II. Meditation der Nicht-Behinderung von Li [Noumenon] und Shih [Phänomenon] Zehn Prinzipien werden dargelegt, um sowohl das Verschmelzen von Li und Shih, als auch deren Sich-von-einander-Lösen, ihre KoExistenz und ihre Gegenseitige Auslöschung, ihr Zusammenwirken und ihre Gegensätzlichkeit zu erhellen. Kommentar: Ch'eng-kuan erläutert das:18 In der vorhergegangenen Meditation der Leere aller Formen steht die Leere für Li und die Form für Shih. Warum wird sie dann nicht die Meditation der NichtBehinderung von Li und Shih genannt? Das hat vier Gründe. Erstens: Obwohl in der vorhergegangenen Meditation das Faktum der Form oder Shih behandelt wird, liegt die Betonung auf dem Prinzip der Leere [Li] und der Nicht-Behinderung von Form und Leere. Es handelt sich also [primär] um eine Meditation der Wahren Leere. Zweitens: In der voraufgegangenen Meditation wurde der Aspekt der Leere erklärt, aber der Aspekt des «wunderbaren dynamischen Werdens [yu] der Tathata» nicht diskutiert. Drittens: [Die Meditation der absoluten] Auflösung und [des] Nicht-Haften[s] verneint sowohl Shih als auch Li. Viertens: Die voraufgegangene Meditation enthüllt nicht die Sphäre der NichtBehinderung, die das Tun des Nicht-Tuns zeigt, die Form der Nicht275
Form, die alle «Shihs» und «Lis» gleichzeitig dem Blick offen freigibt ohne Behinderungen, ein Reich der Verschmelzung aller Antithesen. Aus diesen vier Gründen kann die voraufgegangene Meditation nicht die der Nicht-Behinderung von Shih und Li genannt werden... Hier zehn Grundsätze, die Shih und Li zu einem [untrennbaren Ganzen] vereinen. So wie ein großer Schmelzofen alles Metall schmelzen und es zu verschiedenen Formen verarbeiten kann, so kann Li alle Shihs auflösen. Die harmonische Verschmelzung von Li und Shih macht die doppelte Nicht-Dualität offenbar. Alle zehn Grundsätze, die hier vorgebracht werden, bezwecken, dieses Prinzip der Nicht-Behinderung zu erhellen. ... Die Koexistenz von Li und Shih wird in den Grundsätzen neun und zehn gezeigt, die das Faktum festhalten, daß das wahre Li nicht Shih ist und Shih nicht Li. Hier behalten sowohl Li als auch Shih ihre [unabhängige] Existenz. Das Erlöschen von Li und Shih wird durch die Grundsätze sieben und acht erhellt. Beide halten fest, daß Shih Li ist und Li Shih. Diese Auslöschung des Selbst zur Verschmelzung mit dem anderen löst gleichzeitig Li wie Shih auf. Der Gegensatz zwischen Li und Shih wird in den Grundsätzen fünf und sechs gezeigt. Wenn das wahre Li das Shih annulliert, sehen wir, daß Li im Gegensatz zu Shih steht, und wenn Shih das Li verbirgt, sehen wir, daß auch Shih dem Li widerspricht. Die Zusammenarbeit zwischen Li und Shih wird in den Grundsätzen drei und vier gezeigt. Hier sehen wir, daß das Entstehen aller Shihs auf Li basiert. Das betont das Faktum, daß Li mit Shih zusammenarbeitet. Andererseits kann Shih das Li widerspiegeln oder darstellen, ein Beweis dafür, daß auch Shih mit Li zusammenarbeitet. Diese beiden Betrachtungen enthalten praktisch den Kern aller zehn Grundsätze. Die Lehre von der Nicht-Behinderung von Li und Shih ist damit begründet.
1. Li [muß] Shih umschließen Li, das Gesetz, das sich überallhin erstreckt, kennt keinerlei Grenzen oder Beschränkungen, aber Shih, die Objekte, die [von Li] umschlossen werden, haben Grenzen und Beschränkungen. In jedem Shih breitet sich Li überallhin aus, ohne etwas auszulassen oder irgendwo unvollkommen zu sein. Warum? Weil die Wahrheit des Li unteilbar ist. So enthält jedes winzige Atom die unendliche Wahrheit des Li in vollkommener und vollständiger Weise.
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2. Shih [muß] Li umschließen Shih, die Materie [oder das Ereignis], die umschließt, hat Grenzen und Beschränkungen, und Li, die Wahrheit, die [von den Dingen] umschlossen wird, hat keine Grenzen und Beschränkungen. Dennoch ist dieses begrenzte Shih vollständig identisch, nicht teilweise identisch mit Li. Warum? Da das Shih keine Substanz hat - ist es eben das Li. Daher kann ein Atom, ohne die geringste Beeinträchtigung für sich selbst, das ganze Universum umschließen. Wenn das für ein Atom gilt, muß das auch für alle anderen Dharmas gelten. Dieses alles umschließende Prinzip ist jenseits [des Begreifens des] gewöhnlichen Geistes und ist schwer zu verstehen. Es kann nicht [angemessen] mittels irgendeiner Metapher dieser Welt dargestellt werden. [Aber da wir gezwungen sind, die Sache zu veranschaulichen, wird das folgende Bild gebraucht:] Der ganze Ozean ist [verkörpert] in einer Welle, doch der Ozean schrumpft nicht zusammen. Eine kleine Welle enthält den großen Ozean, und doch dehnt die Welle sich nicht aus. Obgleich der Ozean gleichzeitig in allen Wellen vorhanden ist, spaltet er sich dadurch nicht in eine Vielheit auf; und obwohl alle Wellen gleichzeitig den großen Ozean einschließen, sind sie nicht eins. Wenn der große Ozean eine Welle umfaßt, hindert ihn nichts daran, alle anderen Wellen mit seinem ganzen Körper zu umschließen. Wenn eine Welle den großen Ozean einschließt, enthalten auch alle anderen Wellen den Ozean in seiner Gänze. Es gibt keine Gegensätzlichkeit, welcher Art auch immer, zwischen ihnen. Kontempliere dies! [Bei diesem Stand der Dinge] erhebt sich die folgende Frage: «Wenn das Li ein Atom mit seinem ganzen Körper umschließt, warum ist es dann nicht klein? Wenn das Li sich nicht auf die Größe des Atoms reduziert, wie kann man sagen, daß sein totaler Körper das Atom umschließt? Weiterhin: Wenn ein Atom die Natur von Li einschließt, warum ist es nicht groß? Wenn das Atom nicht dem Li gleicht und ebenso groß und weit wird, wie kann es die Natur des Li umschließen? Diese Argumente widersprechen sich selbst und sind unvernünftig.» Antwort: Stellt man Li und Shih einander gegenüber, so sind sie weder identisch noch verschieden; so kann [jedes] gänzlich [das ande277
re] einschließen, ohne daß die jedem zukommende Position beeinträchtigt wird. Erstens: Shih, von der Position des Li aus gesehen, läßt vier Grundsätze erkennen: a) Da die Wirklichkeit des Li nicht verschieden ist vom Shih, ist seine Totalität in jedem Shih. b) Da die Wirklichkeit von Li und die des Shih nicht identisch sind, erstreckt sich das Prinzip des Li bis ins Unendliche, c) Da die Nicht-Identität die NichtVerschiedenheit selbst ist, ist das grenzenlose Li vollständig in einem Atom enthalten, d) Da die Nicht-Verschiedenheit die Nicht-Identität selbst ist, ist das Li des einen Atoms grenzenlos und ungeteilt. Zweitens: Li, von der Position des Shih aus gesehen, läßt ebenfalls vier Grundsätze erkennen: a) Da Shih und Li nicht verschieden sind, schließt ein Atom die Natur des Li zur Gänze ein. b) Da Shih und Li nicht identisch sind, wird das Atom nicht beeinflußt, c) Da die NichtIdentität eben die Nicht-Unterschiedenheit ist, umschließt ein winziges Atom die unendliche Wirklichkeit des Li. d) Da die Nicht-Verschiedenheit eben die Nicht-Identität ist, wird ein Atom nicht ausgedehnt, wenn es die grenzenlose Wirklichkeit des Li einschließt. [Hier kann sich ein Einwand erheben:] «Wenn das grenzenlose Li ein Atom umschließt, finden wir dann [gleichzeitig] die Wirklichkeit des Li in anderen Atomen oder nicht? Wenn ja, dann bedeutet das, daß Li außerhalb des Atoms existiert; daher ist Li nicht gänzlich [damit befaßt], ein Atom zu umschließen. Andererseits, wenn die Realität des Li nicht außerhalb des Atoms gefunden wird, dann kann man nicht sagen, daß Li alle Dinge umschließt. Daher ist das Argument ein Widerspruch in sich selbst.» Antwort: Da die Natur von Li allgegenwärtig, harmonisch und verschmelzend ist19 und weil unzählige Dinge [Shih] sich gegenseitig nicht behindern, existiert [die Wahrheit der Totalität] sowohl innerhalb als auch außerhalb [von Li und Shih] ohne Gegensätzlichkeit oder Behinderung. [Dies auszuarbeiten] werden vier Gründe angegeben [vom Gesichtspunkt sowohl des Innen wie des Außen von Li und Shih]. Erstens, vom Standpunkt des Li: a) Auch wenn Li alle Dinge mit seinem totalen Körper umschließt, behindert das in keiner Weise die Existenz dieses totalen Körpers in einem Atom. Daher heißt außen sein zugleich innen sein, b) Während der totale Leib [von Li] in einem 278
Atom existiert, behindert das nicht die Existenz dieses totalen Körpers in anderen Dingen. Daher heißt innen sein zugleich außen sein, c) Die Natur der Nicht-Dualität ist allgegenwärtig; daher ist sie außen und auch innen, d) Die Natur der Nicht-Dualität ist «jenseits von allem»; daher ist sie weder außen noch innen. Die ersten drei Gründe veranschaulichen die Nicht-Unterschiedenheit des Li von allen Shihs, der letzte veranschaulicht die Nicht-Identität von Li mit Shih. Weil Li weder identisch mit noch verschieden von Shih ist, werden Außen und Innen ohne Behinderung gesehen. Zweitens, vom Standpunkt des Shih: a) Wenn ein Ding [Shih] Li mit seinem ganzen Körper einschließt, behindert es alle anderen Dinge nicht, Li zur Gänze einzuschließen, b) Wenn alle Dinge Li umfassen, behindern sie kein Atom, Li zur Gänze zu umschließen. Daher heißt außen existieren innen existieren, c) Weil alle Dinge [Li] gleichzeitig in jeder Weise umschließen, sind alle Dinge vollständig in Li und gleichzeitig außerhalb von Li, ohne jede Behinderung, d) Da alle unterschiedenen Dinge einander nicht beeinträchtigen, wenn eines dem anderen entgegengestellt wird, geht es weder um Innen noch Außen. 3. Die Hervorbringung von Shih muß sich auf Li stützen Das bedeutet, daß Shih kein anderes Wesen hat [als Li]; dank des Li kann Shih entstehen, denn alles, was durch Verursachung entsteht, ist bar jeder Selbst-Natur [nihsvabhava]. Aufgrund dieser Nicht-Selbstheit kommen alle Dinge ins Sein. Die Wellen stoßen das Wasser und wühlen es auf, und dank des Gegensatzes von Wasser und Welle entsteht die Bewegung. In gleicher Weise kommen dank der BuddhaMatrix [tathagata-garbha] alle Dinge ins Sein. 4. Durch Shih wird Li sichtbar gemacht Wenn Shih das Li ergreift, wird Shih leer und Li wird zur Substanz; und da das Shih leer geworden ist, manifestiert sich das Li, das im totalen Shih «wohnt», genauso wie der Körper des Wassers nackt erscheint, wenn die Form einer Welle annulliert wird. Kontempliere dies!
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5. Durch Li wird das Shih annulliert Wenn Shih das Li ergreift und Li hervortreten läßt, wird die Form des Shih annulliert, und was einzig klar erscheint, ist das Wahre Li. Jenseits des Wahren Li ist nicht ein einziges Stück Shih zu finden. Wenn das Wasser die Wellen annulliert, bleibt nicht eine einzige Welle zurück. [Mit anderen Worten:] Sich ans Wasser halten, um den Wellen ein Ende zu bereiten [oder das Wasser enthüllen und die Wellen verbergen]. 6. Das Shih kann das Li verbergen Das Wahre Li folgt den kausalen Geschehnissenund begründet sie. Da diese kausalen Geschehnisse dem Li jedoch entgegengesetzt sind, ist das Ergebnis, daß nur die Geschehnisse erscheinen, aber das Li nicht erscheint. In ähnlicher Weise erscheint, wenn Wasser zu Wellen wird, der Aspekt der Bewegung, während der Aspekt der Ruhe überhaupt nicht in Erscheinung tritt. Das Sutra sagt: «Der Dharmakaya, der in den Fünf Lokas [im Samsara] kreist und wandert, wird ein Lebewesen genannt.» Deshalb ist auch, wenn ein Lebewesen in Erscheinung tritt, der Dharmakaya immer im Gefolge ist, auch wenn er sich nicht [notwendigerweise] manifestiert. 7. Das Wahre Li ist das Shih selbst Wenn ein Li echt ist, sollte es niemals außerhalb von Shih sein. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens wegen des Prinzips des Dharmanairatmya [des Leerseins aller Dinge von Selbstheit]. Zweitens, da Shih von Li abhängt, ist Shih selbst nur hohl, ohne irgendeine Substanz. Daher: Nur wenn das Li mit Shih durch und durch identisch ist, kann es als das Wahre Li angesehen werden. [Nehmen wir wieder die Parabel vom Wasser und den Wellen:] Da das Wasser die Wellen selbst ist, kann die Bewegung nicht von der Nässe getrennt erscheinen. Darum sagen wir, daß das Wasser selbst die Wellen ist.
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8. Die Dinge und Geschehnisse [shih-fa] selbst sind Li Alle Dinge und Geschehnisse, die abhängig entstehen, sind leer von Selbstheit, daher sind sie durch und durch identisch mit der Realität [Li]. Deshalb ist ein Lebewesen die Soheit an sich, ohne durch die Vernichtung hindurchzugehen. Ähnlich ist es, wenn die Wellen in Bewegung sind; sie sind gleichzeitig genau identisch mit dem Wasser, und es gibt keinerlei Unterschied zwischen den beiden. 9. Das Wahre Li ist nicht Shih Das Li, das identisch ist mit Shih, ist nicht das Shih als solches, da das Wahre Li verschieden ist vom Illusorischen und das Wirkliche verschieden vom Unwirklichen. So ist auch das, was abhängig ist [soi, das Objekt] verschieden von dem, wovon es abhängt [neng-i, Subjekt]. In gleicher Weise ist das Wasser, das identisch ist mit den Wellen, nicht die Wellen als solche, denn Bewegung und Nässe sind verschieden. 10. Dinge und Geschehnisse [shih-fa] sind nicht Li Das Shih - das im totalen Li Körper geworden ist - ist nicht immer das Li als solches, weil seine Form und seine Natur verschieden sind, und weil das, was abhängt, nicht das ist, von dem es abhängt. Obwohl der totale Leib [des Shih] im Li ist, können auch Dinge und Geschehnisse erscheinen. In gleicher Weise sind die Wellen - die sich total im Wasser verkörpern - nicht immer das Wasser, denn die Bewegung ist verschieden von der Nässe. Die obigen zehn Prinzipien bestehen alle in abhängigem Entstehen. Sehen wir Shih vom Standpunkt des Li, finden wir Formung [chen] sowie Vernichtung [huai], Vereinigung [ho] sowie Trennung [li]. Sehen wir Li [vom Standpunkt des Shih], finden wir sowohl Offenbarung sowie Verhüllung. Eines sowie Vieles. [In der großen Totalität daher] werden Widerspruch und Übereinstimmung zur Harmonie, ohne jede Behinderung oder Gegensätzlichkeit, und alles entsteht gleichzeitig in allem. Man sollte dies tief meditieren, um diese «Anschauung» klar hervortreten zu lassen. Das wird die «Meditation der Harmonie und Nicht-Behinderung von Li und Shih» genannt.
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Kommentar: Das Prinzip des Abhängigen Entstehens [pratitya-samutpada] ist grundlegend und wesentlich für alle Hinayana- und Mahayana-Lehren. Die Interpretation und das Verständnis dieses Grundprinzips unterscheidet die verschiedenen Schulen voneinander. In der Hua-yen-Lehre ist das Abhängige Entstehen mehr als ein Prinzip, das nur die Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren im Verhältnis von Ursache und Wirkung bezeichnet. Es wird zur großen Harmonie gegenseitiger Durchdringung von Li und Shih in der Dharmadhatu. Hier besteht Totalität in ihrem echten Sinn, nicht nur wegen ihrer ungeheuren Weite, sondern auch wegen ihrer einzigartigen Eigenschaft universaler Harmonie. Alles wird hier zum Einklang, auch »Widerspruch und Übereinstimmung», alles wird hier zur Harmonie! Kein Wunder, daß dies, ein Bereich «ohne jede Behinderung oder Gegensätzlichkeit» ist, «und alles entsteht gleichzeitig in allem».
III. Meditation der alles umschließenden Totalität [der wunderbaren Shih-shih-Wu-aiDharmadhatu] Da Shih identisch ist mit dem verschmelzenden Li, umschließt es alles ohne Behinderung und dringt in alles ein und vermischt sich mit allem in natürlicher und spontaner Weise. Dies zu veranschaulichen, dienen die folgenden zehn Prinzipien: 1. Li ist gleich Shih Da Shih hohl ist, kommen alle seine Formen zum Erlöschen; und da das Wesen von Li wirklich ist, tritt der Leib von Li vollständig in Erscheinung. Daher ist Shih kein Shih, das verschieden wäre vom totalen Li. Darum sieht ein Bodhisattva, wenn er Shih sieht, auch Li. Doch sollte [in diesem Fall] das Shih nicht so betrachtet werden, als ob es das Li an sich wäre. Kommentar: Die Betonung dieses Grundsatzes liegt auf der beiderseitigen Identität des Enthüllten und des Verborgenen. Wenn ein Bodhisattva Shih sieht, sieht er gleichzeitig auch Li. Jedoch sollte nach diesem Prinzip Shih nicht so gesehen werden, daß es das Li an sich ist wie in der Dharmadhatu des Li. Die Zwei-inEinem-Identität von Li und Shih verlangt die Anwesenheit beider Elemente, während in der Dharmadhatu des Li nur Li geschaut wird.
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2. Shih ist gleich Li Da Shih nicht verschieden von Li ist, «folgt» es Li und ist allgegenwärtig an allen Orten. Als Folge davon ist ein Atom imstande, das ganze Universum zu umschließen. Wenn zudem der totale Leib des Universums allgegenwärtig ist in allen Dharmas, dann ist dieses eine Atom, wie das Li, ebenfalls in allen Dharmas allgegenwärtig. Wenn das für ein Atom gilt, gilt es auch für alle anderen Dharmas. 3. Shih enthält die Wahrheit der Nicht-Behinderung von Li und Shih Da Dinge und Geschehnisse (shih-fa) und Li nicht eins sind, bleibt Shih, wie es ist, und umschließt doch alles. Z.B. die Form eines Atoms dehnt sich nicht aus, und doch kann es die unendlichen Universen umschließen. Weil alle Universen nicht getrennt [oder verschieden] von der Dharmadhatu sind, können sie alle in einem Atom erscheinen. Wenn das für ein Atom gilt, so gilt es auch für alle Dharmas, da in ihrem harmonischen Verschmelzen Shih und Li weder identisch noch unterschieden sind. Diese Wahrheit des Verschmelzens von Li und Shih enthält vier Prinzipien: 1) Eines in Einem 2) Alles in Einem 3) Eines in Allem 4) Alles in Allem Jedes dieser Prinzipien wird von verschiedenen und genügenden Gründen gestützt. Kontempliere dies! Kommentar: Hier haben wir ohne Zweifel die Schlüsselaussage dieser Meditation und den Kern des ganzen Aufsatzes. «Da Dinge und Geschehnisse (shih-fa) und Li nicht eins sind, bleibt Shih, wie es ist, und umschließt doch alles.» Hier erkennen wir einen großen Sprung von der Beweisführung des Li-shih-wu-ai (der Nicht-Behinderung von Li und Shih) zu der des Shih-shih-wu-ai (der NichtBehinderung von Shih und Shih). Wir haben damit den Gipfel der Hua-yen-Philosophie der Nicht-Behinderung von Geschehnissen durch Geschehnisse erreicht. Im vorhergegangenen Argument der Nicht-Behinderung von Li und Shih ist ein Shih «fähig», alles zu umschließen, und zwar durch Rückführung seiner selbst auf das allgegenwärtige und
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nicht unterschiedene Li. Shih hat seine eigene Identität zu verlieren und muß zuerst mit Li verschmelzen, um so «fähig zu werden», alles zu umschließen. Aber nun geht die Beobachtung einen Schritt weiter mit der Feststellung, daß Shih bleibt «wie es ist, und umschließt doch alles... die Form eines Atoms dehnt sich nicht aus, und doch kann es die unendlichen Universen umschließen.» Shih-fa verläßt seine Position nicht und erstreckt sich doch über alle Atome. Hier ist keine Rückführung des Shih in das Li notwendig; alle Besonderheit und Individualität des Shih bleibt unberührt, und doch durchdringt und umschließt jedes Shih in allen Dimensionen der Dharmadhatu gleichzeitig jedes andere Shih ohne die leichteste Anstrengung! Wenn ein Mensch das Reich des Shih-shih-wu-ai für immer begreifen will, sind als Vorstufen der Kontemplation die Prinzipien des Li-shih-wu-ai (der Nicht-Behinderung von Li und Shih) absolut notwendig. Soweit es das intellektuelle Verstehen angeht, gibt es einfach keinen anderen Weg der begrifflichen Annäherung an Shih-shih-wu-ai als durch Li-shih-wu-ai. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß Shih-shih-wu-ai in keiner Weise ein abstraktes Prinzip ist, das durch begriffliches Denken «verstanden» werden kann, noch daß es etwas ist, dem man sich auf dem Weg des Verstandes zu nähern vermag. Shih-shih-wu-ai ist ein Bereich unmittelbarer Verwirklichung; keinerlei Verstandestätigkeit ist notwendig, und alle Philosophien werden hier überflüssig und nutzlos! Shihshih-wu-ai ist einfach so und bleibt immer so. Das Problem ist hier nicht das Verstehen oder die Verifikation, sondern wie man die Verwirklichung durch unmittelbare und konkrete Erfahrung erlangen kann.
4. Die Nicht-Behinderung des universalen Ganzen und des einzelnen Ortes Da die Nicht-Identität aller Shih-fa mit Li eben die Nicht-Verschiedenheit aller Shih-fa von Li ist, verläßt Shih-fa seinen Platz nicht und erstreckt sich doch bis in alle Atome. Und da das Identisch-Sein eben die Verschiedenheit ist, erstreckt sich [ein Atom] in alle Zehn Richtungen und bewegt sich doch nicht von seinem Ort weg. So ist es fern und doch nah, erstreckt sich und bleibt doch; es gibt keine Gegensätzlichkeit und keine Behinderung, welcher Art auch immer.
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5. Die Nicht-Behinderung des ungeheuer Großen und des Kleinen Da die Nicht-Identität aller Shih-fa mit dem Li eben die Nicht-Verschiedenheit aller Shih-fa vom Li ist, ist ein Atom nicht beeinträchtigt und enthält dennoch all die ozeangleichen Universen in den Zehn Richtungen. Da die Identität der Unterschied selbst ist, dehnt sich ein Atom nicht aus, auch wenn es alle die ungeheuer weiten Universen in den Zehn Richtungen enthält. Das heißt, ein Atom ist ungeheuer weit und ebenso eng begrenzt, groß und auch klein - ohne Gegensätzlichkeit und ohne Behinderung. Kommentar: Die Prinzipien vier und fünf sind beinahe mit dem dritten Prinzip identisch. «Da das Identischsein eben die Verschiedenheit ist, erstreckt sich [ein Atom] in alle Zehn Richtungen und bewegt sich doch nicht von seinem Ort w e g . . . Wenn ein Atom alle die ungeheuren Universen in den Zehn Richtungen enthält, dehnt es sich nicht aus ... ein Atom ist weit und eng, groß und auch klein - ohne Gegensätzlichkeit und Behinderung.» Der Kern dieser drei Prinzipien ist, glaube ich, das Grundprinzip der Svabhava-Shunyata. Die Identität selbst ist die Verschiedenheit - das heißt, auch Identität und Verschiedenheit haben keine Selbstheit. Wenn ein Atom sich von seiner örtlichen Position wegbewegen müßte, um sich in alle Zehn Richtungen zu erstrecken, oder wenn ein Atom sich ausdehnen müßte, um das ungeheure Universum zu enthalten, dann wäre das die Svabhava-Form eines Geschehens, begrenzt auf den Bereich der Endlichkeit und der Gegensätzlichkeiten. Wenn es überhaupt ein Reich der Unendlichkeit und Totalität gibt, muß es diese «wunderbare NichtBehinderung» sein, dargestellt hier als Shih-shih-wu-ai-Dharmadhatu.
6. Die Nicht-Behinderung des [Über-alles-]Sich-Ausdehnens und [Alles-]Enthaltens Da das Über-alles-Sich-Ausdehnen eben das Alles-Enthalten ist, wird ein Atom sich über alle Universen erstrecken und gleichzeitig alle Dharmas enthalten und sie in seiner eigenen [Hülle] einschließen. Da zudem das Alles-Enthalten eben das Über-alles-sich-Ausdehnen ist, so wird ein Atom, das alles enthält, sich gleichzeitig über alle die verschiedenen Dharmas erstrecken, die es enthält. So ist ein Atom, 285
das sich über alles erstreckt, zugleich alles, das sich über ein Eines erstreckt; es kann enthalten und auch enthalten sein; es umschließt gleichzeitig alle Dharmas ohne irgendeine Behinderung. Kontempliere dies!
7. Die Nicht-Behinderung von Enthalten-Sein und Einschließen Da das Im-anderen-Dharma-Enthalten-Sein eben das Den-anderenDharma-Einschließen ist, befähigt - wenn alle Dharmas einem Dharma gegenübergestellt sind - das totale Enthalten-Sein aller Dharmas in einem den einen gleichzeitig, «zurückzukehren» zu seinem eigenen Bereich, der alle ohne irgendeine Behinderung einschließt. Und da das Den-anderen-Dharma-Einschließen eben das Im-anderen-DharmaEnthaltensein ist, befähigt das auch alle Dharmas, gleichzeitig und ohne Behinderung in einem zu sein, wenn ein Dharma in allen ist. Kommentar: Die Feststellungen der Prinzipien sechs und sieben sind die natürlichen Schlußfolgerungen, die sich aus dem Prinzip der durchgehenden NichtVerschiedenheit ergeben, das in der Hua-yen-Literatur auf vielfache Weise dargestellt wird. Die zentrale Idee dieses Prinzips ist die Einheit oder Verschmelzung aller Antithesen wie Form und Leere, Mensch und Buddha, Ursache und Wirkung, Verschiedenheit und Identität, Endliches und Unendliches, Kleines und Großes, Ausdehnen und Umfangen, Enthalten und Enthalten-Sein. Ist einmal dieses Zweiin-einem-Postulat bejaht, ist nichts unmöglich und alles wird nicht-behindernd.
8. Die Nicht-Behinderung der gegenseitigen Durchdringung Ein Dharma besitzt gegenüber allen anderen sowohl den Aspekt des Einschließens als auch den des Enthalten-Seins. Das kann in vier Sätzen zusammengefaßt werden: 1) Eines schließt alle ein und ist in allen enthalten. 2) Alle schließen eines ein und sind in einem enthalten. 3) Eines schließt eines ein und ist in einem enthalten. 4) Alle schließen alle ein und sind in allen enthalten. Sie durchdringen einander ohne jede Behinderung. 286
9. Die Nicht-Behinderung des beiderseitigen gemeinsamen Existierens Alle Dharmas besitzen gegenüber einem Dharma sowohl den Aspekt des Enthaltens als auch den des Enthalten-Seins. Auch das kann in vier Sätzen zusammengefaßt werden: 1) [Alle] enthalten eines, um in einem enthalten zu sein. 2) [Alle] enthalten alle, um in einem enthalten zu sein. 3) [Alle] enthalten eines, um in allen enthalten zu sein. 4) [Alle] enthalten alle, um in allen enthalten zu sein. Sie durchdringen einander gleichzeitig gegenseitig ohne Gegensätzlichkeit oder Behinderung. 10. Die Nicht-Behinderung des universalen Verschmelzens Alle und eines sind gleichzeitig. Einander gegenübergestellt, gelten für jedes die zweimal vier Tatbestände. Sie verschmelzen ineinander in einer totalen Weise, ohne jede Behinderung, wie aus den vorher dargestellten Prinzipien zu ersehen ist. Diejenigen, die diese Meditation üben, sollten sich bemühen, die runde und erleuchtende Einsicht zu gewinnen in Übereinstimmung mit der Praxis und der Erfahrung [der großen Hua-yen-Dharmadhatu], ohne Gegensätzlichkeit oder Behinderung. Sie sollten dies tief kontemplieren, bis diese wunderbare Schau hervortritt.
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Über den goldenen Löwen
Einführung Fa-tsangs Abhandlung Über den Goldenen Löwen ist ein bedeutendes - und wohl das populärste - Werk der Hua-yen-Philosophie. Es gibt zwei ausgezeichnete englische Übersetzungen davon, eine von Professor Derk Bodde und eine von Professor Wing-tsit Chan [sowie eine leicht verkürzte von D. T. Suzuki, die deutsch in seinem Buch «Urerfahrung und Urwissen», Wien 1983, erschienen ist; Anm. d. Hrsg.]. Die vorliegende Übertragung entstand in dankbarer Anerkennung der durch die vorhergegangenen Übersetzungen gegebene Hilfe. In der Sung-Ausgabe der Biographien hervorragender Mönche kann man lesen: Fa-tsang erläuterte der Kaiserin [Wu] Tse-tien das Hua-yen-Sutra. Als er aber zu den Abschnitten über die Zehn Mysterien, Indras Netz, das Meeresspiegel-Samadhi, das Verschmelzen der Sechs Formen und den Bereich der Universalen Wahrnehmung kam, in denen die allgemeinen und besonderen Prinzipien und Lehren des Sutra behandelt werden, wurde die Kaiserin verwirrt und unsicher. Daraufhin zeigte Fa-tsang auf den goldenen Löwen im Saal des Palastes und benutzte ihn als Gleichnis, um jene Lehren zu veranschaulichen. Alle jene Doktrinen wurden dadurch äußerst klar und verständlich, und die Kaiserin kam rasch zu einem vollen Verständnis des Wesens der Lehre. [Sein Vortrag wurde später niedergeschrieben] mit seinen zehn Punkten zur Her-ausarbeitung der allgemeinen und besonderen Theorien, und er wurde die Abhandlung über den Goldenen Löwen genannt.
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Die Abhandlung Über den goldenen Löwen21 von Fa-tsang
[Zehn Betrachtungen werden hier angestellt, um die Hua-yen-Lehre mittels des goldenen Löwen in ihrer Majestät Palast zu veranschaulichen:] I. Das Verstehen des Prinzips des Abhängigen Entstehens II. Das Unterscheiden von Form und Leere III. Die Zusammenfassung der drei Eigenschaften IV. Die Enthüllung der Nicht-Existenz von Formen V. Die Darlegung der Wahrheit des Nicht-Geborenen VI. Die Erörterung der Fünf Lehren 1. Hinayana 2. Vor-Mahayana 3. Endgültiges Mahayana 4. Augenblickslehre des Mahayana (Zen) 5. Runde Lehre des Einen Fahrzeugs (Hua-yen) VII. Die Meisterung der Zehn Mysterien VIII. Das Umfangen der Sechs Formen IX. Die Verwirklichung der vollkommenen Weisheit der Erleuchtung (bodhi) X. Das Eingehen ins Nirvana.
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I. Das Verstehen des Prinzips des Abhängigen Entstehens Das Gold hat keine ihm innewohnende Eigennatur [svabhava]. Dank der Kunstfertigkeit eines tüchtigen Künstlers nimmt es die Form des Löwen an. Dieses Entstehen ist einzig und allein das Ergebnis der Bedingungen und Umstände; daher wird es Entstehen in Abhängigkeit genannt. Kommentar: Hier wird Fa-tsangs Überzeugung dokumentiert, daß Abhängiges Entstehen das erste Grundprinzip ist, das die ganze Lehre des Hua-yen-Buddhismus stützt. Da das Gold (Noumenon) keine Selbstheit hat, können zahlreiche Formen (Phänomene) durch abhängige Verursachung ins Sein gebracht werden. Die Schlußfolgerung ist: Wenn das Noumenon irgendeine Selbst-Existenz (svabhava) hätte, könnte die phänomenale Welt niemals ins Sein treten.
II. Die Unterscheidung von Form und Leere Die Form des Löwen ist unwirklich; das Wirkliche ist das Gold. Weil der Löwe nicht existiert und die Goldmasse nicht nicht-existiert, werden sie Form/Leere genannt. Die Leere hat zudem kein eigenes Kennzeichen; sie wird durch Formen offenbar. Die Tatsache, daß die Leere die trügerische Existenz von Formen nicht behindert, wird Form/Leere (se-k'ung) genannt.
III. Die Zusammenfassung der drei Eigenschaften Aufgrund der trügerischen Wahrnehmungen der Menschen scheint der Löwe in konkreter Weise zu existieren; das ist das Kennzeichen der universalen Einbildungskraft (parikalpita). Die Manifestation des Löwen scheint zu existieren; das ist die Eigenschaft der Abhängigkeit von anderen (paratantra). Die Natur des Goldes ändert sich niemals, das ist die Eigenschaft der vollkommenen Wirklichkeit (parinish panna). 290
Kommentar: Von diesen drei Eigenschaften erklärt die Yogachara-Schule, sie seien die grundlegenden Kriterien, nach welchen die Frage von Sein und NichtSein zu entscheiden sei. Der Menschen karmische und illusionäre Projektionen einer äußeren Welt sind wie die Schlange, die ein Betrachten in einem Seil zu sehen vermeint. Diese Art von Existenz ist in Wirklichkeit nicht-existent, obwohl sie existent zu sein scheint. Das ist die Eigenschaft der universalen Einbildungskraft. Die phänomenale Welt jedoch, gesehen als eine Projektion des eigenen Geistes, kann nicht als nicht-existent bezeichnet werden, wenn wir die Tatsache verstehen, daß sie keine unabhängige Existenz getrennt von unserem eigenen Geist hat. Diese Manifestation des Geistes, ins Spiel gebracht aufgrund des Abhängigen Entstehens (im Sinne des Yogachara) kann nicht als vollständig nicht-existent bezeichnet werden. Das ist die Eigenschaft der Abhängigkeit von anderen. Das Wesen oder die Essenz des Geistes ist frei von allen Karmas und Täuschungen. Sie ist an sich völlig leer von Subjekt-Objekt-Gegensätzen. Dieser letztlich wirkliche Geist bezeugt die Eigenschaft der vollkommenen Wirklichkeit. Die alles einschließende Methode des Hua-yen konnte es sich nicht leisten, diese wichtige Lehre des Yogächära zu übergehen; deshalb fühlte sich Fatsang verpflichtet, sie hier einzubeziehen. Außerdem kam er damit auf die «glückbringende» Zahl von zehn Prinzipien.
IV. Die Enthüllung der Nicht-Existenz von Formen Wenn das Gold den Löwen völlig verschluckt, ist keine Form eines Löwen zu finden. Das heißt die Nicht-Existenz der Formen. Kommentar: Das heißt Shih in Li zurückführen. In der Dharmadhatu des Li existiert keinerlei Form.
V. Die Darlegung der Wahrheit des Nicht-Geborenen In dem Augenblick, in dem wir den Löwen in Erscheinung treten sehen, ist in Wirklichkeit das Gold in Erscheinung getreten. Es gibt nichts außer dem Gold. Auch wenn der Löwe erscheinen und verschwinden kann, nimmt die Substanz Gold weder zu noch ab. Das heißt die Wahrheit des Nicht-Geborenen. 291
Kommentar: In diesen Zeilen finden wir eine einfache Beschreibung der Dharmadhatu des Li.
VI. Die Erörterung der Fünf Lehren 1. Obwohl der Löwe ein Ding (dharma) ist, das durch Abhängigkeit Entstehen hervorgebracht wird, ist er in jedem einzelnen Moment dem Entstehen und Vergehen unterworfen. [Da nichts in der phänomenalen Welt Dauer hat] ist keine Löwenform jemals aufzufinden. Das nennt man die Lehre für die unwissenden Shravakas [Hinayana]. 2. Alle Dinge sind, da sie in Abhängigkeit entstehen, leer von Selbstheit (svabhava) und in letzter Analyse nichts als Leere. Das nennt man die vorläufige Lehre des Mahayana. 3. Obwohl alle Dinge durch und durch Leere sind, hindert das nicht das lebendige Erscheinen der Mäyä des Werdens. Alles, was in Abhängigkeit entsteht, ist als Trugerscheinung existent [und daher in Wahrheit leer]. Diese Koexistenz von Sein und Nicht-Sein nennt man die endgültige Mahayana-Lehre. 4. Insofern Leere und Form einander gegenseitig annullieren, sind beide zunichte geworden. Weder Einbildungen noch falsche Vorstellungen existieren hier; weder die Vorstellung der Leere noch die Idee der Existenz behalten irgendeinen Einfluß. [Dies ist der Bereich, in dem] jede Idee von Sein und Nicht-Sein schwindet. Es ist der Bereich, den Namen und Worte nicht erreichen können. Der Geist verweilt hier ohne jedes Anhaften. Dies nennt man die Augenblicklichkeitslehre des Mahayana [Zen]. 5. Wenn alle falschen Gefühle und irrigen Ideen beseitigt sind und die wahre Substanz sich offenbart, verschmilzt alles in ein großes Ganzes. Großes Wirken erwächst im Überfluß, und was immer entsteht, ist absolut wahr. Die Myriaden von Manifestationen durchdringen einander trotz ihrer Vielfalt ohne Verwirrung oder Unordnung. Alles ist das Eine, denn beide sind im Grunde leer. Das Eine ist das Alles, denn Ursache und Wirkung manifestieren sich [ohne Ausnahme]. In ihrer Macht und ihrem Wirken durchdringen das Eine und das Alles einander; in völliger Freiheit entfalten sie sich 292
und falten sie sich ein. Das nennt man die Runde Lehre des Einen Fahrzeugs [Hua-yen-Schule]. Kommentar: Die weitgehende Verschiedenartigkeit der Lehren der unterschiedlichen buddhistischen Schulen, die vom 3. bis zum 8. Jahrhundert (und danach) nach China gebracht wurden, muß große Unruhe im Geist der chinesischen Buddhisten gestiftet haben, denn diese Doktrinen waren nicht nur divergent, sondern widersprachen oft einander trotz der Tatsache, daß sie alle behaupteten, für die zentrale Lehre des echten Buddhismus zu sprechen. Um diese unerträgliche Spannung zu lösen, war eine umfassende Wertung aller Lehren der verschiedenen Schulen notwendig. Die Folge war das Aufblühen einer «scholastischen» Strömung (p'an-chiao) zur Zeit der Sui- und T'ang-Dynastien. Sie war bestrebt, ein Urteil über die verschiedenen Doktrinen zu fällen und machte sich besonders in der T'ien-T'ai- und der Hua-yen-Schule bemerkbar. Die Scholastik der Huayen-Schule kam zu dem Schluß, daß es insgesamt fünf bedeutende Lehren in der großen Familie des Buddha-Dharma gibt. Sie sind, nach zunehmender Tiefe und Wichtigkeit geordnet, die folgenden: Die kleine Lehre: Sie schließt alle Hinayana-Lehren ein, wie sie in den Agamas und Abhidharma-Schriften enthalten sind. Die Betonung liegt hier auf der Lehre von der Nicht-Existenz des Selbst. Die vorläufige [Mahayana-]Lehre: Sie enthält die Grundlehren des Madhyamaka- und Yogachara-Systems. Unglücklicherweise wurde der größte Teil der Prajnäpäramitä-Literatur ebenso dieser Gruppe zugeschrieben. Der Nachdruck liegt hier angeblich auf der völligen Leere aller Dharmas. Die endgültige Lehre: Dies ist die «höhere» oder «endgültige» Lehre des Mahayana. Typische Beispiele findet man in Sutras wie dem Vimalakirti-Sutra, dem Tathagatagarbha-Sutra, dem Mahanirvana-Sutra usw. Diese Gruppe betont die Wichtigkeit der potentiellen Buddha-Natur (tathagatagarbha) in allen Lebewesen. Die Augenblicklichkeits-Lehre: Die Lehre des Zen-Buddhismus, die die unmittelbare und augenblickliche Verwirklichung des eigenen Buddha-Geistes betont. Die Runde [allumfassende] Lehre: Die Lehre von der Nicht-Behinderung der Totalität, dargestellt in den verschiedenen Hua-yen-Sutras. Sie erklärt die geistige Erfahrung und Verwirklichung der Buddhaschaft und Bodhisattvaschaft in allen Dimensionen. Die Betonung liegt auf der absoluten Freiheit oder Nicht-Behinderung in der alles umschließenden Unendlichkeit der Dharmadhatu.
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VII. Die Meisterung der Zehn Mysterien 1. Das Gold und der Löwe bestehen gleichzeitig vollkommen und vollständig. Dies ist das Prinzip der gleichzeitigen Vollständigkeit. 2. Wenn die Augen des Löwen den ganzen Löwen in sich enthalten, dann ist das Ganze [der ganze Löwe] die Augen. Wenn die Ohren den ganzen Löwen enthalten, dann ist das Ganze die Ohren. Wenn alle [Sinnes-]Organe gleichzeitig den ganzen Löwen enthalten und sie ihn alle vollständig besitzen, dann ist jedes Organ sowohl «vermischt» [mit anderen] wie auch «rein» [es selbst]. Dies ist das Prinzip des vollständigen Besitzes der Reinheit und der Vermischung. 3. Das Gold und der Löwe begründen einander und umschließen einander in Harmonie. Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Einen und den Vielen. [In diesem vollständigen Einander-Einschließen] bleiben Li und Shi, das Eine und die Vielen, sie selbst. Dies nennt man das Prinzip des gegenseitigen Umschließens und doch Verschieden-Seins des Einen und der Vielen. 4. Alle Teile des Löwen bis zur Spitze jedes Haares enthalten den ganzen Löwen, insofern als sie alle Gold sind. Jeder einzelne Teil durchdringt die Augen des Löwen. Die Augen sind die Ohren, die Ohren die Nase, die Nase ist die Zunge, die Zunge ist der Leib. Sie alle existieren in vollständiger Freiheit, ohne Gegensätzlichkeit oder Behinderung. Das nennt man das Prinzip der wechselseitigen Identität aller Dharmas in Freiheit. 5. Wenn wir auf den Löwen [als einen Löwen] schauen, gibt es nur den Löwen und kein Gold. Das ist das Enthüllen des Löwen und das Verbergen des Goldes. Wenn wir auf das Gold [als Gold] sehen, gibt es nur Gold und keinen Löwen. Das ist das Enthüllen des Goldes und Verbergen des Löwen. Wenn wir auf beide gleichzeitig schauen, sind sie sowohl manifest als auch verborgen. Verborgen sind sie geheim, manifest sind sie offenbar. Das nennt man das Prinzip des gleichzeitigen Bestehens von Enthüllung und Verborgenheit im Geheimen. 6. Das Gold und der Löwe können manifest oder verborgen sein, eines oder vieles, rein oder vermischt, kraftvoll oder kraftlos. Das Eine ist das Andere. Der Herr und der Knecht tauschen ihren Rang 294
aus. Sowohl Li als auch Shih werden gleichzeitig geschaut. Sie sind miteinander vereinbar; keines behindert die Existenz des anderen. Das gilt auch für die winzigsten und subtilsten Aspekte. Dies nennt man das Prinzip der friedlichen Koexistenz des Kleinen und des Subtilen. 7. In jedem der Augen, Ohren, Glieder usw. des Löwen bis zu jedem einzelnen Haar gibt es einen goldenen Löwen. Alle Löwen, die von jedem einzelnen Haar umschlossen werden, sind gleichzeitig und augenblicklich in einem einzelnen Haar enthalten. So gibt es in jedem Haar eine unendliche Zahl von Löwen. Weiterhin ist jedes einzelne Haar, das unendlich viele Löwen enthält, wieder in einem einzelnen Haar enthalten. Das geht unendlich weiter wie bei den Juwelen im Netz des himmlischen Herrn Indra. Das führt zu einem Bereich, der andere Bereiche ad infinitum umschließt; dies ist der Bereich von Indras Netz. 8. Mit dem Löwen ist die Unwissenheit (avidya) des Menschen gemeint. Das Gold steht für die Wahre Natur. Betrachtet man Li und Shih zusammen, so hat man das Alaya-Bewußtsein und kann so ein richtiges Verstehen [der Lehre] erreichen. Dies nennt man das Schaffen des Verständnisses durch das Enthüllen der Lehre durch Fakten. 9. Der Löwe ist ein vergängliches und bedingtes Ding (sanskritadharma); er entsteht und verschwindet in jedem Augenblick, und jeder Augenblick kann in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterteilt werden. Jeder dieser drei Zeiträume enthält wieder die drei Zeitabschnitte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; das ergibt zusammen dreimal drei Einheiten, die neun Zeiten bilden; mit ihnen allen zusammen haben wir ein vollständiges Tor zur Dharma-Wahrheit. Obwohl es neun Zeiten sind, ist jede verschieden von der anderen, und dennoch begründen sie gegenseitig ihre Existenz. Sie sind ohne die geringste Behinderung harmonisch verschmolzen in einem identischen [ewigen] Augenblick. Dies nennt man die unterschiedliche Formung von getrennten Dharmas in den Zehn Zeiten. 10. Das Gold und der Löwe können manifest oder verborgen sein, eines oder viele, aber sie sind beide leer von Selbstheit (svabhava). Sie manifestieren sich in verschiedenen Formen gemäß dem Wan295
del und der Veränderung des Geistes. Ob wir sie nun als Li oder Shih bezeichnen: Es ist der Geist, durch den sie Form erhalten und existieren. Dies nennt man die universale Vollendung durch die Projektion von «Nur-Geist».
VIII. Das Umfangen der Sechs Formen Der Löwe repräsentiert die Eigenschaft der Ganzheit [1], und die fünf Organe, die mannigfaltig und verschieden sind, repräsentieren die Verschiedenheit [2]. Die Tatsache, daß sie alle abhängig entstehen, repräsentiert die Eigenschaft der Universalität [3]. Die Augen, Ohren usw. bleiben jeweils an ihrem eigenen Platz und vermischen sich untereinander nicht. Dies repräsentiert die Eigenschaft der Besonderheit [4]. Die Kombination und das Zusammenwirken der verschiedenen Organe machen den Löwen aus; das repräsentiert die Eigenschaft der Formbildung [5]. Die Tatsache, daß jedes Organ an seiner eigenen Stelle bleibt, repräsentiert die Eigenschaft der Nicht-Verschmelzung [6].
IX. Die Verwirklichung der vollkommenen Weisheit der Erleuchtung (bodhi) Bodhi bedeutet im Chinesischen der WEG [tao] oder die Erleuchtung. Das heißt: Wenn wir auf den Löwen blicken, sehen wir sofort, daß alle bedingten Dinge, ohne durch den Prozeß der Auflösung hindurchzugehen, sich von Anfang an in einem Zustand stiller NichtExistenz befinden [im Schweigen der Soheit ruhen]. Ist man frei von Anhaften wie von Loslösung, kann man diesen Weg weiterverfolgen bis in das Meer der Allwissenheit (sarvajnata); daher wird er der WEG genannt. Begreifen, daß seit anfanglosen Zeiten alles Illusion ist, nicht wirklich existent, heißt Erleuchtung.
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X. Das Eingehen ins Nirvana Wenn wir auf den Löwen und das Gold schauen, heben die Kennzeichen beider einander gegenseitig auf. An diesem Punkt steigen die Leidenschaften (klesha) nicht mehr länger auf, auch wenn Schönheit und Häßlichkeit vor unsere Augen treten. Der Geist ist ruhig, gleich dem Meer; alle störenden und trügerischen Gedanken sind erloschen, und es gibt keine Zwänge mehr. Aus der Gebundenheit erhebt man sich, frei von allen Behinderungen. Vom Ursprung aller Leiden hat man sich für immer losgelöst, und das heißt in das Nirvana eingehen.
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Die Biographien der Patriarchen
Ich will versuchen, eine kurze Darstellung der Lebensgeschichten der vier großen Hua-yen-Meister zu geben, um es dem Leser zu ermöglichen, sich ein Bild von der Rolle zu machen, die sie bei der Entstehung und Entwicklung dieser Schule gespielt haben.
Tu-shun (558-640) Tu-shun oder Fa-shun, der Autor des Essays Über die Meditation der Dharmadhatu, wird nach der Überlieferung als der erste Patriarch der Hua-yen-Schule betrachtet und war ohne Zweifel der originellste und schöpferischste Denker dieser Schule. Sein Dharma-Name lautete Shih-fa-shun; da sein Vorname Tu war, nannte man ihn auch Tushun. Geboren im zweiten Jahr der Regierungszeit von Yung-tin aus der Ch'eng-Dynastie, scheint Tu-shun schon als Kind äußerst fromm gewesen zu sein. Er spielte oft Mönch und tat so, als hielte er seinen Spielkameraden aus der Nachbarschaft Predigten. Im Alter von fünfzehn Jahren trat er in die Armee ein, wo er zu niedrigen Arbeiten wie Wasserschleppen und Feuerholzsammeln herangezogen wurde. Im Alter von achtzehn Jahren wurde er vom Ch'an-(Zen-)Meister Tao-chen zum Priester geweiht und erhielt von ihm Meditationsunterweisungen. Nachdem er sich längere Zeit auf Meditationsübungen konzentriert hatte, konnte er Wunder vollbringen, und er bewies seine große Heilkraft, wo immer er hinkam. Er kurierte alle möglichen Krankheiten und heilte sogar Taube und Stumme. Man erzählt, 298
daß Kaiser T'ai-tsung aus der Tang-Dynastie einst sehr krank war und ihn um Hilfe bat. Tu-shuns Rat war, eine Generalamnestie für das ganze Land zu erlassen; und bald nachdem dies geschehen war, erlangte der Kaiser seine Gesundheit wieder. Aus Dankbarkeit verlieh ihm der Kaiser den Ehrentitel der «Heilige mit dem Kaiserlichen Herzen», und aufgrund seiner wunderbaren Kräfte nannten ihn die Leute den Bodhisattva von Tun-huang. Nach einer der vielen Legenden hängte er einmal ein Paar Schuhe an ein Tor im Basar; sie hingen dort drei Tage lang, ohne gestohlen zu werden. Als ihn die Leute fragten, wie dies denn möglich sei, antwortete er: «Von den unendlichen Kaipas der Vergangenheit bis zum gegenwärtigen Augenblick habe ich nicht einen einzigen Pfennig von irgendeinem Menschen gestohlen; wie könnte da irgendwer etwas von mir stehlen?» Viele Diebe waren von seiner Charakterstärke tief bewegt und änderten ihr Leben. Tu-shun besaß keinen ständigen Meister. Er konzentrierte sich in seinen Studien auf das Hua-yen und lebte viele Jahre lang als Einsiedler auf dem Berg Chung-nan. Auf die Lehren des Hua-yen-Sutra aufbauend, schrieb er den Aufsatz Über die Meditation der Dharmadhatu. Als die Arbeit beendet war, warf er das Manuskript ins Feuer und betete: «Wenn das, was ich in diesem Aufsatz geschrieben habe, mit der Lehre des Buddha in Einklang steht, dann dürfte kein einziges Wort davon vom Feuer zerstört werden.» Das Feuer brannte nieder, das Manuskript blieb unversehrt. Tu-shun verfaßte einst ein kleines Gedicht mit dem Namen Eine Strophe von der Dharma-Natur, das lautet: Eine Kuh in Chia-chou [Ostchina] frißt Gras, aber das Pferd in I-chou [Westchina] wird satt. Anstatt einen Arzt zu suchen, solltest du den linken Arm eines Schweines kauterisieren. Diese Strophe war unter den Zen-Buddhisten sehr beliebt und ist als Köan verwendet worden. Am fünfundzwanzigsten Tag im elften Monat des Jahres 640 versammelte Tu-shun alle seine Schüler um sich und nahm von ihnen Abschied. Dann ging er zum Palast und verabschiedete sich vom Kaiser. In sein Kloster zurückgekehrt, verstarb er bald darauf ohne die geringsten Anzeichen von Krankheit.22 299
Im chinesischen Kanon sind noch zwei weitere Legenden über Tushun enthalten; leider geben diese Berichte, wie dies auch bei anderen chinesischen Biographien der Fall ist, keine genauen Informationen über sein Leben. Sie liefern auch, was noch bedauerlicher ist, keine Informationen über die Entwicklung seines philosophischen Lehrgebäudes, obwohl er ein ganz hervorragender buddhistischer Denker war. Heute erscheint uns Tu-shun mehr ein Philosoph zu sein als ein Heiliger. Aber seine Zeitgenossen scheinen eine andere Meinung von ihm gehabt zu haben; für sie war er mehr Heiliger als Philosoph. Die Legenden aus dem chinesischen Kanon, die im folgenden übersetzt werden, geben diese Anschauung wieder. Meister Tu-shun hatte einen Mönchsschüler, der ihm mehr als dreißig Jahre lang zur Seite stand. Schon seit vielen Jahren verspürte der Schüler den Wunsch, eine Pilgerfahrt zum Berg Wu-t'ai zu unternehmen, um dort den Bodhisattva Manjushri zu huldigen. Eines Tages bat er um die Erlaubnis für diese Reise. Der Meister versuchte ihn davon abzubringen, aber ohne Erfolg. Schließlich gab er seine Einwilligung und sagte: «Du kannst gehen, aber komm bald wieder zurück. Ich werde auf dich warten.» Nach einer zehntägigen Reise erreichte der Mönch den Wu-t'ai und erwies dem heiligen Ort seine Reverenz. Dann sah er einen alten Mann näherkommen, der ihn fragte: «Woher bist du gekommen?» «Ich bin vom Berg Chung-nan gekommen.» «Warum bist du hierher gekommen?» «Ich bin hergekommen, um dem Bodhisattva Manjushri zu huldigen.» «Aber der Bodhisattva Manjushri ist nicht hier.» «Wo ist er?» «Er befindet sich jetzt auf dem Berg Chung-nan und hat die Gestalt eines Ch'anMeisters namens Tu-shun angenommen.» «Aber Tu-shun ist mein Meister, unter dem ich mich mehr als dreißig Jahre geschult habe!» «Obwohl du mehr als dreißig Jahre bei ihm warst, hast du ihn nicht erkannt. Du solltest sofort nach Hause eilen. Wenn du ohne Verzögerung nach Hause zurückkehrst, dann kannst du ihn sehen. Wenn du dich aber auch nur um eine Nacht verspätest, wirst du ihn nie mehr wiedersehen.» Der Mönch machte sich sofort auf den Heimweg, aber als er die Westliche Hauptstadt erreichte, war es noch früh am Tag, und er besuchte noch einige gute Freunde in der Stadt. Als er die Trommel hörte [die das Schließen des Stadttores ankündigte], eilte er zum Stadttor, aber er kam zu spät; das Tor
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war bereits versperrt, und er mußte die Nacht in der Stadt verbringen. Als er am nächsten Morgen in sein Kloster kam, erfuhr er, daß Meister Tu-shun in der vergangenen Nacht gestorben war. In großer Trauer erkannte er, daß sein eigener Meister kein anderer gewesen war als der Bodhisattva Manjushri in Person.23 (Taisho 1868, S. 512-513) Der ursprüngliche Vorname von Shih-fa-shun war Tu. Er wohnte im Bezirk Wannien in Yung-chou. Shih-fa-shun war von Natur aus gutmütig und tugendsam; mit achtzehn Jahren entsagte er der Welt und wurde Mönch. Eines Tages, als der ZenMeister Tao-chen öffentliche Meditationsunterweisungen gab, ging sein Schüler Tu-shun zum Bettelgang nach Ch'in-chou. Er fand einen Gönner, der sich bereiterklärte, Essen für fünfhundert Leute zur Verfügung zu stellen. Zur gegebenen Zeit hatten sich mehr als tausend Leute um Tao-chen versammelt. Der Gönner war in großer Sorge, aber Tu-shun sprach: «Sorge dich nicht! Gib alles was du hast, und gib nicht weniger als du vorgehabt hast zu geben.» Die Veranstaltung ging weiter, und alle tausend Gäste wurden satt. ... Einmal, während des Sommers, führte Tu-shun viele Mönche auf den Berg Li zur Meditation. Aber der ganze Ort war voller Insekten und Ameisen, und sie konnten kein Gemüse pflanzen, ohne ihnen etwas zuleide zu tun. Daraufhin markierte Tushun ein Stück Boden und befahl den Ameisen, sich hinter diese Grenzlinien zurückzuziehen. Nach kurzer Zeit waren alle Ameisen und Insekten verschwunden. Tu-shun hatte entzündete Geschwüre am Körper, aus denen Eiter austrat. Viele Leute, die das sahen, mieden ihn; aber wenn andere ihn mit einem Tuch säuberten, begannen die Geschwüre sofort zu verheilen. Der Eiter, der weggewischt Wörden war, gab einen wohltuenden Geruch von sich, und selbst das Tuch roch noch tagelang gut. Im Bezirk San-yüan gab es einen Mann namens T'ien sa-to, der von Geburt an taub war, und einen anderen namens Chang-su, der stumm war. Tu-shun ließ sie zu sich kommen und heilte ihre Leiden augenblicklich, indem er ihnen befahl zu sprechen. Ein Mönch aus dem Bezirk Wu-kung war von einem bösartigen Drachen besessen. Die Leute brachten den Mönch zu Tu-shun. Als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersaßen, sprach der Drache: «Da Eure Hoheit, der große Ch'an-Meister, jetzt hier anwesend ist, werde ich mich sofort zurückziehen. Bitte vergebt mir, falls ich Euch irgendwelche Unannehmlichkeiten bereitet habe.» Die Leute kamen von nah und fern mit den verschiedensten Leiden, um bei ihm Hilfe zu finden. Nur dadurch, daß er den Kranken von Angesicht zu Angesicht gegenübersaß, heilte er sie alle, ohne die geringste Medizin zu verwenden.
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Einmal reiste Tu-shun in die südlichen Landesteile und kam an die Ufer des Gelben Flusses, der gerade Hochwasser führte. Er versuchte, den Fluß zu überqueren, aber er glitt am steilen und schlüpfrigen Ufer aus und fiel ins Wasser. Er kletterte wieder ans Ufer, fiel aber wieder ins Wasser. Da ging die Flut zurück, um es ihm zu ermöglichen, das Flußbett zu durchqueren und das andere Ufer zu erreichen. Sofort nachdem dies geschehen war, schwoll die Flut wieder zur vorherigen Stärke a n . . . . Im vierzehnten Jahr von Chengkuan (640 n. Chr.) ermahnte Tu-shun seine Schüler ein letztes Mal und gab ihnen die letzten Anweisungen. Danach saß er, ohne Zeichen von Krankheit, in aufrechter Haltung wie im Samadhi und verstarb; das geschah in dem Vorort südlich des Ishan-Klosters.24 (Taisho 2064, S. 984)
Chih-yen (602-668) Chih-yen, der Nachfolger von Tu-shun, wurde als der zweite Patriarch dieser Schule betrachtet. Unter seinen wichtigen Schriften finden wir Die Zehn Mysterien im Einen Fahrzeug des Hua-yen (Taisho 1868), Die Fünfzig Fragen und Antworten der Hua-yen-Lehre (Taisho 1869), Bemerkungen und Kommentare zu den verschiedenen Kapiteln des Hua-yen-Sutra (Taisho 1870) und Auf der Suche nach den Tiefen Mysterien des Hua-yen-Sutra. Der vielleicht wichtigste Beitrag von Chih-yen war seine Darstellung der Zehn Mysterien. Obwohl ein großer Teil des Inhalts dieser Mysterien schon im Fachieh-kuan enthalten war, stellt sein Konzept der «ausgewogenen» Zehn Mysterien, vom literarischen Standpunkt seiner Zeit aus betrachtet, einen wirklich neuartigen und erfrischenden Aspekt dar. In der Biographie des Hua-yen-Sutra25 finden wir einen kurzen Bericht über Chih-yen: Der Vorname von Shih-chih-yen war Chao. Er war ein Einwohner von T'ienshui. ... Zu der Zeit, als seine Mutter ihn empfangen sollte, erschien ihr im Traum ein indischer Mönch mit einem Stab in der Hand, der die folgenden Worte zu ihr sprach: «Wasche sofort deinen Körper und reinige deinen Geist, befolge die Gebote und faste.» Sie erwachte mit dem Gefühl großer Ehrfurcht. Der Raum war von wunderbaren Düften erfüllt, und kurz darauf empfing sie. Chih-yen zeigte schon im Alter von wenigen Jahren eine außergewöhnliche Intelligenz. Bei seinen Spielen errichtete er oft Stupas aus Zie-
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gelsteinen und flocht Baldachine aus Blumen. Manchmal spielte er Prediger und ließ die anderen Kinder die Rolle der Zuhörer spielen - ein Zeichen dafür, daß er talentiert und für besondere Dinge bestimmt war. Als Chih-yen zwölf Jahre alt war, kam der erhabene Mönch Tu-shun zu seinem Haus. Tu-shun legte die Hand auf den Kopf des Kindes und sprach zu dessen Vater: «Dies ist mein Sohn; du solltest ihn mir zurückgeben.» Die Eltern von Chih-yen wußten, daß Tu-shun ein hervorragender Mönch war; sie waren glücklich, ihm den Wunsch zu erfüllen. Daraufhin übergab Tu-shun Chih-yen seinem Hauptschüler Ta zur Pflege und Erziehung. Der Junge wurde Tag und Nacht im Studium der Schriften unterwiesen. Einige Jahre später besuchten zwei indische Mönche das Chih-hsiang-Kloster. Als sie Zeugen von Chih-yens außergewöhnlicher Intelligenz wurden, unterrichteten sie ihn in Sanskrit. Chih-yen beherrschte das Erlernte in sehr kurzer Zeit. Später sagten die indischen Mönche den Bewohnern des Klosters, daß dieses Kind eines Tages ein großer Prediger werden würde. Er trug die schwarze Schnur [das Zeichen der Mönchswürde] schon im Alter von vierzehn Jahren. In dieser Zeit neigten sich Glück und Erfolg der SuiDynastie ihrem Ende zu, und viele Menschen litten Hunger. Obwohl Chih-yen noch sehr jung war, zeigte er in dieser schweren Zeit bereits große Willensstärke und Ausdauer. Später studierte er Asangas Schrift Die Grundzüge des Mahayana (Mahayana-samparigraha) unter Meister Ch'ang, gelangte in wenigen Jahren [zur vollen Beherrschung vieler Schriften] und war fähig, überzeugende und tiefgründige Interpretationen dieser Schriften zu geben. Meister Ch'ang ließ ihn oft vor den vielen großen Gelehrten sprechen, die sich im Kloster versammelt hatten. ... Nachdem er die Weihe erhalten hatte, studierte Chih-yen die Vinayas und Abhidharmas, das Satyasiddhi, Dashabhumi, Ti-Ch’ih und die Mahanirvana-Sutras und Shästras. Dann studierte er unter Meister Li, drang in die schwierigsten und tiefsten Lehren ein und erntete dabei viel Lob. Chih-yen hatte sich immer Sorgen über den Umfang und die Komplexität der buddhistischen Schriften gemacht. Er dachte oft: «Auf welche unter den umfangreichen und tiefen buddhistischen Lehren soll ich mich verlassen?» Er stellte sich dann vor die Drei Sammlungen und verneigte sich vor ihnen. Er formulierte seinen Wunsch in Gebetform und entnahm der Sammlung aufs Geratewohl ein Buch, das sich als erster Band des Hua-yenSutra herausstellte. Dann besuchte er Meister Chih-chengs Vorlesungen über das Hua-yen, aber alles, was er daraus erfuhr, waren längst überholte Erklärungen. In seinem Kopf formten sich immer mehr neue Gedanken über die Hua-yen-Lehre. Er beschloß, seine Zweifel zu bereinigen, indem er sich auf die Suche nach neuen Interpretationen begab; er studierte den kompletten Kanon und las alle verfügbaren 303
Kommentare. Erst als er die Auslegung durch den Vinaya-Meister Kuang-t'ung gelesen hatte, begannen sich seine Zweifel langsam zu verflüchtigen. Durch dieses Werk begann er den Kern der Lehre vom unendlichen bedingten Entstehen zu verstehen, wie er in der Lehre vom Einen Fahrzeug zum Ausdruck kommt. Einige Zeit später kam ein fremder Mönch zu ihm und sagte: «Wenn du die Bedeutung der Lehre vom Einen Fahrzeug verstehen willst, dann solltest du nicht versäumen, die Theorie der Sechs Formen zu studieren, wie sie in dem [Kapitel über die] Zehn Bhümis dargestellt wird. Du solltest dich ein bis zwei Monate in die Einsamkeit zurückziehen und darüber meditieren - dann wirst du fähig sein zu verstehen.» Nachdem er dies gesagt hatte, war der Mönch plötzlich verschwunden. Chih-yen grübelte lange Zeit über diese Worte nach. Er begann mit weiteren eingehenden Studien, und nach kurzer Zeit hatte er die Lehre vollständig gemeistert; er war damals erst siebenundzwanzig Jahre alt. Nach diesem Erfolg meditierte er sieben Tage und sieben Nächte lang und betete um Anleitung bei der Unterscheidung von richtig und falsch. Eines nachts träumte er den Besuch eines himmlischen Jünglings, der sich zustimmend über sein Verständnis äußerte. Trotzdem trat er zu dieser Zeit noch nicht vor seine Mitmenschen, sondern lebte unauffällig unter einfachen Leuten. Erst als er schon sehr alt war, begann er, die Lehre öffentlich zu predigen. Als eines Tages der kaiserliche Prinz eintraf, um dem Fürsten von Pei einen Titel zu verleihen, predigte Chih-yen vor dem Prinzen, der [von dieser Predigt tief beeindruckt] den örtlichen Behörden die Anweisung erteilte, ihn mit ausreichenden Geldmitteln und Vorräten zu versorgen, damit er ohne Unterbrechungen predigen könne. Chih-yen war ein sehr vielseitiger Mann, der Fähig-keiten auf vielen Gebieten besaß. Einst malte er ein Bild der Lotosschatz-Welt, ein künstlerisches Meisterwerk. ... Im ersten Jahr von Tsung-chang [668 n. Chr.] träumte er, daß der Altar der Weisheit im Kloster plötzlich zusammenstürzte. Sein Schüler Hui-hsiao träumte von einem riesigen Baldachin, der hoch über ihm hing und den Himmel berührte. Oben auf dem Baldachin befand sich ein großer Diamant, der Lichtstrahlen, hell wie die Sonne, aussandte. Der Baldachin kam langsam immer näher und stürzte, als er die Hauptstadt erreicht hatte, nieder. Chihyen war klar, daß die Zeit für seinen Abschied gekommen war. Eines Tages sprach er zu seinen Schülern: «Dieser mein physischer Körper kam durch bedingtes Entstehen zustande und besitzt keine dauernde Substanz. Ich werde euch vorübergehend verlassen und das Reine Land besuchen; dann werde ich die [Hua-yen-]Lotosschatz-Welt aufsuchen. Ich hoffe, ihr werdet alle in meine Fußstapfen treten und denselben Wunsch haben.» In der Nacht 304
des siebenundzwanzigsten Tages des zwölften Mondes [668 n.Chr.] legte sich Chih-yen auf die Seite und starb, ohne daß sich sein Gesichtsausdruck im geringsten verändert hätte.
Fa Tsang (643-712) Unter den vier großen Hua-yen Meistern war Fa-tsang der produktivste. Man sagt, daß er einhundert Bände (chüan) umfassende Schriften verfaßte. Aufgrund seiner unermüdlichen Anstrengungen beim Predigen und Schreiben über die Hua-yen-Lehre erlangte diese hohes Ansehen und viel Beachtung. Er wurde von vielen als der eigentliche Begründer dieser Schule angesehen. Aus Respekt und Bewunderung für seine Person nannten ihn die Leute Hsien-shou (Oberhaupt der Weisen). Auch der Kaiser von China verlieh ihm einen Ehrentitel: Der Dharma-Lehrer Kuo-i (Erster im Staat). Fa-tsangs Vorname war K'ang. Seine Familie stammte ursprünglich aus Samarkand, und sein Vater war ein hoher Beamter in der chinesischen Regierung. Im Jahr 643 n.Chr. hatte seine Mutter einen Traum. Sie träumte, daß sie Sonne und Mond verschluckte, und wurde schwanger. Als Fa-tsang sechzehn Jahre alt war, verbrannte er einen seiner Finger als Opfergabe vor einer Buddha-Reliquie in einem Stupa. Im Alter von siebzehn Jahren reiste er umher, um einen guten Meister zu finden, aber von den zeitgenössischen Gelehrten konnte ihn keiner zufriedenstellen. Dann verließ er sein Elternhaus und verbrachte die Zeit in einer Einsiedelei auf dem Berg T'ai-pei. Er ernährte sich nur von Pflanzen, lebte ein asketisches Leben und kehrte nur ein einziges Mal zurück, als seine Eltern krank waren. Zu dieser Zeit gab Meister Chih-yen Unterweisungen zum Hua-yen-Sutra im Yün-hua-Kloster in der Hauptstadt. Eines Nachts träumte Fa-tsang, daß himmlisches Licht erstrahlte und sein ganzes Haus erhellte; er dachte: «Es muß eine große Persönlichkeit in der Nähe sein, die den großen Dharma predigt.» Am nächsten Morgen besuchte er Meister Chih-yen. Von seiner Darlegung tief beeindruckt, wurde Fa-tsang sein Schüler. Fa-tsang war im Alter von fünfundzwanzig Jahren noch immer Laie, und Chih-yen war bestrebt, ihn bald zum Mönch zu weihen. Als er achtundzwanzig Jahre alt war, baute die Kaiserin Wu Tse-t'ien 305
in Erinnerung an die Edeldame Jung-kuo ein neues Kloster mit dem Namen T'ai-yuan und bestellte Fa-tsang als Abt. Aus diesem Anlaß wurde er formal geweiht. Auf die Bitte der Kaiserin Wu hin hielt Fatsang viele Vorträge über die verschiedenen Sutras. Im Lauf seines Lebens erläuterte Fa-tsang das gesamte Hua-yen-Sutra über dreißig Mal. Man sagt auch, daß sich im Verlauf seiner Predigten viele wunderbare Dinge ereigneten. Einmal, im Yün-hua-Kloster, sahen die Leute, wie seinem Mund Licht entströmte, das zum Himmel emporstieg und dort einen riesigen Baldachin bildete. Ein anderes Mal, als Fa-tsang gerade das «Beben des Hua-yen-Ozeans» erläuterte, begann während der Predigt die Erde zu beben, ein himmlisches und glückbringendes Omen. Er half auch Hsüan-tsang bei den Übersetzungen, die dieser durchführte; da sie jedoch «verschiedene Standpunkte» vertraten, trennte sich Fatsang wieder von Hsüang-tsang. Fa-tsang verfaßte viele wichtige Aufsätze und Kommentare; darunter befindet sich das zu seiner Zeit wohl populärste Werk, der Kommentar zum Herz-Sutra, der von vielen Leuten studiert wurde. Als Fa-tsang im Alter von siebzig Jahren starb, erhielt er ein Staatsbegräbnis.26
Ch'eng-kuan (738-840) Ch'eng-kuans Vorname war Hsia-hou; er war ein Einwohner von Yueh-chou. Er wurde schon im Alter von vierzehn Jahren Mönch. Eine Zeitlang studierte er die Drei Shastras der Madhyamaka-Schule unter Meister Hsüan-pi aus Chin-ling. Der große Erfolg der San-lun-Schule im Yangtze-Tal wird seinem Einsatz zugeschrieben. Es scheint einige Verwirrung über Ch'eng-kuans Geburtsdaten und seinen genauen Todestag zu geben. Nach der Version von Sung-kao Shengchuan starb Ch'eng-kuan im Alter von ungefähr siebzig Jahren in der Zeit Yuanho - also zu einem Zeitpunkt, der zwischen 806 und 820 liegen könnte. Takakusu gab für sein Leben die Jahreszahlen 760-820 an27. Aber nach der Überlieferung - und wir haben keinen Grund, sie zu bezweifeln - wurde Ch'eng-kuan im Jahre 738 geboren und starb im Jahre 840. Er wurde also einhundertundzwei Jahre alt, und es war bekannt, daß er der Meister von sechs aufeinanderfolgenden T'ang-Kaisern (Te-tsung, Shun-tsung, Hsien-tsung, Mou-tsung, Chin-tsung 306
und Wen-tsung) war. Er schulte sich unter vielen berühmten Gelehrten und hervorragenden Zen-Meistern. Eines Tages betrachtete er sich und sprach: «Die Bodhisattvas der Fünften Stufe sind fähig, die Tathata zu erkennen und ihren Geist in die Sphäre der Buddha-Natur zu versenken. Im Zustand des NachShamatha (Hou-te Chilo-wei) jedoch nehmen sie alle die Aufgabe auf sich, die weltlichen Fertigkeiten und Studien zu meistern, um damit den Lebewesen zu helfen und ihre eigene Erkenntis zu vertiefen. Ich sollte ihrem Beispiel folgen und die verschiedenen Wissenschaften und Disziplinen studieren.» Daraufhin unternahm Ch'eng-kuan umfangreiche Studien und eignete sich Kenntnisse in allen Wissensbereichen an, einschließlich solcher Gebiete wie chinesische Klassiker, Geschichte, Literatur, Philologie, Sanskrit, nicht-buddhistische Lehren, Zaubersprüche, Magie, Rhetorik, Logik, Medizin und Kunsthandwerk. Er scheint ein äußerst vielseitiger und gelehrter Mensch gewesen zu sein. In seiner berühmten Abhandlung Ein Prolog zum Hua-yen legt er Zeugnis für sein umfassendes Wissen ab, das fast alle Wissensgebiete seiner Zeit einschließt. Er lebte viele Jahre im großen Hua-yen-Kloster auf dem Berg Wu-t'ai und vollendete dort sein Opus Magnum, Die große Exegese des Huayen-Sutra, das fast eine Million Worte umfaßt; Ein Vorwort zum Huayen war als Einleitung zur Großen Exegese geschrieben worden. Man berichtet, daß Ch'eng-kuan, bevor er sein riesiges Vorhaben begann, mehrere Tage lang intensiv betete und den Buddha anflehte, ihm ein Zeichen zu geben. Dann hatte er einen Traum, in dem er einen goldenen Menschen sah, der strahlend und aufrecht wie ein Berg vor der Sonne stand. Er hieß den goldenen Menschen willkommen und umarmte ihn, und dann begann er ihn zu verschlucken. Als Ch'eng-kuan erwachte, war er sehr glücklich. Seine Große Exegese erforderte fünf ganze Jahre Arbeit, bevor sie vollendet war. Nach der Vollendung versorgte er, als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber den Buddhas, tausend Mönche mit Speise und Trank. Man erzählte auch, daß oft glückbringende Zeichen erschienen, wenn Ch'eng-kuan öffentlich die Sutras darlegte. Er hatte mehr als hundert Schüler, die fähig waren, den Dharma zu vermitteln, und über tausend Schüler, die die Sutras erklären konnten.
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Ch'eng-kuan schlug einst die folgenden Gelübde vor: 1. Ich werde immer in einem Kloster leben und als Bhikshu nur drei Kleidungsstücke besitzen. 2. Ich werde auf allen weltlichen Gewinn und Ruhm verzichten, so als würde es sich um Abfall handeln. 3. Ich werde niemals eine Frau anschauen. 4. Mein Schatten wird niemals in einem Haushalt verweilen. 5. Ich werde immer das Lotos-Sutra rezitieren, bis ich mich von allem Anhaften gereinigt habe. 6. Ich werde immer die Mahayana-Sutras lesen, um allen Lebewesen dienen zu können. 7. Ich werde ohne Unterbrechung den Menschen das Hua-yen-Sutra erklären. 8. Ich werde mich niemals niederlegen, ungeachtet ob es Tag oder Nacht ist. 9. Ich werde niemals aus Gründen des Stolzes oder der Selbstherrlichkeit andere Menschen verwirren. 10. Ich werde niemals im Großen Erbarmen und in der Güte gegenüber allen Lebewesen des Universums nachlassen, sondern mich um ihre Errettung und ihr Bestes bemühen. Es wird berichtet, daß Ch'eng-kuan diese Gelübde getreulich befolgte und sein ganzes Leben lang nach ihnen handelte.28 Obwohl Ch'engkuan, der siebenundzwanzig Jahre nach dem Tod von Fa-tsang zur Welt kam, niemals unter Fa-tsang (dem dritten Patriarchen) studiert haben konnte, wurde er trotzdem von den «orthdoxen» Hua-yen-Buddhisten als vierter Patriarch der Hua-yen-Schule angesehen. Der Grund für diese seltsame Nachfolge war, daß man Ch'eng-kuan als einen wahren Orthdoxen ansah, der die ursprüngliche Lehre von Fatsang wieder richtigstellte, nachdem Fa-tsangs Schüler Hui-yüan sie fehlinterpretiert hatte, indem er einige seiner eigenen «häretischen» Ansichten hinzugefügt hatte. Ch'eng-kuan wurde daher als der «indirekte Erbe» von Fa-tsang angesehen, der diesen wirklich verstanden hatte und für ihn sprechen konnte. Ich bin jedoch der Meinung, daß die Unterschiede, die zwischen Ch'eng-kuan und Hui-yüan hinsichtlich der Hua-yenLehre bestehen - vor allem was die Zehn Mysterien 308
betrifft - eher gering sind und daß dieser Behauptung keine besondere Bedeutung zugemessen werden sollte. Tsung Mi (780-841), der sogenannte fünfte Patriarch, war sowohl ein Hua-yen- als auch ein Zen-Meister. Da aber seine Beiträge zur Huayen-Lehre in keinem Vergleich zu jenen der anderen vier Patriarchen stehen, kann seine Lebensgeschichte hier weggelassen werden.
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Epilog
In diesem Buch habe ich versucht, das Wesen der Hua-yen-Philosophie darzustellen, indem ich die drei wesentlichen Elemente dieses Systems vorgeführt habe: die Philosophie der Leere, die Philosophie der Totalität und die Nur-Geist-Lehre; eine Darstellung, in der eines dieser drei Elemente fehlt, würde das Hua-yen-Denken unvollständig und irreführend wiedergeben. Der Prolog sowie der erste Teil des Buches, Der Bereich der Totalität, hatten den Zweck, den notwendigen Hintergrund für das Verständnis eines solchen philosophischen Systems zu vermitteln. Sie sollten auch dazu dienen, die grundlegende Mahayana-Anschauung vom Kosmos, vom Leben, den verschiedenen Stufen der Erleuchtung und dem unbegreiflichen Bereich der Buddhaschaft darzustellen, wie er im Hua-yen-Sutra zu finden ist. Die chinesischen Buddhisten lieben es, das Hua-yen-Sutra den «König aller Sutras» zu nennen. Diese Bezeichnung ist ganz verständlich für diejenigen, die dieses ungewöhnliche Werk gelesen haben, denn es vermittelt zumindest eine erste Ahnung von dem ehrfurchteinflößenden Panorama der Totalität und vermittelt in lebendiger Form etwas von der ungeheuer weiten und tiefen Einsicht, der Liebe und den Taten des Buddha. Für jemanden, der am Zen-Buddhismus interessiert ist, mögen die Zehn Stufen der Erleuchtung eines Bodhisattva besonders nützlich sein, denn er kann jetzt seine Zen-Erfahrung an der messen, die im Sutra beschrieben ist, und erkennen, wie weit oder wie wenig er auf dem Weg fortgeschritten ist. Was die Philosophie angeht, glaube ich, daß die Mehrheit der charakteristsichen Grundsätze und Argumente der Hua-yen-Lehre in 310
den letzten beiden Teilen dieses Buches enthalten sind. Der allerwichtigste Aufsatz, Über die Meditation der Dharmadhatu von Tu-shun, wurde vollständig aufgenommen, zusammen mit den Kommentaren verschiedener anderer Autoren. Obwohl ein zweiter wichtiger Aufsatz von Tu-shun, Die Praxis der Befriedung und Kontemplation [shamathavipashyana] in den Fünf Lehren nicht vollständig übersetzt wurde, ist doch eine Anzahl seiner wichtigsten Stellen in die Diskussion der Totalität und der runden Lehre aufgenommen worden. Es ist klar, daß alles, was ich in diesem Buch gesagt habe, nur als eine fragmentarische Einführung in die Lehre des Hua-yen-Sutra dienen kann. Ein gründliches Verstehen seiner Lehre erfordert ein vollständiges Studium - und daher eine Übersetzung - des umfangreichen Textes selbst. Es ist mein aufrichtigster Wunsch, daß ein entschlossener Kenner des Hua-yen sich dieser höchst bedeutsamen Aufgabe bald unterziehen möge.
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Anmerkungen
Einleitung 1 Arnold Toynbee: A Historian's Approach to Religion, New York 1956, 2 3 4 5 6 7 8 9
S. 4-5. Seit anfangloser Zeit; chin.: wu shih i lai, Sanskrit: anadikalam. Henry Warren: Buddhism in Translation, Cambridge, Mass., 1947, S. 117-128. 4 Toynbee, op. cit. S. 10. Taisho 235, S. 751. Taisho 279, S. 257. Buddhas Universum oder Buddhas Reich: Nach der Überlieferung besteht ein Buddha-Reich aus 1 000 000 000 Sonnensystemen. Taisho 279, S. 35. Zahlreiche Beschreibungen der unendlichen Universen in der Dharmadhatu finden sich in vielen Passagen im vierten Kapitel, die «Entstehung der Welt», und im fünften Kapitel, «Die Welt des Blumen-Schatzes», im Hua-yen-Sutra. Aber sie alle zu lesen, wäre mühsam und unfruchtbar. Es wird hier daher eine Auswahl gekürzter Passagen präsentiert, um dem Leser einen allgemeinen Überblick zu geben. Zum Zwecke der besseren Verständlichkeit sind die Übersetzungen verschiedenen Textstellen entnommen, jedoch nicht unbedingt in ihrer ursprünglichen Reihenfolge. Die Auswahl stammt aus Passagen von S. 35, 36, 37, 38, 42, 51, 52 und 53 aus Taisho 279.
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ERSTER TEIL: Der Bereich der Totalität 1 Hier bedeutet das Wort «Buddha» nicht den historischen Buddha Siddhartha Gautama (Shakyamuni); es bezieht sich auf den göttlichen Buddha Vairochana. Nach der Tradition des tibetischen Buddhismus sind die im Avatamsaka-Sutra erwähnten Buddhas hauptsächlich Sambhogakaya-Erscheinungsformen, oder, genauer gesagt, das Reich des Avatamsaka ist das der Sambhogakayas. 2 Hier bezieht sich «Sutras» hauptsächlich auf Mahayana-Sutras. 3 Hua-yen-Sutra (Sanskrit: Buddhavatamsaka- [kurz: Avatamsaka-] oder Gandavyuha-Sutra). Es gibt verschiedene chinesische Übersetzungen von diesem Text. Die für dieses Buch getroffene Auswahl stammt aus der Übersetzung der Shikshananda-Version, Taisbo 279. 4 Dharmadhatu (chin.: fa-chieh): der Bereich der Dharmas. Hier bezieht sich Dharmadhatu auf den Bereich der Totalität oder Unendlichkeit, gesehen im Licht der höchsten Einsicht und spirituellen Perspektive der Buddhaschaft. Siehe auch die Erläuterungen im Glossar. 5 Taisho 279, S. 237-238. 6 Da es sinnlos wäre, hier die Endungen oder Flexionsformen der Sanskritwörter anzugeben, wurde koti statt kotih, ayuta statt ayutam, usw. verwendet. Unbeschreiblich-unbeschreibliches Wogen = chin.: pu k’o shuo pu k’o shuo chuan; Sanskrit: anabhilapyana-bhilapyaparivartah. 7 Taisho 279, S. 238-241. 8 Taisho 279, S. 241. 9 Drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 10 Taisho 279, «Das Kapitel der Zehn Samadhis». 11 Natürlich wird das Wort «Samadhi» hier in einem anderen Sinn verwendet als in den Yoga- und Vedanta-Systemen. 12 Laut Yogachara-System gibt es nur zwei Quellen, aus denen menschliches Wissen entspringen kann: jene der direkten Wahrnehmung (pratyakshapramana) und jene der Denktätigkeit oder Schlußfolgerung (anumdnapramana). Die erstere ist die der unmittelbaren Erfahrung, welche keine Symbole enthält. Sie kann ohne Zuhilfenahme von irgendwelchen Symbolen stattfinden; wogegen die letztere nur mit Symbolmanipulationen arbeiten kann. Die fünf Sinne und das Alaya-Bewußtsein (das Unbewußte) bestehen dieser Ansicht nach ohne Ausnahme aus Pratyaksha-Pramana, das «Sechste Bewußtsein» oder der «Geist» kann aus beiden bestehen. Es heißt, daß im allwissenden Buddha-Geist zu keiner Zeit Schlußfolgerungen oder Anumana-Pramana-Funktionen stattfinden, da Schlußfolgerungen immer indirekt und der Gefahr von Fehlern und Ein-
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schränkungen ausgesetzt sind, die durch Symbolmanipulationen entstehen. Daher ist der Buddha-Geist immer frei von Symbolen und funktioniert durch direkte Wahrnehmung allein. W.F. Trotter (Übers.): Pascal’s Pensées, New York 1943, S. 16-18. Gleichzeitiges plötzliches Entstehen = chin.: tung-shih tun-ch'i; vollkommenes gegenseitiges Sich-Ineinander-Auflösen = chin.: hu-jung. Siehe die Diskussion des Shih-shih Wu-ai im zweiten Teil und den Text Über den goldenen Löwen im dritten Teil dieses Buches. Die fünf Patriarchen der Hua-yen-Schule: Tu-shun, Chih-yen, Fa-tsang, Ch'eng-kuan und Tsung-mi. Siehe den dritten Teil. Die im folgenden erzählte Geschichte ist keine direkte Übersetzung aus irgendeinem Quellenwerk. Um die Geschichte lebendiger zu machen, hat sie der Verfasser an mehreren Stellen dramatisiert. Der ursprüngliche kurze Bericht über Fa-tsangs Demonstration der Dharmadhatu für die Kaiserin Wu durch die Widerspiegelungen von gegenübergestellten Spiegeln stammt aus dem Sung-kao Seng-chuan, Taisho 2061, S. 732. Gebet vor dem Öffnen der Heiligen Schriften (chin.: k'ai ching chieh). Dies ist Shikshanandas «neue» Übersetzung der achtzig Kapitel umfassenden Version des Hua-yen-Sutra. Übersetzt aus Ein Prolog zum Hua-yen (Hua-yen Hsüan-t'an) Kapitel 5, S. 63-64, Shanghai 1936 (nachgedruckt in Taipei, 1966). Das Hua-yen Hsüan-t'an ist wahrscheinlich eines der wichtigsten Werke des Hua-yenBuddhismus; es gibt einen Überblick über das Wesen der gesamten Huayen-Lehre und stellt das erste Kapitel des umfangreichen Hua-yen Su-ch’ao (Die Exegese des Hua-yen-Sutra) dar; es ist eines der von Hua-yen-Schülern meistgelesenen Werke. Taisho 279, S. 179. Taisho 279, S. 181. Die Beschreibungen der Sechs Bhumis oder Stufen sind zitiert aus An Outline of (Fa) Hsiang Tsung von Mei Kuang Hsi, S. 78-79. Taisho 279, S. 196. Taisho 279, S. 199. Taisho 279, S. 199. Wörtl.: «Wenn er sieht, wie die Leiber der Lebewesen in den vier Strömungen ertrinken.» Die vier Strömungen deuten wahrscheinlich die vier Leiden im Samsara an, das heißt, das Leid der Geburt, des Alters, der Krankheit und des Todes. Die Zehn Kräfte des Tathagata sind: 1. Er kennt voll Weisheit, wie es wirklich ist: das, was sein kann, als das, was sein kann, und das, was nicht sein kann, als das, was nicht sein kann.
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2. Er kennt voll Weisheit, wie sie wirklich sind: die karmischen Folgen von vergangenen, zukünftigen und gegenwärtigen Handlungen sowie Ort und Ursache aller Handlungen. 3. Er kennt voll Weisheit, wie sie wirklich sind: die verschiedenen Elemente in der Welt. 4. Er kennt voll Weisheit, wie sie wirklich sind: die verschiedenen Veranlagungen anderer Wesen und Personen. 5. Er kennt voll Weisheit, wie sie wirklich sind: die höheren und niederen Fähigkeiten anderer Wesen und Personen. 6. Er kennt voll Weisheit, wie er wirklich ist: den Weg, der überall hinführt. 7. Er kennt voll Weisheit, wie sie wirklich sind: die Vier Versenkungsstufen, die Acht Befreiungen, die Drei Arten der Sammlung und die Neun meditativen Errungenschaften sowie ihre Verunreinigung, ihre Reinigung und den Zustand, in dem sie in ihrer Reinheit gefestigt entstehen können. 8. Er kann sich an seine verschiedenen früheren Leben erinnern. 9. Mit seinem himmlischen Auge erkennt er das Sterben und Wiedergeboren-Werden von Lebewesen so wie sie wirklich sind. 10. Er verweilt im Zustand der Befreiung des Herzens und der Weisheit, welcher keinerlei karmische Nachwirkungen (wörtl.: «Ausflüsse») mehr hat und den er in diesem jetzigen Leben voll realisiert hat. Die Vierfache Furchtlosigkeit des Tathagata (die Selbstsicherheit oder Furchtlosigkeit des Tathagata) gründet darauf, daß er: 1. volle Kenntnis aller Dharmas hat; 2. alle Ausflüsse ausgetrocknet hat; 3. alle Hindernisse auf dem Weg zur Befreiung richtig dargelegt hat; 4. demonstriert hat, wie man den Weg beschreiten muß, der zur Befreiung führt. Die achtzehn besonderen Eigenschaften des Tathagata sind: 1. Er strauchelt nie; 2. er spricht niemals unüberlegt oder laut; 3. er verliert niemals seine Aufmerksamkeit; 4. seine Wahrnehmung ist nicht-unterscheidend; 5. sein Denken ist niemals unkonzentriert; 6. seine Gelassenheit ist keine Gleichgültigkeit; 7. sein Eifer läßt niemals nach; 8. seine Tatkraft läßt niemals nach; 9. sein Erinnerungsvermögen versagt niemals; 10. sein Konzentrationsvermögen läßt niemals nach; 316
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11. seine Weisheit versagt niemals; 12. seine Befreiung hat keine Lücken. 13. Alle Taten seines Körpers, 14. seine Rede 15. und sein Geist sind Ausdruck der Einsicht und entsprechen dieser jederzeit; seine Erkenntnis und seine Schau entfalten sich unbehindert und frei im Hinblick auf: 16. die Vergangenheit, 17. die Zukunft 18. und die Gegenwart. Taisho 279, S. 199. Dieser Abschnitt ist insofern sehr bedeutsam, als er andeutet, daß ein passives Nirvana und eine Weisheit der Nicht-Unterscheidung nicht die endgültigen Ziele sind, nach denen ein Bodhisattva streben sollte. Er sollte über den Bereich der Nicht-Unterscheidung hinausgehen, um dadurch den dynamischen Bereich der Hua-yen-Totalität der Buddhaschaft zu erreichen. Dieser Abschnitt legt auch Zeugnis für die Tatsache ab, daß ein Bodhisattva nur in einem derart fortgeschrittenen Stadium (auf der neunten Stufe, nur zwei Stufen vor der Buddhaschaft) sich über den Bereich der Nicht-Behinderung erheben und in die Totalität der Dharmadhatu eintreten kann. Taisho 279, S. 202. Die «Drei Gruppen» beziehen sich wahrscheinlich auf: 1. jene Lebewesen, die ganz bestimmt die Erleuchtung erringen werden; 2. jene Lebewesen, die die Erleuchtung nicht erringen werden; 3. jene, bei denen es ungewiß ist, das heißt, deren Verwirklichung von äußeren und inneren Umständen abhängt. Hier haben wir eine Demonstration der Tiefgründigkeit des KarmaMysteriums. Erst wenn jemand die neunte Stufe der Erleuchtung erreicht hat, kann er individuelles Karma völlig fehlerfrei erkennen, und erst dann ist er wirklich qualifiziert, andere zu unterweisen und zu führen. Siehe die Diskussion über das «Licht des Todes» im Chikhai Bardo, die sich im Tibetanischen Totenbuch, herausgegeben von W. Y. Evans-Wentz, findet. Taisho 279, S. 209. Taisho 279, S. 242-251. Diese Feststellung ist auch im zehnten Kapitel des Vimalakirti-Sutra enthalten. Taisho 279, S. 327.
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ZWEITER TEIL: I. Die philosophischen Grundlagen des Hua-yen-Buddhismus 1 Edward Conze: Der Buddhismus, Wesen und Entwicklung, 3. Auflage, S. 123. 2 Siehe das 10. Kapitel des Vimalakirti-Sutra. 3 Siehe Anmerkung 12 zum ersten Teil, 4 Form (rupa): Obwohl Rupa gewöhnlich nur die Form, die Farbe oder die äußere Gestalt eines Dinges bezeichnet, steht es hier im Sinne von rupaskandha, dem Skandha (siehe Glossar) der Form, zu dem jegliches Ding gehört. Jede Form von Materie oder jedes Ding, solange es irgendeine Form oder Ausdehnung besitzt, wird als Rupa bezeichnet. Dies ist das erste der fünf Skandhas; die vier Skandhas, Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung und Bewußtsein, sind Funktionen des Geistes. Rupa wird hier zur Bezeichnung der Materie im Gegensatz zum Geist gebraucht. Der übliche Ausdruck ist se hsin erh fa («Form und Geist, die beiden Dharmas»). 5 Shankaras Kommentar zum 3. Kapitel, Vers 19, der Mandukyopanishad (Mysore, Sri Ramakrishna Ashram) S. 180 u. 188. Siehe auch Chandradhar Sharmas Indian Philosophy, A Critical Survey, S. 261-267, zu Shankaras Maya- und Brahman-Philosophie. 6 Theodor Stcherbatsky: Buddhist Logic, Gravenhage 1958, S. 79-81. 7 Ebenda, S. 95. 8 Vimalakirti-Sutra, 3. Kapitel, Taisho 474, S. 541. 9 Taisho 1776, S. 353-354. 10 Parmenides' Philosophie vom Sein siehe Arthur Fairbanks: The First Philosophers of Greece, London 1898, S. 86-97. 11 Ein wesentlicher Unterschied in der Interpretation des Svabhava besteht zwischen der Gelugpa-Schule und den drei alten Schulen des tibetischen Buddhismus, nämlich Nyingmapa, Kagyüpa und Shakyapa. Der Begründer der Gelugpa, Meister Tsongkhapa, gab eine besondere Definition von Svabhava; als Ergebnis davon schuf er eine neue Form der MadhyamakaPhilosophie, die - nach meiner Meinung - von einer Art «Leere der Abwesenheit» spricht. Diese Philosophie behauptet, daß das Svabhava eines Dinges leer ist, aber nicht das Ding selbst: «Wenn wir sagen, die Vase ist leer, meinen wir nicht, daß die Vase selber leer ist. . . . Was leer ist, ist das Svabhava dieser Vase.» 12 Smriti-Upasthana (Pali: sati-patthana) ist eine Meditationsanweisung zur Konzentration auf das Gewahrsein der Funktionen des Körpers, der Gefühle, des Geistes und der Geistobjekte. Die Kontemplation geht bis zur 318
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kleinsten Einzelheit. Das ständige Gewahrsein dieser «vergänglichen» und «bedingten» Objekte führt schrittweise zur Einsicht in die Wahrheit des Nicht-Selbst (anatman), also zur Erleuchtung. Sie bildet den Kern der Hinayana-Meditationspraxis. Siehe Nyanaponika: The Heart of Buddhist Meditation. Diese Definition fußt auf Hsüan-chuangs Interpretation im ersten Kapitel des Ch'eng Wei Shih Lun. Siehe Taisho 1585, S. 1-5. Die Hundert Dharmas der Yogachara-Schule sind ebenfalls eine Anweisung, die Vorstellung des «Selbst» zu beseitigen. Ausgenommen die sechs Asamskrita-Dharmas (die nicht-bedingten Dharmas), können die anderen vierundneunzig Dharmas entweder direkt dem «Selbst» oder dessen Elementen zugeschrieben werden. Siehe Takakusu: The Essentials of Buddhist Philosophy, S. 94a. Siehe Madhyamaka-Karika, 24. Kapitel, Vers 14. Siehe Hayakawa: Language, Meaning and Maturity, S. 28/29. Siehe Vasubandhus Trimsika und Fung Yu-lans A History of Chinese Philosophy, S. 299-338. Die zwanzig Leerheiten sind: 1. Die Leere der inneren Elemente. 2. Die Leere der äußeren Objekte. 3. Die Leere sowohl der inneren Elemente als auch der äußeren Objekte. 4. Die Leere der Leere (shunyata-shunyata). 5. Die Leere des Großen. 6. Die Leere der Letzten Wirklichkeit. 7. Die Leere des Bedingten. 8. Die Leere des Unbedingten. 9. Die Leere jenseits aller Extreme; die «Absolute Leere» oder «Totale Leere» (Sanskrit: atyanta-shunyata). 10. Die Leere des Nicht-Beginnens und Nicht-Endens. 11. Die Leere des Unverneinbaren. 12. Die Leere der Letzten Essenz. 13. Die Leere aller Dharmas. 14. Die Leere aller Eigenschaften. 15. Die Leere von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 16. Die Leere der Nicht-Existenz der Selbstheit. 17. Die Leere des Seins. 18. Die Leere des Nicht-Seins. 19. Die Leere des Selbst-Seins (oder der Selbstheit). 20. Die Leere des Anders-Seins.
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19 Siehe Etienne Gilson: The Christian Philosophy of St. Thomas Aquinas, S. 41. 20 Jacques Maritain: Approaches to God, New York 1954, S. 4-5. 21 Ebenda, S. 3. 22 «.. .sa esha, na iti, na ity atma, agriyah, agrihyate, ashiryah na hi shiryate, asangah na hi sajyate ...» 23 Taisho 227, S. 540. 24 Das sind die vier Stufen der Erleuchtung der Hinayana-Schule. 25 Taisho 475, S. 550/551. 26 Nicht entstandene Dharma-Reife (Sanskrit: anutpattika-dharma kshanti): Obwohl es verschiedene Übersetzungen dieses Begriffes gibt, glaube ich, daß das Wort kshanti hier nicht «Geduld» oder «Ausdauer» bedeutet, sondern einen Zustand der Reife oder Fortgeschrittenheit bezeichnet, in dem die Shunyata-Verwirklichung so stark ist, daß sie zum Ertragen aller widrigen Umstände befähigt. Überlieferungsgemäß heißt es, nur diejenigen Bodhisattvas, die die achte Stufe (bhumi) der Erleuchtung erreicht haben, können diese Verwirklichung erlangen. Andere wieder sagen, diejenigen der ersten Stufe sind dazu befähigt. 27 Taisho 1668, S. 615. Es ist zweifelhaft, ob dieses Shastra von Nagarjuna stammt; es wurde wahrscheinlich von irgendeinem chinesischen buddhistischen Gelehrten verfaßt. 28 Zur logischen Vertretbarkeit der «runden Sicht» siehe Abschnitt II. dieses Teiles. 29 Um den gewohnten logischen Gedanken, daß zwei Verneinungen eine Bejahung sind, auszuschalten, wird Shunyata-Shunyata hier nicht als ~ (~ S) veranschaulicht, sondern als ~ S ~ S oder X X. 30 Siehe die Auseinandersetzung über das Haften am Sein in diesem Abschnitt auf Seite 135. 31 Siehe Irving Copi: Introduction to Logic, New York 1953, S. 252-255. 32 Siehe Madhyamaka-Karika, 24. Kapitel, Vers 8 und 9. 33 Obwohl der Ausdruck «Nicht-duale Shunyata (pu erh k'ung hsin)» gele gentlich in der Prajnaparamita-Literatur vorkommt, wird er in einem allgemeinen und beschreibenden Sinn gebraucht und nicht als «eigener Begriff» zur Bezeichnung einer speziellen Sache. 34 Taisho 1854, S. 90/91. 35 Siehe Yin Shuns «Kommentar zum Essay über den Mittleren Weg» (Chung-kuan-lun Chiang-chi) Taipei 1963, S. 41/42. 36 Pao-tsang-lun, Taisho 1857, S. 144. Das Wort «Tao» ist hier gleichbedeutend mit Shunyata oder Tathata. 37 Taisho 261, S. 890.
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ZWEITER TEIL: IL Die Philosophie der Totalität 1 Siehe 8. Vorlesung, «Nature Alive» in Whiteheads Modes of Thought, New York 1938, 2 Ebenda. 3 Ebenda. 4 Ebenda. 5 Taisho 1867, S. 512. 6 Diese Geschichte ist möglicherweise keine Zen-Geschichte, obwohl sie im Westen weit verbreitet ist. Es ist mir nicht gelungen, ihre Quellen in der chinesischen Zen-Literatur zu lokalisieren, es wäre jedoch möglich, daß sie aus gewissen Zen-Quellen aus einer späteren Zeit stammt. Obwohl die ursprüngliche Quelle unbekannt ist, handelt es sich um eine äußerst wichtige und pointierte Geschichte. 7 Irving Copi: Introduction to Logic, New York 1954, S. 273. 8 Siehe T. R. V. Murti: The Central Philosophy of Buddhism, London (Allen and Unwin) 1955, S. 45-50. 9 Taisho 1867, S. 511. 10 Taisho 1871, S. 594. 11 Siehe Text im dritten Kapitel des dritten Teils. 12 Hier bedeuten die drei Wörter allgegenwärtig, harmonisch und verschmelzend nichts anderes als die Übersetzung des einen chinesischen Wortes jung, welches in diesem Zusammenhang äußerst schwierig genau wiederzugeben ist. Taisho 1884, S. 688. 13 Ch'eng-kuan: Ein Prolog zum Hua-yen (Hua-yen Su-ch'ao) herausgegeben von Hua-yen Lien-she, Taipei 1966, 2. Kapitel, S. 71. 14 Siehe Über den goldenen Löwen im dritten Teil. Es gibt zwei verschiedene Versionen der Zehn Mysterien, die alte und die neue Version. Die alten Zehn Mysterien stammen von Chih-yen und die neuen von Fa-tsang. Die hier angeführte Liste ist die neue Version, welche das «Mysterium von den reinen und den vermischten Eigenschaften der verschiedenen Speicher» in der alten Version durch das »Mysterium der Nicht-Behinderung von Größe und Kleinheit» ersetzt; desgleichen wird auch das «Mysterium der universellen Vervollkommnung durch die Projektion des Geistes» in das «Mysterium vom vollkommen erleuchtenden Gastgeber und den Gästen» abgeändert. Siehe Ch'eng-kuan: Ein Prolog zum Hua-yen, 5. Kapitel, S. 29-33. 15 Ebenda, S. 29-37. 16 Taisho 1866, S. 505. 17 Taisho 2016, S. 644.
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18 Taisho 1881, S. 668-670. 19 Taisho 1868, S. 514. Hier handelt es sich um eine ausgewählte und gekürzte Übersetzung. 20 Taisho 1868, S. 514. 21 Taisho 1866, S. 503. 22 Taisho 1866, S. 503. 23 Taisho 1881, S. 670. 24 Taisho 1875, S. 630. 25 Ch'eng-kuan: Ein Prolog zum Hua-yen, 5. Kapitel, S. 56-58. 26 Ebenda, 5. Kapitel, S. 48-49. 27 Ebenda, 5. Kapitel, S. 47-48. 28 Taisho 1878, S. 654. 29 Ch'eng-kuan, 5. Kapitel, S. 38-40. 30 Siehe Fa-tsangs «Saal der Spiegel» im ersten Teil dieses Buches. 31 Ch'eng-kuan, 5. Kapitel, S. 51-53. 32 Taisho 1881, S. 669. 33 Ebenda, S. 670. 34 Ebenda, S. 669-670. Dies ist das sechste Mysterium im Text Über den goldenen Löwen; dagegen wird es in der neuen Version von Fa-tsang zum neunten Mysterium. 35 Ch'eng-kuan, 5. Kapitel, S. 60. 36 Taisho 1881, S. 670. 37 Taisho 1866, S. 507-508.
ZWEITER TEIL: III. Die Nur-Geist-Lehre 1 Ch'eng-kuan: Ein Prolog zum Hua-yen, 5. Kapitel, S. 65-66. 2 Siehe Lankavatara-Sutra, 3. Kapitel. Siehe auch die Übersetzung von D.T. Suzuki in A Study of the Lankavatara-Sutra, S. 241-242. 3 Lankavatara-Sutra, 3. Kapitel; Taisho 671, S. 618. 4 Taisho 279, S. 102. Siehe auch das tibetische bKah-hGyur. Phal Chen. Ri, 62a, bis 64a (Tokyo/Kyoto, 1975), S. 135. 5 Taisho 279, S. 101. 6 Siehe The Awakening of Faith; Taisho 1666, S. 575. 7 Ebenda, S. 576. 8 Ebenda, S. 577. 9 Aber das ist natürlich Unsinn: Wie könnte irgendein erleuchtetes Wesen eine Sammlung von solch trockenen und langweiligen Abhidharmas zusammentragen?
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10 Siehe Garma C. C. Chang, Die Praxis des Zen, Freiburg i. Br. 1982, S. 136/137. 11 Ebenda, S. 153/154. 12 Hua-tou: das kritische Wort oder der kritische Punkt in einem Zen-Koan, das der Zen-Schüler zu lösen versucht, um zu einem Durchbruch zu kommen. 13 Zitiert aus Fa-hsiang T'zu-tien («Ein Lexikon der Fa-hsiang-Schule») Shanghai 1939, S. 1007. 14 Ebenda, S. 1008. 15 Die Acht Bewußtseinsarten: Nach dem Yogachara sind diese: AugenBewußtsein, Ohren-, Nasen-, Zungen- und Körper-Bewußtsein; dazu kommt der Geist oder das Sechste Bewußtsein; das Mana- oder IchBewußtsein; und das Alaya- oder Speicher-Bewußtsein. 16 Siehe das Trimsika von Vasubandhu. 17 Ch'eng-kuan: Ein Prolog zum Hua-yen, 6. Kapitel, S. 53-54.
DRITTER TEIL: Eine Auswahl aus den Hua-yen-Schriften und die Biographien der Patriarchen 1 Dieses Kapitel wurden in den dreißiger Jahren von Frau Pi-cheng Lu übersetzt und erschien in ihrem Buch The Two Buddhist Books in Mahayana. Die vorliegende Übertragung erfolgte unter Zuhilfenahme von Frau Lus Übersetzung; der Verfasser möchte hiermit seine Dankbarkeit gegenüber der Arbeit von Frau Lu zum Ausdruck bringen. Der Text basiert auf Taisho 293, S. 844-846. 2 Buddhas Reiche; siehe Prolog und Anmerkung dazu. 3 Hier steht der Ausdruck «Wolke von Blumen» (oder Wolke von Opfergaben) nur für Überfluß oder große Menge; er hat keine andere besondere Bedeutung. 4 Die Sechs Unterteilungen (oder die Sechs Lokas): die sechs Arten von Lebewesen im Kosmos: Devas oder himmlische Wesen, Menschen, Asuras, Tiere, Hungrige Geister und die Geister aus dem Fegefeuer oder der «Hölle». Die Vier Arten von Geburt: die aus der Gebärmutter, aus Eiern, aus dem Wasser und durch Metamorphose. 5 Nagas: Mythische halbgöttliche Wesen, die ein menschliches Gesicht, den Schwanz einer Schlange und den langen Hals einer Kobra haben. Das Wort bedeutet «Schlange» oder «Drachen». Die Nagas sind auch ein Volk, das die gebirgigen Regionen von Indien, Burma und Indochina bewohnt. Manche Forscher vertreten die Meinung, daß es sich um eine skythische 323
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Rasse handelt, die ihren Namen wahrscheinlich deshalb erhielt, weil sie Schlangen verehrte oder sie in hohem Ansehen hielt. Acht Gruppen: Es handelt sich dabei um die verschiedenen mythischen Wesen, die oft in den buddhistischen Schriften erwähnt werden: Devas, Nagas, Yakshas, Gandhrivas, Asuras, Garudas, Kinnaras und Mahoragas. Wörtlich: «Möge der richtige Weg, der zu den Menschen, zum Himmel (deva) und zum Nirvana führt, offen sein!» Taisho 1712, S. 552-553. Aufgrund sorgfältiger Überlegungen bin ich zu der Auffassung gelangt, daß es nicht gewinnbringend wäre, die Auslegung wörtlich zu übersetzen, da sie in einem sehr pedantischen und archaischen Stil abgefaßt ist. Eine wörtliche Übersetzung würde den Kern der Sache nur vernebeln und den philosophischen Gedankengang verdecken, den zu präsentieren sich der Autor bemüht hat. Weniger wichtige Teile des Aufsatzes sind daher weggelassen worden, und an einer Zahl von Stellen ist die Übersetzung ziemlich frei. Dieses Argument richtet sich wahrscheinlich gegen die Sarvastivadin und andere Hinayana-Schulen, die an die wahre Existenz aller Dharmas glauben, obwohl sie die Leerheit des Selbst oder von Pudgala akzeptieren. Hier impliziert «dieses» Leerheit und «jenes» Form. Siehe und vergleiche die Zehn Stufen des Bodhisattva im ersten Teil. Taisho 1883, S. 684-692. Am Anfang jedes Absatzes steht im Text: «Die Meditation betrachtet» (kuan yüeh), was nicht nur überflüssig, sondern auch verwirrend ist. Es wurde daher ab diesem Punkt in der Übersetzung ausgelassen. Wörtlich: «Was sind die Gründe» oder «Warum?»; vom Zusammenhang her beurteilt müßte es jedoch mit «Was soll dies bedeuten?» übersetzt werden. Taisho 1883, S. 673. Taisho 1884, S. 686. Taisho 1884, S. 687. Taisho 1883, S. 676. Siehe Anmerkung 12 im zweiten Teil II. Taisho 2061, S. 732 Taisho 1880, S. 663-666 Das basiert auf Nan Tings «Eine Geschichte der Hua-yen-Schule» Tai pei 1956, S. 347-384; und dem Fo-tsu T’ung~chi, Taisho 2035, S. 292-293. Taisho 1868, S. 512-513. Taisho 2064, S. 984.
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25 Taisho 2073, S. 163-164. 26 Das Material für diese Textstelle stammt aus der «Biographie des Mönchs Fa-tsang» von T'sui Chih-yuan, Taisho 2054. 27 Siehe The Essentials of Buddhist Philosophy, S. 112. 28 Das Material für diese Textstellen stammt von Sung-kao Sheng-chuan, Taisho 2061, S. 737.
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Glossar
Abhidharma. Eine Sammlung von frühen philosophischen Thesen des Buddhismus, die sich vor allem mit der Analyse der Elemente befassen, aus denen Körper, Geist und Materie zusammengesetzt sind, um ein klares Verständnis der Nicht-Selbst-Lehre (anatman) zu erzeugen. Advaita-Vedanta. Die Vedanta-Schule betont die nicht-duale Natur des Brahman oder der Gottheit. Der bedeutendste Philosoph dieser Schule war Shankaracharya (kurz: Shankara) aus dem frühen neunten Jahrhundert. Vedanta ist wahrscheinlich die einflußreichste Schule des Hinduismus. Alaya-Bewußtsein. Das grundlegende Bewußtsein aller Lebewesen, wie es von der Yogachara-Schule dargestellt wird. Alaya bedeutet «Lager- oder Vorratshaus», womit gemeint ist, daß dieses Bewußtsein alle potentiellen psychischen Energien in sich enthält und bewahrt. Es ist der Speicher aller Gedanken, Erinnerungen und Wünsche und ist die Grundursache des Samsara wie auch des Nirvana. Anatman. Die buddhistische Lehre vom Nicht-Selbst. Anumana-Pramana (chin.: pi-liang). Nach indischer Überlieferung gibt es zwei Hauptquellen des richtigen Erkennens. Die eine ist die direkte, unmittelbare Wahrnehmung und die andere das Folgern oder denkende Urteilen, Anumana-Pramana. Das erste ist eine direkte und das letztere eine indirekte Quelle richtiger Erkenntnis.
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Arhat. Der vollkommene Heilige, der alle Leidenschaften und Begierden ausgemerzt hat, für immer von den Fesseln des Samsara befreit ist und der die vierte oder letzte Stufe der Hinayana-Erleuchtung erreicht hat. Im Gegensatz zu den vier Stufen der Hinayana-Erleuchtung betont das Mahayana die zehn aufeinanderfolgenden Erleuchtungsstufen eines Bodhisattva. Asamkhya. Unzählbar, unendlich. Asamskrita. Die nicht-bedingten Dharmas oder Dinge. Asanga. Der Gründer der Yogachara-Schule, ein äußerst wichtiger Philosoph des Mahayana-Buddhismus im fünften Jahrhundert. Atman. Selbst, Ich, Ego oder die individuelle Persönlichkeit. Atyanta-Shunyata. Die Leere, jenseits aller Grenzen, einschließlich der «Grenze ihrer selbst», die absolute oder vollkommene Leere. Avalokiteshvara. Wohl der wichtigste Bodhisattva im Mahayana-Buddhismus; die Verkörperung des Erbarmens aller Buddhas; in China und Japan in weiblicher Form dargestellt. In China ist dieser Bodhisattva als Kuan-yin, in Japan als Kannon bekannt. Avatamsaka-Sutra (auch Buddhavatamsaka-Sutra): das sogenannte Kranzoder Girlanden-Sutra (chin.: Hua-yen-ching). Nach der Überlieferung wird angenommen, daß dieses Sutra vom Buddha gesprochen wurde, während er in tiefen Samadhi versunken war, und zwar unmittelbar nach seiner Erleuchtung unter dem Bodhi-Baum in Bodh-Gaya. Für das menschliche Auge saß Gautama Buddha nur in tiefer Meditation, aber für die Augen der Devas oder Himmelswesen wurde ein unendliches Universum (dharmadhatu) dank der wunderbaren Macht und Gnade des Buddha erschlossen. Alle Handlungsabläufe und Darlegungen, die sich im Hua-yen-Sutra finden, sind in dieser allumfassenden Dharmadhatu angesiedelt. Avidya. Unwissenheit, Nicht-Erkennen, das grundlegende Nicht-Wissen um die Wahrheit vom Nicht-Selbst, das die das Selbst verewigenden Wiedergeburten zur Folge hat. Bhava. Sein, Existenz, Werden.
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Bhikshu. Der voll ordinierte buddhistische Mönch. Bhumi. «Boden» oder «Stufe»; im Hua-yen-Sutra bezeichnet das Wort die zehn aufeinanderfolgenden Erleuchtungsstufen eines Bodhisattva. Bhutatathata. Wirklichkeit, die Soheit der Wirklichkeit, das Letzte. Bodhi. «Erwachen» oder «Erwachtsein», der Seinsstand oder die «Frucht» der höchsten Erleuchtung der Buddhaschaft. Bodhichitta. Der «Erleuchtungsgedanke», das Denken an die Erleuchtung oder in der Erleuchtung. Allgemein bezogen auf die anfängliche Motivation eines Mahayana-Buddhisten, der danach strebt, die Buddhaschaft zum Wohl aller Lebewesen zu erreichen. Sobald dieses Streben oder der Erleuchtungsgedanke erweckt ist und ein formales Gelübde zur Verwirklichung der Taten eines Bodhisattva abgelegt wurde, wird man als ein Bodhisattva betrachtet. Die Bedeutung und der Inhalt dieses Begriffs sind äußerst umfassend und weitreichend. Er enthält das Wesen des Mahayana-Buddhismus. Im HuayenSutra bezeichnet Bodhichitta nicht nur den anfänglichen Erleuchtungsgedanken, sondern auch den erleuchteten Geist der Zehn Stufen. Bodhichitta wird manchmal auch als Geist der Erleuchtung, Erleuchtungsgeist, Herz der Erleuchtung usw. übersetzt. Bodhidharma. Der indische Meister, der jene Form des Meditationsbuddhismus nach China brachte, die dann zum Ch'an- oder Zen-Buddhismus wurde. Er wird als der erste Patriarch des Zen-Buddhismus in China betrachtet. Bodhisattva. Einer, der den Mahayana-Buddhismus praktisch ausübt; derjenige, der nach Erreichung der Erleuchtung zum Wohle aller Lebewesen wirkt. Einer, der den Erleuchtungsgedanken (bodhichitta) erzeugt und ein formelles Gelübde abgelegt hat, den Mahayana-Buddhismus zu praktizieren und alle möglichen altruistischen Taten zu tun. Es gibt viele verschiedene Stufen auf dem Weg des Bodhisattva, aber sowohl der Anfänger wie der erleuchtete Heilige können als Bodhisattva betrachtet werden. Brahma. Der Hindu-Gott, der sich selbst als den Schöpfer des Universums ansieht. Im Buddhismus ist seine Stellung sehr zurückgenommen; er ist in den Sutras nur einer der Götter oder Devas, die oft zu den buddhistischen Versammlungen kommen, um den Buddha um Unterweisung zu bitten. 328
Brahman. Die Gottheit, das Absolute, das Substrat aller Dinge. Buddha. wörtl.: «der Erwachte»; einer, der die Vollkommene Erleuchtung erreicht hat. Der historische Buddha ist Siddhartha Gautama (auch Shakyamuni, 563-483), der die im Westen allgemein als «Buddhismus» bekannte Religion gründete. Aber der «göttliche» Buddha, in der Vorstellung der Mahayana-Buddhisten, ist mehr als eine historische Figur und ein Meister; er ist die Verkörperung aller Tugenden und Vollkommenheiten. Die Unendlichkeit von Buddhas Reich und seiner Tugenden zu offenbaren, heißt es, ist das Hauptanliegen des Hua-yen-Buddhismus. Ch'an. Das chinesische Wort für Dhyana oder Meditation. Es bezeichnet gewöhnlich entweder die Ch'an-Schule, gegründet von Bodhidharma, die als Zen-Buddhismus bekannt ist, oder die Meditationsübung und ihre verschiedenen Stufen. Chandrakirti. Ein wichtiger Madhyamaka-Philosoph des sechsten Jahrhunderts. Deva. Ein Gott, Engel oder wohlwollendes himmlisches Wesen. Dharma. Die buddhistische Lehre, die «Große Ordnung», das, was wahr und gut ist. Dharma kann auch gebraucht werden, um den Buddhismus als eine organisierte Religion zu bezeichnen. In der Mehrzahl gebraucht bezeichnet der Begriff meist die Phänomene der Welt, Dinge, Ereignisse, Existenzweisen, Grundbausteine der Materie. Dharmadhatu (chin.: fa-chieh, wörtl.: «der Bereich der Dharmas»). In der Hua-yen-Literatur bezeichnet das Wort die allumfassende Totalität der unendlichen Universen, welche die Bodhisattvas dank der Gnade des Buddha schauen. Der Begriff steht für «die Unendlichkeit und Totalität des Buddha-Bereichs». Die tibetischen Gelehrten übersetzen dieses Wort mit chos kyis dbyins, was nicht nur auf den Umfang oder die Ausdehnung der Unendlichkeit hinweist, sondern auch auf deren tiefste Natur oder ihr Wesen (dbyins ist das Äquivalent für das chinesische Wort hsin), was durchaus in Übereinstimmung mit der Hua-yen-Lehre steht. Dharmakaya. Der Dharma-Körper des Buddha, der letzte oder wahre Leib Buddhas, der jenseits aller Formen, Eigenschaften und Begrenzungen ist.
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Dharmanairatmya. Das Prinzip, nach dem alle Dinge ohne ein Selbst sind, das Fehlen eines Selbst-Seins (svabhava) in allen Dingen. Dharmata. Die Dharma-Natur; das wahre Wesen aller Dinge, das nichts anderes ist als Leere oder Shunyata. Dhyana. Meditation, Versenkung; oft auf einen Zustand vollkommener Sammlung bezogen. Ein Synonym für Samadhi im Buddhismus. Diamant-Sutra (Sanskrit: Vajrachchedika-Prajnaparamita-Sutra, chin.: Chin-kang-ching). Eines der populärsten und wichtigsten Sutras der Prajnaparamita-Literatur; es wird von den chinesischen, japanischen und tibetischen Buddhisten auch als ein tägliches Gebet rezitiert. Erleuchtung. Das intuitive Gewahrwerden oder die intuitive Erkenntnis der Dharma-Natur; das Innewerden der letzten Wirklichkeit. Das Ergebnis dieser Erkenntnis ist die Beseitigung der Leidenschaften und des Festhaltens an einem Ich und die Befreiung vom Samsara. Gampopa. Ein hervorragender Yogi-Gelehrter Tibets (1079-1153). Er war der Schüler Milarepas; durch ihn breitete sich die Kagyüpa-Schule weit aus. Er schrieb viele Bücher, darunter den «Juwelenschmuck der Befreiung». Hinayana. Das «kleine Fahrzeug»; eine abschätzige Bezeichnung, die von den Mahayana-Buddhisten der Shravaka-Schule gegeben wurde, zu der auch die heutigen Theravadin in den südostasiatischen Ländern gehören. Indra. Ein Hindu-Gott. Er spielt in verschiedenen Sutras eine wichtigere Rolle als Beschützer des Buddhismus. Indras Netz. Die ungezählten schmückenden Juwelen und Perlen, die Indras himmlischen Palast bedecken, bilden ein ausgedehntes «Netz»; diese Juwelen spiegeln einander wider und bilden so ein «Netz von Bereichen, die Bereiche umschließen», in welchem jede Perle die Totalität enthält. Dies wird als ein Bild benützt, um die gegenseitige Durchdringung und das gegenseitige Enthalten-Sein in der Totalität der Dharmadhatu des Hua-yen zu veranschaulichen. Jataka-Erzählungen. Eine Sammlung von fünfhundertfünfzig Geschichten aus den früheren Leben des Buddha Gautama. Sie sind von großer Bedeu-
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tung für die Volkskunde und die buddhistische Mythologie und spiegeln die buddhistischen Moralgrundsätze im Rahmen der Karma-Lehre wider. Kalpa. Ein Äon oder nach der Hindu-Überlieferung ein Tag und eine Nacht Brahmas; 4 320 000 000 Jahre. Karma. Tat, Verursachung, die bindende Kraft des Universums, die auf dem Gesetz beruht, daß «gleiche Ursache gleiche Wirkung erzeugt». Karma bezieht sich nicht nur auf die natürlichen Phänomene, sondern - was wichtiger ist - auch auf die moralischen Geschehnisse. Es ist daher ein metaphysisches Prinzip, das das Gesamtphänomen der Menschenwelt erklärt. Karuna. Erbarmen (karuna) und Weisheit (prajna) sind die beiden Haupttugenden eines Bodhisattva, der sie bis zur Vollkommenheit pflegen soll. Karuna-Prajna. Erbarmen und Weisheit sind nicht nur untrennbare Tugenden, sondern verschmelzen auf den fortgeschrittenen Stufen der Erleuchtung zu einem unteilbaren Ganzen. Klesha. Leidenschaften, Begierden, Befleckung; der angeborene Trieb, zu besitzen und zu handeln, der das Rad des Samsara in Bewegung setzt. Koan. Eine paradoxe Zen-Geschichte, die als Mittel der Zen-Übung verwendet wird. Koti. Zehn Millionen. Kshana. Ein Bruchteil einer Sekunde, ein Augenblick, der kürzeste Zeitmoment. Kshanti. Geduld, Toleranz, Reife (der Shunyata-Verwirklichung). Kshatriya. Die Kriegerklasse Indiens. Kumarajiva. Ein bedeutender Übersetzer, der im Jahr 401 vor Christus nach China kam und viele wichtige buddhistische Texte aus dem Sanskrit ins Chinesische übersetzte. Sein Beitrag zum chinesischen Buddhismus ist unschätzbar.
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Li. Nicht zu verwechseln mit dem Li, das «Ritual» oder «Regeln» bedeutet. Dieses Li bezeichnet das Prinzip, die Ordnung, die den Dingen und Ereignissen in der phänomenalen Welt zugrunde liegt. Longchertpa. Der bedeutendste Philosoph der Nyingmapa-Schule des tibetischen Buddhismus in der späteren Periode, der viele Bücher über alle buddhistischen Themen schrieb, einschließlich der «Sieben Schätze des Lunchin». Er lebte wahrscheinlich im 14. Jahrhundert. Madhyamaka. Die Philosophie des Mittleren Weges, begründet von Nagarjuna. Sie betont die Shunyata-Lehre. Diese Schule wird als die führende Vertreterin der Prajnaparamita-Literatur angesehen. Madhyamaka-Karika. «Die Strophen des Mittleren Weges», der Urtext des Madhyamaka, verfaßt von Nagarjuna, allgemein als der wichtigste Text dieser Schule betrachtet. Mahasattva. Ein Bodhisattva, der die fortgeschrittenen Stufen der Erleuchtung erreicht hat. Mahayana. Die Schule des «Großen Fahrzeugs» oder allgemein der «Nördliche Buddhismus» existiert jetzt kaum mehr in Ländern wie Tibet, Mongolei und China, ist aber noch weit verbreitet in Korea, Japan und einem Teil von Indochina. Diese Schule erwuchs aus dem ursprünglichen Hinayana (oder Shravakayana) annähernd im zweiten und dritten Jahrhundert. Ihre Lehren sind sehr verschieden von denen der Hinayana-Schule; sie betonen Glauben, Hingabe, Erbarmen, positive altruistische Handlungen usw. Maitreya. Ein fortgeschrittener Bodhisattva, der als der kommende Buddha bezeichnet wird. Manjushri. Der Bodhisattva, der als die Verkörperung der Weisheit aller Buddhas gilt. Mantra. Eine Beschwörungsformel. Mara. Der König der Unterwelt. Maya. Die Welt der Phänomene als bloße Täuschung oder Illusion.
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Meditation und Kontemplation (Sanskrit: shamatha-vipashyana). Shamatha ist ein Synonym für dhyana, und Vipashyana ein Synonym für prajna. Durch die Shamatha-Übung beruhigt man den Geist und erreicht den Zustand vollkommener Sammlung; durch die Vipashyana-Übung beseitigt man das Festhalten am Ich und erkennt die Soheit (tathata) der Wirklichkeit. Moksha. Befreiung vom Samsara und all seinen Leiden; das Ziel des Buddhismus wie des Hinduismus. Naga. Mythische Schlangen wesen, Drachen, Wassergottheiten. Nagarjuna. Der berühmte buddhistische Philosoph des zweiten Jahrhunderts; nach der Überlieferung entdeckte er viele neue Mahayana-Texte und begründete praktisch die Mahayana-Schule des Buddhismus. Er entwickelte auch die Madhyamaka-Philosophie. Neti, neti (oder «Na iti, na iti»): Nicht so, nicht so. (Zitiert nach der Brd. Upa. 3.9.6.); verweist auf die Unbegreiflichkeit des absoluten Brahman. Nihsvabhava. Die Abwesenheit des Selbst-Seins oder einer Selbstheit; das Leer-Sein von jeder Wesenheit, die man als unabhängig, eigenständig und ewig unwandelbar ansehen könnte. Nirmanakaya. Der Verwandlungskörper des Buddha, der Gestaltkörper aller Buddhas, die sich in diesem Körper manifestieren als Hilfe für alle Lebewesen, welche jetzt noch nicht den Dharmakaya, den gestaltlosen Wahren Leib der Buddhaschaft, begreifen können. Nirvana. Das Beenden oder Aufhören aller Leidenschaften, der Zustand der Befreiung. Im Mahayana der Zustand der Vollkommenheit, also ausschließlich der Buddhaschaft. Nirvana mit Rückständen. Der Bewußtseinszustand derjenigen erleuchteten Wesen, die sich noch nicht vollständig von ihren samsarischen Bürden der Skandhas befreit haben. Niyuta. Eine große Zahl, eine Trillion (?). Paramartha-Satya. Die Absolute oder Transzendente Wahrheit, die Wahrheit des Jenseitigen.
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Paramita. Die grundlegenden Mahayana-Übungen, denen sich ein Bodhisattva unterziehen muß. Sie schließen gewöhnlich die sechs Hauptübungen oder Paramitas ein: Wohltätigkeit, Selbstzucht, Lebensaktivität, Geduld, Meditation und Intuitive Weisheit. Im Hua-yen-Sutra sind die Paramita-Übungen zehn an der Zahl, entsprechend den zehn Stufen. Das Wort Paramita kann entweder als «Vollkommenheit» übersetzt werden oder als «Erreichen des anderen Ufers». Sowohl die chinesischen wie die tibetischen Gelehrten scheinen das letztere für die bessere Übersetzung zu halten. Paratantra. Das «Entstehen, abhängig von anderen». Die Yogachara-Version des abhängigen Entstehens, welche bedeutet, daß alle Dinge Manifestationen des Geistes sind und der Geist in einer Gruppe von Bewußtseinsarten besteht, die zu ihrem Fortbestand und für ihre Funktionen voneinander abhängig sind. Parikalpita. Die irrige Vorstellung, die phänomenale Welt existiere wirklich und außerhalb des eigenen Geistes, die große Illusion (zum Beispiel ein Seil sehen und es für eine Schlange halten). Parinirvana. Das vollständige Nirvana, das Nirvana, das im Augenblick des Todes erreicht wird, in dem für immer die Bürden der samsarischen Skandhas ausgelöscht werden. Parinispanna. Die absolute Wirklichkeit, die «vollkommen wirkliche Natur»; der Yogachara-Begriff für transzendente Wirklichkeit. Prajna. Weisheit; eine Weisheit, die nicht-dual und nicht-unterscheidend ist. Prajna-Paramita. Die «ans andere Ufer gelangende», also transzendente Weisheit, die «Vollkommenheit der Weisheit», die höchste Tugend eines Bodhisattva. Ein Synonym für die intuitive Erkenntnis der Shunyata. Prakriti. Die Sankhya-Philosophie behauptet, daß es zwei grundlegende und nicht mehr rückführbare Elemente im Universum gibt. Das eine ist der Purusha, die kosmische Seele oder der kosmische Geist, und das andere Prakriti, die kosmische Materie. Die Entwicklung des Universums wird vorwärtsgetrieben durch die Wechselwirkung zwischen diesen beiden Elementen. Pratitya-Samutpada. Der Grundsatz des abhängigen Entstehens, wie er von der Madhyamaka-Philosophie vertreten wird. Ein Synonym für Shunyata.
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Pratyaksha-Pramana. Die unmittelbare Wahrnehmung, das «direkte Wissen», eine der beiden Quellen richtiger Erkenntnis. Siehe Anumana-Pramana. Pratyeka-Buddhas. Der Buddhismus nimmt an, daß es Menschen gibt, die die Erleuchtung von selber erreichen können, ohne einen Lehrer, ohne auch nur die Lehren Buddhas zu kennen. Durch Erkennen der Natur des abhängigen Entstehens können sie die Erleuchtung von selber erreichen. Diese Menschen werden Pratyeka-Buddhas genannt. Pudgala. Das empirische Individuum, das Ich, Ego. Rupa. Im engeren Sinn Form, Gestalt, Farbe; in weiterem Sinn: Materie, Dinge. Sagara. Der Name eines Drachenkönigs in der buddhistischen Mythologie. Saha (Welt). Unsere Welt oder die Erde. Samadhi. Ein Synonym für dhyana, das auf den Zustand vollkommener Sammlung hinweist. In den Mahayana-Sutras wird dieser Begriff nicht nur mit Bezug auf den Zustand vollkommener Sammlung gebraucht, er scheint auch für den dynamischen Zustand eines erleuchteten Geistes zu stehen, der unbegrenzte Fähigkeiten und Kräfte beinhaltet. Samantabhadra. Ein bedeutender Bodhisattva, der die Verkörperung der Gelübde oder des Willens aller Buddhas ist. Er ist auch die Hauptfigur im Huayen-Sutra. Sambhogakaya. Der göttliche Leib, der Reine Körper oder Freudenkörper Buddhas. Der Gestalt-Leib (rupakaya) des Buddha kann unter zwei Aspekten gesehen werden, als Verwandlungskörper (nirmanakaya) und Freudenkörper (sambhogakaya); da der erstere sich in verschiedenen Gestalten manifestieren kann, um sich dem Karma unterschiedlicher Lebewesen anzupassen, kann er rein oder unrein sein. Der «göttliche Leib» oder «vollkommene Freudenkörper» manifestiert sich nur in reiner Gestalt; er ist ein «himmlischer Leib», gewöhnlichen Augen unsichtbar. Diesen Leib sehen nur fortgeschrittene Bodhisattvas. Die Dharmadhatu im Hua-yen-Sutra ist der Bereich des Sambhogakaya.
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Samjna-Vedayita-Nirodha. Der letzte Samadhi, in den der Arhat eintritt, ehe er ins Parinirvana eingeht. In diesem Samadhi, heißt es, sind keine Gedanken und Gefühle mehr vorhanden. Samsara. Die fortlaufende Wiedergeburt in der phänomenalen Welt, die sowohl vom Buddhismus wie vom Hinduismus als eine Bürde von gewaltigen Leiden betrachtet wird. Samskrita. Die bedingten Dinge. Samvriti-Satya. Die konventionelle oder weltliche Wahrheit; im Gegensatz zur transzendenten oder absoluten Wahrheit (paramärtha-satya). Das ist die relative Wahrheit, bedingt durch die verschiedenen Bezugssysteme in der empirischen Welt. Sangha. Die buddhistische Mönchsgemeinschaft; die Mönchs Versammlung. Sarvajna. Die alleswissende Weisheit Buddhas. Sasvata-Vada. Äternalismus, die Theorie, daß das Wirkliche wandellos und beständig ist. Sat. Sein oder Existenz. Satkaya-Drishti. Die dogmatischen Anschauungen, die an der wahren Existenz einer Substanz oder des Selbst (atman) festhalten. Satyasiddhi (chin.: Chen-shih-lun). Ein philosophisches Werk des HinayanaBuddhismus. Shakyamuni. Der Weise des Shakya-Geschlechts, ein anderer Name für Gautama Buddha. Shamatha. Ein Synonym für Dhyana. Shankara (auch: Shankaracharya). Ein hervorragender Philosoph der Vedanta-Schule. Siehe Advaita-Vedanta. Shariputra. Ein bedeutender Schüler Buddhas; er wird als der intelligenteste Schüler unter den Shravakas angesehen.
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Shastra. Kommentare oder selbständige Aufsätze über die buddhistischen Lehren. Shih. Dinge, Ereignisse, Besonderheiten, Phänomene, Materie, das Konkrete, usw. Shih-shih Wu-ai. Dharmadhatu der Ereignisse in den Ereignissen. Wenn alle Geschehnisse einander in einem Moment gegenseitig in der Dharmadhatu durchdringen, offenbart das das Mysterium des «Alles in Allem», die harmonische Totalität des allumfassenden Buddhabereichs. Dies ist der höchste Bereich der Dharmadhatu. Shila Paramita. Die Vollkommenheit der Disziplin. Shravaka. Die Schüler Buddhas, oder einer, der der Buddhalehre folgt. Dieser Begriff wird von den Mahayana-Buddhisten mit Bezug auf die HinayanaBuddhisten und deren Lehren gebraucht. Shunya. leer, relativ. Shunyata. Leere oder Leerheit; wichtigster Begriff der Philosophie des Buddhismus. Shunyata, die Leere bedeutet jedoch nicht das «Nichts» oder Vernichtung. Siehe auch S. 92 ff. Skandhas. Aggregate oder Anhäufungen; hiermit ist die Idee verbunden, daß der sogenannte menschliche Körper und der menschliche Geist nur aus einer Ansammlung von verschiedenen Elementen bestehen und daher kein ewiges Selbst darin vorhanden ist. Smriti-Upasthana. Die Meditation der Achtsamkeit, welche die grundlegende und wichtigste Meditationsanweisung ist, die der Buddha gegeben hat. Im wesentlichen geht es darum, beständig der Funktionen des eigenen Körpers und Geistes gewahr zu sein; wenn das Gewahrsein geschärft ist, wird die Einsicht in die Wahrheit des Nicht-Selbst (anatman) ebenfalls wachsen. Soheit (Sanskrit: tathata). Die absolute Realität jenseits aller Eigenschaften; die einzige annähernde Beschreibung ist, sie «Soheit» zu nennen.
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Sutras (wörtl.: «Leitfäden»). Die heiligen Schriften des Buddhismus; von allen Sutras heißt es, daß der Buddha selbst sie darlegte. Svabhava. Selbst-Sein, Selbstexistenz, Selbstheit, das, was für seine Existenz nicht von anderen abhängt; die endgültige, auf nichts anderes mehr zurückführbare und aus sich bestehende Entität, also das, was an sich ist. Diese Vorstellung des Seins wird von der Shunyata-Philosophie vollkommen verworfen. Svabhava-Graha. Das Festhalten an der Selbstheit. Tara. Verkörperung sowohl des Erbarmens wie der Weisheit aller Buddhas, versinnbildlicht in einer weiblichen Gottheit, der «Mutter» Tara des tibetischen Tantrismus. Sie wird auch als eine Manifestation des Avalokiteshvara betrachtet. Tathagata. Der So-Gekommene oder So-Gegangene, ein Titel Buddhas (Ableitung zweifelhaft). Er bedeutet vielleicht «Er, der bereits als frühere Buddhas gekommen und gegangen ist», das heißt, der die gleichen Wahrheiten lehrte, die zum selben Ziel führen. Tathagata-Garbha. Die Buddha-Natur (das Buddha-Wesen), die die wahre Natur (oder das wahre Wesen) jedes Menschen ist. Tathata. Siehe Soheit. Trikaya. Die drei Körper eines Buddha: der Dharma-Körper (dharmakaya), der Freudenkörper (sambhogakaya) und der Verwandlungskörper (nirmanakaya). Tripitaka (wörtl.: «Dreierkorb»). Sutras, Shastras und Vinayas, die die drei «Körbe» des buddhistischen Kanons ausmachen. Upadhi. Hinzufügung, Täuschung, das, was an die Stelle eines anderen tritt. Ein Substitut, eine irreführende Überlagerung der wahren Wirklichkeit; ein Synonym für Maya. Upanischaden. Eine Art von philosophischen Texten, die zum Brahmana-Teil der Veden gehören. Die Upanischaden sind, soweit es die Philosophie betrifft, die wichtigsten Schriften des Hinduismus.
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Vairochana. Der Buddha der Großen Erleuchtung. Die wahre Gestalt des Buddha Gautama Shäkyamuni. Dank des Segens des Vairochana Buddha wurde die Hua-yen-Dharmadhatu offenbart. Vajra. Diamant. Vasubandhu. Ein bedeutender Philosoph der Nur-Geist-Lehre im fünften Jahrhundert (420 bis 500). Er und sein Bruder Asanga gründeten gemeinsam die Yogachara-Schule. Vedanta (wörtl.: «der Abschluß der Veden»). Der Name einer sehr einflußreichen philosophischen Schule des Hinduismus. Siehe Advaita-Vedanta. Vijnana. Bewußtsein. Vimalakirti. Ein legendärer Laienbuddhist in Indien, das Modell des idealen Bodhisattva. Vinayas. Der Kanon der Vorschriften für das Leben des Mönchs. Vipashyana. Die intuitive Wahrnehmung, die während der tiefen Meditation Platz greift; ein Synonym für Prajna. Yaksha. Ein mythisches Wesen. Yogachara. Die Nur-Geist-Lehre, begründet von Asanga und Vasubandhu.
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